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German Pages 362 [374] Year 2021
Dogmatik in der Moderne herausgegeben von
Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel
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Katharina Opalka
Narrativität und Performanz der Demut Metatheoretische Reflexionen zur Funktionalität anhand einer Relecture der Theologie Albrecht Ritschls
Mohr Siebeck
Katharina Opalka, geboren 1985; Studium der Ev. Theologie in Marburg und Göttingen; seit 2019 Wiss. Mitarbeiterin im Teilprojekt „Kreuz und Auferstehung als Resilienznarrative in Theologie und ökumenischer Spiritualität“ der DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“ an der Ev.-Theol. Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms Universität Bonn; 2020 Promotion. orcid.org/0000-0002-8456-3091
ISBN 978-3-16-161074-5 / eISBN 978-3-16-161075-2 DOI 10.1628/978-3-16-161075-2 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Für Ella, Noah und Teresa
Vorwort Die vorliegende Monographie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2019/20 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. Sie hätte nicht anders als im kontinuierlichen Austausch und Dialog entstehen können, wofür ich den beteiligten Gesprächspartner:innen tief dankbar bin. Allen voran gilt mein Dank Prof.’in Dr. Cornelia Richter, die mich seit den ersten Momenten meines Studiums für die Theologie begeistert hat, die mich in die Scientific Community eingeführt hat, es mir erlaubt hat, aus meiner Perspektive Theologie zu treiben und mich dabei in allem immer unnachgiebig gefördert hat. Mein Dank gilt zudem Prof. em. Dr. Dr. h.c. Michael MeyerBlanck für die Erstellung des Zweitgutachtens in interdisziplinärer Perspektive. Ebenso danke ich Prof. Dr. Johannes Zachhuber für die Erstellung eines dritten Gutachtens und die Möglichkeit, in Oxford meinen Horizont zu weiten. In diesem Sinne gilt mein Dank auch den Mitgliedern der DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“ für ihre interdisziplinären Perspektiven auf Systematische Theologie. Prof. em. Dr. Dietrich Korsch danke ich für die Unterstützung seit meinen Anfangstagen als Studentin. Die Dissertation ist im gemeinsamen Denken und kollaborativem Arbeiten zwischen fachlichem Diskurs, kollegialer Unterstützung und Kaffee am Lehrstuhl sowie im (Post)Doktorand:innenkolloquium entstanden: Der Dank dafür geht an Thorben Alles, Ann Kathrin-Armbruster, Chung Guk Bai, Anne-Kristin Dillmann, Dr. Martín Grassi, Mirjam Jekel, Jennifer Lackmann, Mirja Petersen, Dr. Matthew Ryan Robinson, Daniel Rossa, Sebastian Schmidt und Clara Lee-Winden. Ebenso danke ich Dr. des. Inja Inderst und Dr. Laura Wolst für die gemeinsamen interdisziplinären Gespräche und ihre Unterstützung. Mein Dank gilt ebenso Frère Timothée (Communauté de Taizé) für den nachdenkenden und fragenden Austausch, welcher der Arbeit neue Dimensionen erschlossen hat. Ich bedanke mich bei dem Herausgeberkreis der Reihe „Dogmatik in der Moderne“ für die freundliche Aufnahme und bei Dr. Katharina Gutekunst und Elena Müller sowie Tobias Stäbler, Jana Trispel und Markus Kirchner für die Betreuung der Drucklegung der Arbeit. Mein Dank geht auch an diejenigen, die im weiteren Sinne in die Geschichte dieser Dissertation verstrickt sind: Meinen Eltern für die Geschichten und den
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Vorwort
Zugang zum Lesen, ebenso Dominik und Kerstin Opalka, den Freund:innen, mit denen ich die Liebe zu Theater-performances und dem Weiter-Erzählen teile, Sylvia Barth und Marit Ritzenhoff für die kontinuierliche Unterstützung und Begleitung durch die Dissertationszeit. Der tiefste Dank, du fond de mon coeur, gilt Familie Kämpfer: Stephanie Kämpfer für die Tiefe und Loyalität einer Freundschaft, ohne die ich nie denken und Theologie treiben wollte, meinem Patenkind Ella sowie Noah und Teresa Kämpfer für alle Geschichten, die wir gemeinsam erleben. Bonn im September 2021
Katharina Opalka
Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................... VII
I. Einleitung .................................................................................... 1 1. Funktionalität ............................................................................................ 4 2. A-Funktionalität....................................................................................... 11 3. Situativität ................................................................................................ 17 4. Vorläufige Verortung im Diskurs und Aufbau der Arbeit ........................ 21
II. Forschungslage und Methodenreflexion .................................. 25 1. Der Forschungsstand zur Rezeption Ritschls .......................................... 26 1.1. Die Aufnahme der Ritschl’schen Theologie im 19. Jahrhundert .......... 27 1.1.1. Die kritische Abgrenzung zu Ritschl .......................................... 28 1.1.2. Die kritische Überbietung Ritschls in der „Schule“ .................... 32 1.1.3. Die Rezeption einer dynamisierten Theologie ............................ 38 1.2. Die prägende Rezeption durch K. Barth ............................................... 39 1.3. Die Ritschl-Rezeption nach K. Barth.................................................... 43 1.3.1. Rezeption Ritschls mit der Kategorie der Offenbarung .............. 46 1.3.2. Subjekttheoretisch orientierte Rezeption: Dietrich Korsch ......... 49 1.4. Ethik als Fokuspunkt der Ritschl’schen Theologie............................... 50 1.5. Ritschls Verortung in der Religionsphilosophie seiner Zeit zwischen „Idealismus“ und „Historismus“ ........................................... 53 1.5.1. Rezeption Ritschls im Rahmen neukantianischer Philosophie............................................................................................ 55 1.5.2. Rezeption Ritschls im Diskurs um die Hegel’sche Geschichtsphilosophie .......................................................................... 57 1.6. Verortung der vorliegenden Arbeit in diesem Diskurs ......................... 61
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Inhaltsverzeichnis
2. Narrativitätstheorien ............................................................................... 63 2.1. Kollektive Bezugnahme auf Narrative.................................................. 67 2.2. Individuelle Bezugnahme auf Narrative ............................................... 71 2.3. Von Narrativitäts- zu Performanztheorien ............................................ 75 3. Performanztheorien ................................................................................. 76 3.1. Performativitätstheoretische Grundlagen.............................................. 80 3.2. Präsenz und Ereignis............................................................................. 82 3.3. Die performance in den Theaterwissenschaften ................................... 87 3.4. Performanztheoretische Begriffsbildung .............................................. 90 3.4.1. Performativität ............................................................................ 91 3.4.2. Performanz .................................................................................. 92 3.4.3. Performance................................................................................ 95 4. Von Performanz- und Narrativitätstheorien zu Ritschl ........................... 98
III. Relecture Albrecht Ritschls .................................................. 100 1.
Der Standpunkt der Gemeinde .......................................................... 106
1.1. Die lebenspraktische Dogmatik des Pietismus ................................... 110 1.2. Subjekt und Gemeinde in der Klassischen Deutschen Philosophie .... 113 1.3. Die Gemeinde als Thema reformatorischer Tradition ........................ 119 1.4. Die Gemeinde in ihrer situativen Verfasstheit als Kirche ................... 123 1.5. Die Kirche als Gestalt der Gemeinde im 19. Jahrhundert ................... 128 2. Das Reich Gottes ................................................................................... 131 2.1. Das Reich Gottes in der Vielfalt biblischer Narrationen .................... 134 2.2. Die biblischen Narrationen und das Narrativ des Reiches Gottes ...... 139 2.3. Das Reich Gottes in der Vielfalt lebensweltlicher Vollzüge............... 142 2.4. Das Reich Gottes in situativer Vielfalt ............................................... 146 2.5. Reich Gottes und Metaphysik ............................................................. 150 3. Die Materialdogmatik für die Gemeinde unter dem Narrativ des Reiches Gottes ........................................................................................... 156 3.1. Gotteslehre .......................................................................................... 159 3.1.1. Gott ist die Liebe....................................................................... 161 3.1.2. Das Absolute und der Zorn ....................................................... 164 3.1.3. Der Vatername Gottes............................................................... 169
Inhaltsverzeichnis
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3.1.4. Das Wirken der väterlichen Vorsehung Gottes in der Gemeinde ............................................................................................ 172 3.2. Christologie ........................................................................................ 173 3.2.1. Der Beruf Jesu Christi ............................................................... 174 3.2.2. Kreuz und Opfer als Prüfstein einer funktionalen Theologie .... 179 3.2.3. Die Gottessohnschaft Christi .................................................... 186 3.2.4. Sündenvergebung und Rechtfertigung ..................................... 189 3.3. Anthropologie ..................................................................................... 192 3.3.1. Das Gewissen und die Christliche Vollkommenheit ................. 193 3.3.2. Die Abgrenzungen im Sündenverständnis ................................ 201 3.3.3. Versöhnung und Gotteskindschaft ............................................ 206 3.3.4. Funktionen des Vorsehungsglaubens ........................................ 210 4. Zwischenfazit: Vom Narrativ des Reiches Gottes zur performanten Praxis der Demut ....................................................................................... 214 4.1. Funktionalität und Gemeinde.............................................................. 215 4.2. A-Funktionalität und Gottesgedanke .................................................. 217 4.3. Situativität und Dogmatik ................................................................... 219
IV. Demut ................................................................................... 224 1. Die Demut bei Ritschl ............................................................................ 224 1.1. Demut, Geduld und Gebet als religiöse Funktionen ........................... 226 1.2. Die Funktionalität der Demut in der Bezugnahme auf die AFunktionalität des Gottesgedankens.................................................... 228 1.3. Der Ort der Demut in Gebet und Weltzugewandheit .......................... 232 2. Ein kurzer Forschungsüberblick zum Demutsdiskurs ............................ 235 2.1. Die Demut bei Herrmann und Harnack am Übergang ins 20. Jahrhundert.......................................................................................... 236 2.2. Der aktuelle Demutsdiskurs aus protestantischer Perspektive ............ 238 2.2.1. Das Problem der quellensprachlichen Verortung der Demut in der Exegese ..................................................................................... 239 2.2.2. Der humilitas-Gedanke in der Kirchengeschichte und praktisch-theologischen Diskursen ..................................................... 242 2.3. Verortung der vorliegenden Arbeit im systematisch-theologischen Demutsdiskurs .................................................................................... 246
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Inhaltsverzeichnis
3. Dimensionen der Demut zwischen performance, Performanz und Situativität.................................................................................................. 250 3.1. Schutzlosigkeit und Ernsthaftigkeit als Dimensionen der Demut ....... 251 3.1.1. Die Schutzlosigkeit in der monastischen Praxis: Regula Benedicti ............................................................................................. 252 3.1.2. Die Ernsthaftigkeit der Haltung der Demut .............................. 258 3.2. Dankbarkeit und Grauen als Dimensionen der Demut ....................... 265 3.2.1. Die Dankbarkeit als Dimension der Demut: Martin Luther ...... 266 3.2.2. Das Grauen als Dimension der Demut: Søren Kierkegaard ...... 272 3.3. Demütigung und engagierte Gelassenheit als Dimensionen der Demut ................................................................................................. 284 3.3.1. Die Demut als Demütigung: Friedrich Nietzsche ..................... 284 3.3.2. Die Demut als engagierte Gelassenheit: Dietrich Bonhoeffer .. 292 4. Zwischenfazit: Dimensionen der Demut ................................................ 300 4.1. Funktionalität und performance der Demut ........................................ 301 4.2. A-Funktionalität und Performanzerfahrungen .................................... 303 4.3. Situativität und Medio-Passivität ........................................................ 306
V. Narrativität und Performanz der Demut ................................ 311 1. Funktionalität und Ekklesiologie ........................................................... 311 2. A-Funktionalität und Frömmigkeit ........................................................ 315 3. Situativität und gottesdienstliche Praxis................................................ 320
Literaturverzeichnis .................................................................... 324 Werke Albrecht Ritschls ............................................................................ 324 Referenztexte zur Demut ........................................................................... 325 Weitere Literatur........................................................................................ 326
Sachregister ................................................................................ 353 Personenregister ......................................................................... 358
I. Einleitung „Die Demut ist das Geheimnis des religiösen Menschen vor sich selbst“1. Der dieser Monographie vorangestellte Satz ist nicht nur theologisch gehaltvoll, sondern ebenso poetisch schön: Man kann ihn sich gut als Sinnspruch in religiösen Poesiealben oder auf einem Facebook-Post, hinterlegt mit einem Bergmassiv bei Sonnenuntergang, vorstellen. Dass dieser Satz von Albrecht Ritschl stammt, mag zunächst Erstaunen auslösen – ist Ritschl doch nicht für seine Poetik bekannt, sondern eher für die „Paragraphenknödel“ seiner trockenen, preußischen Beamtensprache.2 Ritschl gilt als derjenige Theologe des 19. Jahrhunderts, der seit etwa 1870 den Grundstein für diejenige theologische Denkrichtung legt, die sich später als Liberale Theologie versteht. Das gelingt ihm besonders durch die logische Stringenz seines theologischen Systems, die in der Kombination von Religionsphilosophie und Materialdogmatik das beginnende 20. Jahrhundert geprägt hat. Der poetische Überraschungseffekt im obigen Zitat kann nun als Hinweis auf ein Sachproblem des „Sich in Demut üben“ gesehen werden, das bei Ritschl verhandelt wird, in der Erörterung aber über diesen hinausgeht: Es ist die Frage nach der Funktion des A-Funktionalen in christlichen Narrativen und Praxen wie der Demut, die in momentanen situativen Verfasstheiten je anders erfahren wird. Die Formulierung bedarf einer Ausführung: Die Demut als christliche Praxis ist funktional, insofern mit ihr bestimmte Erwartungen verbunden werden. Gleichzeitig kann sie nie auf diese Funktionalität hin reduziert werden, insofern sie den religiösen Menschen auf die grundsätzliche A-Funktionalität von Glaubensvollzügen hinweist, die sich selbst wiederum nur „geheimnisvoll“, in poetischer Sprache, artikulieren können – aber sich so zumindest doch artikulieren und wiederum in funktionale Kommunikationskontexte eintragen können. Daraus ergibt sich die Fragestellung, welche die gesamte Arbeit umgreift, und die hier schon einmal vorangestellt wird: Inwiefern können Funktionalität und funktionale Kategorien Kriterien für theologisches Denken sein, ohne den Gottesgedanken sowie christliche Praxen auf bestimmte Funktionen zu reduzieren?
1 Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion (1875). Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage eingel. u. hrsg. v. Christine Axt-Piscalar, (UTB 2311) Tübingen 2002, §61, 84 (nachfolgend: UcR). 2 Diese Einschätzung seines Schreibstils stamme von Ritschl selbst, wie sein Sohn Otto Ritschl kolportiert (Otto Ritschl, Albrecht Ritschls Leben II [1864–1889], Freiburg i. Br. 1896, 271 [nachfolgend: ARL II]).
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Einleitung
In Hinsicht auf diese Fragestellung werden die beiden Materialbestände bearbeitet, die im vorangestellten Zitat zusammenlaufen, nämlich zunächst die Relecture der systematisch-theologischen Entwürfe Ritschls und anschließend die Demut als christliche Praxis. Die Erschließung im Rahmen funktionaler Fragestellungen lässt weiterführende Perspektiven auf den jeweiligen Materialbestand zu, mit dem Aspekte berücksichtigt werden können, die Desiderate des bisherigen Diskurses sind. Für die Relecture der Position Ritschls stellt sich das so dar: Die Demut wird von Ritschl zusammen mit der Geduld in seinem dreibändigen Hauptwerk „Rechtfertigung und Versöhnung“ (nachfolgend: RuV I–III, Erstauflage: 1874)3 grundlegend in die Theologie eingeführt. Ein Verständnis von Demut als christlicher Praxis ermöglicht es nun, diese Zielperspektive hin zu praktischen Vollzügen bei Ritschl ernst zu nehmen und seine Theologie über die wissenschaftstheoretische Einbettung in die Diskurse seiner Zeit hinaus in dieser Hinsicht zu durchdenken. Das führt zu der Fragestellung, wie und mit welchen Umstellungen Ritschl die materialdogmatischen Themen nicht nur im Rahmen des religionsphilosophischen Forschungsstandes seiner Zeit durchdenkt, sondern sie so konzipiert, dass sie für die Lebenserfahrungen der Menschen seiner Zeit funktional und relevant werden. In diesem Rahmen kann die Demut als eine Praxis der funktionalen Bezugnahme auf den Gottesgedanken verstanden werden, die in ihrer Funktionalität jedoch nicht aufgeht, sondern eben ein Element des „Geheimnisvollen“ in sich trägt. Das bedeutet jedoch nicht die Suspendierung theologischer Reflexion. Vielmehr verweist es auf die Notwendigkeit theoretischer Begriffsbildung, mit der solche Phänomene als komplexes Zusammenspiel von Funktionalität und AFunktionalität je situativ verschieden erfasst werden können Um diese Theoriekonstellation einzuführen, mit der die Relecture der Lehre Ritschls und die Betrachtung der Demut vorgenommen wird, ist eine vorläufige Bestimmung der drei Begriffe Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität in der Einleitung vorgeschaltet. Im Durchgang durch die Materialbestände kann im Fortschreiten der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, dass und auf welche Weise die Einführung der Funktionalität als Kategorie theologischer Reflexion keine Komplexitätsreduktion bedingt, sondern Differenzierungen und Präzisierungen ermöglicht. Deswegen sind sowohl die jeweiligen Zwischenfazits der beiden Materialbestände als auch das Schlussfazit in diese drei Aspekte – Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität – gegliedert. Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es – das sei hier vorweggenommen – mit dieser 3 Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung Bd I – Die Geschichte der Lehre, Bonn 11874; 21882; 31889 (nachfolgend: RuV I); Ders., Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung Bd II – Der biblische Stoff der Lehre, Bonn 11874; 21882; 31889 (nachfolgend: RuV II); Ders., Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung Bd III – Die positive Entwicklung der Lehre, Bonn 1 1874; 21883; 31888 (nachfolgend: RuV III).
1. Funktionalität
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Differenzierung in der Theoriekonstellation den Weg für die Betrachtung weiterer theologischer Theoriebildung und (christlicher) Phänomenbestände zu bereiten, die dann in inter- und vor allen Dingen transdisziplinären Bezügen erprobt werden können. Dazu wird in den folgenden Teilen der Einleitung zunächst die Theoriekonstellation in der Trias von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität in einer vorläufigen Begriffsbildung dargelegt. Als erster Schritt ist der Ort des funktionalen Denkens in der Theologie zu bestimmen: Wo und von welchen Akteur:innen, 4 im Rahmen welcher Themenkomplexe kann Funktionalität sinnvoll thematisiert werden bzw. wo stößt die Theologie so auf das Thema der Funktionalität, dass es unhintergehbar wird? Dieser Schritt ist als Vorbemerkung notwendig, bevor in einem zweiten Schritt die A-Funktionalität fokussiert werden kann. Der Umgang mit A-Funktionalitäten ist das Proprium der Theologie. Das wird dort besonders augenfällig, wo die Theologie im obigen Sinne in den inter- und transdisziplinären Diskurs eintritt, der nach der spezifischen Bedeutung von Religion und Spiritualität fragt und deshalb die Beschäftigung mit dieser Problemstellung geradezu forciert: Die Herausforderung an die Theologie besteht in diesem Diskurs darin, sich auf funktionale Kategorien im Aufrechthalten der A-Funktionalität einzulassen. Der dritte Schritt ist daran anschließend die Bestimmung der momentanen situativen Verfasstheiten, in denen sich dieser funktionale Bezug auf a-funktionale Narrative ereignet: Denn die Frage nach der Funktion impliziert, dass z. B. ein bestimmtes religiöses Narrativ eine Funktion für jemanden oder für eine Gruppe hat. Das Individuum oder diese Gruppe existiert jedoch nicht in einem Vakuum, sondern in bestimmten Situativitäten, die deswegen in die theologische Reflexion miteinbezogen werden.
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In der vorliegenden Arbeit wird grundsätzlich mit Doppelpunkt „:“ gegendert, um anzuzeigen, dass Personen jeglichen Geschlechts gemeint sind. Das wird an zweierlei Stellen suspendiert: Erstens dann, wenn in der Paraphrase von Referenzautor:innen deren Gebrauch von Gender gefolgt wird. Besonders für das generische Maskulinum kann letztendlich nur vermutet werden, ob z. B. Ritschl in der Verwendung von „Israeliten“ alle Israelit:innen meint. Damit einher geht, das sei an dieser Stelle angemerkt, dass die nicht der aktuellen Fassung des Dudens entsprechende Rechtschreibung in Zitaten der Referenzautor:innen nicht angeglichen wird. Zweitens wird die gegenderte Form dort nicht verwendet, wo im Rahmen der situativen Dogmatik konkrete existentielle und individuelle Verfasstheiten, Praxen oder Handlungen in den Blick kommen, die aus sachlogischen Gründen die Verwendung des Singulars erfordern („die Betende“, „der Verzweifelte“). Dass es in der theologischen Reflexion die Notwendigkeit der singulären, individuellen Perspektive gibt, ist eine der Pointen der vorliegenden Arbeit. In der Durchführung im Deutschen bedeutet das im Rahmen aktueller sprachlicher Konventionen jedoch den Verzicht auf die Benennung von Personen jeglichen Geschlechts, insofern es (noch) keine dem Englischen „they/them“ entsprechende singuläre, genderneutrale Form gibt.
4
Einleitung
1. Funktionalität 1. Funktionalität
An dem Begriff der Funktion bzw. der Funktionalität hängt die grundsätzliche Fragestellung der vorliegenden Arbeit. Der Funktionsbegriff ist kein genuin der Theologie entstammender Begriff, sondern wird mindestens seit den systemtheoretischen Überlegungen des 20. Jahrhundert inter- und transdisziplinär eingesetzt, und zwar besonders dort, wo auf soziale Systeme und deren Funktionalitäten abgezielt wird.5 Dementsprechend ist die Begriffsdefinition nicht eindeutig, sondern sowohl disziplinspezifisch als auch begriffsgeschichtlich höchst disparat. Das kann auch daran festgemacht werden, dass die in der heutigen Diskussion primären Definitionen deutlich von dem mathematisch-logischen Verständnis abweichen, aus dem der Begriff entstammt. Dieses mathematische Verständnis von Funktion ist durch ein Abbildungsverständnis gekennzeichnet, das Eindeutigkeit impliziert: Funktion wird „als eine Zuordnung f verstanden, durch die jedem Element einer Menge A genau ein [!] Element einer Menge B zugewiesen wird“6. In dieser Weise wird Funktion von Herrmann Cohen als Grundbegriff der Logik definiert, der eine genauere Beschreibung von kausalen Vorgängen ermöglicht, als „[d]er Befugnis zu dem Vollzug dieses und nur dieses Zusammenhangs [von x und y]“7. Das in diesem Verständnis implizierte Input-Output-Denken schwingt schon in dem alltagssprachlichen Verständnis von Funktion mit, das auf eine eindeutige Lösung abzielt: „Etwas funktioniert“ heißt meistens, dass es auf eine bestimmte Art funktioniert.8 Diese auf Eindeutigkeit abzielende Definition von Funktion wird
5 „Man wird jedoch sagen dürfen, daß das von diesen speziellen Verwendungsweisen [der je einzelnen geisteswissenschaftlichen Disziplinen] aufgespannte Bedeutungsspektrum dem Funktionsbegriff heute eine höhere Relevanz auch für die Philosophie bescheinigt, als er in der Geschichte der Philosophie jemals beanspruchen konnte“ (Christian Thiel, Art. Funktion, in: Handbuch Philosophischer Grundbegriffe I [1973], 510–519). Die Perspektive vom Systemdenken aus ist prävalent in den Lexika (vgl. Ulrich Krohs, Art. Funktion, in: Enzyklopädie Philosophie 1 [2010], 755–758). 6 Explizit wird das im Funktionalismus: Die funktionale Eigenschaft eines Systems ist diejenige, die „eine bestimmte Eingabe (input) in das System mit einer bestimmten Ausgabe (output) verbindet“ (Hans Georg Steiner, Art. Funktion I, in: HWPh 2 [1972], 1138–1140, hier: 1138). 7 Hermann Cohen, Das Prinzip der Infinitesimalmethode (1883), Frankfurt a. M. 1968, 281; vgl. Hermann Noack, Art. Funktion II, in: HWPh 2 (1972), 1140f. hier: 1140. 8 Michael Esfeld, Art. Funktion, in: NHpG 1 (2011), 842–854. Das führt zu engen Definitionen, insofern nur das, was eine bestimmte Funktion ausführt, dieser Definition entspricht (Esfeld, Funktion, 842). Dieses Verständnis von Funktion ist mit dem Gebrauch im Englischen als „functionalism“ und besonders in der „functional analysis“ identisch, die auf das gelingende Funktionieren eines Systems oder einer Systemeinheit abzielen (vgl. Dorothy M. Emmet, Art. Functionalism in Sociology, in: The Encylopedia of Philosophy III [1967], 256–259, hier: 256).
1. Funktionalität
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in der vorliegenden Arbeit als Problemanzeige aufgenommen, die darauf hinweist, dass einem funktionalen Denken eine inhärente, aus der mathematischlogischen Begriffsherkunft entstehende Normativität innewohnt, dass etwas nur funktioniert, wenn es – bei entsprechendem input – eine vorher genau definierte Art von output liefert. Christliche Praxen und Narrative können in diesem Sinne eine Funktion haben und funktional werden. Was jedoch diese Funktion ist, kann nicht im Sinne des input-output-Modells eindeutig bestimmt werden.9 Das erfordert schon auf der Ebene des Funktionsbegriffs weitere Differenzierungen, für die zunächst die Funktionsverständnisse von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ernst Cassirer und Niklas Luhmann kurz dargestellt werden. Die „Function“ wird von Schleiermacher explizit in der Ethik (1812/13) thematisiert und zwar in der Differenzierung von organisierender/organischer Funktion und erkennender Funktion im Rahmen der Identitätsphilosophie.10 Schleiermacher fragt unter dem Funktionsbegriff und in kritischer Aufnahme der Kant’schen Transzendentalphilosophie nach der Funktion für die Selbstbestimmung des Subjekts in Bezug auf sich selbst (erkennende Funktion) und in Bezug auf seine Umwelt (organisierende Funktion). Organisation und Erkennen sind diejenigen Funktionen, die das Subjekt braucht, um sich als Subjekt zu verstehen.11 Die Pointe bei Schleiermacher liegt darin, dass gerade die funktional-diastatische Differenzierung die Einheit der Identität des Selbst durch einen dynamischen Prozess garantiert: „Das ursprüngliche Ineinandersein der Functionen ist gegeben in der Identität von Seele und Leib, d. h. in der Persönlichkeit selbst, welche also [...] zugleich als Resultat des ethischen Prozesses muß angesehen werden können“12.
9 Das Adjektiv „funktional“ wird verwendet als „funktional oder funktionell [...]: zu den Verrichtungen gehörig, nicht für sich, sondern allein im Zusammenhang, im Vollzug faßbar oder darstellbar“ (Arnim Regenbogen/Uwe Meyer, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 2013, 231). 10 Die organisierende Funktion ist gekennzeichnet durch Rezeptivität und Spontaneität (vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik [1812/13] mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun, hrsg. u. eingel. v. Hans Joachim Birkner, [PhB 335] Hamburg 1981, Zweiter Teil, Einzelne Ausführungen, §3 [275], 35), die erkennende Funktion durch die Setzung wie Aufhebung der Subjekt-Objekt-Differenz (vgl. Schleiermacher, Ethik, Zweiter Teil, Einzelne Ausführungen, §§114–117 [293f.], 53f.). 11 Vgl. Schleiermacher, Ethik, Erster Teil, Allgemeine Übersicht, §29 (267), 27. 12 Schleiermacher, Ethik, Erster Teil, Allgemeine Übersicht, §55 (271), 31. Peter Grove führt aus, dass Schleiermacher von Kant den Synthesis-Gedanken (in der Begrifflichkeit der Kombination) übernehme, um im Rahmen der transzendentalen Deduktion über Kant hinausgehend, das Subjekt so einzubeziehen, dass der „Übergang von Einzelakt zu Einzelakt, worin das Erkennen normalerweise besteht, als Kombination gedacht [wird]: als die Anei-
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Einleitung
Die Dynamisierung, die Schleiermacher über den Funktionsbegriff gewinnt, ist also im Wesentlichen eine Dynamisierung zur Überwindung der das Subjekt betreffenden Diastasen in der organisierenden und erkennenden Funktion. Die Funktion der Funktionen ist es dementsprechend, dem Subjekt das Verhältnis von transzendentem Grund und individueller Aneignung zu erschließen: Das Subjekt kann sich als ein auf diesen transzendenten Grund angewiesenes Subjekt verstehen.13 Schleiermacher thematisiert diesen Vorgang nun dezidiert in der Ethik, insofern er ihn nicht als rein rationalen Bezug auf das Wissen versteht.14 Diese Funktionalität ist vielmehr im Gefühl anzusiedeln, das sich im darstellenden Handeln in der Lebenswirklichkeit erweist.15 Cornelia Richter führt das dahingehend aus, dass sich diese Überwindung der Diastasen im transzendenten Grund bei Schleiermacher noch einmal komplexer als Quadruplizität darstellen lasse. Innerhalb der organisierenden Funktion nehme das Subjekt nicht nur auf die Welt Bezug, sondern stelle diese Bezugnahme auch symbolisierend im Wechselspiel zwischen Identität und Individualität dar.16 Das ermöglicht eine differenziertere Betrachtung des Bezuges auf die Kultur als dem Grundgegensatz von Vernunft und Natur bei Schleiermacher.17 Mit dieser Differenzierung kann Richter dementsprechend den Übergang von der subjekttheoretischen Herangehensweise Schleiermachers hin zu dem kulturtheoretischen Ansatz Cassirers thematisieren.18 Für die Analyse der Funktionen ist dieser Übergang bedeutsam, weil damit die Aufgabe nicht mehr in der nanderreihung der verschiedenen Akte durch das erkennende Subjekt“ (Peter Grove, Deutungen des Subjekts. Schleiermachers Philosophie der Religion, [TBT 129] Berlin/New York 2004, 391). 13 „Es handelt sich eben sowohl um einen transzendentalen Funktionsbegriff als Ort der Einheit des Bewusstseins und einer solchen Beziehung des Bewusstseins auf sich selbst [...]. Es ist aber zugleich ein Vermittlungsbegriff zwischen einer strukturellen Verfasstheit des Bewusstseins und dessen individuellem, also leibhaft gebundenen Vollzug“ (Cornelia Richter, Die Religion in der Sprache der Kultur. Schleiermacher und Cassirer – Kulturphilosophische Symmetrien und Divergenzen, [RPT 7] Tübingen 2004, 93). 14 Vgl. Richter, Religion, 91; Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833), hrsg. v. Andreas Arndt, (PhB 387) Hamburg 1988, 65f., §216; Ders., Vorlesungen über die Dialektik, in: KGA II. Vorlesungen, Bd. 10.1, hrsg. v. Hermann Fischer u.a., Berlin/New York 2002, 143f.). 15 Die Ethik umfasse „immer den Handlungsspielraum der Vernunft, der notwendig mannigfaltig ist; elementarste Form ist der menschliche Organismus; größte Weite ist die Welt“ (Schleiermacher, Ethik, Einleitung, §§62–74 [252–254], 12–14; vgl. Richter, Religion, 101). 16 Vgl. Richter, Religion, 103. Es kommt zu dieser Quadruplizität, insofern sich Organisieren und Symbolisieren noch einmal jeweils nach Identität oder Individualität unterscheiden können (vgl. Richter, Religion, 103). 17 Vgl. Richter, Religion, 104. 18 Vgl. Richter, Religion, 113. Die Unterscheidung von Schleiermacher und Cassirer verortet auch Martin Laube explizit im Funktionsbegriff: „Während Cassirer Sprache, Religion, Kunst und Erkenntnis als funktional parallele und daher einander konkurrierende Formen der Weltgestaltung auffaßt, unterscheidet Schleiermacher die beiden differenten Funktionen
1. Funktionalität
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Ermittlung der einen Funktion für das Subjekt liegt, die über die Bindung an den transzendenten Grund eindeutig bestimmt werden kann.19 Vielmehr geht es in einer kulturtheoretischen Betrachtung um die Frage nach den jeweiligen Funktionen, die sich in verschiedenen kulturellen Bereichen ergeben und die damit diastatisches Denken in die Vielfalt kultureller Bezüge auflösen. Die Frage nach der Funktion kultureller Praxis, die über die Konstitution des Subjekts hinausgeht, ist die Erweiterung gegenüber Schleiermacher bei Cassirer, unter der er den Funktionsbegriff einführt. Das unternimmt Cassirer in „Funktionsbegriff und Substanzbegriff“ (1910)20 in programmatischer Abkehr von einem ontologischen Substanzdenken: Den Dingbegriffen stehen die Relationsbegriffe entgegen, die über ihre Funktion bestimmt werden.21 Cassirers Absicht besteht darin, die Funktion als formalen Begriff zu etablieren, der die Wissenschaftlichkeit der Theorie im Verweis auf die Praxis garantieren soll: „Zwischen beiden [der praktischen und der theoretischen Sphäre, KO] besteht insofern kein Unterschied, als auch alle unsere theoretischen Begriffe den Charakter des ‚Instrumentalen‘ an sich tragen. Sie sind zuletzt nichts anderes, als die Werkzeuge, die wir uns für die Lösung bestimmter Aufgaben geschaffen haben und immer aufs neue schaffen müssen. [...] Ein und dieselbe Grundfunktion, die Funktion des Symbolischen als solche, entfaltet sich in ihren verschiedenen Hauptrichtungen und schafft innerhalb derselben immer neue Gebilde“.22
des objektiven und subjektiven Erkennens – loziert im wissenschaftlichen Denken einerseits und religiösen Gefühl andererseits – und ordnet ihnen Sprache und Kunst lediglich als deren Ausdrucksmedien zu“ (Martin Laube, Kultur und Individuum. Aspekte ihrer gegenläufigen Verhältnisbestimmung bei Friedrich Schleiermacher und Ernst Cassirer, in: Dietrich Korsch/Enno Rudolph [Hrsg.], Die Prägnanz der Religion in der Kultur, Tübingen 2000, 139–161, hier: 159). Laube liest Schleiermacher als Vorläufer einer funktionalen Differenzierung von Systemen im Sinne Luhmanns. Das unternimmt ähnlich auch Korsch: „Schleiermacher akzeptiert und rekonstruiert die funktionale Differenz der modernen Gesellschaft in kulturhermeneutischen Begriffen“ (Dietrich Korsch, Religion und Kultur bei Herrmann Cohen und Ernst Cassirer, in: Ders./Rudolph, Prägnanz, 162–178, hier: 166). 19 Richter führt den Funktionsbegriff erst explizit mit Cassirer und noch nicht für Schleiermacher ein (vgl. Richter, Religion, 130). In der Ausführung fokussiert sie die Problemstellung auf die Einführung des Sinnbegriffs als Überbietung Cassirers von Schleiermacher. Im Funktionsbegriff ist jedoch nicht nur die Frage nach der Sinndimension enthalten, sondern ebenso die nach der Funktion, die sich nicht nur als spezifische Sinnzuschreibung, sondern als situativ je anders zu vermittelnde Funktionszuschreibung darstellt. 20 Vgl. Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910), Darmstadt 31969, 417. 21 „Das ‚gemeinsame‘ Gebiet, in dem der Gegensatz von Denken und Sein ausgelöscht sein soll, besteht allerdings: aber es kann nicht mehr in einem absoluten Urgrund aller Dinge überhaupt, sondern lediglich in den allgemeinen Funktionsformen der rationalen und empirischen Erkenntnis gesucht werden“ (Cassirer, Substanzbegriff, 411). 22 Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (1942), Darmstadt 2 1961, 26. Cassirer gewinnt den Funktionsbegriff aus der Mathematik, formt ihn dann aber
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Einleitung
Die Einheit liegt bei Cassirer demnach nicht wie bei Schleiermacher in einem transzendenten Grund, sondern in der strukturellen Bestimmung von Relationalität zwischen Statik und Dynamik, die sich in der Grundfunktion des Symbolisierens ausdrückt.23 Die Funktion ist bei Cassirer ein struktureller Begriff, der sich als spezifische Funktionen in den jeweiligen kulturellen Bereichen als Wirkung erweist. Wirkung ist bei Cassirer das je spezifische Funktionieren der Funktion: „Die Gesamtheit reiner Relationsgedanken wird hier auf eine tatsächliche Wirkung zurückgeführt, die von bestimmten Mannigfaltigkeiten ausgeht, während doch die bloße Anwendung des Gesichtspunktes von Ursache und Wirkung bereits einen speziellen Relationsgedanken in sich schließt“24.
Bei Cassirer ist die Frage nach der Funktion also die Frage nach der Funktion kultureller Praxen, die durch die Wirkung dieser Funktionen gekennzeichnet sind und somit zur Begriffsbildung beitragen.25 Dabei bleibt „Cassirer auf die Strukturen konzentriert [...] (und nicht auf die materiale Durchführung, sei es in einer Ethik oder einer Theologie)“26, wie Richter festhält. Das hat mit Cassirer Konsequenzen für die theoretische Durchdringung kultureller Praxen, die eine dynamische Form der Begriffsbildung erfordert, die sich im Wechselspiel von Erfahrung und Begriffsbildung darstellt.27 Schleiermacher und Cassirer stehen noch vor der Einführung des Funktionsbegriffs in die soziologische Diskussion, die im Anschluss an Luhmanns systemtheoretische Überlegungen geschieht. Bei Luhmann kommt Funktionalität als funktionale Ausdifferenzierung im Rahmen kommunikationstheoretischer
um, um damit ein über den engen Kreis der Mathematik hinausgehendes Problem zu beschreiben (vgl. Cassirer, Substanzbegriff, V). Er erläutert, wie Begriffsbildung in den Logiken der jeweiligen Wissenschaften funktioniert, um dann auf ein Modell zu kommen, das mit Relationen und Dynamiken operiert. 23 Cassirers Verständnis von Funktionalität ist an die Notwendigkeit eines dialektischen Wechselverhältnisses von Statik und Dynamik gekoppelt: „Die funktionale Bestätigung des Denkens verlangt und findet ihren Halt in einer idealen Struktur des Gedachten, die ihm unabhängig von jedem zeitlich begrenzten Denkakt ein für alle Mal zukommt. [...] So zeigt sich, daß jedes Wissen gleichsam ein statisches und dynamisches Motiv in sich birgt“ (Cassirer, Substanzbegriff, 418; vgl. Richter, Religion, 130). 24 Cassirer, Substanzbegriff, 444. 25 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Das mythische Denken, Bd. 2, Darmstadt (1925) 41964, 262; vgl. Richter, Religion, 234. Im Mythos liegt die Pointe bei Cassirer darin, dass der Kult seine Wirkung transzendiert, und zwar in Bezug auf die und aus den symbolischen Formen, die immer schon in einem kulturell gebundenen Kontext stehen und in diesem Kontext eine Wirkung haben, die über die Bindung an die symbolischen Formen hinausgeht. 26 Richter, Religion, 263, Hervorhebung im Original. 27 Vgl. Cassirer, Substanzbegriff, 417.
1. Funktionalität
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Vorgaben und systemtheoretischen Denkens in den Blick.28 Funktionalitäten werden in diesem Sinne verstanden als „Leistungen unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Erhaltung eines sozialen Systems“ 29. Sie sind diejenigen funktionalen Differenzierungen, mit denen ein bestimmtes Funktionssystem (wie die Religion, der Staat, die Gesellschaft) operiert.30 So sei das System der Religion genau das, was die Funktion der Kontingenzbewältigung in der funktionalen Differenzierung von Immanenz und Transzendenz erfüllt.31 Luhmann
28 Die alte Ordnung der Dinge wird „durch die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen“ zerstört (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 1998, 707), die in autopoietischer Autonomie im Rahmen der Systemdifferenzierung geschehe. Luhmann beschreibt diese funktionale Systemdifferenzierung als vorläufig letzte Stufe eines Prozesses, die sich in einer spezifischen geschichtlichen Situation ergeben habe (vgl. Luhmann, Gesellschaft, 708–710). 29 Niklas Luhmann, Art. Funktionalisierungen, in: HWPh 2 (1972), 1143. 30 Vgl. Luhmann, Gesellschaft II, 745. „Funktionale Differenzierung beruht auf einer operativen Schließung der Funktionssysteme unter Einschluß von Selbstreferenz“ (Luhmann, Gesellschaft II, 745). Die Funktion ist damit gleichzeitig Einheits- wie Differenzbestimmung, insofern sie die einheitliche Funktion für das System ist, das es in Differenzierung zu dessen Umwelt setzt (Luhmann, Gesellschaft, 746). Für die religiöse Rede wird ein ähnliches Modell ausführlich bei Folkart Wittekind in der 2018 erschienenen „Theologie religiöser Rede“ entfaltet (vgl. Folkart Wittekind, Theologie religiöser Rede. Ein systematischer Grundriss, Tübingen 2018). Wittekind geht davon aus, dass Gegenstand der theologischen Betrachtung nur die religiöse Rede in ihrer inneren Logik, bezogen auf die jeweiligen Funktionalitäten, die diese Rede hervorruft, sein kann. 31 Die Konsequenzen der Systemtheorie für die Theologie zeigt Falk Wagner auf: Eigentlich erfordere die Systemtheorie, dass die Theologie eine Umkehr von einer Subjektorientierung unternehmen müsse. Demgegenüber könne die Theologie jedoch laut Wagner profilieren, „daß sich die Systemtheorie als derivate Fassung der Subjektivitätstheorie begreiflich machen lässt“ (Falk Wagner, Systemtheorie und Subjektivität. Ein Beitrag zur interdisziplinären theologischen Forschung, in: Ders., Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Jörg Dierken u. Christian Polke, Tübingen 2014, 161–190, hier: 163). Wagner verlagert die funktionale Komplexität ins Einheitsbewusstsein des Subjekts: „Das Spezifikum der Systemtheorie kann dann darin erblickt werden, daß sie Subjektivität in den Vollzug derselben aufhebt. Mit diesem Vollzug, der sowohl im System-Welt-Verhältnis als auch in dem zentralen Begriff der Entwicklung zutage tritt, erfolgt die Hinwendung von der singulären Subjektivität zum prozessualen Tätigkeitsvollzug von Subjektivität überhaupt“ (Wagner, Systemtheorie, 190). Das hat nun sekundäre Konsequenzen für die Rezeption der Funktionalität bei Schleiermacher: Die Rezeption der Funktion bei Schleiermacher ist eher als Luhmann-Interpretation zu verstehen, die das Verständnis funktionaler Ausdifferenzierung im Sinne der Systemtheorie an Schleiermacher anträgt (vgl. Falk Wagner, Funktionalität der Theologie und Positivität der Frömmigkeit, in: Günther Meckenstock [Hrsg.], Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Berlin 1991, 291–309). In der durch Luhmann geprägten Schleiermacher-Rezeption wird zur Erhellung des Funktionsbegriffs nicht die oben zitierte „Ethik“, sondern die „Kurze Darstellung“ (nachfolgend KD) herangezogen, unter der Fragestellung, ob die Funktion der Theologie als Reflexionsdisziplin sich in der funktional gedachten Beziehung auf die Kirchenleitung erschöpfen könne, so bei Mar-
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Einleitung
sieht den Vorteil des Funktionsbegriffs darin, dass er einen sehr eindeutigen Gegenbegriff zur Ontologie bilde, insofern funktionalisierte Zustände nicht auf ihr Wesen zu beschränken seien, sondern durch die Funktion, der sie dienen, und durch „funktional äquivalente Möglichkeiten“32 bestimmt sind. Die funktionalen Differenzierungen kennzeichnen die Art und Weise, mit der diese Systeme kommunizieren und die ihnen derart eigen ist, dass sie in der Kommunikation mit anderen Systemen erst übersetzt werden müssen.33 Der Funktionsbegriff dient bei Luhmann gerade nicht zu einer identitätsstiftenden Komplexitätsreduktion, sondern vielmehr als Komplexitätssteigerung, die er für die theoretische Reflexion auf funktionale Phänomene fordert.34 Luhmann führt deswegen die Differenzierung zwischen „Zweck“ und „Funktion“ ein, insofern die Frage nach dem Zweck der Komplexität sozialer Systeme nicht angemessen sei, wohl aber die Frage nach der Funktion von Zwecksetzungen: „Funktionen sind also Problemlösungen, die auch anders ausfallen könnten“35. Deswegen muss jedes System beständig herausarbeiten, welche Funktionen für die tin Rössler: „Die Pointe seiner [Schleiermachers] Grundlegung der Theologie als einer positiven Wissenschaft ist darin zu sehen, daß die Theologie aus dem System der realen Wissenschaften herausfällt und erst durch ihren funktionalen Bezug zur geschichtlichen Größe ‚Christentum‘ als eigenständige Wissenschaft konstitutiert wird“ (Martin Rössler, Schleiermachers Programm der philosophischen Theologie, [SchlA 14] Berlin/New York 1994, 203). In der KD selbst wird das von Schleiermacher jedoch nicht unter dem Funktionsbegriff verhandelt, dieser wird vielmehr an ihn herangetragen. Der entsprechend zitierte Paragraph 38 in der zweiten Auflage der KD von 1830 lautet: „Als theologische Disciplin muß der philosophischen Theologie ihre Form bestimmt werden, durch ihre Beziehung auf die Kirchenleitung“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen [1811/1830], hrsg. v. Dirk Schmid, Berlin/New York 2002, §38, 54); in der parallelen Formulierung in KD1 lautet der entsprechende Abschnitt (I, Erster Theil. Von der philosophischen Theologie, Einleitung, §17): „Als theologische Disciplin nimmt die philosophische Theologie ihre Form von dem Interesse an dem Wohlbefinden und der Fortbildung der Kirche“ (Schleiermacher, Kurze Darstellung, 72). Die explizite Verbindung von Schleiermacher mit dem Systemgedanken im empirisch-soziologischen Verständnis findet sich bei Ulrich Barth, der Schleiermacher für genau dieses Theoriefeld anschlussfähig machen will (vgl. Ulrich Barth, Theologie und Systemgedanke. Schleiermacher und der Aufstieg eines epochalen Methodenbegriffs [urspr. 2011], in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 279–292, bes. 280). 32 Luhmann, Funktionalisierung, 1143; der in höchst sarkastischem Tonfall anmerkt, dass für eine „an sich noch ontologisch verstandene[] Welt [...] der Begriff suspekt“ bleiben müsse (ebd.). 33 Vgl. Niklas Luhmann, Art. Funktion IV, in: HWPh 2 (1972), 1142–1143, hier: 1143. 34 So definiert Luhmann „Es scheint, daß die eigentümlichen Unschärfen, welche die Kritik mit Recht aufgedeckt hat, unentbehrlich sind, wenn es gilt, Handlungssysteme von großer Komplexität zu erforschen“ (Luhmann, Funktion IV, 1143). 35 Niklas Luhmann, Die Praxis der Theorie, in: Ders., Soziologische Aufklärung I, Wiesbaden 1970, 253–267, hier: 260. Otto Peter Obermeier schlägt in diesem Sinne vor, von „Polyfunktionalität“ zu sprechen (vgl. Otto Peter Obermeier, Zweck – Funktion – System.
2. A-Funktionalität
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Differenzbestimmungen des Systems sinnvolle Zwecksetzungen sind. 36 Die Bestimmung dieses komplexen Zusammenspiels geht damit nicht in Systemdifferenzierungen auf, sondern bietet Abwägungen, mit denen Funktionslogiken je einzeln und situativ thematisiert werden können. Insgesamt ist Schleiermacher, Cassirer und Luhmann gemein, dass die Funktionalität die Zielperspektive aufzeigt, sich von real-ontologischem Denken zu lösen und auf die Theoriebildung relational-struktureller Bestimmungen umzustellen, die sich in je spezifischen Fragestellungen ausdrücken: Bei Schleiermacher ist es die Frage, welche Funktionen die Bildung des Subjektes im Verhältnis zu sich selbst und dann im Verhältnis zu seiner Umwelt fördern. Bei Cassirer ist es die Frage, welche Funktion kulturelle Praxen in der Vielfalt der Lebenswirklichkeit für die Sinngebung haben, und wie sich diese auf welche strukturellen Begründungsmuster zurückführen lassen. Bei Luhmann ist es die Frage, welche Funktionen ein System so definieren, dass es als solches erkennbar ist und sich von seiner Umwelt sowie in seiner inneren Autopoiesis differenziert. Das ist der Punkt, an dem Funktionalität mit Ritschl sinnvoll weitergedacht werden kann: Ritschl zeigt die Konsequenzen funktionaler Begriffsbildung für die Materialdogmatik auf und verweist damit explizit wie implizit auf Problemstellungen funktionaler Begriffsbildung. Dabei steht Ritschl nun nicht nur chronologisch, sondern auch sachlogisch zwischen Schleiermacher und Cassirer. Er bleibt einerseits hinter Cassirer zurück und steht Schleiermacher nahe, indem er nach der Funktion christlicher Narrative für ein Subjekt fragt. Die Pointe, das sei hier vorausgeschickt, liegt bei ihm nun andererseits darin, dass dieses Subjekt bei Ritschl die Gemeinde ist, die sich nicht anders als in der Vielfalt kultureller Bezüge und Lebenswirklichkeiten zeigt. Ritschl integriert damit die subjekttheoretische Herangehensweise Schleiermachers mit einem Vorgehen, das Cassirer wenige Jahre später theoretisch fassen kann. In Aufnahme der hier vorgestellten Überlegungen der Funktion für das Subjekt, in kulturellen Praxen und in soziologischen Systembestimmungen, lautet die Fragestellung für die vorliegende Arbeit: Welche Konsequenzen hat ein auf Funktionalität ausgerichtetes Denken für die theologische Reflexion?
2. A-Funktionalität 2. A-Funktionalität
Thesenartig kann zunächst folgender Bereich der spezifischen theologischen Bezugnahme auf Funktionalität umrissen werden: Die Theologie beschäftigt Kritisch konstruktive Untersuchung zu Niklas Luhmanns Theoriekonzeptionen, Freiburg/München 1988, 74). 36 „Die Form der Komplexität ist also, kurz gesagt, die Notwendigkeit des Durchhaltens einer nur selektiven Verknüpfung der Elemente, oder in anderen Worten: die selektive Organisation der Autopoiesis des Systems“ (Luhmann, Gesellschaft II, 138).
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Einleitung
sich mit dem funktionalen Bezug auf A-Funktionalität. Der Begriff des A-Funktionalen erfordert nun eine vorläufige Definition, da er kein etablierter fachsprachlicher Begriff der Theologie ist. Die Differenzierung von A-Funktionalität gegenüber dem Transzendenzbegriff liegt nicht in dem Gegenstand der Reflexion. Sie zeigt lediglich an, dass die Reflexion in einem anderen Diskursrahmen geschieht, nämlich einem, in dem es um die Frage nach Funktionalitäten geht. Die Genese des Begriffes der A-Funktionalität liegt in dem spezifischen interdisziplinären Diskurs mit den Lebens- und Kulturwissenschaften. Im interdisziplinären Diskurs mit Psychologie und Soziologie, so z. B. in der Bearbeitung des Resilienzphänomens, kristallisierte sich heraus, dass sich auch die Theologie auf das funktionale Denken dieser Wissenschaften einlassen muss, um gemeinsam zu praxisorientierten Anwendungen (z. B. therapeutischen Interventionen) zu kommen.37 Diese Anwendungen haben eine Funktion, für die Anwendenden wie für diejenigen, auf die sie angewandt werden, und müssen zudem im Rahmen der psychologischen und medizinischen Arbeitsweise operationalisiert werden können, z. B. für Anamnese-Fragebögen. Aus theologischer Perspektive ergab sich im Dialog beständig, dass diese Notwendigkeit zur Operationalisierung scheinbar einer dem Gottesgedanken inhärenten Unverfügbarkeit und dem Transzendenzbezug christlicher Praxen diametral entgegenstand: Weder sollte der Gottesgedanke auf eine Funktion reduziert werden noch könnte in einer christlichen Praxis garantiert werden, dass diese – im Sinne einer therapeutischen Maßnahme – garantiert funktioniert. Um diese diametralen Gegenüberstellungen – z. B. Operationalisierung und Transzendenz – aufzubrechen und die gemeinsame Bearbeitung von Problemstellungen zu ermöglichen, wurde in einer ersten Abgrenzung der Begriff der A-Funktionalität eingeführt: A-Funktionalität verweist in funktionalen Kontexten darauf, dass bestimmte Praxen und Narrative nicht auf ihre Funktionalität hin reduziert werden können, wie es Richter und Franziska Geiser folgendermaßen programmatisch formulieren: „Freilich ist die Frage nach der Funktionalität des Glaubens aus einer (selbst-)reflexiven Perspektive auf den Glauben gestellt. Denn aus der Innenperspektive ist christlicher Glaube gerade nicht auf Funktionalität hin angelegt, sondern ,weiß‘ sich a-funktional von Gott bestimmt. Menschen glauben nicht, um einen bestimmten Zweck zu erreichen“.38
Ein Gebet ist z. B. für eine Betende situativ funktional. Was die Funktion eines Gebetes ist, kann jedoch nicht eindeutig bestimmt werden, weil das die Unverfügbarkeit der Gebetserhörung negieren würde, die konstitutiv mit zum Gebet 37
Vgl. Cornelia Richter/Franziska Geiser, ,Hilft der Glaube oder hilft er nicht? ލVon den Herausforderungen, Religion und Spiritualität im interdisziplinären Gespräch über Resilienz zu erforschen, in: Cornelia Richter (Hrsg.), An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen, Stuttgart 2021, 9–36. 38 Richter/Geiser, Hilft der Glaube, 17.
2. A-Funktionalität
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gehört. Damit ist die zweite Abgrenzung verbunden: A-Funktionalität bedeutet ausdrücklich nicht nicht-funktional. Nicht-funktional würde implizieren, dass eine bestimmte Praxis oder der Gottesgedanke keine Funktion hätte. A-funktional soll demgegenüber anzeigen, dass Gottesgedanke und christliche Praxen eine Funktion für diejenigen haben können, die sie in Anspruch nehmen, es jedoch keine vorwegnehmende oder rückwirkende eindeutige Erklärung geben könne, was diese Funktion sei. Um den Begriff der A-Funktionalität vorläufig zu profilieren, sind zwei weitere Abgrenzungen notwendig, nämlich zunächst zu dem medizinisch-psychologischen Verständnis von Dysfunktionalität und dann zu einem A-Funktionalität im Sinne der Unverfügbarkeit postulierenden Verständnis. Dysfunktionalität ist ein Terminus der Lebenswissenschaften für Fehlfunktionen oder Störungen im Sinne des Input-Outcome-Denkens. Wenn normativ ein Zweck oder mehrere Zwecke einer Funktion angenommen werden können, dann ist alles, was diesen Zwecken nicht entspricht, eine Fehlfunktion.39 Das ist sinnvoll für diejenigen Diskurse und Praxen, die z. B. auf therapeutische Interventionen abzielen: Um eine Intervention durchzuführen, muss zunächst bestimmt werden, was die Patient:innen als Dysfunktionalitäten und Störungen verstehen, um diese gezielt zu behandeln. Es können nicht von vornherein Verfasstheiten und Phänomene bestimmt werden, die immer funktional oder immer dysfunktional sind. Was als funktional oder dysfunktional empfunden wird, ist vielmehr situativ und individuell. In der psychotherapeutischen Praxis wird zudem grundsätzlich von der „Funktion der Dysfunktionalitäten“ ausgegangen: „Es handelt sich [bei der Funktion von Dysfunktionalitäten, KO] um die Vorstellung, dass die psychischen Störungen keineswegs nur ‚Störungen‘ sind. Sie sind nicht nur Ausfälle, Dysfunktionalitäten [...], sondern auch Verhaltens- und Erlebnismuster mit einer je eigenen aktiven Dynamik und, in gewissem Sinne, auch mit einer Funktion. Sie sind nicht nur passiv erlittene, sondern auch aktiv [...] mobilisierte Reaktionen, Strategien, Mechanismen, so dass man vielfach paradoxerweise von einer Funktion innerhalb der Dysfunktionalität sprechen kann“.40
Auch somatisch-psychische Zustände, denen aus der Perspektive des Subjektes keine positive Funktion zugeschrieben wird, haben Funktionalitäten – die jedoch erst entdeckt werden müssen und nicht von vornherein festliegen. Angst
39 Die Rede von den Dysfunktionalitäten als konstitutiver Bestandteil funktionalen Denkens findet sich zunächst bei Paul Sheldon Davies, Malfunctions, in: Biology and Philos 15, (2000/1), 19–38. 40 Stavros Mentzos, Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen, Göttingen 72015, 14; im Folgenden führt Mentzos für alle psychopathologischen Dysfunktionalitäten auf, wie diese funktionsbezogen in der therapeutischen Praxis analysiert werden können.
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Einleitung
ist z. B. in einem bestimmten Maße funktional, aber wenn sie dieses Maß überschreitet, wird sie – situativ und individuell – dysfunktional.41 Mit dieser begrifflichen Differenzierung wird für die vorliegende Arbeit der Begriff der Dysfunktionalität unter dem Paradigma der A-Funktionalität suspendiert: Dass mein Gebet nicht die von mir erhoffte Funktion erfüllt, ist konstitutiver Bestandteil der Gebetspraxis und eben kein Zeichen von Fehlfunktion oder Störung, auch dann, wenn es meiner Erwartung widerspricht. Es ist vielmehr ein Verweis auf die A-Funktionalität im Sinne einer Unverfügbarkeit religiöser Praxen, die an die Transzendenz des Gottesgedankens gebunden und damit kontrollierbaren Mechanismen entzogen ist. Deswegen wird für die christlichen Praxen in der vorliegenden Arbeit von einer Vielzahl von unterschiedlichen Funktionalitäten ausgegangen, die situativ unterschiedlich in ihrer Funktionalität bewertet werden können. Hier ist eine weitere notwendige Differenzierung zu treffen: Dass christliche Praxen und Narrative theologisch nicht als dysfunktional verstanden werden, bedeutet nicht, dass das auch für andere Systemlogiken gelten muss. Die ausbleibende Gebetserhörung und das Bild des sich entziehenden Gottes können in einem psychotherapeutischen Verfahren durchaus von Patient:innen als dysfunktional bestimmt werden, wenn sie z. B. ein bestimmtes Lebensziel verhindern. Warum sich bestimmte narrative Formulierungen dogmatischer Gehalte in bestimmten Konstellationen als pathologisch erweisen, während sie in anderen Konstellationen hingegen durchaus tröstliche Wirkungen haben können, ist aus der Perspektive der gläubigen Subjekte oder kollektiver Größen, wie der Gemeinde, nicht immer ersichtlich. In der theologischen Reflexion kann diese Problemstellung so aufgegriffen werden, dass der Fokus besonders auf diejenigen religiösen Vorstellungen gelegt wird, die als derart schmerzhaft empfunden werden, dass sie nicht nur Grundlage von Religionskritik sind, sondern in Pathologien oder fundamentalistische Tendenzen führen.Für diesen Zusammenhang muss eine funktionale Theologie auch dort, wo sie aus systematisch-theologischen Gründen den Begriff der Dysfunktionalität vermeidet, aus seelsorgerlichen Gründen sensibel bleiben. Der Begriff der A-Funktionalität wird abschließend abgegrenzt von einem Verständnis von Unverfügbarkeit, das sich einerseits der (theologischen) Reflexion entzieht und andererseits auf eine spezifische Funktionsbestimmung reduziert wird. Das kann anhand der Art und Weise, wie der Soziologe Hartmut Rosa aktuell die Begriffe „Resonanz“ und „Unverfügbarkeit“ in den akademischen wie nicht-akademischen Diskurs einträgt, exemplifiziert werden. Die
41 Vgl. Hans Morschitzky, Angststörungen. Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe, Wien 32004, VI. Dieses Verständnis von Funktionalität ist nicht mit dem psychologischen Ansatz des Funktionalismus identisch (vgl. R. Heed, Art. Funktion III, in: HWPh 2 [1972], 1141f.).
2. A-Funktionalität
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Zielperspektive, die Rosa in den breit rezipierten Werken „Resonanz“ (2016)42 und „Unverfügbarkeit“ (2019)43 aufzeigt, ist derjenigen der vorliegenden Arbeit ähnlich: Rosa beleuchtet diejenigen Phänomenbestände der Weltbeziehung, in denen sich eine Form von Resonanz einstellt, die funktional wird.44 Aus soziologischer Perspektive kommend, reduziert Rosa jedoch die Resonanz – und damit alle aus ihr folgenden Bestimmungen – auf eine Funktion hin, die sich aus seinem Forschungskontext ergibt.45 Die Resonanz soll der durch die Beschleunigung der gesellschaftlichen Prozesse bewirkten Entfremdung des Menschen von seiner Welt (und sich selbst) entgegenwirken: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“46. Damit sind für Rosa normativ alle diejenigen Phänomenbestände für das gute Leben als resonantes Leben bestimmt, die sich auf Entschleunigung oder Verlangsamung beziehen.47 Resonanz hat also eine bestimmbare Funktion, so dass Rosa darauf angewiesen ist, diese auch dort zu bestimmen, wo sie sich eigentlich nicht einstellt. Unter diesem Paradigma ordnet er die „Unverfügbarkeit“ komplemenär zur Resonanz ein, die damit scheinbar dem Funktionsdenken entzogen werden kann.48 Dennoch bleibt die Ausrichtung auf eine Funktion bei Rosa bestehen: 42
Vgl. Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt a. M. 2016. 43 Vgl. Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 42019. 44 Rosa beschreibt dieses in religiös aufgeladener Sprache: „Denn alle Subjekte machen im Laufe ihres Lebens konstitutive Resonanzerfahrungen, das heißt, sie erleben Momente, in denen ihr Draht zur Welt intensiv zu vibrieren, ihr Weltverhältnis zu atmen beginnt“ (Rosa, Resonanz, 34, kursiv im Original). 45 Zurückgehend auf: Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. 46 Rosa, Resonanz, 13. Rosa legt dar, er habe „das bisher nur angedeutete Konzept der Resonanz als Gegenbegriff zur Entfremdung systematisch ausformuliert und so einen neuen Maßstab des gelingenden Lebens vorzuschlagen versucht“ (Hartmut Rosa, Gelingendes Leben in der Beschleunigungsgesellschaft. Resonante Weltbeziehung als Schlüssel zur Überwindung der Eskalationsdynamik der Moderne, in: Tobias Kläden/Michael Schüßler [Hrsg.], Zu schnell für Gott? Theologische Kontroversen zu Beschleunigung und Resonanz, [QD 286] Freiburg i. Br. 2017, 18–51, hier: 18). Rosa fährt fort: „Daraus möchte ich dann einen Begriff der Resonanz gewinnen, der das „Andere“ der Entfremdung bezeichnet und als Richtschnur in der Suche nach dem gelingenden Leben dienen kann“ (Rosa, Gelingendes Leben 35). 47 „Lebensführung entwickelt sich in dieser Perspektive aus der Suche nach jenen konstitutiven Resonanzoasen und aus dem komplementären Bestreben, die Wiederholung der Wüstenerfahrungen zu vermeiden“ (Rosa, Resonanz, 25). Die „[p]assive Qualität des SichBerühren-Lassens“ wird bei Rosa zur Kardinaltugend (Rosa, Resonanz, 755). 48 „Ihnen [den Resonanzbeziehungen] haftet stets ein Moment des Unverfügbaren an; Resonanz lässt sich niemals erzwingen“ (Rosa, Gelingendes Leben, 38). Rosa reißt immer wieder die Kategorie der „Unverfügbarkeit“ in der Resonanz an: „Unverfügbar bleibt die Erfahrung ja ganz unbeschadet ihrer Kommodifizierung: Wie jeder Konzertgänger, Theater-
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Einleitung
Es können Resonanzräume geschaffen werden, in denen diese Funktion der Resonanz sich vollzieht. Es kann für Rosa zudem zumindest prinzipiell eine Beurteilung von gelingender Resonanz geben, die sich als entschleunigte Weltbeziehung ausdrückt.49 Die Popularität des Konzeptes der Resonanz verweist darauf, dass damit eine Fragestellung angesprochen wird, die an inter- und transdisziplinäre Problemstellungen anschlussfähig ist und existentielle Lebensfragen berührt.50 In der Art und Weise, wie Rosa das unverfügbare Gegenüber als Grundlage der Resonanzerfahrung setzt, geht er jedoch hinter diesen Anspruch und die Präzisierungen der Klassischen Deutschen Philosophie zurück, so insbesondere dort, wo er in der vertikalen Resonanzachse den Gottesgedanken thematisiert: Rosa bestimmt Gott in einem theistischen Sinn als das die Resonanz erzeugende, andere Gegenüber.51 Dieses Gegenüber sowie die mit ihm entstehende Resonanzbeziehung bestimmt Rosa als der theologischen wie der individuellen Reflexion in der Praxis entzogen.52 Damit ist der Gottesgedanke in einem Konzept, das auf Funktionalität zielt, gleichzeitig nichtfunktional und auf eine Funktion hin reduziert. An diese kritische Betrachtung schließt sich die Problemstellung für die vorliegende Arbeit an, die in der Begrifflichkeit der A-Funktionalität angegangen wird: Wie kann der funktionale Bezug auf A-Funktionalität so verstanden werden, dass Gottesgedanke und christliche Praxen weder nicht-funktional werden noch auf eine Funktion hin reduziert werden?
und Museumsbesucher, Schallplatten- oder Buchverkäufer weiß, kann das erworbene Produkt bei ihm etwas auslösen oder auch nicht“ (Rosa, Resonanz, 625). 49 Rosa, Gelingendes Leben, 38. 50 Dabei ist wohl im Wesentlichen die Zeitdiagnose Rosas das wirkmächtige, weil intuitiv einleuchtende Element seiner Theorie. Das zeigt sich auch daran, dass die Autor:innen des theologischen Sammelbandes „Zu schnell für Gott“ i.W. Rosas Linie und Zeit-Diagnostik folgen und danach fragen, wie mit einer beschleunigten Gesellschaft umgegangen werden kann. Sie setzen sich aber deutlich weniger mit den theologischen Voraussetzungen für Resonanz voraus. So thematisiert z. B. Hans-Joachim Höhn die Transzendenz als Proprium des Religiösen nur insofern, als dass das Religiöse „eine solche Einstellung zu diesen Lebensverhältnissen bezeichne[], welche die Lebensverhältnisse ‚transzendier[e]‘ [...] und sich zugleich über dieses Unausweichliche hinwegsetz[e]“ (Hans-Joachim Höhn, Dialektik der Beschleunigung. Theologie als Zeitdiagnose, in: Kläden/Schüßler, Zu schnell, 52–71, 62). 51 Rosa, Resonanz, 435. Religion wird bei Rosa in die vertikale Resonanzachse eingeordnet (vgl. Resonanz, 435–453), in Aufnahme von Schleiermacher, Buber und James allerdings schon mit einem sehr spezifischen Religionsverständnis operierend, das mit einer Form von Naturmystik (Rosa, Resonanz, 453–472) bzw. Ästhetik (Rosa, Resonanz, 472– 500) kompatibel ist. 52 Rosa nimmt an, dass „die Welt oder das Universum oder Gott auch dann zu uns spricht, wenn wir sie nicht zu hören vermögen, wenn alle Resonanzachsen verstummt sind“ (Rosa, Gelingendes Leben, 48).
3. Situativität
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3. Situativität 3. Situativität
Die Komplexität des funktionalen Bezugs auf A-Funktionalität wird dadurch erweitert, dass diese funktionale Bezugnahme nicht im luftleeren Raum, sondern situativ und kontextuell eingebettet geschieht. Deshalb ist die Trias von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität die leitende Relation der vorliegenden Arbeit. Was „situativ“ meint, wird im Folgenden in der Bestimmung der „momentanen situativen Verfasstheit“ in Aufnahme und Abgrenzung vom Situationsbegriff entwickelt. Ebenso wie bei der A-Funktionalität handelt es sich um eine vorläufige Begriffsbestimmung, die im weiteren Durchgang durch die Arbeit präzisiert wird. Karl Jaspers führt die Situation als Fachterminus aus seiner Lektüre Søren Kierkegaards in die philosophische Diskussion ein:53 Anstelle von statischen Weltbildern und Einstellungen benennt Jaspers als Gegenstand der Philosophie diejenigen dynamischen Kräfte, die einzelne Elemente in einem bewegten Prozess zu einem Ganzen verbinden.54 Jaspers bestimmt die Situation folgendermaßen: „So sehr das für den handelnden Menschen auch zutrifft, er steht doch über alle einzelnen Situationen hinaus in gewissen entscheidenden, wesentlichen Situationen, die mit dem Menschsein als solchem verknüpft, mit dem endlichen Dasein unvermeidlich gegeben sind, über die hinaus sein Blick nicht reicht, sofern der Blick auf Gegenständliches in der SubjektObjekt-Spaltung gerichtet ist. Diese Situationen, die an den Grenzen unseres Dasein überall gefühlt, erfahren, gedacht werden, nennen wir darum „Grenzsituationen“. [...] Alles fließt, ist in ruheloser Bewegung des in Fragegestelltwerdens, alles ist relativ, endlich, in Gegensätze zerspalten, nie das Ganze, das Absolute, das Wesentliche“55.
Die Grenzsituationen sind für Jaspers der Ort, an dem die Frage nach Werten und Handlungsoptionen überhaupt erst aufkommen könne. Denn sie verwiesen auf die Zerissenheit, die jede Situation grundsätzlich kennzeichne und den Menschen – in Jaspers Übernahme einer Denkfigur von Kierkegaard – aus der Unschuld, dem inneren „Ja“ zum Sein, herausreiße. Grenzsituationen sind bei Jaspers nicht als Grenzsituationen durch einen bestimmten Gehalt der Situation gekennzeichnet, sondern dadurch, dass in ihnen kein Bezug auf das Absolute mehr gegeben ist: In Grenzsituationen habe der Mensch vollständig den Halt
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Vgl. Franz-Josef Wetz, Art. Situation, in: HWPh 9 (1995), 923–929, hier: 924. Vgl. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 21922, 219. 55 Jaspers, Psychologie 229. „Es kommt für den Menschen darauf an, jeweils in seiner geschichtlichen Situation der Grundsituation des Menschseins und in ihr des Seins selbst inne zu werden. Als eine allgemeine ausgesprochen ist zwar die Situation wohl als Grundsituation gemeint, aber schon nicht mehr die Grundsituation“ (Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1958, 871). 54
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Einleitung
verloren, sie seien deswegen – laut Jaspers – relativ rar.56 Die Frage der Grenzsituationen wird für Jaspers zur Frage der Grundsituation als Ausdruck der Subjekt-Objekt-Spaltung: „Wie kann ich mich in der Grundsituation verhalten? [...] Kann ich Erlösung aus der Zerissenheit finden?“57 Jaspers Situationsbestimmungen operiert mit der Diastase zwischen Grund- und Grenzsituation. Für Jaspers ist die Situation demnach entweder eine Grundsituation, die nicht bewusst ist, oder eine Grenzsituation, die als diese Grundsituation eindrücklich bewusst wird. Unter diesen Prämissen kann Jaspers das Spektrum menschlicher Lebenserfahrungen nur in dem Umgang mit diesen Diastasen in den Blick nehmen. Situation und Funktion gehen insofern nicht ineinander auf, als dass die Situation zwar eine Funktion herausfordert, aber die erwünschte Funktion insofern irritieren kann, als dass sie eine dieser entgegengesetzte, durch die Situation provozierte Funktionalität haben kann und damit erst auf bis dahin verborgene Funktionalitäten aufmerksam machen kann.58 Das Verhältnis von menschlicher Grundsituation und Grenzsituation prägt auch den weiteren Diskurs: Thomas Luckmann entwirft mit dem Nachlass von Alfred Schütz eine phänomenologische Soziologie, mit der im Situationsbegriff in den Blick genommen werden kann, wie sich der Umgang der Menschen mit ihrer Lebenswelt in Alltagssituationen darstellt. Ganz grundsätzlich sei dieser Umgang durch das Vertrauen darauf geprägt, „daß die Welt, so wie sie mir bisher bekannt ist, weiter so bleiben wird“59. In dieser Gewissheit könne so lange fraglos und selbstverständlich gelebt werden, bis die Wirklichkeit zur Situation werde. Die konkrete Situativität der „lebensweltlichen Wirklichkeit fordert mich sozusagen zur Neuauslegung meiner Erfahrung auf und unterbricht den Ablauf der Selbstverständlichkeitskette“60. Bei Schütz/Luckmann wird der Situationsbegriff dementsprechend verwendet, um anzuzeigen, dass 56 Jaspers, Psychologie, 229. Die Grenzsituationen selbst sind zudem für Jaspers durch die antinomischen Gegensatzpaare „Kampf und gegenseitige Hilfe, Leben und Tod, Zufall und Sinn, Schuld und Entsündigungsbewusstsein“ (Jaspers, Psychologie, 256) gekennezeichnet. Dennoch seien sie Ausdruck der Gesamtsituation der Subjekt-Objekt-Spaltung: „Die äußere Situation – so wechselnd sie ist, und so ungleichmäßig sie verschiedene Menschen trifft – ist für alle zweischneidig, fördernd und hemmend, unvermeidlich beschränkend, zerstörend, unzuverlässig, unsicher“ (Jaspers, Psychologie, 230). Jaspers sieht den subjektiven Ausdruck der Grenzsituationen im Leiden gegeben, wobei auch dieses ambivalent sei: „Das Gemeinsamste aller Grenzsituationen ist, daß sie Leiden bedingen; das Gemeinsame ist aber auch, daß sie die Kräfte zur Entfaltung bringen, die mit der Lust des Daseins, des Sinns, des Wachsens einhergehen“ (Jaspers, Psychologie, 247). 57 Jaspers, Wahrheit, 879. 58 So differenziert Jaspers für den Umgang mit der Situation des Leidens, der Mensch könne resigniert, weltflüchtig, heroisch und religiös-metaphysisch reagieren (vgl. Jaspers, Psychologie, 251–256). 59 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt (1979), Frankfurt a. M. 2003, 34. 60 Schütz/Luckmann, Strukturen, 39.
3. Situativität
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es in der Situation um ein einmaliges, singuläres Erleben geht, das an bestimmte soziale und historische Kontexte und Kategorisierungsprinzipien gebunden ist.61 Schütz/Luckmann fokussieren zunächst ebenfalls die Grenzsituationen und zwar als Grenzen der Lebenswelt. Sie führen dann die Kategorie der „Transzendenz“ in die Theoriebildung ein. Jede Situation werde als transzendent erfahren, insofern die Situation auf sich verweise und sich gleichzeitig im Verweis auf die Struktur der Lebenswelt übersteige: „Der Lebenslauf ist eine Folge von Situationen. [...] In jeder Situation ist mir die ontologische Struktur der Welt auferlegt.“62 Damit ist – über Jaspers hinausgehend – die ganze Lebenswirklichkeit von solchen auf Transzendenz verweisenden Grenzen bestimmt, so dass mit der „Grenze“ die Fülle der Lebenserfahrung, sofern diese bewusst wird, erfasst werden kann. Das führen Schütz/Luckmann in der Differenzierung zwischen „kleinen“, „mittleren“ und „großen“ Transzendenzen weiter, die in unterschiedlicher Qualität die Situativität bestimmen: Kleine Transzendenzen (z. B. technische Schwierigkeiten) machen grundsätzlich darauf aufmerksam, dass Menschen immer mit Raum und Zeit umgehen müssen. Mittlere Transzendenzen zeigen im Umgang mit Mitmenschen auf, dass nie von vollkommener Verständigung ausgegangen werden könne.63 Große Transzendenzen verweisen schließlich auf die letzten Grenzen des Lebens.64 Für die Bestimmung der Situativität ist die Charakterisierung der durch die Situation gekennzeichneten Lebenswelt weiterführend: Schütz/Luckmann bestimmen zunächst die räumliche Aufschichtung und spezifischer die „Wirkzone“ als grundlegende Struktur der Situation.65 Die Situation sei zudem durch die zeitliche Struktur geprägt, die sich biographisch artikulieren könne. 66 Schließlich treffen Schütz/Luckmann die Differenzierung zwischen der „sozialen Struktur der Lebenswelt des Alltags“67, die auf die vorgängige intersubjektive Struktur der Lebenswelt verweise, und dem Lebenslauf als „subjektive Bedingungen der biographischen Artikulation und soziale[n] Ausformung“68. 61 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 140f. „In jedem Augenblick meines bewußten Lebens befinde ich mich in einer Situation. In ihrem konkreten Inhalt ist zwar diese Situation unendlich variabel: einerseits weil sie, sozusagen als ‚Produkt‘ aller vorangegangenen Situationen, biographisch artikuliert ist, anderseits weil sie relativ ‚offen‘ ist, das heißt, sie kann auf Grund eines jeweiligen Wissensvorrats verschiedentlich definiert und bewältigt werden. Sie ist jedoch unabänderlich ‚abgegrenzt‘ durch die Einbettung der inneren Dauer in eine transzendierende Weltzeit und infolge der Eingefügtheit des Körpers in eine dem erlebenden Subjekt auferlegte Struktur der Lebenswelt“ (Schütz/Luckmann, Strukturen, 150). 62 Schütz/Luckmann, Strukturen, 166. 596. 63 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 610f. 64 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 597f. 65 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 77. 66 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 94. 67 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 98. 68 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 140.
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Einleitung
Diese drei Elemente, Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Einbettung von individuellem Erleben, werden in der folgenden Begriffsbildung aufgegriffen, um über die Diastase Grund- und Grenzsituation hinaus die Vielfalt lebensweltlicher Situativitäten abbilden zu können. Im Folgenden wird anstatt von „Situation“ von „momentaner situativer Verfasstheit“ gesprochen. Diese Begrifflichkeit zeigt die zeitliche („momentane“), räumliche sowie kontextuelle („situative“) Dimensionen an. Die momentane situative Verfasstheit ist in Kontexte eingebunden, die mitbedacht werden müssen, aber von der momentanen situativen Verfasstheit unterschieden werden können. Das ist eine Differenzierung, die in der Situation in eins fallen kann. Bei Schütz/Luckmann ist diese Differenzierung im Begriff der „Situation“ impliziert, als „momentane situative Verfasstheit“ wird sie jedoch offengelegt, um das Missverständnis zu vermeiden, es könne in der Vielfalt der Lebenswirklichkeit die Situation bestimmt werden, die sich jenseits ihrer Singularität erweist. Das ist für die Betrachtung christlicher Praxen und Narrative weiterführend, insofern sich diese schon in einer ersten oberflächlichen Betrachtung als momentan situativ präsentieren: Das Vater Unser-Gebet an diesem Sonntagmorgen kann als grundlegend anders empfunden werden als das gleiche Gebet in der vergangenen Woche, weil sich sowohl meine momentane situative Verfasstheit als auch Teile des Kontexts geändert haben. Ebenso ist das Gebet in diesem Gottesdienst für mich ein anderes als für meine Banknachbarin, obwohl die äußere Situation für beide gleich ist. Und möglicherweise ist ebenso situativ das Gebet für mich jetzt schon ein ganz anderes, als es das noch vor fünf Minuten war. Die eigene momentane situative Verfasstheit kann dabei mehr oder weniger bewusst sein. Bestimmte Erfahrungen können mich stärker auf meine eigenen Situativität verweisen als andere. Das gilt besonders, wenn sich eine momentane situative Verfasstheit ändert: Es ist jetzt anders als vorher und das bringt sowohl das „vorher“ als auch das „jetzt“ in den Blick.69 Die Rede von der momentanen situativen Verfasstheit kann dementsprechend die spektakulären wie unspektakulären Fälle in den Blick nehmen, in denen die eigene Situativität bewusst wird. Diese sind insofern Grenzfälle, weil sie im obigen Sinne auf die Situativität verweisen, die dadurch möglicherweise erstmalig ins Bewusstsein rückt. Sie sind keine Grenzfälle in dem Sinne, dass sie sich z. B. ausschließlich auf ethische Dilemmasituationen oder Lebenskrisen beziehen müssen.
69 Bei Viktor E. Frankl findet sich dieses Verständnis des Situationsbegriffs als Teil der Sinndeutung: „In diesem Sinne ist der Sinn einer Situation ja wirklich relativ; er ist es bezüglich der Situation als einer jeweils einmaligen und einzigartigen“ (Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, München 32011, 86); sowie: „Sinn wandelt sich nicht nur von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, sondern wechselt auch von Mensch zu Mensch (Ders., Der unbewußte Gott. Psychotherapie und Religion München 32015, 71).
4. Verortung im Diskurs
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Es sollte deutlich geworden sein, dass das, was als momentane situative Verfasstheit empfunden wird, einerseits existentiell vorgegeben ist und andererseits durch die Deutung situativ bestimmt wird. Eine weitere Differenzierung, die sich im Folgenden ergibt, sei kurz vorweggenommen: Die momentane situative Verfasstheit kann für die Existenz von Individuen sowie für kollektive Gruppen bestimmt werden. Dass es z. B. momentane situative Verfasstheiten protestantischer Landeskirchen gibt, kommt möglicherweise erst in dem Moment in den Blick, in dem sie, wie im 19. Jahrhundert, massiv in Frage gestellt wurden. Der Fokus auf die momentane situative Verfasstheit bedeutet nun nicht die Suspendierung theologischer Reflexion, weil diese nie alle momentanen situativen Verfasstheiten erfassen und antizipieren kann. Es muss vielmehr je und je situativ angemessen verstanden werden, wie die Situativität im jeweiligen Kontext geprägt ist und welche Narrative und Narrationen eine Wirkung erweisen können. Christliche Praxen erweisen sich in momentanen situativen Verfasstheiten je unterschiedlich, hängen aber am Kontext, in dem sie geschehen, und gehen so über eine reine Aneinanderreihung von Situationen hinaus. Daraus ergibt sich für die vorliegende Arbeit die leitende Fragestellung: Welche Funktionen werden in welchen momentanen situativen Verfasstheiten von kollektiven Größen und einzelnen Individuen in der Bezugnahme auf A-Funktionales erwartet, erfahren oder auch nicht erfahren?
4. Vorläufige Verortung im Diskurs und Aufbau der Arbeit 4. Verortung im Diskurs
Die grundlegende theoretische Problemstellung der vorliegenden Arbeit ist die Verhältnisbestimmung von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität, die anhand der Position Ritschls in einer Relecture dieser und der im Rahmen der Materialdogmatik diskutierten christlichen Praxis der Demut erschlossen werden. Sie versteht sich auf der Ebene der Theoriebildung als ein Teil von zwei Diskursen, nämlich zunächst zu den aktuellen Neubestimmungen und Fokussierungen in der „Liberalen Theologie“ und dann in dem Projekt einer „Situativen Dogmatik“. Die Differenzierung ist dabei – das muss hier vorausgeschickt werden – nicht so, dass im ersten Materialbestand mit Ritschl ein liberaler Theologe aus theologiegeschichtlicher Perspektive in den Blick genommen wird, und im zweiten Materialbestand die Demut als konkretes Phänomen für das Programm einer Situativen Dogmatik durchdacht wird. Vielmehr tragen beide Materialbestände zur Präzisierung des Verständnisses von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität bei, allerdings in je unterschiedlicher Hinsicht. Liberale Theologie wird mit Jörg Lauster nicht als eine Epochenbezeichnung, sondern als eine Haltung theologischen Denkens verstanden, die in kritischer Selbstreflexion und in freier Aufnahme der traditionellen Begriffsbil-
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Einleitung
dungen und Phänomenbestände besonders das Erleben des Individuums fokussiert.70 In diesem Sinne ist funktionales Denken ein Aspekt „Liberaler Theologie“, der in der vorliegenden Arbeit in mehreren Hinsichten weitergeführt wird. Ritschl wird nicht nur als der Beginn der Auseinandersetzung um liberaltheologisches Denken dargelegt, sondern die Relecture wird als ein Impulsgeber verstanden, mit der sich funktionale Bezüge in Frömmigkeitspraxen und kollektiven, gemeinschaftlichen Räumen im Rahmen liberal-theologischen Denkens entfalten lassen. In diesem Sinne nutzt die vorliegende Arbeit die Betrachtung des theologischen Denkens Ritschls, um Ekklesiologie, Frömmigkeit und gottesdienstliche Praxis als Desiderate der liberal-theologischen Beschäftigung zu fokussieren.71 Die Demut wird in der vorliegenden Arbeit als eine christliche Praxis in diesen Diskursen profiliert, anhand derer gezeigt werden kann, dass es gerade keine Komplexitätsreduktion bedeutet, wenn die mit dieser Praxis verbundenen funktionalen Erwartungen ernst genommen werden.
70 Lauster nimmt in seiner Marburger Antrittsvorlesung von 2007 die folgende vierfache Differenzierung vor: Liberale Theologie beziehe sich erstens auf „Religion als Erlebnis“ (Jörg Lauster, Liberale Theologie. Eine Ermunterung, in: NZSTh 49 [2008], 294–297, hier: 294), die zweitens mit der Selbstunterscheidung dieses religiösen Erlebnisses von seinen „Deutungen und Ausdrucksformen“ operiere (Lauster, Liberale Theologie, 297). Das ermögliche drittens eine Haltung, für die wissenschaftliche Freiheit und Kritik gegenüber der Religion und dann der Theologie gegenüber ihren Ausdrucksgestalten grundlegend sei, und die so die Freiheit der Theologie gegenüber sich selbst miteinschließe (ebd.). Die so verstandene Liberale Theologie ziele viertens, was Lauster selbst allerdings nur kurz anreißt, auf die „religiöse[] Welt- und Lebensgestaltung“, als „eine Lebensorientierung in praktischer Abzweckung“ (Lauster, Liberale Theologie, 299). Das 19. Jahrhundert sei Blütezeit dieser Haltung gewesen, es können jedoch auch „Origenes, Petrarca und Nikolaus von Kues“ als liberale Theologen bezeichnet werden. Mit diesem heuristischen Verständnis von „Liberaler Theologie“ kann auch z. B. Melanchthon mit der Liberalen Theologe ins Gespräch gebracht werden (vgl. Ann-Kathrin Armbruster, Philipp Melanchthon und die Liberale Theologie, in: Jörg Lauster/Ulrich Schmiedel/Peter Schüz [Hrsg.], Liberale Theologie heute/Liberal Theology Today [Tagungsband der Konferenz Liberale Theologie heute/Liberal Theology Today, 18.-21.07.2018, München], Tübingen 2019, 85–97). Ergänzend kann dem die Definition von Korsch zur Seite gestellt werden, der all diejenigen Theologien als liberal bestimmt, die es sich zu Aufgabe machen „das religiös Authentische und die Bedingungen der Gegenwart zugleich zu reflektieren“ (Dietrich Korsch, Theologie der Gegenwart, in: Ulrich Barth u. a. [Hrsg.], Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, [TBT 165] Berlin/Boston 2013, 27–42, hier: 27). 71 Zu diesen Desideraten und den sich daraus ergebenden Fragen für zukünftige Konzeptionen liberal-theologischer Theoriebildung vgl. Jörg Lauster, Liberale Theologie heute. Eine Einführung, in: Ders./Schmiedel/Schüz (Hrsg.), Liberale Theologie, 1–5, insbes. 4f.
4. Verortung im Diskurs
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Für die Bestimmungen von Funktionalität in der theologischen Reflexion ist neben der Verortung innerhalb der Liberalen Theologie das Projekt einer „Situativen Dogmatik“, wie es von Richter entworfen wird.72 Die „Situative Dogmatik“ ist eine Form theologischer Reflexion, die zunächst ganz basal durch das Interesse an situativen und existentiellen Phänomenbeständen gekennzeichnet ist, als eine „Glaubensreflexion [...], die der situativen Polyvalenz menschlicher Lebenserfahrung mit und vor Gott zu entsprechen sucht“73. Die Prämisse Situativer Dogmatik ist, dass die theoretische Reflexion nur über die Betrachtung konkreter Dogmatiken, deren dogmatischer Bestände und konkreter, situativer Phänomene geschehen kann. Dafür ist es notwendig positionelle Entwürfe so zu betrachten, dass sie als diese Position ernst genommen werden. Darüber hinaus ist es ebenso notwendig, konkrete Themen- und Phänomenkomplexe in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten in den Blick zu nehmen: Mit der Demut wird ein materialdogmatisch grundierter Phänomenbestand aufgegriffen, der für die Fragestellung einer Situativen Dogmatik ergiebig ist, weil er zwischen Prolegomena und Materialdogmatik steht und so an weitere materialdogmatische Themen anschlussfähig ist, dass sich aus der Demut die begrifflichen Theoriekonstellationen erhellen lassen, mit der sie gleichzeitig als christliche Praxis betrachtet wird. In diesem Vorgehen bildet sich die Arbeitsweise Situativer Dogmatik ab, in der sich Position, Thema und Theoreme wechselseitig durchdringen und im Dialog auf unterschiedliche Weise zum Erkenntnisgewinn beitragen. Daraus ergibt sich der folgende Aufbau: Zunächst ist ein Methodenkapitel vorgeschaltet, das erläutert mit welchen Methodologien der Zusammenhang von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität erschlossen wird: An die Desiderate des Forschungsstandes zu Ritschl anschließend, wird die Wahl von Narrativitäts- und Performanztheorien zur Bearbeitung der Problemstellung 72 Vgl. zu den Theoremen und Begriffsdefinitionen einer situativen Dogmatik besonders: Cornelia Richter, Situative Polyvalenz, Figuration und Performanz. Was die Dogmatik immer wieder von der Schrift lernen kann, in: Ursula Roth/Jörg Seip (Hrsg.), Schriftinszenierungen. Bibelhermeneutische und texttheoretische Zugänge zur Predigt, München 2016, 59– 80; Cornelia Richter, Ethik der Zwischenphänomene. Glaubensreflexion in lebensbegleitender Absicht, in: Michael Roth/Marcus Held (Hrsg.), Was ist eine theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Berlin 2018, 177–196; Cornelia Richter, Gottesdienst. Resonanzraum für Gottessehnsucht und Gottespräsenz, in: Elisabeth GräbSchmidt/Reiner Preul (Hrsg.), Gottesdienst (MJTh XXX), (MThS 130) Leipzig 2018, 69– 97 sowie anhand des Beispiels des Gebets: Cornelia Richter, Trauer zwischen Gebetsnot und „Nötigung“ ins Gebet. Eine Skizze situativer Lebenshermeneutik, in: Simon Peng-Keller (Hrsg.), Gebet als Resonanzereignis. Annährungen im Horizont von Spiritual Care, Neukirchen-Vluyn 2017, 177–192. 73 Richter, Situative Polyvalenz, 62. Es gilt, „dass nämlich beide, die lehrhafte Theologie wie der Glaubensvollzug, auf das nie allgemeine, sondern stets konkrete einzelne Leben bezogen sind, das jeder lehrmäßigen Darstellung vorgängig ist“ (Richter, Situative Polvalenz, 62).
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Einleitung
begründet. An dieser Stelle wird die Theoriekonstellation um die performanztheoretische Begriffsdifferenzierung von Performativität, Performanz und performance ergänzt, die ein methodologisches Ergebnis der Arbeit ist. Mit dieser methodologischen Vorentscheidung werden die beiden Materialbestände analysiert, nämlich die Relecture des theologischen Entwurf Ritschls und die Demut als christliche Praxis. Die Relecture Ritschls wird als eine Erschließung positioneller Systematischer Theologie im Rahmen der übergreifenden Fragestellung verstanden. Die Analyse der Demut als Teil der Ritschl’schen Theologie dient als Scharnierkapitel, das in die Bearbeitung des Phänomenbestands der Demut aus performanztheoretischer Perspektive führt. Die vorliegende Arbeit schließt mit dem aus Position und Thema entwickelten Beitrag zur Theoriekonstellation für aktuelle Diskurse: Funktionalität und Ekklesiologie, A-Funktionalität und Spiritualität sowie Situativität gottesdienstliche Praxis.
II. Forschungslage und Methodenreflexion Zur Bearbeitung der beiden Materialbestände – der Theologie Ritschls und der Praxis der Demut – in Hinblick auf Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität wird die methodologische Vorentscheidung getroffen, diese im Rahmen von Narrativitäts- und Performanztheorien zu untersuchen. Diese Entscheidung zu Methodenwahl ergibt sich aus den Desideraten der bisherigen Ritschlsforschung. Um diese Desiderate zu erfassen, werden deswegen zunächst die direkten zeitgeschichtlichen Reaktionen auf Ritschls Theologie in den Blick genommen. Daran schließt der kurze Überblick über den Stand der Ritschlforschung mit Fokus auf dem deutschsprachigen Raum an, bei dem sich die Beschäftigung mit den praktisch-ekklesiologischen Implikationen der Ritschl’schen Theologie als Desiderat zeigt. Darauf aufbauend wird für die Relecture Ritschls vorgeschlagen, diese anachronistisch mit Narrativitäts- und Performanztheorien zu unternehmen, insofern mit diesen das Zusammenspiel von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität methodisch erfasst werden kann. Dafür werden im vorgeschalteten Methodenkapitel gezielt diejenigen Aspekte der narrativitäts- und performanztheoretischen Diskurse referiert, die für die Relecture Ritschls und die Bearbeitung der Demut relevant werden. Es ist an dieser Stelle auf eine wichtige Differenzierung in der Einbeziehung von Narrativitäts- und Performanztheorien hinzuweisen: Die Narrativitätstheorien dienen als methodisches Erschließungsinstrument für die Relecture Ritschls, insofern sie geeignet sind, funktional dynamische Prozesse in der Wirkung der Narrative zu erfassen, die dennoch a-funktional geprägt sein können. Sie werden jedoch nicht eigens methodologisch weiterentwickelt, sondern im Rückgriff auf den Forschungsstand auf die Relecture Ritschls angewandt. Die Performanztheorien dienen als Methoden für die präzisere Erfassung derjenigen Passagen bei Ritschl, die auf solche Glaubenspraxen und Glaubenserfahrungen wie die Demut zielen, an die funktionale Erwartungen gestellt werden, die in der Rückschau jedoch grundlegend a-funktional erscheinen. Aufbauend auf dem Forschungsstand und in der Analyse der Demut als christlicher Praxis wird methodologisch eine eigenständige Begriffsbildung entwickelt. Das Resultat dieser methodologischen Überlegungen zu den Performanztheorien ergibt sich dementsprechend eigentlich erst aus dem Durchgang durch die gesamte Arbeit in der Bearbeitung der Materialbestände und wäre somit Teil des Gesamtfazits. Zur besseren Lesbarkeit der dann folgenden Kapitel ist das
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Forschungslage und Methodenreflexion
Ergebnis der Begriffsbildung mit der Differenzierung von Performativität, Performanz und performance jedoch schon in der Methodenreflexion vorgeschaltet.
1. Der Forschungsstand zur Rezeption Ritschls 1. Forschungsstand zur Rezeption Ritschls
Die Pointe der Ritschl’schen Theologie, wie sie sich schon in der direkten zeitgeschichtlichen Rezeption zeigt, liegt in den Dynamisierungsprozessen theologischen Denkens: Ritschl bricht die traditionellen theologischen Formen auf und stößt Transformationsprozesse in der Theologie an. Dieses Vorgehen Ritschls wird im Folgenden als ein konsequentes Umstellen des Systems auf Funktionalität verstanden. Das macht die Prominenz des Ritschl’schen Werkes aus und zwar sowohl in Aufnahme seiner Gedanken als auch in Abgrenzung zu diesen: Zu Ritschl und seiner Theologie musste man sich im 19. Jahrhundert positionieren. Das spiegelt sich in Ritschls Selbsteinschätzung von 1875 wider, die er brieflich an Wilhelm Herrmann kommuniziert. Er warnt diesen ausdrücklich davor, sich ihm zuzuordnen: „Sie wissen im Ganzen ebenso gut, und im Einzelnen vielleicht genauer wie ich, daß ich als Theolog höchst einsam stehe, daß ich von den bestehenden Parteien, rechts, Mitte, links, feindselig oder mißtrauisch angesehen werde, daß sie mich entweder verläumden oder todtschweigen, daß ich nicht nur keinen Einfluß unter den Theologen besitze, um ihre Hülfe für einen von mir Empfohlenen zu gewinnen, sondern daß ich befürchten muß, Einem durch meine wissenschaftliche Anerkennung zu schaden.“1
Ritschl, der nie eine Auseinandersetzung gescheut hat, ist allerdings selbst in den universitäts- und kirchenpolitischen, strategischen Überlegungen trotz des teilweise polemischen Tonfalls immer um die Sache bemüht gewesen, nämlich um eine Theologie, die in der Moderne gestaltbildend wirken kann:2 Seine Absicht ist es, eine Theologie zu formulieren, die für die Menschen des 19. Jahrhunderts in einer Zeit des Umbruchs relevant ist und diese in ihrem Eingebundensein in gemeinschaftliche bzw. kulturelle Bezüge mit all ihren Ambivalenzen ernst nimmt.3 Was Ritschl von der Theologie fordert, ist eigentlich ein Be-
1 Brief Ritschls vom 24.01.1875, in: Albrecht Ritschl/Wilhelm Herrmann, Briefwechsel 1875–1889, hrsg. v. Christophe Chalamet, Peter Fischer-Appelt u. Joachim Weinhardt i. Zus.-arb. m. Theodor Mahlmann, Tübingen 2013, 48. 2 So auch die – natürlich immer mit Vorsicht zu genießende – Selbstauskunft in einem Brief an Tholuck vom 23.01.1873: „Indessen tröste ich mich damit, daß ich nur streite, um von der Wahrheit zu überzeugen, niemals aber aus Rechthaberei“ (O. Ritschl, ARL II, 270). 3 Deswegen wird Ritschl meistens als „Kulturprotestant“ verstanden, so in der TRE (Friedrich Wilhelm Graf, Art. Kulturprotestantismus, in: TRE 20 [1990], 230–243, hier: 231) und der RGG (Friedrich Wilhelm Graf, Kulturprotestantismus, in: RGG4 4 [2001], 1850–1852).
1. Forschungsstand zur Rezeption Ritschls
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wusstsein für Situativitäten, mit denen die Theologie wie die kirchliche Verkündigung umgehen müsse, um weiterhin in ihren Praxen und mit ihren dogmatischen Themen eine Funktion erfüllen und relevant bleiben zu können. Die Theologie müsse sich zu den gesellschaftlichen Neukonstituierungen verhalten, von denen es zu Ritschls Lebzeiten einige gab, so die demokratische Revolution 1848, der Sieg Preußens im Deutsch-Französischen Krieg 1871, die Gründung des wilhelminischen Kaiserreichs und die beginnende Konstitution des Bürgertums in der industriellen Revolution. Für diese Umbruchzeiten fordert Ritschl für die Kirchen wie für die Theologie als akademische Disziplin Anpassungsleistungen und Neuformierungen: Weder der Pietismus noch eine rein historisch-kritische noch eine rein spekulativ-logische Theologie könnten Antworten auf die Fragen und Probleme der Menschen in den Gemeinden bieten.4 1.1. Die Aufnahme der Ritschl’schen Theologie im 19. Jahrhundert Ritschl betreibt eine Theologie, die für funktionale Kategorien sensibel ist. Ohne diese in jedem Moment so zu benennen, berücksichtigt Ritschl dabei folgende drei Elemente: Ritschls Theologie hat erstens ihren Ausgangspunkt in einer kritischen Kant-, Hegel- und Schleiermacherrezeption, die zweitens so mit den dogmatischen loci und dem biblischen wie kirchlichen Materialbestand kombiniert wird, dass Ritschl in Anspruch nehmen kann, in der Tradition zu stehen, um drittens diese loci auf eine lebensrelevante, situative Ausrichtung der Theologie hin umzuformen. Das Vorgehen Ritschls kann folgendermaßen verstanden werden: Er unternimmt eine Dynamisierung der Theologie in ihren materialdogmatischen Gehalten, die deswegen funktional ausgerichtet sein kann, weil sie die A-Funktionalität des Gottesgedankens beibehält, um die dogmatischen Gehalte situationsangemessen zu formulieren. Die dynamische Kombination bietet Bezugspunkte für Kritik und Affirmation aus den verschiedensten Richtungen, was im Folgenden zunächst anhand der „Gegnerschaft“ und dann der „Schülerschaft“ Ritschls exemplarisch entfaltet wird.
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Falk Wagner greift für die Beschreibung des 19. Jahrhunderts die Rede von der „Umformungskrise“ von Emanuel Hirsch auf: Aus der Krise erwachse eine sachkritische Dekonstruktion, welche die bisher unhinterfragten Autoritätsansprüche berühre. Aus dieser Dekonstruktione entstehen eine kritisch-destruktive sowie eine kritisch-konstruktive Richtung (vgl. Falk Wagner, Geht die Umformungskrise des deutschsprachigen modernen Protestantismus weiter?, in: ZNThG 2 (1995), 225–254, hier: 241). Arnulf von Scheliha sieht darin die theologiegeschichtliche Bedeutung des Ritschl’schen Werkes begründet (vgl. Arnulf von Scheliha, Protestantismus und Kirche. Albrecht Ritschls ekklesiologische Interpretation von Schleiermachers Wesensformel, in: Ders./Markus Schröder [Hrsg.], Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 77–101, hier: 100).
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Forschungslage und Methodenreflexion
1.1.1. Die kritische Abgrenzung zu Ritschl Die grundlegende Problematik, mit denen die Gegner Ritschls seine Theologie betrachten, ist die Frage, ob es überhaupt möglich sei, dass Theologie derart dynamisiert und funktional gedacht werden könne, wenn man die A-Funktionalität des Gottesgedankens ernst nehme. In der „Gegnerschaft“ wird dementsprechend zunächst die Kritik an der eigenständigen Aufnahme und Umformung der loci durch Ritschl laut. Diese Kritik, die im Rahmen der lutherischorthodoxen Theologie und dort im Wesentlichen von Christoph-Ernst Luthardt vorgetragen wird, entzündet sich am freien Umgang Ritschls mit den dogmatischen Begriffen und der Bestimmung des Gottesbegriffs. 5 Diese Kritik an Ritschl war innerhalb der Landeskirchen wirkmächtig, weswegen die lutherische Orthodoxie immer wieder gegen Ritschl und dessen Schüler in hochschulpolitischen Fragen vorging (z. B. bei der Berufung Adolf Harnacks nach Berlin). Auch die Pfarrerschaft, besonders die der lutherischen Landeskirchen, schloss sich dieser Beurteilung Ritschls in großen Teilen an:6 So gab es 1881 vor allen Dingen Angriffe von Pfarrern aus der Hannoverschen Landeskirche, welche die Synode erfolgreich aufforderten, dafür Sorge zu tragen, dass in Göttingen, Ritschls Wirkungsort und Ausbildungsstätte der Hannoverschen Pfarrer, immer eine ausreichende Anzahl an Professoren des rechten Bekenntnisses vorhanden sein solle.7 Die Pfingstkonferenz 1882 mit dem kritischen Vortrag von August Wilhelm Dieckhoff war dann der Auftakt einer Reihe weiterer Konferenzen, in denen Ritschl von kirchlicher, und zwar besonders von lutherisch-konfessioneller Seite, hart angegriffen wurde.8 Die lutherisch-orthodoxe 5
Ferdinand Kattenbusch, Rez. Christoph Ernst Luthard, Zur Beurtheilung der Ritschl´schen Theologie, in: ThLZ 7 (1882), 157–163, hier: 161. 6 O. Ritschl, ARL II, 394–396; vgl. Joachim Weinhardt, Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, (BHTh 97) Tübingen 1996, 60f. Helga Kuhlmann liefert eine detaillierte Beschreibung der Eskalation zwischen Ritschl und der Hannoverschen Pastorenschaft, vgl. Helga Kuhlmann, Die theologische Ethik Albrecht Ritschls, (BEvTh 112) München 1992, 13–23. So forderten auch Ritschls Bestrebungen zur Kirchen-Union die streng lutherische Hannoversche Landeskirche zur Abgrenzung heraus; zu Ritschls Position in Fragen der Union vgl. Albrecht Ritschl, Herr Dr. Hengstenberg und die Union (1852), in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Freiburg i. Br./Leipzig 1893, 52–67. 7 Zitiert als Aktenstück Nr. 18, IV 2 bei O. Ritschl, ARL II, 397; zu den verschiedenen Angriffen aus der Pfarrerschaft in den Jahren 1881–82 sowie in den Jahren 1887–88 vgl. O. Ritschl, ARL II, 499–503; Weinhardt, Herrmanns Stellung, 61f. 8 Auf der Hannoverschen Landessynode am 15. November 1887 wurde gegen Ritschl der Vorwurf der Irrlehre erhoben, der von der Synode zunächst nicht weiterverfolgt und schließlich abgelehnt wurde (vgl. O. Ritschl, ARL II, 499–501); nach der Darstellung O. Ritschls verschaffte ihm das weitere Zuhörer in der Fakultät (vgl. O. Ritschl, ARL II, 501). Dass Ritschl in der Hannoverschen Landeskirche nicht immer seiner Bedeutung nach gewürdigt wurde, kann man mutmaßlich auch daran ablesen, dass sein Grab auf dem Göttinger Zentralfriedhof vermutlich über einen längeren Zeitraum nicht gepflegt wurde. Während es noch 2011 aufgrund von Überwucherung für die Vf.in unmöglich war, das Grab zu finden,
1. Forschungsstand zur Rezeption Ritschls
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Position beharrt auf der Notwendigkeit von im weitesten Sinne ontologischen Begründungen, um die Wahrheit einer Theologie zu gewährleisten, die funktionalen Kategorien und Zeitbezügen enthoben ist. 9 Ritschl selbst kritisierte nicht nur die Hannoversche Landeskirche scharf,10 sondern sah gerade diese von der Pfarrerschaft gespiegelte Haltung als einen Grund dafür, dass die Kirche zunehmend an Relevanz für die Menschen verliere. Indem sich die Kirche der geforderten Reflexionsleistung ihrer Begriffe in einer veränderten zeitgeschichtlichen Situation entziehe, könne sie auch nicht die notwendige Neukonstituierung in den verschärften kirchenpolitischen Auseinandersetzungen (Streit um die Union in Preußen; Apostolikumsstreit) leisten.11 Demgegenüber erfordert eine Theologie im Ritschl’schen Sinne eine beständige Reflexionsleistung auf das dynamische Zusammenspiel von Praxis und religionsphilosophischen Voraussetzungen. Die Erlanger Schule ist im Vergleich zur konfessionellen Position zwar an der Funktion theologischer Figuren interessiert, jedoch unter der Prämisse, dass diese dem absoluten Gottesgedanken nachgeordnet sein muss. 12 Ihr Hauptvertreter, Franz Hermann Reinhold Frank, macht das an der Frage nach der Gewissheit fest, die er als Vergewisserung der absolut und überzeitlich gegebenen Gegenstände des Glaubens versteht. Ihre Funktion liege darin, sich in einer zeitgeschichtlichen Situation durchzusetzen, in der sie sonst bestritten würden.13 In Aufnahme von pietistischem Gedankengut und im Gefolge der Erweckungsbewegung 14 ist das „‚Ineinssetzen‘ von persönlicher Erfahrung,
konnte diesem 2014 durch die Initiative von Gerhard Sauter und vor allen Dingen Christiane Kind Abhilfe geleistet werden, sodass der Grabstein (ein schlichtes Stein-Kreuz) wieder zugänglich und die Inschrift mit den Lebensdaten lesbar ist. 9 Das lässt sich exemplarisch an der Bewertung des „modernen Rationalismus“, als dessen Vertreter Ritschl gilt, in Luthardts „Kompendium der Dogmatik“ zeigen: „Aber ind. so das Christenth. auf s. eigentlichen Werth hin beurtheitl werden soll mit Beseitigung aller Seinsurtheile, ohne welche doch die sog. Werturtheile gar nicht bestehen können, sondern in der Luft hängen, kommt es schließlich zu einer moralisierenden Entwertung des Christenth.“ (Ernst Christoph Luthardt, Kompendium der Dogmatik, Leipzig 91893, 73). 10 Vgl. den Brief an Herrmann vom 13.04.1881, in dem er die Pfarrerschaft als „Halunken“ tituliert (Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 258) sowie den Brief vom 13.02.1882 (Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 277). 11 Vgl. Albrecht Ritschl, Rez. zu Uhlhorn, Die Arbeit im Lichte des Evangeliums betrachtet, in: ThLZ 12 (1877), 323–326, hier: 324. 12 Notger Slenczka, Der Glaube und sein Grund – F.H.R. von Frank, seine Auseinandersetzung mit A. Ritschl und die Fortführung seines Programmes durch L. Ihmels – Studien zur Erlanger Theologie I, (FSÖTh 85) Göttingen 199, 22. 13 Slenczka, Glaube, 38. 14 Vgl. Slenczka, Glaube, 15.
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Schrift und Bekenntnis [...] die Grund- und Hauptaussage der Erlanger Theologie,“ 15 wie Notger Slenczka bestimmt. Frank hält deswegen – eigentlich ebenfalls aus funktionalen Gründen, ohne das aber zu reflektieren – an dem Begriff der Absolutheit Gottes fest und begründet darüber einen realen Gehalt der dogmatischen loci, sodass er die Ritschl’schen Umformungen besonders im Gottesbegriff kritisieren kann. Die Kritik der sogenannten „Liberalen Theologie“ hat nun im Unterschied zur Lutherischen Orthodoxie und zur Erlanger Schule einen ganz anderen Ansatzpunkt. Ausnahmsweise wird an dieser Stelle „Liberale Theologie“ als theologiegeschichtlich eingrenzbare Schulbezeichnung verwendet, unter Berücksichtigung aller Problematiken, die dieser Begriff mit sich bringt: Für die Mitte des 19. Jahrhunderts kann mit Hans-Joachim Birkner angenommen werden, dass der Begriff nicht, wie im späten 19. Jahrhundert und im beginnenden 20. Jahrhundert, als enge Schulbezeichnung den Kreis der Ritschl-Schüler um die „Christliche Welt“ bezeichnete. Sondern er meinte als weite Bezeichnung vielmehr diejenigen „spekulativen Theologen [...], die nicht zur ‚Hegelschen Rechten‘ gehörten“16, also u. a. Ferdinand Christian Baur, David Friedrich Strauss, Richard Adalbert Lipsius,17 Friedrich Wilhelm Franz Nippold und Otto Pfleiderer18. Ritschl selbst wird von diesen „Liberalen Theologen“ eher zu den Vermittlungstheologen oder den „Positiven“ gerechnet.19 Die „Liberalen Theologen“ stimmen Ritschl in den religionsphilosophischen Prämissen zu, kritisieren jedoch, dass Ritschls Theologie zu konkret werde und damit die religionsphilosophischen Prämissen hintergehe. Das führt zu verschiedenen Arten von
15 Slenczka, Glaube, 16, mit Bezug auf Franz Herrmann Reinhold Frank, Zur Theologie A. Ritschls, Erlangen-Leipzig 31891; sowie die Darstellung bei Kuhlmann, Ethik, 27–34. 16 Hans-Joachim Birkner, Liberale Theologe, in: Martin Schmidt/Georg Schwaiger (Hrsg.), Kirchen und Liberalismus im 19. Jahrhundert (1974), (SThGG 19) Göttingen 1976, 33–42, hier: 36. 17 Vgl. Richard Adalbert Lipsius, Die Ritschl’sche Theologie. Vortrag auf dem Thüringer Kirchentag zu Hildburghausen, Leipzig 1888. 18 Vgl. Otto Pfleiderer, Die Ritschl’sche Theologie, Braunschweig 1891. Es handelt sich hierbei um eine Zusammenstellung dreier Aufsätze Pfleiderers gegen Ritschl aus den „Jahrbüchern für protestantische Theologie zwischen 1889 und 1891. Pfleiderers Kritik richtet sich besonders dagegen, dass Ritschl und vor allem seine Schüler Herrmann, Kaftan und Bender die innere Verbindung von Religion und Sittlichkeit lösen, „was weder dem Geist der Bibel, noch dem der Reformation, noch den Bedürfnissen der gegenwärtigen Christenheit entspricht“ (Pfleiderer, Theologie, V). 19 Ritschl selbst sieht sich ebenso zeitlebens nicht als Liberalen Theologen und versucht sich jeder Schulbestimmung zu entziehen, so in den durchaus amüsant-spielerischen Ausführungen an Herrmann im Brief vom 24.10.1881, ob man gegen die Fremdbezeichnung „Positive“ nicht von sich selbst als „Offenbarungstheologie“ oder als „Positive Offenbarungstheologie“ sprechen könne und von den Gegnern als „Phantastische Theologie“ oder „phantastischer Offenbarungstheologie“ (Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 271).
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Kritik an Ritschl: Die Baur-Schule wirft Ritschl im Wesentlichen vor, die biblischen Texte nicht mehr nach objektiven Kriterien im Sinne der historischkritischen Methode beurteilen zu können.20 Ritschls Loslösung von der BaurSchule entzündet sich dann an der Auseinandersetzung mit Eduard Zeller um die Wunderfrage. Im spekulativen Zug der Liberalen Theologie hingegen wird der Fokus auf die kirchliche Praxis als konstitutiver Bestandteil der Theologie Ritschls abgelehnt. Der Vorwurf an Ritschl lautet, dass der geschichtlich-empirische Zugang im Sinne einer übersteigerten Kirchlichkeit die Philosophie als Prinzip der Theologie überflüssig mache.21 Schließlich führt diese Frontstellung zu einem mit großer persönlicher Verbitterung ausgetragenem Streit zwischen Herrmann und Ritschl auf der einen sowie Richard Adalbert Lipsius, Friedrich Wilhelm Franz Nippold und Otto Pfleiderer auf der anderen Seite.22 Durch Ritschls grundsätzliche Wertschätzung der Materialdogmatik lässt sich auch die Kritik in den späteren Abgrenzungen der religionsgeschichtlichen Schule erklären. In dieser wird bemängelt, dass aufgrund der Materialdogmatik die Theologie bei Ritschl notwendig zu eng auf das Christentum bezogen bleibe, sodass z. B. keine Theologie der Religionen entwickelt werden könne. Ritschl lehnt – wohl bedingt durch die enttäuschenden Erfahrungen von 1848 – zudem jegliches Vereinswesen in der Kirche ab, sodass er weder dem Protestantenverein noch dem Evangelischen Bund als Vergemeinschaftungsformen der Liberalen Theologie beitritt.23 Es zeigt sich schon in diesem kurzen Durchgang, dass die Angriffsfläche, die Ritschl bietet, sich an der Frage entzündet, wie und ob Dogmatik so dynamisiert mit dem religionsphilosophischen Forschungsstand zusammengedacht werden kann, dass sie relevant wird. In der Auseinandersetzung mit der Erlanger Schule und der Liberalen Theologie rückt die wissenschaftstheoretische 20 Vgl. dazu insgesamt Johannes Zachhuber, Zwischen Idealismus und Historismus. Theologie als Wissenschaft in der Tübinger Schule und in der Ritschlschule, (AKThG 46) Leipzig 2015. 21 Weinhardt, Herrmanns Stellung, 34f. 22 Begonnen wurde diese Auseinandersetzung durch eine Replik von Lipsius auf Herrmann (Wilhelm Herrmann, Die Metaphysik in der Theologie [1876], in: Ders., Schriften zur Grundlegung d. Theologie, Teil I, München 1966, 1–81), der diesem vorwirft, die Philosophie ganz aus der Theologie eliminieren zu wollen (Richard Adalbert Lipsius, Ein Vorwort zu einem Vorwort, in: PKZ 23 [1876], 641–651, bes. 649f.; vgl. Weinhardt, Herrmanns Stellung, 40f.). Ritschl spart in der Auseinandersetzung nicht an einem scharfen Tonfall, so wenn er Pfleiderer in einem Brief an Herrmann vom 13. Juni 1877 einen „ungewaschenen Stiftler“ nennt, und über Lipsius befindet, er sei in diesem Sinne „würdig, auch ein Stiftler zu sein“ (vgl. Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 119). Im selben Brief wirft Ritschl Pfleiderer auch vor, die Auseinandersetzung um die Wunderfrage nicht aus theologischem, sondern aus kirchenpolitischem Interesse geführt zu haben, da er seine eigene Position im Besetzungsverfahren des Tübinger Lehrstuhls stärken wollte. 23 O. Ritschl, ARL II 17f.; 58ff.; 402; 456f.; 485f.; 501; vgl. Weinhard, Herrmanns Stellung, 59.
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Legitimität des Ritschl’schen Denkens in den Blick, in der Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie und der Hannoverschen Landeskirche ist es die Frage nach der Normativität theologischer Gehalte. Schon in diesem Diskurs kommt eine weitere Konsequenz der Dynamisierung theologischer Reflexion in den Blick: Der Versuch, Fokuspunkte der Theologie implizit oder explizit zu bestimmen, ist für eine Rezeption unhintergehbar, steht jedoch immer in der Gefahr, Ritschls theologisches System auf diese zu reduzieren. 1.1.2. Die kritische Überbietung Ritschls in der „Schule“ Die Dynamisierung als Haltung, die Transformationsprozesse im theologischen Denken ermöglicht, kann als ein wesentlicher Grund für die Faszination der Ritschl’schen Theologie verstanden werden.24 Schon die erste Generation derjenigen ab ca. 1870, die sich als Ritschlschüler verstanden, hatte bis auf wenige Ausnahmen, wie z. B. Troeltsch, nie bei Ritschl gehört. So schreibt Ferdinand Kattenbusch: „Ritschls Schüler sind durchwegs Männer, die nicht eigentlich in der Vorlesung zu seinen Füßen gesessen haben, m.a.W. die nicht von ihm ihre ersten Eindrücke geschöpft haben. Sie haben mit anderen Richtungen gebrochen gehabt, als sie sich ihm zuwandten.“25 Der Kreis der Theologen um Ritschl ist äußerst disparat und zudem in den unterschiedlichsten Disziplinen angesiedelt, agiert jedoch in hochschul- und kirchenpolitischen Fragen einheitlich:26 Dies zeigt sich an den um 1880 durch Bernhard Stade durchgeführten Berufungen in der Gießener Fakultät, an die die Ritschl-Schüler Adolf Harnack (1879, Kirchengeschichte), Emil Schürer (1878, Neues Testament), Johannes Gottschick (1882, Praktische Theologie) und Ferdinand Kattenbusch (1878, Systematische Theologie) berufen wurden. 27 In diesem 24
Vgl. Christophe Chalamet, Wilhelm Herrmann and the Birth of the Ritschlian School, in: ZNThG/JHMTh 15 (2008), 263–289, hier: 263. 25 Ferdinand Kattenbusch, Von Schleiermacher zu Ritschl, Gießen 31903, 57. Joachim Weinhardt führt aus, dass das theologisch anziehende für die eher konservativ geprägten jungen Theologen 1874/75 an Ritschls Theologie die Vermittlung von Glaubensinhalten mit wissenschaftlicher Kritik war (vgl. Weinhardt, Herrmanns Stellung, 32ff.). 26 „Ritschlschule“ ist eine Bezeichnung von Seiten der konservativen Theologie. Eigentlich war, so schon Wilhelm Herrmann, die Ritschlschule keine Schule im eigentlichen Sinn (vgl. Wilhelm Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott, Stuttgart 21892, 1). Auch hier verwundert die Kritik von kirchlicher Seite, denn die Ritschl’sche Schule versuchte, wissenschaftlich reflektierte Theologie und Interesse an der Kirche miteinander zu verbinden, vgl. Johannes Gottschick, Die Kirchlichkeit der s.g. kirchlichen Theologie, geprüft, Freiburg i. Br. 1890. 27 Dieser Vorgang wurde als durchaus brisant empfunden und brachte der Ritschl-Schule den Vorwurf ein, die Ritschl’sche Theologie mit unlauteren, politischen Mitteln zu etablieren. U. a. wurde von Seiten der Gegner der Ritschl-Schule (besonders Friedrich Wilhelm Franz Nippold) der Vorwurf erhoben, dass die Besetzung von Lehrstühlen an den Universitäten mit Ritschl-Schülern durch Intrigen zustande komme (Vgl. Otto Ritschl, Albrecht Ritschls Leben. Erster Band.: 1822–1864, Freiburg i. Br. 1892 [im Folgenden: ARL I], 334;
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Sinne kann die Berufung Harnacks nach Berlin 1888 als Hoch-Zeit der Ritschlschule veranschlagt werden, die allerdings nicht lange vorhielt und nicht zu einer Einheitlichkeit im Denken führte: Denn die „Schüler“ übernehmen die Haltung der Dynamisierung, die Transformationsprozesse in der Theologie ermöglicht, nicht aber das ganze Lehrgebäude der Ritschl’schen Theologie als Grundlage ihrer eigenen theologischen Überlegungen. 28 Dynamisierung bedeutete nun, dass die Schüler Ritschl wiederum im Rahmen ihrer je eigenen Fokussierungen unter den ihnen möglichen neuen wissenschaftstheoretischen Bedingungen zu überbieten versuchten.29 Das brachte schließlich sogar einen konservativen Flügel der Ritschlianer hervor und begünstigte den schnellen Zerfall der Ritschlschule nach Ritschls Tod 1889.30 Exemplarisch zeigt sich das im Apostolikumsstreit von 1892, in dem sich nur ein Teil der Ritschlianer in der Eisenacher Erklärung mit Harnack solidarisch gab.31 Im Folgenden wird anhand der Weiterführungen der Ritschl’schen Theologie durch Herrmann, Ders., ARL II 57; 121f.; Weinhardt, Herrmanns Stellung, 44–46; zu Harnack: O. Ritschl, ARL II, 500ff.). 28 Vgl. Hans Hinrich Wendt, Albrecht Ritschls theologische Bedeutung. Zu seinem hundersten Geburtstage (25. März 1922), in: ZThK 30 (1920), 3–48, hier: 38f.; Johan Theodor von Häring, In welchem Sinne dürfen wir uns immer noch Göttinger heißen? Albrecht Ritschls Bedeutung für die Gegenwart, in: ZThK 20 (1910), 165–196, hier: 165f.; Weinhardt, Herrmanns Stellung, 37. Organe der Ritschl’schen Schule, die auch in den Auseinandersetzungen immer wieder eine Rolle spielten, wurden die Theologische Literaturzeitung (ThLZ, gegründet 1876), die von Martin Rade geleitete Christliche Welt (ChW, gegründet 1887) und die Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK, gegründet 1891), vgl. Weinhardt, Herrmanns Stellung, 42f. 29 Korsch sieht das Auseinandergehen der Ritschl’schen Theologie in zweifacher Hinsicht, nämlich „in eine Theologie, die den wesentlichen Betrag der Religion zur Kultur in der individuellen Begründung der Sittlichkeit erblickte (Wilhelm Herrmann), und in eine Theologie, die die Religion als geschichtlichen Moment in der kulturellen Weltgestaltung im Rahmen der historischen Weltanschauung auffaßte (Ernst Troeltsch)“ (vgl. Dietrich Korsch, Die Kommunikation des Wortes Gottes, in: Karl Barth, Kirche Dogmatik. Schriften II, hrsg. u. komm. v. Dietrich Korsch, Frankfurt a. M./Leipzig 2009, 1039–1049, hier: 1041). 30 Vgl. Weinhardt, Herrmanns Stellung, 118. Schon 1883 hatte sich der Bonner Dogmatiker Wilhelm Bender gegen Ritschl gewandt, indem er von einem agnostischen Standpunkt aus, dennoch in spekulativer Absicht, an einem objektiv gedachten Grund festhielt, auf den die Gottesvorstellungen verweisen. Dieser sogenannte rechte Flügel der Ritschlianer, zu dem auch der Systematiker und Neutestamentler Johan Theodor Häring, der Ritschl in Göttingen auf dem Lehrstuhl folgte, gehörte, hob stärker auf die Verwendung der loci durch Ritschl, den Einfluss der Bibel und die Teleologie ab. 31 Einige verweigerten die Unterschrift, so u. a. Häring, aber auch O. Ritschl und eigentlich auch Kaftan, der zur Unterschrift genötigt werden musste (vgl. Weinhardt, Herrmanns Stellung, 68f.). Julia Winnebeck ordnet dementsprechend die am Apostolikumsstreit sichtbar werdenden Grenzziehungen in die allgemeinen beginnenden Abgrenzungen innerhalb der deutschen Theologie und besonders der Liberalen Theologie ein (Julia Winnebeck, Apostolikumsstreitigkeiten. Diskussion um Liturgie, Lehre und Kirchenverfassung in der preußischen Landeskirche 1871–1914, [AKThG 44] Leipzig 2016, vgl. 294–296).
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Harnack und Troeltsch gezeigt, welche Aspekte diese jeweils in kritischer Überbietung und theologischer Fortführung aufnehmen. Die Entstehung der Ritschlschule ist eng mit der Person Herrmanns verbunden. Er positioniert sich 1876 recht bald nach der brieflichen Erstbegegnung mit Ritschl 1875, die durchaus nicht von Missverständnissen befreit war, für diesen.32 Herrmann versteht seit seiner Metaphysikschrift materialdogmatische Gehalte im Ritschl’schen Sinne dynamisch.33 Der Überbietungsanspruch Herrmanns liegt nun darin, dass er – auch in der Auseinandersetzung mit dem Marburger Neukantianismus um Cohen und Paul Natorp – der Theologie eine subjektivitätstheoretische Spitze in Bezug auf das Selbstgefühl des Menschen abgewinnt, die stärker als bei Ritschl auf das innere Erleben des Individuums abzielt. Wie es schon der Titel von Herrmanns Hauptwerk „Der Verkehr des Christen mit Gott“ impliziert, ist dieses innere Erleben durch eine relationale Transzendenzerfahrung gekennzeichnet, die es so transformiert, dass kein Teil der Wirklichkeit unberührt bleibe. 34 Dieser Transformationsprozess ist der Übergang in die Ethik. Herrmann führt die in der Theologie Ritschls angelegten Möglichkeiten des Umgangs mit dogmatischen loci in funktionaler Perspektive für die innerlichen und im heutigen Sinne psychologischen Mechanismen im Individuum aus. Der Fokus verschiebt sich damit zu einer stärker erfahrungsgeleiteten Theologie, in der die Vermittlungsleistung der Gemeinde nicht mehr die für Ritschl konstitutive Rolle spielt.
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Ritschl und Herrmann hatten erst seit Januar 1875 brieflichen Kontakt; bevor Herrmann mit der Metaphysikschrift im Jahr 1876 als profilierter Ritschl-Schüler in Erscheinung trat und damit die Abgrenzung und Affirmationsversuche der „Ritschlschule“ zementierte (vgl. dazu auch den Brief Harnacks an Ritschl vom 16. Juni 1876 [Albrecht Ritschl/Adolf von Harnack, Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf von Harnack 1875–1889, hrsg. v. Joachim Weinhard, Tübingen 2010, 140]). Die Metaphysikschrift entstand in enger Absprache mit Ritschl (vgl. den Brief Ritschls vom 12.12.1875 [Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 66]; Postkarte Ritschls vom 05.01.1876 [Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 68]; Brief Herrmanns vom 05.03.1876 [Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 71]). 33 Hermann Timm erklärt den Erfolg dieser Schrift damit, dass in der „Metaphysik“ das „originäre Reich-Gottes-System von einem Ritschlschüler literarisch selbstständig vertreten worden“ sei (Hermann Timm, Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht Ritschls und Wilhelm Herrmanns – Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Kulturprotestantismus, (Studien zur evangelischen Ethik 1) Gütersloh 1967, 87). 34 Herrmann beschreibt die Gottesbeziehung programmatisch als einen gegenseitig ausgerichteten Verkehr: „Die Teilnahme am religiösen Leben, auf welche die religiöse Sehnsucht gerichtet ist, besteht darin, dass der Mensch inne wird, er bedeute etwas für Gott, und Gott trete mit ihm in Verkehr“ (Wilhelm Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott [1886]. Im Anschluss an Luther dargestellt, Stuttgart 5/61908, 158; vgl. Eva Martikainen, Religion als Werterlebnis. Die praktische Begründung der Dogmatik bei Wilhelm Herrmann, [FSÖTh 99] Göttingen 2002, insbes. 75–115; Weinhard, Herrmanns Stellung, 175).
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Dass die kollektive Größe der Gemeinde in den Überbietungsleistungen der Schüler in den Hintergrund gedrängt wird, zeigt sich auch bei Adolf von Harnack:35 Zu Lebzeiten Ritschls hat Harnack zunächst Interesse an Ritschls historischen Schriften und diskutiert mit ihm besonders über patristische Probleme und Entdeckungen.36 Dementsprechend beurteilt Harnack auch Ritschls materialdogmatische Durchdringungen und die daran hängenden religionsphilosophischen Vorüberlegungen aus der Perspektive des Historikers:37 Laut Peter Meijering folgt Harnack Ritschl in der Ablehnung der Metaphysik, konzentriere sich in religionsgeschichtlicher Perspektive jedoch darauf, die Entwicklung des Gottesbegriffs in der Antike nachzuvollziehen und dessen Bedingungen in der Alten Kirche zu beleuchten.38 Harnacks Kritik an Ritschls Unterricht ist konsequenterweise die zu starke Verhaftung im materialdogmatischen Denken sowie die situative Ausrichtung auf die „Not des Lebens fühlender Wesen“, die eine vorurteilsfreie Betrachtung historischer Entwicklung verunmögliche.39 Somit werde von Ritschl die notwendige Modernisierung des christlichen Glaubens noch nicht so vollzogen, wie sie Harnack unter geschichtswissenschaftlichen Bedingungen fordert.40 35 Harnack entnimmt im „Wesen des Christentums“ (1899/1900) den Begriff des Reiches Gottes (sowie den des Vaters und der Liebe) als Kernzüge christlicher Verkündigung direkt von Ritschl, mit den über diesen hinausgehenden Ergänzungen: „[D]as Reich Gottes und sein Kommen; [...] Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele; [...] die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe“ (Adolf von Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf v. Harnack, hrsg. v. Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2005, 37, kursiv KO). 36 So z. B. die immer wieder aufgegriffene Diskussion über das Heidenchristentum und die Entstehung des Episkopats in den Briefen vom 22.11.1876 (Ritschl an Harnack) und 25.11.1876 (Harnack an Ritschl), in: Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 148–152; die Gedanken zur Apologia Confessionis in den Briefen vom 27.07.1878 (Harnack an Ritschl) und 04.08.1878 (Ritschl an Harnack), in: Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 200–204. 37 Er nimmt gemeinsam mit Ritschl gegen die Liberale Theologie in der Auseinandersetzung zwischen Herrmann und Lipsius Stellung für die Theologie der Ritschl-Schule (vgl. Ritschl/Harnack, 73). 38 Vgl. Eginhard Peter Meijering, Theologische Urteile über die Dogmengeschichte. Ritschls Einfluss auf Harnack, Leiden 1978, 24f. 39 In der Rezension des UcR in der ThLZ bemerkt Harnack vor allen Dingen, dass Ritschl die „ursprüngliche Gestalt der Religion“ kritisieren müsse, da er das Christentum allein aus dem Glauben deute und damit von „empirischen Erkenntnissen und ihrer philosophischen Deutung“ frei halte (vgl. Adolf von Harnack, Rez. Albrecht Ritschls Unterricht [31886], in: ThLZ 12 [1887], 82–86, hier: 83). Diese Kritik formuliert Harnack, obwohl er an der Entstehung des Unterrichts und besonders an dessen Gliederung entscheidend mitgewirkt hatte (vgl. Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 80). 40 Vgl. Harnack, Rez. Unterricht, 85f, und auch: Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 84f.94f. Dieses Urteil trifft Ritschl hart, wenn er auch nicht mit Harnack bricht und dieser weiter ein offensichtlich enger Vertrauter Ritschls bleibt. In Bezug auf Harnack selbst weist Wolfram
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Ernst Troeltsch konzentriert sich auf die Art und Weise, wie Ritschl mit der Geschichte und der historischen Einbettung der Theologie umgeht. Das geschieht zunächst in Überbietung und schließlich in einer Abwendung von der Ritschl’schen Theologie zu Beginn seiner Zeit als Professor in Bonn 1892:41 Troeltsch kritisiert an Ritschl, dass dieser so im dogmatischen Denken verhaftet bleibe, dass er das Christentum in seiner Traditionsgestalt untersuchen müsse und es deswegen nicht als eine Religion im Zusammenspiel mit anderen Religionen wahrnehmen könne.42 Troeltsch sieht sich durch das Bewusstsein für andere positive Religionen und den Atheismus in der Theoriebildung ganz anders herausgefordert.43 In „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ (1900) legt er in dezidierter Abgrenzung zur Ritschl-Schule sein Ziel dar, die Diastase zwischen einer offenbarungstheologischen Heilsgeschichte, die sich historischer Betrachtung entzieht, und einer immanenten
Kinzig dieses Vorgehen für die Marcion-Lektüre auf: Kinzig führt aus, wie Harnack durch die moderne Geschichtsphilosophie ein Umgang mit den Schriften des AT ermöglicht wurde, welcher zu einer „Revision der christlichen Haltung gegenüber dem Alten Testament“ führen konnte, in der das AT nicht notwendigerweise ein kanonisches Buch sein müsse (vgl. Wolfram Kinzig, Ein Ketzer und sein Konstrukteur. Harnacks Marcion, in: Gerhard May/Katharina Greschat [Hrsg.], Marcion und seine kirchengeschichtliche Wirkung/Marcion and his impact on Church History. Vorträge der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion, gehalten vom 15.-18. August 2001 in Mainz, [TU 150] Berlin/New York 2002, 254–274, hier: 265). Kinzig weist in seiner Monographie zu Harnack und dem Judentum zudem nach, wie diese aus dem freien Umgang mit den Traditionsbeständen resultierende Forderung der Entkanonisierung des Alten Testaments bei Harnack antisemitischen Strömungen in die Hände spielt, ohne selbst antisemitisch zu sein (vgl. Wolfram Kinzig, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain, [AKThG 13] Leipzig 2004). 41 Vgl. Ernst Troeltsch, Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890, in: CW 34 (1920), 281–283; sowie: Christophe Chalamet, Ernst Troeltsch’s Break from Ritschl and his School, in: JHMTh/ZNThG 19 (2012), 34–71, hier: 38. Chalamet argumentiert, dass Troeltsch sich zuerst von Ritschls Historiographie der Reformation abwende, bevor er sich von dessen theologischen Prinzipien lossage (vgl. Chalamet, Troeltsch, 44). 42 Vgl. Ernst Troeltsch, Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart (1093), in: KGA 2, Aalen 1962,13f. 43 Das Ziel von Troeltsch, wie er es in „Der Historismus und seine Probleme“ abschließend darstellt, ist die „Neubildung des Begriffes der historischen Dynamik oder Dialektik“ (Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, in: KGA 16,1 [Tb 1]/KGA 16,2 [Tb 2], Berlin/New York 2008, 708, B464). „Die Idee des Aufbaues heißt Geschichte durch Geschichte zu überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen. Auf ihr muß die gegenwärtige Kultursynthese beruhen, die das Ziel der Geschichtsphilosophie ist“ (KGA 16,2, 1098, B772, vgl. zu Troeltsch: Zachhuber, Idealismus, 311–314).
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Sphäre aufzuheben, um die Anschlussfähigkeit der Theologie zu gewährleisten.44 Deswegen lehnt Troeltsch die von ihm identifizierte „künstliche apologetische Isolirung des christlichen Glaubens“45 bei Ritschl ab, da sie durch das Beharren auf dem (Selbst-)Zeugnis der Person Jesu ihre Anschlussfähigkeit über die christliche Religion hinaus verliere.46 Johannes Zachhuber hebt hervor, dass Troeltsch nicht davon ausgegangen sei, dass die Ritschl-Schule oder Ritschl selbst einen Absolutheitsanspruch der christlichen Religion vertreten habe. Dieser Anspruch sei jedoch aufgrund der Verwurzlung Ritschls im idealistischen Programm eigentlich notwendig gewesen, um „die besondere, theologische Behandlung des Christentums durch eine allgemeingültige, religionsgeschichtliche Reflexion abzustützen. 47 Damit erkläre sich Troeltsch, laut Zachhuber, auch das Auseinanderbrechen der Ritschl’schen Theologie in der Schule, insofern dort ein solches Einheitsmoment nicht mehr vorhanden sei.48 Troeltsch führt über die Kontextualisierung der christlichen Religion als einer Religion unter anderen Religionen ein neues Element in die Dynamik theologischer Reflexion ein, nimmt dafür jedoch die innere Dynamik des Christentums in Bezug auf seine (dogmatischen) Materialbestände heraus. Ritschl kann aus Troeltschs Perspektive gleichzeitig als unnötig komplex – in der Einbeziehung der materialdogmatischen Gehalte – und zu wenig komplex – in der nicht erfolgten Einordnung des Christentums in andere Religionen – gesehen werden. Dies zeigt eine allgemeine Problemstellung für eine Theologie auf, die an Dynamiken und nicht nur an Gehalten interessiert ist: Neue Perspektiven, wie bei Troeltsch das Bewusstsein für die Pluralität der Religionen, bringen neue Elemente, die in ein dynamisches Verständnis mit einbezogen werden müssen, idealerweise jedoch ohne bereits bestehende Elemente vollständig abzulösen.
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Vgl. Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1900), in: Ders, Gesammelte Schriften II, 729–753. 45 Vgl. Ernst Troeltsch, Religionsphilosophie und theologische Principienlehre (1895), in: KGA 2, Berlin/New York 2009, 80–163, hier: 88. Es handelt sich um eine Sammelrezension, in der sich Troeltsch besonders mit den Auswirkungen der Ritschl’schen Theologie auseinandersetzt. Es ist bezeichnend, dass sich Troeltsch erst noch an Ritschl abarbeitet, in seinem Spätwerk jedoch die Ritschl’schen Bestimmungen offensichtlich für so wenig weiterführend hält, dass eine Beschäftigung mit Ritschl in „Der Historismus und seine Probleme“ nicht vorgenommen wird. 46 Das ist die Essenz der Rede von der „Mischform“, die Troeltsch bei Schleiermacher, Ritschl und Herrmann gegeben sieht und die er kritisch betrachtet (vgl. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911, 5), ausgeführt bei: Brent W. Sockness, Against False Apologetics. Wilhelm Herrmann and Ernst Troeltsch in Conflict, (BHTh 105) Tübingen 1998, bes. 172–178. 47 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 313. 48 Vgl. Ebd.
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1.1.3. Die Rezeption einer dynamisierten Theologie Trotz der Kritik und der letztlichen Abwendung der religionsgeschichtlichen Schule von Ritschl ist diese durch die Haltung geprägt, mit der Ritschl Theologie betreibt. Schließlich muss diese Haltung eher zu Abnabelungs- und Überbietungsansprüchen führen, als zu einer strengen Schulbildung: Ritschl hat exemplarisch vorgeführt, wie frei eine Theologie mit ihrem Material arbeiten kann, wenn sie den religionsphilosophischen Forschungsstand ernst nimmt. Die „Schüler“ reichern das mit den – für Ritschl noch unzugänglichen – sich gerade herausbildenden kulturwissenschaftlichen Methodologien und Theoriebildungen an und zwar in unterschiedlichen Ausprägungen: Für Herrmann ist es die Möglichkeit, das innere Erleben mit psychologischen Begrifflichkeiten und im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Umstellungen beschreiben zu können. Für Harnack ist es die Möglichkeit, sich ganz auf das historische Denken einzulassen, und damit sowohl den biblischen, den kirchlich-traditionellen wie auch den dogmatischen Traditionsbestand in äußerster Konsequenz zu untersuchen. Für Troeltsch ist es die Möglichkeit, die christliche Religion in der Suchbewegung nach der vollendeten Religion als eine Religion unter vielen zu profilieren.49 Herrmann, Harnack und Troeltsch nehmen darüber hinaus nicht nur das Historische ernst, sondern profilieren über die Einbindung in die kulturellen Lebenswirklichkeiten von Individuen und Gemeinschaften auch das Ethische als konkretes sozialethische Engagement. Hieran zeigt sich die Überbietung der Schüler in exemplarischer Deutlichkeit: Die situative Ausrichtung der Theologie, die unter der Rede vom Reich Gottes Konsequenzen für das Handeln von Gemeinschaften hat, wird schon von Ritschl ausführlich strukturell dargelegt. Ritschl selbst bezieht diese strukturellen Überlegungen jedoch kaum auf konkrete sozial-politische Situationen und engagiert sich selbst nicht politisch, wohl auch bedingt durch die Enttäuschungen von 1848.50 Die in der Ritschl’schen Theologie angelegte Möglichkeit wird dann von den Schülern
49 Vgl. die dezidierte Abgrenzung zu Kaftan und damit zur Ritschl-Schule in: Ernst Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion (1895–1896), in: KGA 1, 364–535. Es entspricht der Einschätzung Troeltschs, dass Ritschls Verdienst darin liege, dass er in Anschluss an Schleiermacher und Hegel „die Methode fortgesetzt und vertieft [habe], die den Aufschluß über Wesen und Inhalt der Religion und besonders des Christentums in allererster Linie bei ihnen selber sucht“ (Ernst Troeltsch, Geschichte und Metaphysik [1898], in: KGA 1, 613– 682, hier: 680, A66) 50 Vgl. Folkart Wittekind, Kulturprotestantismus und soziale Frage. Religiös-ethische Grundlagen und praktische Konsequenzen bei Heinrich Merz, Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch, in: Norbert Friedrich/Traugott Jähnichen (Hrsg.), Sozialer Protestantismus im Kaiserreich. Problemkonstellationen – Lösungsperspektiven – Handlungsprofile, Münster 2005, 149–195.
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z. B. im Evangelisch-Sozialen Kongress oder den Stellungnahmen zu tagesaktuellen politischen Themen ausgeführt, mit all den Problemen und der zeitgeschichtlichen Gebundenheit, die Konkretheit notwendig bedeutet.51 Zusammenfassend kann in der direkten zeitgeschichtlichen Rezeption der Ritschl’schen Theologie, in den Abwehrreaktionen der Gegner wie den Weiterführungen der Schüler, die innere Dynamik des Ritschl’schen Systems als der Aspekt gesehen werden, der eine kritische wie affirmative Beschäftigung mit Ritschl auslöst. Dennoch zeigt sich, dass diese Dynamisierung in der Rezeption nicht auf Wiederholung, sondern auf Weiterbildung und Übersteigerung drängt: Ritschls System ist in der Kombination von verschiedenen religionsphilosophischen Hintergründen, biblischen und dogmatischen Traditionsbeständen sowie der Ausrichtung auf praktische Formen kirchlichen Lebens für die Kirche wie für einzelne Subjekte dynamisch. Das führt dazu, dass Gegner wie Schüler einzelne Aspekte aus dem theologischen System und der Dynamik isolieren, diese dann als Prämissen oder Kerngedanken der Ritschl’schen Theologie profilieren und sich gegen diese positionieren oder sie weiterentwickeln. 1.2. Die prägende Rezeption durch K. Barth Die Kritik Karl Barths an Ritschl kann in der Diktion der Problemstellung der vorliegenden Arbeit folgendermaßen erschlossen werden: K. Barth kritisiert an Ritschl, dass dieser die Komplexität der Theologie durch den Fokus auf die Funktionalität an mindestens zwei Stellen reduziere, nämlich sowohl im Gottesgedanken als auch in der Möglichkeit, situativ auf zeitgeschichtliche Notwendigkeiten zu reagieren. Obwohl K. Barth sich im Abarbeiten an seinem Lehrer Herrmann immer wieder als Antipode der Ritschlschule und der Liberalen Theologie inszeniert, 52 können gemeinsame Fokuspunkte im theologischen Denken von K. Barth und Ritschl gehoben werden: Beide gehen die
51 Vgl. dazu exemplarisch Harnacks Umgang mit der „Frauenfrage“, der von Claudia Kampmann ausführlich historisch entfaltet wird. Sie bestimmt Harnacks Positionierung in der Frauenfrage in den Kontexten seiner Zeit als ambivalent, insofern sich sowohl „reformierende als auch konservierende Elemente“ festhalten lassen (Claudia Kampmann, Adolf Harnack zur „Frauenfrage“. Eine kirchengeschichtliche Studie, [AKThG 49] Leipzig 2018, 545) 52 So z. B. in: Karl Barth, Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie [1920], in: GA III, Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, [622–634] 634–661. Barth schließt sich Overbecks Diktum über Ritschl an, dass mit diesem die aktuellen Problemstellungen der Theologie nicht bearbeitet werden können. Jörg Dierken bewertet das so: „Aus liberalen theologischen Positionen kommend, baute [Barth] deren Problemkonstellationen so um, daß hiervon nurmehr wenig erkennbar ist. Er selbst beschrieb rückblickend diesen vielschichtigen Vorgang als Abkehr von den Vätern, Bruch mit den theologischen Lehrern und schließlich als gänzliche Neuorientierung im völligen Kontrast zu den Haupttendenzen der neuzeit-
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Problemstellung an, wie sich eine zeitgeschichtlich bedingte funktionale Ausrichtung der Theologie und der religiösen Verkündigung bei gleichzeitigem Gewährleisten der A-Funktionalität des Gottesgedankens aufrecht erhalten lässt.53 Sie kommen dabei jedoch zu unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, die sich, wie zu zeigen sein wird, aus den unterschiedlichen Situativitäten und Kontexten ihrer jeweiligen Theologie ergeben: Während Ritschl auf die funktional-kollektive Seite fokussiert, reflektiert K. Barth die a-funktional-kommunikative Seite unter der Rede vom „Wort Gottes“.54 Die Rezeption Ritschls durch K. Barth ist dabei ebenso wirkmächtig wie kurz: Im Wesentlichen lässt sie sich auf den Abschnitt zu Ritschl zurückführen, den K. Barth in der theologiegeschichtlichen Abhandlung „Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert“ von 1946 behandelt, die auf Vorlesungen von 1932/33 zurückgeht.55 K. Barth fasst Ritschl so zusammen, dass dieser auf einen „als antimetaphysischen Moralisten interpretierten Kant“ zurückgreifend
lichen und modernen Theologie“ (Jörg Dierken, Karl Barth [1886–1968], in: Friedrich Wilhelm Graf [Hrsg.], Klassiker der Theologie, Bd. 2, München 2005, 223–257, hier: 224). Der Einfluss Herrmanns auf Barth wird von Georg Pfleiderer als Plattform für das weitere theologische Denken K. Barths bestimmt, um so die Konstitutionsleistung der frühen K. Barth’schen Theologie für praktische Lebensvollzüge in der methodisch komplexen Umstellung von subjektiven Erlebnisvollzügen auf die Objektivität der Gotteserkenntnis zu profilieren (vgl. Georg Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, [BHTh 115] Tübingen 2000, 168–171). 53 Zur Abhängigkeit K. Barths von Ritschl, vgl. Dietz Lange, La Compréhension de la „Revelation“ chez Albrecht Ritschl et Karl Barth, in: Pierre Gisel/Dierich Korsch/Jean-Marc Tetaz (Hrsg.), Albrecht Ritschl. La théologie en modernité. Entre religion, morale et positivité historique, Genf 1991, 83–107. Wittekind analysiert für die Abhängigkeit K. Barths von der Ritschl-Schule den Aufsatz von 1909 „Moderne Theologie und Reichgottesarbeit“ (vgl. Karl Barth, Moderne Theologie und Reichgottesarbeit, in: ZThK19 [1909], 317–321), in dem K. Barth schon früh auf die Notwendigkeit innerhalb der Ritschlschule hinweise, „die theologischen Aussagen, und zwar besonders die Normativität des Glaubens und die Funktion der Christologie betreffend, besser zu begründen“ (Folkar Wittekind, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth [1909–1916], [BHTh 113] Tübingen 2000, 154). 54 Dieses Verständnis der Struktur der K. Barth’schen Theologie schließt an Korsch an, der argumentiert, dass Barth die Einsicht in die Dialektik des Glaubens aus „der Teilnahme an der religiösen Kommunikation“ her konzipiert, weswegen es für Barth darum gehe „in der tatsächlich stattfindenden (faktischen) religiösen Kommunikation diese (prinzipiellen) Strukturen herauszuarbeiten, zu präzisieren und zu fördern“ (Korsch, Kommunikation, 1044). 55 Barth, Theologie, 1960. Mit Kuhlmann kann beobachtet werden, dass die Beurteilung K. Barths gegenüber Ritschl zwar in scharfem Tonfall und persönlich geführt werde, letztlich aber theologische Gründe hat und in der KD in eine deutlich differenziertere Betrachtung übergehe (vgl. Kuhlmann, Ethik, 48, Fn 159).
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meine, „das Christentum verstehen zu können [...] als die große und unvermeidliche Ermöglichung bzw. Verwirklichung eines praktischen Lebensideals.“56 Deswegen sei das „Christentum [für Ritschl, K.O.] Weltanschauung und Sittlichkeit aber in keiner Weise unmittelbare Beziehung zu Gott.“ 57 Barth lehnt diese affirmative anthropologische Grundlegung des Glaubens bei Ritschl ab: „Es wäre ein verhängnisvolles Mißverständnis, wenn die liberale Theologie [...] auch eines A. Ritschl [...] die in Jesus Christus offenbarte Wirklichkeit einfach als die Offenbarung der tiefsten und eigentlichsten Wirklichkeit des Menschen meinte interpretieren zu können.“58 Darin lässt sich unter der Problemstellung dieser Arbeit der erste Vorwurf Barths an Ritschl erfassen, dass dieser den Gottesgedanken auf eine Funktion reduziert habe, die für die religiöse Verkündigung nicht angemessen sei.59 Barth kritisiert aus theologischer Perspektiver an Ritschl demnach die Unterbestimmung der Offenbarung in funktionaler Perspektive. Diese könne beliebig mit der Materialdogmatik und dem Gottesgedanken umgehen, sodass das Störende, die Abgründigkeiten des menschlichen Lebens wie des Gottesgedanken vorschnell eliminiert würden.60 Barths Anliegen ist es, eine Kategorie wie die „Offenbarung“ zu verwenden, die demgegenüber die Möglichkeit bietet, auf das „Widerständige“ im menschlichen Leben und der theologischen Reflexion zu verweisen und diese konstruktiv mit einzubeziehen. Der Vorwurf K. Barths ist demnach, dass Ritschl nicht nur eine zu einheitliche Weltdeutung betreibe, sondern darüber hinaus, dass seine Theologie keinen Raum für die „Unruhe“, für existentielle Erschütterungen des Weltbildes biete.61 Warum dieser Raum für K. Barth nötig ist, hängt an den unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Kontexten: Während Ritschl sich nach seiner Begeisterung für die Ereignisse von 1848 von der Politik distanziert (und distanzieren kann), ist dieses für K. Barth in seinem Kontext nicht möglich. 56
Barth, Theologie, 566. Barth, Theologie, 569. 58 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik (KD) I/2 14, Die Lehre vom Wort Gottes, Zollikon/Zürich 31945, im Kapitel: Jesus Christus die objektive Wirklichkeit der Offenbarung. 59 Barth, Theologie, 567. 60 Vgl. Barth, KD I/2, 882. Besonders die Bestimmung der Liebe als Ausrichtung auf den eigenen Selbstzweck und die Bestimmung eines Anderen, die er bei Ritschl gegeben sieht, muss ihm darum zu kurz gefasst scheinen, insofern sie auch auf die Liebe des Menschen zu Gott (und zu anderen Menschen) anzuwenden sei (vgl. Karl Barth, Unterricht in der christlichen Religion Bd. 2 [Gesamtausgabe II.2], Zürich 1990, 144). 61 Karl Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Geschichte, Bd. 2 (1946), Hamburg 31960, 567. Die Rede von der Unruhe hat bei K. Barth eine seelsorgerliche und eien politische Komponente: Ein Pfarrer bedeute „eine ewige Unruhe im Dorfe haben, einen Menschen, der in der unangenehmsten Weise immer wieder Alles in Frage stellen und auf alle Fragen unvermutete Antworten geben muß“ (Predigt zu Hesekiel, 13,1–6, am 06.02.1916, in: Karl Barth, Predigten 1916/GA 29, 46; vgl. Christiane Tietz, Karl Barth, Ein Leben im Widerspruch, München 2018, 95). 57
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K. Barths Ablehnung macht sich deswegen nicht zuletzt an der Persönlichkeit Ritschls fest, insofern Ritschl exemplarisch sei für die „Selbstgewißheit des modernen Menschen“ als „Urtyp des nationalliberalen deutschen Bürgers im Zeitalter Bismarcks“.62 Dieser stünde „in unerhörter Eindeutigkeit und Sicherheit [...] auf dem Boden seines ‚Lebensideals‘“63. Die für Barth empfundene Radikalität der zeitgeschichtlichen Situation erfordert jedoch einen ganz anderen Imperativ für die Verkündigung. Dies legt K. Barth exemplarisch in hoch emotionaler Sprache in „Not und Verheißung der christlichen Verkündigung“ (1922) dar: „[D]as Leid, das Schicksal der Völker, das radikale Böse, der Tod, sie sind wieder da und reden, reden lauter als alles das, was uns versichern möchte, Gott sei gegenwärtig“64, und weiter: „Blut und Tränen, tiefste Verzweiflung und höchstes Hoffen, leidenschaftliches Verlangen, das, nein den zu fassen, der die Welt überwindet [...], leidenschaftliches Verlangen, sich das Wort sagen zu lassen [...] – das ist’s, was hinter unseren Kirchgängern steht“65. Es ist eine Form religiöser Rede, die auch in ihrer theologischen Reflexion eindringlich und beschwörend ist und für die nun K. Barth exemplarisch stehen kann.66 Damit ist diese Form von Theologie in einer Art und Weise selbst situativ und kontextuell, die K. Barth so nicht bewusst ist.67 Aus der Kritik K. Barths an Ritschl kann für die vorliegende Arbeit folgende Problemstellung aufgenommen werden: Kann die existentielle situative Verfasstheit in all 62
Barth, Theologie, 567. Barth, Theologie, 567. 64 Karl Barth, Not und Verheißung der christlichen Verkündigung (1922), in: GA III.3, Zürich 1990, 65–97, hier: 75f. 65 K. Barth, Not, 76, kursiv im Original. 66 Man beachte schon den Drucksatz in „Not und Verheißung“, in dem beständig Worte durch Kursivsetzung betont werden. 67 Ein Beispiel ist K. Barths Vortrag „Kriegszeit und Gottesreich“. Dort formuliert er ausdrücklich: „Und die nächsten Nöte und Aufgaben, die uns das Leben ‚vor die Füße wirft‘? Ich stehe stark unter dem Eindruck, dass wir nur zu viel uns immer mit den nächsten u. übernächsten Nöten und Aufgaben innerlich beschäftigt u. uns damit innerlich in jenes Fortschrittsprogramm der Welt verwickelt haben, das sich jetzt im Kriege als so sinnlos u. machtlos erwiesen hat. [... Es folgt eine längere Aufzählung zahlreicher situativer Weltumgänge unter der Prämisse des Reiches Gottes, KO] Es gibt eine letzte Not, die muss überwunden werden. Es gibt eine letzte Aufgabe, die will gelöst sein. Beides geschieht von Gott her“ (Karl Barth, Kriegszeit und Gottesreich [1915], in: GA III.1, [177–186] 186–210, hier: 208f.; Hervorhebungen im Original). An diesem Zitat zeigt sich, wie K. Barth die Vielzahl der situativen Kontexte, die unterschiedliche Umgangsweisen erfordern, auf eine Situation herunterbricht („eine letzte Not“/„eine letzte Aufgabe“), um für diese den Gottesgedanken einzuspielen. Die Notwendigkeit dieser Komplexitätsreduktion liegt für K. Barth darin begründet, dass sich mit einem situativen Weltumgang eine Verwicklung in die Welt ergibt, die allen Weltumgängen (z. B. Kriegsbestreben wie Pazifismus) die gleiche Berechtigung zuerkennt. Insgesamt sucht K. Barth nach Strategien, die es ermöglichen, angesichts der Komplexität des zeitgeschichtlichen Kontexts situativ nicht in Handlungsunfähigkeit zur versinken. 63
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ihren Momenten und mit all ihren Kontexten in der strukturellen Anlage einer Theologie wahrgenommen werden oder beschränkt sich diese auf wenige Spezialmomente menschlichen Lebens? Für die Relecture Ritschls spitzt sich das darauf zu, ob und an welchen Stellen seiner Theologie Ritschl ein Gespür für die von K. Barth geforderte „Unruhe“ unterstellt werden kann. Die abwehrende Haltung K. Barths gegenüber der Ritschl’schen Theologie lässt sich aus der zeitgeschichtlichen Situation erklären und wurde scheinbar durch das Narrativ des Versagens der Liberalen Theologie und damit der zu Ritschlschule Beginn des Ersten Weltkrieges (so im „Manifest der 93“)68 legitimiert. Sie bleibt jedoch in der Prägnanz ihrer Polemik so prägend für die Ritschl-Rezeption, dass diese in großen Teilen entweder den Vorwurf zu entkräften sucht, dass Ritschls Offenbarungsverständnis unterbestimmt sei oder apologetisch zu belegen sucht, dass Ritschl doch an eine Theologie nach K. Barth anschlussfähig sei.69 Erst in den aktuellen Veröffentlichungen zu Ritschl wird diese apologetische Haltung gegenüber K. Barth nicht mehr mitgedacht. 1.3. Die Ritschl-Rezeption nach K. Barth Während die deutschsprachige wie auch die englischsprachige Theologie bis etwa zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges durch die kritische oder affirmative Rezeption Ritschls geprägt sind, bricht mit dem Barth’schen Verdikt und bedingt durch die zeitgeschichtlichen Umstände die deutschsprachige RitschlRezeption weitgehend ab. 70 Demgegenüber ist eher die implizite Rezeption 68 Als „Manifest der 93“ wird der „Aufruf ‚An die Kulturwelt‘“ vom 04.10.1914 bezeichnet, den u. a. Harnack und Herrmann unterzeichneten. Der Aufruf findet sich in: Jürgen von Ungern-Sternberg/Wolfgang von Ungern-Sternberg, Der Aufruf an die Kulturwelt. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda, Frankfurt a. M. 2013, 209–212); zu K. Barths eigener Darstellung seiner Reaktion auf das „Manifest“, die ihn zum Bruch mit der „Liberalen Theologie“ nötigte, vgl. K. Barth, Evangelische Theologie, 6; sowie den Brief K. Barths an Wilhelm Spoendlin vom 04.01.1915, zitiert bei: Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, Zürich 1975, 93. Für eine detaillierte Analyse der Quellen K. Barths und der Frage, ob der Einfluss des Manifests auf K. Barth für seinen Bruch mit der Liberalen Theologie maßgeblich war oder doch eher Inszenierungsstrategie, vgl. Wilfried Härle, Der Aufruf der 93 Intellektuellen und Karl Barths Bruch mit der Liberalen Theologie, in: ZThK 72 (1975), 207–224. 69 Dies lässt sich am Vorwort von James Richmond in seiner Monographie zu Ritschl zeigen, in dem er sich dafür entschuldigt, sich überhaupt mit Ritschl zu beschäftigen: „Nur an einem Punkt bin ich besorgt. Es wurde mir angedeutet, man könnte dieses Buch vielleicht als eine Art Attacke oder Diskreditierungsversuch gegen meinen verstorbenen Lehrer Karl Barth verstehen“ (James Richmond, Albrecht Ritschl, Eine Neubewertung, [GTA 22] Göttingen 1982 [engl.: Ritschl. A Reappraisal. A Study in Systematic Theology, London 1978], 8). 70 Vgl. zu dieser Analyse der Rezeption Ritschls auch Christophe Chalamet, Reassessing Albrecht Ritschls’s Theology: A Survey of Recent Literature, in: Religion Compass (2008/2), 620–641, hier: 620. Chalamet schließt damit, dass die Ritschl-Rezeption sich von
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über die Liberale Theologie und die „Schülergenerationen“ im Fokus der Forschung.71 Eine Ausnahme für eine genuine Beschäftigung mit Ritschl selbst ist das Werk des schwedischen Theologen Gösta Hök von 1942, das dann für die weitere Ritschl-Rezeption grundlegend wurde.72 Hier zeigt sich schon ein Phänomen der Ritschl-Forschung, das einer weiteren Analyse wert ist, in dieser Arbeit jedoch nur gestreift werden kann:73 Die Beschäftigung mit Ritschl wird oft von außerhalb des deutschsprachigen Raums angestoßen, weil es besonders im englischsprachigen Raum eine kontinuierliche Rezeption der Ritschl’schen Theologie gibt.74 Auf diese Rezeptionslinie wird in der ersten sog. „RitschlRenaissance“ 75 in den 1960ern zurückgegriffen. Proponenten dieser ersten „Ritschl-Renaissance“, die in großen Teilen durch die Auseinandersetzung mit der Lesart Barths geprägt ist, sind insbesondere Paul Wrezcionko, der 1964 im Wesentlichen die erste Monographie zu Ritschl seit Hök publiziert; Hermann
dieser Prägung durch K. Barth lösen müsse, ohne aber gleichzeitig die berechtigten Anliegen der Kritik K. Barths aus dem Blick zu verlieren (Chalamet, Reassessing, 634). 71 Sehr oft wird versucht, die Faszination der Ritschl’schen Theologie, die zur Schulbildung führte, zu erfassen, so bspw. Weinhardt, Herrmanns Stellung; Timm, Theorie. Hierin lässt sich auch die in den letzten Jahren aufkommende umfangreiche Publikation des Briefverkehrs Ritschls mit seinen Zeitgenossen einordnen: Albrecht Ritschl/Ferdinand Kattenbusch, Briefwechsel 1878–1889, hrsg. von Joachim Weinhardt, (Deutsche Hochschulschriften 1185) Egelsbach u. a. 2000; Ritschl/Harnack, Briefwechsel; Ritschl/Herrmann, Briefwechsel. 72 Gösta Hök, Die elliptische Theologie Albrecht Ritschls nach Ursprung und innerem Zusammenhang, (Uppsala Universitets årsskrift 1942.3) Uppsala/Leipzig 1942. 73 Eine interessante Randnotiz: Die Gründer des liberalen, gegen das Oxford-Movement orientierten Mansfield-College verstanden sich – zumindest teilweise – als Ritschlianer (vgl. Elaine Kaye, Mansfield College, Oxford. Its Origin, History, and Significance, Oxford 1996). 74 So neben Hök im englischsprachigen Raum auch durch Alfred E. Garvie (The Ritschlian theology, critical and constructive: an exposition and an estimate, Edinburgh 1899) und Robert Mackintosh (Albrecht Ritschl and His School, London 1915; zurückgehend auf die Kritik von James Orr, The Ritschlian Theology and the Evangelical Faith, London 21898). Diese kontinuierliche Beschäftigung im englischen Raum ist in der Themenwahl durch die eher kontingent entstehenden Übersetzungen der Werke geprägt (vgl. Zachhuber, Idealismus, 310f.), sodass im Wesentlichen auf RuV I und III zurückgegriffen wird. Die englischsprachige Rezeption kann auf die Theologie Ritschls in ihrem System fokussieren und diese für eigene Kontexte erschließen, ohne sich an den Frontstellungen in der deutschsprachigen Theologie abarbeiten zu müssen. Sie wird in der vorliegenden Arbeit nur dort mit aufgenommen, wo sie Einfluss auf die deutschsprachige Rezeption genommen hat (bes. Richmond, Harris, Garvie), da es vorher erst einer eigenen Analyse bedürfte, um aufzuzeigen, wie Ritschl in den je unterschiedlichen Kontexten in Schottland, England und den USA rezipiert wurde. 75 Ein Begriff, den James Richmond für die 60ger Jahre prägt und der genau die Wiederentdeckung des „kraftvollen Ritschl’schen Denkens“ mit und gegen Barth meint (vgl. Richmond, Ritschl, 13).
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Timm, der mit seiner Dissertation von 1966 die Reihe der „Studien zur evangelischen Ethik“ eröffnet, sowie schließlich Rolf Schäfer, der 1968 programmatisch die Wiederentdeckung Ritschls und der „Grundlinien eines fast verschollenen Systems“ ausruft. Für die zweite „Ritschl-Renaissance“ um das Jahr 198976 sind die Werke von David Lotz (1974) und James Richmond (engl. 1978; dt. 1982) prägend. In diesen Renaissancen lassen sich die Veröffentlichungen zu Ritschl so schematisieren, dass drei Hauptlinien in der Forschung ausgemacht werden können, die jeweils – wie schon in der direkten zeitgeschichtlichen Rezeption gezeigt – einen Aspekt des Ritschl’schen Werkes zwischen Materialdogmatik, lebensweltlicher Einbindung des Subjektes in kollektive und zeitgeschichtliche Zusammenhänge und religionsphilosophischem Hintergrund fokussieren und damit je andere Aspekte des Zusammenhangs von Funktionalität und A-Funktionalität aufzeigen:77 Eine erste Linie ist gekennzeichnet durch die Bestimmung des Verhältnisses der Ritschl’schen Theologie zur Offenbarungstheologie, wie Schäfer sie anregt. In dieser Linie wird Ritschl aus der Perspektive der Materialdogmatik und in Bezug auf K. Barth so analysiert, dass die a-funktionalen Figuren in Ritschls Werk unter dem Begriff der Offenbarung gehoben werden: Neben Schäfer gehören zu dieser Linie noch Richmond, Stephan Weyer-Menkhoff sowie, mit stärker subjekttheoretischem Fokus, Dietrich Korsch.78 Eine zweite Linie beschäftigt sich mit der Frage nach der situativen Einbindung der theologischen Reflexion in gemeinschaftliche Kontexte, sodass eine Evaluation des Ritschl’schen Verständnisses von Ethik mit der Absicht der Übertragung für die Epoche des Autors bzw. der Autorin vorgenommen wird.79 Zu dieser Linie gehören Timm und Helga Kuhlmann. In einer dritten Linie erfolgt die Einordnung Ritschls in die religionsphilosophischen Diskurse seiner Zeit sowie die Bestimmung der theologischen und philosophischen Abhängigkeiten, die primär auf die Einordnung Ritschls als Neu-
76 Joachim Ringleben (Hrsg.), Gottes Reich und menschliche Freiheit – Ritschl Kolloquium (Göttingen 1989), (GTA 47) Göttingen 1990. 77 In der Zusammenfassung der Ritschl’schen Rezeptiongeschichte kommt Chalamet zu einer ähnlichen Schlussfolgerung, die allerdings nur in eine Zweiteilung mündet: Die Interpretation der Ritschl’schen Werke sei gespalten und diese Spaltung liege in der Theologie Ritschls begründet, die sich einerseits auf die Gestalt der Offenbarung für die kirchliche Gemeinschaft beziehe (was m. E. nicht ganz richtig ist, da es eigentlich die Gemeinde ist), andererseits an theoretischer Durchdringung und der vernunftmäßigen Begründung des Christentums interessiert sei (Chalamet, Reassessing, 634). 78 Rolf Schäfer, Ritschl – Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems, (BHTh 41) Tübingen 1968; Stephan Weyer-Menkhoff, Aufklärung und Offenbarung. Zur Systematik der Theologie Albrecht Ritschls, (GTA 37) Göttingen 1988; Dietrich Korsch, Glaubensgewißheit und Selbstbewusstsein – Vier systematische Variationen über Gesetz und Evangelium, (BHTh 76) Tübingen 1989. 79 Timm, Theorie; Kuhlmann, Ethik.
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kantianer sowie die entweder spekulativ-theologisch oder geschichtsphilosophisch orientierten Einordnungen im Gefolge Hegels abzielen.80 Dass der Ansatz einzelner Autoren dieses Schema übersteigt, wird an den entsprechenden Stellen aufgezeigt. Die erste Linie der Ritschl-Rezeption geht bei der Betrachtung des Gesamtsystems der Ritschl’schen Theologie davon aus, dass diese sich aus der Analyse seines Systems in dogmatischer Perspektive über den Offenbarungsbegriff erschließen lasse. Die Dynamik der Ritschl’schen Theologie wird von diesem Punkt aus erfasst, der jedoch – wie jegliche Rezeption – positionell ist und bei den hier aufgeführten Autor:innen mit dieser Positionalität auch einen normativen Anspruch aufruft, nämlich der größtenteils in apologetischer Haltung geschehende Versuch, Ritschl mit K. Barth auf eine Linie zu bringen. Das gilt bis mindestens zum Ritschl-Kolloquium in Göttingen 1989 oder – wie sich schon am Buchtitel zeigt – noch für Folkart Wittekinds „Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens“ (2000). Exemplarisch dafür ist Joachim Weinhardt, der seine Überlegung zu Herrmanns Stellung in der Ritschl’schen Schule dezidiert unter die Perspektive stellt, zur Barth-Forschung beitragen zu wollen, sodass der Offenbarungsbegriff das Schlagwort für die Ritschl’sche Theologie werden müsse.81 1.3.1. Rezeption Ritschls mit der Kategorie der Offenbarung Die Analyse unter der von K. Barth entlehnten „Offenbarung“ geht auf Schäfers einflussreiche Deutung der Ritschl’schen Theologie zurück,82 mit der er 1968 als einer der Ersten die „Grundlinien eines fast verschollenen dogmatischen Systems“ bestimmt, so der Titel. Auch wenn er für seine Ritschl-Deutung, neben einigen unveröffentlichen Dissertationen83 sowie Artikeln84, an die Monographien von Wrzecionko (1964) und Timm (1967) anknüpfen kann, ist
80 Paul Wrezcionko, Die philosophischen Wurzeln der Theologie Albrecht Ritschls. Ein Beitrag zum Problem des Verhältnisses von Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert, Berlin 1964; Ralf Geisler, Kants moralischer Gottesbeweis im protestantischen Positivismus, Göttingen 1990; Matthias Neugebauer, Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus, (Beiträge zur rationalen Theologie 11) Frankfurt a. M. u. a. 2002; Slenczka, Glaube; Wittekind, Geschichtliche Offenbarung; Zachhuber, Idealismus. 81 Weinhard, Herrmanns Stellung, 1. 82 Schäfer, Grundlinien. 83 Bruno Berndt, Die Bedeutung der Person und Verkündigung Jesu für die Vorstellung vom Reiche Gottes bei Albrecht Ritschl, Ungedruckte Dissertation Tübingen 1959; Walter Schlosser, Orthodoxe Tradition und kritischer Neuansatz in der Gotteslehre Albrecht Ritschls, Ungedruckte Dissertation Göttingen 1962. 84 Ernst Haenchen, Albrecht Ritschl als Systematiker, in: Ders.: Gott und Mensch. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1965, 409–475.
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Schäfer mit den „Grundlinien“, mit Aufsätzen zu Ritschl,85 mit der einflussreichen Ritschl-Interpretation im TRE-Artikel von 199886 sowie durch die Herausgabe von Editionen Ritschl’scher Schriften87 für die Ritschl-Forschung im ausgehenden 20. Jahrhundert stilbildend. So ist z. B. Schäfer, nur ergänzt durch O. Ritschl, die Grundlage für Eilert Herms RGG-Eintrag zu Ritschl.88 Schäfer kritisiert Ritschl nun folgendermaßen, immer jedoch schon unter der Absicht, ihn mit K. Barth zu harmonisieren: 89 Ritschl kenne keine von menschlichen und weltlichen Bedingungen losgelöste Offenbarung und müsse dementsprechend biblizistisch argumentieren, um die Offenbarung Christi zu legitimieren.90 Schäfer kann so verstanden werden, dass er die situativen Elemente der Ritschl’schen Theologie kritisiert, die es erfordern, sich auf konkrete Gehalte christlichen Glaubens zu beziehen und diese in ihrer situativen Gebundenheit grundlegend in die theologische Reflexion einzuführen.91 Jedoch argumentiert Schäfer, für Ritschl „selber konnte es gar keinem Zweifel unterliegen, daß die Gegenstände der Offenbarung wirklich existieren“92, ohne das allerdings am Text zu belegen.93 Schäfers Pointe ist, dass er diese Spannung der Ritschl’schen Theologie zwischen (a-funktionaler) Offenbarung und (funktionalem) Weltbezug als Chiffre für die Alternative zwischen dialektischer Theologie der Verborgenheit Gottes und der existentiellen Theologie betrachtet.94 Ritschl als auf existenzphilosophische Überlegungen ansprechbar zu verstehen, kann produktiv aufgegriffen werden, muss jedoch noch präziser ausgeführt werden, als es bei Schäfer angelegt ist. Das liegt auch daran, dass Schäfer in der Gegenüberstellung zu K. Barth Ritschl vornehmlich in den diastatisch angelegten Passagen folgt. 85 Rolf Schäfer, Das Reich Gottes bei Albrecht Ritschl und Johannes Weiß, in: ZThK 61 (1964), 68–88; Ders., Die Rechtferigungslehre bei Ritschl und Kähler, in ZThK 62 (1965), 66–85. 86 Rolf Schäfer, Art. Ritschl, Albrecht (1822–1889)/Ritschlsche Schule, in: TRE 29 (1998), 220–238. 87 Albrecht Ritschl, Vorlesung Theologische Ethik, hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2007 (nachfolgend VLE). 88 Eilert Herms, Art. Ritschl, Albrecht, in: RGG 7 (2004), 536–538. 89 Vgl. Schäfer, Grundlinien, 183. 90 Schäfer, Grundlinien, 154.159.176. 91 Schäfer konstatiert, dass sich die Anziehungskraft der Ritschl’schen Theologie nicht aus dem liberalen System ergeben hätte, sondern aus der „geschichtlichen Auffassung der Offenbarung und [dem] konkreten Bild einer gesunden evangelischen Frömmigkeit“ (Schäfer, Grundlinien, 177). 92 Schäfer, Grundlinien, 172. 93 Es ist auffallend, dass die Eintragung des Offenbarungsbegriffes in die Theologie erstaunlich oft über das Motiv erfolgt, Ritschl habe eine vorgängige Offenbarung oder Wahrheit nie abgelehnt, ohne dieses aber näher zu belegen, vgl. bspw. Schäfer, Grundlinien, 172 und Wrzecionko, Theologie, 258. 94 Vgl. Schäfer, Grundlinien,185f.
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Im gleichen Sinne, jedoch aus theologiegeschichtlicher Perspektive, bestimmt Richmond 1978, dass Ritschl nicht nur als Chiffre der Differenz, sondern als Vorläufer der beiden sich gegenüberstehenden Schulen des 20. Jahrhunderts, der Existenztheologie und der dialektischen Theologie, gelten kann und deswegen die Synchronisation mit K. Barth möglich sei.95 Auch Richmond will Ritschl in apologetischer Absicht vor dem Vorwurf des Konstruktivismus retten, indem er darlegt, dass in der Ritschl’schen Schule „Raum für eine Art transzendenter oder ontologischer Beziehung [bleibt], was die Befürchtung, die seine Theologie in mancher Brust hervorgerufen hat, beschwichtigen könnte“96. In der Betrachtung der materialdogmatischen Gehalte kann Richmond postulieren, dass K. Barths Theologie schon „in nuce“ in der Ritschl’schen enthalten sei.97 Auf ähnliche Weise bringt Weyer-Menkhoff 1988 den Ritschl’schen Offenbarungsbegriff in der Opposition zwischen „Aufklärung und Offenbarung“ im barthianischen Sinne zur Geltung:98 Er bestimmt die Ritschl’sche Theologie als eine „positionelle Offenbarungstheologie“ vom Standpunkt der Gemeinde.99 Das führt Weyer-Menkhoff zu der Beurteilung, dass in der Trennung von Theologie und Metaphysik der Gewinn des Ritschl’schen Systems liege, insofern eine allein auf die Offenbarung sich gründende Theologie von „philosophischen Systemen und ihr fremden Programmen frei“100 sei. Dieser Gewinn sei jedoch zweischneidig: Weyer-Menkhoff kritisiert abschließend die ver-
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Richmond, Ritschl, 240. Richmond, Ritschl, 54. Ritschl sei kein philosophischer Phänomenalist, sondern ein „unentschlossener agnostischer Theologe“ (Richmond, Ritschl, 62), der nicht der Metaphysik an sich, sondern nur bestimmten metaphysischen Verzerrungen in der Theologie widerspreche (ebd. 59). Richmond beurteilt für Ritschl wie für K. Barth kritisch, dass sich bei beiden Christozentrismus und Bibliozentrismus aufrund des nicht vollständigen Durchdenkens der Metaphysik ergebe. Diese Zentrierung käme aus der Opposition zwischen Glauben und Welt, insofern Glauben (und Richmond meint damit auch Religion) immer schon Abstand zur Welt und damit auch Herrschaft über die Welt bedeute (vgl. Richmond, Ritschl, 77f.). Darin sei Ritschl Vorläufer der Existenzphilosophie, ebenso wie in dem Bewusstsein vom Menschen als Wesen der Natur, das gleichzeitig die Natur transzendiere (vgl. Richmond, Ritschl, 236) sowie in der De-Objektivierungen göttlicher Attribute unter anthropologischen Gesichtspunkten (vgl. Richmond, Ritschl, 238ff.). 97 Vgl. Richmond, Ritschl, 227. 98 Vgl. Weyer-Menkhoff, Aufklärung 11. 99 Vgl. Weyer-Menkhoff, Aufklärung, 22f. 100 Weyer-Menkhoff, Aufklärung, 21. K. Barth und Ritschl seien in ihrem Programm ähnlich, da Offenbarungstheologie immer nur Aufklärungstheologie höheren Grades sei und die von K. Barth propagierte reine Offenbarungstheologie als vollständige Einheit sich nicht in Abgrenzung zu Ritschl, sondern vielmehr logisch aus der Theologie Ritschls ergebe (vgl. Weyer-Menkhoff, Aufklärung, 137). 96
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meintliche Komplexitätsreduktion der Ritschl’schen Theologie wie jeder Offenbarungstheologie, insofern diese in der Einheitlichkeit des Systems leicht zu Ideologisierungen führen könne.101 Damit ist in der durch K. Barth perspektivierten Ritschl-Deutung die Fragestellung der ersten Linie präziser zu bestimmen als Frage danach, wie die situative Ausrichtung der Theologie und ihre Funktionalität bei Ritschl mit der im Rahmen der Offenbarungslogik geforderten A-Funktionalität Gottes zusammenzudenken sei. Es wird in der Relecture Ritschls zu zeigen sein, dass durch den Offenbarungsbegriff ein einziger Punkt der Ritschl’schen Theologie fokussiert wird, der jedoch als Begriff im Vergleich zur Gemeinde oder zum Reich Gottes weder konzeptuell bestimmend ist noch häufig vorkommt. Die Kategorie der Offenbarung sowie die Bestimmung des Ausgangs der Ritschl’schen Theologie in der Christologie trägt zudem Problemstellungen und Anfragen an diese heran, welche die Anliegen der Ritschl’schen Theologie nur in Auswahl aufnehmen. 1.3.2. Subjekttheoretisch orientierte Rezeption: Dietrich Korsch Wenn hingegen die apologetische Absicht aufgegeben wird, dann kann die Analyse der Ritschl’schen Theologie in dieser Kategorie weiterführende Perspektiven eröffnen. Das kann anhand von Korschs subjekttheoretisch grundierter Analyse des Ritschl’schen Werkes expliziert werden.102 Korsch entfaltet, mit dem „durch Albrecht Ritschl, Wilhelm Herrmann und Karl Holl modernitätstheoretisch geschärfte(n) theologische(n) Blick auf Martin Luther“103 Variationen über Gesetz und Evangelium. Diese Variationen, die keine theologiegeschichtliche Chronologie sein sollen, beschäftigen sich mit dem Unterschied zwischen Gott und Mensch und sollen erhellen, wie die Glaubensgewissheit das Selbstbewusstsein so ständig neu durchbricht, dass es sich in dieser Unterbrechung als Selbstbewusstsein gewahr wird. Positiv kann Korsch aus seiner subjektvitätstheoretischen Relecture Ritschls gewinnen, dass sich Freiheit nicht anders als in der Beschränkung durch anderes (bei Ritschl der Endzweck des Reiches Gottes) zeigen könne, die es dem Subjekt erst ermögliche, sich selbst als frei zu verstehen.104 101
Vgl. Weyer-Menkhoff, Aufklärung, 139f. Korsch konstatiert, dass er sich mit dieser subjekttheoretischen Lesart nicht im Mainstream der Forschung bewege: „In der Außenansicht der Theologie Ritschls ist dieses Bewußtsein wenig geteilt worden. Denn es ist immer schwer gefallen, die für Ritschl maßgebliche Verbindung von Offenbarungstheologie und Bewußtseinstheorie aufrechtzuerhalten. Schon von Anfang an haben die beiden Seiten des Systems sei es zum Angriff und Widerspruch, sei es zur gewichtenden Interpretation herausgefordert“ (Korsch, Glaubensgewißheit, 63, Fn 191). 103 Korsch, Glaubensgewißheit, 273. 104 Korsch sieht den Ausgangspunkt Ritschls im Selbstgefühl gegeben, in dem sich Freiheit und Gnade verbinden (Korsch, Glaubensgewißheit, 9). Daraus ergibt sich der Aufbau 102
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Als bleibende Aufgabenstellung kann Korsch aus Ritschl entwickeln, dass auch die Negation zwischen Religion und Sittlichkeit in den Religionsbegriff selbst einzuziehen sei, was bei Ritschl aufgrund der Konnotation des Reiches Gottes mit Ganzheit nicht gegeben sei.105 Für ein angemessenes Verständnis sei eine christologische Begründung erforderlich, die Korsch mit Luther einführt. Die Negation sei im Selbstbewusstsein dort angelegt, wo dieses mit dem Widerfahrnis Jesu Christi durchbrochen werde: „Auf diese Verfaßtheit des Selbstbewußtseins nimmt die Glaubenslehre Bezug. In ihr unterbricht sich der durch die Extreme hindurch zirkuläre Selbstvollzug des Selbstbewußtseins, indem sich das individuelle Selbstbewußtsein auf Jesus Christus ausrichtet“106. In den Analysekategorien der vorliegenden Arbeit kann das so thematisiert werden, dass Korsch für das Subjekt aufzeigt, wie sich ein a-funktionales Moment (die Negation) am Ort des Selbst so entfaltet, dass es das Subjekt überhaupt erst konstituiert. Daraus kann als weiterführende Fragestellung mitgenommen werden, wie sich diese Durchbrechung für das Subjekt situativ darstellen kann. 1.4. Ethik als Fokuspunkt der Ritschl’schen Theologie Die Verbindung von theologischer Reflexion mit der zeitgeschichtlich zu erschließenden Weltsituation ist das Anliegen der zweiten, deutlich weniger profilierten Linie der Ritschl-Rezeption, zu der Hermann Timm und Helga Kuhlmann gerechnet werden können. Die Absicht der zweiten Linie speist sich ebenfalls aus der apologetischen Haltung gegenüber der Barth-Schule, argumentiert jedoch mit der Möglichkeit, Ritschl weiterhin kritisch für die Ethik in Anspruch zu nehmen. Für welche Probleme Ritschl in Anspruch genommen werden kann, ist bei Timm und Kuhlmann nun aufgrund der für ihre Zeit (1967 respektive 1990) relevanten sozialethischen Problemstellungen verschieden.
der Ritschl-Analyse durch Korsch: Er geht von dem Subjekt bei Ritschl aus, und zwar spezifisch von Christus als Subjekt, in dem vollkommenes Selbstsein ist, und führt dann aus wie dieses Selbstsein unter den Menschen erreicht werden könne und endet mit der Analyse der Gemeinde als Ort der Vermittlung religiös-sittlichen Selbstseins. Aus diesem Weg ergebe sich bei Ritschl die Wissenschaftlichkeit der Religion, die an der Vermittlung von Allgemeinheit und Einzelheit im tätigen Weltverhalten hänge (Korsch, Glaubensgewißheit, 43). 105 In der Verklammerung von subjektivitätstheoretischer Theorie des Selbstbewusstseins mit der „positiven Religion als negationslose Totalität“, ergebe sich dann aus Ritschl folgende Aufgabenstellung: „Das Subjektivitätsmodell sittlicher Selbstbestimmung darf, will man Ritschls Intention über seine Ausführung hin fortsetzen, in der Religion nicht schon vorausgesetzt werden. Vielmehr muß von der Religion, nach Ritschls Vorgang: mit den Mitteln der Offenbarungstheologie, gezeigt werden, wie dieses Modell selbst zustande kommt“ (Korsch, Glaubensbewusstsein, 73). 106 Korsch, Glaubensgewißheit, 274.
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Timm zielt in seiner Analyse der Theologie Ritschls unter der Überschrift „Theorie und Praxis“ darauf ab, in einer kritischen Lesart von Ritschl und Herrmann eine politische Theologie zu entwickeln, für die der Bezug auf das Reich Gottes gerade keinen (unengagierten) Akosmismus bedeute, sondern vielmehr zum Handeln in der Welt anrege.107 Schon die Bandreihe zeigt dabei die Prämisse an, unter der seine Analyse steht: Timms Dissertation ist der erste Band der „Studien zur Evangelischen Ethik“, deren Herausgeber im Vorwort explizit das Interesse an der Ethik in den Umbrüchen des 19. Jahrhundert mit dem Interesse an der Ethik in den Umbrüchen in den 1960ger Jahren parallelisieren.108 Die politische Haltung Ritschls scheint eine Übertragung des Reiches Gottes auf die politischen Fragestellungen im Jahr 1967 für Timm eher zu verunmöglichen: „Als politisch Denkender ist er [Ritschl] grundsätzlich konservativ; als Theologe hingegen denkt er progressiv. Sein theologischer Zentralbegriff der Reich-Gottes-Praxis ist Ausdruck einer spiritualistischen Überfremdung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit“.109 Timm bewertet Ritschl, obwohl ihm diese Problematik bewusst ist, konsequent in Kategorien des 20. Jahrhunderts, sodass er zu dem Schluss kommen kann: „Ritschls Sozialethik zeigt sich nur noch an den personalen Gemeinschaftsverhältnissen in der Welt interessiert“.110 Dennoch kann Timm damit Ritschls Theologie aus sozialethischer Perspektive vor Herrmanns Überbietung profilieren, insofern bei Herrmann der Fokus ganz auf eine Individualdogmatik gelegt werde.111 Der Vorteil von Herrmann gegenüber Ritschl liegt nun für Timm darin, dass Herrmann mit der Ohnmacht des sittlichen Erlebnisses existentiell-abgründige Zustände konstitutiv in die Theologie einbeziehen könne.112 Timm führt also die situative und kontextuelle Gebundenheit der Theologie Ritschls so in die Analyse mit ein, dass er an diesen Situationsbestimmungen die Kompatibilität mit den Fragestellungen einer sozialethischen, politisch ausgerichteten Theologie für seine Zeit festmacht. Es kann eine implizite Normativität bei Timm im Um-
107 Timm zielt darauf ab, zu zeigen, inwieweit der Akosmismus durch Herrmanns Umformungen schon Teil des Kulturprotestantismus und nicht erst der Kerygma-Theologie sei (vgl. Timm, Theorie, 20f.). 108 Heinz-Dietrich Wendland/Heinz Eduard Tödt, Vorwort der Herausgeber, in: Timm, Theorie, 9f. 109 Timm, Theorie, 149. Timm macht einerseits deutlich, dass sich die Kontexte der Situativitäten, so z. B. die Vorstellung von Nationalstaatlichkeit nicht übertragen lassen: „Dem heutigen Leser fällt es schwer, diesen Begriff [Ritschls Definition des Reiches Gottes, KO] zu verstehen“ (Timm, Theorie, 78), insofern Ritschls Denken noch vornational sei. Dennoch kann er Ritschl in diesen Kategorien bewerten: „Der nationale Kulturstaat war bei Ritschl von vornherein teleologisch dem System einer überstaatlichen Gesinnungsgemeinschaft integriert“ (Timm, Theorie, 87). 110 Timm, Theorie, 149. 111 Vgl. Timm, Theorie, 150–152. 112 Timm, Theorie, 153.
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gang mit situativen Verfasstheiten aus ethischer Perspektive festgestellt werden: Die Theologie könne sich kontextuell gebundener Situativitäten annehmen, aber nur, wenn sie damit etwas zu aktuellen gesamtgesellschaftlichen Problemstellungen beitragen könne und sich nicht auf existentielle Verarbeitungsmechanismen beschränke. An dieser Stelle kann schon darauf verwiesen werden, dass die Differenzierung zwischen ethischen Situationen in historisch gebundenen Kontexten und gesellschaftlichen Einbettungen als kollektiver und individueller momentaner situativer Verfasstheit weiterführend ist: Denn diese tragen je unterschiedliche Fragestellung an die Theologie heran, auf die sie unterschiedlich reagieren kann. Diese Problemstellung kann an dem Vorgehen Kuhlmanns profiliert werden, die Ritschls Erschließungspotentiale für eine krisenorientierte Sozialethik untersucht, um so wiederum in apologetischer Haltung Ritschl gegenüber K. Barth zu legitimieren. Die Grundlage für die Möglichkeit, die Theologie Ritschls auf ihre zeitgenössischen, sozialethischen Fragestellungen zu übertragen, sieht Kuhlmann in den geteilten Situativitäten gegeben: Ritschls Theologie sei eine Krisentheologie in den Konstitutionsbedingungen der Moderne. Diese Krise sei gekennzeichnet durch die Erfahrung des Ausgeliefertseins an die Welt, die den Menschen in die Ohnmacht treibe.113 Kuhlmanns Beurteilung von Ritschl ist nun, dass dieser in der Analyse der Krise nicht auf die eigentlich relevanten sozialkritischen Probleme fokussiere und dadurch zu paradoxen theologischen Aussagen komme.114 Die Probleme, die Ritschl zur Ethik drängen, seien nicht – wie Kuhlmann es für sinnvoll und anschlussfähig halten würde – die sozialen Missstände seiner Zeit, sondern vielmehr die sich aus der Herrschaft des Materiellen ergebende Unfreiheit des Geistes, die paradoxerweise in der immer größeren Herrschaft über die Welt zum Ausdruck komme. 115 Dieses Vorgehen provoziert die Frage, ob sich über den historischen Graben die Lösungsansätze von Situativitäten in Kontext A derart auf Situativitäten in Kontext B übertragen lassen.116 Das wird verschärft durch die 113
Vgl. Timm, Theorie, 262. Kuhlmann führt das in der abschließenden Beurteilung Ritschls auf: „Nicht die materielle Not vieler seiner Zeitgenossen und -genossinnen bedrängt Ritschl so, daß er seine ethischen Überlegungen ihrer Überwindung widmete“ (Kuhlmann, Ethik, 264), denn „[n]ur unzureichend reflektiert er theologisch die soziale und materielle Lage der Armen seiner Zeit“ (Kuhlmann, Ethik, 272f.). Kuhlmanns Kritik ist jedoch selbst von einer starken Positionalität getragen, insofern sie eine spezifische Situativität, nämlich materielle Notlagen marginalisierter Bevölkerungsgruppen, zum exklusiven Beurteilungskriterium des Ritschl’schen Umgangs mit Situativitäten erhebt. 115 Vgl. Kuhlmann, Ethik, 264.274. 116 Sie stellt das dezidiert als ihre Absicht dar: „Für einen Teil der aktuellen Problemstellungen vor allem im Bereich der Ökologie und Gesellschaftspolitik ist die Ethik Ritschls unzureichend. Für erstaunlich viele gegenwärtige Fragen aber überläßt sie noch unverfallene Schätze“ (Kuhlmann, Ethik, 283). 114
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Beobachtung, die Mark D. Chapman in seiner Rezension von Kuhlmann in der ThLZ macht, dass sie Ritschls eigene zeitgeschichtliche Situation in der Rekonstruktion seiner Ethik nicht berücksichtige.117 Für die vorliegende Arbeit wie für eine situative Dogmatik wird das als Problemanzeige aufgenommen, dass auch scheinbar ähnliche Situativitäten kontextualisiert und unter Einbeziehung der je angemessenen Referenzwissenschaften auf ihre existentiellstrukturelle Übertragbarkeit hin befragt werden müssen. 1.5. Ritschls Verortung in der Religionsphilosophie seiner Zeit zwischen „Idealismus“ und „Historismus“ Ein relativ breiter Strang der Ritschlforschung widmet sich den Prämissen des gesamten Ritschl’schen Systems und erfasst diese in ihren religionsphilosophischenHintergründen innerhalb der Diskussionen der scientific community zu Ritschls Zeit.118 An dieser Stelle sei schon einmal vorgeschaltet, welche Aspekte in der Rezeption Ritschls bislang fehlen: Das ist zunächst eine eigenständige Analyse zu Ritschls Prägung durch den Pietismus, die für Ritschls Theologie in der Strukturbildung sowie der Durchführung in den einzelnen materialdogmatischen Gehalten wahrscheinlich wesentlich eindrücklicher ist, als gemeinhin angenommen.119 Es wird meistens Ritschls eigenem Zeugnis darin gefolgt, dass er den Pietismus ablehne, was jedoch schon seiner dreibändigen „Geschichte des Pietismus“ nicht gerecht wird.120 Das gilt ähnlich für Ritschls Abhängigkeit von Melanchthon, die mindestens in dem postum veröffentlichten „Fides implicita“121 erheblich stärker ist, als von Ritschl im Selbstzeugnis für sich in Anspruch genommen. Auch die Einordnung Ritschls in die Reformationstheologie durch Frank Hofmann, die maßgeblich für Ritschls Luther117
„Die Grenzen zwischen historischer Theologie und Kirchengeschichte werden von der Autorin nicht überschritten: Die Ethik Ritschls scheint deshalb fast unabhängig von ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu sein“ (Mark D. Chapman, Rez. Helga Kuhlmann, Die theologische Ethik Albrecht Ritschls, in: ThLZ 122 [1997], 496f. hier: 497). 118 Das ist zunächst einmal das Umfeld der Göttinger Fakultät und hier besonders das Verhältnis von Ritschl und Rudolf Hermann Lotze. Lotze (1817–1881) war Professor für Philosophie in Göttingen, der in der Auseinandersetzung mit den empirischen Naturwissenschaften eine Philosophie) entwickelte, die von der steten Transzendierung des Empirischen im Bewusstsein ausgeht (vgl. dazu: Neugebauer, Lotze, 22). 119 Diese Einschätzung schließt sich einer mündlichen Mitteilung Zachhubers an, da in der Analyse von Ritschls „Geschichte des Pietismus“ sowie in der Verortung in der pietistischen Theologie seiner Zeit ein Desiderat der Ritschl-Forschung liegt. 120 Das prägnanteste Beispiel für die Einordnung Ritschls in Opposition zu pietistischen Strömungen findet sich bei Wolfhart Pannenberg, der Ritschls Theologie ausschließlich als Abwehrbewegung auf die Erweckungstheologie rezipiert (vgl. Wolfhart Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 121–136). 121 Vgl. Albrecht Ritschl, Fides implicita. Eine Untersuchung über Köhlerglauben, Wissen und Glauben, Glauben und Kirche, Bonn 1890 (nachfolgend: FI).
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Rezeption geworden ist, hat im Wesentlichen die Absicht zu zeigen, wie Ritschl in der Kombination von Luther und Kant eine neue Beschäftigung mit Luther im ausgehenden 19. Jahrhundert anregt. 122 Diese Desiderate der Ritschl-Forschung erklären sich daraus, dass die religionsphilosophisch interessierte Rezeption Ritschls sich primär in der theologiegeschichtlich begründeten Stellung zwischen Idealismus und Historismus oder Positivismus verortet.123 Die Verortung zwischen Idealismus und Historismus kann dabei einerseits auf die in Ritschls Werk angelegte Struktur sowie auf seine zeitgeschichtliche Stellung zwischen diesen Systemen zurückgeführt werden und ist andererseits schon durch die stilbildende Deutung von Hök vorgegeben. Hök legt 1942 eine umfassende Analyse der Struktur des Werkes Ritschls mit dem Fokus auf der Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Religion vor, für die er die Bedeutung der unterschiedlichen philosophischen Einflüsse auf das Ritschl’sche System hervorhebt. Im Rahmen dieser Überlegungen profiliert Hök dann programmatisch die von Ritschl aufgenommene Redeweise von den beiden Brennpunkten der Ellipse (Reich Gottes und Freiheit in Gott).124 Hök benennt diese beiden Elemente als die Gleichzeitigkeit von immanentem und transzendentem Hintergrund bei Ritschl,125 der einerseits an die idealistische Philosophie Schellings, Hegels und Schwarzens gebunden sei, andererseits auf der Linie Feuerbachs, Zellers und Lotzes stehe.126 Im Rahmen dieser Differenzierung kann die Rezeption nun zwei Positionen einnehmen, indem sie entweder Ritschls primären Einfluss in dem vom Lotze vermittelten Neukantianis-
122
Vgl. Frank Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption, Gütersloh 1998, 255–257; ähnlich geht David W. Lotz vor, der die Beschäftigung Ritschls mit Luther als Heuristik für Ritschls Theologie versteht (David W. Lotz, Ritschl and Luther. A Fresh Perspective on Albrecht Ritschls Theology in the Light of His Luther Study, New York 1974, 7). 123 Idealismus ist insofern ein kritisch zu hinterfragender Begriff, da er pejorativ als Kampfbegriff aufkam. Stattdessen ist synonym „Klassische Deutsche Philosophie“ zu bevorzugen und wird in der vorliegenden Arbeit größtenteils gebraucht. Dieter Henrich benutzt diese Formulierung, um damit dezdiert die Traditionslinie von Kant bis Hegel zu verbinden und die Relevanz dieser Linie für aktuelle Philosophien aufzuzeigen (vgl. Dieter Henrich, Einleitung, in: Ders., Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, 3–5.). In der folgenden Analyse wird der Begriff „Idealismus“ jedoch beibehalten, da er in den entsprechenden Rezeptionen so prominent verwendet wird. 124 Vgl. Hök, Elliptisches System, 152, bezogen auf RuV 1III, 6. Hök bemerkt, dass es bei Ritschl eigentlich eine vierfache Unterscheidung sowohl in „religiös-religiöse und ethisch-religiöse, als auch religiös-ethische und ethisch-ethische Aussagen“ gebe (Hök, Theologie, 151). 125 Vgl. Hök, Elliptisches System, 358. 126 Vgl. Hök, Elliptisches System, 177.
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mus sieht oder Ritschl als Teil des Hegel-Diskurses betrachtet. Die dabei vorgenommenen Differenzierungen werden im Folgenden vorgestellt, um dann die vorliegende Arbeit im Rahmen dieser Diskurse zu verorten. 1.5.1. Rezeption Ritschls im Rahmen neukantianischer Philosophie Nach Hök dominiert auch in der philosophiegeschichtlich orientierten Rezeption Ritschls eine apologetische Haltung, in der die Möglichkeit der Harmonisierung mit K. Barth über die Bezugnahme auf das neukantianische Denken im Rahmen von wissenschaftstheoretischen Überlegungen zur Metaphysikkritik vorgeschlagen wird.127 Die situativen Elemente, die in den zeitgleich stattfindenden ethischen Betrachtungen prominent sind, rücken in diesen Ansätzen fast vollständig in den Hintergrund, insofern erkenntnistheoretisch die Metaphysik und die Wirklichkeit Gottes bei Ritschl hervorgehoben werden. Der Ansatz, den Wrzecionko wählt, um zu zeigen, dass Ritschl nicht – im Sinne K. Barths – an der Wirklichkeit Gottes gezweifelt habe,128 ist die Verbindung der Kant’schen Religionsphilosophie und der Erkenntnistheorie Lotzes als das hermeneutische Verfahren des Ritschl’schen Denkens herauszustellen.129 Wrzecionko bestimmt die Suche nach der wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit von Theologie und das Ringen um deren Kommunizierbarkeit als die Zielperspektive des Ritschl’schen Systems.130 Durch die ideelle Deutung der Lotze’schen Theorie sei die Theologie bei Ritschl auf die psychologischen Komponenten, d. h. das religiöse Bewusstsein, begrenzt worden,131 damit sie in die Reihe anderer geistiger Bewegungen und den Kanon der Wissenschaften eingeordnet werden könne.132 Auch Ralf Geisler betrachtet Ritschl primär als Erschließungsmöglichkeit für das Verständnis des moralischen Gottesbeweises in der Kant-Rezeption des Positivismus. Geislers Prämisse seiner Ritschl-Rezeption ist, dass Ritschl nicht nur im Rahmen der Weiterentwicklung Kant’schen Denkens gesehen werden kann, sondern spezifisch dessen Gottesbeweis fortsetze.133 Aus dieser Perspektive kann Geisler das Gemeindeverständnis von der Reflexion ausnehmen und Ritschl vollständig subjekttheoretisch auf die wissenschaftstheoretische Anschlussfähigkeit hin analysieren.134 Unter diesen Voraussetzungen ist Geislers 127
Vgl. zu seinem Vorgehen auch ausführlich: Paul Wrzecionko, Der geistesgeschichtliche Horizont der Theologie Albrecht Ritschls, in: NZSTh 1 (1963), 214–234. 128 Wrzecionko, Theologie, 258. 129 Wrzecionko, Theologie, 247. 130 Vgl. Wrzecionko, Theologie, 262. 131 Vgl. Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 119. 132 Vgl. Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 122. 133 Geisler bestimmt als primäre Frage seiner Analyse: „[U]nternimmt Ritschl einen originalen Rückbezug auf Gedanken Kants?“ (Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 19). 134 Geisler sieht Ritschl auf die „Legitimität des christlichen Glaubens vor dem Forum theoretischer Weltweisheit“ abzielen (Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 151).
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Kritik an Ritschl, dass dieser noch zu metaphysisch denke, da er seinen empirischen Standpunkt nicht methodisch erfasse, und über den Begriff des Geistes eine „antipositivistische metaphysische Intention“135 beibehalte. Das Anliegen Geislers ist es demgegenüber aufzuzeigen, wie Ritschl dennoch für das 20. Jahrhundert anschlussfähig sein kann, insofern die Auflösung der Theologie in die Methodologie erst durch die Ritschl’schen Umstellungen möglich geworden sei.136 Das Problem der Verortung der Theologie Ritschls im Diskurs der Wissenschaften wird von Matthias Neugebauer aufgegriffen und in einer ausführlichen und detailreichen Analyse der Abhängigkeiten Ritschls von dem Göttinger Neukantianer Lotze verhandelt.137 Neugebauer zeigt auf, dass Ritschl die Metaphysik nicht grundsätzlich ablehne, wie es z. B. Pannenberg wirkmächtig feststellt habe:138 In der gleichzeitig psychologischen und ontologischen Konzeption des Geistes als eigenmächtiges Wirkzentrum von Erkennen, Wollen und Fühlen sichere die Geistmetaphysik Ritschl die Möglichkeit, so Neugebauer, den Geist als Ort des religiösen Vollzugs zu bestimmen, der konkret werde in der Offenbarung des Reiches Gottes.139 In diesem Sinne sei die Psychologie Teil der Ritschl’schen Metaphysik und seine Metaphysikkritik durch die Aufnahme des Reich-Gottes-Gedankens keine Absage an metaphysische Denkfiguren, sondern nur an vorkantische.140 Auch wenn Neugebauer wertend feststellt, „Ritschls Umgang mit philosophischen Traditionen [...habe] etwas erquickend Freizügiges“141, führt er die prägenden Einflüsse Ritschls immer wieder auf Lotze zurück und gesteht den anderen Einflüssen auf Ritschl nur 135
Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 134. Da er die Perspektive der Gemeinde nicht produktiv aufnimmt, kann Geisler konstatieren, dass Ritschl dem Projektionsverdacht Feuerbachs nichts entgegensetzen könne, außer der Betonung des nicht allein individuell, egoistisch bestimmten Interesses der Religion (vgl. Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 146). Daran anknüpfend führt Geisler aus, dass der „Geist“ eben im Sinne von psychologischen Mechanismen zu verstehen sei, die Ritschl selbst nicht als solche benenne, die aber z. B. von Georg Wobbermin ausgeführt werden, der dadurch Ritschl in die letzte Konsequenz führe und überbiete (vgl. Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 231). 136 Geisler, Moralischer Gottesbeweis, 270. 137 Vgl. Neugebauer, Lotze, 300f. 138 Vgl. Neugebauer, Lotze, 320. 139 Vgl. Neugebauer, Lotze, 291f. Ritschl beziehe sich auf den Geist im Hegelschen Sinne, wenn auch unter Verabschiedung des Stufenmodells (vgl. Neugebauer, Lotze, 304). Neugebauer geht davon aus, dass Ritschl den Geist als „idealen Geist“ bestimmt, „als interne Verknüpfung intelligibler Gehalte“ (Neugebauer, Lotze, 288). Neugebauer versteht dies für Ritschls Geistbegriff nun so, dass im Christentum das Ideale des Geistes in der Transzendierung auf das Reich Gottes liege, in dem die zunächst noch psychologisch unklar bleibende Identität des Individuums thematisiert werde (Neugebauer, Lotze, 288). Damit sei der Geist Teil der immer prozesshaft bleibenden Persönlichkeitsbildung (Neugebauer, Lotze, 289). 140 Vgl. Neugebauer, Lotze, 298f. 141 Neugebauer, Lotze, 320.
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sekundären Status zu. 142 Die Verortung Ritschls im Neukantianismus kann grundlegend zur Erhellung von Ritschls erkenntnistheoretischen Prinzipen in Bezug auf die Gottesfrage und die Metaphysik verstanden werden und wird in der vorliegenden Arbeit dort produktiv aufgenommen, wo es um die Bestimmung der A-Funktionalität im Ritschl’schen System geht. Das bedarf jedoch der Ergänzung durch die Frage, wie Ritschl in den geschichtsphilosophischen Diskursen seiner Zeit verortet wird, um die Aspekte von Funktionalität und Situativität betrachten zu können. 1.5.2. Rezeption Ritschls im Diskurs um die Hegel’sche Geschichtsphilosophie Unter der Absicht der Erhellung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie wird Ritschl in aktuellen deutschsprachigen Monographien von Slenczka, Wittekind und Zachhuber im weitesten Sinne in die Hegel-Rezeption seiner Zeit eingeordnet, die in sich selbst durchaus divergent ist: Slenczka unternimmt das, indem er zeigt, wie sich Ritschl in der Auseinandersetzung um das Absolute von der spekulativen Theologie der erweckten Erlanger Schule abgrenzt, Wittekind und Zachhuber, indem sie – in unterschiedlichen Akzentuierungen und mit unterschiedlichen Intentionen – das Verhältnis Ritschls zur Baur-Schule und damit zur Geschichtsphilosophie in den Blick nehmen. Bei Slenczka ist die Ritschl-Rezeption ein Teil des Argumentationsganges, mit dem er in seiner Habilitationsschrift darlegt, ob und wie die Theologie der Erlanger Schule für die theologische Reflexion weiterhin anschlussfähig ist:143 Slenczka zielt darauf ab, in der Auseinandersetzung zwischen den divergierenden Systemen von Ritschl und Frank diese jeweils in ihrem Eigenrecht in der Auseinandersetzung mit dem Absoluten zu profilieren und als einen Diskussionsbeitrag zum Gottesgedanken zu verstehen.144 Für Ritschl arbeitet er dementsprechend besonders heraus, wie dessen Ausrichtung auf die Wirkung notwendigerweise zu einer Abkehr von dem im Frank’schen Sinne verstandenen Absoluten führen müsse: Das Absolute könne diese Wirkung nicht einholen und werde damit den Prämissen einer Theologie, wie Ritschls sie versteht, nicht gerecht. Mit dieser subjekttheoretischen Entfaltung profiliert Slenczka in 142 Vgl. bes. Neugebauer, Lotze, 225–229; Chalamet macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Neugebauer dadurch auch immer wieder Gedanken einseitig als von Lotze herkommend beschreibt, obwohl Ritschl diese ebenso gut aus Luthers Werken, der Schrift oder anderen Quellen entwickelt haben könnte (vgl. Chalamet, Reassessing, 631). 143 Dennoch zähle sie, so Bernd Oberdorfer in seiner Rezension in der ThLZ, zu den „beeindruckendsten Partien des Werkes [...]. S. kann zeigen, dass die Schärfe des Gegensatzes auf einer überraschenden Nähe gründet“ (vgl. Bernd Oberdorfer, Rez. Slenczka, Notger, Der Glaube und sein Grund. F. H. R. von Frank, seine Auseinandersetzung mit A. Ritschl und die Fortführung seines Programms durch L. Ihmes; Slenczka, Notger, Selbstkonstitution und Gotteserfahrung. W. Elerts Deutung der neuzeitlichen Subjektivität im Kontext der Erlanger Theologie, in: ThLZ 126 [2001], 303–308, hier: 304). 144 Vgl. Slenczka, Glaube, 127.
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der Ritschl’schen Theologie die existentiellen Dimensionen für die Gotteslehre und erschließt den Gottesgedanken bei Ritschl über emotional-affektive Kategorien.145 Den Ort der Dynamisierung im Ritschl’schen System sieht Slenczka in der Entwicklung des Gottesbegriffes aus praktischem Glauben gegeben, die er subjekttheoretisch unter Einbeziehung der Affektenlehre denkt.146 Während Slenczka die Ritschl’sche Theologie in der Abgrenzung zur Erlanger Theologie erschließt, erfassen Wittekind und vor allen Dingen Zachhuber Ritschl in Abgrenzung zu der historisch-kritischen Sicht der Baur-Schule, so dass das Verhältnis von Theologie und Philosophie im Rahmen der wissenschaftstheoretischen Legitimierungsversuche von Theologie im 19. Jahrhundert in den Blick kommt. Wittekind könnte schon aufgrund des Titels seiner Monographie „Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens“ sowie aufgrund der darin erfolgenden Reihung von Ritschl über Kaftan zu K. Barth auch in die erste, am Offenbarungsbegriff orientierte Linie der RitschlRezeption eingeordnet werden.147 Die Pointe liegt für Wittekind jedoch in der geschichtsphilosophischen Betrachtung Ritschls als einer Form der Hegel-Interpretation. 148 Als Zentrum des Zusammenhanges zwischen Ritschl und K. Barth hält Wittekind deswegen das Verhältnis von Glaube und Geschichte fest, das sich gegen die religionsgeschichtliche Schule durchsetze und das auf Wahrheit und nicht auf Sinn abziele.149 Wittekind fokussiert in der Ritschl-Rezeption, die sich im Wesentlichen auf „Über die geschichtliche Methode in der
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Vgl. Slenczka, Glaube, 144f. „Die christliche Religion bzw. der ‚praktische Glaube‘ setzt diese Funktion und diesen Gottesbegriff nicht voraus, sondern aus sich heraus“ (Slenczka, Glaube, 156). 147 Wittekind geht dezidiert theologiegeschichtlich vor und beabsichtig keine explizite Positionierung, sondern ein Nachzeichnen der Entwicklung von Ritschl ihm Kontext der Hegel-Rezeption hin zu K. Barth, indem er den „positive[n] Bezug Barths zur Ritschlschule neu in den Mittelpunkt“ stellen will (vgl. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 1). 148 Die Geschichte sei in diesem Sinne bei Ritschl Ort der Verwirklichung des göttlichen Selbstbewusstseins, das damit den Bedingungen historischer Forschung unterliege. Das werde über die Ethik für das Subjekt vermittelt: „Gott bindet sich an die reale Geschichte, indem er das Bewußtsein der Freiheit als Bedingung wahrer personaler Existenz wie als Bedingung eines wahren Gemeinschaftslebens in Jesus Christus offenbart“ (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 42). In diesem Sinne kann Wittekind die Ethik bei Ritschl als Aufgabe der Dogmatik verstehen, was er in einem chronologischen Durchgang durch UcR aufzeigt, die darauf abzielt zu zeigen, dass Ethik und Dogmatik als Möglichkeit des Vollzuges der Wahrheit an die Christologie gebunden sei (vgl. Wittekind, Geschichteliche Offenbarung 66). 149 In Hinblick auf seine Absicht, die bleibende Bedeutung des Ritschlianismus zu zeigen, führt Wittekind nun aus, dass dieser Vollzug ein Vollzug von Wahrheit ist, die sich gerade auch bei K. Barth in der Betonung von Gottes Wahrheit als einer Wahrheit für den Menschen finde, die dieser sich aneignen müsse (vgl. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 258). 146
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Erforschung des Urchristenthums“150 und auf die erste Auflage des UcR bezieht, diese Frage bei Ritschl unter einem subjekttheoretischen Paradigma:151 Der subjektive Vollzug von Glauben sei konstitutiv für die Ritschl’sche Theologie, diese könne jedoch nicht auf Vollzug reduziert werden, insofern der Glaube „als Vollzug der Wahrheit einerseits inhaltlich durch die Idee des überindividuellen Reiches Gottes, andererseits aber formaliter durch den Akt des Vollzugs selbst bestimmt“ 152 sei. Als Ort der Dynamisierung in der Ritschl’schen Theologie wird bei Wittekind der Vollzug selbst subjekttheoretisch und auf Sinndeutung bezogen erschlossen. Wittekind formuliert die Aufgabenstellung an die Ritschl-Rezeption deswegen abschließend so: „Der Glaube, dessen zugleich individueller und allgemeiner, spontaner und als Gewißheit erlebter passiver, auf Gott gerichteter und selbstbezüglicher komplexer Struktur Ritschls antihegelianisches theologisches Denken gilt, ist in dieser Komplexität das Konstruktionsprinzip der Dogmatik Ritschls“153. Das kann folgendermaßen aufgegriffen werden: Wenn im Unterschied zu Wittekind für 150 Albrecht Ritschl, Über die geschichtliche Methode in der Erforschung des Urchristenthums, in: JDTh 6 (1861), 429–459. 151 Vgl. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 3. Weinhardt leitet in seiner Rezension in der ThLZ daraus ab, dass die Einordnung Ritschls als Hegelianer eine Verzeichnung darstellt, die sich aus der Textbasis erklären lasse. Weinhardt hält daran fest, dass Ritschl den supranaturalistischen Wunderbegriff nie abgelehnt habe, verweist zur Begründung jedoch nur auf „relevante Sekundärliteratur“ (Joachim Weinhardt, Rez. Wittekind, Folkart, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth, in: ThLZ 126 [2001], 423–426, hier: 424). 152 Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 61. 153 Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 75. Das führt Wittekind auch in seiner kontinuierlichen Beschäftigung mit Ritschl aus (vgl. Folkart Wittekind, Ritschls geschichtsphilosophische Deutung der Reformation der Kirche, in: Christian Danz/Rochus Leonhardt [Hrsg.], Erinnerte Reformation. Studien zur Luther-Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2008, 201–233). Er schärft die Problemstellung im Durchdenken der Hermeneutik Ritschls im Umgang mit dem Judentum zu: „Die reale Existenz des Gottesglaubens in der Geschichte, als ein geschichtliches, aber nicht durch geschichtliches Handeln des Menschen bewirktes Ereignis, verbindet sowohl die individuelle Erkenntnis der Nichtmoralität von Religion als auch die Einbindung jeder individuellen Religion in das Gegebensein der religiösen Gemeinschaft. Ritschl überführt damit die spekulative Religionsgeschichte in eine kulturhistorische Bewusstseinsgeschichte“ (Ders., Die religionskonstruktive Funktion der Bezugnahme auf das Judentum bei Ferdinand Christian Baur und Albrecht Ritschl, in: Roderich Barth/Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener [Hrsg.], Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, [SchlA 24] Berlin/Boston 2012, 506–535); zum Geist in der Bestimmung des Verhältnisses von Geschichte und Wirkung vgl. Folkart Wittekind, Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Pneumatologie, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hrsg.): Zwischen Geistvergessenheit und Geistversessenheit, Tübingen 2014, 13–67.
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Forschungslage und Methodenreflexion
Ritschl als Kriterium theologischer Reflexion nicht die Wahrheit im Rahmen subjektiver Sinndeutung gesehen wird, sondern die Kommunikation von Wahrheitsansprüchen in kollektiven und intersubjektiven Sozialformen, dann kann die existentielle Dimension mit einbezogen werden.154 Zachhuber betitelt die deutsche Fassung seiner Habilitation von 2011 programmatisch mit „Zwischen Idealismus und Historismus“. Er untersucht unter diesem Paradigma für die Theologie im 19. Jahrhundert, wie diese ihre Legitimation als Wissenschaft begründet. Ebenso wie Wittekind sieht Zachhuber dabei die wesentlichen Bezüge und Abgrenzungen Ritschls und der Ritschlschule in der Tübinger Schule. Die Zielperspektive seiner Arbeit ist die Einordnung dieser beiden Schulen als Vorläufer der religionsgeschichtlichen Schule um Troeltsch, die er ausführlich in der englischsprachigen Variante der Habilitation „Theology as science in Nineteenth-Century Germany: From F.C. Baur to Ernst Troeltsch“ darstellt.155 In dieser Perspektivierung auf Troeltsch kommt für Zachhuber nun nicht wie für Wittekind primär die Wahrheitsfrage bei Ritschl in den Blick, sondern die Problemstellung wie die Theologie ihre Wissenschaftlichkeit im Umgang mit historischen Methoden gewährleisten kann. Zachhuber analysiert Ritschls Verortung in der wissenschaftstheoretischen Diskussion seiner Zeit im Rahmen der Geschichtsphilosophie unter der Prämisse, dass dieser einerseits durch Baur und die Tübinger Schule beeinflusst mit der Differenz von Geist und Natur dem Mainstream des Idealismus im 19. Jahrhundert folge, andererseits auch eine eigenständige empirisch-historische Verortung der Theologie vornehme, die sich im Verständnis des Reiches Gottes expliziere. Ritschls (und Baurs) Anliegen sei die „Synthese von philosophischen, historischen und theologischen Einsichten“156 gewesen. Mit dem Scheitern der im Reich Gottes-Gedanken angelegten Teleologie sei dann auch die Einheit von historischer und dogmatischer Methode gescheitert, sodass die Wissenschaftlichkeit der Theologie bei Ritschl entweder über ihre explizit historische Verortung gewahrt bleiben oder die historische Auseinandersetzung zugunsten der Dogmatik aufgegeben werden müsse.157 Damit sei das Ende des „idealistischen Programms“ impliziert, ohne dass jedoch Baur und Ritschl schon etwas Neues für sich in Anspruch nehmen könnten, da sie noch zwischen
154 Als Randbemerkung: Diese Art und Weise Ritschls Theologie zu verstehen, ist erstaunlich nahe an Wittekinds 2018 entwickelter und in Form einer Systematik dargelegten „Theologie religiöser Rede“, welche Theologie als diejenige Disziplin versteht, die religiöse Kommunikationsstrukturen auf diese selbst hin durchsichtig macht (vgl. Wittekind, Theologie). 155 Johannes Zachhuber, Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, (Changing Paradigms in Historical and Systematic Theology) Oxford 2013. 156 Zachhuber, Idealismus, 303. 157 Zachhuber, Idealismus, 302.
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beiden Denksystemen stünden.158 Insofern zeige das Scheitern des idealistischen Programms in der Ritschl’schen Theologie laut Zachhuber, dass „viel für den alternativen Weg einer Theologie als Hermeneutik des Christentums zu sprechen“159 scheine, die „die Existenz des christlichen Glaubens in seiner historischen-sozialen Form als zu interpretierendes Faktum voraus[setze].“160 Die von Zachhuber der theologischen Beschäftigung aufgegebene bleibende Problemstellung, ob der Dogmatik oder der Praxis das Primat in theologischer Reflexion zukomme, wird in der vorliegenden Arbeit mit Ritschl selbst präziser erschlossen. 1.6. Verortung der vorliegenden Arbeit in diesem Diskurs Von dieser letzten Linie ausgehend kann die Verortung der vorliegenden Arbeit im Diskurs vorgenommen werden: Die Ritschl’sche Theologie bleibt in ihrer geistesgeschichtlichen wie programmatischen Stellung zwischen verschiedenen Denksystemen sowie in ihren theologischen Transformationsprozessen für die Reflexion interessant. Diese Transformationsprozesse führen auf eine weitere Linie der Rezeption, die bisher nicht thematisiert wurde: Ritschl regt aufgrund des begrifflichen wie schlicht umfangsmäßig gegebenen Reichtums seiner Theologie an, an verschiedenen Stellen anzusetzen, um das System dieser Theologie „in den Griff“ zu bekommen, auch deshalb, weil er seine Theologie immer wieder als kohärentes System propagiert. 161 In diesem Sinne werden in einer Vielzahl von Rezeptionen der Ritschl’schen Theologie einzelne Aspekte herausgegriffen und im Rahmen des theoretischen Rahmens der jeweiligen Arbeit thematisiert, so z. B. das Schriftverständnis162, die Metaphysikkritik163, die Versöhnung164, die Rechtfertigung165, die Sündenlehre166, die
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Zachhuber, Idealismus, 303. Zachhuber, Idealismus, 332. 160 Zachhuber, Idealismus, 332. 161 Vgl. dazu auch die Spiegelung dieses Phänomens z. B. bei Zachhuber, Idealismus, 270–284; dort verhandelt Zachhuber innerhalb der Gotteslehre bei Ritschl sowohl die Anthropologie als auch die Christologie. 162 Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004. 163 Ruth Görnandt, Die Metaphysikkritik Gerhard Ebelings und ihre Vorgeschichte, (BHTh 180) Tübingen 2016. 164 Markus Mühling, Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung. Gottes Opfer an die Menschen, (FSÖTh 107) Göttingen 2005. 165 Alexander Heit, Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen 2006. 166 Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Mülller, F. Schleiermacher und Sören Kierkegaard, (BHTh 94) Tübingen 1996. Christine Axt-Piscalar bestimmt generell das Freiheits159
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Forschungslage und Methodenreflexion
Vorsehung167 oder die Demut168. Während anhand dieser Rezeptionen gezeigt werden kann, wie Ritschls Theologie auch weiterhin zur Überbietung und Weiterführung reizt, stehen diese Entwürfe vor der Problemstellung, auf knappen Raum das Ritschl’sche System abzubilden, um die Dynamik der Theologie nicht auf einen einzelnen Aspekt zu verkürzen. Die vorliegende Arbeit geht deswegen so vor, dass sie zunächst eine Relecture Ritschls bietet, die dann – mit der Entfaltung des Systems im Hintergrund – die Demut mit Ritschl und über Ritschl hinausgehend präziser bestimmt. Für die Relecture Ritschls wird nun eine Perspektive eingenommen, welche die im bisherigen Diskurs dominante Perspektive in der religionsphilosophischen Betrachtung der dritten Linie ergänzt: Allen Rezeptionen der dritten Linie ist in unterschiedlichen Abstufungen gemein, dass sie Ritschls eigene Zielperspektive primär darin sehen, die Wissenschaftlichkeit der Theologie im akademischen Diskurs zu gewährleisten. Es kann jedoch noch eine zweite Zielperspektive bei Ritschl ausgemacht werden, nämlich die Relevanz der theologischen Reflexion nicht nur aus, sondern auch für die religiöse Verkündigung zu zeigen. Diese Ausrichtung auf die Praxis ist nicht mit einer Legitimation von bestimmten kirchlich-institutionalisierten Strukturen zu verwechseln. Beide Zielperspektiven laufen in der Durchführung der Theologie Ritschls ineinander: Insofern die Formen der wissenschaftstheoretischen Legitimation bei Ritschl mit den o. g. Arbeiten umfassend dargestellt sind, fokussiert die vorliegende Arbeit auf die Art und Weise, wie Ritschl die Theologie als relevant für die Gemeinde konstituiert. Es bleibt ein Desiderat der Ritschlforschung, die Relevanz der Dogmatik in Ritschls Theologie für die (situative) Lebenswirklichkeit der Menschen im 19. Jahrhundert im Rahmen der wissenschaftstheoretischen Umstellungen und der sich verändernden kirchlichen Landschaft zu entfalten.169 Deswegen wird in der vorliegende Arbeit an Ritschls Theologie die Aufgabenstellung herangetragen, das komplexe Zusammenspiel zu entschlüsseln, das Matthew R. Robinson in seiner Rezension der englischen Fassung von Zachhubers Monographie so beschreibt: „Namely, religion is a complex of ethical relationships between individuals, communities, traditions and
bewusstsein als Ausgangspunkt von Ritschls Theologie (vgl. Albrecht Ritschl. Eine Würdigung seiner theologischen Grundanliegen aus Anlass seines 125. Todestags, in: Kerygma und Dogma 60 [2014], 285–302). 167 Arnulf von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung. Eine religionssoziologische, geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Untersuchung, Stuttgart 1999. 168 Eckhard Zemmrich, Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs, (Ethik im Theologischen Diskurs 4) Berlin 2006. 169 Korsch deutet diese Perspektivierung durch die Praxis bei Ritschl immer wieder an, fokussiert darüber hinaus jedoch die subjekttheoretischen Überlegungen (vgl. Korsch, Glaubensgewißheit, 12f.)
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the absolute“170. Diese Fokussierung auf die Art und Weise, wie Ritschl die Theorie als anschlussfähig für die Praxis betreibt, wird im Rahmen der übergreifenden Fragestellung in den Kategorien von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität entfaltet und methodisch mit Narrativitäts- und Performanztheorien bearbeitet.
2. Narrativitätstheorien 2. Narrativitätstheorien
Das Ziel der Relecture Ritschls ist es, die Dynamik seiner Theologie zu verstehen, um daran weiterführende Beobachtungen für das komplexe Zusammenspiel von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität zu finden. Deswegen werden mit Narrativitäts- und Performanztheorien zwei Methoden gewählt, mit denen diese dynamischen Prozesse in funktionaler Perspektive thematisiert werden können, auch wenn diese anderen Kontexten entstammen, nämlich den literaturwissenschaftlichen bzw. sprachphilosophischen Disziplinen. Die auf Funktionalität abzielenden Aspekte in Narrativitätstheorien werden dementsprechend im Folgenden profiliert, und zwar differenziert nach der Funktion von Narrativen für kollektive und für individuelle Kontexte. Narrativitätstheoretische Methoden werden in der vorliegenden Arbeit gezielt aufgegriffen, um damit in der Relecture Ritschls funktionale Dynamisierungen erfassen können. Das bedeutet eine notwendige Beschränkung und Auswahl, denn die Narrativitätstheorien dienen in den Kulturwissenschaften seit dem linguistic turn zur Bearbeitung von vielfältigen Phänomenen sowie zur Grundlegung zahlreicher Theoriekonzeptionen.171 Narrativitätstheorien decken erstens die Gebiete der klassischen Literaturwissenschaften ab und greifen zweitens auf weitere Fachgebiete über, die unter narrativitätstheoretischen Aspekten betrachtet werden oder in denen mit narrativitätstheoretischen Methoden gearbeitet wird, wie u. a. die Narrative Psychology172 oder Narrative
170 Matthew R. Robinson, Rez. Johannes Zachhuber, Theology as Science in NineteenthCentury Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, in: JHMTh/NZSTh 22 (2015),122– 125, hier: 125. 171 Vgl. dazu Vera Nünning/Ansgar Nünning, Handbuch Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5) Trier 2002. 172 Vgl. zur Konstruktion von narrativer Identität in psychologischen Disziplinen: Dan P. McAdams, Power, Intimacy and the Life Story. Personlogical Enquiries into Identity, New York/London 1988; Ders.: Identity and the Life Story, in: Robyn Fivush/Cathrine A. Haden (Hrsg.), Autobiographical Memory and the Construction of a Narrative Self. Development and Cultural Perspectives, Mahwah (NJ) 2003, 187–207; Paul John Eakin, How Our Lives Become Stories. Making Selves, Ithaka (NY) 1999.
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Forschungslage und Methodenreflexion
Ethics173. Das ist möglich, weil Narrativitätstheorien ganz allgemein in den Blick nehmen, inwiefern der menschliche Weltbezug durch die „narrative[…] Organisation“174 des sprachlichen Bezuges auf die Wirklichkeit geprägt ist, indem sie nach Struktur, Funktion und Wirkung von Erzähleinheiten fragen.175 Für die vorliegende Arbeit kommt im Wesentlichen das Verständnis als Narrativ zur Anwendung, das auf die grundsätzliche Funktion von Narrativen abzielt, und nicht primär danach fragt, welche Funktionen bestimmte Narrationen, wie z. B. die Evangelienerzählungen, haben können. In der Theologie rezipieren die jeweiligen Fachgebiete narrativitätstheoretische Überlegungen entsprechend ihren Bezugswissenschaften: In der Exegese ist das eher die mit Narrationen beschäftigte klassische Literaturtheorie im Sinne einer „Narrativen Exegese“,176 in der Praktischen Theologie stärker
173 Diese narrativitätstheoretischen Überlegungen sind ausgehend von Alasdaire MacIntyre und vor allen Dingen in der Aufnahme von Martha Nussbaum eng mit einer Ethik der Empathie verknüpft, vgl. Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy (1986), Cambridge 22001, sowie Dies., Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New York/Oxford 1990; vgl. das Sonderheft der Zeitschrift für Deutsche Philosophie: Karen Joist (Hrsg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 17 (2009). 174 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung, Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 42017, 10. 175 Der Begriff der „Narrativität“/„narrativity“ ist dabei selbst doppeldeutig, wie H. Porter Abbott darlegt: „‚[N]arrativity‘ is still commonly used in two senses: in a fixed sense as the ‚narrativeness‘ of narrative and in a scalar sense as the ‚narrativeness‘ of a narrative, the one applied generally to the concept of narrative, the other applied comparatively to particular narratives“ (H. Porter Abbot, Narrativity, in: Peter Hühn u. a. [Hrs.]: the living handbook of narratology, http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/narrativity, letzter Zugriff: 10.08.2018, kursiv im Original). 176 Vgl. dazu als Darstellung der Anwendung der Narratologie auf die exegetische Arbeit im AT: Uta Schmidt, Narratologie und Altes Testament, in: ThLZ 5/2018, 423–438, sowie: Rüdiger Lux (Hrsg.), Erzählte Geschichte. Beiträge zur narrativen Kultur im alten Israel, (BThSt 40) Neukirchen-Vluyn 2008; für das Neue Testament mit einer Problembestimmung vgl. Sönke Finnern, Kognitive Erzählforschung und religiöse Texte – narratologische Methoden im Überblick, in: Gabriele Brahier/Dirk Johannsen (Hrsg.), Konstruktionsgeschichten. Narrationsbezogene Ansätze in der Religionsforschung, Würzburg 2013, 19–35. Finnern schließt damit, dass die Relevanz der narratologischen Methoden für religiöse Texte in der alltäglichen Interpretation liege (Finnern, Erzählforschung, 34). Einen etwas anderen Ansatz legt der von John Barton und Gerhard Sauter herausgegeben Sammelband vor, der story als Erschließungskategorie für die Rede von der „Offenbarung“ nutzt (vgl. John Barton/Gerhard Sauter [Hrsg.], Offenbarung und Geschichten. Frankfurt a. M. 2000 [eng.: Revelation and Story. Narrative Theology and the Centrality of Story, 2000]; fortgeführt in: John Barton/Michael Wolter (Hrsg.), Die Einheit der Schrift und die Vielheit des Kanon. The Unity of Scripture and the Diversity of Canon, (BZNW 118) Berlin/New York 2003.
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die Semiotik im Gefolge Levi-Strauss‘177 sowie die Kategorie der story in Predigt und Gottesdienstlehre.178 In der Systematischen Theologie wurde die Kategorie des „Narrativen“ in Aufnahme von Stanley Hauerwas im USamerikanischen Kontext als sog. „Narrative Theologie“ im deutschsprachigen Raum breit rezipiert: Deren Proponent:innen (insbesondere der Romanist Harald Weinrich und Johannes Baptist Metz im katholischen Kontext179 sowie Knut Wenzel180) schlugen eine narrative Vorgehensweise der Theologie im Unterschied zu einer „argumentativen“ Vorgehensweise vor. 181 Fokuspunkt dieser prägenden Beschäftigung mit dem Narrativ in der Theologie war im Anschluss an Eberhard Jüngels sprachphilosophische Überlegungen die Diskussion, inwiefern die Theologie selbst als Disziplin narrativ ist und wie das Narrative in kritischer Integration des Narrativen gegenüber der Narrativen Theologie als eine Tiefenstruktur der Theologie verstanden werden kann, die nacherzählt wird (so Ingolf U. Dalferth).182 Eine aktuelle Fortführung dieser Linie „Narrativer Theologie“ findet sich bei Gunda Schneider-Flume in ihrer Anlage einer narrativen Dogmatik, die nicht nur das Narrativ als Zentralkategorie der Theologie aufnimmt, sondern selbst, u. a. mit Gedichten, narrativ arbeitet.183 Schneider-Flume profiliert eine exemplarische Entfaltung narrativen Arbeitens in der Dogmatik vor der Ausführlichkeit der theoretischen Begründung. Die vorliegende Arbeit grenzt sich deswegen dort von Schneider-Flumes Ansatz ab, wo sie die Prämissen dieser Theologie in der heilsgeschichtlichen Grundierung nicht teilt: Schneider-Flume setzt „die eine Geschichte Gottes“ voraus,
177 Für die Einführung der Semiotik in der Theologie sind die Arbeiten von Michael Meyer-Blanck einschlägig (vgl. Michael Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik [1995], Rheinbach 2002; Ders.: Zeigen und Verstehen. Skizzen zu Glauben und Lernen, Leipzig 2018 sowie für die Liturgik: Ders.: Gottesdienstlehre, Tübingen 2011). 178 Das Konzept der „story“ in der Theologie wurde besonders von Dietrich Ritschl im deutschsprachigen Raum seit den 1970ern populär gemacht (vgl. Dietrich Ritschl, „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976); zur Homiletik: Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik (2002), Stuttgart 22011. 179 Vgl. Harald Weinrich, Narrative Theologie, in: Conc 9 (1973), 329–333; Johann Baptist Metz, Kleine Apologie des Erzählens, in: Conc 9 (1973), 334–341. 180 Vgl. Knut Wenzel, Zur Narrativität des Theologischen. Prolegomena zu einer narrativen Texttheorie in soteriologischer Hinsicht, Frankfurt a. M. u. a. 1997. 181 Zu einem Abriss über die Entstehung der Narrativen Theologie und ihrer kritischen Gegenbewegung vgl. Frank Fuchs, Konkretionen des Narrativen. Am Beispiel von Eberhards Jüngels Predigten unter Einbeziehung der Hermeneutik Paul Ricœurs sowie der Textlinguistik Klaus Brinkers, Münster 2004. 182 Vgl. Ingolf U. Dalferth, Religiöse Rede von Gott, München 1981, 659. 183 Vgl. Gunda Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik. Nachdenken über Gottes Geschichte, Stuttgart 2008.
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Forschungslage und Methodenreflexion
die dann im Rahmen vielfältiger menschlicher Lebensvollzüge nacherzählt werden könne und die sich ereigne.184 Die grundsätzliche Beurteilung der Theologie als von Narrativen geprägt teilt die vorliegende Arbeit, da die theologische Reflexion an einer Vielzahl von Punkten mit Narrativen umgehen muss, so z. B. in der Bezugnahme auf die biblischen Erzählungen und auf die sich daraus ergebenden Narrative, in den traditionellen narrativen Gestaltungen dogmatischer Gehalte oder auch in deren zeitgeschichtlichen Umformungen. Im Unterschied zur „Narrativen Theologie“ versteht sie die Narrativität als Methode, mit der die Dynamik von Funktionalität und A-Funktionalität erhellt werden kann, ohne dass jedoch das Narrative selbst als Tiefenstruktur der Theologie hypostasiert oder die Theologie bzw. die Materialdogmatik auf Narrativität reduziert wird. Aus narrativitätstheoretischer Perspektive können in der Relecture Ritschls die folgenden Fragen bearbeitet werden: Welche Funktionen können religiöse Narrative für Kollektive und Individuen unter der Prämisse haben, dass über den Gottesgedanken ein Bezug auf a-funktionale Figuren gegeben ist? Wie können Narrative in ihrer Funktion selbst narrativ darauf hinweisen, dass sie nicht auf diese Funktion reduziert werden können? Diejenigen Spielarten der Narrativitätstheorien, wie der russische Formalismus,185 die an universalen Strukturen der Erzählungen interessiert sind (z. B. in der Unterscheidung von story, plot und discourse),186 werden nicht im Fokus stehen. Stattdessen wird stärker das Narrativitätsverständnis der sogenannten poststrukturalistischen Erzähltheorie 184 Vgl. Gunda Schneider-Flume, Dogmatik erzählen. Ein Plädoyer für biblische Theologie, in: NZSTh 45 (2003), 137–147, hier: 138. Die konkreten Narrationen werden bei Schneider-Flume im Sinne einer Abbildtheorie verstanden. Zudem möchte sich SchneiderFlume zwar bewusst von den grands récits abgrenzen, führt jedoch implizit die Gnadenformel im heilsgeschichtlichen Sinne als eine grand récit in die Theologie ein (SchneiderFlume, Dogmatik erzählen, 147). 185 Zu einem historischen Abriss der Erzähltheorie und insbesondere den einzelnen Forschungsfeldern sowie der Unterscheidung zwischen strukturalistischen und post-strukturalistischen Ansätzen, vgl. Ansgar Nünning/Vera Nünning, Von der strukturalistischen Narratologie zur „postklassischen“ Erzähltheorie. Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen, in: Dies. (Hrsg.), Handbuch Neue Ansätze in der Erzähltheorie, (WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4) Trier 2002, 1–33; zu der Unterscheidung von „Wie“ und „Was“ der Erzählungen, vgl. Matías Martinez/Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie (1999), München 82009. 186 Vgl. für einen Überblick Nünning, Erzählen, 34; sowie Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, Berlin/New York 22008; die grundlegende Unterscheidung zwischen „histoire“, „récit“, „narration“ geht auf Gérard Genette zurück (Gérard Genette, Die Erzählung [Discourses du récit, 1972], München 21998), aufbauend auf der von ihm erst getroffen Unterscheidung von „discourse“ („Wie“ der Erzählung) und „histoire“ („Was“ der Erzählung). Die Strukturen der Erzählung sind auf einen weiten Bereich übertragbar, wie es z. B. Claude Lévi-Strauss für die Mythenerzählungen gezeigt hat (vgl. Claude Lévi-Strauss, Myth and Meaning, Toronto 1978) und Roland Barthes für diejenigen Medien, die über den engen
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aufgegriffen, in der die Frage nach der Funktion von Erzählungen im Vordergrund steht.187 Die Rede von Narrativität ist in diesem Zweig nicht auf literarische Texte im engeren Sinne beschränkt, sondern kann sich auf alle Formen von „Wirklichkeitserzählungen“188 in einer großen Bandbreite von Medien und situativen Kontexten erstrecken.189 2.1. Kollektive Bezugnahme auf Narrative Das weist auf eine Distinktion hin, die für die Relecture Ritschls unbedingt relevant ist: Das ist die Unterscheidung zwischen erstens der Funktion, die Narrative für kollektive Größen haben, und zweitens der Funktion, die Narrative für Individuen haben. Kulturell vorgegebene Narrative prägen die individuelle momentane situative Verfasstheit, wenn etwa in einem bestimmten kulturellen Kontext nur eine Auswahl an Narrativen zur Deutung der eigenen Situativität zur Verfügung steht. Auf diese zur Verfügung stehenden Narrative kann in vielfältiger Art und Weise Bezug genommen werden, sei es in Abgrenzung zu einer bestimmten Gruppe und deren Narrativen oder in der Aufnahme narrativ legitimierter Praxen. Die Art und Weise, wie Individuen bestimmte Narrative in ihren eigenen Lebenserzählungen umformen, kann dann wieder zurückwirken auf die Art und Weise, wie Narrative in bestimmten Kontexten entfaltet und transformiert werden. Diese Beispiele sind nur Ausschnitte aus einem breiten Spektrum der wechselseitigen Dynamik zwischen kollektivem und individuellem Umgang mit Narrativen, der sich situativ ergibt und sich darum nie vollständig reflexiv abbilden lässt.
Bereich des Textes hinausgehen (vgl. Roland Barthes, Rhetorik des Bildes [Rhétorique de l’image], in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. M. 2005). 187 Mit A. Nünning kann dieses in den Kategorien von Präfiguration (die kulturelle Prägung von Erzählungen), Konfiguration (dem Erzählmuster) und Refiguration (der Wirkungen der Erzählung) beschrieben werden (vgl. A. Nünning, Erzählungen, 32); mit Bezug auf Norbert Meuter, Geschichten erzählen, Geschichten analysieren. Das narrativistische Paradigma in den Kulturwissenschaften, in: Friedrich Jaeger/Jürgen Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2, Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2004, 140– 155, hier: 145. 188 Vgl. Christian Klein/Matías Martinez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart/Weimar 2009. 189 Vgl. Ansgar Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen. Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie, in: Strohmaier, Kultur, 15–53, hier: 33; sowie: Sven Strasen, Wie Erzählungen bedeuten. Pragmatische Narratologie, in: A. Nünning/V. Nünning, Erzähltheorie, 185–218.
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Im Folgenden wird die Funktion des Narrativs für kollektive Größe mit einer recht engen Definition im Anschluss an Normann Ächtler und Albrecht Korschoke so präzisiert, dass sie als methodische Erschließung dienen kann:190 „Narrative sind sinnstiftende und die Erfahrung systematisierende Erzählmotive bzw. Textschemata, die sich in Texten im weitesten Sinne zum Ausdruck bringen und als intersubjektiv orientierende Schemata rezipiert werden.“ 191 Strukturell kann ein Narrativ deswegen mit Ächtler bestimmt werden als „eine komplexere intentionale und evaluative, in sich sinnvoll geschlossene[...] narrative Einheit, von zeitweilig überindividueller identifikatorischer Relevanz, deren spezifische Konfiguration diskursiven Formationen innerhalb eines bestimmten Zeit-Raums eine konsistente Aussagestruktur und eine legitimatorische wie sinnstiftende Teleologie verleiht.“192
Aufgrund ihrer legitimierenden und plausibilisierenden Funktion seien Narrative im engeren Sinne weder mit Narrationen noch mit stories als der „unzählbaren Vielfalt individueller Geschichte“193 gleichzusetzen, so Koschorke. Sie entstehen situativ und kontextgebunden, beanspruchen aber in ihrer Geltung narrativ über diesen Kontext hinauszuweisen. Ausgehend von dem wirkmächtigen Mini-Narrativ „Europa“ liefert Ächtler einen Kriterienkatalog zur Definition eines Narrativs: „1) Narrative haben mehr oder weniger genau identifizierbare Urheber (Patient, Historiker, Institutionen) und richten sich an einen spezifischen Adressatenkreis (Therapeut, Leser, Gesellschaft). 2) Sie werden im Rahmen von Kommunikationsprozessen verfertigt und weiterentwickelt und sind als anerkanntes Ergebnis kollektiver Memoralisierungs- und Institutionalisierungsleistungen zu begreifen, das auf die Stiftung von individueller wie kollektiver Narrativität zielt. 3) Weil Narrative etabliert werden, um kontingente Wirklichkeit in allgemein applizierbare kohärente Modelle zu gießen, sind sie affirmativ angelegt. 4) Deshalb argumentieren sie über ein suggestives Sprachinventar und orientieren sich an zeitgenössischen Plausibilitätsstrukturen. 5) Bedeutung und Kohärenz stellen Narrative bereits auf der Ebene der Konfiguration her. [...] 6) Damit zusammenhängend sind Narrative stets auch als Aktantenmodelle zu begreifen, sie arrangieren ihre Handlungsträger [...] in einem semantischen Erzählraum und schreiben ihnen bestimmte aktantielle Funktionen zu. 7) Autoren greifen außerdem auf narratologische Gestaltungsmittel zurück, die die Erzählintention unterstreichen helfen.“194
Am Beispiel Europas zeigt Ächtler, wie Narrative normativ werden. Ihre Normativität könne nicht gesetzt werden oder über eine Setzung wirksam werden, sondern ergebe sich dynamisch: Wirksame Narrative setzten sich schlicht 190
Pointiert formuliert Koschorke, dass Narrative die Funktion haben, dass „Kollektive sich bestimmte Selbst- und Welterzählungen einverleiben und zur zweiten Natur machen“ (Koschorke, Wahrheit, 24). 191 Normann Ächtler, Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte, in: Kultur-Poetik 14, 2 (2014), 244–268, hier: 247. 192 Ächtler, Narrativ, 258. 193 Koschorke, Wahrheit, 30f.; bei Ächtler positiv aufgenommen, Narrativ, 248. 194 Ächtler, Narrativ, 259.
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durch.195 Ächtler ist hier sehr optimistisch, denn der grundsätzlichen Unverfügbarkeit narrativer Durchsetzung widerspricht natürlich nicht, dass Institutionen und Organisationen immer wieder versuchen, Narrative mit mehr oder weniger gewalttätigen Mitteln und manipulativen Absichten durchzusetzen, um außerhalb der Narrative selbst liegende Ziele zu erreichen. Dies ist in demjenigen Strang der Narrativitätstheorien relevant, der sich im Gefolge Hayden Whites seit 1987 mit Narrativen in historischen Bezügen beschäftigt und die Frage stellt, wie die Erzählung der „Geschichte“ einer Gemeinschaft zustande kommt.196 Geschichte (history) sei das, was als Geschichte (story) erzählt wird, um die kohärente Sinndeutung von zurückliegenden Ereignissen für eine kollektive Größe (von Stammeserzählungen bis hin zu globalen Weltdeutungen) zu ermöglichen.197 Aus diesem Strang der Narrativitätstheorien wird im Folgenden der Zusammenhang von Geschichten (als Erzählungen) und ihrer historischen Einbettung aufgenommen als Frage von Funktion und Situativität. Die Kontextgebundenheit und damit die kulturelle situative Eingebundenheit sind für den plot der Narrative unabdingbar. Das führt auf die Kritik, wie sie in Jean-François Lyotards Bestimmung der Postmoderne als Kritik an den grands récits bzw. Meta-Narrativen angelegt ist: An die Stelle von einheitlichen Welterklärungen und legitimierenden Großerzählungen treten in der Postmoderne situations- und kulturabhängige kleinere Narrative, die miteinander in Diskurs stehen können und müssen.198 Dieses Scheitern der grands récits sei auch für die Wissenschaften ernst zu nehmen, die sich nicht selbst über MetaNarrative legitimieren können. Dieses wird, Lyotard ergänzend, besonders dort deutlich, wo hochkomplexe Narrative auf ein einzelnes Wort oder wenige
195
Vgl. Ächtler, Narrativ, 262. Vgl. Hayden White, Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1990 (engl. The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore/London 1987; ebenso die im Sonderheft „On Narrative“ der Zeitschrift Critical Inquiry 7 (1980) abgebildete Diskussion: Hayden White, The Value of Narrativity in the Representation of Reality, 5–27; sowie: Ders:The Narrativization of Real Events, 793–798 und die Repliken von Marilyn Robinson Waldman, „The Otherwise Unnoteworty Year 711“: A Reply to Hayden White, 784–792 und Louis O. Mink, Everyman His or Her own Annalist, 777–783. 197 Vgl. Jörn Stückrath/Jürg Zbinden, Metageschichte. Hayden White und Paul Ricœur. Dargestellte Wirklichkeit in der europäischen Kultur im Kontext von Husserl, Weber, Auerbach und Gombrich, Baden-Baden 1997. In diese Linie sind auch die stärker auf kollektive Erinnerung bezogenen Konzepte einzuordnen, vgl. besonders Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. 198 Lyotard verbindet dieses Phänomen mit dem Begriff der „Post-Moderne“, die durch ein grundsätzliches Misstraußen gegenüber Meta-Narrativen bzw. Groß-Erzählungen gekennzeichnet sei (vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen [1979], Wien 7 2012). 196
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Worte verdichtet werden. Das sind z. B. „zu Metaphern verdichtete Mini-Narrative wie ‚Fortschritt‘, ‚Steigerung‘, ‚Wachstum‘, ‚Krise‘ oder ‚Katastrophe‘. Solche Metaphern sind nicht nur ‚Erzählungen, die sich als Einzelwort maskieren‘, sondern auch als kulturell verfügbare Plots“199 aufzufassen. In einigen Fällen kann ein Narrativ überhaupt erst da als Narrativ bewusst werden, wo es seine metaphorische Selbstverständlichkeit für eine kollektive Identität verliert, neu formuliert wird und auf seine Funktionalität hin so befragt werden muss, dass z. B. seine normativen Züge und die Plausibilisierungsstrategien in den Blick kommen.200 In den Transformationen und Neuformulierungen von Narrativen kann die Innovationskraft von Metaphern genutzt werden, die mit der Bindung an konventionelle Sprache kreativ so umgehen kann, dass sie diese gleichzeitig übersteigt.201 Das gilt umso mehr für religiöse Metaphern: Die Funktion der A-Funktionalität wird explizit als notwendige Bestimmung religiöser Sprache bei Hans Blumenberg für „Mythos“ und „absolute Metapher“ diskutiert. Blumenberg führt aus, dass sich „religiös-spirituelle Semantiken im weitesten Sinne zwangsläufig metaphorischer und symbolischer Rede“ bedienen müssen, insofern sie sich auf Fragen beziehen, „die sich theoretischer Beantwortung entziehen, ohne durch diese Einsicht verzichtbar zu werden“202. Das darf nun nicht dazu führen, dass die funktionale Betrachtung von Erzählungen eine Komplexitätsreduktion auf Sinnstiftung und Kohärenzbildung bewirkt. Koschorke verweist demgegenüber auf die den Erzählungen selbst inhärente Ambiguität, da „das Erzählen ebensogut in den Dienst des Abbaus von Sinnbezügen gestellt werden kann [...]. In einer Vielzahl von Erzählungen werde Kontingenz keineswegs gebannt, sondern geradezu heraufbeschworen“203. Nach Koschorke werde Komplexität durch Erzählungen nicht aufgelöst, sondern geradezu konstruiert, insbesondere durch das Einbeziehen von Zeitlichkeit: Erzählungen „verarbeiten und gestalten Komplexität durch Dynamisierung, durch Auflösung von Zustand in Prozess“204. Koschorke richtet deswegen den Blick auf die „Funktionalität des scheinbar Dysfunktionalen“205. Im Aufgreifen des Ansatzes von Koschorke kann damit dem Argument begegnet
199
Nünning, Erzählungen, 38. Vgl. dazu Adrian Hermann/Stephanie Gripentrog, Religiöse Kollektive. Einleitende Überlegungen zum Verhältnis Kollektiv, Narration und Religion, in: Brahier/Johannsen, Konstruktionsgeschichten, 223–226, hier: 226. 201 Katrin Kohl schlägt vor, diese Metaphern nicht aus der normalen Kommunikation auszugrenzen, sondern sie als unkonventionelle Metaphern „als theoretische Herausforderung zu begreifen“ (Katrin Kohl, Metapher, Berlin/Heidelberg 2007, 1). 202 Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 21999, 112. 203 Koschorke, Wahrheit, 11. 204 Koschorke, Wahrheit, 21. 205 Koschorke, Wahrheit, 25. 200
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werden, dass eine funktionale Betrachtung eine Komplexitätsreduktion impliziere. Das würde nur gelten, wenn die Funktion immer schon bestimmbar wäre und nicht auch das Gegenteil bedeuten könne. Koschorke weiterführend kann ein Spektrum entfaltet werden, in dem die Dynamisierung nicht diastatisch erfolgt (z. B. Sinngenerierung vs. Sinnentzug), sondern in einer Vielzahl von funktionalen situativen Bezugnahmen. Theologisch muss dennoch ernst genommen werden, dass die reflexive Einsicht in die Unmöglichkeit von narrativen Einheitsdeutung aus existentieller Perspektive mit dem Wunsch nach Kohärenz konfrontiert werden kann. Auch wenn in der Postmoderne ein grundsätzliches Unbehagen an den grand récit und zu einfachen Versuchen der Sinnstiftung vorausgesetzt werden kann, muss mit dem seelsorgerlich oder auch in gemeindlichen Kontexten zu beobachtenden Wunsch nach einheitlichen Lebensorientierungen umgegangen werden.206 Der Fokus auf die Erwartungshaltung, mit der Narrativen z. B. in Glaubenspraxen begegnet wird, weist auf die Notwendigkeit hin, zwischen kollektiven und individuellen Bezugnahmen auf Narrative zu unterscheiden: Denn der Wunsch nach einer kohärenten Gruppenerzählung stellt sich existentiell anders dar als die Erwartung, das eigene Leben einheitlich erzählen und leben zu können. 2.2. Individuelle Bezugnahme auf Narrative Diese Differenzierung leitet auf die Problemstellung der narrativen Identitätsbildung von Individuen in existentiell-biographischen Zusammenhängen über.207 Einen programmatischen Buchtitel von 1953 von Wilhelm Schapp aufnehmend, ist die dabei bestimmende Frage, wie es dazu kommt, dass man „in Geschichten verstrickt“208 sei. Ein Großteil der oben genannten Punkte – und besonders die Kritik an der Möglichkeit von kohärenten Erzählungen – ist übertragbar, es sind jedoch die folgenden Spezifika hervorzuheben: 209 Die Frage nach der individuellen narrativen Identitätsbildung entstammt primär 206 James Battersby formuliert eine Lösungsmöglichkeit dieser Problemstellung im individuellen Bereich so: „We can construct a grand narrative, if we wish [...], so long as we recognize that many alternative and similarly partial grand-narrative accounts can be devised“ (James Battersby, Narrativity, Self and Self-Representation, in: Narrative 14 (2006), 27–44, hier: 43). 207 Zum Identitätsbegriff: vgl. Dieter Henrich, „Identität“ – Begriffe, Probleme, Grenzen, in: Odo Marquardt (Hrsg.), Identität, München 1996, 133–186. Der Identitätsbegriff bezieht sich in der Arbeit ausschließlich auf die Bildung von kollektiven wie individuellen Identitäten durch narrative Zusammenhänge und nicht auf den Identitätsbegriff im Sinne der Subjekt-Objekt-Identität (vgl. dazu H. J. Sandkühler, Identitätssystem, Identität, Indifferenz, in: HWPh 4 [1976], 153–157). 208 Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding [1953], Frankfurt a. M. 52012. 209 Vgl. Ächtler, Narrativ, 249.
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dem tugendethischen Diskurs und wird 1981 von Alasdair MacIntyre in „After Virtue“ als Frage nach dem Zusammenhang von Narrativ und begründetem Handeln in die Diskussion eingespielt.210 Vor allen Dingen in der Kritik von Ricœur an MacIntyre wird dieser Diskurs in „Temps et récit“ (1983/1984/1985) auf den allgemeinen Zusammenhang von Narrativ und Identitätsbildung im Rahmen von Lebenserzählungen ausgeweitet.211 Parallel bestimmt Roy Schafer Narrationen als grundlegenden Bestandteil der Psychoanalyse im Freud’schen Sinn,212 sodass sich schließlich die Richtung der „Narrativen Psychologie“ ausbildet, in der Narrative und Narrationen für therapeutische Kontexte fruchtbar gemacht werden. Das Narrativ als Kategorie kommt bei MacIntyre im Rahmen seiner handlungstheoretischen Überlegungen dort auf, wo er nach der Legitimierung einer vorher unintelligible gebliebenen Handlung oder Handlungssequenz fragt. Sobald ein Narrativ diese Handlung während des Vollzuges oder nachträglich legitimiert, kann sie intelligible werden.213 In diesem Sinne seien laut MacIntyre jegliche Lebensvollzüge (human actions in general) und besonders Kommunikationsakte (conversations) als enacted narratives zu verstehen,214 die erst in der Rückschau als solche durchsichtig werden: „Stories are lived before they are told – except in the case of fiction“215. Das kann so verstanden werden: Im Narrativ geschehen spezifische Funktionszuschreibungen an eine Handlung, um nachträglich die mit dieser Handlung verbundenen Erwartungen zu legitimieren. Das führt laut MacIntyre zu der – eigentlich tragisch bleibenden – Selbstbeurteilung, dass Menschen in ihren eigenen Lebensvollzügen zwar immer Protagonist:innen, jedoch nur bis zu einem gewissen Grad selbst Autor:innen seien, weswegen der Charakter einer Lebenserzählung immer teleologisch
210 Vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue. A study in Moral Theology, Notre Dame 2007. 211 Vgl. Paul Ricœur, Temps et récit I. L’Intrigue et le récit historique, Paris 1983 (dt.: Zeit und Erzählung I. Zeit und historische Erzählung, München 1988); Ders., Temps et récit II. La Configuration dans le récit de fiction, Paris 1984 (dt.: Zeit und Erzählung II. Zeit und literarische Erzählung, München 1989); Ders., Temps et récit III. Le Temps raconté, Paris 1985 (dt.: Zeit und Erzählung III. Die erzählte Zeit, München 1991); sowie Ders., Soi-même comme un autre, Paris 1990 (Das Selbst als ein Anderer, München 22005). 212 Vgl. Roy Schafer, A new language for psychoanalysis, New Haven 1976; Ders., Narrative actions in psychoanalysis, Worcester 1981; Ders., Retelling a life, New York 1992. 213 „What type of account of their history will be both true and intelligible?“ (MacIntyre, After Virtue, 213). 214 Vgl. MacIntyre, After Virtue, 211; sowie: „What I have called a history is an enacted dramatic narrative in which the characters are also the authors“ (MacIntyre, After Virtue, 215); sowie: „I am presenting both conversations in particular then and human actions in general as enacted narratives“ (MacIntyre, After Virtue, 211). 215 MacIntyre, After Virtue, 215.
3
2. Narrativitätstheorien
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bleiben müsse.216 Darin ist die kommunitaristische Spitze impliziert, auf der „After Virtue“ endet: Das Individuum stehe in einem Geflecht aus stories, in dem es einerseits fragen könne, an welchen anderen stories es selbst partizipiere, und andererseits, wer alles an seiner story partizipiere. In diesem gegenseitigen Geflecht von Anfragen an andere Lebensgeschichten und Befragungen der eigenen Lebensgeschichte könne sich die Lebensgeschichte für das Individuum als einheitlich und kohärent konstituieren.217 MacIntyre zielt auf eine kohärente Identitätsbildung ab, die jedoch nicht gegeben sein muss: Denn eine situative enacted narrative kann die Erwartungen an Narrative so irritieren, dass eine kohärente Lebenserzählung nicht oder nicht in jedem Punkt gegeben ist. In der Kritik an MacIntyre erhebt Ricœur dieses zu einem der Kernpunkte: Wie können – trotz des Abstandes zwischen literarischer Fiktion und Praxis der ethischen Selbstprüfung – die ethischen Implikationen der Narration für das Handeln leitend werden?218 Ricœur formuliert den unauflösbaren Zusammenhang von Narrativität und Normativität so, dass „die – ethisch niemals neutrale – Erzählung sich als das erste Laboratorium des moralischen Urteils erweist“219. Narrative und ethische Identität seien nicht einfach analog zu setzen, sondern stehen in einem hochkomplexen Wechselverhältnis, in dem sich, so Ricœur – Identität nicht abschließend einheitlich bilden könne.220 So sehr der Akt des Erzählens immer schon Selbstbildung und Selbstverstehen zugleich sei, so sehr müsste die narrative Identität laut Ricœur als eine prekäre Identität verstanden werden, die auf die Krise des Selbst verweise, da das Selbst nie fest gegeben sei, sondern durch die Narrative bestimmt werde.221 Ricœur bestimmt die Möglichkeit zur Lebenserzählung kritisch so, dass mit dem Erzählen die erzählende Person und auch die hörende Person in die Erzählung eingebunden werde, sodass eine narrative Identität in der „Dialektik von Selbigkeit und Selbstheit“222 entstehe. Die bei Ricœur angelegte Dialektik zwischen Selbigkeit und Selbstheit verweist auf das Verhältnis von kohärenten
216 „Thus the narratives which we live out have both an unpredictable and a partially teleological character“ (MacIntyre, After Virtue, 216). 217 Vgl. MacIntyre, After Virtue, 216. 218 Vgl. Ricœur, Selbst, 197. 219 Ricœur, Selbst, 173 (Hervorhebung im Original). 220 Vgl. Ricœur, Selbst, 203. 221 Ricœur, Selbst, 206. 222 Vgl. Paul Ricœur, Selbst, 173. Richter charakterisiert deswegen Ricœurs Ethik als eine Ethik im Optatitv, die „per definitionem auf das Gegenüber gerichtet [ist] und zwar so, dass dessen eigenständige Reaktion vorausgesetzt und erfordert ist“ (Cornelia Richter, Am Anderen sich selbst verstehen. Das religiöse und das ethische Selbst, in: Dietrich Korsch [Hrsg.], Paul Ricœur und die evangelische Theologie, Tübingen 2016, 107–117, hier: 112.)
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Forschungslage und Methodenreflexion
Erzählungen und der notwendigen Fragmentarität des Lebens mit all denjenigen Widerfahrnissen, die gar nicht oder schwierig in eine Lebenserzählung integriert werden können. Dieser Kritikpunkt wird im aktuellen Narrativitätsdiskurs als so massiv empfunden, dass er zum Ausgangspunkt für die Kritik am Narrativitätsparadigma in den Kulturwissenschaften allgemein wird, wie sie von Galen Strawson 2004 in dem programmatisch betitelten Aufsatz „Against Narrativity“ formuliert wird. Strawson argumentiert, dass die Rede von der narrativen Identität aufgrund der Unmöglichkeit einer kohärenten Identitätsbildung aufzugeben sei. Stattdessen könne nur von episodischen Lebenserzählungen gesprochen werden (im Unterschied zu einer kohärenten diachronen Lebenserzählung).223 Er wendet sich zudem gegen die normative Annahme der narrativen Psychologie, dass nur eine kohärente Lebenserzählung als gelungen zu werten sei bzw. das Ziel von z. B. therapeutischen Interventionen in einer gelungenen Lebenserzählung liegen müsse. Dieser Aspekt wird als eigentliche Essenz der Debatte von James Battersby hervorgehoben.224 In der deutschsprachigen Theologie ist eine ähnliche Kritik an der Möglichkeit von Identitätsbildung unter dem Begriff des „Fragments“ von Henning Luther in den religionspädagogischen Diskurs eingeführt worden: H. Luther wendete sich in seinem postum veröffentlichten Vortrag „Identität und Fragment“ gegen das in den Bildungswissenschaften dominante Paradigma, dass Identitätsbildung einheitlich und kohärent geschehen könne.225 Demgegenüber argumentiert er, dass Lebenserzählungen notwendig fragmentarisch bleiben müssen, insofern Vollständigkeit die Negation derjenigen Lebensphänomene implizieren würde, die wie Liebe, Trauer und Hoffnung von Unabgeschlossenheit gekennzeichnet sind.226 Die Kohärenz einer Lebenserzählung werde deswegen, in der Integration aller dieser Phänomene, paradox über ihre Fragmentarität hergestellt. Für den christlichen Kontext, so H. Luther, sei diese fragmentarische Redeweise besonders plausibel: Das kohärente Erzählen eines Lebens als fragmentarisch werde in den Evangelien und besonders in den Erzählungen von Kreuz und Auferstehung exemplarisch ausgeführt. 227 Die Rede vom Kreuz durchbreche damit nach H. Luther die Normativität der Rede von der Identitätsbildung.228
223
Vgl. Galen Strawson, Against Narrativity, in: Ratio XVII (2004), 428–452. Vgl. Battersby, 27f.. 225 Vgl. Henning Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekt, Stuttgart 1992, 160–182. 226 Vgl. H. Luther, Identität, 170. 227 Vgl. H. Luther, Identität, 173. 228 Vgl. H. Luther, Identität, 163–165. 224
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2.3. Von Narrativitäts- zu Performanztheorien Das Problem der Normativität verweist wiederum auf das komplexe Zusammenspiel zwischen individuellen und kollektiven Größen in der funktionalen Bezugnahme auf Narrative hin. Die Bezugnahme auf Narrative geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern Narrative werden von konkreten Akteuren – Kollektive oder Individuen – in spezifischen (historischen, biographischen etc.) Kontexten angeeignet. Wenn die eigene Identität durch Narrative konstruiert wird, dann kann angenommen werden, dass diese Narrative durch die Gesellschaft (oder eine bestimmte Gemeinschaft oder anders geartete soziale Gruppe) geprägt sind und durch die damit verbundenen dialogischen Abhängigkeiten sowie erzählpragmatischen Strukturen bestimmt werden. 229 Deswegen kann für die religiöse Verkündigung mitreflektiert werden, wie die Aneignung eines Narrativs durch die individuell vollzogenen Glaubenspraxen, den Rahmen traditioneller dogmatischer Figuren und biblischer Erzählungen sowie eine Vielzahl anderer situativer Resonanzräume geprägt ist: Bestimmte Narrative rücken nur deswegen ins Bewusstsein, weil sie in die eigene situative Verfasstheit sprechen, und umgekehrt werden bestimmte situative Verfasstheiten nur als solche bewusst, weil ein in kollektiven Kontexten auftretendes Narrativ sie hervorhebt. Die Narrative bestimmen mit, wie eine momentane situative Verfasstheit mit welchen Aspekten – zumindest in der reflexiven Rückschau – wahrgenommen und wie diese momentane situative Verfasstheit bewertet werden kann.230 Ein Beispiel hierfür sind die Fürbitten im Gottesdienst: Dass die eigene momentane situative Verfasstheit auf Trost angewiesen ist, zeigt sich möglicherweise erst dann, wenn im Gebet ein Narrativ aufgerufen wird, das Trost mit einer ähnlichen Situativität verknüpft. Das gilt nicht nur für Grenzund Krisensituationen, sondern kann sich in jeglicher Lebenserfahrung vollziehen.231 In diesem Sinne stellt insbesondere die theoretischen Durchdringung verschiedener Umgangsweisen mit dem Tod in narrativitätstheoretischer Einbettung durch Dorothea Ugis Dissertationsschrift „Den Tod vor Augen“ eine
229
Vgl. Ächtler, Wahrheit, 250. Es kommt die zusätzliche Schwierigkeit hinzu, die laut Ricœur dadurch gegeben ist, dass man das eigene Leben nie vollständig, d. h. nicht abschließend erzählen kann, insofern man seinen eigenen Tod nicht „als ein narratives Ende erfassen könnte“ (Ricœur, Selbst, 197) sowie die damit verwandte Schwierigkeit, dass es nicht nur eine Möglichkeit der Lebenserzählung, sondern geradezu unendlich viele gibt (ebd.). 231 Für die narrative Verarbeitung des Todes und des Lebensendes untersuchen das Simon Peng-Keller und Andreas Mauz im in Zürich angesiedelten Projekt „Sterbenarrative“; vgl. dazu den Sammelband: Simon Peng-Keller/Andreas Mauz (Hrsg.), Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am und vom Lebensende, (Studies in Spiritual Care 4) Berlin 2018; das ist bei ausführlich diskutiert bei Ugi, Tod, die die gegenwärtigen narrativen Framings von Sterben und Tod darstellt. 230
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wichtige Basis dar.232 Der Tod als Phänomenbestand bringt bei Ugi die Grenzfälle der menschlichen Lebenswirklichkeit wie deren theoretischen Reflexion in den Blick. Ugis Arbeit ist in seelsorgerlicher Hinsicht darauf ausgerichtet, Arten und Weisen zu finden, wie situativ dort die Lebenserzählung weitergehen kann, wo eigentlich nur mit ihrem Abbruch gerechnet werden kann. Aus dieser Perspektive ist es wichtig zu betonen, dass in Kommunikationszusammenhänge nicht damit gerechnet werden, dass mit einem Narrativ garantiert sinnvoll auf eine bestimmte momentane situative Verfasstheit reagiert werden kann, z. B. in dem Sinne, dass Narrativ A immer in Situation A tröstet. Wie diese Aneignung besonders auf individueller Ebene geschehen kann, und warum ein Narrativ, das z. B. in einem gottesdienstlichen Vollzug erzählt wird, für ein Gemeindemitglied in seiner Situation plötzlich relevant und lebensverändernd wird, für ein anderes Gemeindemitglied jedoch nicht, verweist auf Folgendes: Die narrativitätstheoretischen Überlegungen können sinnvoll mit einer weiteren Theoriebildung kombiniert werden, die auf die wirklichkeitsverändernde Kraft von Rede abzielt und auf die Momente, in denen ein Narrativ so in die eigene Situativität spricht, dass es evident wird. In diesem Sinne bieten Performanztheorien, im Gefolge der Überlegungen John L. Austins zur Performativität, die Möglichkeit, die individuelle Erfahrung mit der Wirkung von Narrativen zu fokussieren. 233 Während die Narrativitätstheorien auf die Dynamiken im Aneignungsprozess von Narrativen für kollektive Größen und Individuen abzielen, kann mit den Performanztheorien die Art und Weise thematisiert werden, wie diese Aneignung am Ort des Individuums in unverfügbarer Weise funktional wird.
3. Performanztheorien 3. Performanztheorien
Performanztheoretische Überlegungen wurden in der Theologie zunächst im Wesentlichen im praktisch-theologischen Bereich in Kontexten rezipiert, in de-
232 Vgl. Dorothea Ugi, Den Tod vor Augen. Systematisch-theologische Blicke auf thanatologische Themen, (MThS 135) Leipzig 2020. 233 Alexandra Strohmaier führt das Performative so in die Narratologie ein, dass sie für literarische Texte die performativen Elemente besonders in der die Grenzen des Textes sprengenden (also transzendierenden) Stilfigur der Metalepse sieht (vgl. Alexandra Strohmaier, Zur Performativität des Narrativen. Vorüberlegungen zu einer performativen Narratologie; sowie: Dies., Entwurf zu einer performativitätstheoretischen Narratologie am Beispiel der Rahmenzyklen Goethes, in: Dies., Kultur, 199–227). Der Begriff der Metalepse wurde von Genette 1972 in die Erzähltheorie eingeführt und meint das Heraustreten aus einer Erzählung, sodass diese über sich selbst reflektiert, so z. B. wenn der Protagonist eines Romans darauf verweist, dass er eine Romanfigur ist (vgl. Gérard Genette, Metalepse [Métalepse, 2004], Hannover 2018).
3. Performanztheorien
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nen es um die Wirkung von Handlungen oder gesprochenen Worten auf spezifische Gruppen geht.234 Die Kategorie des Performativen wird theologisch prominent durch Bernhard Dressler, Thomas Klie und Silke Leonhard in der Religionspädagogik aufbauend auf semiotischen Theorien vertreten:235 Die performativitätstheoretischen Überlegungen dienen dazu, die Erfahrungsdimension im Unterricht als eine Möglichkeit zu öffnen, mit der dem Traditionsabbruch begegnet werden könne. Diese Absicht ist in der Akzentuierung der affektiv konnotierten Wirksamkeit gegenüber der rein kognitiven Sinndeutung in einer Unterrichtssituation nicht unumstritten geblieben.236 In den Liturgiewissenschaften wird hingegen auf das auf leibliche Interaktion und Ko-Präsenz zielende Verständnis der Theaterwissenschaften zurückgegriffen, mit dem verschiedene Aspekte des Gottesdienstes unter dem Paradigma der performance analysiert werden können.237 Ähnliches gilt für die Rezeption der Performativitätstheorien in der Homiletik.238 Alle diese Ansätze können über die Einbeziehung praktischer Handlungsfelder Chancen wie Problematiken des Performativitätsverständnisses erschließen. In der Systematischen Theologie wird die Rede von der Performanz im Sinne einer programmatischen Verwendung erstaunlich selten aufgegriffen. Ausnahmen sind Philipp Stoellger, der sie im Rahmen der Bestimmung von
234 Vgl. Thomas Klie, Performanz, Performativität und Performance. Die Rezeption eines sprach- und theaterwissenschaftlichen Theoriefeldes in der Praktischen Theologie, in: ZMiss, 4/2013, 342–356. 235 Vgl. dazu: Thomas Klie/Silke Leonhard, Performative Religionsdidaktik. Religionsästhetik – Lernorte – Unterrichtspraxis, (Praktische Theologie heute 97) Stuttgart 2008; ebenso: Silke Leonhard/Thomas Klie (Hrsg.), Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionsdidaktik, Leipzig 22006; Bernhard Dressler/Thomas Klie, Zeichenspiele inszenieren. Umrisse einer semiotischen Religionspädagogik, in: JRP 18 (2002), 90–99. 236 Vgl. Bernhard Dressler/Thomas Klie, Strittige Performanz. Zur Diskussion um den performativen Religionsunterricht, in: Klie/Leonhard, Performative Religionsdidaktik, 210– 224; sowie: Thomas Klie/Bernhard Dressler, Performative Religionspädagogik. Rezeption und Diskussion 2002–2008, in: Klie/Leonhard, Performative Religionsdidaktik, 225–236; ebenso: Thomas Klie, „Daß Religion schön werde“. Die performative Wende in der Religionspädagogik, in: Thomas Schlag u. a. (Hrsg.), Ästhetik und Ethik. Die öffentliche Bedeutung der Praktischen Theologie, Zürich 2007, 49–63. 237 Vgl. Michael Meyer-Blanck, Inszenierung des Evangeliums. Ein kurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997; David Plüss, Gottesdienst als Textinszenierung. Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes, Zürich 2007; Ursula Roth, Die Theatralität des Gottesdienstes, (Praktische Theologie und Kultur 18) Gütersloh 2008/Freiburg i. Br. 2011; Betram J. Schirr, Fürbitten als religiöse Performance. Eine ethnographisch-theologische Untersuchung in drei kontrastierenden Berliner Gottesdienstkulturen, (Arbeiten zur Praktischen Theologie 80) Leipzig 2018. 238 Vgl. Roth/Seip, Schriftinszenierungen; Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005; Ders./Alexander Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2005.
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Forschungslage und Methodenreflexion
Passivität und Passion als Pathosperformanz konzipiert,239 und Richter, die sie als Methode im Rahmen der situativen Dogmatik verwendet.240 Im englischsprachigen Diskurs bildet Kevin J. Vanhoozer ebenfalls eine Ausnahme: Er nimmt den performance-Begriff der Theaterwissenschaften so auf, dass er – ähnlich wie die Narrative Theologie – Theologie wie Glaubensvollzüge selbst als performance eines theodramas versteht. Im Rahmen eines bibelhermeneutischen Ansatzes geht es Vanhoozer darum, die biblischen Narrationen in ihren performances als Teil der Dogmatik zu bestimmen.241 Das ist dem Ansatz der vorliegenden Arbeit in der Intention ähnlich, aber gleichzeitig grundlegend davon verschieden: Vanhoozer bezieht die performance einer Aufführung, in den dogmatische Formulierungen und dem liturgischen Handeln, auf einedahinterliegende gemeinsame Wahrheit. 242 Was „Gott“ ist, setzt Vanhoozer ontologisch unhinterfragt voraus. 243 Ähnlich wie die Narrativität bei SchneiderFlume als Nacherzählung der göttlichen Heilsgeschichte bestimmt wird, kann Vanhoozer so verstanden werden, dass eine Kirchengemeinde die göttliche Heilsgeschichte – vermittelt über die Dogmatik – nachspielt.244 Die Komplexität des Zusammenhanges von Funktionalität und A-Funktionalität kommt in diesem Ansatz nicht in den Blick. Die Fragestellung an Vanhoozer kann aus funktionaler Perspektive ganz grundlegend lauten, ob es überhaupt möglich und sinnvoll ist, in dieser Art und Weise z. B. das Christusgeschehen als direktes Abbild der Heilsgeschichte zu performen. Zudem impliziert Vanhoozer in 239
Vgl. Philipp Stoellger, Von der Kreativität der Passivität als Pathosperformanz, in: Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hrsg.), Performanzen des Nichtstuns, Wien 2007, 89–101; Ders.: Passion’s Performance. On the effects of affects, in: Ingolf U. Dalferth/Michael Rodgers (Hrsg.), Passion and Passivity, (RPT 61) Tübingen 2011, 185–207. 240 Vgl. Richter, Schriftinszenierungen; Dies., Ethik der Zwischenphänomene. 241 „Faith Speaking Understanding clarifies the biblical basis for orienting theology away from philosophy (at least for a time) and towards theatre studies“ (Kevin J. Vanhoozer, Faith speaking understanding. Performing the drama of doctrine, Louisville 2014, xvi). 242 „While doctrine sets forth in speech the truth of what is in Christ, worship sets forth this same truth in symbolic action in the church’s corporate life and does so in the form of a response or offering addressed to God [...], a word or song or act of gratitude that answers a prior grace of God“ (Vanhoozer, Faith speaking, 234). 243 Vgl. Aussagen wie: „God nevertheless remains faithful“ (Vanhoozer, Faith speaking, 237); oder: „I have argued that doctrine tells us what is [!] in Christ and exhorts us to conform to what is [!]“ (Vanhoozer, Faith speaking, 230). 244 „Doctrine directs the company of faith to speak and show what is in Christ. The church keeps company with Christ in heaven, not least as his theatrical exhibit on earth“ (Vanhoozer, Faith speaking, 237). In Vanhoozers Schlusssatz wird der auf die Prämisse der Wahrhaftigkeit der Dogmatik bezogene Automatismus in dieser performance der Gemeinde deutlich sichtbar: „When the company of faith follows doctrinal directions, it lives up to its name and becomes [!] a society of Jesus: an earthly body in which God’s light and love circulate in truth-speaking, right-doing, and live-giving ways [....] To perform the drama of doctrine is to do and become [!] a constant display of faith and faithfulness, grace and gratitude, mercy and love“ (Vanhoozer, Faith speaking, 237).
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seiner Wortwahl, dass bei richtiger Befolgung dogmatischer Vorgaben sich für die christliche Gemeinschaft eine – wie auch immer geartete – Heilserfahrung automatisch einstellen werde. Demgegenüber wird in der vorliegenden Arbeit aus einer funktionalen Perspektive heraus die Kategorie der Performanz, die auf A-Funktionalität bezogen ist, zur Vermeidung der Konfusion von performance und gnadenhafter Erfahrung herangezogen. Performanztheorien eröffnen die Möglichkeit, A-Funktionalität nicht nur über den Gottesgedanken in Narrativen zu verorten, sondern ebenso die A-Funktionalität situativ gebundener (Glaubens-)Praxis zu analysieren. Die theologische Reflexion profitiert dabei davon, dass sowohl in den traditionellen Gestalten von Glaubenspraxen, wie der Demut, als auch in der Kritik an diesen Praxen implizit das Verhältnis funktionaler Bezugnahmen auf A-Funktionales und deren Einbettung in Situativitäten thematisch wird. Die Betrachtung einer konkreten, materialdogmatisch grundierten christlichen Praxis wie der Demut unter performanztheoretischen Aspekten ermöglicht unter Einbeziehung der späteren Kapitel eine Schärfung der Theoriebildung zur Performanz, die sich in der begrifflichen Differenzierung von Performativität, Performanz und performance niederschlägt. Dieses Ergebnis wird jedoch im Folgenden vorweggenommen, um in der Analyse der beiden Materialbestände nicht mit vorläufigen Begriffsdefinitionen operieren zu müssen und die Lesbarkeit zu erhöhen. Die begriffliche Differenzierung als methodologischer Beitrag zum Performanzdiskurs, auf den dieses Kapitel zielt, ist umso notwendiger, insofern Performativitäts- und Performanztheorien in „rhizomatischer Verbreitung“245 unterschiedlichste Theoriefelder abdecken.246 Meistens wird dabei, so bei Hans Rudolf Velten, unterschieden zwischen performativity als Kategorie postmoderner Theoriebildung, die besonders auf den Sprechakt abzielt, und performances als Kategorie der Theaterwissenschaften, die über den Sprechakt hinausgehen und auch leibliche Phänomene erfassen.247 Gegenüber einer zweifachen Differenzierung zwischen Performativität und performance wird in der vorliegenden Arbeit eine dreifache Differenzierung zwischen Performativität, Performanz und performance vorgenommen, die zunächst in ihrer jeweiligen theoretischen Genese vorgestellt werden.
245 Klaus Hempfer, Peformance, Performanz, Performativität. Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierungen eines Theoriefeldes, in: Ders./Jörg Volberts (Hrsg.), Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahem, Bielefeld 2010, 13–42, hier: 13. 246 Vgl. Jörg Volbers, Performative Kultur. Eine Einführung, Wiesbaden 2014, 3. 247 Vgl. Hans Rudolf Velten, Performativity and Performance, in: Neumann/Nünning (Hrsg.), Travelling Concepts, 249–266, hier: 249.
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Forschungslage und Methodenreflexion
3.1. Performativitätstheoretische Grundlagen Die Einführung von performatives als sprachphilosophische Kategorie geht auf den Oxforder Philosophen John L. Austin zurück, der 1955 in den WilliamJames-Lectures in Harvard als performative Sprechakte diejenigen Äußerungen bestimmt, „in denen etwas sagen etwas tun heißt: in denen wir etwas tun, dadurch daß wir etwas sagen oder indem wir etwas sagen“248. Diese unterscheiden sich von konstativen Äußerungen (constatives), die mit wahr und falsch bewertet werden können.249 Austins Analyse ist von der Beobachtung der Alltagssprache geleitet (im Rahmen der ordinary language philosophy), deren verschiedene Funktionslogiken er zu ergründen sucht. Da die gesuchten Klassifizierungen aus der Unterscheidung von performativ und konstativ nicht abgeleitet werden können, verwirft Austin sie wieder, um stattdessen zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Äußerungen (utterances) zu differenzieren: Lokutionär beschreibt, was gesagt wird; illokutionär beschreibt den Akt, in dem vollzogen wird, was gesagt wird; perlokutionär meint die diesen Akt bestimmenden Intentionalitäten.250 Auch diese Unterscheidungen führen Austin am Ende nicht zu einer klar bestimmbaren Klasse „illokutionärer Rollen von Äußerungen“251. Als Konsequenz daraus gibt Austin jedoch nicht die performativitätstheoretische Theoriebildung auf, sondern tritt wiederum in einen Sprechakt ein: Die Zuhörenden seiner Sprechakttheorie werden in die Suchbewegung nach der Funktion des Sprechaktes mit hineingezogen, sodass der Sprechakt der William-James-Lectures auf paradoxe Weise doch funktioniert.252 Am Ende bleibt die utterance des Vortragstitels von Austin als Problemstellung aufgegeben: „How to do things with words“ kann nicht in begrifflich-präzise analytische Kategorien gefasst werden. Diese Unmöglichkeit der Begriffsbildung kann als performative Pointe der William-James-Lectures verstanden werden. Sybille Krämer geht in ihrer Austin-Relecture davon aus, dass die von Austin verworfene Unterscheidung von „performativ“ und „konstatierend“ zu Gunsten der spezifischeren Bestimmung lokutionär, illokutionär und perlokutionär ebenfalls wiederum performativ oder konstatierend gelesen werden könne.253 In dieser Lesart würde – so Krämer – Austin damit aufzeigen, 248 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1979, 35; engl.: How to do things with words. The William-James-Lectures deliverd at Harvard in 1955 (1962), Cambridge (MA) 21975. 249 Vgl. Austin, Sprechakt, 27. 250 Vgl. Austin, Sprechakt, 117. 251 Austin, Sprechakt, 167. 252 So kann auch Austins kryptische Schlussbemerkung „Moreover I leave to my readers the real fun of applying it to philosophy“ (Austin, How to, 164) verstanden werden. 253 Vgl. Sybille Krämer, Was tut Austin, indem er über das Performative spricht? Ein anderer Blick auf die Anfänge der Sprechakttheorie, in: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hrsg.), Performativität und Praxis, München 2003, 19–33, hier: 20. Prämisse für ihre Überlegungen ist, dass Austin in den William-James-Lectures immer wieder das Scheitern bzw.
3. Performanztheorien
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dass die analytisch notwendigen Kriterien und logischen Distinktionen sprachlichen Phänomenen in der Alltagsprache nicht vollständig gerecht würden.254 Denn im Alltag funktionieren Sprechakte in kommunikativen Akten meistens, ohne dass in der Reflexion immer präzise benannt werden könnte, warum ein bestimmter Sprechakt performativ geworden ist, ein anderer hingegen nicht.255 Weil die Funktionalität der Alltagssprache vornehmlich in Grenzfällen in Frage gestellt wird, liegt das theoretische Interesse Austins darin, die dahinter stehenden Mechanismen aufzuzeigen und Kriterien dafür zu finden, was das Funktionieren von Sprechakten (z. B. als lokutionär, illokutionär oder perlokutionär) bedingt. Wenn Sprechakte über performatives funktionieren, wie funktionieren dann diese performatives? Das ist auf linguistischer Ebene die Fragestellungen von John R. Searle. Searle führt die Frage ein, was für eine Art von Handlung eigentlich ein Sprechakt sei: Performatives könnten linguistisch nicht bestimmt werden, indem eine Verbklasse eingegrenzt werde, die performativ sei, sondern das Kriterium für Gelingen oder Misslingen des Performativen sei „how the world works“ und nicht „the meanings of the verbs“256. Searle setzt deswegen über Austin hinausgehend voraus, dass in jeder Form von Alltagskommunikation kontrafaktisch eine ideale Sprechsituation angenommen werde, die
scheiternde Sprechakte aufruft und gleichzeitig höchst humorvoll über Beispiele kommuniziert (vgl. Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Systemtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts [2001], Frankfurt a. M. 52017, 146–149); Austin nehme eine „Perspektive der Fehlschläge“ ein (Krämer, Sprache, 147). Krämer greift Austin mit dieser Interpretation auf, um sich von den rein kognitiv ausgerichteten sprachpragmatischen Theorien abzugrenzen und über die Unabwägbarkeit und Normativität des Sprechaktes Elemente einzuführen, die über das rein Kognitive hinausgehen (vgl. bes. Krämer, Sprache, 88–91) 254 Krämer argumentiert, bei Austin lasse sich zeigen, dass das, was mit der Einführung des „Performativen“ erreicht werden sollte, nämlich der Wegfall der vorher bestimmenden Dichotomien (wahr-falsch etc.) nun sogar auf jegliche Kategorienbildung angewandt werden muss. Die William-James-Lecture „wird zur Parabel für die Anfälligkeit aller Kriterien und für das Ausgesetztsein aller definitiven Begriffe für die Ambiguitäten, die mit dem wirklichen Leben verbunden sind“ (Krämer, Sprache, 153). 255 Krämer macht dieses schon für Austin am Zukunftsbezug der Peformativa fest – ihr Funktionieren entscheide sich erst in der „bestätigenden Anerkennung durch die Öffentlichkeit“ (Krämer, Was tut Austin, 26). 256 John R. Searle, How performatives work, in: Linguistics and Philosophy 12 (1989), 535–558, hier: 557. Das kulminiert bei Searle in der Frage, welche Verbklassen eigentlich einen Sprechakt konstituieren und ob statement und performative bis auf wenige Ausnahmen nicht immer in Eins fallen.
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Forschungslage und Methodenreflexion
davon ausgehe, dass ein Sprechakt so funktionieren könne, dass die eigene Intention sinnvoll kommuniziert werden könne.257 Selbst rein deskriptive Aussagen seien deswegen immer schon normativ aufgeladen, weil die Sprechenden von der Möglichkeit des Funktionierens eines Sprechaktes ausgehen: Wer einen Sprechakt vollziehe, beziehe sich auf normative Setzungen, nämlich die Verpflichtungen und Geltung desjenigen Sprechaktes, den er spricht.258 Indem Searle in dieser Weise und über Austin hinausgehend den Blick auf den Kontext lenkt, eröffnet er den Raum für das Situative und die existenzielle Bezogenheit des Sprechaktes auf die Lebenswirklichkeit. Unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten performatives funktionieren, ist aus sprachphilosophisch grundierter, sozialwissenschaftlich-feministisch ausgerichteter Perspektive die Fragestellung Judith Butlers.259 Butler führt auf Searle aufbauend aus, dass in politischen bzw. gesellschaftlichen Situationen das Performative an autorisierende Kontexte gebunden sei, aus denen es hervorgehe, über die es jedoch auch hinausgehen könne:260 „[I]ndem ein Sprechakt ohne vorgängige Autorisierung dennoch im Vorgang seiner Äußerung Autorität gewinnt, kann [er] einen veränderten Kontext seiner zukünftigen Rezeption antizipieren und setzen“261. Dies führt Butler am Beispiel der performativen Aneignung von hate speech aus, mit der bestimmte Gruppen belegt werden: Indem eine Gruppe einen pejorativ besetzten Begriff selbst benutzt, übernimmt sie in performativer Eintragung in die Diskussion die Deutungshoheit über diesen Begriff. Wenn diese Form performativer politischer Praxis gelinge, ermögliche sie subversive Neudeutungen von gesellschaftlichen Zusammenhängen. Da ihr Gelingen jedoch unvorhersehbar bleibe, sei diese Praxis zugleich vulnerabel und risikoreich.262 3.2. Präsenz und Ereignis In diesen Überlegungen ist schon angedeutet, dass der Performanzdiskurs sich folgerichtig aus den von Austin vorgegebenen Grenzen sprachlicher Äußerungen und deren linguistischer Bestimmung lösen und weitere Phänomene in den 257
Searle formuliert: „[B]ei jeder Grenze, die eine Sprache der Ausdrückbarkeit setzt, bei jeder Unmöglichkeit, einen Gedanken sprachlich auszudrücken, handelt es sich um eine kontingente Tatsache und nicht um eine Notwendigkeit“ (John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1974, 35; engl. Speechacts, Cambridge 1969). 258 Vgl. Searle, Sprechakte, 294. 259 Vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 42013 (engl. Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York/London 1997); Dies./Athena Athanasiou, Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen, Zürich/Berlin 2014 (engl. Dispossession. The Performative in the Political, Cambridge [UK) 2013); Judith Butler, Notes Towards a performative theory of Assembly, Cambridge (MA) 2015. 260 Vgl. Butler, Haß spricht, 248. 261 Butler, Haß spricht, 250. 262 Vgl. Butler/Athanasiou, Macht, 194.
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Blick nehmen kann, nämlich besonders die durch einen Sprechakt ausgelösten und die ihn auslösenden Prozesse.263 Dafür werden im folgenden Schritt Theoriebildungen aufgenommen, die nicht mit dem Performanzbegriff operieren, aber für diesen produktiv erschlossen werden können: Mit den Diskursen um Präsenz und Ereignis kann in den Blick genommen werden, wie sich das Funktionieren eines Sprechaktes aus der Perspektive des Individuums darstellt, für das dieser Sprechakt performativ wird. Etwas geschieht in einem Sprechakt, das sich für die betroffene Person als „Präsenz“ oder „Ereignis“ darstellt. Hans Ulrich Gumbrecht, ein in Stanford lehrender, im deutschen Diskurs einflussreicher Literaturwissenschaftler, bezieht sich auf Präsenz im Rahmen einer expliziten Abgrenzung zur Hermeneutik: Der von ihm diagnostizierten Übermacht der Hermeneutik und der aktiven Sinndeutung möchte Gumbrecht mit seinem Werk die Kategorie des „Widerfahrnis“ entgegenstellen, in der sich die Sinndeutung immer schon bis zu einem gewissen Grad entziehe.264 Gumbrecht plädiert – programmatisch und provokativ – für eine Theoriebildung „Diesseits der Hermeneutik“265, die auf das „Verlangen nach Unmittelbarkeit eingeht“266 und dieses nicht vorschnell – in vermeintlicher kognitiver Richtigkeit – zugunsten der distanzierten Reflexion aufgibt.267 Die Einbeziehung der affektiven-leiblichen Dimension gegen eine Reduktion auf die rein kognitivreflexive Dimension ist sicherlich einer der größten Gewinne des Präsenzbegriffs Gumbrechts. Das derart verstandene Widerständige gewinnt bei Gumbrecht jedoch eine real-ontologische Qualität, die über die Evidenz der Wirkung des Widerständigen für das Individuum hinausgeht. Das leitet auf die Kritik an Gumbrecht über: Die Präsenz selbst wird hypostasiert und durch die
263 Das sei, so Krämer, schon bei Austin selbst angelegt, insofern bei ihm die „ursprünglichen Performativa weniger an der Urszene dialogischer Wechselrede orientiert [sind] als an einer Aufführung mit Aktanden und Zuschauern. In den ursprünglichen Performativa wird nicht einfach gesprochen, sondern wird im Sprechen etwas inszeniert“ (Krämer, Sprache, 143). 264 So in den programmatischen Werken: Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt a. M. 2003; Ders., Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. 265 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. 266 Gumbrecht, Diesseits, 11. 267 Konsequenterweise geht damit eine Form der Reflexion einher, die ebenfalls sehr unmittelbar ist: Gumbrecht schreibt in Anekdoten, in narrativen Entfaltungen, in bewussten Wiederholungen und mit poetischen Stilmitteln. Die dahinter liegende Inszenierungsstrategie deckt Lauster präzise auf, vgl. Jörg Lauster, Sinn und Präsenz. Anmerkungen zu einer möglichen Bedeutung des Präsenzgedankens für eine theologische Hermeneutik, in: Sonja Fielitz (Hrsg.), Präsenz interdisziplinär. Kritik und Entfaltung einer Intuition, Heidelberg 2012, 1–15, hier: 1f.
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eigentlich bewusst gesetzte konstitutive Unmittelbarkeit der Sprache mystifiziert. 268 Diese Mystifizierung wird jedoch nicht eingeholt, sodass die „Präsenz“ nun selbst in der Theoriebildung die Stelle des „Sinns“ einnimmt, die Gumbrecht eigentlich ablehnt: Dem Sinn des Phänomens „Präsenz“ wird ein höherer Wert beigemessen als der leiblich-unmittelbaren Präsenz. 269 Damit einher geht eine eigentümliche, implizite und nicht näher kommentierte Beurteilung von Präsenz, die diese im Prinzip ausschließlich als etwas Sinnstiftendes, „Positives“ (im Sinne von „gut“ oder „schön“) versteht. Das kulminiert in „Diesseits der Hermeneutik“ darin, dass der Präsenz eine Erlösungsfunktion in einem Moment der Ruhe zugeschrieben wird, in einer an mystische Bewegungen erinnernden Weise.270 Dass das Widerständige der Präsenz auch das Verstörende, Sinnentziehende, zutiefst Erschütternde sein kann, nimmt Gumbrecht nicht in seine Theoriebildung auf. Damit unterläuft er jedoch seine eigene Theorie, indem er die Sinndimension implizit als Kriterium für Präsenz einzieht. An dieser Stelle setzt der Sprachphilosoph Dieter Mersch in „Ereignis und Aura“ zu seiner kritischen Antwort auf Gumbrecht an, indem er den Widerfahrnischarakter der Präsenz als ambivalentes Ereignis deutet:271 Mersch bestimmt zunächst jede Form von unmittelbarer Begegnung durch die „Struktur der Responsivität“272, in die Menschen gestellt seien und in der sie auf Vorgegebenes reagieren könnten, sodass sich ihnen diese Responsivität als Ereignis darstellte Durch die konstitutive Entzogenheit des Vorgegebenen würden sie nun antworten, ohne dass sie wüssten, worauf sie antworten. Hier zeigt sich die Herkunft Merschs aus der Phänomenologie, die an einem, wenn auch sehr weit zurückgezogenen und in Anführungszeichen gesetzten, „eigentlich ‚gebenden‘ Bezugspunkt der Existenz“273 festhalten will. In Aufnahme von Rudolf Ottos 268
Richter bewertet dies folgendermaßen: „Insgesamt wird die Performanz in diesem breiten Diskurs zu einer Art Zauberbegriff, der unbegreifliche Interaktions- und Emergenzphänomene markieren und in ihrer Bedeutung zelebrieren soll“ (Richter, Situative Polyvalenz, 67; vgl. ebenso Dieter Mersch, Rez. H. U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Arbitrium 2006, 253–256). 269 Das geschieht in der Aufsatzsammlung „Präsenz“ auch durch das methodische Vorgehen Gumbrechts, der – im Rahmen seiner Theorie zunächst sehr stimmig – Präsenz nicht definiert (das wäre eine hermeneutische Operation, die er ablehnt), sondern nur ex negativo bestimmt, wovon er sich abgrenzt (nämlich eine als Hermeneutik verstandene Literaturwissenschaft). Die positive Bestimmung dessen, was Präsenz ist, erarbeitet er – ebenfalls sehr stimmig im Rahmen des Konzeptes – einzig anhand der Analyse von Präsenzphänomenen, bzw. präziser Phänomene, die er als solche identifiziert hat. Da er dieses Vorgehen aber so nicht offenlegt, bleibt der Präsenzbegriff vage. 270 Vgl. Gumbrecht, Diesseits, 175; Lauster bemerkt dazu, dass sich „so [...] das Erscheinen der Dinge religiös“ auflade (vgl. Lauster, Sinn, 8). 271 Vgl. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, (edition suhrkamp 2219) Frankfurt a. M. 42011. 272 Mersch, Ereignis, 296. 273 Mersch, Ereignis, 296.
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tremendum und fascinosum274 definiert Mersch die Responsivität schlussendlich als „Staunen angesichts der Unbegreiflichkeit des Anderen und das Grauen angesichts der Unausdeutbarkeit seines Ereignens“275. Mersch bezieht also in das Ereignis einer Präsenzerfahrung selbst deren Abgründigkeit mit ein. Sein Ereignisbegriff zielt damit in der Aufnahme von Otto und ebenso in der sprachlichen Darstellung auf diejenigen Ereignisse ab, die sich als dramatische Begegnung mit einem Anderen darstellen, sodass das Ereignis nun eine mystifizierende Qualität gewinnt, die auf bestimmte, sich intensiv ereignende Situativitäten fokussiert.276 Die Ambivalenz der Dramatik von Präsenz in Bezug auf die Situativität findet sich exemplarisch im Ereignisbegriff Martin Seels: Seel macht darauf aufmerksam, dass „obwohl im Grunde alles Ereignis ist, uns dennoch nicht alles zum Ereignis wird.“277 Denn als Ereignis würde nur das wahrgenommen und gedeutet werden können, was uns „ins Auge einer andauernden oder vergangenen, erwartbaren [...] Gegenwart blicken“278 lasse. Das erhellt das Verständnis von Situativität dahingehend, dass mit Seel das Ereignis so verstanden werden kann, dass die momentane situative Verfasstheit als solche erfahrbar wird. Es ist nun weiterführend kritisch zu betrachten, wie Seel dieses Ereignis charakterisiert: Zunächst sei das Ereignis „weder beliebig wiederholbar noch im Ganzen intentional bewirkbar“279 und damit aus der übrigen Lebenserfahrung herausgehoben. Seel scheint ein Bewusstsein dafür zu haben, dass Ereignisse nicht unbedingt dramatisch sein müssen, da sie „im sehr Kleinen oder sehr 274 Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. 275 Mersch, Ereignis, 296. 276 Dieses Ergebnis steht der Zielperspektive der Ästhetik der Präsenz entgegen, die Josef Früchtl und Jörg Zimmermann in der Möglichkeit der Abkehr von theologisch-metaphysischen Übersteigerungen sehen: „Sie [die Ästhetik der Präsenz] nämlich muß, vor dem Hintergrund einer philosophisch-anthropologischen oder, strukturell gesprochen, komplementaristischen Inszenierungskonzeption, keineswegs mit theologisch-metaphysischen Implikationen auftreten. [... Sie] muß sich nur dessen bewusst bleiben, dass das bipolare, „dialektische“ Verhältnis von Anwesendem und Abwesendem, von Gegenwart und Nichtgegenwart erkenntnistheoretisch konstitutiv für Inszenierung ist und das Theologisch-Metaphysische nichts als eine Übersteigerung dieses epistemologischen Aspekts“ (Josef Früchtl/Jörg Zimmermann, Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens, in: Dies. [Hrsg.], Ästhethik der Inszenierung, Frankfurt a.M. 5 2013, 9–47, hier: 22). 277 Martin Seel, Ereignis. Eine kleine Phänomenologie, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hrsg.), Ereignis. Eine fundamentalte Kategorie der Zeiterfahrung, Bielefeld 2003, 37–47, hier: 37f. 278 Seel, Ereignis, 46. 279 Seel, Ereignis, 40. Seel expliziert das für den Ereignisbegriff bezeichnenderweise in religiösen Termini: „Diese Durchbrechung des Laufs der Welt ist ein grundsätzlich ambivalenter Vorgang: Er kann für die, die ihm unterliegen, befreiend oder beklemmend, ein Geschenk des Himmels oder die Hölle auf Erden sein“ (Seel, Ereignis, 39).
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Großen“280 geschehen können. Dennoch schreibt er dem Ereignis semantisch immer wieder eine hohe Dramatik zu, wenn er in den allgemeinen Strukturbestimmungen von der „Krise des Ereignis[ses]“281 spricht oder den Auslöser der Ereignisse als „Aufstand der Gegenwart“282 qualifiziert, sodass die im Ereignis erfahrene Gegenwart geradezu als Subjekt erscheint, das eine Konfrontation im Sinn habe. Seel denkt zwar hochdynamisch, aber dennoch diastatisch: Ein kulturelles oder individuelles Subjekt auf der einen Seite begegne der Gegenwart auf der anderen Seite so, dass diese ihm im Ereignis bewusst werde. Diese Problemstellung wird in Johannes Fischers Umgang mit dem Präsenzbegriff in „Präsenz und Faktizität“ fortgeführt. Fischers Absicht ist es, eine Variante der Situationsethik zu entwickeln, in der moralische Vorgaben ohne den Bezug auf normierende Vorgaben und einheitliche Weltdeutungen auskommen, sondern um der Situation willen, um konkreter Anderer willen, geschehen. Der Präsenzbegriff dient Fischer nun dazu, zu zeigen, wie diese Situation als Situation bewusst wird: In diesem Sinne kombiniert er Gumbrecht, Mersch und Seel, allerdings ohne auf diese explizit zu verweisen.283 Fischer führt die Rede vom „Präsenzraum“ ein, mit dem er das Ereignis der Präsenz markiert: Präsent wird, was sich als präsent ereignet und einen Präsenzraum aufruft. So kann Fischer für religiöse Kontexte die Präsenz des Ewigen im Zeitlichen bestimmen, die er als das charakteristische Merkmal aller theistischen Religionen beschreibt. 284 Das führt dazu, dass Fischer für westeuropäische Kulturbezüge („in unserer Zivilisation“ 285 ) bestimmt, dass das Ereignis der Präsenz sich primär in Grenz- und Krisensituationen erweise, da für alle anderen Situationen auch andere Deutungsoptionen als die „Präsenz aus Präsenz“ zur Verfügung stünden.286
280
Seel, Ereignis, 42. Seel, Ereignis, 46. 282 So die Absatzüberschrift in: Seel, Ereignis, 40. 283 Fischer grenzt, wie schon im Titel angedeutet, Präsenz von Faktizität ab: „Statt um kausale Erklärung von Tatsachen aus Tatsachen geht es um das Verstehen von Präsenz aus Präsenz“ (Johannes Fischer, Präsenz und Faktizität. Über Moral und Religion, Tübingen 2019, 203). Fischer berücksichtigt dabei nur einen Teil der Entwicklung religionsphilosophischer Theoriebildung, die diese Diastase im Gefolge der Aufklärung nicht mehr fortführt. Er führt stattdessen die Auseinandersetzung zwischen Ritschl und Biedermann, Luthardt sowie Pfleiderer an, um sie als bleibende Problemstellung zu profilieren (vgl. Fischer, Präsenz, 191). 284 Das Eröffnen dieses Raums garantiert jedoch keine Performanzerfahrung, weswegen eigentlich nicht von „Räumen der Präsenz“ gesprochen werden kann, wie es z. B. auch Michael Beintker in seiner Abschiedsvorlesung unternimmt (Michael Beintker, Über den Begriff der Liebe zu Gott, in: ZThK 113 [2016], 59–77, hier: 74), sondern wesentlich vorsichtiger von „Räumen möglicher Präsenz“ o. ä. gesprochen werden müsste. 285 Fischer, Präsenz, 290. 286 Vgl. Fischer, Präsenz, 290. 281
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Es wird im Verlauf der Arbeit anhand der performanztheoretischen Betrachtung der Demut zu zeigen sein, dass eine Fokussierung auf die Ereignisse und Widerfahrnisse von hoher Intensität oder größter lebensverändernder Dramatik eine Verengung ist, die für den Präsenzbegriff produktiv aufgebrochen werden muss: So werden auch Phänomene, die nicht hochdramatisch erfahren werden, z. B. weil sie in alltägliche Lebensvollzüge integriert sind, in den Blick genommen und können als Präsenzphänomene und Ereignisse gedeutet werden. Der Präsenzbegriff sollte idealiter in der Lage sein, jegliche Form von momentaner situativer Verfasstheit zu erfassen und den Präsenz- oder Ereignischarakter auch dort artikulieren können, wo Präsenz erst in einer Form von akkumuliertem, reflexiven Rückblick als solche situativ erkennbar und damit als Präsenzphänomen wahrnehmbar wird. Im Folgenden wird deswegen der Begriff der Performanz profiliert, und zwar ausdrücklich wegen seiner semantischen Nähe zum performance-Begriff, mit dem er jedoch nicht identisch ist. Die begriffliche Nähe verweist auf situative Erfahrungen von Präsenz, die nicht nur als kontrafaktisch, sondern ebenso als eingebettet in Lebensvollzüge verstanden werden können.287 3.3. Die performance in den Theaterwissenschaften Den auf Präsenzphänomenen fokussierten Theorien ist gemein, dass sie daran interessiert sind, zu bestimmen, wie sich etwas so zeigt, dass es als Widerfahrnis erfahren wird. Dabei sehen sie jedoch von der situativen Einbettung dieser Erfahrung eher ab: In der Einbeziehung der Theaterwissenschaften und der daraufhin für diese Arbeit erfolgenden Differenzierung von Performanz und performance liegt ein Gewinn für die Frage nach der Situativität. Über die semantische Nähe der beiden Begriffe wird sowohl die Notwendigkeit zur begrifflichen Differenzierung als auch die Notwendigkeit, beide Bereiche in den Blick zu nehmen, angezeigt. Für die Kulturwissenschaften sind im deutschsprachigen Raum für den performance-Begriff die Überlegungen zur „Performativität der Inszenierung“ von Erika Fischer-Lichte einschlägig, die dezidiert aus der Perspektive der
287 Dieser eher auf Drastik fokussierte Ereignisbegriff findet sich – reflexiv gewendet – auch schon in der Bestimmung des Ereignisses bei Jacques Derrida, wenn dieser programmatisch schreibt: „Es ist die Unmöglichkeit des Ereignisses, die das Maß für seine Möglichkeit gibt“ (Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, 29). Wenn die Unmöglichkeit das bestimmende Element ist, dann kann jedes Ereignis, selbst wenn es konstitutiv wiederholbar ist, nur im Modus des Außergewöhnlichen erfasst werden.
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Theaterwissenschaften erfolgen, aber über diese hinausgehend rezipiert werden. 288 Fischer-Lichtes Intention besteht darin, eine „Ästhetik des Performativen im Begriff der Aufführung zu fundieren“289. So formuliert zeigt sich schon, dass mit diesem Vorgehen eine notwendige Verengung auf die Perspektive der Theaterwissenschaften geschieht, die fachwissenschaftlich sinnvoll ist, jedoch Fischer-Lichtes eigentliche Absicht, nämlich mit der Fundierung in der Aufführung einen weiteren Phänomenbereich als den der Bühne abzudecken, unterläuft.290 Das Vorhaben ist da gelungen, wo Fischer-Lichte die Kategorie der Aufführung (und damit verbunden der Inszenierung) in die Performativitätstheorien einführt und eine bewusste Verschiebung des Begriffs des Performativen unternimmt, um so einige Aspekte neu zur Geltung zu bringen, nämlich besonders die Dimension der Körperlichkeit und die darüber gegebene Einbindung in soziale Kontexte: Über das Konzept von Leiblichkeit hinausgehend ist es das Verdienst der Theaterwissenschaften zu zeigen, dass und wie Körper und Leib mit anderen Körper(lichkeite)n in Kontakt treten und wie diese in der gemeinsamen Interaktion die Aufführung überhaupt erst hervorbringen.291 Fischer-Lichte fokussiert auf die Körperlichkeit unter Einbeziehung der „Performenden“ wie der „Zuschauenden“ als „Ko-Präsenz“ aus deren Interaktion die „Aufführung“ als solche im Sinne einer autopoietische Feedbackschleife generiert wird: In der Aufführung entsteht die Aufführung als solche und konstituiert sich.292 Fischer-Lichte liefert die notwendige Sensibilität dafür, dass sich weder Sprechakte noch Präsenz im luftleeren Raum abspielen, sondern immer schon in – wenn auch kleinstmögliche – performances eingebunden sind. Gerade die manchmal den Theaterwissenschaften (scheinbar) unterlaufende „Verwechslung“ einer performance (d. h. einer Aufführung) mit der Performanzerfahrung selbst macht sensibel dafür, wie sehr ein Bewusstsein für das Eingebundensein in narrative Kontexte notwendig ist, um nicht zu einfachen Gleichsetzungen zu 288
Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (2004), Frankfurt a.M. 92014; Dies., Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2012; Dies. (Hrsg.), Performativität und Ereignis, Tübingen/Basel 2003. 289 Fischer-Lichte, Ästhetik, 56. 290 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 53. 291 Interessanterweise führt Fischer-Lichte historisch aus, dass die Betonung der Körperlichkeit als Ko-Präsenz im 19. Jahrhundert durch inszenatorische Maßnahmen auf die Innerlichkeit geführt wird (der Theatergenuss geschieht leise, das Publikum beteiligt sich nur in der innerlichen Anteilnahme) und erst im 20. Jahrhundert über intentionale Strategien der Inszenierung wieder versucht wird, diesen Prozess zu veräußerlichen (vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 58–61). 292 Vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 54. „Körperlichkeit“ als „Ko-Präsenz“ bedinge laut Fischer-Lichte andere Kriterien für die Beurteilung eines performativen Aktes: Nicht mehr die „funktionale[n] Gelingensbedingungen“ wie bei Austin als „glücken/mißglücken“, sondern die Frage nach „phänomenalen Verköperungsbedingungen“ seien entscheidend (Fischer-Lichte, Performativität, 38).
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gelangen, wie sie z. B. in der theologischen Durchdringung für Vanhoozer beobachtet werden konnten.293 Dieses gilt umso mehr aufgrund der inhärenten Normativität, die dort eingezogen werden kann, wo Narrative – sei es z. B. im Theater oder im Gottesdienst – in verschiedenen Formen der Inszenierungen in Kommunikationszusammenhänge eingetragen werden und damit zur Aufführung gebracht werden. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der Inszenierung über die Theaterbühne hinausgehend verwendet, um damit diejenigen Kontexte von performances anzudeuten, die intentional gesetzt sind.294 Für diejenigen Kontexte, die nicht intentional sind, kann hingegen der Begriff des „Settings“ verwendet werden: Für den Sternenhimmel wäre eher der Begriff „Setting“ angemessen, für ein gottesdienstliches Geschehen eher die „Inszenierung“. Beides geht aber ineinander über:295 Der Sternenhimmel kann z. B. durch die Wahl des Beobachtungsortes inszeniert werden, das gottesdienstliche Geschehen ist in das Setting eines Kirchenraumes eingebunden. Die Intentionalität der Inszenierung wirft die Frage auf, welche Normativitäten in dieser Inszenierung gesetzt werden und wer z. B. bestimmt, dass eine Theateraufführung – oder ein Gottesdienst – gelungen ist. Fischer-Lichte argumentiert, dass diese Wertung nicht inhaltlich eindeutig zu bestimmen sei: Eine 293
Bei Fischer-Lichte wird an einigen Stellen die Transformation als Konsequenz von Performanz oder sogar performance gesetzt, ohne die Bedingungen dieser Setzung zu begründen: „Die transformative Kraft des Performativen erweist sich hier [im Medium des Films, KO] als besonders stark – auch wenn wir ähnlich wie bei zeitgenössischen künstlerischen Aufführungen keine belastbaren Aussagen über eine mögliche längere Dauer oder gar Nachhaltigkeit der erfahrenen Transformationen machen können” (Fischer-Lichte, Performativität, 128). 294 Im theoretischen Rahmen seiner Theorie des Ereignisses als Bewusstwerden der Gegenwart spezifiziert Seel die Inszenierung folgendermaßen, um sie vom allgemeineren Begriff intentionalen Handelns zu unterscheiden: „Inszenierungen [...] sind, 1. absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die 2. vor einem Publikum dargeboten werden und zwar 3. so, daß sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können“ (Martin Seel, Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs, in: Früchtl/Zimmermann, Ästhetik, 48–62, hier: 49). Der deutsche Begriff „Inszenierung“ hat kein englisches Äquivalent, das sowohl den Aufführungscharakter als auch den transitiven Charakter erfasst. Zudem ist jegliche englische Übersetzung stärker an die Theaterbühne gebunden, während „inszenieren“ im Deutschen auch in anderen Kontexten verwendet werden kann (z. B. „Ich inszeniere mich selbst als jemand/etwas.“). In der englischen Übersetzung von Fischer-Lichte wird „Inszenierung“ deswegen mit dem französischen Lehnwort mise en scène übersetzt (Erika FischerLichte: The Transformative Power of Performance. A new aesthetics, übers. v. Saskya Iris Jain, Abingdon/New York 2008, 182f.). 295 Der Begriff des Settings zielt auf ähnliche Phänomen ab, wie Michael Moxter sie unter dem Begriff der „Szene“, in Aufnahme theaterwissenschaftlichen Bestimmungen entfaltet und sie erstmalig als Grundbegriff der Anthropologie bestimmt (vgl. Michael Moxter, Szenische Anthropologie – Eine Skizze, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Reiner Preul [Hrsg.], Anthropologie [MJTh XXIX], [MThSt 128] Leipzig 2017, 55–84).
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Aufführung könne auch dann ihren Zweck erfüllen, wenn sie verstörend und irritierend und gerade aufgrund der kritischen oder empörten Reaktionen im Gedächtnis bleibe.296 Der performance-Begriff verweist dezidiert auf die Notwendigkeit, sowohl die Art und Weise, wie sich auf eine Erfahrung bezogen wird, als auch den Kontext dieser Erfahrung, z. B. als Inszenierung oder Setting, mit zu bedenken. In der Herkunft aus den Theaterwissenschaften wird diese formale Bestimmung jedoch aus einer spezifischen Situativität, nämlich der einer (Theater)-Aufführung, heraus entfaltet, sodass die performance stark auf ihre Funktion für diesen Kontext hin verengt wird. 3.4. Performanztheoretische Begriffsbildung Anhand der hier vorgestellten Konzepte wird deutlich, dass eine Präzisierung der verwendeten Begrifflichkeiten von Peformativität, Performanz und performance sinnvoll ist, um den Phänomenbereich vollständig zu erfassen.297 Die Notwendigkeit zu einer Ausdifferenzierung ist schon in der Doppeldeutigkeit des englischen Wortes „to perform“ angelegt: Jemand führt etwas aus („to execute a task“) und jemand führt etwas auf („to present something“).298 Diese Differenzierung der Begriffsbildung wird im Folgenden als Stärke verstanden, insofern damit angezeigt ist, dass eine Performanzerfahrung nicht außerhalb von situativ und kontextuell eingebetteten performances geschehen, aber dennoch nicht auf diese reduziert werden kann: Die performance kann die Performanzerfahrung nicht garantieren, dennoch wird in einer performance mit der Möglichkeit des Ausbleibens wie auch des unerwarteten Eintreffens einer Performanzerfahrung gerechnet. In diesem Sinne ist die Differenzierung zwischen Performanz und performance zur Bearbeitung der Dynamik von Funktionalität
296 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik, 295. An dieser Stelle zeigt sich, dass sich Fischer-Lichtes Austin Interpretation dezidiert auf Krämer stützt. 297 Diese Unterscheidung schließt sich an den Literaturwissenschaftler Klaus Hempfer an, setzt aber einen relevanten anderen Akzent: Bei Hempfer steht „Performativität für die sprachphilosophische Sprechakttheorie“, „Performanz für das Modell der generativen Grammatik“ und „performance [...] für das Theatermodell“ (Hempfer, Performance, 13). Performanz ist dementsprechend die „aktuelle Sprechverwendung“ und damit auf die spezifische Situation bezogen, die Performativität das „Differenzierungskriterium für Typen von Sprechakten“ und damit generelle Theorie (Hempfer, Performance, 17). Da Hempfer sprachphilosophisch und nicht phänomenologisch arbeitet, kann der vorliegenden Differenzierung gefolgt werden; in Anlehnung an das Verständnis von „Performanz“ bei Richter werden diese Kategorien jedoch auf die Erfahrungsebene bezogen ausgeführt. 298 Vgl. u. a. Velten, Performativity, 250. Jon McKenzie macht in „Perform or Else“ darauf aufmerksam, dass dem Begriff „perform“ mittlerweile ein höchst normativer Zug zukommt, insofern „to perform“ nicht nur als gelingende „performance“, sondern vielmehr als Leistung konnotiert ist, über die ein gesellschaftlicher Druck aufgebaut wird (vgl. Jon McKenzie, Perform or Else. From Discipline to performance, London u. a. 2001).
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und A-Funktionalität in situativen Einbettungen geeignet. Aus der Begriffsdifferenzierung ergibt sich die dargestellte Systematik, die hier vorgeschaltet wird, um die Begriffe im weiteren Verlauf der Analyse kohärent verwenden zu können, obwohl diese theoretische Bestimmung auf die Entfaltungen zum Phänomen der Demut angewiesen ist. Damit sind die folgenden Überlegungen einerseits eine aus Gründen der Lesbarkeit notwendige Vorschaltung, die aufzeigt, wie und wo im Folgenden die Begrifflichkeiten genutzt werden. Andererseits ist diese Systematik eine für den Leseduktus nötige Vorwegnahme des Fazits der auf Performanz abzielenden theoretischen Zielperspektive der vorliegenden Arbeit. 3.4.1. Performativität Der Begriff der Performativität verweist zunächst grundlegend darauf, dass es um die Funktion von Sprache in Sprechakten geht, die nicht von ihrer Wirkung abstrahiert werden können. Jörg Volbers schlägt als Minimaldefinition zur Systematisierung der oben genannten verschiedenartigsten Ansätze Folgendes vor: „Performativität ist das Phänomen, dass Wirklichkeiten, auf die sich bestimmte Handlungen beziehen, erst im Akt dieser Bezugnahme – erst durch den Vollzug der jeweiligen Handlung – hervorgebracht werden.“299 Diese recht breite Definition in der Fokussierung auf die Wirkung von Handlungen geht über die Bestimmungen zum Sprechakt hinaus, ist aber auch dort schon angelegt, insofern auch Austin und Searle an der Funktion des Sprechaktes interessiert sind (und auf linguistischer Ebene fragen, ob und wie diese Funktion bestimmt werden kann): Das zeigt sich schon an der Entstehung der Sprechakttheorie vor dem Hintergrund der ordinary-language-philosophy, insofern im Alltag ein Funktionieren von Sprechakten und Kommunikation vorausgesetzt wird, das erst da thematisch und selbstreflexiv wird, wo diese Funktion irritiert ist (wie sich auch an Austins eigenem Vorgehen in den Suchbewegungen der William-James-Lectures darlegen lässt). Mit dem Begriff der „Performativität“ wird dabei vor allen Dingen die formale und strukturelle Seite der Phänomenbetrachtung bezeichnet, die deswegen größtenteils die Seite der Sprechenden, des Sprechaktes an sich und des Kontextes fokussieren. Die Seite derjenigen, die von einem Sprechakt betroffen sind, rückt hingegen im Wesentlichen in den Hintergrund. Dass im Performativitätsdiskurs weitere Differenzierungen nötig sind, zeigt sich schon daran, dass in der deutschsprachigen Literatur das durchgängig verwendete Adjektiv zur Performanz „performativ“ ist. „Performativ“ ruft jedoch eigentlich nur den – relativ engen – Bereich der Sprechakttheorie Austins
299
Volbers, Performative Kultur, 1.
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auf.300 Deswegen ist das Adjektiv „performativ“ sinnvollerweise auf die Performativität und vor allen Dingen auf „performative Äußerungen“ zu beschränken. Für diese Arbeit wird vorgeschlagen, für Performanzerfahrungen das Adjektiv „performant“ zu verwenden, im Sinne von: „Dieses Ereignis war mir performant“ oder „Ich habe eine performante Erfahrung gemacht“.301 Der hier vorgeschlagene Gebrauch des Wortes „performant“ geschieht im Anschluss an die im Duden definierte Bedeutung, die sich auf den Gebrauch in der IT konzentriert: Performant ist ein System, dessen performance dadurch gekennzeichnet ist, dass es funktioniert.302 Die Übertragung auf den performanztheoretischen Kontext erscheint einleuchtend, insofern eine performante Erfahrung nur in der Rückschau als solche beurteilt werden kann, wenn sie in irgendeiner Form „funktioniert“ hat. Denn die Erwartungen an das Funktionieren eines Sprechakts liegen nicht nur auf formaler Ebene, dass es – mit Searle – möglich ist, sich überhaupt auf Alltagskommunikation einzulassen. Sondern sowohl auf der Seite der Angesprochenen als auch der Sprechenden können konkrete Erwartungen mit einzelnen Sprechakten verbunden werden, die sich auf momentane situative Verfasstheiten beziehen: Im Einlassen auf die Kommunikationssituation eines Gebets wird wahrscheinlich nicht nur erwartet, dass Beten an sich funktioniert, sondern dass das eigene situative Gebetsanliegen erhört wird. Die notwendige Distinktion, die nicht oft genug betont werden kann, ist allerdings, dass in religiösen Kontexten dieses „Funktionieren“ der performance nie im Sinne eines input-outcome-Denkens garantiert werden kann. Das Adjektiv performant ist somit eine Bestimmung, die zunächst an die reflexive Rückschau gebunden ist, in der bestimmte Erfahrungen als performant klassifiziert werden, weil sie sich als solche erwiesen haben. Dabei muss zudem berücksichtig werden, dass selbst, wenn etwas performant eine Funktion erfüllt, diese Funktion nicht mit der erwarteten Funktion (z. B. des Aussprechenden oder der Angesprochenen) identisch sein muss. 3.4.2. Performanz Mit dem Begriff „Performanz“ soll dementsprechend der Moment der performanten Erfahrung bezeichnet werden, und zwar primär aus der Perspektive momentaner situativer Verfasstheit, wenn etwas so geschieht, dass es sich im Erleben als Performanz darstellt: „Mir ist etwas performant geworden“. Als 300
Vgl. Carolin Duttlinger/Lucia Ruprecht, Introduction, in: Dies./Andrew Webber (Hrsg.), Performance and Performativity in German Cultural Studies, Oxford 2003, 9–19, hier: 10. 301 Die Anregung „performant“ als Adjektiv für die Performanzerfahrung zu verwenden, verdankt sich dem Austausch mit Frère Timothée (Communauté de Taizé), insofern sich zeige, dass im französischsprachigen Alltagsgebrauch performant stärker präsent ist als im Deutschen und als selbstverständlicher Begriff erscheint. 302 Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/performant.
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Arbeitsdefinition wird die von Richter vorgeschlagene Begriffsbestimmung verwendet, die dann im Durchgang durch die Arbeit präzisiert wird: „Von Performanz spricht man dann, wenn mich ein Wort (Bildrede, Narration...) im Innersten so trifft, dass es für mich – längerfristig oder nur für den Moment – die Wirklichkeit neu schafft.“303 In dieser Arbeitsdefinition zeigt sich schon eine Charakteristik des Performanzbegriffes als Instrument theoretischer Reflexion, die als Hypothese formuliert vorgeschoben werden muss: Aufgrund des Erfahrungsbezuges, um den performanten Charakter zu verdeutlichen, ist die Formulierung in der Ersten Person („Ich“) angemessen oder sogar notwendig, insofern sie auf die existentielle momentane situative Verfasstheit verweist. Das kann produktiv als ein hermeneutisches Erschließungsmuster für Performanzphänomene in theologischer Reflexion in Anspruch genommen werden: Dort, wo in reflexiven Texten in die Erste Person gewechselt wird, kann es sich um die Darstellung einer performanten Erfahrung handeln, die, aus sachlogischen Gründen, selbst wenn dieses den Autor:innen möglicherweise selbst nicht vollständig bewusst ist, nicht im distanzierten Modus der Dritten-Person erfolgen konnte. Dort, wo es um Performanzphänomene geht, wird die Erste Person als ein notwendiges Mittel sprachlicher Gestaltung verwendet, um anzuzeigen, dass es um je nicht anders als in bestimmten narrativen Kontexten individuell zu erfassende situative Verfasstheiten geht. Die in dieser Form für die vorliegende Monographie in Anspruch genommene Erste Person ist aber nicht mit dem „Ich“ der Autorin identisch. Das Bewusstwerden von momentaner situativer Verfasstheit ist ein Element eines performanten Glaubensvollzuges: Die transformierende Wirkung ändert nicht nur die momentane situative Verfasstheit, sondern macht mich möglicherweise überhaupt erst auf diese aufmerksam. Wie oben anhand der Kritik der Präsenz bei Gumbrecht angedeutet wurde und wie für die Demut entfaltet werden kann, gilt, dass die Performanzerfahrungen nicht immer von hoher Intensität sein müssen, sondern durchaus auch hintergründig mitlaufend, von niedriger Intensität sein können. An dieser Stelle kommt der Beurteilung in der Rückschau eine konstitutive Rolle zu: Eine Performanzerfahrung hoher Intensität, nach der das eigene Leben nunmehr nur ganz anders gelebt werden kann, und die sich unmittelbar als evident erweist, erschließt sich wahrscheinlich sehr schnell als solche. Es kann aber auch Performanzerfahrungen geben, die eher „schleichend“ geschehen und erst in der Rückschau in ihrer performanten Bedeutung erkannt werden. Ein Beispiel für solch eine Erfahrung niedriger Intensität ist eine bei Kindern selbstverständlich eingeübte Praxis des abendlichen Gebetes, die in ihrer wirklichkeitsverändernden Bedeutung erst in der Rückschau, über einen längeren Zeitraum akkumuliert in ihrer Bedeutung als Performanzerfahrung artikuliert werden kann. Diese steht z. B. im Unterschied 303
Richter, Ethik der Zwischenphänomene, 182.
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zu einem einmaligen Bekehrungserlebnis als Performanzerfahrung hoher Intensität.304 Eine Performanzerfahrung erweist sich nicht nur auf der Ebene der kognitiven Reflexion als solche, sondern „im Innersten“, d. h. in einem mir möglicherweise nicht ganz zu entschlüsselnden Zusammenspiel von Kognition, Leiblichkeit, Affektivität und voluntativen Vermögen: Im aktualen performanten Vollzug selbst werden diese als Synthese erfahren, in der reflexiven Analyse ist es hingegen notwendig, die einzelnen Elemente zu trennen. Aus der Perspektive des erlebenden Subjekts stellt sich eine performante Erfahrung als ein eigentümliches In-Eins-Fallen von Aktivität und Passivität dar, von „mir Geschehendem“, das dennoch in meine eigene Deutung eingebunden ist.305 Wenn im Folgenden und in der Analyse von der antizipierenden Vorschau auf eine Performanzerfahrung und der reflektierenden Rückschau gesprochen wird, ist damit nie nur die kognitive Ebene gemeint, sondern das Zusammenspiel aller dieser Vermögen. An dieser Stelle müssen die Überlegungen zur Unverfügbarkeit der Performanzerfahrung einbezogen werden: Ob und wie Performanz geschieht, ob ein Moment in der Rückschau als performant beurteilt wird, ist der Kontrolle entzogen und kann durch keinerlei Handlung sicher garantiert oder definitiv verhindert werden. Das ist am Beispiel des Gebets sehr einleuchtend: Egal wie ernsthaft, wie liturgisch angemessen, wie theologisch reflektiert ich bete, ob 304 Es wird vorläufig die Unterscheidung zwischen „hoher Intensität“ und „niedriger Intensität“ getroffen im Bewusstsein dafür, dass der Begriff der Intensität selbst hochkomplex ist. Mit Herrman Schmitz kann Intensität, wie sie an sinnlichen Qualitäten und an leiblichen Regungen erfahrbar wird, in unterschiedlichen Graden vorliegen (Herrmann Schmitz, Der Leib, Berlin 2011, 112). Das Problem, mit dem sich Schmitz in leibphänomenologischer Betrachtung ausführlich auseinandersetzt und das als Erklärungsansatz dafür dienen könnte, warum in der theologischen Reflexion wie im religiösen Erleben eher Momente hoher Intensität fokussiert werden, ist das „Paradox der intensiven Mehrung“ (Schmitz, Leib, 112), insofern in einem Grad von hoher Intensität die niedrigen Grade nicht umfasst werden, sondern eliminiert werden (vgl. ebd.). Die Frage bei Schmitz ist, wann von einem Übergang von niedriger Intensität (z. B. milder Wärme) hin zu hoher Intensität (z. B. starker Hitze) gesprochen werden kann; Schmitz selbst löst dieses Problem rein auf die Leiblichkeit bezogen als „Kampf“ zwischen Spannung und Schwellung, die sich als „intensives Wachstum“ ausdrücken könne (vgl. Schmitz, Leib, 114f.). Für die weitere Analyse in dieser Arbeit ist die Frage nach der genauen Bestimmung des Überganges nicht so relevant wie die Frage, wann etwas als Erfahrung von hoher oder niedriger Intensität so bestimmt wird, dass es als performante Erfahrung gedeutet wird. 305 Richter ergänzt, dass in der Einbeziehung der affektiven und voluntativen Dimension schon der Gewinn Austins für die Beschreibung theologischer Prozesse liege, da „Performanz ein stets vollzugsförmiger Prozess [sei], in dem Wort und Rezeption eine komplexe Interaktion eingehen. In praktischen Frömmigkeitsvollzügen handelt es sich mindestens auch um Akte der illokutionären Selbstvergewisserung, die nur ‚funktionieren‘, wenn sie […] eine nicht nur intellektuell fassbare, sondern auch eine affektive Verdichtung des Lebens bewirken, die das bisherige Leben perlokutionär in Frage bzw. in eine neue Perspektive stellen“ (Richter, Situative Polyvalenz, 68).
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sich eine performante Form von Gebetserhörung einstellt, in welcher Intensität und von welcher Qualität diese ist oder ob sie ausbleibt, ist durch keines dieser Elemente garantiert: Die Performanzerfahrung kann ausbleiben. Wenn dieses Entzogenheitsmoment von Performanzerfahrung nicht reflektiert wird, kann ihr Ausbleiben in Formen von Frustration und letztendlich sogar Pathologien münden. Zudem muss ernstgenommen werden, dass für den Fall, dass mir etwas performant wird, damit noch nicht ausgesagt ist, wie sich diese Performanzerfahrung als inneres Erleben darstellt. Eine Performanzerfahrung muss nicht zwingend lebensförderlich, sinnstiftend oder wohlgefällig sein, sondern kann ebenso gut verstörend oder Sinn entziehend sein und grundlegend erschüttern – und alle Erfahrungen dazwischen umspannen. Die Performanzerfahrung muss so gedacht werden, dass auf die Fülle der Lebenserfahrung situativ angemessen reflektiert werden kann. Damit ist über die konstitutive Unverfügbarkeit der Performanzerfahrung ein Element in Glaubensvollzüge eingezogen, das als a-funktional verstanden werden kann und das die A-Funktionalität des Gottesgedankens auf der Erfahrungsebene spiegelt: Die Performanzerfahrung selbst erweist sich – in unterschiedlichen Graden – als funktional a-funktional. In diesem Sinne haben Glaubensvollzüge eine Funktion für diejenigen, die sie vollziehen, ohne dass ihr Funktionieren im oben beschriebenen Sinne garantiert werden kann: Das ist die Stelle, an der sinnvoll die Differenzierung zwischen Performanz und performance eingeführt werden kann. 3.4.3. Performance „Performance“ ist ein aufgrund seiner Genese schwieriger Begriff. Im Folgenden soll perfomance nicht mehr indizieren, als dass Erfahrungen von Performanz in irgendeiner – sei es auch noch so schwachen Weise – performed werden und damit in leibliche oder sprachliche Vollzüge eingebettet sind: Ich höre ein Wort, das zu mir gesprochen wird; ich lese einen Text; ich vollziehe eine Handlung, die mich z. B. in der Demut auf die Knie bringt. In allen diesen Handlungen performe ich oder es wird für mich performed. Eine performance ist durch die Begegnung mit anderen Leiblichkeiten und ihrem Kontext geprägt, die deswegen über die performance vermittelt in die Reflexion der Performanzerfahrung einbezogen werden können. Die performance hat für mich – in unterschiedlichen Graden von Bewusstheit und Erwartungshaltung – eine Funktion. In diesem Sinne kann mit dem Begriff der performance in die Theoriebildung eingezogen werden, dass eine Performanzerfahrung nicht nur in der Rückschau reflektiert wird, sondern auch in der Vorschau antizipiert wird: Eine performance kann in der Hoffnung begonnen werden, in der Rückschau auf diese performance von einer Performanzerfahrung berichten zu können. Dieser Zusammenhang wird durch den Diskurs im englischen Sprachraum und der Aufnahme dieses Diskurses im Deutschen noch einmal verkompliziert: Denn in dem Begriff der performance fällt im englischsprachigen Diskurs das
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zusammen, was im Deutschen mit Performanz und performance differenziert betrachtet werden kann.306 Dadurch fehlt dem englischen Diskurs die Trennschärfe, welche mit der deutschen Begrifflichkeit erreicht werden kann. Dies ist aber kein rein linguistisches Problem, sondern weist auf ein Sachproblem in: Der englische Gebrauch von performance zeigt diejenige Synthese an, die im Erleben einer performance als Performanz da ist, während der deutsche Terminus eine differenzierte Analyse ex post ermöglicht. Als ein Beispiel, wovon sich die vorliegende Arbeit mit der Unterscheidung von performance und Performanz abgrenzen möchte, kann hier wiederum Vanhoozers Ansatz dienen, der so auf die performance fokussiert, dass performance Performanz zu implizieren scheint: Vanhoozer setzt, dass sich im gottesdienstlichen, normativ doktrinal bestimmten theodrama Gott im Rahmen menschlicher performances und Inszenierungen zur Aufführung bringen wird, ohne die damit verbundenen metaphysischen Implikationen für die Performanzerfahrung wie für das Gottesbild zu reflektieren.307 Die folgende Unterscheidung muss wiederum nachdrücklich betont werden: Die performance ist eine Rahmenbedingung von Performanzerfahrungen, aber nicht mit diesen gleichzusetzen; dass etwas performed wird, garantiert noch keinen Moment von Performanz. Demgegenüber muss die mit einer performance verbundene funktionale Erwartung, wenn sie auf Performanz abzielt, das Element der A-Funktionalität in unterschiedlichsten Ausformungen antizipieren: Die Performanzerfahrung kann ausbleiben, sie kann genau so geschehen wie erwartet, sie kann vollständig oder nur ein wenig anders als erwartet eintreten, und eine Vielzahl weiterer Varianten dazwischen. Dass Glaubensvollzüge, die auf Performanzerfahrungen abzielen, sich situativ als performances darstellen, hat eine Folge: Im Unterschied zu Performanzerfahrungen selbst, die sich der Beurteilung von außen entziehen, kann eine performance beobachtet werden. Andere, oder auch die Performenden selbst in Form der Beobachtung zweiter Ordnung, können beobachten, wie ein Text gehört oder auf die Knie gegangen wird – ohne jedoch eine Aussage über den Performanzcharakter des Geschehens selbst treffen zu können. In diesen Bestimmungen ist schon angedeutet, dass sich Performanzerfahrungen über die performances nicht in einem luftleeren Raum vollziehen, sondern selbst in Kontexte eingebunden sind: Es muss z. B. überhaupt erst ein 306 Das wird von Duttlinger/Ruprecht als Schwäche des Deutschen aufgefasst, insofern sich im Deutschen kein Begriff finde, der die Möglichkeiten und Konnotationen von performance abdecke, sodass das Deutsche deswegen zwischen „Aufführung oder Darstellung“ und „Ausübung“ unterscheiden müsse (Duttlinger/Ruprecht, Introduction, 10f.). Die Abarbeitung am performance Begriff ist deswegen einer der Hauptpunkte in der amerikanischen Performanzforschung (vgl. Fischer-Lichte, Performativität, 52, in Bezug auf McKenzie, Perform). Obwohl Fischer-Lichte auf diese Unterscheidung hinweist, entscheidet sie sich schließlich dafür, performance synonym zu Aufführung zu verwenden (ebd., 53). 307 Vanhoozer, Faith speaking.
3. Performanztheorien
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Wort gesagt werden, das mich „treffen“ kann, was meist in interpersonalen oder kommunikativen Bezügen geschehen wird. Wo sich eine performance auf ein Narrativ bezieht, geschieht eine Kontextualisierung, die besonders in religiösen Kontexten oft als eine, sei es noch so subtile, Form von Inszenierung verstanden werden kann: So kann das Narrativ vom Kreuz im Gottesdienst nicht nur über die Auswahl oder die Art und Weise der Evangelienlesung inszeniert werden, sondern z. B. schon über die Gestaltung des Kirchenraumes, über die Geste des Kreuzzeichens oder die Liedauswahl können bestimmte Elemente des Narrativs stärker hervortreten und andere abgeschwächt werden.308 Durch die mittelbaren oder unmittelbaren Interaktionen mit anderen Subjekten ist die Frage nach der Normativität der Inszenierung und damit auch der Normativität der Narrative eingezogen.309 Die Inszenierung lenkt ein Narrativ in eine bestimmte Richtung, selbst dann, wenn diese Lenkung in bestimmten Inszenierungen suspendiert sein soll, so z. B. in der bewussten Selbstzurücknahme von Regieführenden in Stücken mit Publikumsbeteiligung: Als Selbstzurücknahme der direktorialen Macht geschieht sie ja höchst bewusst und intendiert.310 Das bedeutet jedoch nicht, dass jede Inszenierung in einem pathologischen oder fundamentalistischen Sinne manipulativ wäre. In jeder Bezugnahme auf ein Narrativ in solchen (semi-)öffentlichen Kommunikationszusammenhängen sind Elemente von Inszenierung enthalten, die aber ebenso um der Sache willen geschehen können: Die Entscheidung, im sonntäglichen Gottesdienst aus theologischen Gründen nur eine ausgewählte Passage des Evangeliums zu lesen, ist ebenso eine Inszenierung wie das Anzünden einer Kerze in einem seelsorgerlichen Gespräch, nachdem das Gegenüber darum gebeten hat. Jedoch gilt: Ob eine solche Inszenierung mit sinisteren, manipulativen Absichten erfolgt, oder um eines anderen willen geschieht, ist von außen nicht beurteilbar, sondern ein Phänomen, dem sich nur angenähert werden kann. Mit der Inszenierung wird auf die komplexen Gestaltungsbedingungen der funktionalen Bezugnahme auf a-funktionale Narrative in solchen Räumen verwiesen, die
308
Das kann die von Meyer-Blanck vorgeschlagene Formel von der „Inszenierung des Evangeliums“ im Gottesdienst ergänzen (Michael Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik, Gütersloh 22009, 321). 309 Das verweist auf die in performances enthaltenden Machtrelationen, wie Duttlinger und Ruprecht sie problematisieren: „Performances are thus prone to power relations [...]. They consolidate, or interrogate existing orders, not least with regard to questions of spectatorship: who is performing for whom, and, moreover, how does the performance affect the performing subject and the spectator?“ (Duttlinger/Ruprecht, Introduction, 11f.). 310 So die bei Fischer-Lichte ausführlich analysierte performance von Martina Abramovic „Lips of Thomas“ (Fischer-Lichte, Ästhetik, 9–12), welche auf das unbestimmbare Handeln der Zuschauenden angewiesen ist.
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als Resonanzräume verstanden werden können:311 Im Idealfall eröffnet die Inszenierung einen Raum, in dem sich Performanz ereignen kann, in dem Wissen darum, dass sich diese Performanz nicht ereignen muss.
4. Von Performanz- und Narrativitätstheorien zu Ritschl 4. Von Performanz- und Narrativitätstheorien zu Ritschl
Die enge Koppelung von narrativitäts- und performanztheoretischen Überlegungen ist evident: Was ist es, das mich derart trifft, dass es mir performant geworden ist? Das verweist auf die Notwendigkeit, die Art und Weise zu untersuchen, welchen Narrativen ein Individuum in spezifischen Kontexten und unter welchen Konstitutionsbedingungen begegnen kann. Der Kontext prägt dabei sowohl die momentane situative Verfasstheit als auch das Narrativ sowie die performance und kann deswegen im Rahmen der Performanzerfahrung reflektiert werden. Der Vorteil religiöser Kontexte kann nun darin gesehen werden, dass diese schon in ihren Narrativen und Narrationen auf das Moment der Entzogenheit rekurrieren und die Unverfügbarkeit der Performanzerfahrung, ihr erwartetes Eintreffen, ihr die Erwartungen sprengendes Eintreffen und ihr Ausbleiben thematisieren können. 312 Idealiter sollte deswegen ein Narrativ, das potentiell in kollektiven Kommunikationszusammenhängen performant werden könnte, a-funktionale Elemente oder den Verweis auf a-funktionale Denkfiguren enthalten. Die Überlegungen zu Kontext und Inszenierungen im Rahmen von performance und Performanz verweisen zudem auf die zweite Differenzierung, die hintergründig in der Distinktion von Funktionalität, AFunktionalität und Situativität mitläuft: Nämlich die Differenzierung zwischen Kollektiv und Individuum. Die Performanzerfahrung ist zunächst nur am Ort des Individuums sinnvoll reflektierbar, auch wenn sie sich z. B. atmosphärisch in gemeinschaftliche Vollzüge so eintragen kann, dass sie eine zumindest partiell geteilte Erfahrung wird. Die kollektiven performances sowie deren narrative Prägung, die Narrative sowie deren kulturelle und metaphorische Gebun-
311 Vgl. wiederum das dieser Arbeit zugrundeliegende spezifische Verständnis von Resonanzraum als „Resonanzraum der Gottesbegegnung“ (Richter, Gottesdienst, 97, mit Bezug auf Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, [Neue Theologische Grundrisse] Tübingen 2011, 10), unter der Bedingung, dass Folgendes gilt: „Resonanz findet in uns, was sich – ob erwartbar oder unerwartet – als relevant für das eigene Leben erweist“ (Richter, Gottesdienst, 91). 312 Metatheoretisch kann die Signatur der Leerstelle solche Phänomene der Entzogenheit, Unverfügbarkeit und Abwesenheit religiöser bzw. theologischer Narrative beschreiben. Eine Skizze der Analyse solcher theologischen, religiösen und literarisch-narrativen Leerstellensignaturen findet sich in Daniel Rossa, Leere voller Gott. Ottos Mysterium, Tillichs Tiefe und Doktor Murkes gesammeltes Schweigen als Leerstellenfiguren, in: Lauster/Schmiedel/ Schüz (Hrsg.), Liberale Theologie, 185–197.
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denheit und die kollektive situative Verfasstheit bilden den Kontext der momentanen situativen Verfasstheit und der individuellen performance, in der sich eine Performanzerfahrung ereignen kann. Damit ist die Dynamik der Performanzerfahrung trotz ihres konstitutiven Bezuges auf die A-Funktionalität nun nicht mehr auf ein geheimnisvolles inneres Erleben des Individuums beschränkt, sondern geschieht in einem komplexen Zusammenspiel mindestens dieser Aspekte, die in vielfältige Variationen wechselseitig aufeinander bezogen sein können. Wie genau sich diese Dynamik gestaltet, kann dementsprechend nicht über diese grundsätzlichen Erwägungen hinaus bestimmt werden, sondern muss für einzelne Glaubenspraxen in ihren je spezifischen Kontexten vom je eigenen Standpunkt aus und im Lichte der momentanen situativen Verfasstheit je neu durchdacht werden. Das (performante) Zusammentreffen von Narrativ und momentaner situativer Verfasstheit erweist sich im Glaubensvollzug als komplexes Zusammenspiel, das in der Vorschau antizipiert wird und in der Rückschau reflektiert wird. In diesem Sinne kann nun Ritschl wieder aufgegriffen werden: Die Ausführungen zu Narrativität und Performanz liefern den Theorierahmen für die Relecture der Ritschl’schen Theologie, mit der die bleibenden Desiderate der Ritschl-Forschung angegangen werden können. Während die Einordnung Ritschls in den wissenschaftstheoretischen Kontext mit den o. g. Arbeiten von Slenczka, Wittekind und Zachhuber grundlegend erforscht ist, fehlt eine differenzierte Ausarbeitung zu Ritschls praktischer Ausrichtung aus systematischer Perspektive. Es wird in der folgenden Relecture zu zeigen sein, wie diese besonders die Ekklesiologie in der theologischen Reflexion profiliert: Es geht in der Relecture Ritschls dementsprechend darum, zu verstehen, welche Funktion theologische Gehalte für eine kollektive Größe, nämlich die Gemeinde, haben können. Aus narrativitätstheoretischer Perspektive muss in der Relecture Ritschls mit der Vorsicht vorgegangen werden, die in der Kritik K. Barths an Ritschl und den in seinem Gefolge geschehenden Lesarten Ritschls aus offenbarungstheologischer Perspektive im vorherigen Kapitel eingefordert wurde: Der Fokus auf die Funktion darf keine Komplexitätsreduktion religiöser Gehalte bedeuten, die dem Gottesgedanken nicht angemessen sei. Denn dieser muss – in den Kategorien der vorliegenden Arbeit – a-funktional gedacht werden, um einseitige Reduzierungen auf die Funktion zu vermeiden. Methodisch werden dafür die Performanztheorien im hier vorangestellten Sinne genutzt, die es erlauben, anhand eines konkreten Phänomenbestandes funktional gewordene Erfahrungen von A-Funktionalität in den individuellen Glaubensvollzügen selbst zu thematisieren: Dass eine auf (a-funktionale) Performanzerfahrungen bezogene religiöser performance ein Geheimnis bleiben kann, bedeutet nicht die Aufgabe der Reflexion oder eine Komplexitätsreduktion, sondern in der funktionalen Ausrichtung unter dem Paradigma der Performanz eine Komplexitätssteigerung.
III. Relecture Albrecht Ritschls Relecture Albrecht Ritschls
Die Relecture Ritschls erfolgt unter der die Arbeit leitenden Fragestellung, wie das komplexe Zusammenspiel von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität für die theologische Reflexion erschlossen werden kann. Das sind keine Kategorien, die Ritschl selbst benutzt, die jedoch sinnvolle Erschließungsmöglichkeiten für die Ritschl’sche Theologie bieten: Wie sich in dem Überblick über die Rezeption der Ritschl’schen Theologie sowohl in seinem direkten zeitgeschichtlichen Umfeld als auch in aktuellen Entwürfen zeigte, liegen die Faszination wie die Hermetik des Ritschl’schen Werkes in der Art und Weise, wie Ritschl Theologie dynamisiert denkt. Diese Dynamik ist in der Rezeption schwer zu erfassen, denn die gesamte Dynamik des Werkes abzubilden, würde nur über eine Wiederholung des Werkes in der Rezeption geschehen können. Die anachronistische Anwendung von Narrativitäts- und Peformativitätstheorien auf die Ritschl’sche Theologie erlaubt es jedoch, diese Dynamik zu thematisieren. Aufgrund der nicht reduzierbaren Fülle von möglichen momentanen situativen Verfasstheiten, für die z. B. dogmatische Gehalte funktional werden können, kann in einer situativen Dogmatik nie die vollständige Bandbreite aller möglichen Situativitäten und Funktionalitäten abgebildet werden. Es können jedoch einzelne Positionsbestimmungen und thematische Abgrenzungen vorgenommen werden, die auf das Spektrum verweisen, in dem der funktionale Bezug auf A-Funktionalität reflektiert werden kann. An jeder Stelle der Relecture Ritschls läuft die Fragestellung mit, inwiefern die entsprechenden Bestimmungen situativ gebunden sind und auf Situativitäten und situatives Denken verweisen. Der inneren Logik des Aufbaus von Ritschls dreibändigen Hauptwerk „Rechtfertigung und Versöhnung“ (RuV I–III) folgend, wird die Relecture Ritschls in drei Schritten unternommen: Zunächst wird das Verständnis der Gemeinde als kollektive Größe bei Ritschl entfaltet. Das geschieht mit Bezug auf den Band I von RuV „Die Geschichte der Lehre“, in dem Ritschl theologiegeschichtlich die Funktion der Dogmen für die Gemeinde in ihren je situativen Gestalten in historischen Kontexten unter dem Paradigma von Rechtfertigung und Versöhnung nachzeichnet. In einem nächsten Schritt wird dann mit Band II von RuV „Der biblische Stoff der Lehre“ das Reich Gottes bei Ritschl
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als ein Narrativ entfaltet, das es ermöglicht, die A-Funktionalität des Gottesgedankens mit dessen Funktion für die Gemeinde in ihrer situativen Verfasstheit zu verbinden. Ritschl bleibt nicht bei der Formalbestimmung der Dynamik von Gemeinde und Reich Gottes stehen, sondern denkt die Art und Weise, wie der Bezug auf A-Funktionales für die Gemeinde funktionieren kann, in der Materialdogmatik durch. Die Analyse der Materialdogmatik orientiert sich dabei an Ritschls systematischer Entfaltung in Band III von RuV „Die positive Entwicklung der Lehre“.1 Ritschl arbeitet auch in der systematischen Entfaltung in hohem Maße mit Bibelstellen sowie Materialien aus der Tradition und mit dogmengeschichtlichen Exkursen. Das bringt jedoch eine Herausforderung mit sich, da Ritschl RuV von der Erstauflage (1870–1874) hin zur Zweitauflage (1880–1883) massiv veränderte sowie an der Drittauflage (1888–1889) noch einmal kleinere Veränderungen vornahm.2 Es zeigt sich in den Auflagenveränderungen eine Präzisierung des theologischen Denkens bei Ritschl, die durch die Auseinandersetzung sowohl mit der affirmativen Aufnahme in der „Schule“ als auch durch die Kritik seiner „Gegner“ zu Schärfungen und Profilierungen in der Theoriebildung wie in den materialdogmatischen Explikationen führt,3 ohne dass dabei die Erstauflagen in ihrer Bedeutung negiert würden. Aus diesem Grund werden in der vorliegenden Arbeit alle Auflagen der Ritschl’schen Hauptwerke gleichberechtigt als verschiedene Fokussierungen seiner Theologie in dieser Dynamik behandelt werden, ohne dass einer der Primat zukäme.4 1 Ritschl selbst war enttäuscht, dass meistens nur RuV III gelesen wurde, weil RuV II und III eigentlich als ein Band publiziert werden sollten (vgl. Slenczka, Glaube, 128; Chalamet, Reassessing, 632; bei Ritschl: O. Ritschl, ARL II, 165). 2 RuV I: 11874; 21882; 31889; RuV II: 11874; 21882; 31889, RuV III: 11874; 21883; 31888. 3 Wilhelm Bornemann, der erst bei Ritschl und dann bei Harnack studierte, schreibt, dass die am Unterricht gemachten Einwände der Studierenden einer Ritschl-Übung bei Harnack dazu geführt hätten, dass „Ritschl den Paragraphen über die christliche Zukunftshoffnung auf Grund unserer Einwendungen in der nächsten Auflage umgestaltet“ hätte (vgl. Wilhelm Bornemann, Aus Wilhelm Bornemanns Erinnerungen an seine Studienzeit in Göttingen und Gießen, zusammengestellt von Joachim Weinhard, in: Ritschl/Harnack, Briefwechsel, Anhang 4, 467–482, hier: 473). 4 Das geschieht in Abgrenzung zu z. B. Cajus Fabricius, der davon ausgeht, dass die Erstauflagen die eigentliche Ritschl’sche Theologie darstellen, die weiteren Auflagen diese hingegen verfälscht hätten (vgl. Cajus Fabricius, Die Entwicklung in Albrecht Ritschls Theologie von 1874 bis 1889 nach den verschiedenen Auflagen seiner Hauptwerke dargestellt und beurteilt, Tübingen 1909, 136). Im Materialbestand der Sammlung der Abweichungen wird trotz dieser teilweise problematischen Interpretationen maßgeblich auf Fabricius zurückgegriffen. Zachhuber stellt heraus, dass es im Wesentlichen zwei Betrachtungsweise in der Ritschl-Interpretation gibt: Die erste Linie geht davon aus, dass Ritschl erst ein kohärentes System geschaffen habe und diese Kohärenz in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern und Schülern aufgegeben habe; diese Linie bevorzuge die ersten Auflagen. Die zweite Linie nimmt an, dass Ritschl seine Theologie beständig weiterentwickle; diese Linie bevor-
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Die Erstauflagen von RuV und UcR als diejenigen Hauptwerke der Ritschl’schen Theologie, die diese einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen, entstehen in einem relativ knappen Zeitraum (1874 RuV II und III; 1875 der UcR). Das evoziert in der Rezeption oft die Annahme, dass Ritschls Werk maßgeblich durch die Kaiserzeit und das wilhelminische Bürgertum beeinflusst sei, meistens im Modus des schon bei K. Barth beobachtbaren Vorwurfs, Ritschl habe keinen Platz für zeitgeschichtliche Unruhe.5 Die Frage nach der kontextuellen Verortung des Ritschl’schen Werkes gestaltet sich jedoch komplexer: Mit Zachhuber kann davon ausgegangen werden, dass Ritschls Theologie sich schon in den 1850ern und 1860ern konstituierte, wenn sie auch erst in den 1870ern zur Ausformulierung gelangt sei.6 Dementsprechend sind die revolutionären Ereignisse und das Scheitern der Demokratiebewegung von 1848, das Ritschl in Bonn eng mitverfolgt hat, sowie die deutsch-französischen Kriege und die Entwicklungen hin zu 1871 als Kontexte seiner Theologie relevant, sodass Ritschl verschiedene Situativitäten, die „Unruhe“ im Sinne K. Barths in der Revolution wie die Ruhe des Bürgertums, in den Blick nehmen kann.7 Ritschl selbst empfindet seine eigene Zeit als schnell und unüberschaubar und spiegelt darin die allmählich allgemein um sich greifende Kulturkrise des späteren 19. Jahrhunderts wider.8 zuge die späteren Auflagen (Zachhuber, Idealismus, 286f.). Demgegenüber wird im Folgenden im Sinne der zweiten Linie zwar von einer Weiterentwicklung ausgegangen, aber so, dass es keine grundlegende Systemumstellung ist, die Ritschl vornimmt, sondern dass es sich um unterschiedliche Akzentuierungen handelt. 5 Barth, KD I/2, 882; Ders., Theologie, 567; vgl. Kapitel 2.1.2. 6 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 286f. 7 Timm nimmt an, dass Ritschl den politischen Bruch von 1848 und die Entstehung des deutschen Nationalstaates positiv aufnahm und kritisch begleitete (vgl. Timm, Theorie, 86, vgl. auch 80–82). Ritschl war stark von den Ereignissen von 1848 beeindruckt. So war er nach eigener Auskunft „Hauptredner“ auf den Versammlungen des „constitutionellen Vereins“ der Konservativen in Bonn und wohnte einigen Verhandlungen des Parlaments in Frankfurt bei (vgl. O. Ritschl, ARL I, 143). Er zog sich jedoch relativ bald enttäuscht aus der politischen Tätigkeit zurück und berichtete 1849 seinem Vater: „So sehr ich mir es abgewöhnt habe, über Sachen, wie die jetzige preußische Politik, mich zu ärgern oder zu ängstigen, so hat mich dieselbe doch in tiefe Niedergeschlagenheit versetzt und innerlich gelähmt“ (zitiert bei O. Ritschl, ARL I, 149). Auf die Ereignisse von 1871 blickt er weitaus distanzierter, so wenn er am 01.02.1871 an Diestel schreibt: „Es ist doch ein Unterschied zwischen der Jugend und dem Mittelalter in der Art und Zustimmung, in der eine so gewaltige Zeit durchlebt wird, und die reine, ungetrübte Freude wird unsereins immer erst in dem geschichtlich geordneten Rückblick auf die durchlebte Epoche finden“ (O. Ritschl, ARL II, 103f.). 8 Das zeigt sich in einem Brief an Liliencron vom 14.02.1871: „Die Ereignisse der Gegenwart sind so umfangreich, daß ich davon absehe, sie auf diesem Blatte zu besprechen. Man hat ja kaum die Elasticität der Empfindung gehabt, ihrem raschen Gange zu folgen und das Gewicht jeder einzelnen Thatsache sich genügen einzuprägen“ (zitiert bei O. Ritschl, ARL II, 104).
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Ritschl entwickelt seine Theologie in seinen zeitgeschichtlichen und biographischen Bezügen in einer Suchbewegung, die auch mit der Vorlage des Hauptwerkes nicht abgeschlossen ist. Darin liegt eine Stärke und keine Schwäche der Ritschl’schen Theologie, insofern sich daran zeigt, wie ein theologisches System auf Anfragen reagieren und die Dynamik der Situativität aufnehmen kann. Diese Suchbewegung liegt auch darin begründet, dass Ritschls Fachzuordnung zur Dogmatik seit der Bonner Professur 1856 von seinen exegetischen („Das Evangelium des Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas“ 1846/479, „Über den gegenwärtigen Stand der Kritik der synoptischen Evangelien“ 1847 10 ) und kirchen- bzw. dogmengeschichtlichen Anfängen („Die Entstehung der altkatholischen Kirchen“ 185011) geprägt bleibt. Ritschl nähert sich seiner Theoriebildung über die Frage an, welche Themen lebensund zeitgeschichtliche Relevanz für die Theologie haben könnten und führt das in einer großen Breite von Fach- und Themengebieten aus: Der Startpunkt seiner Bonner Antrittsvorlesung von 1856 ist mit „De ira Dei“ der Versuch, über die Figur des Zornes Gottes Verbindungspunkte von Dogmatik und Ethik aufzuzeigen.12 Die Gotteslehre ist auch Gegenstand der „Geschichtliche[n] Studien zur christlichen Lehre von Gott“ in den Jahrbüchern für deutsche Theologie 1865–1868,13 in der er zeigt, wie das formale Prinzip der Absolutheit Gottes dogmengeschichtlich mit materialen Gehalten gefüllt wurde, um Bezugnahmen zu ermöglichen. Zwischen beiden Veröffentlichungen liegen einerseits eine Reihe von Schriften zum Kirchenverständnis im Rahmen der preußischen Unionsbestrebungen,14 deren wichtigste „Über die Begriffe der sichtbaren und unsichtbaren Kirche“ (1861)15 ist, in der Ritschl sein späteres Verständnis von
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Albrecht Ritschl, Das Evangelium des Marcions und das kanonische Evangelium des Lucas. Eine kritische Untersuchung, Tübingen 1846; sowie: Albrecht Ritschl, Das Verhältnis der Schriften des Lucas zu der Zeit ihrer Entstehung, in: ThJb 6 (1847), 293–304. 10 Albrecht Ritschl, Über den gegenwärtigen Stand der Kritik der synoptischen Evangelien, in: ThJb 10 (1851), 480–538. 11 Albrecht Ritschl, Die Entstehung der altkatholischen Kirchen. Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Monographie, Bonn 1850 (21857). 12 Albrecht Ritschl, Commentario De Ira Dei, Bonn 1859. 13 Albrecht Ritschl, Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott. Erster Artikel, in: JDTh 10 (1865), 277–318; Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott. Zweiter Artikel, in: JDTh 13 (1868), 67–133; Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott. Dritter Artikel, in: JDTh 13 (1868), 251–302. 14 Ritschl, Hengstenberg; Ders., Über das Verhältnis der Bekenntnisse zur Kirche. Ein Votum gegen die neulutherischen Doctrinen, Bonn 1854; Ders., Die Begründung des Kirchenrechts im evangelischen Begriff von der Kirche, in: ZKR 8 (1869), 220–279; Ders., Ueber die beiden Principien des Protestantismus (1876), in: Ritschl, Gesammelte Aufsätze, 234–247. 15 Albrecht Ritschl, Ueber die Begriffe: sichtbare und unsichtbare Kirche (1859), in: ThStKr 34 (1861), 429–459.
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Gemeinde – allerdings noch anhand des Kirchenbegriffes – andenkt. Andererseits befasst sich Ritschl mit dem Thema, das zum Prüfstein seiner Theologie wird, nämlich der christologischen Durchdringung von Kreuz und Opfer Jesu Christi, in den „Studien über die Begriffe von der Genugtuung und von dem Verdienste Christi“ (1860)16 und den „Aussagen über den Heilswert des Todes Jesu im Neuen Testament“ (1863)17. Bis zur Fertigstellung des dritten Bandes von RuV kommen dazu noch die „Vorlesungen zur Theologischen Ethik“18 sowie zwei anthropologische Bestimmungen in „Die Christliche Vollkommenheit“ (1874 als Vortrag, publiziert 1876) 19 und in „Über das Gewissen“ (1876) 20. Mit Ekklesiologie, Christologie und Anthropologie nimmt Ritschl drei Perspektiven in den Blick, die im Gefolge der durch Schleiermacher gegebenen Problemstellung in der Theologie zu verstehen sind (in diesem Zusammenhang steht auch Ritschls Aufsatz „Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche in Deutschland“ von 1874)21. Insgesamt trägt dieses Vorgehen, das sei hier als Vorbemerkung angemerkt, zur Hermetik des Ritschl’schen Werkes ebenso bei wie Ritschls Schreibstil: Ritschl schreibt äußerst dicht und um begriffliche Präzision bemüht, sodass eigentlich in jedem Satz das Ganze seiner Theologie enthalten ist. Das hat für die vorliegende Relecture die darstellungstechnische Konsequenz, dass an Scharnierstellen einzelne Zitate herausgegriffen und ausführlich analysiert werden, insofern sie als programmatisch für einen bestimmten Themenkomplex verstanden werden. Denn Ritschl denkt trotz seines teilweise hermetischen Stils mit einem Bewusstsein für aktuelle Diskurse und richtet seine Theologie auf die Relevanz für das Leben der Menschen hin aus. Das kann auch daran beobachtet werden, dass er mit dem UcR ein Werk vorlegt, das als Kommunikation seiner Theologie für die Öffentlichkeit, nämlich den gymnasialen
16 Albrecht Ritschl, Studien über die Begriffe von der Genugtuung und von dem Verdienste Christi, in: JDTh 5 (1860), 581–636. 17 Albrecht Ritschl, Die Aussagen über den Heilswerth des Todes Jesu im Neuen Testament, in: JDTh 8 (1863), 477–535. 18 Ritschl, VLE; ausführlich als Grundlage der weiteren Überlegungen Ritschls besonders im Hinblick auf das Reich Gottes untersucht bei Zachhuber, Idealismus, bes. 247. 19 Albrecht Ritschl, Die christliche Vollkommenheit (1874; 21889), in: Ders.: Kleine Schriften. Ausgewählt, eingeleitet und mit einer Bibliographie der Sekundärliteratur zu Albrecht Ritschl neu herausgegeben v. Frank Hofmann, (ThST 4) Waltrop 1999, 43–64 (nachfolgend: CV). 20 Albrecht Ritschl, Über das Gewissen. Ein Vortrag (1876). Nachdruck, hrsg. v. Klaus H. Fischer, Schutterwald/Baden 2008. 21 Albrecht Ritschl, Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche in Deutschland, Bonn 1874.
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Unterricht in der Oberstufe, konzipiert war.22 Der UcR wird ergänzend zu RuV dort herangezogen, wo Ritschl aufgrund der Darstellungsform zu knappen und präzisen Formulierungen seiner Theologie kommt. Ritschls Anliegen kann so verstanden werden, dass er um eine Theologie bemüht ist, die für die Lebenswirklichkeit des 19. Jahrhunderts anschlussfähig ist – und die damit natürlich selbst situativ und positionell ist. Die vorliegende Arbeit kann zur Analyse dieses Aspekts m. W. als erste Monographie zu Ritschl auf die vollständigen Editionen der Briefwechsel mit Herrmann (1875–1889, Edition 2013)23 und mit Harnack (1875–1889, Edition 2010)24 zurückgreifen, die besonders erhellend für Ritschls Plausibilisierungsstrategien seiner Theologie sowie für die Entdeckungszusammenhänge einiger innovativer Neuformulierungen sind. Die Rezeption ist damit nicht mehr auf die positionelle Deutung und Auswahl in der Biographie Otto Ritschls angewiesen, sondern kann über diese hinausgehend das Zusammenspiel von theoretischer und biographischer Argumentation aufzeigen. Daraus legitimiert sich keine psychologisierende Lesart der Theologie Ritschls, sondern es geht um die Anreicherung seines Persönlichkeitsbildes über das eines preußischen Beamten und schulbildenden Theologen hinaus als Teil der situativen Verortung seiner Theologie.25 22 Dass der UcR ob der Komplexität seines Systems so hermetisch bleibt, dass die Versuche von Ritschls Freunden (u. a. Wilhelm Herrmann), ihn mit Schülern zu lesen, abgebrochen werden mussten, widerspricht dieser Intention nicht. 23 Ritschl/Herrmann, Briefwechsel. 24 Ritschl/Harnack, Briefwechsel. 25 So gibt der Briefwechsel z. B. Hinweise darauf, so vorsichtig diese betrachtet werden müssen, dass für Ritschl die theologische Beschäftigung eine existentielle, abgründige Dimension hatte, so besonders in der – hochschulpolitisch und persönlich bedingten – Phase der Erschöpfung im Jahr 1885. Diese kann durch die Briefe an Harnack belegt werden, mit den eindrücklichen Passagen, in denen Ritschl im Brief vom 31.01.1885 darlegt: „die innere Einsamkeit, in die ich mehr und mehr gerathe, macht mir das Leben nicht werthvoller“ (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 393). Ritschl schreibt mit Harnack meistens recht distanziert, diese Passage gibt aber einen Einblick in die anscheinend sehr vertrauensvolle Art der Freundschaft zu Harnack, wenn Ritschl fortfährt: „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber machen Sie sich auch keine Gedanken darüber, daß ich das gegen Sie ausspreche. Ich habe hier keinen, und vielleicht auch anderswo nicht, dem ich das sagen kann“ (ebd.); sowie Harnacks emotional gefärbte Antwort in tröstender Absicht vom 02.02.1885, in der er darlegt, wie positiv Ritschl das Leben seiner Schüler geprägt habe: „Aber ich empfinde es auch immer wieder als eine schöne Pflicht für mich und alle die, deren persönliches Leben durch die Anregung, welche Sie gegeben haben, Inhalt und Freudigkeit empfangen hat, Ihnen das Leben leichter zu machen“ (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 395). Harnack deutet Ritschls Umgang mit seinem Lebensschicksal als „Probe der Geduld“ und unterstellt ihm – ohne dass ein abschließendes Urteil gefällt werden könnte, wie zutreffend diese Beurteilung ist – dass Ritschl gelernt habe, sich dem „Gefühl persönlicher Vereinsamung“ durch „rastlose Thätigkeit entgegenzustemmen“ (vgl. ebd.). Harnack scheint derart in Sorge um Ritschl gewesen zu sein, dass Ritschl sich sogar amüsiert zeigt über die „prompten Erwiderungen [auf
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Die Suchbewegung Ritschls wird hier so ausführlich dargestellt, weil sie wiederum auf das dynamische Strukturprinzip der Ritschl’schen Theologie verweist: In RuV durchdenkt Ritschl nicht nur die materialdogmatischen Gehalte für die individuelle situative Verfasstheit, sondern sieht diese immer schon in die Dynamik des funktionalen Bezugs der Gemeinde auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens eingebettet.
1. Der Standpunkt der Gemeinde 1. Der Standpunkt der Gemeinde
Dass für Ritschl der Standpunkt der Gemeinde die Grundlage jeglicher Theologie ist, ist in der Ritschlforschung fast schon ein Allgemeinplatz. 26 Auch wenn Ritschl diese Formulierung in RuV erst ab der dritten Auflage von 1888 gebraucht,27 zeigt sie sich schon 1875 in seiner eigenen hermeneutischen Leseanweisung im UcR: „Das Verständnis des Christentums wird nur dann dem Anspruch desselben auf Vollkommenheit gerecht werden, wenn es vom Standpunkt der christlichen Gemeinde aus unternommen wird.“28
Timm sieht schon in den Briefen von 1867/68 an Diestel und andere Freunde die Weichenstellungen für die Ritschl’sche Theologie gegeben, die in RuV und UcR ausgeführt würden:29 „Alle persönliche kirchliche Würde, aller gute Wille der Verfassung der Kirche auf Grundlage der Gemeinde ist indifferent, wo man der Idee der Gemeinde nicht ihre konstitutive Bedeutung für die gesamte Lehrauffassung verschaffen kann. […] Aber ehe dies nicht in die Predigt eingeführt wird, [...] und namentlich ehe es [das Bewusstsein für diesen Zusammenhang, KO] nicht in allen Festpredigten herrscht, ist mir der Gottesdienst verleidet.30 „Ich habe jetzt große Sicherheit in meinem theologischen Bewusstsein gegenüber allen Parteien, seitdem mir klar geworden, daß die Idee von der Versöhnung durch Christus und die Ritschls Briefe], zu welchen sich Ihre Lebhaftigkeit bewegen läßt“ (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 399). 26 So konstatiert Kuhlmann: „Für Ritschl ist mit der Gemeinde neben dem Ausgangspunkt auch der Gegenstand der Theologie gegeben“ (Kuhlmann, Ethik, 76). Slenczka führt für Ritschl aus: „[D]ie Gegenstände des Glaubensbekenntnisses [finden] ihren christlichen Sinn und ihre Bewährung nicht außerhalb der christlichen Gemeinde – und das heißt: nicht außerhalb der Erschließungssituation der Übernahme des Glaubens der Gemeinde“ (Slenczka, Glaube, 149). 27 Ritschl, RuV 3III, 5. 28 Ritschl, UcR, §3, 10. 29 Ritschl schreibe „in einer Diktion, die [...] noch die Aufregung seiner Entdeckung verrät“ (Timm, Theorie, 37). Dementsprechend kann m. E. davon ausgegangen werden, dass der „Standpunkt der Gemeinde“ seit diesem Zeitpunkt mindestens implizit leitend für Ritschls theologisches Vorgehen ist. 30 Aus einem Brief an Diestel, O. Ritschl, ARL II, 48f.; bei Timm, Theorie, 37ff.
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Idee von der erwählten Gemeinde in direktester Wechselwirkung stehen, daß namentlich jene nicht einmal richtig vorgestellt werden kann, außer dieser Beziehung.“31
Die grundlegende Frage ist nun, welche Konsequenzen eine Rezeption Ritschls aus dieser Bestimmung des Standpunktes der Gemeinde als Ausgangspunkt der Theologie ziehen kann. In der Forschung ist das im Wesentlichen eine geschichtsphilosophisch orientierte Rezeption der Ritschl’schen Theologie, die Ritschl als historistischen Denker verortet. Historismus meint dabei nicht nur die epochengeschichtliche Einordnung in den Diskurs um 1900, sondern die Haltung, dass man durch die Geschichte die Zukunft ablesen und eine Verbesserung der Gesellschaft erzielen kann.32 Die Konsequenzen für die Rezeption Ritschls unter dieser Annahme lassen sich exemplarisch mit Zachhuber zeigen.33 Zachhuber bestimmt die Ritschl’sche Denkbewegung als „Verständnis von Religion als historischer und insofern als praktischer“34. Für die vorliegende Arbeit wird jedoch die umgekehrte Denkrichtung angenommen: Die praktische Ausrichtung der Theologie bedingt die historische Perspektive, insofern diese den Kontext der Situativität bildet. Es wird somit der Versuch unternommen, Ritschl als Vorläufer einer existenzphilosophisch grundierten Theologie zu verstehen, die für Situativität und Kontextualität theologischer loci in religiöser Verkündigung anschlussfähig ist und exemplarisch aufzeigt, 31
O. Ritschl, ARL II, 50. Die Einordnung Ritschls als historistisch ist insofern treffend, als der Bezug auf die Situativität ein Interesse für deren Kontexte im Sinne eines Geschichtspositivismus impliziert. Während mit Historismus zunächst eine neutrale Beschreibung eines philosophischen Denksystems gemeint ist (vgl. Troeltsch, Historismus), wird Historismus im 19. Jahrhundert zunehmend wertend gebraucht: Der Historismus-Vorwurf wird im Sinne Feuerbachs meistens als Festhalten an Tradition und damit einhergehend als Geschichtskonservativismus einer rückwärtsgewandten Philosophie verstanden (G. Scholtz, Art. Historismus, Historizismus, in: HWPh 3 (1974), 1141–1147, hier: 1141). Historismus wird verstanden als historischer Positivismus, „als zur Stoffhuberei ausgewucherte Tatsachenforschung und –aufreihung, die alles und jedes Vergangene thematisieren kann, ohne nach Sinn und Beziehung zur Gegenwart zu fragen, die alles und jedes genetisch herleitet und so auch den Standpunkt des erkennenden Subjekts historisch relativiert“ (Scholtz, Historismus, 1142). Historismus ist seit Nietzsche eher abwertend als ein Synonym für Relativismus belegt, um die Kritik an einer unkritischen Aufnahme alles Historischen, die zu Relativität führt, zu profilieren (vgl. Scholtz, Historismus, 1146). Zum Historismus als Paradigma der modernen Geschichtswissenschaft vgl. Michael Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880–1920, Gütersloh 1990, 75–130. 33 Zu der Zentralstellung, die dem Geschichtsverständnis in einer Interpretation der Ritschl’schen Theologie zukommen kann, vgl. Zachhuber, Idealismus, 291f. Zachhuber beurteilt die Differenz zwischen der Betrachtung des Reiches Gottes als Endzweck bei Ritschl, die Zachhuber teleologisch als „universalhistorische[s] Geschichtsverständnis“ deutet, und eines auf „Individualität und Besonderheit abzielenden Geschichtsbegriffes“ (Zachhuber, Idealismus, 291) als die grundlegende Ambivalenz, die Ritschls Werk so durchziehe, dass an ihr die Kritik anzusetzen habe. 34 Zachhuber, Idealismus, 154 (Hervorhebung im Original). 32
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wie materialdogmatische Umformulierungen in dieser Perspektivierung geschehen können. Ritschl denkt die Existenz noch strikt im Rahmen subjekttheoretischer Überlegungen, die noch nicht vorausahnen, wie in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts das Eingebettetsein in die Situativität selbst zum Problem wird. Deswegen arbeitet sich Ritschl, trotz des in seiner Theologie angelegten Verweis auf Situativitäten, an Einheitsfiguren ab.35 Das zeigt sich z. B. dort, wo Ritschl für das Reich Gottes eine „übernatürliche Einheit, ohne dass die gegebene Vielfalt dadurch vernichtet würde“ 36, annimmt. Ritschl führt die „Gemeinde“ als solch ein Einheitsprinzip zur Erfüllung seines eigenen Anspruchs an eine systematische Theologie ein, dass sie nicht, wie andere Lehrweisen, eine „fragmentarische und in verschiedenartigen Ansätzen verlaufende Erkenntniß“37 befördere, sondern eine „Gesammtschau“ der Theologie ermögliche.38 Das könne nur geschehen, wenn sie ihren Erkenntnisausgang von einem einzigen Standpunkt aus nehme.39 Die Pointe liegt bei Ritschl darin, dass die multiperspektivisch gedachte „Gemeinde“ diese einheitsstiftende Figur ist und nicht z. B. die Metaphysik, die allgemeine vernünftige Erkenntnis bei Kant, das „Gefühl“ bei Schleiermacher oder die mystische Erfahrung.40 Deswegen wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein, dass das Einheitsprinzip auf den Bereich der theologischen Reflexion beschränkt ist, nicht jedoch auf eine allgemeine Welterklärung ausgedehnt werden kann. Ritschl
35 Dieser Bezug auf die einheitliche Zielperspektive erklärt dann auch den Vorwurf des Historizismus an Ritschl, wenn damit der abwertende Gebrauch gemeint ist, mit dem Ritschl ein metaphysisch einheitliches Geschichtsdenken vorgeworfen werden kann. Historizismus in diesem Sinne ist ein Sammelbegriff für diejenigen philosophischen Systeme, die ein im Gefolge Hegels stehendes, spekulatives Geschichtsdenken durchführen, das – wie prononciert auch immer – von einem einheitlichen Blick auf das Ganze der Geschichte ausgeht (vgl. Scholtz, Historismus, 1141). Die Begriffe Historismus und Historizismus sind in der Verwendung der deutschsprachigen Philosophie nicht klar voneinander zu unterscheiden (vgl. Scholtz, Historismus, 1146). 36 Ritschl, RuV 3III, 267; vgl. bei Zachhuber, Idealismus, 294, der hier die Differenzierung zwischen einer inneren und äußeren Teleologie der Ritschl’schen Theologie einführt. 37 Ritschl, RuV 3III, 5. 38 Ritschl, RuV 3III, 31. 39 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 5. 40 So geht es Ritschl, wie Zachhuber betont, nicht um die Entwicklung eines allgemeinen Religionsbegriffs, sondern eines christlichen Religionsbegriffs (vgl. Zachhuber 147; Ritschl RuV 3III, 187). Die Zustimmung zum Christentum als höchste Religion sei für Ritschl kein Widerspruch zur Wissenschaftlichkeit der Theologie, sondern eine religionsphilosophisch zu klärende Prämissenfrage (Zachhuber, Idealismus, 303). Deswegen besteht die „Notwendigkeit einer doppelten Propädeutik für die Theologie“ (Zachhuber, Idealismus, 172). Insofern Ritschl davon ausgehe, dass es keine Voraussetzungslosigkeit der Theologie gebe, ist es eine logische Folgerung, diese Voraussetzungen religionsphilosophisch reflektiert explizit zu machen (Zachhuber, Idealismus, 172).
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lehnt – das ist zu betonen – hier ausdrücklich nur die Fragmentarität und Vielfalt als erkenntnistheoretisches Prinzip ab, negiert hingegen nicht deren Realität in lebensweltlichen Vollzügen. An dieser Stelle muss eine wichtige begriffliche Anmerkung zur „Gemeinde“ vorgeschoben werden: Der Begriff der „Gemeinde“ ist bei Ritschl nicht mit einer konkreten Sozialform, wie der Kirche, oder einer theologischen Größe, wie dem Reich Gottes, zu verwechseln, sondern erfährt bei Ritschl eine semantische Verschiebung. Als Figur der theologischen Reflexion bleibt „Gemeinde“ selbst inhaltlich unbestimmt, um die abstrakte Bezugnahme auf Funktionalitäten anzuzeigen. Die Schwierigkeit der Ritschl-Rezeption liegt nun darin, dass Ritschl für dieses Abstraktum einen Begriff wählt, der semantisch bereits belegt ist, sodass das Missverständnis aufkommen kann, mit „Gemeinde“ sei z. B. eine Ortsgemeinde in landeskirchlicher Verfasstheit oder eine Brüdergemeine gemeint. Dann wäre eine einseitig historistische Lesart Ritschls angemessen. In den folgenden Kapiteln wird demgegenüber präziser bestimmt und ausgeführt, was die „Gemeinde“ für die Theologie Ritschls leistet: Sie verortet Ritschls Theologie in den philosophischen wie gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Fragestellungen seiner Zeit. Ritschls Wahl der Gemeinde als Ausgangspunkt einer Theologie mit Fokus auf der Praxis und sein funktionales Verständnis von Theologie bewegen sich im Rahmen der zeitgenössisch relevanten Fragestellungen: Denn Ritschl schreibt in einer Phase theoretischer Umstellung, in der das Nachdenken über Kollektive und deren Identität zwar schon beginnt, soziologische Methoden als Analysekategorien indes gerade erst im Entstehen begriffen sind.41 In der Kulturkrise werden die Entfaltungsmöglichkeiten des – bei Schleiermacher noch positiv konnotierten – bürgerlichen Individuums problematisiert, sodass die Reflexion über Intersubjektivität und Kollektivität eine neue Bedeutung gewinnt. 42 Ritschl versucht, im Rahmen dieser zeitgeschichtlichen Umstellungen und mit einem Konglomerat von unterschiedlichsten Reaktionen auf diese konfrontiert, zu legitimieren, warum der Standpunkt der Gemeinde als Ausgangspunkt der Theologie sowohl sachlogisch begründbar ist als auch innerhalb der reformatorischen Tradition verortet werden kann. Über die Gemeinde wird dann die Funktionalität als maßgebliche Kategorie theologischer Reflexion eingeführt, da bei Ritschl die Gemeinde in ihrer Gestalt als Kirche der Ort ist, an dem sich
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Dahingehend kann die Aussage Ritschls in §1 des UcR interpretiert werden, wenn er davon spricht, dass „die christliche Religion [...] in einer besonderen Gemeinde von Gläubigen und Gottesverehrern da ist“ (Ritschl, UcR, §1, 9 [kursiv durch KO]). Das Faktum der Existenz der Gemeinde ist der Anlass, sich überhaupt mit religiösen Vollzügen zu beschäftigen und diese theologisch zu reflektieren. 42 Vgl. Volker Drehsen/Walter Sparn, Die Moderne. Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: Dies. (Hrsg.), Vom Weltbild zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, 11–29.
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Wirkungen zeigen können. Schließlich kann Ritschl anhand der Gemeinde aufzeigen, wie eine kollektive Größe prinzipiell ihre Identität in Bezug auf ein afunktionales Narrativ, nämlich das Narrativ des Reiches Gottes, im Erzählen und Handeln ausbildet. 1.1. Die lebenspraktische Dogmatik des Pietismus Um Ritschls Legitimierungsstrategie seiner Theologie sowie seine Absicht zu erhellen, wird im Folgenden der Ausgangspunkt bei Ritschls ambivalentem Verhältnis zum Pietismus genommen. Ritschls Theologie in dieser Art auf das pietistische Umfeld seiner Zeit zurückzuführen, geschieht in der Rezeption höchst selten.43 Das liegt sicherlich auch an Ritschls eigener Inszenierung seines Verhältnisses zu pietistischer Theologie wie pietistisch-erwecklicher Literatur, so z. B. die vielerorts aufgenommene Anekdote „Die Herrmannsburger beten wieder für mich“44: Der Pietismus erfährt durch Ritschl immer wieder eine harte und scharfe Kritik, da er diesen als Grund für die schwindende Bedeutung der Kirche in seiner Zeit sieht, insofern pietistisch gefärbte Theologie zu sehr auf dogmatische Richtigkeiten oder eine unreflektierte Christus- und Leidensmystik hinauslaufe. Ein Beispiel für den sarkastischen wie abwertenden Tonfall, mit dem Ritschl den Pietismus – stellenweise – analysiert, ist das Kapitel zur „Jesusliebe in Poesie und Prosa“ im zweiten Band seiner dreibändigen „Geschichte des Pietismus“.45 Diese Literaturform versteht Ritschl als eine Übersteigerung der praktischen Ausrichtung der pietistischen Theologie, insofern sie im Verzicht auf theologische Reflexion zu „unbeschreiblichen Bildern“ wie „süßlicher Redeweise“ 46 führe. Ritschl gibt über mehr als zwei Seiten eine unkommentierte Titelauswahl, die in Unterstützung seiner These für sich selbst sprechen soll und besonders die erotisierte Metaphorik des Vereinigungsgedankens aufzeigt, mit Titeln wie „Brustbild der Liebe Christi“, „Himmlischer Liebeskuß“, „Jesum liebender Seelen Herzens-Zufriedenheit“.47 43 Bernhard Steffen führt 1910, allerdings stark positionell, den Rückgriff Ritschls auf den pietistisch-lutherischen Erweckungsprediger Johann von Hofmann aus (vgl. Bernhard Steffen, Hofmanns und Ritschls Lehren über die Heilsbedeutung des Todes Jesu, [Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 14] Gütersloh 1910, im Rückgriff auf eine der wenigen französischen Arbeiten zu Ritschl: Henri Schoen, Les origines historique de la théologie de Ritschl, Paris 1893, 131); Zachhuber im Verweis auf Ritschls Anleihen bei Coccejus (Zachhuber, Idealismus, 248). 44 Kolportiert in O. Ritschl, ARL II, 404. 45 Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus in der reformierten Kirche, Bonn 1880 (nachfolgend: GdP I); Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Erste Abteilung, Bonn 1884 (nachfolgend: GdP II.1); Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Zweite Abteilung, Bonn 1886 (nachfolgend: GdP II.2). 46 Ritschl, GdP II.1, 84. 47 Vgl. Ritschl, GdP II.1, 84–86.
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Ritschl kritisiert explizit, dass diese Bilder keinen Raum für innovative und lebensrelevante Bezugnahmen eröffneten, sondern die Erbauungsschriftsteller (wie auch Leser) einengen würden.48 Möglicherweise ist aus diesem Hintergrund Ritschls eigenes Bemühen um eine begrifflich präzise Sprache zu erklären: Wenn er als Poetik diese Sprachspiele vor Augen hat, dann ist seine Bevorzugung eines distanzierten Beamtendeutschs wenig überraschend. Im Anschluss an Zachhuber ist Ritschls Verhältnis zum Pietismus jedoch deutlich ambivalenter zu bestimmen und die Auseinandersetzung mit den Vorgaben pietistischer Frömmigkeit strukturbildend für seine Theologie. Das kann zunächst aufgrund der dreibändigen „Geschichte des Pietismus“ (1880–1886) vermutet werden, die er sich im wahrsten Sinne abringt, wie in Briefen an Herrmann und Harnack belegt ist.49 Ritschl nimmt eine Deutung des Pietismus in einer Mischung aus dogmengeschichtlichem Überblick, theologischen Biographien und systematischer Interpretation vor. Seine Absicht ist es, damit zur Erhellung eines derjenigen Phänomene beizutragen, das die kirchliche Landschaft seiner Zeit maßgeblich prägt, indem er dessen Genese aufzeigt.50 Ebenso hat Ritschl beständig den Kontakt zu seinem Hallenser Lehrer August Tholuck gehalten und schätzte diesen auf persönlicher Ebene sowie immer wieder in einzelnen theologischen Haltungen.51 Mit der Studienzeit in Halle und der GdP gibt es eine pietistische Klammer um Ritschls Werk, die mehr als eine theologische Frontstellung und einflussreich für die Konstitution der Ritschl’schen Theologie selbst ist: Aus dem Pietismus nimmt er die Frage nach den Formen auf, in denen sich persönliche Frömmigkeit und Lebensführung ausdrücken können, und zwar so, dass sie vor dem Hintergrund des religionsphilosophischen Forschungsstandes seiner Zeit gedacht werden können. Es kann zudem, Zachhuber aufnehmend, vermutet werden, dass Ritschl den Begriff des Reiches Gottes zumindest unter Bezugnahme auf den niederländischen Pietisten Johannes Coccejus entwickelt.52 So ist Coccejus für Ritschl seiner Bedeutung nach „in der ersten Reihe“ nach den Reformatoren zu nennen, 48
Ritschl, GdP II.1, 87. Vgl. besonders den Brief an Harnack vom 14.11.1881: „Ich bin seit 8 Tagen wieder beim Pietismus. Welche Masse von Stoff werde ich noch durchackern müssen!“ (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 309). 50 Es ist auffallend, dass Ritschl in GdP II.2 (1886) schreibt, dass er den Pietismus im 19. Jahrhundert nicht angehen werde, „weil der Verlauf der Richtung [...] in diesem Jahrhundert noch nicht sein Ende erreicht“ (GdP II.2, V) habe, eine historische Betrachtung ihm also unmöglich wäre. 51 Vgl. O. Ritschl, ARL I, 49f.; sowie O. Ritschl, ARL II, 37. 269. 273. 294. 52 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 248. Außer den von Zachhuber angeführten Belegen kann auch noch der Brief an Harnack vom 02.05.1878 genannt werden, in dem Ritschl nun Coccejus zuschreibt, was er vorher aus Alfred Krauß gewonnen hatte, nämlich die Ersetzung der ecclesia durch das regnum dei (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 185). Zudem identifiziert sich Ritschl in der ihm begegnenden Ablehnung seiner Theologie mit Coccejus (vgl. Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 160, Fn 12; aber auch die Äußerung im Brief an Harnack 49
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wegen seiner „eigenthümlichen Erweiterung des praktischen Gesichtskreises“53 auf das Reich Gottes hin. Coccejus’ Stärke liege, so Ritschl, darin, zu betonen, „daß das Christenthum nicht blos Lehre, sondern auch Leben sei“54. In der gleichen Art hebt Ritschl an Johann Arndt hervor, dass dieser kein Lehrsystem entwickeln wolle, sondern sich in seinen dogmatischen Überlegungen „nur auf das christliche Leben“55 beziehe. In diesem Sinne leitet Ritschl die maßgeblichen, auf Funktionalität ausgerichteten Bestimmungen seiner Anthropologie, nämlich Vorsehungsglaube, Demut, Geduld und Gebet aus seiner Lektüre von Arndt ab. Die Beurteilung von Coccejus und Arndt ist ein Schlüssel für das Verhältnis Ritschls zum Pietismus wie für Ritschls eigene Absicht im theologischen Vorgehen: Coccejus und Arndt beabsichtigen gemäß Ritschls Verständnis mit ihrer Theologie genau das, was auch Ritschls Zielperspektive ist, nämlich eine auf Praxis und Lebensrelevanz ausgerichtete Dogmatik, im Unterschied z. B. zu einer spekulativen oder nur historisch bleibenden theologischen Reflexion. Ritschls Kritik an beiden bezieht sich dementsprechend nicht auf ihre theologische Haltung, die er teilt, sondern rein auf ihr methodologisches Vorgehen: Coccejus’ Problem sei die fehlende Präzision in der theologischen Reflexion,56 Arndts Problem sei die fehlende Reflexion der Modi innerlicher Frömmigkeit, die zu einer unangemessenen braut- und leidensmystischen Ausformulierung in der Christologie führe.57 Damit ziehe sich – entge-
vom 03.04.1878: „Bei der Ueberlegung des Streites zwischen Voetianern und Coccejanern ist mir eine gewisse Ähnlichkeit des Verlaufes mit demjenigen aufgefallen, was ich jetzt zu erfahren habe“ [Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 180]). 53 Ritschl, GdP I, 137. 54 Ritschl, GdP I, 131. 55 Ritschl, GdP II.1, 37; die kosmologische Betrachtung ergebe sich erst im vierten Buch als Folge aus dem „christlichen Leben“ (GdP II.1, 37). Interessant ist, dass Ritschl Arndt und seine Art der Darstellung ausdrücklich gegen die Kritik von Osiander verteidigt, da dieser nicht verstanden hätte, „daß Arndt’s Entwurf des praktischen Christenthums Gesichtspunkte befolgen durfte, welche in der theoretischen Theologie nicht vorkommen“ (GdP II.1, 39). In dieselbe Richtung geht auch Ritschls Kritik an Arndt, dass dieser die Lehre von der Rechtfertigung eben nicht auf gleiche Weise für das praktische Glaubensleben fruchtbar machen könne (GdP II.1, 40f.); gerade auch, weil er Arndt nach dem Durchgang durch die vier Bücher vom „Wahren Christentum“ (Johann Arndt, Vier Bücher von wahrem Christenthumb, Bd. 1–4, Magdeburg 1610; ab 1695 veröffentlicht als: Johann Arndt, Sechs Bücher vom wahren Christenthum nebst dessen Paradies-Gärtlein, Stuttgart 31835) dahingehend kritisiert, dass es nicht klar zu entscheiden sei, „ob Arndt [...] vorbehalten hat, daß diese inneren Erscheinungen nur entfernte Wirkungen der öffentlichen Predigt sind“ (GdP II.1, 50). 56 Coccejus verkenne als Exeget den normativen Aspekt jeglicher Religion (vgl. GdP I, 131). 57 Ritschl, GdP II.1, 42; ebenso als Kritik am gesamten 17. Jahrhundert, vgl. GdP II.1, 89. Das gelte im Pietismus besonders für die Erkenntnis der eigenen „Nichtigkeit“, die sich aus „der contemplativen Selbstbeurtheilung und Selbstbearbeitung“ (GdP II.1, 45) ergebe und aus einer im mittelalterlichen Sinne verstandenen Erbsündenlehre resultiere (die gerade
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gen der eigentlichen Intention von Arndt und Coccejus – ein spekulatives Element in die Theologie ein, das nicht mehr auf die Praxis ausgerichtet sei und damit in Nähe zur historisch-kritischen Betrachtung der Leben-Jesu-Forschung stehe: „In beiden Fällen ist er [Jesus Christus] isoliert von der an ihn glaubenden Gemeinde und entkleidet der Herrschaft über die Welt, die ihm zukommt“58. Im Wesentlichen kritisiert Ritschl an Arndt und Coccejus, dass sie nicht zu denselben theologischen Konsequenzen wie er kommen, obwohl das in ihrer Theologie angelegt wäre. Diese Beurteilung zeigt sich programmatisch in Ritschls – im Tonfall zwischen bissig und lakonisch schwankender – abschließender Kommentierung von Arndts Ausführungen zu den religiösen Tugenden in den „Büchern vom wahren Christentum“: „Was hier über Geduld, Demuth und Hoffnung, über Vorsehungsglaube und Gebet vorgetragen wird, bildet den werthvollen und mustergiltigen Kern des Werkes. Für die praktische Erwägung dieser Wahrheiten kommt es ja auf die methodischen Grundlagen derselben weniger an.“59
Die funktional-praktische Ausrichtung des Pietismus nimmt Ritschl affirmativ auf und kritisiert nur die methodologische Grundierung sowie die Übersteigerung hin zur Leidensmystik.60 Der Pietismus unterlaufe das in ihm angelegte, mit Ritschls eigener Theologie kompatible Potential durch eine Bezugnahme auf die traditionellen Gehalte, die auf eine dogmatistische Verengung hinauslaufe. Ritschl kann so verstanden werden, dass er mit derselben Ausrichtung Theologie betreiben will wie der Pietismus, diese Engführung hingegen vermeiden möchte. 1.2. Subjekt und Gemeinde in der Klassischen Deutschen Philosophie Was Ritschl selbst unternimmt, kann als eine Art Überbietung des Pietismus verstanden werden, da er mit dem religionsphilosophischen Forschungsstand seiner Zeit einen freien Umgang mit der Materialdogmatik pflegen kann, der die Möglichkeiten der lebenspraktischen Ausrichtung der Dogmatik nicht auf die Innerlichkeit reduziert, sondern das Verhältnis von Subjekt und Kollektiv ernst nimmt. Ritschl kann zur Entfaltung des Verhältnisses von Subjekt und Kollektiv i. W. auf drei Referenzen zurückgreifen: Erstens kann er – wie Neugebauer nachgewiesen hat – auf einen über seinen Göttinger Kollegen Lotze
nicht das augustinisch-lutherische Verständnis sei, das Schuld wie Fehlerhaftigkeit des Menschen umschließe). 58 Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 211. 59 Ritschl, GdP II.1, 52. 60 Verständnis zeigt Ritschl für diese Tendenz nur insofern, als er sie als Abwehrbewegung zu einem „Uebergewicht der objectiv-dogmatischen Interessen“ sieht, die das wahre Luthertum verdunkelten (Ritschl, GdP II.1, 60).
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vermittelten Neukantianismus zurückgreifen,61 aus dem er in religiöser Perspektive produktiv die Gottesidee als praktischen Glauben gewinnt.62 Kant ist neben Coccejus die zweite Referenz für den spezifisch Ritschl’schen Gebrauch des Reiches Gottes, nämlich als Idee des höchsten Gutes, welche – bei Kant – Menschen so ausrichte, dass sie sich in ihren Handlungen auf dieses beziehen.63 Im Sinne der Postulatenlehre Kants müssten dann alle anderen Konzepte ebenso auf dieses „höchste Gut“ bezogen sein.64 Damit gewinnt Ritschl von Kant die theoretische Begründungsfigur, die es ihm erlaubt, sämtliche materialdogmatischen loci unter der Prämisse des Reiches Gottes als Teil der praktischen Vernunft zu durchdenken.65 Ritschls Überbietung von Kant liegt nun zweitens in der Kombination mit Schleiermacher:66 Diese hat – wie Alexander Heit ausführt – zur Konsequenz, dass Ritschl sich entscheidend dort von Kant absetzt, wo er Sittlichkeit nicht aus überhistorischen Vernunftbezügen, sondern nur in Bezug auf das „in einer Religionsgemeinschaft positiv auftretende Begriffssystem“ 67 ableiten kann. Zachhuber weist darauf hin, dass Ritschl in seiner Schleiermacher-Rezeption diesem das Verdienst zuspricht, als erster die Bestimmung des Wesens der
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Auch wenn Ritschl sicherlich nicht im engen Sinne zu den Neukantianern als Schulbezeichnung gerechnet werden kann, ist er durch den Neukantianismus beeinflusst. Es kann jedoch mit Wrzecionko festgehalten werden, dass sich die Ritschl’sche Theologie und der Neukantianismus nebeneinander entfalten (vgl. Wrzecionko, Wurzeln, 18). 62 Vgl. Neugebauer, Lotze, bes. 225–229; bei Kant: AA, 124–132. 63 Bei Kant leitet sich die Institution der Kirche (nicht der Gemeinde im Ritschl’schen Sinne) aus der Notwendigkeit ab, dass sich die Vernunftreligion, wenn sie als öffentliche Religion erscheint, eine Gestalt gebe: Diese sei die Kirche in ihren institutionellen Bezügen. Für Menschen übersteige aber die Stiftung der Kirche als Gestalt der Vernunftreligion eigentlich ihre Möglichkeiten, weswegen diese als Gottes Stiftung unter dem Begriff des „Reiches Gottes“ postuliert werden müsse (AA, 100–102). 64 Es ist bezeichnend, dass Ritschl den Aspekt der „Glückseligkeit“, der bei Kant konstitutiv zum „Höchsten Gut“ gehört (und Grundlage der Begründung der Postulatenlehre ist), nicht explizit aufnimmt (bei Kant: AA, 110–113). 65 Die Aussage der ersten Auflage „Diese Annahme der Gottesidee ist kein praktischer Glaube, sondern ein Akt theoretischer Erkenntnis“ (Ritschl, RuV 1III, 1874, 192) ändert sich hin zu „Diese Annahme der Gottesidee ist, wie Kant bemerkt, praktischer Glaube, und nicht ein Akt theoretischer Erkenntnis.“ (Ritschl, RuV 3III, 1888, 214.) Korsch versteht dies als Verschiebung des Gehaltes theologischer Reflexion von der objektiven, wissenschaftlichen Gültigkeit in der ersten Auflage hin zu der „für den Gottesgedanken defizitären Wahrnehmungsweise gegenständlicher Sachverhalte, der gegenüber der praktische Ausgangspunkt beim Selbstinteresse des Subjekts die einzig zum Ziel führende Möglichkeit darstellt“ (Korsch, Glaubensgewißheit, 49). 66 Vgl. Johannes Zachhuber, Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Theologie des 19. Jahrhunderts, in: ZNThG/JHMTh 12 (2005), 16–46, hier: 25–27. 67 Heit, Vernunft, 247.
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christlichen Religion durch die Verortung in der allgemeinen Religionsgeschichte als Profilierung des Begriffes des Reiches Gottes erfasst zu haben.68 Zachhuber führt aus, dass sich Ritschl trotz der reichlich vorhandenen Polemik nicht von Schleiermacher abkehre, sondern gerade eine neue Schleiermacherdeutung in Kontrast zu dessen Schülern (den Vermittlungstheologen) suche, die diesem umso mehr gerecht werde.69 Ritschl stimme Schleiermacher darin zu, dass dieser die Methodologie der Theologie richtig erfasst habe, weil er „der Theologie die richtige Ausgangsfrage in der Religionsproblematik gestellt habe“70. Mit Zachhuber kann Ritschls Kritik an Schleiermacher so verstanden werden, dass diesem die Positionalität seines eigenen Religionsverständnisses entgeht.71 Ritschl erweitert seine Kritik an Schleiermacher, die hauptsächlich auf der Lektüre von „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799) aufbaut, dahingehend, dass Schleiermacher den bei ihm angelegten Gemeinschaftsgedanken nicht produktiv genug weiterentfalten würde, sondern über den Gefühlsbegriff auf ein innerlich gedachtes Subjekt als Gegenstand theologischer Reflexion fokussieren würde.72 Die Pointe liegt darin, dass Ritschl sich an einer positionellen Schleiermacherdeutung versucht, insofern er dessen subjektivistischen Religionsbegriff in Wechselwirkung mit dem Begriff der Gemeinschaft bedenkt, in der das Individuum seine Entwicklung findet. 73 Für die Theologie müsse deshalb die Beschäftigung mit dem
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Vgl. Zachhuber, Schleiermacher, 22f. Zachhuber, Schleiermacher 22–24; vgl. ebenso Falk Wagner, Das Problem der natürlichen Theologie bei Albrecht Ritschl, in: Ringleben, Reich, 1–22. 70 Zachhuber, Schleiermacher, 25. 71 Zachhuber, Idealismus, 149; bei Ritschl, Reden, 8. Damit ist angedeutet, dass Ritschl von einer Ablehnung der natürlichen Religionserkenntnis und, im Gefolge Schleiermachers, der Bestimmung über positive bzw. historische Religionen ausgehen muss (expliziert in Ritschl, RuV 3III, 9), gerade weil die „Hauptmerkmale“ einer Religion nur in ihrer konkreten und situativen Einbettung zu finden seien. Zachhuber führt aus, dass die zeitgeschichtlich bedingte Konzeption dieser historischen Religionen als Stufenabfolge zu der Situation führt, dass man Ritschl einerseits offenbarungstheologisch lesen könne: Dann nämlich, wenn man ihm folge, dass das Christentum die höchste Religion sei und als „allgemeine Religion der Menschheit“ (Ritschl, RuV 1III, 11) gelten müsse (Zachhuber, Idealismus, 146–149). Wenn man aber, im Anschluss an Zachhuber, andererseits ernst nimmt, dass dies bei Ritschl eine Aussage ist, die die Theologie schon vom Standpunkt der Gemeinde (und d. h. einer positiven, historischen Religion) formuliert, dann ist ersichtlich, warum es kein Widerspruch ist, dass Ritschl dennoch die Einbettung der Theologie in eine allgemeine Religionsgeschichte fordert (Ritschl, RuV 3III, 188). 72 Vgl. Korsch, Glaubensgewißheit, 18. Gleichzeitig könne nach Ritschl die Religion nur aus den empirisch gegebenen Subjekten, die eben in der Kirche nicht anders denn als Gemeinschaft existierten, gegeben werden, weswegen Ritschl zirkulär und empirisch vorgehen müsse. Korsch geht davon aus, dass Ritschl hier die Abwesenheit eines für das Subjekt notwendigen Einheitsgedankens kritisiert (vgl. Korsch, Glaubensgewißheit, 18). 73 Vgl. Zachhuber, Schleiermacher, 26f., bei Ritschl, RuV 2I, 487f. 69
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Handeln solch einer Gemeinschaft grundlegend sein.74 Ritschl kann es deshalb auch als Fehler der „Ethik“ Schleiermachers darstellen, dass dieser – aufgrund der Trennung von höchstem Gut, Tugend und Pflicht – zwischen wirksamem und darstellendem Handeln unterscheiden müsse, obwohl diese im Begriff des Willens zusammenfallen würden: Schleiermachers methodischer Fehler sei, die dialektischen Begriffe (Gesinnung und Fertigkeit; Gemeinschaftbilden und Aneignen) in der Analyse zu trennen, womit er der Gemeinde nicht gerecht werde, da diese Dialektik im Handeln als Einheit empfunden würden.75 Die kritische Aufnahme der Theologie Schleiermachers besonders in Abgrenzung zu dessen Schülerschaft dient Ritschl als Legitimation für sein Vorgehen, Theologie vom Standpunkt der Gemeinde aus zu betreiben: Lebensrelevanz und praktische Ausrichtung könnten im Rahmen einer kritischen Schleiermacherlektüre nicht alleine über innerliche Frömmigkeit, Ästhetik oder Moralität plausibilisiert werden, das wäre – laut Ritschl – eine Missdeutung Schleiermachers. 76 Eine produktivere Aufnahme von Schleiermacher liegt für Ritschl demgegenüber in der Plausibilisierung einer auf die Praxis ausgerichteten Theologie über die Wirkung religiöser Begriffe am Ort einer historisch-positiv zu bestimmenden Gemeinschaft.77 Diese Fokussierung einer historischen Gemeinschaft verortet Ritschl drittens in den geschichtsphilosophischen Diskursen seiner Zeit, die sich in der Hegel-Rezeption ergeben. Laut Zachhuber und Wittekind ist Ritschls eigener Entdeckungszusammenhang der Gemeinde als Standpunkt der Theologie die Auseinandersetzung mit der Hegel-Rezeption der Baur-Schule.78 Ritschl entwickelt den Gedanken der Gemeinde in Bezug auf den folgenden Geistbegriff
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Vgl. Ritschl, Reden, 11; vgl. Zachhuber, Schleiermacher, 27f. Das entspricht aktuellen Schleiermacherrezeptionen, die auf die gemeinschaftliche Dimension in Schleiermachers Werk abzielen, vgl. Matthew R. Robinson, Redeeming Relationship, Relationships that Redeem. Free Sociability and the Completion of Humanity in the Thought of Friedrich Schleiermacher, (RPT 99) Tübingen 2018. 75 Vgl. Ritschl, VLE, 21–26. 76 Zachhuber führt aus, wie Ritschl diesen Gedanken aus Schleiermacher gewinnt: „Zusammenfassend hier zunächst in drei Punkten der Kern von Ritschls Akzeptanz Schleiermacherschen Denkens. Ritschl stimmt Schleiermacher pointiert zu, insofern dieser den theologischen Zentralbegriff des Reiches Gottes identifiziert mit dem Telosbegriff einer Güterethik, eingebettet in eine Dialektik von Natur und Geist und konsequent sozial ausgerichtet; gegen die natürliche Religion des Rationalismus den Blick auf historisch-konkrete Religionen richtet und das Christentum als eine solche – und zwar im Prinzip als die absolute – ansieht und theologisch entsprechend thematisiert; beides begründet und zusammenhält durch eine Individualitätstheorie, die im geistigen Bereich das Einzelne und das Allgemeine nicht als Widersprüche sieht“ (Zachhuber, Schleiermacher, 37). 77 Ritschl, Reden, 57. 59; vgl. dazu auch Slenczka, Glaube, 129. 78 Vgl. ausführlich dazu Zachhuber, Idealismus, 145–154 sowie Wittekind, Offenbarung, 20–29.
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Hegels: „So ist Gott Geist und zwar der Geist seiner Gemeinde“79. Dieses Zitat greift Ritschl programmatisch auf, indem er dieses Verständnis von Gemeinde, aus dem sich die Bestimmungen der drei Reiche ergeben (Reich des Vaters, Reich des Sohnes, Reich des Geistes), an den Anfang seiner Theologie setzt, den Weg Hegels in der Theoriebildung umkehrt und so von Anfang an die Gemeinschaft fokussiert.80 Der Unterschied kann – an dieser Stelle noch äußerst schematisch – in folgender Problemstellung verortet werden: Bei Hegel ist die Perspektive das Subjekt, das sich mit einer kollektiven Gestalt auseinandersetzen muss.81 Ritschl geht demgegenüber vom Kollektiv aus, sodass er dieses Kollektiv selbst als Subjekt verstehen kann. Damit kann Ritschl – über Hegel und vor allen Dingen die Hegel-Deutung der Baur-Schule hinausgehend – den Materialbestand des Kollektivs, nämlich die biblischen wie material-dogmatischen Traditionen in die Theoriebildung mit aufnehmen.82 Das verweist auf eine Problemstellung der Ritschl’schen Theologie, die er aufgrund der zeitgenössischen Prävalenz der Geschichtsphilosophie durchdenken muss und die für die Frage einer situativ orientierten Theologie relevant ist: Wie kann in der theologischen Reflexion die funktionale Inanspruchnahme einer überzeitlichen, im weitesten Sinne einheitlich gedachten Figur (wie der Gottesgedanke)
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In der Formulierung der durch Marheineke verantworteten Hegel-Ausgabe von 1840, die von Ritschl benutzt wurde (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religionen. Nebst einer Schrift über die Beweise vom Dasein Gottes, Zweiter Teil. Zweite, verbesserte Auflage, hrsg. v. Philipp Marheineke, Berlin 1840, 191). 80 Vgl. wiederum Ritschl, RuV 3I, 577–518; Ritschl schließt seine eigene Hegel-Rezeption in RuV I mit der Betonung des Gemeindegedankens bei Hegel (Ritschl, RuV 3I, 581) in Bezug auf den zweiten Teil der Vorlesungen in der Marheineke-Ausgabe von 1840. Diese sei laut Ritschl ab Seite 191 zu lesen, was er selbst so durchführt und sich i.W. auf Hegels Überlegungen zur absoluten Religion konzentriert (vgl. Ritschl, RuV 3I, 577). 81 Für Hegel ist es eine methodische Entscheidung, im dritten Teil der Vorlesungen zur Philosophie der Religionen die Perspektive des Subjektes einzunehmen, um die Vernunftgemäßheit der Religion im Zusammenfall von Begriff und positiver Religion am Ort des Christentums begründen zu können (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religionen, Zweiter Teil, in: KGA 16, 191–209); theologisch bleibt die Gemeinde als Ort der Realisierung des Geistes Gottes vorgeordnet. Diese Beurteilung Hegels ist durch die Hegel-Editionen Walter Jaeschkes ermöglicht sowie durch die Beurteilung der „Wissenschaft der Logik“ als Strukturprinzip von Hegels Philsophie (vgl. dazu Falk Wagner, Religiöser Inhalt und logische Form. Zum Verhältnis von Religionsphilosophie und „Wissenschaft der Logik“ am Beispiel der Trinitätslehre, in: Friedrich Wilhelm Graf/Falk Wagner [Hrsg.], Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982, 196–227, bes.: 196–198). 82 „Alle Wahrheiten von Gott u.s.w. werden für den Einzelnen, wie für die Gesammtheiten nur dann religiös wirksam, wenn sie dem Glauben gegenüber unter den Gesichtspunkt göttlicher Vorsehung treten“ (Ritschl, RuV 3III, 441).
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durch eine historische, partikulare Gestalt (wie die Kirche in ihren Sozialformen) verstanden werden?83 Ritschl setzt sich mit dem durch die Hegel-Interpretationen seiner Zeit gegebenen Problem der Möglichkeit historischer Erforschung des Christentums auseinander, ohne dabei einseitig auf den Standpunkt des Historismus zu verfallen noch einseitig auf den Standpunkt der Suche nach einem spekulativen Einheitsprinzip.84 Um das zu verdeutlichen, sei exkursorisch auf die Auseinandersetzung um die Wunderfrage eingegangen.85 Die Ritschl’sche Theologie gerät mit der historischen Kritik der Tübinger Schule in Konflikt, obwohl sie deren Anliegen teilt, sich gegen die orthodoxe Theologie und einen biblizistischen, unreflektierten Wunderglauben zu stellen.86 Zellers Einschätzung, dass sich Wunder und geschichtliche Betrachtung der Dinge ausschließen und dass ein Wunder damit nicht Teil der wissenschaftlichen theologischen Betrachtung sein könne, kann Ritschl nicht teilen, insofern das Wunder als ein Bericht über eine erfahrene Wirkung ein sinnvoll zu durchdenkender theologischer Begriff sei.87 An 83 Ritschl selbst sieht dieses Programm „der Vermittlung des speculativen und des historischen Elements der Versöhnungslehre“ bei Hegel zwar angelegt (darauf will er mit seiner Rezeption hinaus), aber noch nicht durchgeführt (Ritschl, RuV 3I, 581); für Hegel ist die Versöhnung von Absolutem und Partikularem im Kultus zu verorten (vgl. zur Vorlesung von 1827, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religionen. Teil 1. Einleitung. Der Begriff der Religion, hrsg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1983, 330– 338). Ritschl stärke dementsprechend und in Abgrenzung zur Baur-Schule eine Rezeption Hegels, die sich auf die subjektiv-ethische Anschauung von Geschichte beziehe (Wittekind, Offenbarung, 34). 84 Wittekind, Offenbarung, 20; Wittekind zeigt überzeugend auf, dass die in der Literatur meist unkritisch von O. Ritschl übernommene Abkehr Ritschls von Hegel eher auf O. Ritschls eigene Auseinandersetzung mit der spekulativ-liberalen Theologie zurückgeht (Wittekind, Offenbarung, 19f., Fn 15). 85 Vgl. dazu ausführlich Zachhuber, Idealismus, 155–174. 86 Ritschl, Geschichtliche Methode; sowie Eduard Zeller, der allerdings anonym publizierte: Die Tübinger Historische Schule, in: Historische Zeitschrift (1860/3), 90–173. Dabei bleibt Ritschl in seiner Ausdeutung, was dies für den konkreten Umgang mit Wundern heißt, notwendigerweise vage, insofern ihm psychologische oder eben auch literaturwissenschaftliche Deutungen (wie die Kategorie der Performanz), noch nicht zur Verfügung stehen und er deswegen zeitlebens versucht, einen theoretisch reflektierten Wunderbegriff mit den ihm gebräuchlichen Mitteln zu entwickeln (vgl. Ritschl, RuV 3III, 544). 87 Wittekind geht davon aus, dass Ritschl mit Schleiermacher meine, dass das Wunder (und damit die Offenbarung) ein Deutungsbegriff für die Welt sei, der sich in jedem Zusammenhang erschließen könne (vgl. Wittekind, Offenbarung, 7). Zachhuber führt das dahingehend fort, dass das Wunder für Ritschl ein „paradigmatischer Fall religiösen Erkennens“ sei (Zachhuber, Idealismus, 166), dem die historischen Methoden der Baur-Schule nicht genügen würden. Zudem könne Ritschl über die Rede vom „Wunderanfang“ des Christentums einer Kontinuität des Geschichtsverlaufes widersprechen, die er bei Baur gegeben sehe und die es verunmöglichen würde, von einzelnen Größen in der Geschichte zu sprechen (vgl. Zachhuber, Idealismus, 167).
1. Der Standpunkt der Gemeinde
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der Wunderfrage zeigt sich für Ritschl die Beschränkung einer theologischen Betrachtungsweise, die rein auf das Historische abzielt. Demgegenüber bleibt Ritschl jedoch nicht einem spekulativen Supranaturalismus verhaftet,88 um den Wunderbegriff zu plausiblisieren, sondern er wählt die Existenz der Gemeinde als Begründungsfigur für die Rede vom „Wunder“, insofern sich an ihr zeige, dass eine Form von funktionaler Wirkung immer noch erfahren werden könne. Ritschls Absicht in der Wunderfrage besteht darin, zu zeigen, dass die rein historisch-kritische Betrachtungsweise dem Phänomenbestand des christlichen Glaubens nicht gerecht werde. Ritschl kritisiert aus dem Forschungsstand der Religionsphilosophie seiner Zeit heraus genau diejenigen Elemente an Hegel, die erstens auf eine zu starke spekulative Theologie hinauslaufen, die an theologischen bzw. dogmatischen Themen interessiert sei, ohne ihre konkrete Einbettung in die Lebenswelt zu bedenken. Zweitens kritisiert er – nur scheinbar gegenläufig – alle diejenigen zu starken subjektivitätstheoretischen Spitzen, die sich so auf das Individuum fokussieren, dass auch dieses losgelöst von seiner Lebenswirklichkeit und seinen sozialen Einbindungen erscheint. Drittens kritisiert er diejenigen Deutungen, welche die Relevanz und Normativität theologischer Figuren für die individuellen Lebens- wie Glaubensvollzüge negieren. Das deutet ex negativo darauf hin, welche Elemente Ritschl in seine eigene Theologie integriert wissen möchte: Ihm gelingen nämlich erstens, besonders mit Kant und Schleiermacher, die Abkehr von ontologischen Bestimmungen und der Überschwung auf die subjektive Deutungsdimension. Ritschls Pointe aus der innovativen Kombination einer kritischen Kant- und Schleiermacher-Lektüre liegt darin, dass das Subjekt nicht nur individuell, sondern auch kollektiv gedacht werden könne, sodass die Theologie die Sozialformen von Religion (und nicht Vernunft oder Gefühl) als Orte positiver Religion bearbeiten könne. Diese Betonung der kollektiven Identität und der Gemeinschaft sieht Ritschl, zweitens, dort nicht zu ihrer vollen und konsequenten Entfaltung gebracht, wo sie wie im Pietismus durch die Konzentration auf dogmatische Korrektheit eingeengt werde. Drittens profiliert Ritschl die Kontextualisierung jeglicher religiöser Erfahrung, die einerseits nicht abstrahiert von konkreten Lebenssituationen in historischen Zusammenhängen gedacht werden könne, ohne dass andererseits diese historischen Zusammenhänge gegenüber der Praxis und der Lebensrelevanz hypostasiert werden müssen, wie er es in der Baur-Schule gegeben sieht. 1.3. Die Gemeinde als Thema reformatorischer Tradition Ritschl versteht sein theologisches Vorgehen so, dass er die lebensrelevante und praktische Ausrichtung der Dogmatik, die er schon im Pietismus angelegt
88
Vgl. zu diesem Vorwurf Weinhardt, Herrmanns Stellung, 74.
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sieht, in seiner Zeit zur vollen Entfaltung bringen könne, indem er die theologische Reflexion am Ort eines kollektiven Subjektes ihren Ausgang nehmen lässt. Er ist gleichzeitig vor die Herausforderung gestellt, dies nun auch als kompatibel mit der reformatorischen Tradition zu erweisen, schon allein um die Lehrbefugnis in Göttingen nicht zu verlieren.89 Das erklärt, warum Ritschl sich besonders in der direkten Auseinandersetzung mit der konfessionellen Theologie und der Lutherforschung seiner Zeit als derjenige inszeniert und von seinen Schülern inszeniert wird,90 der Luther wirklich fortführe, indem er bisher vernachlässigte Dimensionen in Luthers Werk besonders in Bezug auf den Zusammenhang von kollektiver, sozialer Gestalt der Kirche und Aneignung der Gnadenlehre freilegen könne.91 Ritschl liest Luther als seinen eigenen Vorläufer: Die reformatorische Erkenntnis macht sich für Ritschl an der expliziten Wiederentdeckung des praktischen Charakters der dogmatischen Gehalte fest.92 Das deckt sich mit Ritschls Kriterienbildung für eine Lutherdeutung, 89
Horst Stephan geht in einer frühen Beurteilung der Lutherdeutung im 19. Jahrhundert davon aus, dass sich die gesamte Neuorientierung der Theologie durch Ritschl aus seiner Lutherinterpretation erklären lasse, die Ritschl in strategisch-kämpferischer Weise zur Durchsetzung seiner eigenen theologischen Linie nutze (vgl. Horst Stephan, Luther in den Wandlungen seiner Kirche, [Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus 1] Gießen 1907, 110). 90 Besonders prononciert findet sich dieser Selbstanspruch Ritschls, Luther wirklich fortzuführen, in der Rede zum 4. Seculartag der Geburt Martin Luthers; aber auch exemplarisch in der Rezension zu Alfred Krauss in der ThLZ, dem Ritschl recht hart vorwirft, sich nicht auf Ritschls eigene Lutherstudien als angemessene Lutherdeutung zu beziehen (Albrecht Ritschl, Rez. Alfred Krauss, Das protestantische Dogma von der unsichtbaren Kirche, in: ThLZ 12 [1876], 316–319, bes.: 316f.; vgl. Ritschl, RuV 3III, 7). Er findet sich ebenso in dem pathetisch-beschwörenden Bericht Martin Rades, der eindrucksvoll darlegt, wie wirkmächtig er Ritschls Dogmatikvorlesung erlebte: „Ritschl treiben und Luther kennen lernen war ein und dasselbe. [...] Bei Ritschl atmete man sofort den Geist der Reformation und sah sich mit zwingender Gewalt an das Studium nicht nur der Schriften Luthers, sondern auch der lutherischen Bekenntnisschriften gewiesen“ (Martin Rade, Christliche Welt und Liberalismus, in: Bremer Beiträge zu Ausbau und Umbau der Kirche 3 [1907], 169–177, hier: 172); ebenso bei Julius Kaftan: „Albrecht Ritschl hat zuerst die grundsätzliche Forderung erhoben, die theologische Aufgabe so aufzunehmen und anzugreifen, wie sie Luther ursprünglich gestellt hatte [...]. Hierdurch ist er mir und anderen ein Lehrer und Führer geworden“ (Julius Kaftan, Dogmatik, Tübingen 7/81920, IX). 91 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 588. Diese Deutung ist besonders durch Hofmann in die Rezeption eingetragen (Hofmann, Lutherrezeption, 259). Sie wird jedoch auch von Slenczka aufgegriffen (vgl. Notger Slenczka, Reformationshermeneutik. Die Reformation als Deutungsgeschehen, in: Ders./Claas Cordemann/Georg Raatz [Hrsg.], Verstandenes verstehen. Luther- und Reformationsdeutungen in Vergangenheit und Gegenwart, Leipzig 2018, 9–55, 38f.). 92 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 5, dass es bei Luther keine uninteressierte Gotteserkenntnis gebe, sondern nur solche, die Relevanz für den Menschen besitze. Als Kritik wird deswegen von Martin Ohst vorgetragen, dass Ritschls Offenbarungs- und Gemeindepositivismus als Dogmatiker seine eigentlich bessere dogmenhistorische Betrachtung von Luther überlagert
1. Der Standpunkt der Gemeinde
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derzufolge ein Lutherbild angemessen sei, wenn mit diesem Bild zeitgeschichtlichen Problemen begegnet werden könne.93 Es ergibt sich damit – en passant –, dass Ritschl, wie Hofmann herausarbeitet, zum Vorläufer all derjenigen Programme wird, die ein dynamisches Verständnis des Wesens des Protestantismus haben, das sich an Gegenwartsfragen anpassen könne, im Sinne einer Reformierbarkeit der Reformation oder einer „Befreiung [Luthers, KO] aus der Wirkungsgeschichte“94. Im Ergebnis stellt sich das so dar, dass Ritschls Lutherdeutung in einer Mischung aus kirchenpolitischer Notwendigkeit und sachlogischer Begründung i. W. in der Form der Harmonisierung mit denjenigen Weichenstellungen seiner Theologie geschieht, die von konfessionell-orthodoxer Seite als provokant empfunden werden.95 Demgegenüber kann Ritschl Philipp Melanchthons Theologie auf der einen Seite wesentlich kritischer betrachten und auf der anderen Seite für seine Theologiebildung deutlich produktiver nutzen:96 Ritschl wirft Melanchthon vor, dass dieser nicht für die Durchdringung lebens- oder glaubenspraktischer Probleme geeignet sei, da Melanchthon
habe, die dann in kritischer Abgrenzung von Karl Holl und Emanuel Hirsch wieder freigelegt worden sei (vgl. Martin Ohst, Die Lutherdeutungen Karl Holls und seiner Schüler Emanuel Hirsch und Erich Vogelsang vor dem Hintergrund der Lutherdeutung Albrecht Ritschls, in: Rainer Vinke [Hrsg.], Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, VIEG Beiheft 62, Mainz 2004, 19–50, bes. 19–21). 93 Vgl. Ulrich Barth, Das gebrochene Verhältnis zur Reformation. Bemerkungen zur Luther-Deutung Albrecht Ritschls, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 125–146. 94 Hofmann, Lutherrezeption, 261. Die Kehrseite ist laut Hofmann, dass Ritschl das Lutherbild nicht dynamisch genug halte, sondern einseitig bleiben müsse, um Luther den Zeitgenossen wieder nahe zu bringen (vgl. Hofmann, Lutherrezeption 258f.). 95 Ähnlich argumentiert wiederum U. Barth, der für Ritschls Lutherdeutung Ritschls Interesse an den Unionsbestrebungen sieht, sodass Ritschl Luther gegen die vereinnahmende Lutherinterpretation seiner Zeit zu retten versuche und den Gedanken des Rechtfertigungsglaubens vor dem der Rechtfertigungslehre und den daraus resultierenden Lehrstreitigkeiten zu profilieren suche (vgl. Ulrich Barth, Die Ambivalenz des reformatorischen Erbes. Luthers Deutungen des Theologischen Historismus um 1900, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, 375–386, bes. 377–379). 96 Die lutherische (und reformierte) Tradition stehe zwar in einer Linie mit Ritschls Deutung, sei aber durch die zu stark subjektorientierte Theologie Melanchthons nicht zur vollen Entfaltung gekommen (Ritschl, RuV 3III, 517). Das deckt sich mit den Strömungen der Lutherrenaissance im 19. Jahrhundert, die zur Melanchthonkritik führten (vgl. Heinz Scheible, Das Melanchthonbild Karl Holls, in: Günter Frank/Ulrich Köpf [Hrsg.], Melanchthon und die Neuzeit, [Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 7] Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, 223– 238; Günter Frank, Einleitung. Die praktische Philosophie Philipp Melanchthons und die Tradition des frühneuzeitlichen Aristotelismus, in: Ders., Ethicae doctrinae elementa et enarratio libri quinti ethicorum. Herausgegeben und eingeleitet von Günter Frank; unter Mitarbeit von Michael Beyer, [EFN 1] Stuttgart 2008, XIX–XLII).
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zu stark auf eine rein kognitiv-dogmatische Durchdringung in der theologischen Reflexion hin ausgerichtet sei.97 Erst die von Ritschl angenommene Revision dieser Haltung Melanchthons von den Loci communes (1521) hin zur Augsburger Konfession sowie zur Apologie (1530/31) führt bei Ritschl in den 1890 postum veröffentlichten „Fides Implicita“ zu einer vorsichtig positiven Beurteilung: Melanchthon habe sich, so Ritschl, von einer rein dogmatischen Betrachtungsweise heraus „der von Luther festgehaltenen Formel, der Glaube sei nicht blos Zustimmung zu den Glaubensartikeln, sondern auch vertrauende Werthschätzung Gottes und Christi, angenähert“98. Deswegen könne Melanchthon ab 1530, so Ritschl, die Wechselwirkung zwischen „dem evangelischen Glauben“ und der „Gemeinschaft der Gläubigen“ richtig beschreiben.99 Dass sich diese Bestimmung nicht durchgesetzt habe, sondern wieder eine Konzentration auf das Individuum stattgefunden habe, sei nun nicht Melanchthons Schuld als Theologe, sondern der (kirchen-)politischen Notwendigkeit geschuldet, der Melanchthon sich – quasi gegen sein besseres theologisches Wissen – habe beugen müssen.100 Diese vorsichtig positiven Bewertungen Melanchthons zeigen Problemstellungen für Ritschls eigene Theologie an: Es ist erstens die bleibende Frage, wie eine konzise Darstellung der dogmatischen loci innerhalb einer praktischfunktionalen Ausrichtung der systematischen Theologie erfolgen kann. Das ist zweitens die Aufgabenstellung, wie diese Theologie konzipiert sein muss, wenn sie aus der Perspektive einer Gemeinschaft denkt. Wie Ritschl mit diesen Problemstellungen im Rahmen seiner (religions-)philosophischen wie theologischen und kirchenpolitisch notwendigen Legitimierungsstrukturen umgeht, wird im Folgenden unter der narrativitätstheoretischen Betrachtung der Gemeinde entfaltet.
97
Ritschl, RuV 3III, 4f. Ritschls Kritik an Melanchthon macht sich daran fest, dass dieser seinen Ausgang in der Schöpfungslehre nehme und d. h. bei der vernünftigen Erkenntnisfähigkeit im Urzustand, ohne einzurechnen, dass auch die Darstellung der Schöpfung schon in der Gemeinde geschehen müsse. Ritschl geht in seiner Melanchthon-Interpretation von den Loci Communes von 1521 aus und berücksichtigt nicht die Entwicklung in den späteren Auflagen (vgl. zu den Veränderungen Melanchthons in den Auflagen: Cornelia Richter, Melanchthons fiducia. Gegen die Selbstmächtigkeit des Menschen, in: Ingolf U. Dalferth/Simon Peng-Keller [Hrsg.], Gottvertrauen. Die ökumenische Diskussion um die fiducia, Freiburg i. Br. 2012, 209–242; Cornelia Richter, Melanchthon – philosophische Präzisierung reformatorischer Passion, in: Michael Moxter [Hrsg.], Konstellationen und Transformationen reformatorischer Theologie, [VWGTh 51] Leipzig 2018, 99–116). 98 Ritschl, FI, 85. Ritschl interpretiert nun auch Melanchthon so, dass dieser eine rein kognitive Zustimmung zu den Glaubensartikeln für Schauspielerei halte (Ritschl, FI, 89). 99 Ritschl, FI, 89. 100 Vgl. Ritschl, FI, 90f.; Ritschl bezeichnet es als „Mangel an theologischem Geschick“, der „sich aber auch durch äußere[…] Umstände“ erklären lasse (Ritschl, FI, 91).
1. Der Standpunkt der Gemeinde
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1.4. Die Gemeinde in ihrer situativen Verfasstheit als Kirche Die „Gemeinde“ hat bei Ritschl die Funktion, darauf zu verweisen, dass die Theologie die kollektive und gemeinschaftliche Dimension des Christentums beachten müsse, um ihre Relevanz für die Zeitgeschichte aufzuzeigen. Damit die „Gemeinde“ auf diese Art und Weise als eine theologische Reflexionsfigur der Theologie in funktionaler Absicht fungieren kann, muss Ritschl sie so konstruieren, dass sie ein Abstraktum für eine kollektive Größe ist, die weder mit konkreten (Orts-)Gemeinden, noch mit konkreten Gestalten von Kirche, noch mit theologischen Größen wie dem Reich Gottes identisch ist.101 Die Differenzierung zwischen Gemeinde, Kirche und Reich Gottes ist bei Ritschl Teil der Entwicklung theologischen Denkens, wie sie schließlich in der unten stehenden Formulierung der dritten Auflage von RuV III kulminiert; sie ist bedingt durch seine Auseinandersetzung mit dem Kirchenbegriff in dem Artikel „Sichtbare und unsichtbare Kirche“, der zwischen den zwei Auflagen des UcR steht: So formuliert Ritschl in der ersten Auflage des UcR in §9: „Der Name der Gemeinde […] ist […] direkt auf den sinnenfälligen Gottesdienst (Opfer, Gebet) bezogen. […] Liebesübung und gemeinsamer Gottesdienst sind nämlich die verschiedenartigen Tätigkeiten der christlichen Gemeinde, welche ihr darum auch in verschiedenem Umfang zukommen können. Deshalb ist es falsch, die Kirche in irgendeinem Sinne gleich dem Reich Gottes zu setzen oder ihr diesen Titel beizulegen.“102
Die Ausführungen in der zweiten und dritten Auflage differenzieren noch einmal präziser das Verhältnis von Kirche und Reich Gottes als voneinander zu unterscheidende Bezugspunkte der Gemeinde: „Deshalb ist es unrichtig, die beiden Beziehungen, in denen die Gemeinde ihre Bestimmungen gleichzeitig (dritte Aufl. ergänzt: so) auszuführen hat, (3. Aufl. ergänzt: daß die verschiedenen Reihen ihrer Tätigkeiten in Wechselwirkungen treten), einander so gleichzusetzen, daß man die entsprechenden Titel vertauscht. Denn was die Gemeinde zur Kirche 101
Die Unterscheidung zwischen Kirche und Reich Gottes ist nicht, wie z. B. von Schäfer vorgenommen, gleichzusetzen mit der Unterscheidung von Religion und Ethik (vgl. Schäfer, Grundlinien, 114). Vielmehr müssen sowohl Kirche als auch Reich Gottes nach ethischer und religiöser Dimension hin unterschieden werden, sodass dieser Zusammenhang in der reformatorischen Formulierung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche dargelegt werden kann, ohne dass die „Gemeinde“ mit einem der beiden identisch wird (vgl. Ritschl, Ueber die Begriffe, 91; von Scheliha, Protestantismus, 92). Die Kirche ist sichtbare Kirche für „die Art von Erfahrung, auf die sie ihrer Natur nach allein rechnen kann, nämlich für den specifischen Glauben“ (Ritschl, Ueber die Begriffe, 94). Ritschl steht mit diesen Überlegungen im Rahmen einer breiten Diskussion um den Kirchenbegriff im 19. Jahrhundert, in dem die Ekklesiologie zu einem Thema der Theologie wird (vgl. Notger Slenczka, Die Diskussion um das kirchliche Amt in der lutherischen Theologie des 19. Jahrhunderts, in: Reinhard Rittner [Hrsg.], In Christus berufen. Amt und allgemeines Priestertum in lutherischer Perspektive, Hannover 2001, 114–152, hier: 133). 102 Ritschl, UcR, §9, 18; ohne dass es explizit würde, kann hier der Rückbezug auf Kants Verständnis von Kirche in institutionalisierten Formen gelesen werden.
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Relecture Albrecht Ritschls
macht, sind nicht die Leistungen, in denen sie sich zum Reich Gottes vereinigt, und umgekehrt.“103
Das bedeutet auch, dass Ritschls Entwurf einer Theologie vom Standpunkt der Gemeinde grundlegend verschieden von einer kirchlichen (oder sogar konfessionellen) Theologie ist.104 Der Standpunkt der Gemeinde ist nicht analog mit dem Standpunkt der Kirche105 und noch weniger mit dem Standpunkt einer konfessionell gebundenen Kirche, 106 sodass Ritschl z. B. im UcR mit recht weitgehenden Aussagen zur Überwindung der protestantisch-katholischen Kirchenspaltung schließen kann. „Kirche“ bezeichnet bei Ritschl nicht die Landeskirchen oder die konkreten Gestalten von Kirche, sondern die gottesdienstliche Gemeinschaft als ekklesia. 107 Diese gottesdienstliche Gemeinschaft ist
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Ritschl, UcR, §10, 19, Fn 22. Dass Gemeinde bei Ritschl mit der Kirche und bestimmten landeskirchlichen Strukturen gleichzusetzen sei, findet sich dort, wo Ritschls Theologie unter dem Begriff der kirchlichen Theologie verhandelt wird (vgl. Pfleiderer, Ritschl’sche Theologie, 382–388; Gustav Ecke, Die evangelischen Landeskirchen Deutschlands im XIX. Jahrhundert. Die theologische Schule Albrecht Ritschls und die Kirche der Gegenwart, Bd. 2, Berlin 1904, 4). In der Rezeption im 20. Jahrhundert wird diese Position durch Schäfer wieder einflussreich: „Denn wenn es zu jener Zeit einen Theologen gegeben hat, der das Landeskirchentum in seiner bestehenden Form von innen her lehrmäßig bestätigte, dann ist es Ritschl gewesen“ (Schäfer, Ritschl, 176). 105 Vgl. Ritschl, UcR, §88, 120, Fn 309: „Nun gehört die Idee der Gemeinde oder Kirche Christi notwendig in die religiöse Gesamtanschauung des Christentums. [...] Darum ist es notwendig auch im evangelischen Sinn, die Kirche unter diesen Merkmalen zu glauben, indem man an ihrer Gottesverehrung mittätig ist. Allein im evangelischen Sinne glaube man die Kirche so, indem man die rechtlichen Formen, in denen sie übrigens existiert, außer acht läßt.“ Die Möglichkeit zur Partizipation an der geglaubten Kirche vollzieht sich bei Ritschl nur in der sichtbaren, empirisch verfassten und historisch eingebundenen Kirche, die unter theologischer Betrachtung nicht in ihrer empirischen Verfassung aufgeht, sondern als geglaubte über die ethisch-politische Dimension hinausgeht. 106 In seinem eigenen Entdeckungszusammenhang in den bereits zitierten Briefen an Diestel macht Ritschl das – noch nicht ganz in der späteren Präzision – daran deutlich, was der Kirchenbegriff nicht sein könne: „Damit [mit dem Gedanken der Gemeinde, KO] habe ich die Macht über alle, welche die Kirche entweder mit der Sekte und Clique oder mit der Schule (orthodoxer oder häretischer) vertauschen, mögen sie das Wort Kirche noch so stark im Munde führen“ (O. Ritschl, ARL II, 50); sowie weiter: „Wir bringen es nicht eher zur evangelischen Kirche [als angemessene Gestalt von Gemeinde, KO] und überwinden nicht eher die pietistische Sekte, sowie die lutherische und die radikale Schule, als bis wir die Vorstellung von der Kirche in unser prinzipielles Glaubensbewusstsein a priori einschließen“ (O. Ritschl, ARL II, 52). 107 Der Einheitsgedanke macht sich in der Praxis des Abendmahls als Darstellung des Zusammenhangs von kollektiver Identität der Gemeinde und des Reiches Gottes fest und wird christologisch begründet: „Endlich ist es außer Zweifel, daß Christus die Handlung verordnet hat, damit alle sich in ihr vereinigen, nicht aber in der Erwartung, daß sie sich über ihren Sinn und Inhalt veruneinigen, und demgemäß in der Handlung sich trennen“ (Ritschl, 104
1. Der Standpunkt der Gemeinde
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konkret und situativ in historisch zu erfassenden Gestalten dort verortet, wo der Gottesdienst in institutionalisierter Form im Rahmen der Kirchen gefeiert wird. Die „Kirche“ kann als eine momentane situative Verfasstheit der Gemeinde interpretiert werden, die als kollektive Größe auf Situativität bezogen ist und über diese in bestimmte historische Kontexte eingebettet ist. Das hat zwei grundlegende Konsequenzen für die Analyse der Ritschl’schen Theologie: Die erste Konsequenz ist, dass Ritschl keine kirchliche Apologetik im „katholischen“ Sinne unternimmt, die z. B. das Papsttum durch das landesherrliche Kirchenregiment ersetzen würde. Ritschls Argumentation geht genuin vom gottesdienstlichen Geschehen aus: Wenn man dieser Argumentation folgt, führt das zu der Frage, was eine zeitangemessene Form und Rahmung für dieses gottesdienstliche Geschehen und dessen Bezug auf die narrativen Entfaltungen sein könnte. Aus zeitdiagnostischen Gründen können das bei Ritschl durchaus die vorgefundenen kirchlichen Verhältnisse sein, denen dennoch nur eine situative und keine überzeitliche Qualität zukommt. 108 Die zweite Konsequenz bezieht sich auf die Spannung in der Ritschl’schen Theologie zwischen der Gemeinde als theologischer Reflexionsfigur und der situativen, historisch verortbaren Gestalt der Gemeinde als Kirche und damit auf die Frage, ob Ritschl historistisch denkt. Wenn Gemeinde und Kirche in eins gesetzt werden (was durch die semantische Nähe und die traditionellen Begrifflichkeiten naheliegend ist), dann ist es folgerichtig, das Historische über die Analogie als eines der Grundelemente der Ritschl’schen Theologie zu verstehen, wie es in der seit Harnack und Troeltsch vorgegebenen Linie der Rezeptionsgeschichte geschieht: Die Gemeinde wird in dieser Linie als historische Größe verstanden, sodass damit die theologische Reflexion an einen partikularen historischen Standpunkt gebunden wäre. Es ist jedoch m. E. angemessener, die Trennung zwischen Gemeinde und Kirche ernst zu nehmen und als Chiffre für die Dynamik zu verstehen, die sich zwischen einer teleologischen, überzeitlichen Zielperspektive des Reiches Gottes und deren situativer Einbettung in historische Kontexte ergibt. Dann stellt sich der Zusammenhang komplexer dar: Im Folgenden wird dies so verstanden werden, dass die „Gemeinde“ der Begriff ist, über den Ritschl die Kategorie der Funktionalität einführen kann, ohne diese allerdings explizit so zu benennen: Dort, wo Ritschl von Wirkung, und zwar von „Wirkung im allgemmeinsten Sinne“109, für die UcR, §90, 123). Das deckt sich mit dem, was Michael Wolter für das Verständnis von ekklesia als Gottesdienst im Urchristentum erarbeitet: Dieses kann als diejenigen institutionalisierten Handlungen („ethos“) verstanden werden, mit denen die urchristliche Gemeinde ihre exklusive Identität darstellt (vgl. Michael Wolter, Das Neutestamentliche Christentum und sein Gottesdienst, in: Schmidt/Preul, Gottesdienst, 1–22, bes. 5–9). 108 Vgl. dazu auch die Einschränkung der Geltung der Bekenntnisse der Partikularkirchen (Ritschl, VLE, 126), wobei die Trennung zwischen Gemeinde und Kirche sich 1858 m. E. erst langsam schärft. 109 Ritschl, RuV 3III, 27.
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Gemeinde spricht, verweist er auf die Notwendigkeit der Einbeziehung von funktionalen Kategorien in die theologische Reflexion. Theologisch müsse nicht nach dogmatischer Korrektheit gefragt werden, sondern nach der Wirkung, die z. B. dogmatische loci für Lebens- und Glaubensvollzüge von Menschen haben. Die Wirkung dogmatischer Gehalte, so kann Ritschl weitergeführt werden, kann nur in konkreten, situativen, kommunikativen und intersubjektiven Sozialgestalten von Gemeinde beobachtbar werden, die in historisch erschließbare Bezüge eingebunden sind. Deswegen rücken die Kirche und, präziser, die gottesdienstliche Versammlung sowie die religiöse Verkündigung in ihrer momentanen situativen Verfasstheit und d. h. auch in ihren historischen Formen bei Ritschl in den Blick der Theologie.110 In dieser Logik kann der historische Zug bei Ritschl als eine notwendige Ableitung aus der funktionalpraktischen Ausrichtung verstanden werden. Die historischen Einbettungen der Gemeinde in ihrer Gestalt als Kirche sind für Ritschl als Heuristiken dessen, was als situative Wirkung auf die Gemeinde beschrieben werden könnte, unhintergehbar. Deswegen müsse auch für die materialdogmatischen Themen – vermittelt über das Abstraktum der Gemeinde – ihre Möglichkeit bedacht werden, sich situativ zu erweisen. An dieser Stelle ist auf eine notwendige Präzisierung hinzuweisen, die Ritschl selbst nicht immer trifft: Denn im Gottesdienst als situativ gebundener Ausdrucksform der Kirche vergewissert sich eben nicht nur eine abstrakt bleibende kollektive Größe ihrer Identität, sondern es kommen einzelne Menschen zusammen, die sich der anderen, kulturell oder biographisch geprägten Narrative, in denen sie stehen, nicht an der Kirchenschwelle entledigen können und diese in den Gottesdienst eintragen.111 Hier zeigt sich ein – problematisches – Spezifikum des Ritschl’schen Gemeindebegriffs, das sich folgerichtig aus dem Obigen ergibt: Bei Ritschl gewinnt die Gemeinde in einzelnen Formulierungen die Qualität eines Subjekts, das bis zu einem gewissen Grad autonom handeln kann, z. B. wenn er vom „Glaube[n] der Gemeinde“112 spricht.113 Die Theologie könne sich, laut Ritschl, nur mit dem Glauben der Gemeinde, und das heißt 110
Vgl. Ritschl, UcR, §81, 109. Zachhuber formuliert dasselbe Problemfeld so, dass Ritschl „überindividuelle geschichtliche Größen in Analogie zu Individuen“ betrachte (Zachhuber, Idealismus, 168). 112 Ritschl, RuV 2III, 3. 113 Ritschl führt dies prägnant im Artikel in der RE auf, in dem er ausdrücklich die Gemeinde, d. h. eine kollektive Identität als Subjekt darstellt: „Die Gemeinde der Gläubigen ist als Subject des Gottesdienstes und der rechtlichen Ordnungen und Organe, welche demselben dienen, Kirche; sie ist Reich Gottes als Subject des gegenseitigen Handelns ihrer Glieder aus dem Motiv der Liebe“ (Albrecht Ritschl, Art. Reich Gottes, in: RE XII (1883), 599–606, hier: 606, kursiv KO); etwas weniger präzise in einer Rezension mit dem Kirchenbegriff: „[D]enn diese [die Kirche, KO] ist begrifflich ebenso das Subject des gemeinsamen Gebetes wie des gegenseitigen Handeln auf den Zweck des Reiches Gottes hin“ (Ritschl, Rez. Krauss, 318). 111
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deren praktischen Vollzügen in ihrer Gestalt als Kirche, beschäftigen, „[w]ie aber die gemeinschaftlichen und identischen religiösen Functionen in den Einzelnen modifiziert werden, gehört nicht in die Theologie.“114 An dieser Stelle muss hinterfragt werden, inwiefern eine kollektive Identität in diesem Sinne wirklich „handeln“ bzw. über einen „Glauben“ verfügen kann, der mehr ist als die Summe der Glaubensaussagen der einzelnen Mitglieder.115 Was Ritschl mit dem Verständnis der Gemeinde als Subjekt gelingt, ist auf den notwendigen Kontext momentaner situativer Verfasstheit zu verweisen, da außerhalb von diesem individuelle Erfahrungen in ihrer Darstellung schwer (oder unmöglich) zu erfassen sind. Auch die in der Gemeinde gemachten individuellen Erfahrungen beziehen sich auf das vorgängige Narrativ der kollektiven momentanen situativen Verfassheit,116 welches die Möglichkeit zu individuellen Erfahrungen überhaupt erst eröffnet und sie präfiguriert (sei es in Ablehnung oder Annahme dieses Narrativs oder dazwischenliegenden Bezugnahmen). 117 Angelehnt an Butler kann an diese Konstruktion von Gemeinde angefragt werden,
114
Ritschl, RuV 3III, 554. Die „Gemeinde“ sei mehr als die Summe ihrer Mitglieder, da es nicht möglich sei, „den Begriff von der Gesammtheit [der Gemeinde] auf eine empirische Beurtheilung der Einzelnen zu begründen“ (Ritschl, Ueber die Begriffe, 80). Das meine auch der Begriff der „Unsichtbarkeit“ der Kirche (ebd.). Anderes sei ein „Abbiegen zu dem donatistischen Grundsatz, [wie er, K.O.], wenn auch in der zahmen Gestalt des Protestantismus“ (ebd.), vorläge. Im Rahmen dieser Begründung habe Ritschl, so von Scheliha, „die faktische Notwendigkeit institutionalisierter Versäulung religiöser Vollzüge aufgenommen und mit seinem starken Begriff des kirchlichen Rechts verankert […]. Dies ist als produktive Reaktion auf die Komplexität neuzeitlicher Gesellschaftsformen einzuschätzen“ (von Scheliha, Protestantismus, 101). 116 Butler macht darauf aufmerksam, dass dieses „Wir“ performativ konstruiert werde: Entweder hegemonial, indem das „Wir“ von Repräsentanten (des Staates oder einer ähnlichen Größe) in Anspruch genommen werde, oder gegenläufig von einer Gruppe, die sich selbst als „Wir“ verstehe: „The people who speak the ,we[ ދ...], constitute themselves as the people in the course of enacting or vocalizing that plural pronoun either literally or figuratively“ (Butler, Notes, 168). Im Anschluss an Laclau halten Hermann und Gripentrog fest, dass die „Einheit eines Kollektivs nur aus dem Signifikationsprozess und der Namensgebung des Kollektivs selbst entstehen kann“ (Hermann/Gripentrog, Religöse Kollektive, 225); in diesem Sinne wäre die Benennung der Gemeinde als Gemeinde genau solch ein Prozess, der sich narrativ entfaltet und dann narrativ legitimiert wird, im Sinne einer „retrograden diskursiven Herstellung von Kollektiven [...] und Plausibilisierung“ (Hermann/Gripentrog, Religiöse Kollektive, 226). 117 „Die Formeln des Paulus, dass wir durch den Tod Christi versöhnt sind, u. dergl., wie könnten sie denn anders objektiv fixiert werden, als in der Wechselbeziehung der erlösenden Leistung Christi und der von ihm beabsichtigten Gemeinde der neuen Gottesverehrung, welche das Glaubensurtheil des Apostels in der ersten Person Pluralis ausspricht? Paulus kann den Erlösungswert des Todes Christi nicht glauben, ohne auch die Gemeinde zu glauben“ (Ritschl, Rez. Kraus, 318). 115
128
Relecture Albrecht Ritschls
wer denn dieses kollektive „Wir“ der Gemeinde konstruiert und welche normativen Setzungen durch wen in diesem „Wir“ unternommen werden, damit es sich überhaupt erst als ein solches „Wir“ versteht.118 Die Bestimmung der kollektiven situativen Verfasstheit kann der Vielfalt der situativen Verfasstheiten der Individuen in der Gemeinde nicht gerecht werden, sondern bildet vielmehr den Kontext für diese. Für die weiteren Kapitel kann festgehalten werden, dass die Differenzierung von kollektiven und individuellen momentanen Verfasstheiten für die theologische Reflexion zu berücksichtigen ist. 1.5. Die Kirche als Gestalt der Gemeinde im 19. Jahrhundert Ritschls Zeitdiagnose für die situative Sozialgestalt der Gemeinde als Kirche in seiner Zeit ist an den rapide sinkenden Bedeutungsverlust von Kirche gebunden. Die Kirche im 19. Jahrhundert findet sich in einem gesellschaftlichen Umfeld wieder, in dem sie mit anderen, relevant werdenden Größen um die Vorherrschaft konkurriert bzw. sich in Abgrenzung zu diesen ihrer Identität versichern muss. Dieser – spätestens – in der Reformation begonnene Prozess wird im 19. Jahrhundert als zunehmend bedrohlich empfunden, sodass er in die theologische Reflexion drängt:119 Ritschl macht dies daran fest, dass man zwar „[u]nter den Bewohnern des platten Landes [...] auf nichts weniger rechnen [darf], als auf eine volle und eigenthümliche Wirkung der sittlichen Idee des Christentums“120, dass für die Stadtbevölkerung hingegen gelte: „Die ästhetische Stimmung der Predigt und der pietistisch rechtgläubige Inhalt derselben üben nun einmal nicht mehr die Wirkung, wie vor fünfzig Jahren.“121 Gründe dafür sieht Ritschl in der von außen kommenden Beeinflussung der Massen des Volkes durch die Sozialdemokratie und in der von innen kommenden Dominanz des Pietismus, welcher der seit der industriellen Revolution herrschenden ökonomischen Durchdringung aller Lebensbereiche keine genügende Reflexion entgegensetzen kann.122 Ritschl konstatiert, dass sich jetzt zeige, „wie 118 Ritschl selbst hebt – in seiner Kritik an Francke, wie er sie in einem Brief an Harnack vom 09.05.1883 ausführt – hervor, dass die Organisation der Massen, wie er sie bei Francke gegeben sieht, ohne eine persönliche Teilnahme nichts weiter als Parteigeist sei (vgl. Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 356). 119 Mark D. Chapman kategorisiert drei Reaktionstypen auf diese Diagnose und vor allen Dingen auf die Aufklärungsphilosophie, nämlich „Accomodation“,„Reaction“/„Restoration“, i. W. die Pietisten, und „Escape“, u. a. der Evangelisch-Soziale Kongress (vgl. Mark D. Chapman, Political Transformations, in: Joel D. S. Rasmussen/Judith Wolfe/Johannes Zachhuber [Hrsg.], The Oxford Handbook of 19th Century Thought, 35–52, bes: 43–50). 120 Ritschl, Reden, 104f. 121 Ritschl, Reden, 105. 122 Ritschl, Reden, 105. Dass Ritschl hier 1874 zu einer ähnlichen Diagnose wie 1910 Ernst Troeltsch gelangt, sei in Ergänzung zu Christine Axt-Piscalar angemerkt (Christine Axt-Piscalar, Religion als Prinzip von Geselligkeit. Individuum und Gemeinschaft als Thema der christlichen Theologie, in: PTh 96 [2007], 334–349, hier: 341).
1. Der Standpunkt der Gemeinde
129
wenig die Schulung in dem Bekenntnis der Kirche zureiche[...], um das Interesse an ihr dem Volk einzuprägen“123. Es sei der Fokus auf die bekenntnishaften Glaubenssätze unter Absehung von funktionalen Kategorien, die zu einer Abwendung der „Massen“ von kirchlichen Strukturen geführt habe und noch führe.124 Ritschl begreift dies als Chance; er wehrt sich ausdrücklich dagegen, diese Zeitdiagnose nur als Zerfallserscheinung zu betrachten: 125 Der Verlust von Selbstverständlichkeiten könne ebenso als Möglichkeit zur Neugestaltung interpretiert werden.126 Die Möglichkeit zur ständigen Neugestaltung von Kirche ist für Ritschl über ihre Differenz zur Gemeinde legitimiert: Weil die Gemeinde als abstrakte Größe nie in einer einzigen Sozialgestalt mit einem festgelegten, normierten Set an Traditionen aufgehe, könne sie potentiell für jede neue zeitgeschichtliche Situation neue Gestalten finden. Spezifische Gestaltungsformen, so z. B. dogmatische, liturgische oder weitere Traditionen, können (und müssen) mit Ritschl deswegen daraufhin befragt werden, ob sie für die momentane situative Verfasstheit der Kirche und ihren historischen Kontext angemessen sind. Das ist gespiegelt im Vorgehen Ritschls in RuV I. Dort zeigt Ritschl, wie die Gemeinde unter den Stichworten „Rechtfertigung und Versöhnung“ immer wieder neue, historisch gebundene und für ihre je eigene momentane situative Verfasstheit plausible Gestalten und Traditionen findet, in denen sich diese materialdogmatischen Themen ausdrücken können.127 Aber 123
Ritschl, Uhlhorn, 324. Gustav Ecke verweist 1904 trotzdem berechtigt darauf, dass „wir bei Ritschl nirgends auch nur Ansätze einer methodischen Untersuchung vorfinden, welche sich die Hebung des im kirchlichen Leben der Gegenwart vorhandenen religiösen Schatzes zur Aufgabe stellt“ (Ecke, Landeskirchen, 5). Ritschl ist nicht an den konkreten Praxen in einzelnen Kirchengemeinden interessiert, sondern an den grundlegenden Bedingungen, unter denen diese Praxisbezüge in der Moderne im Rahmen einer dogmatisch interessierten Theologie reflektiert werden können. 125 Vgl. dazu auch die Äußerung in einem Brief an Harnack vom 29.02.1884: „Es ist einfach Christenpflicht, sich des Pessimismus zu enthalten, wenn man sich vorteilhaft von der Bande [den Pietisten, KO] unterscheiden soll, welche ihre Parteisucht zum Rechtstitel gegenwärtiger Herrschaft machen“ (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 365). 126 Ritschl erkennt, dass seit der Reformation diese Klage über den religiösen Verfall sowie die „Mittel“ zur Beseitigung der Missstände bis in die Gegenwart gleich seien, nämlich die „religiöse Schriftstellerei wie die Predigt“ (Ritschl, GdP II.1, 36). Auf diese Weise kann auch der Befund interpretiert werden, den Emanuel Hirsch damit beschreibt, dass für die Theologie im 19. Jahrhundert „die Kirche selber, ihr Wesen, ihre Aufgabe, ihre Gestalt und Ordnung, ihr Verhältnis zum Staat und zum allgemeinen Leben überhaupt, der Gegenstand, wo nicht gar Mittelpunkt theologischen Urteilens und Handeln wird“ (Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bde. 3–5, Gütersloh 41968, 145). 127 „Denn auch, wenn dieselben [die Andeutung Jesu über die Sündenvergebung bzw. Rechtfertigung, KO] als vollkommen durchsichtig erscheinen sollten, so wird ihre Bedeutung erst dadurch vollständig klar, wie sie sich in dem Bewußtsein der an ihn Glaubenden 124
130
Relecture Albrecht Ritschls
keine dieser Gestalten oder Traditionen könne allgemeingültige Geltung für andere zeitgeschichtliche Situationen beanspruchen, weswegen laut Ritschl z. B. für die Urgemeinde und für das 19. Jahrhundert das „Reich Gottes“ ein angemessener Ausdruck gewesen sei, für die Reformation hingegen die Rede von der „Rechtfertigung“. Im Rahmen funktionaler Kategorien ist es für Ritschl evident, dass für entkirchlichte Menschen die religiöse Rede angepasst werden müsse, um den Menschen überhaupt erst den Zugang zur „Gemeinde“ zu erschließen.128 Das ist eine Betrachtungsweise, die auf eine bleibende Problemstellung für die Theologie hinweist, wie nämlich mit denjenigen Menschen umgegangen wird, die auf Transzendenzerfahrungen ansprechbar sind, ohne diese schon in einer konkreten religiösen Gemeinschaft gefunden zu haben. Es kann angenommen werden, dass Ritschls ständige, programmatische wie provokative Weiterentwicklung der Theologie auch aus dem Willen einer positiven Neugestaltung der Kirche entspringt, für die sich in seiner Zeit – aufgrund des noch stärkeren Verlustes der Selbstverständlichkeiten – Möglichkeiten eröffnen, die selbst zu Schleiermachers Zeiten so noch nicht gegeben waren. Ritschl ist an dieser Stelle in der Formulierung äußerst präskriptiv in dem, was er als funktional bestimmt: Er legt für die Kirche in ihrer Gesamtheit fest, dass die Zielrichtung der Wirkung von Predigt eine konsolatorische zu sein habe. Es sei eigentliche Aufgabe der Kirche, „dem arbeitenden Menschen am Sonntag den religiösen Trost, auf den er gerade als Christ einen Anspruch habe“129, zu verkündigen. Ritschl fordert das im Unterschied zu einem abstrakten Bekenntnis, wie er es in der lutherischen Orthodoxie gegeben sieht, sowie einem Sündenverständnis, das für die Gläubigen nicht relevant sei, wie er es im Pietismus gegeben sieht. Zu den Funktionen der Verkündigung gehören bei Ritschl der „Jubel“130, die
reflectiren, und wie die Glieder der christlichen Gemeinde ihr Bewußtsein von Sündenvergebung auf die Person und das Wirken und Leiden Jesu zurückführen“ (Ritschl, RuV 3III, 1; vgl. dazu auch Slenczka, Glaube, 129 mit Verweis auf Ritschl, RuV 3III, 4). 128 Ritschl nimmt dies auf, wenn er Schleiermacher einen höchst pessimistischen Kirchenbegriff unterstellt, der die Verfallserscheinung gerade darin sehe, dass in der Kirche nur Reflexionen vorgetragen würden, welche die Masse der Laien nicht sinnvoll auf ihr eigenes Leben beziehen könne. Ritschl konstatiert, dass – wenn diese Diagnose stimme – dann diese Institution wirklich ihre Daseinsberechtigung verliere (Ritschl, Schleiermachers Reden, 51). Man merkt Ritschl in diesen Passagen an, dass er sich an Schleiermachers Kirchenverständnis insofern abarbeitet, als er der allgemeinen Zeitdiagnose zustimmt, unbedingt aber vermeiden will, dass die notwendige Folgerung daraus eine übersteigerte Subjektivität sein müsse, um trotz allem bei Schleiermacher ein optimistisches Kirchenverständnis heben zu können (vgl. Ritschl, Reden, 52). 129 Ritschl, Reden, 79. 130 Ähnlich und äußerst empathisch in dem schon oben erwähnten Brief an Diestel von 1867/68: „Zu Weihnachten will ich hören, daß wir die ਕȞșȡȫʌȠȚȢ İįȠțȓĮȢ sind, die erwählte Gemeinde dieses Kindes, und ich will in Jubel versetzt werden“ (O. Ritschl, ARL II, 49).
2. Das Reich Gottes
131
Erbauung131 oder, implizit im obigen Zitat, die Vermittlung des Wertes der Arbeit für den Menschen. Daraus ergibt sich eine weiterführende Problemstellung einer in diesem Sinne funktional ausgerichteten Theologie: Wie können die Wirkungen, d. h. die Funktionalitäten in der theologischen Reflexion so bestimmt werden, dass sie für Situativitäten und deren zeitgeschichtliche Kontexte sensibel sind, ohne z. B. konkrete Sozialformen wie die Kirche in ihrer bestimmten momentanen situativen Verfasstheit zu hypostasieren? Für Ritschl präsentiert sich der Lösungsansatz in der Bestimmung eines Narrativs, das für die Gemeinde in ihrer aktuellen Gestalt eine Funktion erfüllen kann, weil es für sie schon in anderen konkreten Gestalten eine Funktion erfüllt hat. Im Folgenden wird entfaltet, warum für Ritschl nur das Reich Gottes das die Gemeinde bestimmende Narrativ sein kann, das sowohl immer wieder spezifisch für eine Vielfalt an Situativitäten relevant werden kann als auch über diese Situativitäten hinausgeht und nicht auf sie reduziert werden kann.
2. Das Reich Gottes 2. Das Reich Gottes
Das Reich Gottes wird von Ritschl über die Analyse des biblischen Traditionsbestands eingeführt. Er unternimmt diese nicht in Form eines einfachen Biblizismus, sondern so, dass er die biblischen Texte darauf befragt, wie sich in diesen und in ihrer Entstehung spiegelt, dass das Narrativ des Reiches Gottes in seiner Entwicklung und Verschriftlichung zur Identitätsbildung der Gemeinde beigetragen hat.132 Die Plausiblisierung für solch ein Vorgehen wird bei Ritschl darüber erreicht, dass Gemeinde und Reich Gottes zunächst – so eine narrativitätstheoretische Interpretation – als Marker für die Notwendigkeit des Zusammendenkens von Situativität und Narrativ im Rahmen der Identitätsbildung der Gemeinde dienen. Wenn der Ort der Identitätsbildung der Gemeinde mit Ritschl überall dort ist, wo das Narrativ des Reiches Gottes in religiöser Verkündigung oder als enacted narrative kolportiert wird, wie ist dann das Verhältnis von Situation und Narrativ im Rahmen der Identitätsbildung zu verstehen? Die funktionale Perspektive impliziert, dass die religiöse Verkündigung bei aller durch den Gottesgedanken vorgegebenen A-Funktionalität für das Verhältnis von Narrativ und Situation sensibel sein muss. 131
„[Z]u Ostern will ich hören, daß wir die Gemeinde sind, die Christus mit sich aus dem Tod geführt hat und mit sich in den Himmel gesetzt hat“ (O. Ritschl, ARL II, 49). 132 Wittekind zeigt auf, wie diese biblische Theologie und die Reformulierung des Schriftprinzips unter dem Vorbehalt der „hermeneutischen Gewinnung des Standpunktes der Gemeinde“ (Wittekind, Religionskonstruktive Funktion, 522) stehe, die Ausdruck dessen sei, dass die „Abzielung Gottes auf die Gründung seiner Gemeinde in der Geschichte […] damit selbst Ausdrucksform eines neuen Religionsverständnisses“ (Wittekind, Religionskonstruktive Funktion, 523) ist.
132
Relecture Albrecht Ritschls
Das hier vorgeschlagene, narrativitätstheoretische Verständnis des Reiches Gottes als funktionales Narrativ der Gemeinde geht über Ritschls eigenen Sprachgebrauch hinaus. In dieser narrativitätstheoretischen Betrachtung kann jedoch das Ritschl immer wieder treffende Missverständnis vermieden werden, die Gemeinde könne das Reich Gottes als real anmutendes Reich herbeiführen.133 Wenn man davon ausgeht, dass das Reich Gottes bei Ritschl narrativ konstruiert ist, erschließt sich, warum er von einer vollständigen Bestimmung der Gemeinde durch das Narrativ ausgeht, das sich in all ihren Lebens- und Glaubensvollzügen idealiter explizieren sollte, wie Ritschl im UcR in der ersten Auflage darlegt: „Das Reich Gottes ist der allgemeine Zweck der durch Gottes Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde, und ist das gemeinschaftliche Produkt derselben, indem deren Glieder sich durch eine bestimmte gegenseitige Handlungsweise untereinander verbinden.“134
Um dem o. g. Missverständnis vorzubeugen, das Reich Gottes könne selbsttätig durch die Gemeinde geschaffen und durchgesetzt werden, entschärft Ritschl in der zweiten und dritten Auflage diese Formulierung zu: „Das Reich Gottes ist das von Gott gewährleistete höchste Gut der durch seine Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde; allein es ist als das höchste Gut nur gemeint, indem es zugleich als das sittliche Ideal gilt, zu dessen Verwirklichung die Glieder der Gemeinde sich durch eine bestimmte gegenseitige Handlungsweise untereinander verbinden. Jener Sinn des Begriffes wird deutlich durch die in ihm zugleich ausgedrückte Aufgabe.“135
Ritschls Aufnahme der Rede vom Reich Gottes in Verbindung mit der Kantތschen Kategorie des „Höchsten Guts“ kann aus narrativitätstheoretischer Perspektive folgendermaßen verstanden werden: Die Gemeinde ist in ihrer Identität immer wieder durch das Narrativ des Reiches Gottes bestimmt gewesen und wird weiterhin durch dieses bestimmt und ausgerichtet.136 Die Gemeinde muss sich deswegen, laut Ritschl, in jeder kollektiven momentanen situativen Verfasstheit neu in erprobender Weise vergewissern, dass diese Bestimmung durch das Reich Gottes weiterhin gegeben ist. Die Pointe einer narrativitätstheoretischen Lesart Ritschls liegt darin, dass dies sowohl in der expliziten religiösen Verkündigung der Gemeinde geschieht, die mit diesem Narrativ operiert (der Stiftung der Gemeinde durch Christus), als auch dort, wo das Reich Gottes als enacted narrative im Sinne MacIntyres im Handeln und „Leben“ der Gemeinde sichtbar wird (in der Verbindung der Glieder der Gemeinde in einer bestimmten gegenseitigen Handlungsweise). 137 Die von MacIntyre 133
Vgl. dazu Timm, Theorie, 41, Fn 20 und Fn 21. Ritschl, UcR, §5, 14. 135 Ritschl, UcR, §5, 13, Fn 6. 136 Chalamet, Reassessing, 633. 137 Ritschl legitimiert dies exegetisch: Die Erkenntnis Jesu vermittle sich durch die ReichGottes-Praxis der Jüngergemeinde (vgl. Ritschl, Evangelien, 30; bei Timm, Theorie, 43). 134
2. Das Reich Gottes
133
vorgeschlagene Kategorie des enacted narrative ist aufschlussreich für das Verständnis der Ritschl’schen Theoriebildung, auch wenn sie anachronistisch für Ritschl ist: Ritschls Reflexion des Zusammenhangs von Gemeinde und Reich Gottes versteht die Gemeinde in ihrer Identität als durch das Reich Gottes bestimmt, das sie als enacted narrative in ihrem Reden explizit und in ihren Handlungen implizit vollzieht.138 Die Kategorie des enacted narrative wird, auch wenn sie nicht von Ritschl selbst stammt, in dieser Arbeit überall dort als kritische Analysekategorie in Anspruch genommen, wo die handlungstheoretischen Betrachtungen Ritschls nicht auf eine normative Ethik abzielen, sondern auf die Art und Weise, wie das Reich Gottes im Handeln der Gemeinde zur Darstellung kommt.139 Unter dieser Kategorie wird im Folgenden auch der teleologische Zug des Reiches Gottes bei Ritschl subsumiert: Wie schon für die Gemeinde bestimmt, ist die Teleologie nicht als historistischer Zug der Ritschl’schen Theologie zu verstehen, sondern vielmehr Ausdruck dessen, dass die Gemeinde sich selbst nur in ihrem Handeln verstehen kann und dieses Handeln nur in dynamischen historischen Bezügen geschieht und erfassbar ist. Das „Reich Gottes“ steht deswegen nicht zufällig in eigentümlicher Weise als Scharnier zwischen der Funktionalität als Programmatik der „Prolegomena“ der Ritschl’schen Theologie und der A-Funktionalität des Gottesgedankens. Die notwendige Partizipation des Narrativs des Reiches Gottes an der AFunktionalität des Gottesgedankens kann als Plausibilisierungsstrategie Ritschls dafür verstanden werden, warum dieses Narrativ durch kein anderes 138 Vgl. hierzu und zum Reich-Gottes-Begriff im Umfeld Ritschls Marion Dittmer (Dies., Reich Gottes. Ein Programmbegriff der Protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts, [TBT 167] Berlin/Boston 2014), die den Reich-Gottes Gedanken bei Franz Theremin, Isaak August Dorner und Johann Tobias Beck unter der Prämisse analysiert, dass „der Reich-Gottes-Begriff ein paradigmatischer Begriff der Theologie des 19. Jahrhunderts ist, durch den charakteristische Anliegen, Vorstellungsgehalte und Denkstrukturen der Zeit wie auch traditionelle Themen der Theologie reflektiert und expliziert werden“ (Dittmer, Reich Gottes, 13). Auch wenn Dittmer immer wieder die Kulturgebundenheit des Reich-Gottes-Begriffes zeigt, ist auffällig, dass sie diesen nicht auf seinen narrativen Gehalt innerhalb der politischen Kontexte und Situativitäten befragt. Ihre Arbeit zeigt ebenfalls deutlich, inwiefern sich Ritschls Theorie anhand der hier dargestellten Modelle schärfen lässt, insofern einerseits das eschatologische Moment bei ihm in den Hintergrund rückt, andererseits das Reich Gottes weder wie bei Dorner auf die Kirche reduziert wird noch wie bei Beck als rein überweltlich bestimmt wird. Der Reich-Gottes-Gedanke entwickelt sich in den Diskursen seiner Zeit, so neben dem Modell von Richard Rothe (vgl. Christian Walther, Typen des ReichGottes-Verständnisses. Studien zur Eschatologie und Ethik im 19. Jahrhundert, [FGLP 10.SEr.XX] München 1961); vgl. zum Reich Gottes ebenfalls Bernd Harbeck-Pingel, Gesellschaft und Reich Gottes. Studien zu Alterität, Kommunikation und Handlung, (MThSt 73) Marburg 2003/Leipzig 2007. 139 Ritschl kann an einigen Stellen eine Perspektive des enactment unterstellt werden, wenn er von den Betrachtenden des Reiches Gottes spricht (Ritschl, RuV 3III, 418) oder von religiösen Akteur:innen als Schauspielern (Ritschl, FI, 89).
134
Relecture Albrecht Ritschls
Narrativ ersetzt werden kann und warum es eine Funktion für die Gemeinde in einer Vielzahl von situativen Verfasstheiten erfüllen kann. Gemeinde und Reich Gottes sind bei Ritschl tautologisch aufeinander bezogen: Die Gemeinde ist diejenige kollektive Größe, deren Identität durch das Reich Gottes bestimmt wird – das Reich Gottes ist die Größe, durch die sich die Gemeinde in ihrer Identität bestimmen lässt. 2.1. Das Reich Gottes in der Vielfalt biblischer Narrationen Das „Reich Gottes“ als zentrales Narrativ der Gemeinde kann Ritschl zunächst in der Genese dadurch legitimieren, dass es ein direkter Begriff der Verkündigung Jesu ist.140 Aufgrund dieser starken biblischen Verankerung eines Zentralbegriffs seiner Theologie wird Ritschl immer wieder, besonders in der prägenden Rezeption durch Schäfer, Biblizismus unterstellt.141 Für die folgende Arbeit ist deswegen die Vorbemerkung notwendig, dass diese Materialbestände als Illustrationen oder als Entdeckungszusammenhang der Theologie Ritschls im Rahmen eines Gedankenganges verstanden werden, die insofern notwendig sind, als dass sie exemplarisch auf die vielfältigen narrativen Gestalten und Gestaltungen der loci verweisen. Ritschl verwendet sie jedoch nicht als argumentative Begründungsfiguren, sodass die Vorwürfe des Biblizismus wie eines zu starken (katholischen) kirchlichen Traditionalismus gleichermaßen nicht gerechtfertigt sind.142 Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Vorwurf, dass Ritschl aufgrund der fehlenden expliziten Prolegomena in RuV III kein ausformuliertes Schriftprinzip entwickeln würde. Die durch die Gemeinde gegebene Ausrichtung der Theologie auf die Funktionalität macht ein 140 Folgerichtig stellt eine so verstandene „biblische Theologie“ der „sich selbst auslegenden Heiligen Schrift [...] eine Reihe religiöser Gedankenkreise“ dar (Ritschl, RuV 3II, 23). 141 Vgl. Schäfer, Art. Ritschl, 226. Clive Marsh versteht noch 1992 Ritschl vornehmlich von seiner exegetischen Herkunft her als biblische Theologie betreibend (vgl. Clive Marsh, Albrecht Ritschl and the Problem of the Historical Jesus, Lewiston 1992, bes. 14–16). Lauster konstatiert, dass für Ritschl die Schriftlehre eine untergeordnete Rolle spiele (vgl. Lauster, Prinzip, 187), sodass in der Rezeption nicht zu klären sei, ob bei Ritschl die Schrift das formale oder das materiale Prinzip darstelle (vgl. Lauster, Prinzip, 188), und die Frage nach der „Lebensgestaltung“ dringlicher sei (vgl. Lauster, Prinzip, 187). Die Bibel sei, so Lauster, Quelle und Norm in Ritschls theologischen Überlegungen. Es sei für Ritschl jedoch ebenso festzuhalten, dass „[d]ie Geltung des Schriftprinzips [...] nun freilich im Interesse der angestrebten Plausibilität nicht mehr als unhintergehbare, gleichsam axiomatische Voraussetzung behauptet werden“ kann (Lauster, Prinzip, 189). Deswegen hänge für Ritschl die Plausibilität des Schriftprinzips daran, wie es sich „in geschichtlicher Perspektive vertretbar begründen lässt“, im Unterschied zur Plausibilisierung durch den Heiligen Geist (Lauster, Prinzip, 190f.). 142 In dem Sinne versteht es z. B. Johannes Wendland, Albrecht Ritschl und seine Schüler im Verhältnis zur Theologie, zur Philosophie und zur Frömmigkeit unserer Zeit, Berlin 1899, 9.
2. Das Reich Gottes
135
explizites Schriftprinzip (und eine eigene Pneumatologie) für Ritschl insofern obsolet, als dass diese sich an den für die Gemeinde geltenden funktionalen Kriterien messen lassen müssten.143 Der Ritschl’sche Gebrauch der Schrift ist jedoch komplexer, sodass sich ein implizites Schriftprinzip vor allen Dingen aus der Art und Weise ablesen lässt, wie Ritschl RuV II konzipiert: Die Schrift ist diejenige Entität, aus der sich das Narrativ des Reiches Gottes als bestimmende theologische Größe speist. Ohne die Narrationen und narrativen Anlagen der Schrift wären weder das Narrativ des Reiches Gottes noch die kollektive Identitätsbildung der Gemeinde begründbar. RuV II dient deswegen im Folgenden als Basis für die hermeneutischen Überlegungen zum Reich Gottes, auch wenn es nicht die chronologisch erste Beschäftigung Ritschls mit diesem Begriff ist.144 Theologisch relevant ist die Schrift für Ritschl nicht ob ihrer Heiligkeit oder weil sie – sei es in einem verbalinspirierten oder in einem historisch-kritischen Sinne – wahr ist, sondern weil sie eine Funktion für die Gemeinde hat und hatte.145 Als narrativitätstheoretische Pointe kann aus Ritschl entfaltet werden, dass Verschriftlichung wie Kanonisierung selbst Teil der kollektiven Identitätsbildung der Gemeinde sind: Die Gemeinde bildet ihre Identität aus, indem sie von sich erzählt, wer sie ist. Sie tut das als diejenige kollektive Größe, die sich auf das Reich Gottes so bezieht, dass sie davon erzählen kann.146 Das Charakteristikum der Apostel liegt für Ritschl darin, dass sie keine Theologen seien, sondern religiöse Reden hielten, in denen sie in narrativer Form darlegen, wie der Bezug auf das Reich Gottes auf sie gewirkt habe.147 Die biblischen 143
Lauster formuliert: Als „Urkunden“ aus der Stiftungsepoche komme ihnen trotz der Entwicklung des Christentums bei Ritschl die Funktion der „dogmatischen Normierung christlicher Inhalte“ (Lauster, Prinzip, 193) zu. 144 Wie Zachhuber herausarbeitet, findet sich theologiegeschichtlich die erste Beschäftigung Ritschls mit dem Reich Gottes in den Vorlesungen zur Theologischen Ethik (vgl. Zachhuber, Idealismus, 245–257). Schon in der VLE unternimmt Ritschl eine Dreiteilung des Reiches Gottes, als 1) neutestamentliche Vorstellung; 2) Verhältnis zum Recht; 3) Bezug auf das höchsten Gut, das außerhalb empirisch messbarer Bezüge steht (Ritschl, VLE, 81). 145 Lauster schlussfolgert hingegen, dass Ritschl so keine Lösung für die Verhältnisbestimmung von Biblizismus und Kirchlichkeit finde und deswegen zwischen beiden Polen im Schriftgebrauch changiere. Es ist aber die Frage, ob sich darin, wie Lauster meint, „Glanz und Elend seiner Theologie“ zeig (Lauster, Prinzip, 195) oder ob dieses nicht gerade konstruktiv aufgegriffen werden kann in einer Theologie, die sich ihrer narrativen Anlagen selbst bewusst ist. 146 Das steht, im Unterschied zu Schäfers Deutung, gerade nicht im Widerspruch zur philosophischen Reflexion, sondern ist vielmehr deren notwendige Ergänzung in Bezug auf die dogmatischen loci (vgl. Schäfer, Grundlinien, 154). Lauster führt aus, mit Ritschl gelte, dass die Wirkungsgeschichte dann jeweils die eigene Deutungs- und Auslegetradition mitbestimme, sodass „die normierende Kraft [...] sich gleichsam selbst durch die wirkungsgeschichtliche Entfaltung der biblischen Lehren“ vermittle (Lauster, Prinzip, 195). 147 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 266.
136
Relecture Albrecht Ritschls
Narrationen seien immer nur unter ihrer Wirkung für die Gemeinde zugänglich, wie sie sich in ihrer momentanen situativen Verfasstheit als Gruppe der Apostel darstellt, die „als die Jünger Christi die erste Gemeinde selbst sind“\f148. Das Weitererzählen der Gemeinde ist ihre Identität, weil sie genau darin Gemeinde bleibt, dass sie sich weitererzählen kann und in ihrer jeweiligen kollektiven situativen Verfasstheit immer wieder anders erzählen muss. Die Erzählung vom Reich Gottes am historischen Ort der Urgemeinde plausibilisiere sich, so Ritschl, für die Gemeinde über die narrative Entfaltung der „Zentralstellung der Reich-Gottes-Verkündigung“149 unter Jesus und den ersten Jüngern: Die Darstellungen der Verkündigung Jesu in den Evangelien beurteilt Ritschl folgerichtig so, dass diese darauf abzielen, das Reich Gottes so explizit zu machen, dass einer Gruppe von Menschen die Möglichkeit gegeben werde, sich so auf das Narrativ des Reiches Gottes zu beziehen, dass es ihr ganzes Leben bleibend verändere und sie sich kollektiv als „Gemeinde“ definieren könnten.150 Ritschl kann dementsprechend die israelitische Rede von der Königsherrschaft Gottes produktiv in sein Verständnis des Reiches Gottes integrieren und die Kontinuität zwischen der „Gemeinde“ in ihrer konkreten Gestalt als „Urchristentum“ und „Israel“ betonen.151 Urchristentum wie Israel kann Ritschl als analoge kollektive Größen verstehen, weil sie beide momentane situative Ausdrucksformen der Gemeinde als derjenigen Größe sind, die 148 Ritschl, RuV 3II, 21. Timm kann deswegen formulieren: „Ritschls Markusexegese basiert auf der These, die theoretische Erkenntnis des eigentlichen Wesens Jesu sei durch die Reich-Gottes-Praxis seiner Jüngergemeinde vermittelt worden“ (Timm, Theorie, 43), woraus sich für ihn „die Idee der Vergottung eines religiös begründeten sittlichen Gemeinschaftsgefüges“ (Timm, Theorie, 45) entwickelt habe. 149 Zachhuber, Idealismus, 260. 150 Lauster versteht Ritschl deswegen so, dass er „in ausdrücklichem Gegensatz zu Schleiermacher damit an der supranaturalistischen Grundkonzeption der Offenbarung“ festhalte (in Bezugnahme auf Oberdorfer, dass Ritschl ein „radikal christozentrischer Offenbarungstheologe“ sei [Oberdorfer, Ritschl, 190]). Demgegenüber kann die Stiftung der Gemeinde als zwar positiv, in Bezugnahme auf das Narrativ aber nicht als statisch-ontologisch verstanden werden. 151 Wittekind macht für Ritschl die Verknüpfung mit dem historischen Bewusstsein auch an dieser Stelle deutlich, da die Gemeinde sich ihrer Stiftung selbstreflexiv bewusst werde als Gemeinde, die in ihrer Gestalt als Kirche in der Geschichte verankert sei und d. h. auf die kanonischen Schriften des Alten Testaments und Neuen Testaments rückbezogen bleibe, „wodurch das reformatorische Schriftprinzip sich als gleichbedeutend mit Ritschls Religionsverständnis erweist“ (Wittekind, Offenbarung, 534). Die Gewinnung des Schriftprinzips aus dem Standpunkt der Gemeinde bedinge die konsequente Lesart des NT vom AT her, wie Wittekind ausführt (Wittekind, Religionskonstruktive Funktion, 523–525). Paulus sei für Ritschl nur eine individuelle, tendenziöse Lesart dieses Verständnisses: „Ritschl verlagert damit bewusst die allgemeine anthropologische Religionsdefinition in eine geschichtsphilosophische Selbstbeschreibung des religiösen Akteurs“ (Wittekind, Religionskonstruktive Funktion, 525). Die Beziehung auf das AT steht dabei für „die Realisierung als Moment des Religionsbegriffs“ (Wittekind, Religionskonstruktive Funktion, 526).
2. Das Reich Gottes
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sich in ihren jeweiligen Kontexten auf das Narrativ des Reiches Gottes bezieht. Auf dieser Prämisse basiert Ritschls Hermeneutik des Alten Testaments: „Die Herrschaft Gottes also, auf welche sich die Rede und die Wirksamkeit Jesu bezieht, hat nicht den Umfang der Weltleitung, sondern gilt dem geschichtlichen Gemeinwesen des israelitischen Volkes, welches Gott durch seine Gesetzgebung ordnet, und durch deren Ausführung leitet.“152
Jesus könne nach Ritschl damit ein geprägtes Narrativ aufnehmen, das er situativ angemessen transformiere: Nämlich so, dass das Reich Gottes zwar durch Räumlichkeit und Zeitlichkeit gekennzeichnet und damit auf momentane Situativität bezogen sei, diese Dimensionen jedoch schon in den jesuanischen Erzählungen sowie im Medium dieser Erzählung, der Person Jesu selbst, transzendiert werde. Was Ritschl hier unternimmt, kann so interpretiert werden, dass das grundlegende Erzählschema des Narrativs des Reiches Gottes die Verschränkung von Räumlichkeit und Zeitlichkeit ist, die in der Logik der Narrationen gleichzeitig über diese Dimensionen hinausweist. Die räumliche Dimension, die schon in der Semantik des Wortes „Reich“ angelegt ist, konzipiert Ritschl so, dass sie auf eine Räumlichkeit abzielt, die weltliche Räumlichkeit transzendiert. Ritschl gibt in mehreren Passagen zu, dass die Analyse des Reiches Gottes paradox werde, da für das Reich Gottes gelte, dass sich Ausbreitung durch Verkleinerung erreichen lasse: Denn das Reich Gottes erreiche einen über die Grenzen des Volkes Israels hinausgehenden Umfang zunächst durch die Verkleinerung auf „einen bestimmten Kreis von Menschen“153, nämlich die Apostel, aus denen dann wiederum die Gemeinde erwachse, welche nicht an räumliche Grenzen gebunden sei. Die zeitliche Dimension ist nicht direkt im Begriff „Reich Gottes“ enthalten, durch die Narrationen jedoch notwendig impliziert als eine Form von präsentischer Eschatologie, die sich je und je neu für die Gemeinde verwirklicht – und gleichzeitig der Garant für die fortbestehende Identität dieser Gemeinde im Sinne der Identitätskonstruktion Ricœurs ist. 154 Das geschieht laut Ritschl besonders in der Befreiung von der Macht der Dämonen sowie der Befreiung aus sozialen Machtstrukturen in der Zuwendung zu den Armen.155 Folgerichtig konstatiert Ritschl, dass die Absicht Jesu dort verkehrt werde, wo der „Gedanke der Herrschaft Jesu in die Projection der Zukunft“156 gestellt und damit von der Situativität des Lebens Jesu wie vom Leben der Gemeinde entkoppelt werde. Mit Ritschl kann das folgendermaßen 152
Ritschl, RuV 3II, 29f. Ritschl, RuV 3II, 31. 154 Das Reich Gottes werde in der Zeit der Apostel bzw. der Briefe richtig verstanden, wenn es gefasst werde als „die Rede, welche die Ausbreitung der Gemeinde erstrebt; wenn es verstanden wird als die frohe Botschaft“ (Ritschl, RuV 3II, 294). 155 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 30f. 156 Ritschl, RuV 3II, 298. 153
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verstanden werden: Das Handeln in der Gemeinde „erzählt“ schon in den sie gründenden Narrationen (den Evangelien und der Apostelgeschichte) wie in der Entstehung dieser Narrationen im Rahmen der Kanonbildung vom Reich Gottes. Das kann in narrativitätstheoretischer Perspektive darüber plausibilisiert werden, dass Jesus selbst das Narrativ nicht nur erzählt, sondern es als enacted narrative so lebt, dass es lebensverändernd erfahrbar wird. Die teleologische Dimension des Reiches Gottes versteht Ritschl ganz präsentisch auf die Erzählung und das Handeln der Gemeinde als enacted narrative bezogen, die ihre Legitimation zum Handeln in konkreten Kontexten durch die überzeitliche, teleologische Qualität des Narrativs plausibilisiert.157 Die Art und Weise, wie Ritschl Räumlichkeit und Zeitlichkeit für das Reich Gottes in ihrer Verschränkung darstellt, kann so interpretiert werden, dass das Reich Gottes in seiner räumlichen wie zeitlichen Dimension ein „Übungsraum“ ist, in dem sich ein der Identitätsbildung dienendes fortgeführtes Erzählen der Gemeinde (in Rede wie enacted narratives) ereignet, ohne dass der eröffnete Raum der Erzählmöglichkeit je durch den Raum des Handelns oder des Erzählens selbst eingeholt werden könnte. Ritschl formuliert das unter dem Begriff der Herrschaft fast tautologisch anmutend: „Der Ausdruck Reich Gottes bezeichnet die Herrschaft Gottes als die ihrer Absicht gemäß wirksame Folge unserer Ueberzeugung, daß die Herrschaft Gottes durch Christus eine Gemeinde gefunden hat, welche sich durch Gott beherrschen lässt.“158 In diesem Verständnis ist weder zuerst die Gemeinde als kollektive Identität vorhanden, in der das Narrativ des Reiches Gottes entwickelt wird, noch ist zuerst das Narrativ schon vollständig bzw. abgeschlossen so entfaltet, dass sich eine Größe auf dieses „fertige“ Narrativ beziehen kann.159 Analog zu den Theorien 157
Ritschl kann das Reich Gottes in seiner Qualität als enacted narrative als durch die „Gerechtigkeit“ charakterisiert verstehen, denn Gerechtigkeit „ist die gemeinschaftliche Thätigkeit derer, welche zum Reiche Gottes gehören. Sie ist derjenige Gehorsam, an welchen sich die durch Christus ausgeübte Herrschaft Gottes als wirksam erprobt“ (Ritschl, RuV 3II, 293 [kursiv KO]). 158 Ritschl, RuV 3II, 30. 159 Dass dieser Gedanke des Zusammenhangs von Universalität und Partikularität in der Verschränkung von räumlicher mit zeitlicher Dimension auch exegetisch belegt werden kann, zeigt Michael Wolter („Was heißet nu Gottes Reich“, in: ZNW 86 [1995], 5–19). Der Reich-Gottes-Begriff in der Verkündigung Jesu steht in semantischer Nähe zu dem frühjüdischen Begriff, für den gilt: „Gottes Herrschaft ist universal, und sie ist israelzentrisch“ (Wolter, Gottes Reich, 8). Durch Jesu Auftreten mit dem „Anspruch, eschatologischer Repräsentant der Gottesherrschaft zu sein“ (Wolter, Gottes Reich, 14), verändert sich die Teleologie hin zu einem räumlichen Vorgang, als „die irdische Präsenz des Himmlischen“ (Wolter, Gottes Reich, 14). Durch die enge Bindung der Gottesherrschaft an die Person Jesu ergibt sich für die literarischen Zeugnisse seiner Verkündigung, „daß sie die ȕĮıȚȜİĮ IJȠ૨ șİȠ૨ nicht als eine universale, sondern als eine partikulare Größe explizieren, die nicht von Gott, sondern vom Menschen her entfaltet wird“ (Wolter, Gottes Reich, 15). Wolter zeigt auf, dass sich die Spannung zwischen Universalität und Partikularität aus der Aufnahme
2. Das Reich Gottes
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von MacIntyre und Ricœur zur individuellen Identitätsbildung kann man für Ritschl annehmen, dass er die Gründung der Gemeinde folgendermaßen versteht: Indem die Gemeinde auswählt, mit welchen Narrationen und unter welchen Narrativen sie von sich erzählt, bildet sie ihre Identität – und indem sich ihre Identität bildet, schärfen sich diese Narrationen und Narrative in einem Prozess gegenseitiger Korrektur, bis sie zu situativ angemessenen und temporär gebundenen identitätsstiftenden Narrativen werden. 2.2. Die biblischen Narrationen und das Narrativ des Reiches Gottes Ritschl kommt es darauf an, zu zeigen, dass der Umgang der Gemeinde mit den Narrativen eine hohe Offenheit des Gemeindeverständnisses impliziert, weil die Zuordnung zur kollektiven Identität der Gemeinde nicht mehr durch äußere Faktoren gegeben ist: Jeder, der sich auf das Narrativ des Reiches Gottes hin ausrichtet, seine individuelle Identität durch dieses bestimmen lässt und es in seinen eigenen Lebensvollzügen lebt, kann sich als Teil der kollektiven Identität verstehen. Das führt dazu, dass Ritschl sich kritisch gegenüber all jenen Konstruktionen des Reiches Gottes verhält, in denen eine Verengung der kollektiven Identität geschieht, indem sie noch durch anderes in ihrer Identität bestimmt wird: Das sieht er sowohl für das Judentum als auch für die Definition der Gemeinde bei Paulus gegeben.160 Beide verlieren die Offenheit, da sie das Narrativ einseitig reduzieren. Die Abgrenzung von einseitigen Reduktionen findet sich schon in Ritschls frühen, exegetisch ausgerichteten Arbeiten angedeutet: Ritschl zeigt sich in diesen Arbeiten noch vollständig an exegetischen Problemstellungen interessiert und zwar mit dem Mainstream der For-
eines geprägten Begriffes ergibt, der so vollständig neu eingebracht wird, dass sich die eigentliche Intention umkehrt, der semantische Gehalt aber beibehalten wird. Wolter schließt damit, dass deswegen der Begriff des Reiches Gottes „nicht mehr wie noch beim historischen Jesus als Bestimmungsbegriff mit eindeutigen semantischen Konnotationen fungieren konnte, sondern zu einem Gegenstandsbegriff wurde, der seinerseits auf eine von außen kommende inhaltliche Näherbestimmung angewiesen war“ (Wolter, Gottes Reich, 19). 160 Dieses ist laut Ritschl in den paulinischen Briefen der Grund, warum sich apostolische Briefliteratur und Paulus immer stärker von der Verkündigung (und Absicht) Jesu entfernten, insofern die Briefe sich zu stark auf die „Bedürfnisse der gottesdienstlichen Gemeinden“ ausrichteten: „[I]ndem die Bildung und Entwicklung der gottesdienstlichen Gemeinde als das unumgängliche Mittel für die Entwicklung des Reiches Gottes erscheinen mußte, so bot sich die Sorge für ihre normale Ausgestaltung als die nächste Aufgabe der Christen dar“ (Ritschl, RuV 3III, 301).
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schung primär an Einleitungsfragen und weniger an hermeneutischen Fragestellungen.161 Bereits in seiner Schrift zur Abhängigkeit des Lukas von Marcion (1846)162 fordert er jedoch von der Exegese in Bezugnahme auf David Friedrich Strauss’ Kritik der Evangelien-Harmonisierung, alle Evangelien in ihrem je eigenen Charakter zu verstehen, so wie Baur es für das JohannesEvangelium vorgemacht habe.163 Ritschl argumentiert, dass gerade die Vielfalt prononciert werden müsse, anstatt diese vorschnell in der Hebung authentischer Jesu-Worte oder unter der Perspektive dogmatischer Kohärenz zu nivellieren.164 Das Fehlen dieser Bemühungen kritisiert er wiederum 1851 an denjenigen zeitgenössischen Vertretern der Exegese (namentlich Delitzsch, Hilgenfeld und Ewald), die vorschnelle Synchronisierungen der Synoptiker unternehmen. Er regt stattdessen an, den Prozess der Evangelienentstehung als grundlegend dynamisch zu verstehen.165 Ritschl denkt hier besonders an die Korrektur der mündlichen Auslegung und Tradierung, d. h. der religiösen Verkündigung, durch die sich herausbildenden Evangelienschriften. Er versteht diese Korrekturfunktion nun nicht so, dass den Schriften eine normierende Qualität zukommt, sondern vielmehr so, dass sie funktional als Ermöglichung einer einheitlichen Bezugnahme dienen, innerhalb derer sich die mündliche Auslegung bewegen kann.166 Ob die Verwendung funktionaler Kategorien für biblische Texte grundsätzlich angemessen ist, kann als Kern der Auseinandersetzung zwischen Ritschl und seinem Schwiegersohn Johannes Weiß verstanden werden. Weiß macht 161 Vgl. dazu Zachhubers ausführliche Einordnung, dass Ritschl an exegetisch-historischen Fragestellungen im Sinne der Baur-Schule interessiert bleibe, diese aber in deren Sinne als Zeugen dafür benutzen könne, „die Wahrheit des Christentums historisch auszuweisen“ (Zachhuber, Idealismus, 174). 162 Diese Schrift Ritschls wird in der Marcion-Forschung meistens übergangen, was angesichts der prominenten Stellung von Harnack in der Marcion-Forschung verwundert. So stellt Gerhard May in der Einleitung des Tagungsbandes der Internationalen Fachkonferenz zu Marcion von 2001 nur Baur, Gustav Krüger und Hermann Usener als Vorgänger von Harnack vor (vgl. Gerhard May, Marcion ohne Harnack, in: Ders./Greschat, Marcion, 1–7, bes. 1f.). Das kann damit zusammenhängen, dass Ritschl mit Baur davon ausgeht, dass das Marcion-Evangelium vor Lukas entstanden sei und Lukas eine anti-marcionitische Bearbeitung vorlege. In der Forschung hat sich mit Theodor Zahn und Harnack hingegen durchgesetzt, dass „Marcions Evangelium [...] eine bearbeitete Fassung des kanonisch gewordenen Lukasevangeliums“ sei, sodass bearbeitet wird, welche Form von Kanonbildung Marcion vorlag und warum er gerade Lukas als Grundlage nimmt (Ulrich Schmid, Marcions Evangelium und die neutestamentlichen Evangelien. Rückfragen zu Geschichte und Kanonisierung der Evangelienüberlieferung, in: May/Greschat, Marcion, 67–77, hier: 69). 163 Exegetisch geht Ritschl dabei so vor, dass er das Evangelium des Marcion als vor dem Evangelium des Lukas entstanden annimmt und beide in einen gemeinsamen Kontext der Identitätsbildung als Kanonbildung des Urchristentums einordnet (vgl. Ritschl, Marcion, 4). 164 Vgl. Ritschl, Marcion, 2. 165 Vgl. Ritschl, Evangelien, 49–51. 166 Vgl. Ritschl, Evangelien, 13f.
2. Das Reich Gottes
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darauf aufmerksam, dass der ursprüngliche Begriff des Reiches Gottes in der Verkündigung Jesu nicht mit dem Narrativ, das Ritschl aus diesem entfaltet, übereinstimmt, insofern – so Weiß – das messianische Selbstbewusstsein Jesu nicht von der Verkündigung des Reiches Gottes zu trennen sei.167 Weiß sieht die Möglichkeit eines funktionalen Bezugs auf das Reich Gottes gerade nicht gegeben, da die situative „eschatologische Stimmung“ des Urchristentums konstitutiv für den Gedanken des Reiches Gottes in der jesuanischen Verkündigung sei, diese jedoch in seiner Zeit (also 1892) nicht mehr geteilt würde.168 In spannungsreicher Weise wird damit in der Bestimmung des Verhältnisses von systematischer Theologie und Exegese die Frage aufgerufen, inwiefern unter narrativitätstheoretischen Bedingungen die biblischen Texte als Narrative verstanden und für eine funktionale Ingebrauchnahme beansprucht werden können.169 Aus dieser Auseinandersetzung kann ein weiteres Kriterium dafür gewonnen werden, warum das Reich Gottes ein sinnvolles Narrativ für die Gemeinde in funktionalen Kategorien ist, nämlich durch die im Narrativ selbst angelegte Möglichkeit zur Korrektur: Die Narrationen der Evangelien können – unter Wahrung ihrer Vielfalt und Vermeidung von Harmonisierungen – als Korrektur eines einseitig reduzierten Narrativs dienen. Ebenso kann das Narrativ (und besonders die darin implizierte funktionale Perspektive) helfen, einseitige Lesarten der Narrationen zu vermeiden.170 Ritschls exegetisch-historische Perspektive aufnehmend und diese narrativitätstheoretisch reformulierend, kann die Identitätsbildung der Gemeinde so 167
Vgl. Johannes Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes [1892], Göttingen 31964,
176. 168
Weiß zeigt auf, dass Ritschl den Begriff des Reiches Gottes nicht in der Verkündigung Jesu begründen kann, sondern ihn vielmehr aus Kant (und der Idee des höchsten Guts) gewinnt (vgl. Weiß, Predigt, 264). Er plädiert demgegenüber für die Gotteskindschaft als angemessenen Begriff einer „modernen Theologie“ (ohne allerdings selbst die zeitgeschichtliche Gebundenheit dieses Begriffes zu reflektieren). Schäfer legt dar, dass Ritschl den ReichGottes-Gedanken sehr wohl aus den Evangelien ableite und nur andere Passagen als Weiß fokussiere (Schäfer, Reich Gottes, 86). 169 Dass dieses Verhältnis bei Weiß selbst unter zeitgeschichtlich bedingten Prämissen steht und den Charakter eines Narrativs hat, zeigt Friedemann Regner auf (in seiner Wortwahl: Das Reich Gottes sei eine fable convenue, vgl. Friedemann Regner, Johannes Weiß: „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“. Gegen eine theologiegeschichtliche fable convenue, in: ZKG 84 [1973], 82–92); denn die Prämisse sei die „fast nirgends ausgesprochene und schon gar nicht geklärte[…] Voraussetzung, daß exegetische Resultate ‚irgendwie‘ für die systematische Theologie“ bedeutsam seien (Regner, Weiß, 83); zu dem Streit um die Möglichkeit einer voraussetzungslosen Exegese, auf die Bousset und Gunkel gegenüber Ritschl pochen, vgl. Murrmann-Kahl, Heilsgeschichte, 309. 170 Deswegen erstreckt sich die Schriftautorität bei Ritschl ausdrücklich nicht auf alle Lebensbereiche, sondern kann z. B. durch die Bekenntnisse ergänzt werden, wie Lauster kommentiert: „Zu der Bekenntnisbildung kommen innerbiblische Selektionskriterien hinzu, die die Schriftauslegung regulieren und damit nicht allen Schriftstellen in gleichem Maße Autorität einräumen“ (Lauster, Prinzip, 193).
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Relecture Albrecht Ritschls
verstanden werden, dass die Kohärenz der Erzählung der Gemeinde in paradoxer Weise über Vielfalt sowie über situative Dynamik und Offenheit hergestellt wird. Als Kerngedanke des impliziten Ritschl’schen Schriftprinzips kann festgehalten werden, dass die kohärenteste Art und Weise der Gemeinde, vom Reich Gottes und von sich zu erzählen, ist, diese Erzählung vielfältig und unabgeschlossen zu lassen: Das Reich Gottes erweist sich als Räumlichkeit und Zeitlichkeit transzendierend darin, dass es nicht auf eine bestimmte Situation oder eine bestimmte kulturelle Größe verengt werden kann, sondern sich situativ adaptiv je und je anders erweist. Die „Gemeinde“ erweist sich als ein Übungsraum, in dem die Vielfalt der biblischen Narrationen auf die Vielfalt derjenigen kulturell geprägten momentanen situativen Verfasstheiten trifft, in denen sich sowohl kollektive Gruppen als auch einzelne Individuen wiederfinden. Ritschl gewinnt mit der Betonung des Reiches Gottes in der Vielfalt der biblischen Narrationen die Vermeidung von einseitigen Reduktionen, die eine situativ angemessene Adaption dieses Narrativs über seinen Ursprungskontext hinaus ermöglichen: Was das Reich Gottes ist, wird in den biblischen Erzählungen laut Ritschl nicht vorgegeben, sondern bestimmt sich je neu in der Identitätsbildung derjenigen Größe, die sich immer wieder zumutet wie zutraut, vom Reich Gottes in ihrer religiösen Verkündigung wie in ihren Lebensvollzügen situativ je anders und angemessen zu erzählen. 2.3. Das Reich Gottes in der Vielfalt lebensweltlicher Vollzüge Wenn das Reich Gottes präsentisch gedacht wird, dann partizipiert es an der Vielfalt der lebensweltlichen Möglichkeiten, in denen es sich als enacted narrative durch die Gemeinde vollzieht. Wirkung entfalten kann das Narrativ bei Ritschl nur dort, wo sich Gemeinde in konkreten, situativen Gestalten darstellt (Israel, das Urchristentum, die Landeskirchen des 19. Jahrhunderts und so weiter), die sich wiederum in historischen Kontexten mit ganz unterschiedlichen Prägungen befinden. Im Rahmen einer narrativitätstheoretischen Perspektive kann so ein produktives Verständnis von Kulturprotestantismus formuliert werden:171 Wie anhand der Verwendung des Reiches Gottes bei Ritschl gezeigt werden kann, ist eine kulturprotestantische Theologie darum bemüht, die Dy-
171 Die Rede von Ritschl als „Vater des Kulturprotestantismus“ wird meistens im Modus der Kritik aufgegriffen (vgl. Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik Bd. 1, NeukirchenVluyn 1955, 165; vgl. Helga Kuhlmann, Zum Freiheitsbegriff Albrecht Ritschl in der Vorlesung „Theologische Moral“ aus dem Sommersemester 1882, in: Ringleben, Reich Gottes, 93–111, hier: 108; ebenso bei Timm, Theorie 13; zur Bewertung des Kulturprotestantismus Friedrich Wilhelm Graf, Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: Archiv für Begriffsgeschichte 28 [1984], 214–268).
2. Das Reich Gottes
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namik zwischen Narrativ und je eigener zeitgeschichtlich gebundener Situativität nicht aus den Augen zu verlieren.172 Ritschl ist nun daran interessiert, die Grenzen dieser Pespektivierung ebenfalls durch das Narrativ des Reiches Gottes zu bestimmen: „Da dieser Begriff von Gott seine Relation an der Verbindung des Menschen zum Reiche Gottes hat, dieses aber nach unserer Erfahrung ein besonderes Gebiet in der ganzen Menschengeschichte bildet, welches räumlich und zeitlich von der letzteren überboten wird, so kann hieraus direct nur eine solche Beurtheilung des Verhältnisses zwischen dem menschlichen Leben und der Welt abgeleitet werden, welche für die Genossen des Reiches Gottes gilt.“173
Der Bezug auf das Reich Gottes kann für Ritschl, so wird aus dem oben genannten Zitat deutlich, nur für die „Genossen des Reiches Gottes“ gelten, also diejenigen, die schon durch das Narrativ bestimmt sind und bereit sind, sich auf weitere situative Bestimmungen durch das Narrativ einzulassen. Die Korrelation von den Kontexten der je momentanen situativen Verfasstheit der Gemeinde und dem präsentischen Aspekt des Reiches Gottes ist dadurch gekennzeichnet, dass beide nicht einfach deckungsgleich sind, sondern sich komplementär und korrigierend ergänzen. Im Zuge der Bestimmung der Geltung des Rechtsstaates ruft Ritschl sehr explizit die gegenseitige Korrektivfunktion auf, die konkrete staatliche Rechtsordnungen und das Narrativ des Reiches Gottes aneinander haben: Ritschl nimmt einen handlungstheoretischen Primat des staatlichen Rechts als „Bedingung der göttlichen Ordnung“174 an. Aus religiöser Perspektive ist die Ordnung des Staates jedoch immer nur ein Mittel, dass weder von Gott gesetzt ist noch als ein „Maßstab für die Möglichkeit des Reiches Gottes“ gelten kann.175 Damit ist bei Ritschl also keine Hypostasierung bestehender staatlicher Verhältnisse impliziert, vielmehr kann Ritschl narrativitätstheoretisch folgendermaßen verstanden werden: Christliches Handeln als enacted narrative des Reiches Gottes ist situativ angemessenes Handeln. Als dieses situativ angemessene Handeln ist es an die Kontexte der jeweiligen Situativität gebunden (wie das staatlich gegebene Recht), die als grundlegende Rahmenbedingungen der enacted narrative in ihrer Geltung ernst genommen
172
Ritschl entwirft die Perspektive eines „Weltreiches“, das zusammen mit der Familie als Gemeinschaft und dem Volk im Staat als Rechtsgemeinschaft Voraussetzung für die „Geltung des Gedankens vom Reiche Gottes als der bestimmungsmäßigen sittlichen Gemeinschaft der Menschen“ (RuV 3III, 292) ist, da dieser nicht verstanden werden könne, wenn die drei anderen politisch-ethischen Formen nicht „erlebt und ihr eigenthümlicher Wert anerkannt worden“ sei (Ritschl, RuV 3III, 293). 173 Ritschl, RuV 3III, 288. 174 Ritschl, RuV 3III, 296. Ritschl denkt das im Rückgriff auf die reformatorische Idee der iustitia civilis, die er als „ein notwendiges Glied der sittlichen Weltordnung Gottes“ (Ritschl, RuV 3III, 299) versteht. 175 Ritschl, RuV 3III, 301f.
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werden können und eigenständig reflektiert werden müssen.176 Diesen Rahmenbedingungen kann situative Normativität zukommen, aber diese kann nicht über die je einzelnen Situationen hinausgehend gedacht werden: Situationen und Narrative müssen je neu und neu im Handeln als enacted narrative miteinander korreliert werden. Wiederum kann dieses Zitat so verstanden werden, dass es bei der Betonung der Vielheit für Ritschl darum geht, die Kontexte für die Fülle der Lebenserfahrung, d. h. eine Vielzahl momentaner situativer Verfasstheiten zu erhalten. Dies ist in seinem Argument enthalten, dass die Naturwelt überhaupt nur als Entfaltungsraum der Vielheit der Geister dienen könne. 177 Die „übernatürliche Einheit“ kann dann als Transzendierung der Kontexte momentaner situativer Verfasstheiten verstanden werden, nämlich als Einheit gegenüber kontingenter „Schranken“ wie „der Familie, dem Stande und der Volksgenossenschaft“178. Man kann das in der Aufnahme Ritschls als Diastase sehen, die es zu überwinden gilt, oder als eine Dynamik, die eine für funktionale Kategorien sensible Theologie mitbedenken muss. Wenn Ritschl so narrativitätstheoretisch umformuliert wird, zeigt sich direkt der mit seiner Theologie verbundene hohe Anspruch an die Gemeinde wie die jeweils Einzelnen in ihr: Denn diese Korrelation von Situativität und Narrativ muss beständig, in der Auseinandersetzung mit der je vorfindlichen Weltlage und den gegebenen Bedingungen, vollzogen und reflektiert werden. Das stellt eine kognitive wie voluntative Herausforderung dar, die nicht nur eine hohe Sensibilität und eine gute Kenntnis zeitgeschichtlicher Zusammenhänge erfordert, sondern diese beständig unter dem Narrativ des Reiches Gottes hinterfragen muss. Dass dieses selbst von Ritschl so nicht durchgehalten werden kann, zeigt sich prägnant an seinen Ausführungen zu Nationalstaat und Kriegsfall im UcR. Mit der Frage, ob im Kriegsfall der Nationalstaat verteidigt werden darf, nimmt Ritschl in der Form dogmatischer Ausführungen mit Öffentlichkeitswirkung ein mehr oder weniger tagesaktuelles politisches Thema auf: Beim Erscheinen 176
Das Staatsrecht darf aber keinesfalls im Sinne eines unveränderlichen Naturrechts verstanden werden, sondern hat sich kontingent aus den positiv gegebenen Rechtssätzen entwickelt, wie Ritschl betont (vgl. Albrecht Ritschl, Festrede zur Feier des 150jährigen Bestehens der Georg-August-Universität 8. August 1887, in: Ritschl, Akademische Reden, Bonn 1887). In der Rede zum 150jährigen Bestehen verteidigt Ritschl das Vorgehen der sog. „Göttinger Sieben“, sieben Professoren der Universität, die 1837 gegen die Aufhebung der Verfassung durch Ernst August I. protestiert hatten. Ritschl pointiert damit nicht nur seine Staatstheorie, sondern auch die Unabhängigkeit der Universität bzw. der wissenschaftlichen Forschung gegenüber politischen Einflüssen. Es wäre weiter zu untersuchen, wie zu der Metapher des „Reiches“ die der Herrschaft und der Untertanen bzw. der Genossen gehören. Mit der Gründung der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) 1875 wird „Genosse“ als „Mitglied einer Arbeiterpartei“ zu einer dezidiert politischen Anrede (vgl. Herbert Bartholmes, Bruder, Bürger, Freund, Genosse und andere Wörter der sozialistischen Terminologie, Wuppertal 1970, 176). 177 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 266. 178 Ritschl, RuV 3III, 267.
2. Das Reich Gottes
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der Erstauflage des UcR im Jahr 1875 lagen die deutsch-französischen Kriege gerade einmal vier Jahre zurück. In den Ausführungen wird deutlich, wie Ritschl die momentane situative Verfasstheit der Gemeinde im Kontext des wilhelminischen Kaiserreichs hypostasiert: Die abstrakte Größe der Gemeinde wird von Ritschl in diesen Passagen ausschließlich im Rahmen ihrer Verfasstheit im 19. Jahrhundert verstanden. Ritschl argumentiert mit „zeitgenössischen Plausibilitätsstrukturen“179, nämlich einem Staat, der im 19. Jahrhundert eben der deutsche Nationalstaat mit all seinen Strukturen ist (der monogamen Ehe, patriarchalen Familienkonstellationen etc.).180 Das hat Konsequenzen für das Narrativ des Reiches Gottes, das auf die Funktion für diese momentane situative Verfasstheit der Gemeinde reduziert wird. Eigentlich ist das Reich Gottes bei Ritschl explizit nicht als Staat gedacht, sondern durch die Idee der staatliche Grenzen transzendieren Nächstenliebe gekennzeichnet.181 Ritschl scheint ursprünglich eine Staatengemeinschaft zu imaginieren, die sich statt auf nationale Grenzen auf das diese Grenzen transformierende Reich Gottes bezieht (vgl. in §7: „religiöse und sittliche Vereinigung aller Völker“182 oder auch in §19: „sittliche Verbindung aller Menschen als Menschen“183). In der Dynamik von einem Grenzen transzendierendem Narrativ und der mit Grenzen operierenden, situativen Vorstellungswelt kommt bei Ritschl jedoch der Nationalstaat ins Spiel. Dieser Staat kann nun in konkreten Situationen vorgestellt werden, in denen z. B. im Kriegsrecht die Universalität des Liebesgebotes aufgehoben ist. Im Kriegsfall gelte, so Ritschl: „So lange nun die Politik die Rechte eines Volkes oder Staates gegen Befeindung durch andere zu bewahren hat, wird man freilich zu diesem Zweck niemals zum Gebrauche verbrecherischer Mittel berechtigt sein, ist jedoch auch nicht an die Regeln gebunden, welche für das rechtliche und sittliche Handeln des einzelnen Christen im Verhältnis zu seinem Staate und im Verkehr mit den anderen Menschen gelten.“184
Diese Beobachtung kann als Erschließung dafür dienen, dass die gegenseitige Korrelation von Narrativ und Situativität höchst problematisch sein kann – dann nämlich, wenn sich wie bei Ritschl Legitimierungsstrategien einziehen,
179
Ächtler, Narrativ, 259. Vgl. Timm, Theorie, 79. 181 „[D]ie tätige Teilnahme am Staate, sofern sie aus dem Patriotismus und der allgemeinen Rechtsgesinnung entspringt, [ist] keine Tätigkeit, welche direkt zum Reiche Gottes gehörte“ (Ritschl, UcR, §33, 48), sowie: „In dem Maße nun, als diese Gesinnung [das Streben nach dem Reich Gottes, KO] die verschiedenen Völker erfüllt, wird sie die Achtung ihrer gegenseitigen Rechte verstärken“ (Ritschl, UcR, §33, 48). 182 Ritschl, UcR, §7, 17. 183 Ritschl, UcR, §19, 33. 184 Ritschl, UcR, §33, 48. 180
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Relecture Albrecht Ritschls
die einseitig situative Kontexte fokussieren und diese normativ setzen. 185 Durch den Standpunkt der Gemeinde vermeidet Ritschl einen ethischen Universalismus, der sich als unabhängig von momentanen situativen Verfasstheiten versteht und so normierend werden könnte.186 Das führt jedoch umgekehrt dazu, dass diese momentanen situativen Verfasstheiten und ihre zeitgeschichtlichen Kontexte dort auf problematische Weise in das Narrativ eingezogen werden, wo Ritschl seine Theologie in ihrer eigenen zeitgeschichtlichen Gebundenheit nicht genügend reflektiert.187 2.4. Das Reich Gottes in situativer Vielfalt Eine Verschärfung dieser Problematik der Reduktion eines Narrativs auf bestimmte situativ gebundene Kontexte zeigt sich bei Harnack in der Aufnahme der Ritschlތschen Theologie, die sich besonders für die Kritik K. Barths als wirkmächtig erweist. Harnack ist darum bemüht, die mit der Metapher der Herrschaft verbundenen problematischen Denkmuster aufzulösen. Er stellt dazu zunächst fest, dass die Rede vom Reich Gottes mit Metaphern und Narrationen überlagert werde könne, die dem Narrativ unangemessen seien, da
185 Verkompliziert wird dies dadurch, dass Ritschl wiederum nicht auf der Ebene des Individuums, sondern auf der Ebene der Gemeinde denkt: Die Gemeinde als Subjekt soll transnational handeln. Das individuelle Subjekt in der Gemeinde kann jedoch konkret von Kriegshandlungen betroffen sein und wäre dann gezwungen so darauf zu reagieren, dass es die eigentliche Ausrichtung der Gemeinde unterläuft: Dem individuellen Subjekt in seiner momentanen situativen Verfasstheit wird sich die Notwendigkeit zu handeln immer stärker aufdrängen als dem abstrakten Subjekt der Gemeinde. 186 Dass das Reich Gottes nicht im Sinne eines ethischen Universalismus gedacht sein kann, lässt sich m. E. indirekt aus Ritschls Vortrag „Über das Gewissen“ ableiten: Denn dort betont er ausdrücklich, dass mit „Gewissen“ gerade kein einheitlicher Phänomenbestand gemeint ist, sondern situativ ganz verschiedene Aspekte von „Gewissen“ in den Vordergrund treten können. Man müsse deswegen „freilich recht gründlich auf die hergebrachte Illusion verzichten, daß das Gewissen als eine in sich geschlossene, fertige Naturbestimmtheit des sittlichen Erkennens“ zu denken sei (Ritschl, Gewissen, 31). Es gebe im Menschen kein „Organ“, das einen ethischen Universalismus als solchen bearbeiten könne – sondern nur das situativ reagierende Gewissen, das gleichzeitig auf die der jeweiligen Situativität inhärenten Normativität verweise, ohne diese aber in einem Universalismus aufheben zu können. 187 Vgl. Timm, Theorie, 80. Ritschl halte trotz der Erfahrungen von 1848 an dem „Ideal des universalen religiösen Reiches aller freien Geister“ (vgl. Timm, Theorie, 86, vgl. auch 80–82) fest, in dem es einen „weltumspannenden geistigen Wechselverkehr aller gesitteten Völker untereinander“ gebe (Timm, Theorie, 87). Dieser „geschichtlich-gesellschaftliche Universalismus“ sei aber zu diesem Zeitpunkt historisch eigentlich schon überholt (Timm, Theorie, 87). Timm kann weiter davon ausgehen, dass aufgrund der veränderten historischen Bedingungen gelte, dass „die Ritschlschüler ihren Lehrer von vornherein [so] interpretiert haben, daß dessen ursprüngliche Reich-Gottes-Lehre geschichtlich bereits überholt war, ehe sie literarisch Gestalt gewonnen hatte“ (Timm, Theorie, 87).
2. Das Reich Gottes
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gelte:188 „Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft.“ 189 Die Korrelation von Situativität und biblischer Narration in Harnacks eigenem historischen Kontext führt jedoch schließlich dazu, dass die Situativität einen Vorrang vor dem Narrativ bekommt: Die biblischen Narrationen dienen gerade nicht als Korrektiv der politischen Situation, sondern der Legitimierung einer nationalistischen Einstellung, so wenn Harnack 1899/1900 den Ruf Johannes des Täufers zur Umkehr mit Johann Gottlieb Fichtes Ruf zu den Waffen parallelisieren und auf die konkrete Verteidigung des „Vaterlandes“ bzw. der Nation beziehen kann.190 Das bei Ritschl wie bei Harnack derart zeitgenössisch plausibilisierte Narrativ vom Reich Gottes unter den Bedingungen und der Einbindung in eine bestimmte Staatlichkeit hat dort seine Stärken, wo es den Gedanken der konkreten Rechtsstaatlichkeit und die Frage nach den Herrschaftsstrukturen in einem historischen Staat explizit macht und die Möglichkeit zur Transformation bietet, sodass das Narrativ des Reiches Gottes den situativen Kontext momentaner Staatlichkeit korrigieren kann (und vice versa). Die Rede vom Reich Gottes hat hingegen bei Ritschl und bei Harnack dort eine eklatante Schwäche, wo zumindest punktuell die politisch-ethischen Kontexte und Semantiken der momentanen situativen Verfasstheit der Gemeinde nicht weiter reflektiert werden, sodass das Narrativ des Reiches Gottes für die Begründung einer politischen Einstellung verzweckt werden kann. Über die Partizipation an den Transzendierungsmechanismen des Reiches Gottes kann somit eine eigentlich kontingente Handlungsweise scheinbar legitimiert werden kann: Diese Schwäche zeigt sich – das ist dann das Gründungsnarrativ der Dialektischen Theologie – noch einmal eklatanter anhand des „Manifest der 93“.191
188 Harnack macht drei Kreise dieser Verkündigung aus, die mit dem „Reich Gottes und sein[em] Kommen“; „Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele“; „die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe“ ihren Ausgang deutlich in den Kernpunkten der Ritschl’schen Theologie nehmen (Reich Gottes; Vater; Gebot der Liebe), durch Harnack aber in einer ethischen Perspektivierung ergänzt werden (Harnack, Wesen, 37–42). 189 Harnack, Wesen, 40, kursiv im Original. 190 „Was tat er [Fichte] dann? Rief er sie einfach zu den Waffen? Aber eben die Waffen vermochten sie nicht mehr zu führen; sie waren ihnen aus den kraftlosen Händen geschlagen. […] Die verschütteten Quellen unserer Kraft vermochte er [Fichte] wieder aufzudecken, weil er die Mächte kannte, von denen Hülfe kommt. [...] Nicht anders ist über die Predigt Johannes’ des Täufers [...] zu urteilen“ (Harnack, Wesen, 34). 191 Vgl. Barth, Evangelische Theologie, 6. Zu Harnacks anfänglicher Legitimation des Krieges im Kontext seiner Zeit vgl. Wolfram Kinzig, Harnack, Houston Stewart Chamberlain, and the First World War, in: JHMTh/ZNThG 22 (2015), 190–230; zu Harnacks Positionsänderung, vgl. Christian Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890– 1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, (BHTh 124) Tübingen 2004, bes. 378–410.
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Ritschls und Harnacks Schwäche liegt jedoch nicht primär im theologischen System begründet, sondern vielmehr darin, dass ihre Theologie eine präzise Analyse der situativen Gegebenheiten erfordern würde. Die Kontexte sowie Aspekte dieser Situativität liegen in den meisten Fällen außerhalb des genuinen Forschungsgebietes der Theologie: Ritschl fehlt es z. B. an Methoden, die kulturelle Eingebundenheit soziologisch zu reflektieren, was dazu führt, dass zeitgeschichtlich zu kontextualisierende Befunde von ihm immer wieder hypostasiert oder als Naturgegebenheiten präsentiert werden. 192 Das minimiert die Funktionalität des Reiches Gottes als Narrativ für die Gemeinde: Wenn das Narrativ des Reiches Gottes durch seine Angemessenheit für die momentane situative Verfasstheit der Gemeinde und seiner Wirkung auf die Gemeinde plausibilisert wird, dann kann die Rede vom Reich Gottes schon dort implausibel werden, wo schon die Bearbeitung der momentanen situativen Verfasstheit und ihrer Kontexte fragwürdig ist. Wenn eine liberale Theologie diese mit Ritschl aufgeworfene Sensibilität für die momentane situative Verfasstheit besitzt (oder besitzen möchte), ist damit m. E. nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit von inter- und transdisziplinären Arbeiten in der Systematischen Theologie impliziert. Die Sensibilität für situative Verfasstheiten und deren vielfältige lebensweltliche Bezügen erfordert die Expertise derjenigen Wissenschaften sowie Institutionen und Organisationen, die sich mit den konkreten momentanen situativen Verfasstheiten und ihren Kontexten befassen, in die ein Narrativ sprechen kann. An dieser Stelle kann die Unterscheidung helfen, ob sich die Theologie auf kollektive situative Verfasstheiten konzentrieren möchte, sodass wahrscheinlich eher die Kulturwissenschaften, die Geschichtswissenschaften und die Soziologie bzw. die Politikwissenschaften als Referenzwissenschaften herangezogen werden können, oder auf individuelle situative Verfasstheiten, die wahrscheinlich eher eine psychologische oder auch medizinische Durchdringung erfordern. Die theologisch aufgenommene Bearbeitung von Situativität und Kontexten kann religiöse Narrative korrigieren.193 Solche Umformungen sind für die reli-
192 Das fällt an den Stellen besonders auf, an denen das Narrativ in Analogie zu konkreten Institutionen gesehen wird. Ein Beispiel dafür sind Ritschls Ausführungen zur Ehe: Ritschl geht von naturgegebenen Unterschieden zwischen Mann und Frau aus, die in der Ehe aufgehoben würden und zwar so, dass in der Ehe, wie im Reich Gottes, innerhalb von Vollzügen diastatisch aufeinander Bezogenes in Eins falle (Ritschl, VLE, 95–99). Ritschl argumentiert in der Rechtfertigung einer kontingenten, historischen Institution entgegen seiner sonstigen Vorgehensweise mit Naturgegebenheiten, die er für andere Bestimmungen gerade ablehnt. 193 Das kann z. B. im Sinne einer Transformation religiöser Begriffe geschehen, wie sie Walter Sparn für das Reich Gottes unternimmt (vgl. Walter Sparn, Reich Gottes: Reich der Freundschaft. Für eine trinitarische Bestimmung des Begriffs der Gottesherrschaft, in: Härle/Preul, MJTh XI, 31–61). Sparn versucht, die sich aus der Herrschaftsmetaphorik ergebenden Problematiken teleologisch zu lösen, in der „Rede vom ewigen Reich Gottes in
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giöse Verkündigung dort notwendig, wo bestimmte Narrative aus dem Traditionsbestand nicht auf ihre historisch gewachsenen oder situativ einseitig besetzten Semantiken reduziert werden können. Es ist sinnvoll, diejenigen Narrative beizubehalten, die in einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation problematisch erschienen und erscheinen, um die Theologie wie die religiöse Verkündigung selbstreflexiv auf die Notwendigkeit der beständigen Situativitäts- und Kontextanalyse zu verweisen sowie ein Bewusstsein für die Korrektivfunktion von biblischen Narrationen und Situativitäten zu schärfen. Denn ebenso können sich – vermittelt über das Narrativ – auch Narrationen und momentane situative Verfasstheiten mit ihren Kontexten gegenseitig ergänzen und korrigieren. Das findet sich schon bei Ritschl selbst: Wenn Ritschl auf das logion „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) verweist,194 dann bietet schon dieser Verweis eine Korrektur der Paragraphen zur Nationalstaatlichkeit im UcR. Die Narrationen, aus denen sich ein Narrativ speist, bieten eine gewisse Widerständigkeit gegenüber allzu schnell geschehenden Reduktionen dieses Narrativs auf eine Funktion oder eine bestimmte situative und kontextuelle Einbindung. In den bisherigen Überlegungen klang schon an, dass das Narrativ des Reiches Gottes grundlegend durch seinen Bezug auf die AFunktionalität gekennzeichnet ist: Ritschl setzt das Reich Gottes so zentral, weil es weder in den biblischen Narrationen noch in der Situativität aufgeht, sondern diese beständig über die A-Funktionalität des Gottesgedankens transzendiert.195
seinem Unterschied zur endzeitlichen Gottesherrschaft“ (Sparn, Reich Gottes, 33). Sparn konstatiert, dass eine besondere Schwierigkeit für eine Weiterführung der Rede vom Reich Gottes in der Metapher des „Dritten Reiches“ begründet sei, die eine Lesart jenseits von totalitärer Diktatur verunmöglichen würde (vgl. Sparn, Reich Gottes, 44f.). Er unterscheidet für das Reich Gottes zwischen „Macht“ (die nicht mit Gewalt konnotiert ist) und „Herrschaft“ und identifiziert das Reich Gottes einseitig mit der Macht Gottes (als regnum potentia) und damit mit dem Gottesbegriff selbst (vgl. Sparn, Reich Gottes, 56). Sparn schlägt deswegen vor, die Rede vom Reich Gottes durch das Reich der Freundschaft, in dem sich Freie und Gleiche begegnen, zu ersetzen. Die Rede von Machtverhältnissen und dem „Reich“ wird allerdings nicht notwendig dadurch unproblematisch, dass die vorherrschende inhaltliche Bestimmung nun Freundschaft sein soll. Denn auch Freundschaft steht in kulturellen und damit in politischen Bezügen (vgl. Sparn, Reich Gottes, 58–60). Zudem hat der Begriff des „Reiches“ als ein Begriff, der mit situativen, politischen Semantiken aufgeladen ist, auch für Sparn zunächst den Anstoß gegeben sich mit der Problematik auseinanderzusetzen; er lässt jedoch diesen von ihm identifizierten problematischen Begriff weiterhin stehen. 194 Vgl. Ritschl, UcR, §20, 34. 195 Umgekehrt liegt einer der Hauptkritikpunkte Ritschls gegenüber dem pietistischen Denken in der dort nicht geschehenden Wahrung der A-Funktionalität, da der Pietismus das Reich Gottes – so Ritschls Vorwurf – empirisch denke; das empirische Denken des Reiches Gottes führe aber zwangsläufig zu Chiliasmen (Ritschl, VLE, 82).
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2.5. Reich Gottes und Metaphysik Die Notwendigkeit, die je situativ gegebene Funktion des Reiches Gottes für die Gemeinde mit der A-Funktionalität des Gottesgedankens zusammen zu denken, verhandelt Ritschl unter dem Stichwort der Metaphysik. In diesem Sinne kann die kleine Schrift „Theologie und Metaphysik“ (1881)196 als maßgebliche Scharnierstelle bei Ritschl verstanden werden. Erstens ist sie das für die Entwicklung der Ritschl’schen Theologie: In den Erstauflagen von RuV (1870–1874) und UcR (1875) konzentriert sich Ritschl auf die Konsequenzen der Einführung funktionaler Kriterien in die Theologie. Durch die Auseinandersetzung mit Luthardt nimmt er in den zweiten Auflagen (RuV: 1882–1883; UcR: 1881) stärker die Beziehung zwischen Funktionalität und A-Funktionalität in den Blick, sodass traditionelle, sich auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens beziehende Figuren wieder in den Fokus rücken.197 Das ist nicht als Rückschritt zu dogmatischen oder kirchlichen Gehalten zu verstehen, so wie es Cajus Fabricius annimmt.198 Die stärkere Einbeziehung traditioneller dogmatischer Gehalte kann vielmehr als ein notwendiges Austarieren zwischen Funktionalität und A-Funktionalität in der theologischen Reflexion verstanden werden, sodass die Genese der Ritschl’schen Theoriebildung selbst die in ihr angelegte Dynamik abbildet.199 Zweitens ist die Metaphysikschrift die Scharnierstelle, an der sich – spätestens – Schülerschaft und Gegnerschaft festmachen:200 Dass die Ritschl’sche
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Albrecht Ritschl, Theologie und Metaphysik (1881, 21887), in: Ders.: Kleine Schriften. Ausgewählt, eingeleitet und mit einer Bibliographie der Sekundärliteratur zu Albrecht Ritschl neu herausgegeben v. Frank Hofmann (ThST 4), Waltrop 1999, 68–142 (nachfolgend: ThuM). 197 Kattenbusch macht darauf aufmerksam, dass Ritschl ThuM „im Affect“ geschrieben habe, aufgrund des harten Angriffs durch Luthardt (Ferdinand Kattenbusch, Rez. Christoph E. Luthardt, Zur Beurteilung der Ritschl’schen Theologie. Eine Entgegnung [1882], in: ThLZ 1882/7, 157–163, hier: 157). Der Gewinn dieser sehr kurzen Darstellung aufgrund des Angriffs durch Luthardt liegt darin, dass Ritschl an dieser Stelle genötigt ist, seine Theologie sehr konzise darzustellen. 198 Fabricius stellt die Sammlungen der Abweichungen bei Ritschl unter die Frage, ob es „ein Fortschritt oder ein Rückschritt [war ...], wenn er die philosophischen Prinzipien seines Systems später nicht mehr wie ursprünglich in der Ethik, sondern in der Metaphysik gefunden hat“ (vgl. Fabricius, Entwicklung, 131), um zu dem Schluss zu kommen, dass die ursprünglichste Gestalt die vollkommenste war (vgl. Fabricius, Entwicklung, 136). 199 Ritschl macht das gegenüber Herrmann sehr deutlich, wenn er schreibt, dass er „sehr mit Ihrer [Herrmanns] Ueberzeugung einverstanden [sei], daß in den nächsten zehn Jahren dringend nöthige theologische Arbeit gethan werden muß“ (Brief von Ritschl an Herrmann vom 03.08.1876, in: Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 91). 200 Ritschls eigene Einschätzung, dass sich an der Schrift die Gegnerschaft zeige, findet sich im Brief an Herrmann vom 28.06.1876: „Aber ist es nicht schön, daß der Widerspruch
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Theologie unter dem Stichwort der Metaphysik grundlegend kritisiert wird, ist durch die Auseinandersetzung zwischen Herrmann (Metaphysik in der Theologie, 1876)201 und der Kritik von Luthardt an Herrmann (Kompendium der Dogmatik, 51878)202 vorgegeben. Herrmann beginnt die Auseinandersetzung, indem er in seiner Metaphysikkritik vollständig die Seite der Funktionalität einnimmt und Metaphysik als unerlaubte Grenzüberschreitung charakterisiert.203 Er ordnet sich eindeutig Ritschls Theologie zu und zwar mit dezidiert theologischer Begründung sowie in brieflich erfolgter Absprache mit Ritschl. Die Kritik an Herrmann wird damit automatisch auch zu einer Kritik an Ritschl.204 Gegenüber Herrmann und Ritschl fordert Luthardt die Absolutheit Gottes ein.205 Ritschls Position in dieser Debatte, wie sie sich in „Theologie und Metaphysik“ ausdrückt, kann so verstanden werden, dass er in großer Nähe zu Herrmanns Position Funktionalität wie A-Funktionalität derart miteinander verbinden will, dass die A-Funktionalität des Gottesgedankens auch im Rahmen einer funktionalen Theologie erhalten bleibt. Dann hat die Metaphysik auch für Ritschl eine Berechtigung, weil sie konsequent die über jeweiligen Situativitäten hinausgehende Perspektive einfordert. Die Metaphysik ist der Ort, an dem die A-Funktionalität des Gottesgedankens in die erkenntnistheoretische Reflexion mit einbezogen wird: Nichtsdestotrotz kann das Interesse der Theologie für Ritschl nur sein, diese A-Funktionalität konkret in ihren situativen Wirkungen auf die Gemeinde hin zu bedenken.206 Dass bedeutet jedoch nicht, dass Ritschl jegliche Form von metaphysischer Betrachtung ab-
gegen das aufgesteckte Zeichen des Heiles [die Metaphysikkritik, KO] vieler Herzen Gedanken offenbar macht?“ (Briefwechsel, 82); in eine ähnliche Richtung deutet auch die Kontroverse mit Pfleiderer, vgl. Brief vom 13. Juni 1877. 201 Herrmann, Metaphysik. 202 Christoph Ernst Luthardt, Kompendium der Dogmatik, Leipzig 51878 (erst in dieser Auflage erfolgt der Verweis auf Ritschl, 11865). 203 Herrmann geht im Folgenden besonders gegen die Kritik von Jacobi und Dorner vor (vgl. Brief an Ritschl vom 26.08.1877, Briefwechsel 129–133). Korsch beschreibt für Herrmann einen „unvollendeten Abschied“ von der Metaphysik, dessen Verdienst darin bestehe, dass Herrmann damit „die Struktur humanen Existierens als Verstehensraster der Religion begreiflich gemacht“ habe, im Unterschied zu metaphysisch-naturalistischen Begründungen (Dietrich Korsch, Der unvollendete Abschied von der Metaphysik. Wilhelm Herrmann, in: Jörg Lauster/Bernd Oberdorfer [Hrsg.], Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke, [RPTh 41] Tübingen 2009, 253–267, hier: 264). 204 Vgl. auch die Rede vom „Hahnenschrei“ der Ritschl’schen Theologie bei Timm, Theorie, 91; sowie Weinhard, Herrmanns Stellung, 37f. 205 Vgl. Luthardt, Kompendium, 62, bei Ritschl, ThuM, 5. 206 Das zeigt er am Beispiel der Erbsündenlehre; insofern die Bestimmung dessen, was Akzidenz und Substanz ist, nachgängig gegenüber der Bestimmung der Gnadenwirkung auf den Menschen ist (vgl. Ritschl, ThuM, 55–65).
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lehnt: Metaphysik ist bei Ritschl – aus sachlogischen Gründen – für die Theologie notwendig, weil diese sich mit dem A-Funktionalen beschäftigt.207 Dies gelinge jedoch nur so, dass sie dieses aufgrund der Vorgaben der positiven Religion aus einer auf Funktionalität abzielenden Perspektive deute:208 Theologie könne keine Wahrheiten außerhalb der Wirksamkeit darstellen, sondern sie ist „aposteriorisch auf die in der Religion vorliegende Wirklichkeit bezogen“ 209 . Die Metaphysik als einziger Bezugspunkt der Theologie wäre mit Ritschl eine unangemessene Reduktion, insofern sie die funktionale Dimension der Wirkung metaphysischer Aussagen nicht mitbedenkt und so den Anforderungen nicht gerecht wird, welche die Zeitgeschichte an die Theologie stellt. Für Ritschl gilt, „daß ich und andere mit mir nur Wirkungen Gottes oder Christi
207 Ritschl hält im Rückbezug auf Lotze fest: „Wir erkennen in den Erscheinungen, welche in einem begrenzten Raum sich in begrenztem Umfange und bestimmter Ordnung verändern, das Ding als die Ursache seiner auf uns wirkenden Merkmale, als den Zweck, dem dieselben als Mittel dienen, als das Gesetz ihrer constanten Veränderung“ (Ritschl, RuV 3III, 20). Erkenntnis kann für Ritschl nicht außerhalb der Vermittlung durch die Wirkungen geschehen, wie sie sich in spezifischer Situativität (begrenzter Raum und Umfang) darstellen und sich dynamisch in der Veränderung erweisen. Weyer-Menkhoff beurteilt diese Aussage so: „Wenn man diesen Satz isoliert betrachtet, schafft er mehr Unklarheiten als deutliche Aussagen. Als Definitionssatz ist er ungenügend. Er begrenzt nichts, sondern lässt alles verschwimmen“ (Weyer-Menkhoff, Aufklärung, 42). Man könnte die Dichte des Ritschl’schen Satzes jedoch auch so verstehen, dass sich darin die Relationalität und Dynamik des Gegenstandes abbildet: Der Erkenntnisprozess ist nicht statisch definierbar, weil er nicht statisch geschieht. 208 Das deckt sich mit Ritschls Kritik an Frank (vgl. auch ThuM, 40f.; bei Gönnard, Metaphysikkritik, 45). Im Wesentlichen korrespondiert dem Ritschls Kritik an der natürlichen Theologie, insofern der Gottesbegriff laut Ritschl nicht allein aus der Funktionalität abgeleitet werden kann, sodass ein Gott rein nach menschlichen Vorstellungen gemacht werden könne (vgl. Ritschl, Geschichtliche Studien, 25). Das wird in der Rezeption dort nicht immer gelesen, wo die Opposition bei Ritschl als diejenige zwischen Metaphysik im Sinne natürlicher Theologie und Offenbarungstheologie gelesen wird, so z. B. bei Wagner, in seiner theologiegeschichtlichen Betrachtung der Kant-Rezeption im 19. Jahrhundert. Wagner nimmt einen problematischen Dualismus von „positivistischer Metaphysik“ und „dezisionistischer (Offenbarungs-)theologie“ für Ritschl an, auch wenn er dieses sofort abschwächt, mit der Bemerkung: „Bei Ritschl wird diese Konsequenz allerdings noch aufgehalten durch die umfassende teleologische Reich-Gottes-Konzeption“ (Falk Wagner, Aspekte der Rezeption Kantischer Metaphysik-Kritik in der evangelischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: NZSTh 27 [1985], 25–41, hier: 37). Gönnard zieht deswegen eine Linie hermeneutischexistentieller Philosophie, die mit Ritschl in dem Umschwung von der Erkenntnis Gottes auf das Verstehen von Gottesbildern beginne und sich über Herrmann und Bultmann bis hin zu Ebeling vermittle, vgl. Metaphysikkritk, 53. 209 Zachhuber, Idealismus, 282.
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nachweisen, welche der Gläubige als Glied der Gemeinde unter der Vermittlung durch die Predigt des Evangeliums an sich erfährt.“210 Diese erkenntnistheoretische Funktion ist für Ritschl die angemessene Form von Metaphysik,211 als „die formelle Regel für die Erkenntniß der religiösen Größen oder Beziehungen“212, zu der jeder Theologe „genötigt“ sei, wenn er wissenschaftlich arbeiten will.213 In der Metaphysikschrift präzisiert Ritschl drittens, inwiefern Gemeinde und Reich Gottes als das Scharnier verstanden werden können, das Philosophie und Theologie verbindet:214 Die Philosophie ist der Theologie vorgelagert als die Möglichkeit, die erkenntnistheoretischen Grundbedingungen zu schaffen, mit denen z. B. Funktionalität als Kategorie überhaupt erst eingeführt werden kann. Die Theologie steht bei Ritschl deswegen – wie Zachhuber ausführt215 – nicht im Gegensatz zur Philosophie, sondern ist von ihr in der Reflexion ihrer Grundbedingungen abhängig. Dass die Theologie bei Ritschl von der Philosophie abhängig ist, ist ebenfalls im Rahmen des oben Entfalteten stimmig: Wenn die „Gemeinde“ die Figur ist, die auf funktionale Kategorien verweist, dann kommt der stärker auf diese Kategorien abzielenden Philosophie das Primat zu. Allerdings, um diesen Aspekt noch einmal zu betonen: Das fordert Ritschl nicht für die Gemeinde selbst in ihren religiösen Vollzügen ein, sondern nur für die theologische Reflexion.216 Der Beitrag der Theologie für die Philosophie ist für Ritschl das Bewusstsein für die Metaphysik im oben beschriebenen Sinne. Das kann als der Kern der gesamten Auseinandersetzung zwischen Luthardt auf der einen und Herrmann und Ritschl auf der anderen Seite identifiziert werden, ohne dass die Partizipanten das konkret benennen: Wenn – äußerst schematisch – die Theologie mit dem Bewusstsein für die A-Funktionalität (in anderen Formulierungen: der Transzendenz, der Unverfügbarkeit) des Gottesgedankens identifiziert wird und die Philosophie (besonders diejenigen 210 Ritschl, ThuM, 49. Man beachte hier, dass ausdrücklich die Vermittlung durch die Gemeinde die notwendige Instanz ist. 211 Ritschl, ThuM, 32; vgl. dazu auch Görnandt, Metapyhsikkritik, 59f. 212 Ritschl, ThuM, 40. 213 Vgl. Ritschl, ThuM, 40. Eine Erkenntnistheorie solcher Art könne nur eine Theorie sein, die sich aus dem praktischen Umgang des Menschen mit der Welt ableite und keine dahinter stehende Wirklichkeit annehme bzw. absolute Begriffe im platonischen Sinn (Vgl. Ritschl, ThuM, 39; Rischl, RuV 3III, 16). Dieses gesteht selbst Neugebauer ein, auch wenn er dieses als Schwäche der Ritschl’schen Theologie ausmacht, insofern sie nicht klar zwischen Erkenntnistheorie und Ontologie differenziere (vgl. Neugebauer, Lotze, 227; 239). 214 Vgl. Chalamet, Reassessing, 631. 215 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 220f. 216 Im selben Sinne führt Zachhuber aus, dass für Ritschl Theologie und Philosophie nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern vielmehr die Theologie von der Philosophie abhängig sei (nicht hingegen die Religion von der Philosophie), und nur bestimmte Spielarten der Philosophie wie eine falsch verstandene Metaphysik dem Christentum nicht angemessen seien (vgl. Zachhuber, Idealismus, 220f.).
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Spielarten, die im 19. Jahrhundert noch als psychologisch bezeichnet wurden, und die heute eher der Soziologie oder den Kulturwissenschaften zugeordnet werden können) mit dem Bewusstsein für Funktionalität und dem Eingebettetsein in individuelle wie kulturelle Kontexte identifiziert werden, dann können Philosophie und Theologie im Narrativ des „Reiches Gottes“, wie Ritschl es konstruiert, in eins fallen. Die Frage, die im Raum steht und unter dem Stichwort der Metaphysik verhandelt wird, kann narrativitätstheoretisch als die Frage verstanden werden, welches theologische Narrativ die Dynamik von situativer Funktionalität und A-Funktionalität des Gottesgedankens abbilden kann. Ritschl lehnt in der Metaphysikschrift vehement die beiden Narrative ab, die er in der zeitgenössischen Theologie und religiösen Verkündigung prävalent sieht, nämlich erstens die Metaphysik im schlechten Sinne, wie er sie bei Luthard gegeben sieht, und zweitens die Mystik.217 Demgegenüber kann die Metaphysik im Ritschl’schen Sinne als der methodische Horizont für bestimmte Arten von Narrativen verstanden werden. Während u. a. Weyer-Menkhoff das als Defizit der Theologie Ritschls deutet,218 kann eine narrativitätstheoretische Deutung diese gerade als deren Stärke verstehen: Denn es ist die Innovation der Ritschl’schen Theologie, dass das Reich Gottes nicht nur nach der Seite der A-Funktionalität hin bestimmt wird, sondern auf seine Funktion für die Gemeinde hin ausgerichtet
217 Vgl. Ritschl, ThuM, 27–32. Im Unterschied zu Neugebauer (vgl. Neugebauer, Lotze, 240) kann jedoch angenommen werden, dass Ritschl hier nicht seinen eigenen Begriff von Metaphysik darlegt, sondern die historische Begriffsgeschichte nachzeichnet, um sich dann gegen diese Vorstellungen bei Luthardt abzugrenzen. Neugebauer geht davon aus, dass Ritschl sich diese Vorstellung einer ontologisch grundierten Metaphysik zu eigen macht und damit z. B. auch der Begriff des Reiches Gottes Teil dieser Ontologie sein müsste. „Durch die supponierte Ontologie ist […] zweitens die Auffassung der Wirklichkeit als das sich dynamisch entwickelnde Reich Gottes argumentativ abgesichert und drittens der methodische Unterbau für die auf der teleologischen Interpretation der Wirklichkeit aufbauenden religiösen Funktionen bereitgestellt“ (Neugebauer, Lotze, 224). Für Ritschl stellt sich die Argumentation aus narrativitätstheoretischer Perspektive aber gerade umgekehrt dar: Insofern das Reich Gottes die narrative Präzisierung aller weiteren dezidiert christlich-theologischen Überlegungen ist, beeinflusst dieses natürlich das Wirklichkeitsverständnis – aber nur das Wirklichkeitsverständnis derjenigen, die sich dieser Idee des Reiches Gottes anschließen und das ist die christliche Gemeinde, von deren Standpunkt aus diese Überlegungen geschehen. 218 Vgl. Weyer-Menkhoff, Reich Gottes, 67f. „In aller Eindeutigkeit wollte Ritschl den ‚Triumph der Gnade‘ theologisch entfalten. Er provoziert aber genau damit eine Serie von Doppeldeutigkeiten. [...] Diese Doppeldeutigkeiten sind das Resultat jener einfachen Strukturierung der Theologie. [...] Die Reinheit exklusiver Offenbarungstheologie erweist sich dann als fataler Schein. Ritschl Theologie und ihr Schicksal ist dafür ein sprechender Beweis“ (Weyer-Menkhoff, Reich Gottes, 67f.).
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ist. Die Dynamik religiöser Prozesse, in denen Situativität und A-Funktionalität in Wechselwirkung miteinander stehen, ist wiederum im Narrativ selbst enthalten. Über Ritschl hinausgehend und MacIntyre aufnehmend kann die Funktion des Reiches Gottes im Rahmen so interpretiert werden: Als konkretes Narrativ kann das Reich Gottes als Spiegelung dessen verstanden werden, was MacIntyre für die Narrativität generell annimmt, dass ihr Charakter nicht nur im Erzählen, sondern vor allen Dingen im Leben der eigenen Geschichte „unpredictable and [] partially teleological“219 sei. Das Narrativ des Reiches Gottes spiegelt demnach, was die Gemeinde in ihren Lebensvollzügen (seit ihrer Entstehung und d. h. dem wechselseitigen Prozess zwischen Identitätsbildung und den diesen legitimierenden Narrationen und Narrativen) erfahren hat: Sie muss sich weitererzählen und sie kann sich weitererzählen, weil die Narrative sowie die damit verbundenen Narrationen dafür bereit stehen – in der Hoffnung darauf, in einem Narrativ aufgefangen zu werden, das im Bezug auf den Gottesgedanken alle konkreten Narrative übersteigt. Die Gemeinde muss sich weitererzählen, denn dort wo sie z. B. als Kirche historisch konkret wird, findet sie sich in eine Vielzahl von Narrationen und Narrativen verstrickt vor, in denen sie sich verorten muss. Sie kann sich weitererzählen, denn mit dem Reich Gottes hat die Gemeinde darüber hinaus, in Einbeziehung der A-Funktionalität des Gottesgedankens, ein Narrativ, das die Erzählung einheitlichen Identität ermöglicht (trotz der Vielzahl der historisch kontingenten, situativen Gestalten der Gemeinde z. B. als Kirche, als Urgemeinde etc.). Es ist m. E. zielführend, die teleologische Dimension des Reiches Gottes bei Ritschl in diesem Sinne und nicht ontologisch zu verstehen.220 Die Rede vom Reich Gottes stellt so verstanden nicht einen Rest von „schlechtem“ metaphysischen Denken dar, der die eigentliche Theologie Ritschls unterlaufen würde, wie Neugebauer meint. Neugebauer kann diesen Vorwurf nur deswegen so formulieren, weil er davon ausgeht, dass die teleologische Ausrichtung auf das Reich Gottes für die Religion an sich und damit universal-anthropologisch gelte.221 Das Reich Gottes als Narrativ ist für Ritschl unter funktionaler Perspektive hingegen nicht für die Menschheit gültig, sondern „nur“ für die Gemeinde. Der Fokus auf das Reich Gottes kann in diesem Sinn als Ritschls – narrativer – Lösungsversuch des Metaphysik-Problems verstanden werden. Dieses ist in den ersten Auflagen von RuV schon angelegt und wird in den späteren Auflagen so vollständig wie möglich entfaltet, die als Darlegung der folgenden Frage interpretiert werden können: Wie kann die theologisch notwendige A-Funktionalität des Gottesgedankens unter der Prämisse gewahrt bleiben, dass dieser 219
MacIntyre, After Virtue, 216. Vgl. zu den Problematiken eines ontologischen Verständnisses, Chalamet, Reassessing, 633. 221 Vgl. Neugebauer, Lotze, 224. 220
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Gottesgedanke sich dennoch nie anders als über seine Funktion für momentane situative Verfasstheiten plausibilisieren lässt? Schon bei Ritschl zeigt sich, dass die Einbeziehung der A-Funktionalität des Gottesgedankens ein Element einführt, dass Reduktionen auf die Funktion, die dann verzweckt werden können, vorbeugen kann. Die spezifisch christliche Begründungsfigur – der Gottesgedanke, wie er im Reich Gottes impliziert ist – verlangt, dass die funktionale Wirkung sich als a-funktional bestimmt verstehen muss: Der Gottesgedanke gibt als solcher notwendig die A-Funktionalität vor. Die Metaphysik hat die Funktion, so kann Ritschl interpretiert werden, erkenntnistheoretisch diese Spannung zwischen Funktionalität und A-Funktionalität zu bestimmen. Deswegen kann das Narrativ des Reiches Gottes bei Ritschl – aufgrund der Partizipation am Gottesgedanken – für die Gemeinde durch kein anderes Narrativ substituiert werden: Es wird für die Gemeinde in ihrer Identitätsbildung so funktional wie es kein anderes Narrativ werden könnte, indem es am Ort des Narrativs die A-Funktionalität des Gottesgedankens mit der Notwendigkeit der situativ angemessenen Ausrichtung des Narrativs in der momentanen Verfasstheit verbindet.
3. Die Materialdogmatik für die Gemeinde unter dem Narrativ des Reiches Gottes 3. Materialdogmatik
Diese komplexe Dynamik zwischen Funktionalität und A-Funktionalität ist die Grundlage aller weiteren materialdogmatischen Überlegungen Ritschls und kann, wie oben bereits angedeutet, als eine Form von in sich dynamischen Prolegomena verstanden werden.222 Damit kann Ritschl so interpretiert werden, 222 Dieses widerspricht nicht Ritschls vermeintlicher Ablehnung einer „Prinzipienlehre“. Dass Ritschl eine Prinzipienlehre ablehnt, findet sich immer wieder betont (vgl. Schäfer, Ritschl, 155), dann besonders mit Verweis auf den bei O. Ritschl in einem Brief von 1872 an Holtzmann zitierten „Vorhof der Heiden“, in dem sich diejenigen aufhalten würden, die sich nur mit den Prolegomena beschäftigten (vgl. O. Ritschl, ARL II, 106). Der Kontext dieses Zitates impliziert jedoch, dass Ritschl nicht die Prinzipienlehre an sich ablehnt, sondern nur eine Form von Theologie, die bei dieser Prinzipienlehre stehenbleibt und die Materialdogmatik ignoriert. In einem Brief an Link, den O. Ritschl mit dem o. g. an Holtzmann zusammenstellt, schreibt Ritschl: „[A]ber alle die Prolegomenen kommen mir doch immer nur vor wie Farbenreiben; Leinwandspannen; Gardinenzurückziehen, Modellstellen und Händwaschen, und damit sich aufhalten zu müssen, ist mir nicht sehr reizend“ (O. Ritschl, ARL II, 106). Aber schon in dieser Metapher zeigt sich: So wenig reizvoll diese Tätigkeiten zur Erstellung eines Kunstwerkes sein mögen und so sehr sich die eigentliche Kunstfertigkeit (d. h. das theologische Denken) erst später zeigt, sind sie dennoch notwendig und müssen zwingend durchgeführt werden, bevor man mit der „Kunst“ beginnt. Es ist interessant, dass Ritschl hier das Bild des „Künstlers“ benutzt, wenn er darlegt, wie der Übergang aus den Prolegomena in die Materialdogmatik geschehen kann. Im selben Brief wehrt er sich nämlich ausdrücklich gegen ein mechanisches Verständnis, das feste Regeln in den Prolegomena
3. Materialdogmatik
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dass er sich selbst die Aufgabe stellt, für alle dogmatischen loci die Frage nach dem Zusammenfall von Funktionalität und A-Funktionalität zu klären und aufzuweisen, für welche Situativitäten sie Relevanz haben können. Dementsprechend kann eine Analyse der Materialdogmatik Ritschls unter diesen Prämissen für jeden locus klären, wie Ritschl dessen Funktionalität bestimmt, welche narrativen und theoretischen Entfaltungen er für angemessen hält, um den Bezug auf die A-Funktionalität auszudrücken und schließlich, wie sich die Funktion dieses locus für die Gemeinde in ihrer momentanen situativen Verfasstheit darstellt.223 Daraus folgt, dass Ritschl die loci nicht nach einer abstrakt bleibenden dogmatischen Richtigkeit oder in der Kongruenz mit traditionellen Gestalten beurteilen kann, sondern deren Angemessenheit als funktionaler Bezug auf die A-Funktionalität je neu bestimmen muss oder, positiv formuliert, neu bestimmen kann.224 Die materialdogmatischen loci sind nicht per se gesetzt oder können durch Autoritäten (seien das die Schrift, die Kirche oder die Tradition) legitimiert werden, sondern nach folgender Fragestellung eingeschätzt werden: Wie angemessen ist eine materialdogmatische Figur für die momentane situative Verfasstheit der Gemeinde in ihrer Gestalt als Kirche?225
aufstellt, die in jedem Fall für alle materialdogmatischen Themen gelten. Das könnte auf ein – unbewusstes – Verständnis des Reiches Gottes als Narrativ hindeuten, das eher rezeptionsästhetisch denn technisch für die Theologie funktioniert. 223 Ritschl kritisiert die überlieferte Dogmatik im Gefolge Melanchthons, dass sie die dogmatischen loci nicht derart spezifisch formulieren (vgl. Ritschl, RuV 3III, 4). 224 „Die Bedingung [...] gilt für alle Glieder des christlichen Vorstellungskreises. Man kann auch Gott, die Sünde, die Bekehrung, das ewige Leben im Sinne des Christenthums nur erkennen und verstehen, sofern man mit Bewußtsein und Absicht sich in die Gemeinde, die Christus gestiftet hat, einrechnet“ (Ritschl, RuV 3III, 4). Deswegen kann Schäfer widersprochen werden, der mit der Absicht zu zeigen, dass Ritschl biblische (bis hin zur biblizistischen Theologie) und kirchliche Theologie betreibe, folgendermaßen argumentiert: „Wir haben gesehen, daß Ritschl das Material seiner Dogmatik aus dem Neuen Testament entnimmt: Die Stiftung der Gemeinde ist die zentrale Vorstellung, die in ihren mannigfachen Beziehungen auseinandergelegt wird“ (Schäfer, Grundlinien, 156). Schäfer kann nur so argumentieren, weil er die abstrakte Figur der Gemeinde für Ritschl mit der Urgemeinde gleichsetzt. Wenn die Urgemeinde hingegen als eine situative Verfasstheit verstanden wird, dann ist der Bezug auf das Neue Testament nicht Material der Dogmatik, sondern Teil des Formalprinzips, dass diese Dogmatik bestimmt. Dass die Umgestaltung der loci eine Folge des auf Funktionalität ausgerichtete Ritschl’schen Systems ist und nicht dessen primärer Impetus, wird von Diestel als nachgeordnetes Prinzip bewertet: „Daß Korrektur und Neubildung religiöser Begriffe noch dabei abfällt, ist und bleibt doch nur etwas untergeordnetes; es ist mehr Folge, als Hauptsache“ (O. Ritschl, ARL II, 238). 225 Ritschl geht davon aus – und diese Perspektive wird für die vorliegende Arbeit zunächst eingenommen – dass es die Theologie ist, die diese dogmatischen Umformungen durchnehmen kann. Für aktuelle Kontexte muss aber ernstgenommen werden, was Wittekind darin gegeben sieht, dass die Akteure religiösen Lebens selbst schon Umformungen religiöser Gehalte vornehmen, welche die Theologie dann als vorgegeben vorfindet (vgl. Folkart
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An dieser Stelle kann die Art und Weise, wie Ritschl theoretisch vorgeht, auf eine weitere situative Einbettung hinweisen, die in der theologischen Reflexion mitbedacht werden muss: Denn Rischl bezieht sich in der Materialdogmatik natürlich auf einen traditionell gewachsenen Bestand, der sich ihm in bestimmten Formen präsentiert, die Ritschl positionell aufnimmt, so z. B. bei bestimmten Abwehrbewegungen im Opferbegriff, die gegen pietistische Überformungen gerichtet sind. In diesem Sinne kann die Materialdogmatik sowohl als ein Resonanzraum der Situativität von Theologie als auch als das Repertoire einer situativitätssensiblen Theologie verstanden werden: Im Durchdenken der einzelnen loci erweist sich, inwiefern die Formalbestimmung und strukturellen Konzeptionen sich im Rahmen der dogmatischen Gehalte formulieren lassen. Das Reich Gottes als biblisch begründetes, situativ funktionales Narrativ wird konkret in den dogmatischen loci und findet in diesen seinen – theologisch reflektierten und für die religiöse Verkündigung zu nutzenden – Ausdruck. Deswegen wird im Folgenden so vorgegangen, dass für Gotteslehre, Christologie und Anthropologie zunächst analysiert wird, welche materialdogmatischen Bestimmungen Ritschl für sinnvoll hält, um Funktionalität zu beschreiben. In zwei weiteren Schritten wird dann gezeigt, wie Ritschl den Bezug auf die A-Funktionalität konzipiert und zwar in Abgrenzung und Transformation zu von ihm als problematisch identifizierten Gehalten und in Aufnahme der mit der Familienmetaphorik verbundenen Figuren von Vaterschaft, Gottessohnschaft und Gotteskindschaft, die er als besonders geeignet für situative Übertragungen sieht. Abschließend kann mit Ritschl der Blick auf diejenigen loci gelenkt werden, welche die Funktion für bestimmte Situativitäten in dogmatischer Sprache explizit machen. In der Analyse fokussiert Ritschl dabei in je unterschiedlicher Gewichtung Aspekte der Dynamik zwischen Funktionalität und A-Funktionalität in situativer Einbettung: In der Gotteslehre diskutiert Ritschl die Seite der A-Funktionalität und fragt, in welchen Gestalten sich diese angemessen unter funktionalen Bedingungen in der gegenwärtigen Situation ausdrücken lassen. Ritschl sieht sich in der Auseinandersetzung über die Metaphysik – aus sachlogischen Gründen – genötigt, zu erklären, wie er die starke funktionale Ausrichtung der Theologie mit der A-Funktionalität des Gottesgedankens zusammendenken kann.226 Die Christologie kann bei Ritschl als die Darstellung der Möglichkeit verstanden werden, dass Funktionalität und A-Funktionalität nicht nur zusammengedacht und erzählt werden, sondern in der Fülle der Lebenserfahrung in Wittekind, Religion zwischen Objektivierbarkeit und Selbstbeschreibung. Methodisch-hermeneutische Überlegungen zum Religionsverständnis des Religionsmonitors, in: Matthias Petzold [Hrsg.], Theologie im Gespräch mit empirischen Wissenschaften, Leipzig 2012, 35– 72, hier: 48). 226 Die Edition der dritten Auflage von RuV beginnt Ritschl 1888 deswegen a-chronologisch mit RuV III in der Fokussierung auf die Systematik und vor allen Dingen die materialdogmatischen Umstellungen.
3. Materialdogmatik
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jeglicher momentanen situativen Verfasstheit als enacted narrative gelebt werden können. Den Zugriff auf die christologischen enacted narratives gibt es allerdings nicht anders als in Erzählungen und Bekenntnissen, d. h. Glaubensaussagen, die schon von der an sich selbst erfahrenen Wirkung dieses Vollzuges ausgehen.227 Die Christologie nimmt – auf der Ebene der loci – dieselbe Scharnierfunktion ein, die schon für das Reich Gottes hervorgehoben wurde. Dementsprechend sind die Überlegungen zum Opfer und zur Gottessohnschaft sowohl der Fokuspunkt der materialdogmatischen Überlegungen Ritschls wie der Analyse seiner Materialdogmatik. In der Anthropologie hebt Ritschl dann die Seite der Situativität hervor und entfaltet, wie und unter welchen Bedingungen sich in dieser Situativität ein a-funktionales Narrativ für Gemeinde sowie Individuum funktional erweisen kann. An dieser Stelle ist wiederum auf das grundlegende Problem zu verweisen, dass Ritschl die Funktionalität für die Gemeinde in ihrer kollektiven Situativität bestimmt, er sich jedoch spätestens in der Anthropologie auf individuelle Situativitäten beziehen muss: Die Vorsehung kann im Rahmen der Gotteslehre noch als Narrativ für kollektive Verfasstheit bestimmt werden, Sündenvergebung und Versöhnung beziehen sich im Rahmen der Anthropologie jedoch auf individuelle Glaubensvollzüge. 3.1. Gotteslehre Die Gotteslehre ist in der Ritschl’schen Theologie der Ort, an dem Ritschl – ausgehend von der Kritik der Metaphysik – plausibilisiert, wie die A-Funktionalität des Gottesgedankens unter funktionalen Bedingungen im Narrativ des Reiches Gottes gewahrt bleiben kann:228 Wie muss der Gottesgedanke konstruiert sein, um a-funktional zu bleiben und gleichzeitig eine Funktion für die Gemeinde in ihren jeweiligen situativen Verfasstheiten erfüllen zu können? Oder anders formuliert: Kann A-Funktionalität überhaupt eine Funktion haben und wenn ja, wie? Die Gotteslehre ist chronologisch eines der ersten Themen, mit 227 Genau dieser Zusammenhang findet sich konzentriert auch dort, wo Ritschl „Reich Gottes“ in RuV III, d. h. im Übergang von RuV II zur Materialdogmatik, folgendermaßen definiert: „Das Reich Gottes ist das höchste Gut, welches Gott an Menschen verwirklicht und zugleich ihre gemeinschaftliche Aufgabe, da die Herrschaft Gottes nur an der Leistung von Gehorsam durch die Menschen ihren Bestand hat. Beide Bedeutungen stehen in Wechselwirkung“ (Ritschl, RuV 3III, 30). 228 Das ist ein Gedanke, der gerade in der neueren Ritschlforschung hervorgehoben wird: Zachhuber führt aus, dass sich dieses noch aus den Bestimmungen der neutestamentlichen Reflexionen ergibt (wie sie in Bd. II von RuV entfaltet sind), sich in der systematischen Umarbeitung indes alle anderen Topoi daran messen lassen müssen (Zachhuber, Idealismus, 269). Er zieht daraus die Folgerung, dass Ritschl eine „strikt soteriologisch durchgeführte Gotteslehre“ biete, die „seinen systematisch-theologischen Entwurf auf dieselben Prinzipien gründet, die seinem Denken insgesamt zugrunde liegen, die dessen Wissenschaftsanspruch begründen und die in dieser Arbeit als ein Dreiklang von historischer, philosophischer und theologischer Perspektiver herausgestellt worden sind“ (Zachhuber, Idealismus, 285).
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denen sich Ritschl ausführlich systematisch befasst, und die m. E. prägend auch für die Erstauflagen von RuV ist. In den 1865–1868 veröffentlichten „Geschichtliche[n] Studien zur Lehre von Gott“ ist es Ritschls Absicht, dem Gottesgedanken wieder zur gebührenden Aufmerksamkeit in der Theologie zu verhelfen.229 Er unternimmt dies als dogmengeschichtlichen Überblick unter der Problemstellung wie seit der Reformation „formale Absolutheit und relative Materialität“ 230 des Gottesgedankens ins Verhältnis gesetzt wurden. Da die Absolutheit des Gottesgedankens in der zeitgenössischen Theologie relativ selbstverständlich vorausgesetzt wird, fokussiert Ritschl mit dieser in den „Geschichtlichen Studien“ aufgeworfenen Prämisse besonders in der Erstauflage von RuV III (1874) die Frage nach der Wirkung des Gottesgedankens. 231 Ritschl bestimmt diese Wirkung sehr eng als positiv und förderlich für das Leben der Menschen,232 da sie z. B. Trost spenden, zur Teilnahme an der Gesellschaft und zu ethischem Handeln befähigen oder helfen, mit zerstörerischen Lebenserfahrungen (den „Übeln“) umzugehen, um einige Beispiele zu nennen, die Ritschl selbst aufruft.233
229
Vgl. Ritschl, Geschichtliche Studien, 302. Vgl. Ritschl, Geschichtliche Studien, 25. 231 In diesem Sinne wird die Rezeption des Gottesgedankens bei Ritschl häufig unter dem Stichwort der Soteriologie eingeordnet (vgl. Gönnard, Metaphysikkritik, 43; aber auch Schäfer, Grundlinien und Slenczka, Glaube). 232 Das wird in ähnlicher Weise bei Slenczka unter dem Begriff des Vertrauens für Ritschl erschlossen: „Gott hat genau die Eigenschaften, die das Vertrauen des Menschen als eine Wirkung hervorrufen, und er hat seine Wirklichkeit im Hervorrufen dieses Vertrauens“ (Slenczka, Glaube, 183). Theologie könne gar keine vom Vertrauen geschiedene Erkenntnis betreiben, so fasst Slenczka Ritschls Argumentation zusammen, denn alle Eigenschaften Gottes seien Korrelat des Vertrauens. Die Theologie müsse somit den Vollzug des Vertrauens voraussetzen und unter den gegebenen Gottesprädikaten diejenigen suchen, die den Grund des grenzenlosen Vertrauens beschreiben (vgl. Slenczka, Glaube, 169). 233 Vgl. Ritschl, Schleiermachers Reden, 79. Wie diese funktionale Bestimmung im Gottesgedanken als problematisch interpretiert werden kann, zeigt u. a. Eilert Herms (hier paradigmatisch für diese Richtung der Kritik an Ritschl stehend, die im Wesentlichen eine Neuformulierung von Frank ist): „Wenn Religion allein durch ihre Funktion definierbar ist, dann verlieren alle nicht auf diese Funktion zurückführbaren Bestimmungen ihre Notwendigkeit: insbesondere der Gottesbegriff“ (Eilert Herms, „Weltanschauung“ bei Friedrich Schleiermacher und Albrecht Ritschl, in: Ders., Theorie für die Praxis – Beiträge zur Theologie, München 1982, 121–143, hier: 139). Die explizite Kritik Herms ist, dass damit „prinzipiell auch atheistische Positionen der christlichen vergleichbar“ wären und Weltanschauung und Religion in eins gesetzt würden (Herms, Weltanschauung, 139). Herms Zielrichtung in diesem Beitrag ist zu zeigen, dass diese Gleichsetzung von Religion und Weltanschauung den Beliebigkeitsvorwurf notwendig provoziere und das Christentum in die Nähe einer Ideologie rücke (Herms, Weltanschauung,141). 230
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3.1.1. Gott ist die Liebe Ausgehend von den vorherigen Überlegungen zur Scharnierfunktion des Narrativs des Reiches Gottes zwischen Funktionalität und A-Funktionalität kann erhellt werden, warum Ritschl den Gottesgedanken in den ersten Auflagen von RuV und UcR primär unter dem „Liebesbegriff“ konzipiert: Die theoretischen wie narrativen Entfaltungen des eigentlich a-funktionalen Gottesgedankens müssen von Ritschl so konzipiert werden, dass sie mit der funktionalen Bestimmung des Reiches Gottes kompatibel sind. Das sind sie dann, wenn sie es der Gemeinde ermöglichen, das Reich Gottes unter den narrativen Entfaltungen des Gottesgedanken als enacted narrative in ihrer momentanen situativen Verfasstheit als Kirche in ihren gottesdienstlichen Vollzügen und ihrem ethischen Handeln darzustellen, denn: „Dem Begriff von Gott als der Liebe entspricht erst die Vorstellung von der Menschheit, welche die Bestimmung derselben zum Reiche Gottes […] einschließt.“234 Narrativitätstheoretisch kann für Ritschl hier die Argumentation angenommen werden, dass die in einem Resonanzraum vorhandenen Narrative so konstruiert sein müssen, dass sie der Gemeinde einen kohärenten Bezug auf sie ermöglichen. Deswegen können die Eigenschaftslehre sowie die traditionell mit der Gotteslehre verbundenen loci wie Schöpfung oder Trinität von Ritschl äußerst knapp verhandelt werden, insofern er ihnen keine Funktion zuschreiben kann, die sich mit anderen Beschreibungen nicht besser erfassen ließe (z. B. dem Gedanken der Vorsehung gegenüber dem der Schöpfung).235
234 Ritschl, UcR, §13, 26, Fn 50; vgl. dazu die erste Auflage, in der es noch heißt: „Daß also Gott sich als die Liebe offenbart, weist auf den Zusammenhang hin, daß Gott durch die Erschaffung der Welt die Vereinigung der Menschheit zum Reiche Gottes bezweckt, und zwar als den Endzweck, der zu seiner eigenen Ehre gereicht“ (Ritschl, UcR §13, 25). Die Bestimmung Gottes als Liebe leitet Ritschl direkt aus der Einbeziehung der sich im Reich Gottes verwirklichenden Gemeinde in den Begriff ab, insofern „die christliche Vorstellung von dem Reiche Gottes sich als correlat mit dem Begriff von Gott als der Liebe erwiesen hat“ (Ritschl, RuV 3III, 270). 235 Im Unterschied zu Schäfer kann angenommen werden, dass Ritschl die Trinität nur entfaltet, weil sie ihm als Teil des Materialbestandes aus der Tradition vorgegeben ist, jedoch keine strukturbildende implizite Trinitätslehre hat (gegen Schäfer, Grundlinien, 151f.). Das Fehlen einer trinitarischen, schöpfungstheologischen und pneumatologischen Reflexion bei Ritschl kann sich dadurch erklären lassen, dass der „Geist“ schon in der Konzentration auf die „Wirkung“ enthalten ist und deswegen keine eigene Explikation braucht. Was Wittekind deswegen unternimmt, ist eine implizite Pneumatologie Ritschls aufzuzeigen, die sich aus dessen ekklesiologischer Grundierung der Christologie ergibt, die als historische Realisierung des Geistes verstanden werden könne (Wittekind, Pneumatologie, 35).
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Es geht Ritschl in all diesen Überlegungen nicht per se um die Reflexion der Möglichkeit der Gotteserkenntnis für die Gemeinde und damit um das Aufstellen eines moralischen oder teleologischen Gottesbeweises.236 Ritschl zeigt vielmehr Plausibilisierungsmöglichkeiten für die Rede von Gott in der Gemeinde auf, die das Narrativ des Reiches Gottes für diese legitimieren. 237 Ritschl argumentiert dementsprechend, dass aus der Perspektive der Gemeinde die Wirklichkeit Gottes nur durch die Regelmäßigkeit der Erfahrungen mit dieser Wirklichkeit verbürgt werden könne.238 In diesem Sinne ist die Rede von der Liebe Gottes für ihn die angemessenste Weise diesen dynamisch-funktionalen Bezug des Gottesgedankens in seiner Funktion für die Gemeinde auszudrücken. Ritschl erreicht das über die Bestimmung, dass Liebe keine Sentimentalität sei, sondern vielmehr in der Förderung des Endzwecks eines Anderen als einer Funktion des Willens liege, wie sich im folgenden Zitat zeigt: Liebe ist laut Ritschl der „stetige Wille, welcher eine andere geistige, also gleichartige Person zu Erreichung ihrer eigentlichen höchsten Bestimmung fördert, und zwar so, daß der Liebende darin seinen eigenen Endzweck verfolgt. […] Was also Gott zum Zwecke der von ihm geliebten Gemeinde des Reiches Gottes wirkt, wirkt er zu seinem eigensten Zwecke, oder zu seiner Ehre, sofern
236 Vgl. Ritschl, ThuM, 12f. Ritschl unternimmt keinen „ethischen Gottesbeweis“, sondern argumentiert strikt vom Standpunkt der Gemeinde aus, auch wenn er in der ersten Auflage von RuV III schreibt, dass „die christliche Gottesidee auch als wissenschaftlich gültige Wahrheit anzunehmen und den Grund wie das Gesetz der wirklichen Welt in dem schöpferischen Willen anzuerkennen [ist], in welchem die Bestimmung der Menschen zum Reiche Gottes als der Endzweck in der Welt einzuschließen ist“ (Ritschl, RuV 1III, 191f.). Das geht gegen Geislers Deutung, dass Ritschl hier sehr wohl einen ethischen Gottesbeweis unternehme, indem er die Frage stelle, wie Theologie derart beweisbar werde, dass sie sich als Wissenschaft behaupten könne. Geisler bemerkt zwar, dass Ritschl die obige Formulierung in der zweiten und dritten Auflage von RuV zu: „Dann aber bleibt nichts Anderes übrig, als die christliche Gottesidee auch als unentbehrliche Wahrheit anzunehmen“ (RuV 3III, 213, Hervorhebung KO) abschwächt, geht dann in seiner Argumentation jedoch dennoch alleine von der ersten Auflage aus (vgl. Geisler, Ethischer Gottesbeweis, 24). 237 Ritschl argumentiert: „Ich habe a.a.O. ausgeführt, daß die Behauptung der Persönlichkeit Gottes nur mit dem Inhalt der Liebe und in der Abzweckung dieses Willens auf das Reich Gottes, beziehungsweise auf den ewig geliebten Sohn Gottes die Weltanschauung der christlichen Gemeinde begründet“ (Ritschl, ThuM, 16). Zachhuber führt deswegen in einer ausführlichen Darstellung der Entwicklung der Gotteslehre bei Ritschl aus, dass diese so konstruiert sein müsse, dass sie der Erlösung (und d. h. der Ausrichtung auf das Reich Gottes) diene (vgl. Zachhuber, Idealismus, 271). Damit sei aber die Frage nach Gott für Ritschl von vornherein eine Frage nach Gottes Willen bzw. Gott als Willen, und d. h. auch nach dem „Zweck, den Gott mit dem menschlichen Geschlecht gemein hat“ (Ritschl, RuV 3III, 258). Diese Konsequenzen für die Gotteslehre drückten sich in der Bestimmung des Willens als Liebe aus, insofern „das Ziel seines Willens, die Erlösung der Menschen in seinem eigenen Reich, in seiner Wesenbestimmung mit eingeschlossen ist“ (Zachhuber, Idealismus, 278). 238 Vgl. Ritschl, RuV 1III, 185; vgl. Slenczka, Glaube, 175.
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dieser Zusammenhang von der Gemeinde des Reiches Gottes erkannt und anerkannt wird.“239
Um das auszuführen, ist es für Ritschl zunächst nötig, die Personalität Gottes jenseits der Eigenschaftslehre zu entfalten, um überhaupt vom „Willen“ Gottes sprechen zu können.240 Das unternimmt Ritschl, indem er darlegt, dass unter den Prämissen seiner Theologie die „Liebe“ keine Eigenschaft der Persönlichkeit Gottes sei, sondern die Rede von der Persönlichkeit Gottes nur ein notwendiges Konstrukt zur Explikation der „Liebe“ sei:241 Gott als ein Subjekt zu verstehen, dem ein Wille zukommt, sei keine metaphysisch zu begründende Figur oder ein Rückfall in scholastisches Denken, sondern eine Notwendigkeit der theologischen Reflexion, um funktionale Reduktionen im Gottesbegriff zu verhindern (oder zumindest abzuschwächen). Der Willensbegriff dient in Ritschls Argumentation dazu, anzuzeigen, dass auch ein als Liebe verstandener Gott nicht von der Gemeinde verzweckt werden kann: Im Liebesgedanken ist für Ritschl die Förderung „der höchsten Bestimmung“ einer Person als Zweck einer Liebesbeziehung impliziert.242 Ritschl rekurriert nun auf die Alltagserfahrung, dass der Liebende den zu Liebenden auch gegen dessen Willen fördern könne, sodass aus der Perspektive der Gemeinde eine Erfahrung von göttlicher Liebe ausdrücklich gegen ihre Erwartungshaltung geschehen könne. Liebe ist bei Ritschl nicht Emotionalität, die Handeln legitimiert, sondern vielmehr eine voluntative Bestimmung, die Handeln herausfordert und in Frage
239 Ritschl, UcR, §12, 24f., vgl. auch die etwas ausführlichere Beschreibung in Ritschl, RuV 3III, 263–265. Laut Schäfer argumentiert Ritschl in Anlehnung und Abgrenzung von Kant, insofern das hier entwickelte Verständnis von Liebe stark an die Kantische Tugendlehre angelehnt sei, Kant im Unterschied zu Ritschl jedoch betone, dass es keinen Zwang zur Liebe geben könne. Die Menschenliebe resultiere vielmehr aus dem pflichtgemäßen Handeln, dieses Handeln müsse nicht aus Liebe geschehen (vgl. AA, 397–401; vgl. Schäfer, Grundlinien, 72). 240 Die Personalität Gottes kann der Bestimmung der Liebe nicht vorgeordnet werden, „[v]ielmehr ist die Meinung die, daß der zureichende Begriff von Gott in dem Begriff der Liebe ausgedrückt ist, indem von da aus die Offenbarung durch Christus an seine Gemeinde verstanden und zugleich das Problem der Welt gelöst werden kann“ (Ritschl, RuV 3III, 260). Kuhlmann wertet dieses so, dass Ritschl damit eine Spannung im Gottesbegriff vermeiden wolle, gleichzeitig jedoch seinen Gottesbegriff nicht aus einer metaphysisch oder dogmatisch geprägten Deduktion ableiten könne (vgl. Kuhlmann, Ethik, 114). 241 Timm geht hier davon aus, dass damit eine Persönlichkeit Gottes impliziert sei, die mit genau dieser Eigenschaft behaftet ist (Timm, Theorie, 64). Dem widerspricht, dass Ritschl ausführt, dass der Liebe der „blos formelle Begriff der Persönlichkeit […] nicht gewachsen“ sei (Ritschl, RuV 3III, 261). 242 In der Beziehung zu Gott geschehe das so, dass im Liebesbegriff, Gottes-, Nächstenund schließlich auch Selbstliebe integriert seien. Kuhlmann macht darauf aufmerksam, dass Ritschls Einbeziehung der Selbstliebe „ihn vor vielen Theologen seiner und späterer Zeit“ auszeichne, insofern gerade die Selbstliebe sonst verpönt sei (Kuhlmann, Ethik,187).
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stellt. Das Narrativ von Gott als Liebe dient bei Ritschl nicht dazu, die Gemeinde in dem zu bestätigen, was sie sowieso schon unternimmt oder von dem sie sowieso schon erzählt und ist deshalb keine narrative Plausibilisierung für bestehende Zustände und Handlungsmuster. In der obigen Bestimmung zeigt sich allerdings eine Problematik des Liebesbegriffes, der sich nicht außerhalb eines fiktiven „Reichs der Liebe“ widerspruchslos zur Geltung bringen lässt – was auch Ritschl anmerkt.243 Diese Konzeption ist dahingehend zu hinterfragen, ob eine Förderung gegen den Willen einer anderen Person überhaupt als Handeln aus Liebe charakterisiert werden kann, auch wenn sie in bester Absicht oder zur Erreichung eines höchsten Guts geschieht. An der Art und Weise, wie Ritschl den Liebesbegriff als Ausdruck der dynamischen Bezogenheit von A-Funktionalität des Gottesgedankens und momentaner situativer Verfasstheit der Gemeinde konstruiert, zeigt sich die bleibende Herausforderung für eine Theologie, die Funktionalität als Reflexionskategorie ernst nimmt. Sie muss zeigen, wie in den jeweiligen narrativen Entfaltungen des Gottesgedankens dessen A-Funktionalität für individuelle oder kollektive Größen in ihrer momentanen situativen Verfasstheit funktional werden kann: Dass religiöse Rede funktional durchdacht wird, ist unumgänglich, wenn Theologie vom Standpunkt der Gemeinde aus betrieben wird, denn jegliche Form von religiöser Rede kann zumindest potentiell eine Funktion für die Gemeinde haben. Damit geht jedoch keine Reduktion auf diese Funktion einher, denn ihre spezifische Funktion liegt in dem Verweis auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens, die in ihrer beanspruchten Vorgegebenheit Teil der narrativen Entfaltung wie der Dynamik zwischen Gemeinde und Narrativ sein muss. 3.1.2. Das Absolute und der Zorn Ritschl grenzt sich von denjenigen Arten ab, den Gottesgedanken zu bestimmen, die er als Reduzierungen der Funktionalität versteht: Dies geschieht zunächst durch seine Auseinandersetzung mit der Erlanger Schule und besonders Franks Absolutheitsverständnis als einer Form der A-Funktionalität, die vollständig von der Wirkung auf die Gemeinde entkoppelt ist. Die ausschließliche Betonung der A-Funktionalität im Aseitätsgedanken – so kann Ritschls Argument interpretiert werden – mache die Gottesvorstellung der Absolutheit nichtfunktional. 244 Ritschl kritisiert dies als ein Absolutheitsverständnis, das mit östlicher und mystischer Spiritualität parallelisiert werden könne: 243 Vgl. Schäfer, Grundlinien, 78. Das ist auch die Kritik Wrzecionkos, dass die unbedingte Konzentration auf das Prädikat der Liebe Ausdruck einer relativ optimistischen Geisteshaltung sei (vgl. Wrzecionko, Theologie, 261f.) 244 Frank teilt die positionelle Bestimmung mit Ritschl, dass es keine Offenbarung jenseits der Gemeinde geben könnte, führt diesen Zugang jedoch spekulativ fort, indem er eine über die Gemeinde hinausgehende und vor ihr stehende Wahrheit annimmt: „[A]ber eben so
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„Das Absolute, wie es Frank definirt, behaupten allerdings etwa die Brahmanen und die Mystiker im Islam [...]. Aber das Absolute, das außer allen Beziehungen zu Anderem als das bloße Fürsichsein gedacht wird, kann nicht mit Recht als ‚der Fels der uns erzeugt und der Gott der uns geboren‘ bezeichnet werden. Denn das sind Beziehungen auf das Andere, welche entweder in dem Begriff des Absoluten ausgeschlossen sind, oder als richtige Prädicate die eben festgestellte Bedeutung des Absoluten aufheben.“245
Das Absolutheitsprädikat, wie Frank es verwendet, ergebe sich deswegen laut Ritschl nicht aus der christlichen Erfahrung, sondern werde von außen an sie herangetragen. Mit Slencka kann argumentiert werden, dass Ritschl damit nur ein sehr spezifisches Konzept von Absolutheit ablehnt, dass „unbezüglich“ bleibe.246 Ritschl wehrt sich nicht gegen die Vorstellung von Absolutheit, sondern nur gegen eine theologische Reflexion, die einseitig die A-Funktionalität so (über-)betont,247 dass der Gottesgedanke jeglichen relationalen Gehalt verliert. Ein produktives Verständnis von Absolutheit kann mit Ritschl hingegen als ein solches verstanden werden, in dem A-Funktionalität und Funktionalität umfassend zusammenfallen, sodass die Absolutheit gerade nicht jenseits von relationalen Kategorien gedacht werden kann. Ausgangspunkt für diese Interpretation ist die oben bereits aufgeführte Bemerkung Ritschls in den „Geschichtliche[n] Studien zur Gotteslehre“ (1865–1868), dass er beabsichtige, die „wissenschaftliche Durchführung der Idee von Gott als formal absoluter, aber materiell [sic!] relativer Persönlichkeit geschichtlich darzustellen“248. Die Absolutheit führt Ritschl als Formalprinzip ein, insofern der Gottesgedanke als solcher absolut und a-funktional sein müsse, um Reduktionen auf die Funktion und Verzweckungen zu vermeiden, im Sinne eines „Wie der Mensch, so sein Gott“249. Wenn Ritschl das damit verbindet, dass alle weiteren Redeweisen von Gott „materiell relativ“ konstruiert werden sollten, deutet das auf relationales und funktionales Denken hin. Ritschl behält diese Haltung in der Behandlung der Gotteslehre auch noch 1871–1874 in der Entwicklung von RuV bei, vermeidet den Begriff „absolut“, insofern dieser auf eine Form von Theologie hinweist, die um Funktionalität nicht bemüht ist.
ersichtlich ist es, dass damit [der Trennung zwischen Dogmengeschichte und Glaubenslehre, KO] in übler Weise der Zusammenhang zwischen den früheren und der gegenwärtigen Gemeinde und ihrem Glauben gelöst wird, während doch Dies das Wesen der Gemeinde Gott ist, dass sie Eine sei und bleibe, als solche Inhaberin der Heilswahrheit“ (Franz Hermann Reinhold Frank, System der christlichen Wahrheit I, Erlangen 21885, 78; vgl. auch Slenczka, Glaube, 125). 245 Ritschl, ThuM 43f., bei Slenczka, Glaube, 187f. 246 Vgl. Slenczka, Glaube, 187. 247 Ritschl sieht bei Frank die Motivation für dieses Vorgehen darin, dass „für manche Menschen ein eigentümlicher Reiz darin liegen [muss], von Gott etwas a priori zu wissen“ (Ritschl, ThuM, 20). 248 Ritschl, Geschichtliche Studien, 25. 249 Ritschl, Geschichtliche Studien, 25.
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Im Rahmen der dieser Arbeit zugrunde liegenden Analysekategorien kann das so interpretiert werden, dass Ritschl davon ausgeht, dass der Gottesgedanke als „Absolutheit“ im Frank’schen Sinne nicht nur a-funktional konstruiert ist, sondern vielmehr sogar nicht-funktional werden könne.250 Nicht-Funktionalität, im Unterschied zur konstitutiv notwendigen A-Funktionalität kann mit Slenczka als „Unbezüglichkeit“ verstanden werden, in dem Sinne, dass es keine Möglichkeit jenseits von formalen Strukturen geben könne, sich auf eine transzendente Größe zu beziehen. Wenn dieser relationale Bezug konstitutiv unmöglich sei, wäre damit in Aufnahme von Slenczka die höchste Form der Nicht-Funktionalität impliziert, insofern eine solche Form von Absolutheit per definitionem in religiöser Verkündigung nicht mehr mit einer Wirkung rechnen könne.251 Die Frontstellungen, die sich als Konsequenz aus dieser Frage ergeben, lassen sich an der Opposition zwischen Ritschl und Frank zeigen: Während Ritschl Frank vorwirft, die Seite der A-Funktionalität im Gottesgedanken so überzubetonen, dass sie zur Nicht-Funktionalität werde, wirft Frank umgekehrt Ritschl vor, die Seite der Funktionalität überzubetonen und damit Gott von der Welt abhängig zu machen. 252 In der Auseinandersetzung zwischen Ritschl und Frank kann daher nun die allgemeine Problemstellung der vorliegenden Arbeit präzisiert werden: Wie kann das Verhältnis von funktionaler Ausrichtung der Theologie und religiösen Verkündigung einerseits und der notwendigen A-Funktionalität des Gottesgedankens andererseits so bestimmt werden, dass es nicht zu einem nicht-funktionalen Gottesgedanken kommt?
250 Ritschl, RuV 3III, 260. Frank reagiert darauf, indem er schreibt: „Es wird also, und Das ist der nächste Sinn in welchem wir hier von dem Absoluten reden – Wahnvorstellungen die sich an die gewiss interessante Entdeckung anschließen (Ritschl), dass das Wort eigentlich ,abgelöst ދbedeute, kümmern uns nicht – hier bei der principiellen Setzung, durch welche die Gemeinde Gottes zu Dem geworden ist was sie ist, lediglich die Causalität, diese für sich, in Betracht gezogen“ (Frank, System, 111f.). 251 Slenczka formuliert: „Der Grund für diese Option liegt nun auf der Hand: Sofern Absolutheit bedeuten soll, daß an etwas auf nichts anderes Bezügliches gedacht wird, ist die beschriebene Erschließungssituation sinnvoller Rede von Gott in der Tat durchbrochen; soll das Prädikat hingegen bedeuten, daß von jenem im fiduzialen Glauben erfahrenen Liebenswillen unterscheidbar nun vom Subjekt dieses Willens die Rede ist, dann wird nach Ritschl dieses Subjekt, das nicht Zweckintentionalität ist, als Naturgegenstand vorgestellt“ (Slenczka, Glaube, 176). 252 Frank führt gegen Ritschl auf, dass eine Reduktion auf die Wirkung gerade nicht das Wesen des Göttlichen erfasse: „Aber jedenfalls müsste hierbei das Missverständnis beseitigt werden, als ginge nun das Wesen schlechthin auf in der absolut wirkenden Kraft insoweit sie innerhalb dieses endlichen Erfahrungsgebietes wirkt, wogegen in der absoluten Wirkung die sich zu erfahren giebt gerade Dies mitgelegen ist, dass sie auch für sich absolut, dass mithin dasjenige Sein absolut sei dessen die Kraft oder welches die Kraft ist“ (Frank, System, 112f., vgl. Slenczka, Glaube, 169).
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Diese Problemstellung ist aufschlussreich für die Art und Weise, wie Ritschl mit dem Zorn Gottes umgeht: Strukturell müsste Ritschl diese narrative Entfaltung des Gottesgedankens eigentlich ebenso wie die Liebe Gottes als sinnvoll ansehen, insofern sie im Unterschied zum Frank’schen Absoluten eine Wirkung entfalten kann.253 Ritschl kann nun so verstanden werden, dass er den Zorn Gottes dennoch für die momentane situative Verfasstheit der Gemeinde für eine unangemessene Redeweise hält, da sie an spezifische zeitgeschichtliche Plausibilisierungen gebunden ist, die nicht übertragbar sind.254 In diesem Sinne führt Ritschl den Zorn Gottes in RuV II aus exegetischer Perspektive ein, da er so die Genese des Begriffes und der Vorstellungswelt in AT und NT aufzeigen kann. Seine Argumentation läuft über die unterschiedlichen historischen Verfasstheiten, welche die Rede vom Zorn Gottes für einzelne Mitglieder des israelitischen Volkes plausibel gemacht hätten, welche jedoch für das Leben im 19. Jahrhundert nicht mehr plausibel seien. Ritschls Absicht ist es aufzuzeigen, dass die Rede vom Zorn Gottes in einem recht kleinen situativen Kontext eine Funktion haben konnte, nämlich die Erfahrung von Abgründigkeit in das Verständnis der Heiligkeit Gottes zu integrieren:255 Die einzige momentane situative Verfasstheit, auf die sich der „Zorn Gottes“ laut Ritschl sinnvoll beziehen kann, sei die Erfahrung von „plötzlicher Lebensvernichtung“256 in der Übertretung des Bundes, dem ausdrücklichen Scheitern und dem Abbruch der Gottesbeziehung, wie sie z. B. in den Psalmen selbstreflexiv werde.257 In diesem Sinne könne die Rede vom Zorn Gottes potentiell auch für 253 „Ich habe kein Interesse daran, zu wissen, daß Gott überhaupt gut ist; wenn ich nicht zugleich weiß, daß er es gegen mich und Andere ist. Ebenso wenig Interesse kann es gewähren, im Allgemeinen den Zornaffect als Attribut Gottes zu denken, ohne daß man sich zutrauen dürfte, gewisse Erscheinungen in dem Lauf der Welt unter diesen Begriff zu subsumieren“ (vgl. Ritschl, RuV 3II, 154). Auch wenn die Ablehnungen sowohl des Absolutheitsgedankens im Frankschen Sinne als auch des Narrativs des Zornes Gottes zunächst sehr unterschiedlich erscheinen, entspringen sie bei Ritschl dem gleichen Impuls. Chalamet macht deswegen zu Recht darauf aufmerksam, dass Slenczka die Bedeutung der Ablehnung des Zornes Gottes für die Gotteslehre bei Ritschl nicht thematisiert (vgl. Chalamet, Reassessing, 638), obwohl diese dort ihren Ort hätte. 254 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 122. 255 Ritschl, RuV 3II, 127. Deswegen könne der Zorn Gottes auch nicht von allgemeinen anthropologischen Bedingungen wie der Sünde der ersten Menschen her konstruiert werden, weder für Israel (Ritschl, RuV 3II, 129f.) noch für die paulinische Vorstellung vom eschatologischen Gerichtszorn (Ritschl, RuV 3II, 150f.). Ritschl resümiert, dass der Zorn Gottes eine Folgerung aus dem Begriff der Heiligkeit sei, insofern „diese Vorstellung nur im Verhältnis zu den Reizen [gebildet werde], welche diesen Affect für das Subject, das durch sie berührt wird, als möglich oder wahrscheinlich erscheinen lassen“ (Ritschl, RuV 3II, 137). 256 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 140. 257 Ritschl beschreibt die momentane situative Verfasstheit Iraels, auf die die Rede vom Zorn Gottes reagiert so: “Wird nun auf dem Boden der israelitischen Religion die Vorstellung vom Zornaffect auch auf Gott bezogen, so liegt der Anlaß dazu ursprünglich in den Erfahrungen von unerwarteter, plötzlicher, gewaltsamer Vernichtung des Lebens” (Ritschl,
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die Gemeinde gelten, sollte sich diese wiederum in einer situativen Verfasstheit befinden, die durch diese Möglichkeit von Lebensvernichtung gekennzeichnet ist.258 Es gibt jedoch laut Ritschl einen christologischen Grund dafür, die Rede vom Zorn Gottes im Neuen Testament narrativ so umzustellen, dass sie ins Eschatologische verlagert wird. Die Vorstellung von der Heiligkeit Gottes sei im Neuen Testament so vollständig durch die Erlösung Christi und damit das Reich Gottes bestimmt, dass die Rede vom Zorn Gottes außerhalb eines eschatologischen Rahmens keine Relevanz mehr für die Gemeinde besitzen könne.259 Es wäre irrelevant für die sich durch die Erlösung zusammenfindende Gemeinde darüber zu spekulieren, inwieweit die sich nicht dieser Erlösung zuordnenden Menschen dem Zorn Gottes anheimfielen. Wenn diese Gottesvorstellung – so Ritschls Vorwurf – dennoch weiter in die religiöse Verkündigung eingespielt würde, dann nur, weil sie für außerhalb ihrer selbst liegende Gründe verzweckt und möglicherweise instrumentalisiert würde.260 Es kann vermutet werden, dass dieser Vorwurf auch eine Abgrenzung gegen den Gebrauch des Zornes Gottes in lutherisch-pietistischen Strömungen ist, in denen insbesondere die Ereignisse von 1848/49 als Zorn Gottes gedeutet wurden.261 Es zeigt sich über die – mit den exegetischen Mitteln seiner Zeit geschehende – situative Bestimmung der Funktion des Narrativs des Zornes Gottes für Israel, dass Ritschl intendiert, den Gottesbegriff nicht einfach nur wohlgefällig zu konstruieren: Er spricht dem Zorn Gottes durchaus eine Berechtigung
RuV 3III, 124f.; mit Bezug auf diejenigen Stellen in der Tora, in denen der Bund Gottes übertreten wird). In den Psalmen werde diese Vorstellung dahingehend transformiert, dass der Zorn nun nicht primär der Verarbeitung von Bundesübertretung diene, sondern von Erfahrungen von Verfolgungen (vgl. Ritschl, RuV 3II, 130f.). 258 So wie es für die Urgemeinde zumindest vereinzelt noch gelte, so z. B. für Hananias und Saphira (vgl. Ritschl, RuV 3III, 140). 259 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 154. 260 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 154. Ritschl weist an diesem Beispiel eines Gottesattributes auf, inwiefern die dogmatische Überlieferung in die exegetischen Betrachtungen hineingelesen wird (Ritschl, RuV 3II, 155). 261 Das prominenteste Beispiel dafür ist sicherlich der lutherisch-erweckliche Prediger und Gemeindegründer Johann Konrad Wilhelm Löhe, der z. B. in seinen Predigten die Ereignisse nach 1848 als Zorn Gottes deutete und zur Buße aufrief (so z. B. in einem Brief an Samuel Gottlieb vom März 1848, in: Johannes Deinzer, Wilhelm Löhes Leben. Aus seinem schriftlichen Nachlaß zusammengestellt, II.1, Nürnberg 1877, 264. Im Rahmen dieses Verständnisse des Zornes Gottes können die Bestrebungen der Eisenacher Kirchenkonferenz von 1852 verstanden werden, einen deutschlandweit einheitlichen Termin für den Buß- und Bettag zu finden (vgl. Ludwig Schmidt, Art. Buße VIII. Kirchliche Buß- und Bettage, in: TRE VII [1981], 492–496, bes.: 494). Ritschl selbst schreibt in einem Brief an Harnack vom 29.02.1884, dass diese Bußpredigten gerade keine Buße hervorriefen, sondern „entweder keinen Eindruck gemacht [haben] oder [...] in den Seperatismus geführt“ hätten (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 364).
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zu, nämlich eine kohärente Erzählung in denjenigen Kontexten zu gewährleisten, in denen die situativen Lebensumstände es fordern, das Lebensvernichtende, das Bedrohliche in den Gottesgedanken zu integrieren.262 Die Möglichkeit, veränderte situative Verfasstheiten und Kontexte einzubeziehen, ist jedoch in der Ritschl’schen Theologie angelegt, die deswegen mit einer geänderten Situationsanalyse auch von K. Barth bzw. im Kontext der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hätte aufgegriffen werden können, indem z. B. der „Zorn Gottes“ aufgrund der ständig präsenten Erfahrung „plötzlicher Lebensvernichtung“ wieder als ein angemessenes Narrativ verstanden werden könnte. Ritschls Analyse ist – ohne dass er dies so benennt – an die Erschließung der momentanen situativen Verfasstheit der Gemeinde in ihrer historischen Gestalt als Israel, wie in ihrer Gestalt als Urgemeinde, wie in ihrer Gestalt als Landeskirche im 19. Jahrhundert gebunden. Dieses Vorgehen Ritschls verweist wiederum darauf, wie sehr auch die Materialdogmatik auf inter- und transzdisziplinären Austausch und Bezugnahmen angewiesen ist, wenn sie situativ arbeiten will. 3.1.3. Der Vatername Gottes Durch die Auseinandersetzung mit Frank sowie die im Liebesbegriff angelegten Ambivalenzen sieht sich Ritschl herausgefordert, einen narrativen Ausdruck für die Gotteslehre zu finden, der Funktionalität und A-Funktionalität verbindet sowie sich für eine Vielzahl von Situativitäten und zeitgeschichtlichen Kontexten als angemessen erweisen kann. In diesem Sinne kann Ritschls Umformulierung eingeordnet werden, die er an prominenter Stelle im UcR zwischen der ersten und zweiten Auflage vornimmt. 263 Die programmatische und thetische Formulierung der ersten Auflage: „Der vollständige christliche
262 Das zeigt sich z. B. auch in der Vorlesung zur Ethik, in der er der Rede vom Zorn Gottes eine Funktion zugestehen kann, in dem Moment, in dem das durch das Kollektiv geprägte Narrativ von den „Übeln als Strafe“ auf den Einzelnen angewendet wird (vgl. Ritschl, VLE, 135). Dass Ritschl den Zorn Gottes aus funktionalen und für seine Theologie strukturellen Gründen beibehält, hebt auch Hans Walter Schütte trotz des missverständlichen Titels hervor (Hans Walter Schütte, Die Aussscheidung der Lehre vom Zorn Gottes in der Theologie Schleiermachers und Ritschls, in: NZSTh 10 [1968], 387–397). Schüttes These ist, dass sich der mit der Rede vom Zorn Gottes verbundene Gehalt der Gottesferne in der gegenwärtigen Zeit (also 1968) transformiert finde „als eine Leerheit von Gott, für die er ein an der Grenze des Nichts schwebendes, unerkennbares Rätsel“ sei (Schütte, Ausscheidung, 397); eine Redeweise die weder Schleiermacher noch Ritschl hätten aufgreifen können. 263 Dass diese Stelle als zentral für Ritschls Theologie angesehen wurde, zeigt sich z. B. bei Günther Meckenstock, Art. Liebe VII. Neuzeit, in: TRE 21 (1991), 156–170, hier: 165f., der sich auf die Analyse der entsprechenden Paragraphen im UcR konzentriert.
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Begriff von Gott ist die Liebe“264, entfällt und wird in der dritten Auflage innerhalb der vollständigen Umgestaltung der §§11–13 265 durch den Umschwung auf den Vaternamen ersetzt:266 „Der vollständige Gottesname, welcher der christlichen Offenbarung entspricht, ist: der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus.“267 Diese vollständige Umformulierung eines programmatischen Teils der Ritschl’schen Theologie (in einem Werk, das mit breiter Öffentlichkeitswirkung intendiert war) kann so interpretiert werden, dass Ritschl mit dem Vaternamen eine Redeweise von Gott findet, die für eine Vielzahl von Situativitäten narrativ angemessener als der Liebesbegriff ist. Da es um den Gottesnamen und nicht z. B. den Gottesbegriff geht, kann Ritschl aufnehmend der funktionale Aspekt profiliert werden. Denn ein Name hat, in Aufnahme einer Bestimmung Stoellgers, zwei Aspekte, die auf seine kollektive Einbettung und seine individuelle oder kollektive Ingebrauchnahme zielen:268 Namen sind auf narrative Kontexte bezogen, sie seien, so Stoellger „Ultrakurzgeschichten [...], deren Bedeutung sich entfaltet im Erzählen der Geschichten dieses Namens, im Erzählen vom Namensträger“269. In diesem Sinne verweist der Name auch bei Ritschl auf den Konnex von Narrationen, in denen die Erzählungen von diesem Namen eingebunden sind – nämlich einerseits auf diejenigen Narrationen, die davon erzählen, wie das Individuum Jesus Christus diesen Namen für sich in Gebrauch nimmt und andererseits auf diejenigen Narrationen, in denen die Gemeinde diesen Namen für sich so in Gebrauch nimmt, wie es durch die Erzählungen von Jesus Christus 264
Ritschl, UcR, §11, 21. Ritschl selbst gesteht diese Veränderung sehr lapidar im Vorwort zur dritten Auflage ein: „Eine Veränderung hat die dritte nur insofern erfahren, als die §11–13 umgestaltet worden sind“ (Ritschl, UcR, 5). 266 Ritschl führt diese Bestimmung im UcR dann in den §11–13 weiter aus, und eigentlich auch noch in §14–18, wenn er die sonst klassisch in der Eigenschaftslehre benannten Attribute Gottes unter das Paradigma der Liebe Gottes stellt und sie dementsprechend neu definiert. Ritschl ist nicht an den Liebesbegriff gebunden, insofern er ihn nicht als Teil der Eigenschaften Gottes betrachtet, wie es andere theologische Erörterungen tun, die auf das Wesen Gottes als Liebe abzielen, vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 32007; Eberhard Jüngel, Thesen zum Verhältnis von Existenz, Wesen und Eigenschaften Gottes, in: Ders., Ganz werden. Theologische Erörterungen V, Tübingen 2013, bes. 266. 267 Ritschl, UcR, §11, 21, Fn 35. Diese Neubestimmung bereitet sich allerdings in den ersten Auflagen des UcR schon vor, da in §13 die Ausführungen über Gott als Liebe kulminieren in: „In diesem Gedanken ist nämlich die Menschheit überweltlich (§8) bestimmt, als in der Gleichartigkeit mit Gott gedacht. Hiernach ist der Sinn des Namens ‚Vaters‘ zu verstehen, unter welchem die Genossen des Reiches Gottes berechtigt werden Gott anzurufen“ (Ritschl, UcR, §13, 25f.). 268 Vgl. dazu ausführlich Philipp Stoellger, „Im Namen Gottes“. Der Name als Figur des Dritten zwischen Metapher und Begriff, in: Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger (Hrsg.), Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Namen, (RPTh 35) Tübingen 2008. 269 Stoellger, Name, 278. 265
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für sie plausibel ist.270 Ein Name besitzt laut Stoellger keine Relevanz für Anredende und Angeredete außerhalb seines Gebrauches in der Anrede – und gleichzeitig kann er nicht auf diese reduziert werden. Dass die A-Funktionalität des Gottesgedankens in dieser Funktionalität erhalten bleibt, kann Ritschl dadurch begründen, dass im neutestamentlichen Gebrauch der Gottesname als „Vater“-Anrede bestimmt ist.271 Denn in der Anrede Gottes als Vater ist implizit die Differenz zwischen dem „Vater“ und den „Kindern“ angelegt, die zwar aufeinander bezogen, jedoch nicht gleich sind. So erklärt sich auch, warum Ritschl von den Erziehungsstrafen Gottes schreiben kann: Ein spezifisches, der Praxis des 19. Jahrhunderts korrespondierendes Bild von Erziehung vorausgesetzt, ist diese Rede innerhalb der Rede von der Vaterliebe Gottes schlüssig.272 Die so konkretisierte Rede von Gott als streng erziehendem Vater ist für das 19. Jahrhundert plausibel, jedoch an diesen Kontext gebunden und für aktuelle Kontexte zu problematisieren: In der Semantik der Familie und des Erziehungsgedankens kann es sonst zu normativen Setzungen kommen, in denen zerstörerische und leidvolle Ereignisse als förderlich gedeutet werden müssen. Diese Problematik verweist auf die Notwendigkeit von Korrektiven in den Narrativen, die bei Ritschl angelegt ist, aber nicht explizit von ihm entfaltet wird: Wenn der „Vatername“ das Narrativ in der Gotteslehre ist, das dem Narrativ des „Reiches Gottes“ angemessen ist, können beide Narrative sich entweder gegenseitig korrigieren oder verstärken. Das Narrativ des Reiches Gottes kann dort sein Korrektiv an dem der Familie finden, wo es darauf verweist, dass die Herrschaftsbeziehungen im Reich Gottes immer schon auf eine im weitesten Sinne fürsorgliche Beziehung im Sinne einer Familiengemeinschaft ausgerichtet sind. Der Vatername könnte schon in Ritschls eigener Logik als 270
Stoellger, Name, 280. „Nun aber hat der vollständige Name Gottes den Sinn, daß Gott sich die besondere Stellung zu dieser Gemeinde nur gegeben hat, weil er im voraus der Vater Jesu Christi, dieser aber von seiner Gemeinde als ihr Herr anerkannt ist“ (UcR, §12 in der ersten und dritten Auflage, 23, Fn 49). Dieses korrespondiert natürlich sehr viel stärker mit der schon in der ersten Auflage dargelegten Betonung der Gotteskindschaft (Ritschl, UcR, §46, 63f.). So stellt Ritschl in der dritten Auflage des RuV III zunächst dar, dass gegenüber dem Begriff des Vaters weder der Begriff der Heiligkeit noch der Begriff der Persönlichkeit die gleiche Geltung haben können, um die Offenbarung Gottes für die christliche Gemeinde als Liebe ausdrücken zu können (vgl. Ritschl, RuV 3III, 260). 272 Vgl. dazu Mark D. Chapman, „The Kingdom of God and Ethics: From Ritschl to Liberation Theology“, in: Robin Barbour (Hrsg.), The Kingdom of God and Society, Edingburgh 1993, 148. Chapman analysiert, in welchem Ausmaß Ritschl Gott als preußischen Familienvater verstanden habe (vgl. ebenso, Derek R. Nelson, Schleiermacher and Ritschl on Individual and Social Sin, in: JHMTh/ZNThG 16 [2009], 131–154, 151). Kuhlmann bestimmt dieses bei Ritschl als sich aus dem Natur-Geist-Dualismus ergebendes Problem, das eine Vernachlässigung körperlichen Übels impliziere, wenn Ritschl diese als Erziehungsstrafen Gottes deute und darüber hinaus die materielle Armut seiner Zeit nicht ausreichend reflektiere (vgl. Kuhlmann, Ethik, 272f.). 271
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ein Korrektiv für diejenigen problematischen Passagen in der Ritschl’schen Theologie dienen, in denen die lebensweltlichen Bezüge sich selbst absolut setzen und dadurch die eigentlich Räumlichkeit wie Zeitlichkeit transzendierende Perspektive des Reiches Gottes aus dem Blick verlieren.273 Das Narrativ des „Vaternamens“ findet sein Korrektiv am Narrativ des Reiches Gottes dort, wo mit dem metaphorischen Gehalt „Familie“ nur ein enger Raum von nahen und nächsten Beziehungen aufgerufen wird, in denen sich Glaubenserfahrungen abspielen und in dem die weitere Welt aus dem Blick verloren wird. Diese Korrektivfunktionen sind jedoch nicht einfach vorauszusetzen, denn Narrative können sich ebenso in problematischer Art und Weise verstärken, wie bei der Rede von den Erziehungsstrafen Gottes. An Ritschls Gebrauch der Familienmetaphorik kann die für den Liebesbegriff getroffene Beobachtung geschärft werden: Wenn Funktionalität als Kategorie der theologischen Reflexion wie der religiösen Verkündigung ernstgenommen wird, macht das auf die bleibende Problemstellung aufmerksam, dass ein Narrativ immer in eine bestimmte situative Verfasstheit wirkt, die durch ihre jeweiligen Kontexte auch darin geprägt ist, wie dieses Narrativ und seine Wirkung gedeutet werden. 3.1.4. Das Wirken der väterlichen Vorsehung Gottes in der Gemeinde Die Art und Weise, wie sich die Dynamik von situativer Verfasstheit und narrativer Entfaltung des Gottesgedankens aus der Perspektive der Gemeinde darstellt, ist für Ritschl in dem Begriff der „(väterlichen) Vorsehung“ zusammengefasst. Dass die A-Funktionalität des Gottesgedankens für die Gemeinde eine Funktion hat, die es ihr ermöglicht, das Reich Gottes als enacted narrative zu vollziehen, kann über die Vorsehung angemessen dargestellt werden: Die Gemeinde muss annehmen, dass das Reich Gottes einerseits in ihrer momentanen situativen Verfasstheit eine enacted narrative werden kann und andererseits ihre Hoffnung gerechtfertigt ist, dass diese momentane situative Verfasstheit durch das Reich Gottes transformiert werden kann.274 Dass dieses eine begründete Hoffnung sein kann, ist laut Ritschl für die Gemeinde durch die Tatsache ihrer eigenen Existenz plausibilisiert: Sie sei zum jetzigen Zeitpunkt „da“ und habe sich historisch durchgesetzt, auch wenn sie nicht mehr in derselben Gestalt wie die Urgemeinde (oder eine der anderen situativen Gestalten) existiere.275 Die Gemeinde könne deswegen für ihre Zukunft darauf hoffen, dass
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Ritschl benutzt hierfür den Begriff des „Überweltlichen“ (vgl. Ritschl, UcR, §8, 17). Vgl. dazu Ritschl, RuV 3III, 296; dort lehnt Ritschl aus diesem Grund ein Verständnis von Vorsehung ab, das auch außerchristliche Entwicklungen unter diese rechnet; vgl. ebenso Ritschl, UcR, §60, 83. 275 Vgl. die o. g. pointierte Formulierung: „Da die christliche Religion [...] in einer besonderen Gemeinde von Gläubigen und Gottesverehrern da ist“ (Ritschl, UcR, §1 9 [kursiv KO]). 274
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sie auch weiterhin Erfahrungen machen könne, in denen sich die im Vaternamen erbetenen Wirkungen auf sie zeigen würden. Ritschl kann in Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Gottesgedanke und Identitätsbildung der Gemeinde pointiert so verstanden werden: Die Gemeinde bildet ihre Identität, indem sie Gott als ihren Vater anruft. Die Rede von Gott als Vater und der Gebrauch des Vaternamens sind jenseits der biblischen Genese im Rahmen der Figur der Vorsehung für Ritschl sachlogisch an die Christologie gekoppelt:276 Denn in den christologischen Narrationen, die zwar narrativ in Form einer Biographie entfaltet werden, aber nicht mit historischen Faktenerzählungen zu verwechseln sind, zeige sich wie ein Leben in der Hoffnung auf die Vorsehung als Teil einer kohärenten Lebenserzählung aussehen könnte. Die Gemeinde versteht ihre Identität als immer schon unter der Vorsehung Gottes stehend und im stetigen Bezug auf die Welt, an der sich diese Rede von der Vorsehung wieder und wieder erweisen muss: Das Narrativ des Reiches Gottes wird als enacted narrative auf seine Durchsetzungskraft in der Welt erprobt, die Evidenz ergibt sich aus den in der Gemeinde gemachten Erfahrungen.277 An dieser Stelle wird der historische und teleologische Zug der Theologie Ritschls als Ableitung aus dem Verständnis des Reiches Gottes als enacted narrative sehr deutlich: Die Kontinuität der enacted narrative der Gemeinde als Form von kohärenter und zugleich situativ adaptiver Erzählung dient als Plausibilisierungsfigur, um den Fortgang der Erzählungen zu legitimieren. Das Interesse einer theologischen Historie kann dementsprechend auch für Ritschl nur darin liegen, die Kontinuität der enacted narrative des Reiches Gottes sowie deren an momentane situative Verfasstheiten gebundene Umformungen in unterschiedlichen Kontexten darzulegen. 3.2. Christologie Eine narrativitätstheoretische Lesart der Christologie bei Ritschl kann als Bearbeitung der folgenden Problemstellung analysiert werden: In den Evangelien erfolgt die narrative Entfaltung einer exemplarischen Lebenserzählung als eines ständigen situativen Bezugs auf die A-Funktionalität. Die Evangelien können als die Erzählung davon verstanden werden, wie das ganze Leben und Sterben Jesu Christi die enacted narrative des Reiches Gottes je und je situativ so vollzieht, dass sich an diesem Vollzug etwas für andere erschließt. Ausgangspunkt sowohl des religiösen als auch des theologischen Interesses an der Person Christi ist deswegen für Ritschl die schlichte Existenz der Gemeinde, da kein (sinnvoller) Anlass bestünde, sich mit Jesus Christus biographisch-historisch zu beschäftigen, „wenn man sich nicht als Glied dieser Gemeinde seiner 276 Das zeigt sich schon strukturell daran, dass in dem Moment, da Ritschl das relationale Geschehen fokussiert, in der dritten Auflage des UcR auch die eigentlich zur Gotteslehre gehörenden §11–13 christologisch über die Gottessohnschaft grundiert werden. 277 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 583.
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Person unterordnet“278. Narrativitätstheoretisch betrachtet kann die Gemeinde durch ihren Fortbestand zwar nicht die Richtigkeit des christologischen Narrativs als enacted narrative des Reiches Gottes verbürgen, jedoch zumindest die Relevanz dieses Narrativs für das Leben der Menschen, die sich als Gemeinde zusammenfinden, aufzeigen.279 3.2.1. Der Beruf Jesu Christi Aus narrativitätstheoretischer Perspektive ist die grundlegende christologische Fragestellung bei Ritschl, wie Jesus Christus das Reich Gottes als enacted narrative so vollzieht, dass es für die Gemeinde in ihrer Identitätsbildung wirksam wird.280 Daraus kann abgeleitet werden, was das über die Funktion des Reiches Gottes für Jesus Christus sowie für die Gemeinde aussagt und wie sich das Narrativ des Reiches Gottes dadurch verändert, dass es im Leben und Sterben Jesu Christi, in der Fülle der Lebenserfahrung Jesu vollständig repräsentiert wird. Dazu führt Ritschl hermeneutische Vorbemerkungen ein, die auf den schon für das Reich Gottes entfalteten Überlegungen zur Schrift beruhen. Es ist für Ritschl sehr deutlich, dass von Jesus Christus nicht außerhalb der biblischen Narrationen, also z. B. spekulativ, gesprochen werden könne. Das hat mehrere Konsequenzen: Die biblischen Erzählungen sind komponierte Beschreibungen der Art und Weise, wie sich das Reich Gottes in Jesu Leben so durchsetzt, dass
278 Ritschl, RuV 3III, 3; in ähnlicher Ausrichtung: „Denn wir würden überhaupt weder auf jene Absicht Jesu aufmerksam sein, noch nach ihrem Werthe und ihrer Bedeutung fragen, wenn wir uns nicht in die religiöse Gemeinde einrechnen dürften, welche ihren Besitz der Sündenvergebung als Wirkung Christi [...] zuerst bezeugt hat“ (Ritschl, RuV 3III, 2); vgl. ebenso: „[S]o muß der ihr eigentümliche Gedanke Gottes stets in Verbindung mit der Anerkennung des Trägers dieser Offenbarung und mit der Wertschätzung der christlichen Gemeinde aufgefasst werden, damit der ganze Inhalt des Christentums richtig verstanden werde“ (Ritschl, UcR, §1, 9 [kursiv KO]; vgl. auch Ritschl, RuV 3III, 408, UcR, §22–§25, 36–41, bes. 40). 279 Ritschl nimmt die hegelsche Figur von der Gemeinde als Ort der vollkommenen Religion (Hegel, Vorlesungen, hrsg. Jaeschke, 330–338) so auf, dass sie dieses sei, indem „die Gemeinde sich von Jesus Christus ableitet, der als Sohn Gottes sich die vollkommene Erkenntnis seines Vaters zuschreibt, und indem sie ihre Erkenntnis aus demselben Geiste Gottes ableitet, in welchem Gott selbst sich erkennt“ (Ritschl, UcR, §2, 9). Es ist zu beachten, dass Ritschl dieses nicht als Tatsache darstellt, sondern dezidiert sagt: „nun behauptet das Christentum von sich“ vollkommene Religion zu sein. 280 Jesus ist damit nicht im eigentlichen Sinne Religionsstifter (vgl. Jörg Lauster, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2014, 19f.), denn die Religion wird durch die Gemeinde gestiftet, die von Jesu Anspruch an seine Zeitgenossen und von den durch Jesus Christus an ihr hervorgerufenen Wirkungen berichtet (vgl. Ritschl, RuV 3III, 419ff. und dann auch 434ff., vgl. außerdem: Christian Walther: Zum Berufsbegriff bei Albrecht Ritschl, in: Ringleben, Reich Gottes, 69–82, bes: 71).
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es als Ausdruck seiner Subjektivität und „seine[s] persönlichen Selbstzweck[s]“281 erscheint – und zwar in einer Vielzahl exemplarischer Situativitäten. Darüber hinaus enthalten die Evangelien nicht nur die Erzählungen davon, wie Jesus Christus den Bezug auf das Reich Gottes in der Fülle der Lebenserfahrungen lebt, sondern auch, wie er diesen Bezug im Reden über das Reich Gottes explizit macht. Diese Narrationen expliziter Rede vom Reich Gottes und die implizit in der Lebenserzählung Jesu Christi enthaltene Rede vom Reich Gottes können wiederum für die Gemeinde wirksam werden, indem sich an ihnen die Gemeinde in ihrer je aktuellen situativen Verfasstheit konstituiert und in ihrer Identität bestätigt.282 Um die christologischen Narrationen aus der situativen Gebundenheit ihres biblischen Kontextes heraus für seinen eigenen Kontext relevant zu machen, geht Ritschl so vor, dass er die Evangelienerzählung mit dem Verständnis von „Beruf“ im 19. Jahrhundert kombiniert: Den Berufsbegriff gewinnt Ritschl von Melanchthon und führt ihn dann im Rahmen der zeitgenössischen Berufsvorstellungen so aus, dass er ihn produktiv auf die christologischen Narrationen übertragen kann.283 Ritschl betont, dass der Begriff des sittlichen Berufes als selbstgewählter Beruf erst seit Schleiermacher verstanden werden könne.284 Dass dieses Verständnis von „Beruf“ zeit- und milieugebunden ist, ist Ritschl selbst bewusst, sodass er sich bemüht das Berufsverständnis zumindest nicht auf den Kontext (bürgerlicher) Erwerbsarbeit zu reduzieren: Der Beruf umfasst bei ihm ein weites Verständnis von nicht bezahlten Tätigkeiten.285 Was Ritschl hier unternimmt, ist die Übertragung einer theologischen Struktur aus dem
281
Ritschl, RuV 3III, 417. Ritschl, RuV 3III, 425. 283 Das ist einer der wenigen Punkte, in dem Ritschl Melanchthon zugesteht, dass er Luthers Ausführungen „Ausdruck zu geben vermocht“ habe (Ritschl, RuV, 3III, 370), mit der etwas despektierlichen Bemerkung, dass diese richtigen Bemerkungen „zwischen Erörterung scholastischer Art“ (Ritschl, RuV, 3III, 370) zu finden seien: Melanchthon habe richtig erkannt, dass die Gottheit Christi sich nur durch die Wohltaten an uns („beneficia“) erkennen ließe (vgl. RuV, 3III, 374; vgl. dazu Anselm, Ekklesiologie, 68, der in Bezug auf die Gottheit Christi konstatiert, dass Ritschl im Sinne Melanchthons die Christologie vom Wirken Christi auf die Gemeinde hin konstruiere [Vgl. Ritschl, ThuM 56; RuV 3III, 377]). Zudem grenzt er sich mit seinem Berufsbegriff von Arndt ab, vgl. Ritschl, GdP II.1, 53. 284 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 420. 285 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 420, wo Ritschl Familienarbeit, Produktion, staatliche und religiöse Tätigkeit sowie Wissenschaft und Kunst aufzählt. Setzt man dieses in Bezug zur Rede zur Göttinger 150-Jahr-Feier, in der Ritschl die Unabhängigkeit der Wissenschaft vom Staat betont (vgl. Ritschl, Festrede), dann kann der Berufsbegriff gerade nicht als preußisches Beamtentum verstanden werden. Das kann gegen Walther argumentiert werden, der darlegt, dass sich Ritschls Berufsverständnis nicht mit dem modernen Verständnis von Beruf vereinbaren lassen würde, insofern es streng an den bürgerlichen Berufsbegriff und eigentlich an das Beamtentum gebunden sei (vgl. Walther, Berufsbegriff, 73). 282
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Kontext der Evangelien über den Berufsbegriff in den Kontext des 19. Jahrhunderts. Das erhöht die Möglichkeit, sich als Mensch des 19. Jahrhunderts auf die Evangelien zu beziehen und sie in der Relevanz für das eigene Leben wahrzunehmen. Die hohe Situativität des Ritschl’schen Berufsbegriffs bindet jedoch die Übertragung auf Christus an diesen zeitgeschichtlichen Kontext.286 Den Beruf Jesu Christi versteht Ritschl fast tautologisch als das „ChristusSein“, in dem Jesus Christus „sich als den Träger der sittlichen Herrschaft Gottes über die Menschen darstellt, durch dessen eigenthümliches Reden und Handeln die Menschen angeregt werden, in der von ihm gewiesenen Richtung sich der von ihm ausgehenden Kraft zu fügen“287. Die Funktion des Berufes „Christus-Sein“ kann narrativitätstheoretisch darin gesehen werden, die Wirkung des a-funktionalen Gottesgedankens so in allen situativen Lebensvollzügen als enacted narrative darzustellen, dass sich die Gemeinde darauf beziehen kann und selbst diese Wirkung erfahren kann: So sähe es also aus, wenn man sich ständig auf das Reich Gottes beziehen und in seinem Leben von diesem Narrativ erzählen würde.288 Diese Interpretation kommt ohne die Spekulation aus, inwieweit Jesus Christus sich selbst dieses Ziels seines Berufes vollständig bewusst war. In diesem Zusammenhang kann mit Ritschl gezeigt werden, dass der implizite Fokus auf die Funktion für die Gemeinde nicht eine vollständige Reduktion der christologischen Figur auf ihre Funktion bedeuten muss. Ritschl betont: „[D]abei [zeigt] die ethische Auffassung der Leistung Christi sich von einem gewissen Egoismus gefärbt [...], nämlich von dem Egoismus der Betrachtenden. Diese nehmen ihn so ausschließlich für ihr Heil in Anspruch, daß sie ihm die Ehre des Fürsichseins nicht zugestehen wollen […]. Im Gegensatze dazu steht also fest, daß das menschliche Leben Christi in dem Schema seines ihm bewußten Selbstzweckes und in dem Rechte seines Fürsichseins aufgefasst werden muß, damit sein Wirken und seine Absichten auf die Menschen als solche begriffen werden“.289
Die Betrachtenden der Evangelienerzählung handeln egoistisch, so kann das Zitat interpretiert werden, wenn sie diese Erzählung als Selbstnarration Jesu Christi in ihrer situativen Gebundenheit nicht ernstnehmen, sondern sie sofort für sich verzweckt in Anspruch nehmen wollen. 290 Ritschl scheint hier ein Recht Jesu Christi an seiner eigenen Lebenserzählung vor Augen zu haben, das er als „Fürsichsein“ charakterisiert. Die individuelle Verfasstheit Jesu Christi als nicht wiederholbar, situativ und kontextuell gebunden ist ernst zu nehmen. 286
Vgl. Ritschl, RuV 3III, 420. Ritschl, RuV 3III, 421. 288 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 420. 289 Ritschl, RuV 3III, 418. 290 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 444–455; in denen er die dogmatische Rede von der Gerechtigkeit Gottes und dem Opfer Christi an den biblischen Texten misst und das „Unbiblische“ als Kriterium für dogmatische Überformungen wählt (vgl. Ritschl, RuV 3III, 444f.). 287
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Die grundlegende Fähigkeit sich auf diese Art und Weise situativ auf das Reich Gottes zu beziehen, kann jedoch in der Logik des Ritschl’schen Berufsbegriffes nicht nur für Jesus Christus gegeben, sondern muss für die Gemeinde zumindest potentiell erreichbar sein. Ritschl nutzt zur Entfaltung dieses Themenkomplexes die traditionellen christologischen Bestimmungen so, dass er zugleich anzeigen kann, unter welchen Bedingungen diese im Rahmen seiner Theologie eine Berechtigung haben. An der Christologie zeigt sich exemplarisch, wie Ritschl auf Begriffe in theologischer Reflexion und religiöser Verkündigung umstellt, die idealerweise die Dynamik der Funktion des a-funktionalen Gottesgedankens für die Gemeinde anzeigen. Für die Christologie bevorzugt Ritschl dementsprechend die Anrede „mein Herr“ gegenüber statisch-begrifflichen Bestimmungen wie der Zwei-NaturenLehre, wie Ritschl in einem Brief an Herrmann vom 25.02.1883 ausführt.291 Ritschl kann sich eine Bestimmung wie die Zwei-Naturen-Lehre überhaupt nur als produktiv für die Theologie vorstellen, wenn sie das Potential für dynamische Umformulierungen bietet und auf die Wirkung für die Gemeinde verweist: Wenn man die Zwei-Naturen-Lehre, so Ritschl, vom metaphysischen Ballast befreie, könne sie als Erschließungsfigur dafür gelten, dass sich aus dem o. g. folgerichtig die Frage ergebe, ob denn nicht auch ein anderer als Jesus Christus diesen Beruf des „Christus-Seins“ hätte ausüben können.292 Auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit zugespitzt:
291 Ritschl/Herrmann, Briefwechsel, 302. Die Zwei-Naturen-Lehre mache laut Ritschl die Dynamik der Wirkung auf die Gemeinde nicht sofort ersichtlich, wenn sie scholastisch in einem Tonfall „uninteressirten Erkennens“ (Ritschl, RuV 3III, 377) formuliert wird, obwohl es sich bei der Zwei-Naturen-Lehre eigentlich um ein „Werturtheil directer Art“ (Ritschl, RuV 3III, 376) handele. Ebenso betont Ritschl in RuV III in stark normativem Tonfall, dass umgekehrt auch nicht rein auf die Situativität des Lebens Jesus fokussiert werden sollte: Die Gemeinde solle deswegen nicht von Jesus Christus, im Sinne einer historisch-biographisch zu erfassenden Gestalt sprechen, sondern immer schon von „Jesus Christus, unserem Herrn“ (Ritschl, RuV 3II, 159f.; deswegen auch sein Fokus auf das ਫ਼ʌȡ in der Analyse der Paulusund Petrusbriefe, vgl. Ritschl, RuV 3II, 166). 292 Der als Sündenvergebung erfahrenen Wirkung in der Gemeinde korrespondieren bestimmte Vorstellungen von den Ursachen dieser Wirkung; deswegen muss für die das Heil durch Christus erfahrende Gemeinde dieser Wirkung die Vorstellung der Gottheit Christi als Ursache korrespondieren. Dieses kann wiederum nur aus dem Standpunkt der Gemeinde verstanden werden, sodass Ritschl in der zweiten und dritten Auflage des UcR von der Gemeinde aus formuliert: „Vielmehr entspricht die Art der mit Gott versöhnten Gemeinde […] der Stellung, welche Christus als Vertreter der Gemeinde im Verhältnis zu Gott und zur Welt bewährt hat“ (Ritschl, UcR, §45 [vormals §54], 73, Fn 189). Erneut zeigt sich die Veränderung in den Auflagen hin zu einem stärker dynamischen Konzept insofern Ritschl in der ersten Auflage Christi Amt noch differenziert nach „Vertretung Gottes für die Menschen“ und „Vertretung der Menschen […] vor Gott“ (Ritschl, UcR, §54, 73), während die Formulierung in der zweiten und dritten Auflage eher auf die Repräsentanz dieser Vertretung hindeutet. Wiederum leitet Ritschl diesen Gedanken aus seiner Lutherinterpretation ab, denn
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Wäre es potentiell möglich, dass sich jemand anderes derart vollständig auf das Reich Gottes hätte beziehen können, dass es in jeder momentanen situativen Verfasstheit sichtbar wird? Ritschl negiert dieses, obwohl die Bezugnahme als solche potentiell wiederholbar wäre. Die Art und Weise, wie Jesus Christus seinen Beruf ausgeübt hat, müsse notwendig einmalig bleiben, insofern nur bei im der Selbstzweck (die momentane situative Verfasstheit) vollständig mit dem Endzweck des Reiches Gottes (dem alle Lebensvollzügen grundierenden Bezug auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens) zusammenfalle. 293 Im Vollzug des Lebens Christi transformiere sich zudem die Rede vom Reich Gottes, insofern nun mindestens das Sterben Christi in diese Rede integriert werden müsse. Jeder weitere Vollzug, der sich auf das Reich Gottes beziehe, hätte die Erzählung von Sterben und Auferstehung Jesu Christi somit schon für sich vorausgesetzt.294 Das erhellt die Frage, warum Ritschl von einem „Wunderanfang“ des Christentums reden kann: Dieser ist nicht surpranaturalistisch zu verstehen, wie z. B. Schäfer Ritschl interpretiert,295 sondern im oben dargelegten Sinne eine Beschreibung dessen, dass sich das Narrativ des Reiches Gottes als situative Lebenserzählung Jesu Christi gegenüber anderen Narrativen durchgesetzt hat. Dass in der Christologie das Narrativ und dessen Funktion für die Gemeinde in ihrer jeweiligen Situativität bedacht werden müssen, bildet sich auch in der Ämterlehre ab, die als eine Form von „Tätigkeitsbeschreibung“ des Berufes „Christus-Sein“ bei Ritschl verstanden werden kann. 296 Die Darstellung der dreifachen Berufsausübung Jesu (munus triplex) bei Ritschl kann folgendermaßen narrativitätstheoretisch erfasst werden: Als Prophet ist er Erzählender des Reiches Gottes, als Priester bringt er das Reich Gottes im Lebensvollzug zur Darstellung (enacted narrative) und als König hat er eine Wirkung auf die
mit der Gleichsetzung von „Herr“ und „Erlöser“ in den beiden Katechismen sei genau ausgedrückt, dass die Gottheit Christi nicht von der Wirkung zu trennen sei. Die Gottheit Christi knüpfe Luther deswegen laut Ritschl „effectiv an die Bedeutung des Werkes Christi für die christliche Gemeinde [...]; die Hauptsache ist, daß seine Gottheit in seinen menschlichen Anstrengungen anschaulich und heilmäßig wirksam ist“ (RuV 3III, 372). 293 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 42. 294 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 438–441. 295 Vgl. Schäfer, Ritschl, 61. 296 Ritschl plädiert für den Begriff officium statt munus (Ritschl, RuV 3III, 405). Er ordnet die Ämterlehre zwar dem Berufsgehorsam unter, nimmt sie aber trotzdem so prominent auf, dass sie zur weitergehenden Beschäftigung in der Forschung geführt hat (vgl. z. B. Anselm, Ekklesiologie; Mühling, Versöhnendes Handeln, 63–71). Mühling bemerkt, dass Ritschl eigentlich nur ein „königliches Prophetentum vom königlichen Priestertum“ unterscheiden könne (vgl. Mühling, Versöhnendes Handeln, 67).
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Gemeinde.297 Diese Unterscheidung ist für Ritschl eine analytische und in deren präziser Bestimmung sieht er ebenso die Aufgabe der Theologie, wie darin, zu zeigen, warum diese Ämter im Lebensvollzug Jesu zusammenfallen.298 3.2.2. Kreuz und Opfer als Prüfstein einer funktionalen Theologie Das Priesteramt verdient aus narrativitätstheoretischer Perspektive nun eine gesonderte Betrachtung:299 Ritschl betont, dass Jesu sich als Priester selbst als Opfer darbringe. 300 Dementsprechend ergebe sich die Bedeutung des Todes Jesu aus der „symbolischen Verbindung“301 von Priester und Opfer. Das Königsamt wird dabei von Ritschl in funktionaler Perspektivierung den beiden anderen Ämtern vorgeordnet und kulminiert in den Transformationen, die Ritschl für den Begriff der Herrschaft unternimmt: 302 Im königlichen Amt Christi zeige sich, wie Jesus „die Herrschaft über die ganze Welt übertragen“303 sei. Da die Erzählung von der Herrschaft Christi auch den Tod Jesu beinhaltet, kann Ritschl argumentieren, dass unter dieser Perspektive – weil das Reich Gottes als enacted narrative auch die Passion umfasst – die Herrschaft Jesu in seinem Leben nur auf paradoxe Weise verstanden werden könne:304 Die Herrschaft Jesu sei die „Unterwerfung unter die Macht der Welt“ in seinem Tod, 297
Ritschl, UcR, §50, 76. Ritschl, RuV 3III, 426. 299 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 167. 300 Vgl. Ritschl, UcR, §51, 68. 301 Ritschl, UcR, §50, 67. 302 „[S]o ist zunächst festgestellt, daß das königliche Wirken Christi, welches für ihn selbst als die Hauptsache gilt, indem er als der Christus anerkannt sein will, seine Erscheinung sowohl in den prophetischen, wie in den priesterlichen Leistungen haben wird“ (Ritschl, RuV 3III, 405, vgl. ebenso 408f.). Deswegen kann Ritschl die Unterscheidung von königlichem Priestertum und königlichem Prophetentum zwar als eine analytische festhalten, die sich aber nicht nach den Lebensäußerungen trennen lasse; vgl. Ritschl, UcR, §21, 35. 303 Ritschl, UcR, §23, 37. Es ist auffallend, dass Ritschl hier den Herrschaftsbegriff an den irdischen Jesus und nicht an den auferstandenen Christus knüpft, so dass es zu einer Verbindung von momentaner situativer Verfasstheit und Ausrichtung auf das A-Funktionale kommt, da Ritschl an einer anderen Stelle ebenso formulieren kann: „Einen anderen Spielraum aber hat diese Herrschaft Christi über die Welt nicht, als welcher durch die Kraft des Willens behauptet wird, der sich auf den überweltlichen Liebeszweck Gottes richtet“ (Ritschl, UcR, §24, 39, Fn a]). 304 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 424. Eine Pointe bei Ritschl liegt darin, dass sich auch Jesus Christus dieser Wirkung des Reiches Gottes nicht entziehen konnte und in den Vollzug gesetzt wurde, und gleichzeitig diesen Vollzug als einen spezifischen deuten musste, um seine eigenen Lebenserfahrungen und Widerfahrnisse darin zu integrieren. „Es hat sich aber ergeben, daß die ethische Beurtheilung Jesu nach dem ihm eigenthümlichen Beruf der Gründung des Gottesreiches, so wie Jesus selbst sie geübt hat, in die religiöse Selbstbeurtheilung ausläuft“ (Ritschl, RuV 3III, 425). Wittekind kontextualisiert dieses so, dass Ritschl damit „die gattungsbezogene Christologie der Hegelianer [...] an dieser Stelle aufgenommen und als 298
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seiner Geduld im Leiden und der Art und Weise, wie er in den Akten der Liebe die „Gegenwirkungen der Welt gegen seinen Lebenszweck“ 305 aufgegeben habe. Ritschl kann diese paradoxe Umformulierung nicht nur aus dem biblischen Sprachgebrauch begründen, sondern auch sachgemäß: In den Lebensvollzügen Jesu Christi als enacted narrative des Reiches Gottes muss die afunktionale Dimension des Gottesgedankens deutlich werden, die sich nicht in weltliche Funktionslogiken übertragen lässt. Ritschl formuliert deswegen, dass Jesus als „getragen von Gott, wie als selbständig gegen alle Welt gedacht werden“ müsse.306 Nur so könne die Rede von der Herrschaft Jesu funktional werden, indem sie darauf verweise, dass die o. g. Gegenwirkungen der Welt durch die Bezugnahme auf das Reich Gottes zumindest potentiell überwunden werden können.307 Ritschl markiert dieses mit dem Begriff des Gehorsams: Christus entziehe sich auch im Sterben und in der Passion nicht dem Reich Gottes, sondern führe es bis zum Äußersten aus. 308 Damit ist die Erzählung vom Sterben Jesu (und die Aufnahme der Kohärenz dieser Erzählung in der Auferstehung) für Ritschl ein Fokuspunkt theologischen Denkens. Die Übertragung des Begriffes der Herrschaft auf die auch historisch-biographisch erfassbare Person Jesu grenzt sich dabei deutlich von der Geschichtsdeutung der Baur-Schule ab. Die Pointe dieser individuellen Lebenserzählung als enacted narrative des Reiches Gottes kann mit auf Ritschl aufbauend dahingehend interpretiert werden, dass sie mit dem Sterben nicht abbricht, sondern dieses als Teil der Fülle der Lebenserfahrung in die religiöse Beurteilung dieser Erzählung integriert Spezifikum des individuellen Lebens Jesu durch die intercessio reformuliert“ habe (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 73). 305 Ritschl, UcR, 37, §23. Das ist anschlussfähig für die Überlegungen von Claudia Welz und Marius Mjalaandt, die dafür plädieren, das Opfer, i.S. des sacrifice, als Kategorie theologischen Erkennens beizubehalten, ohne damit den Satisfaktionsgedanken aufzugreifen. Welz nimmt die Rede vom Opfer als sacrifice sogar dezidiert für feministische Kontexte gegen den dort beobachtbaren Umschwung auf Opfer als victim in Anspruch, um den Charakter des self-sacrifice als Teil von Liebesbeziehung im Anschluss an Kierkegaard und Levinas kritisch aufnehmen zu können (vgl. Claudia Welz, Love as gift and self-sacrifice, in: NZSTh 50 [2008], 238–266). Mjalaandt macht darauf aufmerksam, dass die Rede vom Opfer als sacrifice in einer Vielzahl von lebensweltlichen Kontexten vorhanden ist (Selbst-Opfer des Soldaten; Selbstmordattentate und die m. E. zu problematisierende Rede vom Opfer des Ungeborenen), sodass aus christlicher Perspektive auf die Ambivalenzen des Opferbegriffes aufmerksam gemacht werden könne (vgl. Marius Mjalaandt, On Sacrifice in Philosophy, Society and Religion, in: NZSTh 50 [2008], 189–195). Peter Jonkers zeigt in diesem Kontext verschiedene Plausibilisierungsstrategien für (Selbst-)Opferung auf (vgl. Peter Jonkers, Justifying Sacrifice, in: NZSTh 50 [2008], 284–300). 306 Ritschl, RuV 3III, 425. 307 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 417. 308 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 240. In einer Umkehr der alltagssprachlich mit dem Begriff verbundenen Konnotationen, aber im Einklang mit dem biblischen Sprachspiel, sei für Jesus das „pflichtmäßige Dienen, dieser Gehorsam gegen Gott, gerade die Form der Herrschaft [...], die er über die Menschen sowohl erwirbt, als auch ausübt“ (Ritschl, RuV 3III, 426).
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werden kann.309 Das fordert Ritschl heraus, auch das Sterben Jesu unter der Frage nach der Funktion für die Gemeinde zu durchdenken. Das Reich Gottes hat als Narrativ nur Relevanz für die Gemeinde, wenn es gelebt werden kann. In den biblischen Narrationen von der Passion Jesu Christi zeigt sich darüber hinaus: Es hat nur Relevanz für die Gemeinde, wenn es nicht nur gelebt, sondern ebenso auch „gestorben“ werden kann. Ritschl fokussiert Kreuz und Sterben Jesu Christi stärker als die Auferstehung, was stimmig ist, weil er die präsentische und damit situative Dimension des Reiches Gottes der eschatologischen Dimension vorordnet. Daran anschließend kann für aktuelle Problemstellungen gefragt werden: Wie kann das Kreuz sinnvoll im Rahmen funktionaler Kategorienbildung in die theologische Reflexion integriert werden, ohne es vorschnell in Harmonisierungen über die Heilsgeschichte zu verzwecken? An dieser Stelle zeigt sich: Auch für Ritschl gibt es Vorgaben aus den biblischen Narrationen, die um des allgemeinen Bezugs auf Situativität willen über eine spezifische Situativität und deren Kontexte hinaus reflektiert werden müssen:310 Im Unterschied zum Zorn Gottes kann Ritschls Argumentation hier nicht über die historisch gegebene Situativität der Gemeinde erfolgen, in dem Sinne, dass die Rede vom Tod Jesu für eine bestimmte Zeit, z. B. die der Urgemeinde, angemessen gewesen sei, für das 19. Jahrhundert jedoch zu vernachlässigen wäre. Ritschls Intention kann deswegen aus narrativitätstheoretischer Perspektive folgendermaßen verstanden werden: Er will erweisen, wie und warum die Rede vom Tod Jesu – als Teil der enacted narrative des Reiches Gottes – auch für die situative Gestalt der Gemeinde im 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) angemessen ist.311 Ritschl unternimmt das, indem er sich an den traditionellen Vorgaben der mit dem Begriff „Opfer“ verbundenen Narrative abarbeitet und aufzeigt, welche Aspekte dieser Narrative derart situativ gebunden sind, dass sie nicht über den Kontext dieser Situativität hinaus Geltung beanspruchen können: Das Opfer ist seiner Ansicht nach nicht als Besänftigung o-
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Vgl. Ritschl, RuV 3III, 419; insofern der „Gehorsam in Thun und Leiden identisch“ sei; vgl. Ritschl, UcR, 40, §25. 310 In diesem Sinne ist die Rede von Kreuz und Opfer auch in aktuellen Diskussionen ein Konvergenzpunkt von dogmatischer und exegetischer Betrachtung (vgl. Jörg Frey, Problem der Deutung des Todes Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft. Streiflichter zur exegetischen Diskussion, in: Ders./Jens Schröter [Hrsg.], Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, [WUNT 181] Tübingen 2005, 3–50, bes. 6; und Jens Schröter, Sühne, Stellvertretung und Opfer. Zur Verwendung analytischer Kategorien zur Deutung des Todes Jesu, in: Frey/Schröter, Deutungen, 51–71; sowie die Gesamtanlage des Bandes); der darauf aufmerksam macht, dass durch das Kreuz nicht nur die theologische Reflexion, sondern auch die eigene Sinndeutung herausgefordert sei (vgl. Frey/Schröter, Deutungen, 44). 311 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 157. Die Vollendung des Berufsgehorsams bis hin zum Opfer definiere die Würde Christi als Sohn Gottes (vgl. Ritschl, UcR, §54, 73).
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der Satisfaktion Gottes zu denken, denn diese Kategorien könnten nicht-funktional werden und blieben auf die Vorstellung des Zornes Gottes bezogen.312 Der Komplexität des Opfergedankens würde eine auf die innertrinitarischen Relationen ausgerichtete Betrachtung als „Satisfaktion“ oder „Sündopfer“ nicht gerecht.313 Die scholastischen Interpretationen des Todes Christi als Opfer seien für das 19. Jahrhundert nicht mehr wirksam.Stattdessen konzentriert sich Ritschl auf die Formulierung, dass die Gemeinde Gott „mit dem Opfer nahe gebracht werde“314. Ritschl entwickelt diese Bestimmung der Funktion des Opfers – in die Nähe Gottes zu gelangen – nun so, dass er eine spezifische Situativität, nämlich die ambivalenten Erfahrungen Israels mit dieser Nähe Gottes, sorgfältig analysiert und dann diejenigen Elemente herausarbeitet, die über diesen Kontext hinaus am Opferbegriff übertragbar sind. Sein Vorgehen kann hier so verstanden werden: Der Fokus auf die Gestalt eines materialdogmatischen Begriffes in der Form der Erzählung einer spezifischen Situativität erlaubt Ritschl die Übertragung dieses materialdogmatischen Begriffes auf andere Situativitäten. Das situative Element der Lebensvernichtung, das Ritschl für Israel herausarbeitet, wurde in der vorliegenden Arbeit schon für den Zorn Gottes dargelegt:315 Deswegen sei es für Israel stimmig die Lebensvernichtung auch in das Narrativ der Gottesbegegnung zu integrieren. Ritschl arbeitet das in einer exegetisch-begriffsgeschichtlichen Deutung über den Begriff des Opfers als Kapporet heraus: Kapporet meine nicht den Deckel der Bundeslade, sondern eine metaphorische Bedeckung, die es den Gläubigen erst ermögliche, sich der Präsenz Gottes auszusetzen, und der somit eine Schutzfunktion zukomme.316 312 Vgl. Ritschl, UcR, §51, 69f., in der zweiten und dritten Auflage. Sparn führt aus, wie der anselmsche Satisfaktionsgedanke auch in der reformatorischen Transformation präsent bleibt. Ein von Sparn vorgeschlagenes Beispiel dafür ist das Lied Paul Gerhards „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (EG 83; vgl. Walter Sparn, „Eph’ hapax. Historische und systematische Aspekte des christlichen Opferbegriffs, in: NZSTh 50 [2008], 216–237, hier: 224); mindestens diese transformierte Form des Satisfaktionsgedankens sei auch im 19. Jahrhundert noch virulent und, so Sparn, bleibe dieses auch bis ins 21. Jahrhundert hinein (Sparn, Eph’ hapax, 228f.). 313 Deswegen kann Ritschl auch aus pädagogischen Gründen am „Opferbegriff“ festhalten, da er nicht nur der traditionell bekanntere Begriff sei, sondern immer schon anzeige, dass der Tod Jesu deutebedürftig sei und in den Evangelien als schon gedeuteter präsentiert werde. Ritschl macht sehr deutlich, dass Jesus selbst den Begriff „Opfer“ nur gebrauche, um das Konzept der allgemeinen, durch ihn bewirkten Sündenvergebung und der Ausrichtung auf das Reich Gottes in für die Apostel verständlicher Terminologie auszudrücken (vgl. Ritschl, RuV 3II, 241). 314 Ritschl, UcR, §52, 69f. 315 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 204; Ritschl verbindet hier Lev 16 mit Ex 34. 316 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 199f. Ritschl kann dann wiederum darauf verweisen, dass das Einstellen in diesen Vollzug unmöglich als eine Strafe gedacht sein könne (im Sinne eines Schuldopfers), insofern die Präsenz Gottes dem Gedanken der Strafe widerspreche. In dieser
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Zur Entstehungszeit des Neuen Testaments sieht Ritschl diese Erfahrung der Lebensvernichtung nicht mehr als bestimmende situative Verfasstheit der christlichen Gemeinde gegeben. Dennoch kann Ritschl die für Israel herausgearbeitete Funktion des Verständnisses des Opfers als Kapporet übertragen:317 Auch das ੂȜĮıIJȡȚȠȞ in Hebr 9,15–21 könne laut Ritschl nicht rein als „Sündopfer“ verstanden werden, sondern müsse so mit dem Bundesopfer synchronisiert werden, dass seine Schutzfunktion als Kapporet deutlich werde.318 Ritschl steht damit vor der Aufgabe zu zeigen, was die Erfahrung sei, die es auch für die Apostel nötig mache, sich auf das Kapporet als Schutz zu beziehen: In der israelitischen Urgeschichte sei schon das Sehen des Angesichts Gottes mit Lebensvernichtung verknüpft.319 Ritschl führt nun aus, dass in dieser situativ gebundenen Vorstellung eine allgemeine, diese Situativitäten transzendierende existentielle Struktur stecke, die eine Übertragung auf den Kontext der Opfervorstellungen der Apostel ermögliche, nämlich „der Abstand zwischen der Vergänglichkeit der Menschen und der Macht Gottes“320. Diese Unabwägbarkeit in der Begegnung mit der Präsenz Gottes sei der jeweiligen Situativität enthoben und kann deswegen in andere Situativitäten transferiert werden.321
Weise wendet er sich gegen den Alttestamentler Eduard Riehm, der Ritschl vorwirft, über die Einordnung in ein System die biblischen Begriffe ihres Gehalts zu entleeren. Ritschl entgegnet darauf, dass Riehm in derselben Weise seine Deutung des Opfers einer bestimmten Gottesvorstellung, nämlich dem Zorn Gottes unterordne (vgl. Ritschl, RuV 3II, 210– 212). Gleichzeitig sei dieser Vollzug laut Ritschl an ganz bestimmte symbolische Handlungen und Kontexte gebunden, nämlich an die Rolle des Priesters, der diese Handlungen durchführt, sowie an die „Sprengung des Blutes“ und die „Verbrennung der Gaben“, Ritschl, RuV 3 II, 185–195. 317 Das bedingt auch Ritschls Wertschätzung des Bundesopfers für die Gemeinde: Denn ebenso wie Israel diesen Zusammenhang nur im Bund erkennen könne, ebenso könne auch die Gemeinde das Opfer nur im Neuen Bund erkennen (vgl. Ritschl, RuV 3II, 157). 318 Ritschl geht, entgegen seiner sonst begriffsgeschichtlich sorgfältigen Arbeit, hier so vor, dass er den Begriff des ੂȜĮıIJȡȚȠȞ von seinem situativen Gebrauch in der griechischen Umwelt abtrennt. Seine Argumentation liegt darin, dass für die Apostel die israelitischenVorstellungswelt dominanter gewesen sei und deswegen ੂȜĮıIJȡȚȠȞ als Kapporet gelesen werden könne (vgl. Ritschl, RuV 3II, 168–172). 319 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 202. Ritschl legt exegetisch dar, dass diese in Ex 33,20–23 formulierte Prämisse in den biblischen Berichten außer in der Erzählung von Lots Frau in Gen 19 immer über die Ausnahme von dieser Regel erfolge (so in Gen 16,13 bei Hagar, Gen 32,31 bei Jakob, die mosaischen Gottesbegegnungen in Ex 24.33 und weitere). 320 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 203. Ritschl führt den „Contrast zwischen der Erhabenheit Gottes und der Vergänglichkeit der Menschen“ noch einmal als „allgemeine Ordnung“ der Opfer auf (Ritschl, RuV 3III, 207). 321 Ritschl führt dieses für das Sündopfer, das Passah-Opfer, die apokalyptischen Opfervorstellungen und den Ablauf des Opfers durch (vgl. Ritschl, RuV 3II, 185–195), als eine eigentümliche Mischung aus einerseits exegetisch sorgfältiger Arbeit mit Begriffsanalyse
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Dieses Verständnis des Opfers Jesu als ੂȜĮıIJȡȚȠȞ in der situativen Übertragung des Kapporet als Schutzfunktion in der Gottesbegegnung hat folgende Konsequenzen für die oben aufgeworfene Fragestellung, wie Ritschl das Sterben Jesu sinnvoll in die theologische Reflexion integrieren kann: Der Tod Jesu am Kreuz hat für Ritschl eine analoge Funktion zum Kapporet, indem er es der Gemeinde ermögliche, sich auf die Gottesbegegnung einzulassen, trotz der verschiedenen Situativitäten von Israel und Urgemeinde. 322 Auf diese Art und Weise werde der Tod Jesu in dieser Funktion als Schutz in den Evangelien und den weiteren Äußerungen der Gemeinde, wie den paulinischen Briefen, dargestellt.323 Die Funktion des Kreuzes liegt für Ritschl in dem, was als performanztheoretische Deutung von Mk 15,34 und Mt 27,46 („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“) verstanden werden kann. Ritschl beschreibt das m. E. so, dass er für Jesus das annimmt, was in der vorliegenden Arbeit als performante Erfahrung verstanden wird: „Denn wer Gott als seinen Gott anruft, der ist nicht von Gott fern und dem ist auch Gott nicht fern; ein solcher unterliegt also in diesem Augenblick nicht dem göttlichen Zorn.“324 Indem Jesus seine Verlassenheit im Modus des Anrufens an Gott richtet, wird ihm die Nähe Gottes kontrafaktisch und performant erfahrbar. Wenn die Anrufung Gottes am Kreuz so interpretiert wird, dann kann sie strukturell für die Urgemeinde und und Aufzeigen des jeweiligen Kontextes und andererseits der Umformulierung dieser Konzepte ausgehend von der These, dass die neutestamentlichen Texte „sämmtlich auf die Vergleichung des Todes Christi mit solchen Opfern hinaus [laufen], welche die Bundesgnade Jahwe’s gegen das Volk der Erwählung voraussetzen“ (Ritschl, RuV 3II, 185). 322 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 164. „Entweder wird die Deutung des Todes Christi als Opfer mit den entsprechenden Mitteln des A. T. unternommen; oder jene Vorstellung der Apostel bleibt uns überhaupt unverständlich“ (Ritschl, RuV 3II, 164). 323323 In exegetischer Perspektive zeigt Ritschl hier für Paulus auf, dass auch dessen Vorstellungen von der Wirkung auf die Gemeinde her konstruiert seien, und deswegen die Beschreibungen des Vollzuges und des auslösenden Wirkmoments davon abhängen, wie diejenigen, die diese Wirkungen empfangen, d. h. die Gemeinde der Gläubigen, momentan verstanden werden: „Wie frei und ungebunden sich Paulus in diesem Kreise von Anschauungen bewegt, und wie schlecht angebracht an diesem Punkt die pedantische Voraussetzung wäre daß Paulus ein Dogma setzten wolle, kann man an folgendem erkennen. Wo die Anschauung vorausgesetzt wird, daß die jetzt Gläubigen in den Sünden gelebt haben, da tritt die Rücksicht auf die Teilnahme am Tode und an der Auferweckung Christ ein […]. Wo aber der frühere Zustand als der Tod in den Sünden vorgestellt wird […], kommt es nur auf die Theilnahme an der Auferweckung Christi an“ (Ritschl, RuV 3II, 229). In diesem Sinne ist auch Ritschls sehr schnelle Abhandlung des Todes Jesu als „Loskaufung vom Gesetz“ zu verstehen, insofern Ritschl deutlich macht, dass dieses nur für die Judenchristen in Paulus’ Gemeinde gegolten habe und deswegen für heutige Heidenchristen irrelevant sei. Ritschl untersucht zwar auch diese Vorstellung des Todes Jesu, aber mit dem Einschub, dass sie nur indirekt bedeutsam sei (insofern sie die Abkehr vom mosaischen Gesetz zeige, vgl. Ritschl, RuV 3II, 247–257). 324 Ritschl, RuV 3II, 156.
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für alle weiteren situativen Gestalten der Gemeinde dieselbe Funktion wie das Kapporet für Israel erfüllen: Sie eröffnet die Möglichkeit, sich der Erfahrung der Gottesbegegnung im Leben wie im Sterben auszusetzen, auch über die durch den Tod eigentlich vorgegebene Grenze hinaus. Ritschls Formulierung im Zitat weist jedoch auf ein grundsätzliches performanztheoretisches Problem hin: Der Indikativ („der ist“/„der unterliegt“) scheint einen Automatismus anzudeuten, so als sei diese spezifische Form der Performanzerfahrung der Nähe Gottes in der Bitte garantiert. Eingedenk Ritschls obiger, weitaus stärker abwägenden Überlegungen zum Charakter der Präsenz Gottes ist es m. E. zielführender diese Formulierung zunächst nur für Jesus am Kreuz als gültig anzunehmen, und eher im Modus der Hoffnung auf die Gemeinde zu übertragen: Weil die performante Erfahrung der Gottesnähe in jeglicher Situativität, sogar am Kreuz für Jesus angenommen werden kann, kann auch die Gemeinde sich auf die enacted narrative des Reiches Gottes in jeglicher Situativität einlassen, in der Hoffnung, dass diese für sie ebenso möglich sein kann und in einer Performanzerfahrung enden kann. Das erklärt, warum Ritschl das Kreuz als bleibende Zumutung versteht: Dass es im Vollzug des Reiches Gottes als enacted narrative zu einer performanten Erfahrung der Nähe Gottes kommt, kann nicht garantiert werden. Für Ritschl ist die Möglichkeit, sich auf diese Zumutung des Kreuzes einzulassen, wiederum komplementär durch die Existenz der Gemeinde plausibilisiert: Die Erzählung von der enacted narrative des Reiches Gottes bricht mit Jesu Tod nicht ab, sondern wird in den Narrationen von der Auferstehung weitererzählt.325 Ritschl sieht – im Einklang mit seinen hermeneutischen Überlegungen zum Reich Gottes – die Erzählungen vom Opfertod Jesu durch ihre Funktion für die Apostel präfiguriert, die diesen Tod schon durch die Auferstehung als erfahrene Wirkung deuten.326 Deswegen sei jegliche Trennung von Tod und Auferstehung eine nachgeordnete Deutung. Ritschls Argumentation kann hier dahingehend verstanden und produktiv für narrativitätstheoretische Betrachtungen aufgegriffen werden, dass die Existenz der Gemeinde plausibilisiert, warum die Erzählung von Jesu Leben auch über den Tod hinaus weiter erzählt werden könne:327 Die Lebenserzählung Jesu bricht nicht ab, sondern
325 Im UcR formuliert Ritschl, das sei aus der Perspektive der Gemeinde die „Bürgschaft dafür, daß seine Lebensabsicht in seinem Tode nicht verfehlt, sondern vollendet ist“ (Ritschl, UcR, §25, 40). 326 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 328. Die „Gnade Gottes [wird] immanent“, sodass ein weiterer Vollzug in den Menschen ausgelöst werden kann, insofern „die an Christus Glaubenden als Gerechte eingesetzt werden“ (ebd.). 327327 Aus dezidiert exegetischer Perspektive und in anderen Kontexten stellt Wolter an die Kreuzestexte eine sehr ähnliche Anfrage wie die hier für Ritschl herausgearbeitete Problemstellung: „Welchen Gebrauch machen die neutestamentlichen Autoren von der Deutung des Todes Jesu als Heilstod“? (Michael Wolter, Der Heilstod Jesu als theologisches Argu-
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wird weitererzählt und erweist sich für die Gemeinde in ihrer Identitätsbildung immer wieder als förderlich. Die Herausforderung für Ritschl wie für eine für das Kreuz sensible Theologie liegt darin, dass sich die Funktion für die Gemeinde darin erweist, dass in das Narrativ des Reiches Gottes mit dem Sterben Jesu ein Narrativ von Lebensabbruch, von Scheitern, von schmerzhaften Erfahrungen integriert ist: Die Narrationen von Kreuz und Auferstehung ermöglichen jedoch, darauf zu hoffen, dass es sogar in Lebensabbruch und Lebensvernichtung kontrafaktisch zu performanten Erfahrungen der Nähe Gottes kommen kann – in diesem Sinne können die Narrationen der Evangelien von der performance und Performanz des Kreuzes selbst performant und damit funktional werden.328 3.2.3. Die Gottessohnschaft Christi Die Metapher der „Sohnschaft“ bietet eine Ergänzung zu den vorherigen Überlegungen zum Kreuz bei Ritschl: Unter der Perspektive des Opfergedankens muss Ritschl das Sterben Jesu Christi als Teil der situativen Bezogenheit des Narrativ des Reiches Gottes plausibilisieren und deswegen diesen partikularen Moment der gesamten Lebenserzählung fokussieren.329 Das Narrativ des Reiches Gottes vollzieht sich ausdrücklich in Leben und Sterben Jesu Christi: Das kann als exemplarische Beschreibung dessen verstanden werden, dass keine momentane situative Verfasstheit von der Erfahrung ausgenommen ist, dass der Gottesgedanke funktional werden kann. Am deutlichsten wird es für die christologischen Figuren in Bezug auf diejenigen situativen Verfasstheiten, in denen zunächst scheinbar keine Funktionalität möglich ist, in denen das Leben – an dieser Stelle sehr schematisch – nicht so „funktioniert“, wie es gewünscht wäre. Wirken und Leiden Christi gehören für Ritschl deswegen unmittelbar zusammen: „Der Glaube der Gemeinde, daß sie zu Gott in dem Verhältnis steht, welches durch Sündenvergebung wesentlich bedingt ist, ist unmittelbares Object des theologischen Erkennens. Sofern aber dieses Gut auf das persönliche Wirken und Leiden Christi zurückgeführt wird, wird
ment, in: Frey/Schröter, Deutungen, 297–313, hier: 304). Wolter identifiziert drei paränetische Gebrauchsweisen, nämlich erstens die Vorbildfunktion des Heiltodes Jesus; zweitens die Begründung einer christlichen Anthropologie, die die Identitätsbildung in der Zuorndung zu Christus sieht und schließlich drittens die Mahnrede sowie eine weitere, über die Paränese hinausgehende Gebrauchsweise im Sinne einer „eschatologische[n] Vergewisserungsstrategie“ (Wolter, Heilstod Jesu, 311). 328 Ritschl formuliert deswegen, dass die Heilswirkung des Opfers keine „Aufnöthigung“ sei, sondern vielmehr „Bereitwilligkeit zu demselben in Folge des allgemeinen Berufsgehorsams“ (Ritschl, RuV 3II, 164). 329 Das sei die „Eigentümlichkeit“ Jesu Christi (Ritschl, UcR, §53, 71).
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diese Vermittlung durch die authentische darauf im Voraus gerichtete Absicht Christi erläutert.“330
An dieser Stelle ist Ritschl sehr sorgfältig zu lesen: Man könnte diese Passage durchaus so verstehen, als ob er von einem deterministischen Prädestinationsgedanken ausgehe („im Voraus gerichtete Absicht Christi“). Stattdessen ist m. E. das „erläutern“ an dieser Stelle stärker zu lesen: Dann kann die „Absicht Christi“ als die in den Evangelien geschehende Darstellung einer Plausibilisierungsstrategie der Gemeinde verstanden werden, die sie als Deutekategorie in Gebrauch nimmt. In der enacted narrative des Reiches Gottes im Leben Jesu fällt die Vielfalt der sich scheinbar widersprechenden, lebensweltlich situativen Narrative so zusammen, dass diese zwar kohärent, aber nicht anders als wiederum vielfältig in den Narrationen der Evangelien erzählt werden können. Diese Fokussierung auf eine momentane situative Verfasstheit, die durch das Leiden und die bittende Klage geprägt ist, kann nun leicht dazu führen, als religiöse Momente allein jene zu bestimmen, die von einer ähnlichen momentanen situativen Verfasstheit sind. Eine der weitreichendsten Weichenstellungen der Ritschl’schen Theologie für die vorliegende Arbeit liegt hingegen darin, dass er in bewusster Abgrenzung von pietistisch gefärbter Leidensmystik demgegenüber jegliche Momente alltäglicher Lebenserfahrungen, positive wie negative, als ebenso genuine Momente religiöser Erfahrung profiliert:331 Sich auf das Reich Gottes zu beziehen und eine performante Gotteserfahrung zu machen, ist nicht an bestimmte Situativitäten, wie z. B. die Grenzsituationen des Lebens gebunden.332 Ritschl konstatiert, dass diese Bestimmung auf der Ebene der Christologie die eigentliche Aufgabe der Theologie sei, die aufgrund des zu stark auf den Gefühlsbegriff und damit auf eher ekstatische Momente abzielenden Schleiermacher’schen Theologie vernachlässigt wurde.333 Mit der Metapher der Sohnschaft kann bei Ritschl präzisiert werden, was oben schon für den „Beruf“ aufgeführt wurde: Die Sohnschaft verweist auf die Möglichkeit, das Reich Gottes potentiell in jedem Moment der Fülle der Lebenserfahrung vollziehen zu können. In der Sohnschaft sind dementsprechend auch die
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Ritschl, RuV 3III, 3. Vgl. dazu noch einmal die Auflistung in GdP, die im Bezug auf das Kreuz den Alltag aus dem Blick verliert (vgl. Ritschl, GdP II.1, 84–86). 332 In diesem Sinne könne Christus aber trotz des Bezuges auf den alltäglichen Beruf nicht ein ethisches Vorbild sein: „Faßt man aber das christliche Gottesbewusstsein, wie es nöthig ist, so auf daß die geistige Beherrschung unserer Stellung in der Welt die entsprechende Kehrseite unserer Gotteskindschaft ist, so ist es mindestens eine mißliche Formel, welche die Nachahmung des Gottesbewußtseins Christi vorschreibt“ (Ritschl, RuV 3III, 556). 333 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 554–556; vgl. bei Schleiermacher besonders in den Reden die Beschreibung des „Sinn und Geschmak [sic] für das Unendliche“ in empathischen und auf hohe Intensität abzielenden Formen (KGA I.2, 212). 331
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– sich eigentlich widersprechenden – Redeweisen von Leben und Sterben, Lebensbeginn und Lebensende, eingefangen. Diese Interpretation des Gebrauches der Sohnschaft bei Ritschl macht auf einen Gewinn der Ritschl’schen Kategorien aufmerksam, den Ritschl selbst allerdings nicht explizit bestimmt: Die Rede von der Sohnschaft integriert die Vielfalt situativer Narrationen in ein kohärentes Narrativ, jedoch so, dass das Eigenrecht der momentanen situativen Verfasstheiten und der mit ihnen verbundenen Narrationen und Narrative gewahrt bleibt. Innerhalb der Familienmetaphorik kann Ritschl so einerseits die Differenz zwischen Vater und Sohn hervorheben und die für die Deutung des Kreuzes notwendige A-Funktionalität des Gottesgedankens einbeziehen. Andererseits betont Ritschl die Differenz zwischen dem Sohn Gottes und allen anderen Kindern Gottes – deswegen ist für ihn die Rede von der Adoption durch Gott als Teil der Gotteskindschaft angemessen, um den Unterschied zwischen Christus, der nicht adoptiert ist, und der Gemeinde zu betonen. In der funktionalen Ausrichtung sind alle Familienmitglieder gleichermaßen auf das Reich Gottes bezogen: Die je unterschiedliche Qualität dieses Bezuges wird von Ritschl in der Familienmetapher über die unterschiedlichen Nähegrade innerhalb der Verwandtschaftsbeziehungen illustriert. Die vermeintlich egalitäre Metapher der Familie, die vordergründig auf die Gleichartigkeit der Familienmitglieder abhebt, hat bei Ritschl die gegenläufige Funktion, die Differenz zwischen Christologie und Anthropologie zu markieren, insofern ausschließlich von Jesus Christus als „leiblichem“ Sohn geredet werden könne.334 Mit der Metapher des Sohnes kann Ritschl Jesus zudem eine weitere Funktion zuordnen, die in der Ingebrauchnahme des Vaternamens Gottes liegt: Wenn Jesus Gott als seinen Vater anrufe, dann verweise er damit auf die Möglichkeit, die Vateranrede so in Gebrauch zu nehmen. Die Gemeinde kann sich diese Metapher in der Rede von Jesus als Gottes Sohn aneignen, um damit die genuin jesuanische konstante Bezogenheit von Vater und Sohn aufeinander aufzuzeigen.335 Ritschl stellt jedoch ausdrücklich klar, dass Jesus Christus nicht in einem ethischen Sinne als
334 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 422. In diesem Sinne geht Ritschl auch auf die Kongruenz zwischen Gott als Vater und dem Vollzug Christi in Gott als Sohn ein (vgl. Ritschl, RuV 3 III, 441–444). 335 Das Aussprechen des „Bekenntnis[ses] seines Namen[s]“ sei „die Anerkennung Gottes als unseres Vaters, einmal sofern er sich als solchen durch seinen Sohn uns offenbart, dann aber, sofern er als solchen sich durch die Leitung unserer Geschicke erweist“ (Ritschl, UcR, §106, 10,). Diese wird auch in der dritten Auflage des RuV III durch die Betonung der väterlichen Liebe Gottes zu Christus als Ausgangspunkt einer Theologie der sittlichen Weltordnung noch verstärkt (vgl. Kuhlmann, Ethik, 116). Ritschl fasst dieses im UcR in der dritten Auflage in §13 so zusammen: „Nun hat aber der vollständige Name Gottes den Sinn, daß Gott sich diese besondere Stellung zu dieser Gemeinde nur gegeben hat, weil er im voraus der Vater Jesu Christi, dieser aber von seiner Gemeinde als ihr Herr anerkannt wird. […]
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Vorbild gelten kann, da dieses den charakterlichen, d. h. kategorialen Unterschied zwischen Christus und allen anderen im Reiche Gottes verwischen würde: Niemand könne in derselben Weise in allen Situativitäten in den dauernden Vollzug der enacted narrative des Reiches Gottes gestellt sein wie Christus, schon da der Vollzug als solcher nicht erzwungen werden könne.336 Ebenso könne niemand diesen Vollzug noch einmal auf diese Art und Weise das erste Mal in Leben und Lehre derart explizit machen, dass die spezifische Wirkung der Gründung der Gemeinde erfolge.337 3.2.4. Sündenvergebung und Rechtfertigung Die Funktion des christologischen Narrativs für die Gemeinde kann bei Ritschl in folgender Fragestellung erfasst werden: Wenn der Vollzug des Reiches Gottes als enacted narrative bei Jesus Christus einmalig ist, wie stellt sich die Möglichkeit für die Gemeinde dar, sich darauf einzulassen? An dieser Stelle bietet sich für Ritschl die Gelegenheit, mit der Sündenvergebung und der Rechtfertigung auf traditionelle loci zurückgreifen zu können: Da sie Kernpunkte reformatorischer Theologie sind, kann Ritschl sich dezidiert, auch gegenüber seinen Kritikern, in diese Tradition einordnen. Sündenvergebung und Rechtfertigung verweisen in der reformatorischen Umformulierung mindestens implizit auf eine Funktionalität, die nicht auf Verzweckung abzielt, sondern unter dem Paradigma der Gnade an den Zusammenfall von Funktionalität und A-Funktionalität gekoppelt ist. Das erklärt m. E. auch, warum Ritschl sein Hauptwerk „Rechtfertigung und Versöhnung“ betitelt, obwohl diese im Unterschied zur Gemeinde und zum Reich Gottes nicht die strukturbildenden Elemente seiner Theologie sind.338 Rechtfertigung, und dann auch die Versöhnung, die im nächsten Kapitel aus anthropologischer Perspektive verhandelt wird, sind die Konsequenzen eines funktionalen Verständnisses von Theologie, wie sie sich aus der Perspektive der Gemeinde und damit dem Standpunkt der Theologie darstellen.339 Insofern Der Schlüssel zu dem Verhältnis zwischen Gott dem Vater und dem Sohn Gottes ist in dem Satze enthalten, daß Gott die Liebe ist” (Ritschl, UcR, §12, 23). 336 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 556; damit könne Christus trotz des Bezugs auf den alltäglichen Beruf nicht ein ethisches Vorbild sein: „Faßt man aber das christliche Gottesbewusstsein, wie es nöthig ist, so auf daß die geistige Beherrschung unserer Stellung in der Welt die entsprechende Kehrseite unserer Gotteskindschaft ist, so ist es mindestens eine mißliche Formel, welche die Nachahmung des Gottesbewußtseins Christi vorschreibt“ (Ritschl, RuV 3 III, 556). 337 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 552–553.556. 338 Dieser Bezug der Prolegomena in RuV III auf das bereits Entwickelte in RuV I und II erklärt auch, warum sich die Kapitel 1–3 in RuV III laut den Kapitelüberschriften mit der „Rechtfertigung“ befassen sollen, in der Ausführung aber eher eine Theorie des Reiches Gottes darlegen. 339 Vgl. Ritschl, RuV 3II, 235.
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Ritschl in RuV I mit der dogmengeschichtlichen Analyse der je situativen Umformungen von Rechtfertigung und Versöhnung in den theologiegeschichtlich zu erschließenden Kontexten der Gemeinde startet, ist diese Titelung folgerichtig (wenn auch m. E. für die Rezeption etwas irreführend). Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Ritschl Sündenvergebung und Rechtfertigung analog gebrauchen kann,340 wobei davon ausgegangen werden kann, dass Ritschl den Begriff der Sündenvergebung gegenüber dem der Rechtfertigung eigentlich präferiert, insofern dieser in seinen Augen dynamischer ist.341 Es ist angesichts dieser Präferenz nicht ganz ersichtlich, inwiefern Ritschl den Begriff der Rechtfertigung aus systematischen oder aus kirchen- und hochschulpolitischen Gründen beibehält.342 Die Aufnahme des reformatorischen Sprachspiels bietet Ritschl zudem die Möglichkeit zur Abgrenzung von einem katholischen Verständnis von Sündenvergebung, das aufgrund der funktionalen Ausrichtung leicht mit Ritschls Theologie identifiziert werden kann, so als ob das Reich Gottes über das menschliche Handeln erreicht werden könne. Ritschl stellt dem gegenüber klar: Sein Verständnis von Rechtfertigung oder Sündenvergebung bedeute nicht, wie im katholischen Modell, die direkte Befähigung zum Reich Gottes, sondern diese ist indirekt die conditio sine qua non, ohne die jegliche religiöse Befähigung zum Reich Gottes nicht denkbar sei:343 „Denn auch, wenn dieselben [die Andeutung Jesu über die Sündenvergebung bzw. Rechtfertigung, KO] als vollkommen durchsichtig erscheinen sollten, so wird ihre Bedeutung erst
340
Vgl. Ritschl, RuV 3II, 235. Ritschl führt im Ablauf von RuV zuerst den Charakter der Sündenvergebung aus (Siebentes Kapitel. Die Nothwendigkeit der Sündenvergebung oder Rechtfertigung im Allgemeinen; Ritschl, RuV 3III, 456–504) und dann die weiteren christologischen Bestimmungen (Achtes Kapitel. Die Nothwendigkeit der Begründung der Sündenvergebung in dem Wirken und Leiden Christi, Ritschl, RuV 3III, 505–574). Erst im achten Kapitel benutzt Ritschl „Rechtfertigung“ im Rahmen des traditionellen theologischen Sprachgebrauchs und nicht synonym mit dem „Reich Gottes“, wie es in Kapitel 1–3 von RuV III der Fall ist. Mühling führt weiter aus, dass damit Sündenvergebung koextensiv zur Aufhebung der Trennung von Gott und zur Verzeihung sei; aber eben nicht zur Versöhnung, die vielmehr koextensiv zur Adoption sei (vgl. Mühling, Versöhnendes Handeln, 71). Interessanterweise behandelt Mühling dann aber im Abschnitt über die Versöhnung die Sündenvergebung, was insofern stimmig ist, als dass beide, Versöhnung wie Sündenvergebung, denselben Akt umfassen (vgl. Mühling, Versöhnendes Handeln, 73–79). 342 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 39–41. Ritschl stellt zu Beginn von RuV III die strukturelle Form der Rechtfertigung und Versöhnung durch die Kontrastierung mit dem Begriff des Reiches Gottes dar, geht auf diese in den folgenden Kapiteln zu Sündenvergebung und Rechtfertigung aber nicht weiter ein, sondern greift sie erst im Rahmen der subjektiven Seite der Rechtfertigung innerhalb der „Lehre von Gott“ wieder auf (vgl. Timm, Theorie, 50). 343 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 35. Rechtfertigung und Reich Gottes seien Wirkungen Gottes, insofern „in beiden Begriffen Gnadenwirkungen Gottes ausgedrückt sind, und wiederum der Erfolg derselben nur in Thätigkeiten wahrgenommen wird“ (Ritschl, RuV 3III, 33). 341
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dadurch vollständig klar, wie sie sich in dem Bewußtsein der an ihn Glaubenden reflectiren, und wie die Glieder der christlichen Gemeinde ihr Bewußtsein von Sündenvergebung auf die Person und das Wirken und Leiden Jesu zurückführen.“344
Narrativitätstheoretisch kann das folgendermaßen erfasst werden: Die Rechtfertigung oder Sündenvergebung ist kein Akt rationaler Erkenntnis, der unabhängig von den in der Gemeinde situativ gemachten Erfahrungen geschehen könne. Ritschl scheint eher zu implizieren, dass die Sündenvergebung die Dynamik zwischen der (performanten) Erfahrung der Sündenvergebung in der Begegnung mit dem christologischen Narrativ („Person und das Wirken und Leiden Jesu“) sei.345 Dass diese Möglichkeit eröffnet wird, versteht Ritschl als eine notwendige Grundbedingung, sie bedingt hingegen noch nicht im Sinne eines Automatismus, wie sich diese Funktion darstellt.346 Sündenvergebung und Rechtfertigung sind dementsprechend bei Ritschl nicht als einzelne Akte gedacht, sondern als grundsätzliche Möglichkeit, das Reich Gottes in der Fülle der Lebenserfahrungen zu erfahren und das eigene Handeln daran auszurichten. Bedingt sind diese durch die – nicht automatisch garantierte – performante Erfahrung der Versöhnung, die als Sündenvergebung oder Rechtfertigung im Rahmen der christologischen Narrative sinnvoll gedeutet werden kann.347 Die sich aus der Analyse der Christologie bei Ritschl aus narrativitätstheoretischer Perspektive ergebende Fragestellung ist, wie auf der Ebene des Textes sowie auf der Ebene der individuellen und kollektiven Identitätsbildung das Reich Gottes als enacted narrative der Gemeinde verstanden
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Ritschl, RuV 3III, 1. Damit ist aber auch die Kritik bestimmt, die Ritschl an Luther und Paulus übt, insofern im Reich Gottes sich Gesetz und Rechtfertigung nicht ausschließen, da im Rahmen des Reiches Gottes Glauben und Tun aufgrund des Vollzugscharakters zusammenfallen (vgl. Korsch, Glaubensgewißheit, 68; vgl. hierzu auch Timm, Theorie, 49ff.). Zachhuber führt an dieser Stelle den engen Zusammenhang mit der christlichen Vollkommenheit aus, die sich als Forderung aus diesem spezifischen Verständnis der Rechtfertigung ergebe und als solche erreichbar sei (Zachhuber, Idealismus, 267). Das kann m. E. dadurch ergänzt werden, dass es Ritschl weniger um den Eintritt in die Gemeinschaft der Gläubigen geht (das würde von einem statischen Kirchenverständnis im Unterschied zu einem dynamischen Gemeindeverständnis ausgehen), sondern um die grundsätzliche Möglichkeit sich im Sinne einer enacted narrative auf das Reich Gottes in gottesdienstlichem wie alltäglichem Handeln zu beziehen. 346 Bei Korsch findet sich das folgendermaßen formuliert: Der Beruf Christi für das Reich Gottes sei gerade „die entscheidende Kraft, die in der Rechtfertigung wirkt“ und „die Rechtfertigung der Menschen ist demnach deren Einsetzung in die Tätigkeit nach dem Muster des Reiches Gottes“ (Korsch, Glaubensgewißheit, 66). Zudem würde für Ritschl (in diesem Sinne sehr reformatorisch) gelten, dass die Erfahrung der Gnade bzw. Sündenvergebung, d. h. diejenige Bedingung, die Menschen motiviert sich zur Gemeinde zusammenzuschließen, dem Gesetz vorausgehen müsse (vgl. Ritschl, UcR, §51, 69, Fn 185; bei Korsch, Glaubensgewißheit, 66). 347 Vgl. Ritschl, UcR, §46, 63. 345
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werden kann, in das sowohl Leben als auch Sterben sowie vielfältige Lebenserfahrungen positiver wie negativer Art einbezogen werden können. Das ist die Vorgabe der biblischen Narrationen wie der theologischen Sachlogik, an die auch Ritschl in der Neuformulierung der christologischen loci gebunden ist. Das Einlassen auf die Zumutung der enacted narrative des Reiches Gottes kann, die Analyse des Kreuzes bei Ritschl aufnehmend, eigentlich nur im Modus einer Hoffnung geschehen, die eher mit der Abgründigkeit einer Performanzerfahrung als mit der Erfüllung der eigenen Erwartung rechnet. Bei Ritschl ist diese Zumutung noch diastatisch in der Opposition des Individuums zu Gottes Präsenz oder der Welterfahrung verstanden: Dass sich diese Zumutung auch schon im innerlichen Erleben des Individuums vollziehen kann, wird von ihm noch nicht thematisiert. Mit der Rede vom Kreuz als Zumutung ist die grundlegende anthropologische Fragestellung der Ritschl’schen Theologie aus narrativitätstheoretischer Perspektive markiert: Unter welchen Bedingungen geschieht es, dass sich die Gemeinde wie einzelne Individuen darauf einlassen, das Reich Gottes als enacted narrative zu vollziehen und wie können umgekehrt die (performativen) Aneignungsprozesse aus der Perspektive der aneignenden Individuen beschrieben werden? 3.3. Anthropologie In der Anthropologie wechselt Ritschl größtenteils die Perspektive und nimmt die Erfahrungsdimension des Individuums in seiner momentanen situativen Verfasstheit ernst. Ritschl formuliert die sich aus den christologischen Betrachtungen ergebende Problemstellung für seine Anthropologie im Rahmen der Familienmetapher folgendermaßen: „Aber wie kommt man überhaupt dazu, die Gotteskindschaft Christi nachzuahmen?“348 Das kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Frage danach verstanden werden, wie sich das Individuum trotz der durch die Unverfügbarkeit der Performanzerfahrung gegebenen Zumutung darauf einlassen kann, sich ständig auf das Reich Gottes in der situativen Fülle der eigenen Lebenserfahrungen zu beziehen und mit der Relevanz des christologischen Narrativs und des Gottesgedankens für das eigene Leben in jedem Moment zu rechnen. 349 Eine Beobachtung zum Ort der expliziten Anthropologie in der Ritschl’schen Theologie sei vorgeschaltet: Die Anthropologie verhandelt Ritschl im Rahmen seiner systematischen Überlegungen in 348
Ritschl, RuV 3III, 553. Die Scharfzüngigkeit mit der Ritschl hier argumentiert, zeigt, wie sehr er dieses Thema als eigentliches begreift. 349 Einerseits müsse das Individuum, um Teil des Reiches Gottes zu sein, nur seinen Alltag pflichtgemäß leben und müsse es nicht in mystischen Erfahrungen oder intellektueller Durchdringung suchen, andererseits sei jeder Teil seiner Wirklichkeit Teil des Reiches Gottes und damit auch kein Bereich des Lebens aus diesem einfach herauszulassen: Das ganze Leben mit seinen Alltäglichkeiten stehe unter göttlicher Herrschaft (vgl. Ritschl, UcR, §8, 17f).
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den letzten Kapiteln von RuV III. Man kann das als konsequenten Zirkel der Ritschl’schen Theologie verstehen: Womit RuV III endet, nämlich den anthropologischen Konsequenzen, ist das, was den Ausgangspunkt der theologischen Überlegungen im Rahmen der durch Schleiermacher gegebenen Kategorien der Erfahrung und der Aneignung überhaupt erst begründet.350 Die kontextuell und situativ gebundenen Erfahrungen der Individuen, die sie mit der enacted narrative des Reiches Gottes machen, stehen in Wechselwirkung mit denen der Gemeinde. Die Gemeinde in ihrer je konkreten Gestalt kann aus dieser Perspektive als Kontext der Situativität verstanden werden.351 Da Ritschl jedoch auch diese Dynamik zwischen individueller und spezifischer kollektiver Verfasstheit noch nicht mit dem Instrumentarium der Kultur- und Sozialwissenschaften bestimmen kann, bleibt dieser Teil der Ritschl’schen Theologie in einer eigentümlichen Schwebe: Die Gemeinde wird vom Subjekt des Aneignungsprozesses des Narrativs zu einem Resonanzraum für den performativen Vollzug des Individuums – das wiederum selbst Teil dieser Gemeinde ist.352 Zwei weitere relevante anthropologische Schärfungen, die sich in der Gestaltung von RuV III niederschlagen, sind der vor dem Göttinger Frauenverein gehaltene Vortrag zur „Christlichen Vollkommenheit“ (1874) sowie der Artikel zum „Gewissen“ von 1876.353 Auf sie wird deswegen im folgenden Kapitel ebenfalls Bezug genommen. In der Anthropologie liegt der Gewinn einer Beschäftigung mit der Ritschl’schen Theologie nicht darin, theologisch ausgereifte Überlegungen zu präsentieren. Von Ritschl ausgehend sind vielmehr Fragestellungen zu entwickeln, die in der Bearbeitung der Demut vertieft werden können. 3.3.1. Das Gewissen und die Christliche Vollkommenheit Die grundlegende Klärung der anthropologisch relevanten Strukturen ist für Ritschl eigentlich schon in der Christologie angelegt: Aus der Perspektive der Gemeinde muss die Kernfrage theologischer Reflexion sein, wie der Bezug auf 350
Vgl. Ritschl, RuV 3III, 34. Daraus ergibt sich die Suche nach einem Beweis für die Wahrheit der vorgefundenen Ausdrucksformen des Glaubens, dessen Ergebnis, wie Korsch darstellt, sich für Ritschl von der ersten zur dritten Auflage wieder von der objektiven Ebene hin ins Subjekt verlagere. Das führe einerseits zu einer Präzisierung, andererseits aber auch zu einer Verkomplizierung. Korsch erklärt diese Veränderungen (und damit die z.T. auch widersprüchlichen Aussagen) damit, dass sich Ritschl spätestens ab der dritten Auflage auf das Selbst-Interesse des Subjekts als einzig zielführende Möglichkeit konzentriere (vgl. Korsch, Glaubensgewißheit, 49f.). 352 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 202. 353 Ritschl hielt diesen Vortrag im Januar 1874 zugunsten des Göttinger Frauenvereins, während er RuV III fertigstellte. Der Vortrag beeinflusste ihn maßgeblich in seiner Arbeit an RuV III, vgl. Spenner, „Die christliche Vollkommenheit“ (1874, 21889), in: Ritschl, Kleine Schriften, 41–42, hier: 41. 351
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das Reich Gottes in der Fülle der Lebenserfahrung in einer Vielzahl von religiösen und lebensweltlichen Kontexten geschehen kann. In den Narrationen von Leben und Sterben Jesu Christi findet sich dieser Vollzug par excellence vor und bietet damit eine unhintergehbare Bezugsgröße für die anthropologische Reflexion. Ritschls Begründungsleistung in der Anthropologie, die über die christologischen Bestimmungen hinaus geht, muss nun darin liegen, warum es für andere Individuen ebenso strukturell möglich sein kann, das Reich Gottes als enacted narrative darzustellen. Ebenso muss er ausführen, warum dieses – das ist durch die Erfahrungen der Individuen in der Gemeinde vorgegeben – dennoch nicht so gelingt, wie es für Jesus Christus aus der Perspektive der biblischen Narrationen gelungen ist. Ritschl benutzt für diese Begründung die Unterscheidung von Natur und Geist, für die Zachhuber festhält, „wie selbstverständlich Ritschl hier von einem solchen Dualismus als dem unhinterfragbaren Grunddatum menschlichen Denkens und menschlicher Erfahrung ausgeht. Mit dieser Prämisse befindet er sich im Mainstream deutschen nachidealistischen Philosophierens“354. Insofern die Gemeinde auf das Reich Gottes bezogen ist, das über seinen narrativen Gehalt und der Partizipation an der A-Funktionalität des Gottesgedankens nicht auf rein weltliche Bezüge reduziert werden kann, sondern diese immer schon transzendiert, kann Ritschl eine Vorordnung des Geistes über die Natur im Rahmen seiner Theologie plausibilisieren. An dieser Stelle zeigt sich exemplarisch Ritschls subjekttheoretisch grundiertes diastatisches Denken, das zu Oppositionsbestimmungen führt: Das Individuum findet sich bei Ritschl in einer Welt wieder, die es als von sich verschieden wahrnehmen kann und die sich ihm trotzdem als Weltganzes präsentiert. Deswegen benötigt Ritschl laut Zachhuber eine spezifische Teleologie, die als „organisch-teleologische Weltsicht eine Vermittlung von Teil und Ganzem ermöglicht, dem sie das Ganze dem Teil logisch vorordnet“355, was auch der Vorordnung der Gemeinde vor dem Individuum entspreche.356 Das dient Ritschl als Begründung für die Ablehnung natürlicher Theologie: Es gebe für das Individuum keine natürliche 354
Zachhuber, Idealismus, 191, mit Bezug auf Ritschl, RuV 3III, 226f. Zachhuber macht darauf aufmerksam, dass diese Passage in der Erstauflage fehlt. Er führt aus, dass diese Unterscheidung von Natur und Geist durch die Notwendigkeit zustande komme, die im Gefolge Hegels universalen Systeme mit der externen Realität so zu verbinden, dass Natur und Geist zu Prinzipien würden (vgl. Zachhuber, Idealismus 193). 355 Zachhuber, Idealismus, 201. 356 Wittekind argumentiert hingegen unter Bezugnahme auf die §12–15 im UcR, dass Ritschl mit dieser Form der Erwählungslehre „die Hegelsche Idee einer Notwendigkeit der Weltschöpfung als Durchgangsstadium der Selbstbewußtwerdung des absoluten Geistes“ vermeide, da überall dort, wo Glaube sich ereigne, die Schöpfung an ihr wahres Ziel komme – nämlich der Gewinnung des wahren Bewusstseins, das sich aber dennoch nur kontingent ereigne (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 57). Wittekind macht darauf aufmerksam, dass an dieser Stelle die Frage nach dem Sinn der Schöpfung virulent werde, insofern bei
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Instanz, kein Recht „von Hause aus“ 357 , sich das Gottesbewusstsein zu erschließen.358 Für Ritschl ist es undenkbar, dass eine genuin christlich-religiöse Erfahrung gemacht werden könne, die nicht auf das Narrativ des Reiches Gottes zurückgeführt werden könnte (und sei es in Ableitungen).359 Dieses Narrativ wird nun – wie in der bisherigen Analyse gezeigt wurde – nicht anders als situativ, in den jeweiligen Gestalten der Gemeinde kolportiert. Religiöse Erfahrungen sind bei Ritschl immer schon eingebunden in die kollektiven Erfahrungen der Gemeinde und damit abhängig auch von der momentanen situativen Verfasstheit der Gemeinde (z. B. in ihrer Gestalt als Kirche) sowie den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontexten. Nur in diesem Sinne kann Ritschl als Vertreter einer ethischen Christentumstheorie verstanden werden, wie auch Zachhuber betont.360 Für Ritschl kann in heutiger Diktion ein Verständnis von Ethik angenommen werden, das ähnlich wie bei Schleiermacher eher einem kulturwissenschaftlichen entspricht. Mit Zachhuber gesprochen: Ethik ist bei Ritschl „diejenige Disziplin, die die Welt bedenkt, sofern sie Geist ist“361. Das lässt sich mit dem bereits Erarbeiteten für die Arbeit folgendermaßen ergänzen: Ethik ist bei Ritschl diejenige Disziplin, in der momentane situative Verfasstheiten sowie deren Kontexte bearbeitet werden können. In diesem Sinne profiliert Ritschl die Kategorien von „Freiheit“ und „Wille“ als grundlegende anthropologische Bestimmungen. Die Möglichkeit, sich überhaupt auf das Reich Gottes zu beziehen, ist für Ritschl an die freie Selbstbestimmung des Menschen gebunden: Diese ermögliche erst die Freiheit, sich auf das Reich Gottes als lebensbestimmende Kategorie einzulassen, als „die
Ritschl eigentlich eine Bestimmung darüber fehle, warum Gott nicht mit dem Schaffen eines Reiches der Geister geendet habe (vgl. ebd., 59). Wittekind verweist auf den Vollzugscharakter, insofern in der Idee des Reiches Gottes bei Ritschl nur die inhaltliche Bestimmung gegeben sei, die „erst mit der Einbeziehung des Vollzugscharakters des Glaubens [...] tatsächlich real an die Wirklichkeit gebunden“ werde (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 60). Gerade weil sich das Reich Gottes nur im Konkreten darstellen könne, sei der Mensch an die Existenz gebunden (vgl. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 60). 357 Ritschl, RuV 3III, 556. 358 „Da das christliche Leben nur vollständig ist in den beiden Beziehungen der Gewißheit der Versöhnung (oder Gotteskindschaft) und dem Streben nach dem Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit, so dienen diese beiden Reihen sich gegenseitig zur Probe ihrer Richtigkeit und Echtheit [zweite und dritte Auflage: oder bedingen sich gegenseitig]“ (Ritschl, UcR, §46 c), 63). 359 Das Individuum in der Gemeinde, das in diesem als Versöhnung begriffenen Vollzug steht, ist ebenso programmatisch auf die zwei Seiten des von Ritschl in der Analyse so scharf getrennten Dualismus bezogen: Einerseits als Geist auf Gott (als das relationale Gefühl von Abhängigkeit), andererseits als Natur auf die Welt – und zwar in religiöser Freiheit und religiöser Herrschaft (vgl. Ritschl, RuV 3III, 554–556). 360 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 204. 361 Zachhuber, Idealismus, 205.
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stetige Selbstbestimmung aus dem Endzweck des Reiches Gottes“362, trotz des Abstandes zum Vorbild Jesu Christi und obwohl dazu keine heteronome Notwendigkeit bestehe.363 Das deutet schon darauf hin, warum Ritschl den Begriff des Willens – in Überbietung der reformatorischen Tradition– ebenso stark machen muss wie den der Freiheit:364 Der Wille sei das Medium, in dem sich die prinzipielle Möglichkeit zeige, sich auf ein spezifisches Narrativ zu beziehen und dieses auf die individuelle momentane situative Verfasstheit anzuwenden, obwohl eine Vielzahl von anderen Narrativen sich ebenso anbieten würde.365 Diejenigen Fälle, in denen Freiheit und Wille so gelingend zusammenfallen, dass es dem Individuum möglich wird, das Reich Gottes in der Welt darzustellen, charakterisiert Ritschl – in Aufnahme der christologischen Überlegungen – als „Herrschaft“ des Individuums über die Welt. Ritschl betont, dass diese Herrschaft nicht empirisch verstanden werden dürfe. 366 Laut Slenczka ist dieses Urteil inhaltlich vielmehr dadurch bestimmt, dass in einem Ereignis, wie der Begegnung mit Christus als Person, mehr erfahren wird, als dieses Ereignis selbst eigentlich darstellt. 367 Daraus folge für Ritschl, „wo diese Stellung des Menschen garantiert oder diese Garantie – zu Recht oder Unrecht – erwartet wird, wird Gott erfahren oder erwartet – in der christlichen Religion etwa im Lebensbild Jesu“368. Ritschl kann hier so interpretiert werden, dass der Begriff der Herrschaft diejenigen Erfahrungen markiert, in denen die momentanen situativen Verfasstheiten durch den Bezug auf ein Narrativ in einer performanten Erfahrung transzendiert werden und in denen ein anderer Blick auf diese Verfasstheiten und ihre Kontexte ermöglicht wird. Das lässt sich bei Ritschl in der Unterscheidung von Willen und Gewissen profilieren, die performanztheoretisch folgendermaßen gedeutet werden kann: Ritschl versteht das Gewissen als diejenige Instanz, welche eine Handlung unterbricht, sodass diese Handlung überhaupt erst als eine solche wahrgenommen werden kann.369 Mit dem Gewissensbegriff gewinnt Ritschl eine Kategorie, die es ihm ermöglicht zu beschreiben, wie sich – im Handeln – der Bezug auf das 362 Ritschl, RuV 3III, 253. Die Opposition „Gottes Reich und menschliche Freiheit“ ist demnach m. E. nicht so programmatisch für Ritschl zu setzen, wie sie der Titel des RitschlKolloquiums in Göttingen 1989 stark macht. 363 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 550–556. 364 Vgl. dazu Ritschl, Festrede, 13. 365 Vgl. Zachhuber, Idealismus, 206. 366 Ritschl, RuV 3III, 575. Ritschl differenziert, dass die „Herrschaft über die Welt, zu welcher das Christenthum die Menschen anleitet, […] nicht im empirischen Sinne gemeint“ sei; mit der sehr schönen Formulierung, dass es deswegen gleichgültig sei, „welche Stelle der Planet, an welchen unsere Existenz geknüpft ist, im Weltall einnimmt“ (Ritschl, RuV 3 III, 580). 367 Vgl. Slenczka, Glaube, 171. 368 Slenczka, Glaube, 173. 369 Vgl. Ritschl, Ueber das Gewissen, 7.
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Narrativ des Reiches Gottes für das Individuum darstellt, nämlich als rügendes und als gesetzgebendes Gewissen.370 Das „rügende Gewissen“ ist bei Ritschl als eine „überraschende, einschneidende und unwiderstehliche Erscheinung“371 bestimmt, die vom Individuum selbst aufgrund der ihr inhärenten Evidenz eigentlich nur als „Stimme Gottes“372 verstanden werden kann, weil sie kontrafaktisch zur eigentlich geplanten Handlung steht. Als performante Erfahrung hoher Intensität interpretiert, kann man Ritschls Beschreibung einer Gewissensrüge folgendermaßen verstehen: Während das Individuum eigentlich unter einem anderen Narrativ handelt oder sich seiner eigenen Situativität im Handeln nicht bewusst ist, drängt sich die Möglichkeit des Reiches Gottes als das Handeln bestimmendes Narrativ derart auf, dass sich zu dieser Möglichkeit verhalten werden muss.373 Diese Gewissensrüge wird laut Ritschl im nächsten Schritt als Werturteil erfasst. In diesem Sinne kann argumentiert werden, dass Ritschl mit dem Werturteil eine Reflexionskategorie performanter Erfahrungen kennt, also derjenigen Erfahrungen, in denen sich die Evidenz eines Narrativs so zeigt, dass sie zu einem Handeln und einer Beurteilung sämtlicher Lebensbezüge unter diesem Narrativ herausfordern. Das Werturteil kann bei Fortsetzungen von „unrechten Handlungen“ als „böses Gewissen“ permanent werden: 374 Das böse Gewissen ist bei Ritschl Ausdruck des Phänomens, dass Handlungen fortgeführt werden, obwohl sie – im bösen Gewissen – ständig mitlaufend als unrecht beurteilt werden und auf die Notwendigkeit einer Handlungsänderung verweisen. Demgegenüber kann das „gesetzgebende Gewissen“ als Ritschl’sche Kategorie für die Verarbeitung allgemeiner situativer Verfasstheiten verstanden werden, die nicht besonders bewusst werden: Ritschl konzipiert das gesetzgebende Gewissen als situativ verortete „sittliche Specialautorität“375, die für das Individuum im Rahmen des allgemeinen Sittengesetzes die Kriterien für individuelle Handlungen bilde.376 Das gesetzgebende Gewissen ist die beständige,
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Vgl. Ritschl, Ueber das Gewissen, 6. Ritschl, Ueber das Gewissen, 8. 372 Ritschl, Ueber das Gewissen, 8. 373 Zachhuber führt aus, dass Ritschl mit dieser Betonung des Willens, die eine vollständige Trennung (und nicht nur eine Differenzierung) zwischen Natur und Geist impliziere, nicht im religionsphilosophischen Mainstream stehe und weist nach, dass Ritschl hier vom spekulativen Theismus Chalybäus beeinflusst worden ist (vgl. Zachhuber, Idealismus, 227– 241). 374 Ritschl, Ueber das Gewissen, 11. 375 Ritschl, Ueber das Gewissen, 19. 376 Ritschl geht hier auf den Pflichtbegriff ein, den er in der Differenzierung von Liebesund Berufspflicht aufnimmt (vgl. Ritschl, Ueber das Gewissen, 23). Die „Gewissenhaftigkeit“ sei identisch mit dem „gesetzgebenden Gewissen“, da sich dieses nur in konkreten Situationen zeigen kann (vgl. Ritschl, Ueber das Gewissen, 24f.). Analog zur Betonung der besonderen Berufspflicht Christi kann Ritschl hier deswegen auch von einem besonderen 371
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dem Menschen performant werdende Erinnerung in der Fülle der Lebenswirklichkeit und bleibt nicht – wie die Erfahrung des rügenden Gewissens – Spezialmomenten vorbehalten.377 Beide Erscheinungen des Gewissens halten laut Ritschl das menschliche Bewusstsein in einer Spannung, die sich unter der Kategorie der Performanz so deuten lässt: Eine performante Erfahrung in Form des rügenden Gewissens fungiert als Grundlage, weitere Handlungen kontinuierlich in der Fülle der Lebenserfahrungen im Sinne des gesetzgebenden Gewissens zu beurteilen. Aus diesen kontinuierlichen Beurteilungen können sich – in der Kollision von Handlungen und Werturteilen – wieder neue Erfahrungen des rügenden Gewissens ergeben. Ritschl konstatiert, dass aufgrund der Erfahrung des rügenden Gewissens für die Beurteilung der momentanen situativen Verfasstheit im Werturteil eine Form von Zartgefühl notwendig sei.378 Nichtsdestotrotz formuliert Ritschl in einigen Passagen sehr normativ, so wenn er die Ausrichtung auf das Reich Gottes als „Ausbildung guten Charakters“ beschreibt.379 Damit zieht er eine Semantik des einfordernden Gelingens ein, die implizieren könne, dass der Bezug auf das Reich Gottes ein reiner Willensakt und nicht auch auf das „Einschneidende“ des rügenden Gewissens angewiesen sei. Ritschl geht es in diesen Passagen eigentlich darum, eine Strategie des Umgangs mit den beginnenden Pluralitätsphänomenen der Moderne zu finden, in der eine Vielzahl von momentanen situativen Verfasstheiten und deren Kontexte in den Blick kommen kann: Dennoch setzt Ritschl als Zielperspektive die Kohärenz der Lebens- und Weltdeutung in der Fülle der Lebenserfahrungen unter einem einheitlichen Narrativ. Dass die einheitliche Lebensdeutung nur die Zielperspektive theologischen Denkens ist, die sich in der momentanen situativen Verfasstheit nie als solche erweist, ist m. E. auch die angemessene kritische Perspektive, um Ritschls Paradigma von der „Christlichen Vollkommenheit“ zu verstehen: Ritschl nutzt in dem Vortrag zur „Christlichen Vollkommenheit“ im Göttinger Frauenverein die Figur der Vollkommenheit als einen Kristallisationspunkt seiner Theologie. 380 Die „Vollkommenheit“ ist Ritschls Chiffre dafür, dass „[j]eder [und
Gewissen Christi ausgehen, da dessen Beruf insofern einzigartig sei, als dass diese Berufsausübung keinem „anerkanntem Gesetz“ unterstehe (vgl. Ritschl, Ueber das Gewissen, 29). 377 So formuliert ist relativ eindeutig, dass das gesetzgebende Gewissen bei Ritschl in der Konzeption nicht als Legitimierung bestehender Gehorsamsstrukturen gedacht ist, sondern dass ein religiös verstandener Berufsgehorsam im gesetzgebenden Gewissen unter gewissen Umständen mit den gesellschaftlichen Erwartungen an den Beruf kollidieren kann (vgl. Ritschl, Ueber das Gewissen, 30). 378 Vgl. Ritschl, Ueber das Gewissen, 31f. 379 Ritschl, RuV 3III, 575. 380 Ritschl ist sich, wie so oft bewusst, dass seine Wortwahl, die „christliche Vollkommenheit“ programmatisch provokant ist, insofern das protestantische Christentum ja lieber in tiefster Demut von der eigenen Unvollkommenheit rede (Ritschl, CV, 45).
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zwar jeder Christ, KO] ein Ganzes in seiner Art sein oder werden soll“381. Das kann so interpretiert werden, als ob Ritschl mit der Vollkommenheit einen pietistisch oder katholisch geprägten Heiligkeitsgedanken in die theologische Reflexion und religiöse Verkündigung einführe, der ein zu einseitig optimistisches Menschen- und Weltbild voraussetzt, das die Abgründe menschlicher Existenz negiere. 382 Das Konzept der Vollkommenheit bei Ritschl ist m. E. dennoch für heutige Kontexte anschlussfähig: Vollkommenheit lässt sich bei Ritschl performanztheoretisch als ein Projektionsbegriff verstehen, der deswegen notwendig wird, weil die Problemstellung gegeben ist, wie eine kohärente Lebensgeschichte in der Fülle sich widersprechender Lebenserfahrungen erzählt und gelebt werden kann. Die Figur der christlichen Vollkommenheit als Zielperspektive der Theologie markiert die Möglichkeit, sich auf das Reich Gottes zu beziehen, sodass eine Kohärenz in der eigenen Identitätsbildung hergestellt werden kann, wie sie durch die christologischen Narrationen plausbilisiert wird.383 Diese Kohärenz in der eigenen Identitätsbildung (das „Ganze“) ist nun bei Ritschl nicht als (teleologisches) Einheitsprinzip zu verstehen, sondern als Zielperspektive jeglicher Identitätsbildung, die überhaupt erst motiviert, die damit verbundenen situativen Anstrengungen im Handeln auf sich zu nehmen.384 381 Ritschl, CV, 51 (kursiv durch KO). Ritschl stellt für die Rede von der Vollkommenheit dementsprechend das Kriterium auf, dass sie zumindest prinzipiell als erreichbar gedacht werden muss, weswegen sie z. B. bei Paulus auch schon für die reine Anstrengung verwendet werden könne (vgl. Ritschl, CV, 46). Sie muss besonders als prinzipiell erreichbar gelten gerade für diejenigen, die in alltäglichen Lebensvollzügen stehen, weswegen die mönchische Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Christen nicht gehalten werden könne (vgl. Ritschl, CV, 47–50). 382 Ritschl grenzt sich selbst z. B. von einem pietistischen Verständnis von Vollkommenheit als Unsündlichkeit, wie er es bei John Wesley gegeben sieht, ab (vgl. Ritschl, RuV 3III, 629). Rochus Leonhardt zeigt auf, dass erst mit der Ritschl’schen Verwendung des Begriffs der Vollkommenheit der Vollkommenheitsgedanke Luthers wieder in die theologische Reflexion eingeführt wurde (vgl. Rochus Leonhardt, Vollkommenheit und Vollendung. Theologiegeschichtliche Anmerkungen zum Verständnis des Christentums als Erlösungsreligion, in: ZThK 113 [2016], 29–58, hier: 48). 383 Vgl. Ritschl, CV, 45. Die Vorstellung der Universalität, des „Weltganzen“, ist bei Ritschl mit dem Wert des menschlichen Lebens als Träger der Weltbeurteilung verbunden. Der Wert des menschlichen Lebens lasse sich laut Ritschl nur in konkreten Vollzügen, die sich in alltäglichen Lebenszusammenhängen abbilden, erfassen (vgl. Ritschl, CV, 51–53). 384 Dass Ritschl die christliche Vollkommenheit nicht als einfaches Einheitsprinzip entfaltet, kann aus den christologischen Überlegungen erschlossen werden: Ritschl definiert ausdrücklich, dass die christliche Identitätsbildung im Angesicht des Kreuzes „Aufgabe und Zumutung“ (Ritschl, CV, 54) sei. Daran wird deutlich, dass die Vollkommenheit bei Ritschl nicht auf das Ausblenden von Erfahrungen von Unglaube (oder von Übel, Leid, Gottesferne etc.) angewiesen ist, sondern diejenige Zielperspektive bezeichnet, in der diese Erfahrungen so benannt und in Angriff genommen werden können, dass sie sich in ihr Gegenteil verkehren können. Ritschl schließt in RuV mit diesem Gedanken: „Die Freiheit des Handelns in
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Die „ganze“ Identität kann bei Ritschl so verstanden werden, dass sie sich nicht einseitig auf bestimmte Erfahrungen bezieht, sondern dass sich die Kohärenz der Identität auch aus solchen Handlungen ergibt, in denen sich performant ihr Gegenteil durchsetzt.385 Mit dem im 20. Jahrhundert insbesondere von H. Luther bereitgestellten Vokabular kann in diesem Sinne an Ritschl angefragt werden, inwieweit das Konzept einer fragmentarischen Identität386 in das Konzept der Vollkommenheit integriert werden kann. Die Rede vom „Ganzen“ kann, über Ritschl hinausgehend und unter der Wahrung, dass sie nie anders als im Modus der Hoffnung formulierte Zielperspektive sein kann, als eine Art motivationales Prinzip für das eigene Handeln verstanden werden:387 Das motivationale Element liegt darin, über die notwendige Anerkennung und das Aushalten der eigenen Fragmentarität und dem unhintergehbaren Eingebundensein in sich widersprechende situative Verfasstheiten hinauszugehen. Das Narrativ des „Ganzen“ kann eine Perspektive einbeziehen, die im Verweis darauf, dass das Leben nicht auf diese Situativitäten und deren fragmentarischen Charakter reduziert werden kann, Gestaltungsspielräume eröffnet. Vom „Ganzen“ zu reden kann demnach vermeiden, bei der Anerkennung der Fülle negativer wie positiver Lebenserfahrungen stehen zu bleiben, sondern diese sowohl realistisch anzunehmen als auch folgendermaßen zu perspektivieren: Nicht eine momentane situative Verfasstheit wird zum einzig möglichen Narrativ der Lebensdeutung, sondern diese kann ihre Ergänzung an einem anderen Narrativ finden und weist so über sich hinaus.
der Form des besonderen sittlichen Berufs, welche aus dem allgemeinen Endzweck des Gottesreiches sich in der Erzeugung der Grundsätze und Pflichturtheile das Gesetz giebt, und die Aneignung der Versöhnung bestätigt, bildet mit jenen religiösen Functionen zusammen die Vollkommenheit, in welcher sich jeder Gläubige als Ganzes oder als Charakter herauszubilden hat, der seine bleibende Stellung in dem Reiche Gottes einnimmt und das ewige Leben erlebt“ (Ritschl, RuV 3III, 634). 385 Gegen Timm, der formuliert, dass mit der sittlichen Vollkommenheit „das gängige Urteil von der unveränderlichen Sündhaftigkeit des Gerechtfertigten ausgeschlossen“ sei (Timm, Theorie, 51). 386 Vgl. Luther, Identität; die Semantik des „Ganzwerdens“ wird aber auch im 20. Jahrhundert noch wesentlich unkritischer kolportiert (vgl. den programmatischen Titel der Aufsatzsammlung von Eberhard Jüngel, Ganz werden, Theologische Erörterungen V, Tübingen 2003). 387 Leonhardt beschreibt dieses Element bei Ritschl als paradox, denn „[d]ie unvermeidliche quantitative Unvollkommenheit kommt in qualitativer Hinsicht gerade als Ausdruck der Vollkommenheit zu stehen“ (Leonhardt, Vollkommenheit, 50; vgl. ähnlich Slenczka, Glaube, 162).
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3.3.2. Die Abgrenzungen im Sündenverständnis Die Vermeidung von Moralisierung, in denen Lebenserfahrungen im Rahmen des Vollkommenheitsgedankens präskriptiv werden, ist eines der Hauptanliegen in der Ritschl’schen Thematisierung des Sündenverständnisses. Man kann sagen: Mit dem Konzept der christlichen Vollkommenheit markiert Ritschl, dass es prinzipiell möglich sei, das Reich Gottes in allen Situativitäten in den Fokus zu bringen. Mit dem Begriff der Sünde markiert er hingegen, dass dieses nicht ständig, sondern nur in Ausnahmefällen auch wirklich derart gelingt, dass das Narrativ – auf performante Weise – für das Individuum wie für die Gemeinde als Sündenvergebung evident wird. Ritschl betont, dass die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen nur „erfahrungsmäßig“, also konkret und situativ, festgestellt werden könne; sie gehe jedoch nicht in den Unvollkommenheiten täglicher Handlungen auf.388 Diese seien, so Ritschl, strukturell nicht zu vermeiden, insofern es – aufgrund der Willensfreiheit – immer verschiedene Handlungsmöglichkeiten geben könne.389 Diese Überlegungen Ritschls ähneln Vorstellungen von einer allgemeinen Sündhaftigkeit des Menschen in existentieller Perspektive, die Ritschl allerdings dezidiert ablehnt.390 Ritschl argumentiert, dass als allgemeine anthropologische Bestimmungen die Begriffe der Schuld oder des Fehlverhaltens angemessener seien: Ritschl möchte die Betonung der Schuld als Maßstab der Verantwortung unbedingt aufrechthalten. In diesem Sinne argumentiert er auch gegen den Gebrauch der Erbsünde bei Augustin und Luther, insofern in diesen Konzepten die Möglichkeit der Schuld in säkularen Bezügen nicht vorgesehen sei. Ritschl kann hier folgendermaßen interpretiert werden: Die Sünde ist konsequent vom Standpunkt der Gemeinde gedacht und damit keine allgemeine anthropologische Bestimmung, sondern nur unter christlichen Narrativen zu erschließen.391 Dann erst könnten konkrete 388
Vgl. Ritschl, RuV 3III, 311. Vgl. Ritschl, Vollkommenheit, 54f. 390 Vgl. Ritschl, UcR, §40, 56f.; das sei auch der Punkt, an dem Luther laut Ritschl irre, indem er die Erbsünde im Schmalkaldischen Bekenntnis als gegeben darstelle (vgl. Ritschl, RuV 3III, 322–326, bes.: 326; sowie Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 271f.). Wittekind zeigt auf, dass Ritschl zumindest im UcR weder auf die Lehre von der Gottebenbildlichkeit noch auf den Sündenfall eingehe (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 69); im Modus der Kritik findet sich das auch bei Paul Althaus (Die christliche Wahrheit, Gütersloh 31952, 372f.) sowie bei Georg Pfleiderer. Pfleiderer macht darauf aufmerksam, dass die Richtigkeit dieser Beobachtung in aktuellen Zusammenhängen nichts daran ändert, dass „die Theologie der kulturellen Moderne das existentielle Sachproblem, um das es bei der Sünde geht, von außen andemonstrieren“ müsse (Georg Pfleiderer, „Die eigentliche Sünde ist allen Menschen unbekannt“. Überlegungen zum Verhältnis von Sünde und Sündenerkenntnis, in: NZSTh 43 [2001], 330–349, hier: 332). 391 Ritschl kann sogar so weit gehen zu sagen, dass wir ein Bewusstsein für das Böse überhaupt nur über unseren Standpunkt in der versöhnten, christlichen Gemeinde haben (vgl. Ritschl, RuV 3III, 310): „Die Vorstellung von dem vollständigen gemeinschaftlichen Guten 389
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Handlungen, in denen der Bezug auf das Reich Gottes nicht gelingt, weil andere Bezugsgrößen die Handlungen beeinflussen, als Sünde markiert werden, insofern nur im religiösen Rahmen überhaupt die Möglichkeit bestehen würde, sich auf das Reich Gottes zu beziehen.392 Nur wenn ein Individuum das Reich Gottes als plausible Bezugsgröße kennt, kann es anderen Bezugsgrößen eine geringere Plausibilität zuschreiben.393 Die Sünde ist – in Ritschls Diktion – die Markierung für den „eigenthümliche[n] Werthbegriff“394, in dem die Erfahrung des „bösen Gewissens“ reflektiert werden könne395 und der via negationis auf das eigene Werturteil über das Gute verweise.396 Die Rede von der Sünde kann als ein Erschließungsmoment für die Art und Weise verstanden werden, wie sich für das Individuum darstellt, dass die eigene situative Verfasstheit und das Narrativ des Reiches Gottes momentan nicht passgenau sind und scheinbar in vielen Fällen bedauerlicherweise nicht passgenau werden können. Für Ritschl ergeben sich – und das ist weiterführend für eine an Narrativität und Situativität orientierte Theologie – zwei Bestimmungen, mit denen für die Gemeinde plausibel wird, warum es nicht gelingt, das Reich Gottes im Handeln
in dem Begriff des Reiches Gottes und die Vorstellung von der persönlichen Güte im Begriff Gottes und in der Anschauung von Christus begründen in der christlichen Gemeinde eine entsprechende Vorstellung vom Bösen und von der Sünde“ (Ritschl, UcR, §34, 51). 392 Vgl. Ritschl, UcR, §37f., 54f., Fn 144; vgl. ebenso RuV 3III, 314, im Zusammenhang mit Genesis 1–3: „Also auch die dogmatische Lehre vom Menschen wird nicht durch die Beziehungen der biblischen Schöpfungsurkunde ausgefüllt, sondern durch die geistige und sittliche Bestimmung der Menschen, welche in der Lebensführung Jesu und in seiner Absicht des Reiches Gottes offenbar wird.“ Daraus leitet sich die Bestimmung des Christentums als Gemeinschaft nicht im Sinne der Socinianer, sondern als Ableitung des Reiches Gottes ab (vgl. Ritschl, RuV 3III, 256). 393 Sünde ist für Ritschl deswegen immer mit Unwissen verknüpft. Damit sei zwar keine prinzipielle Unmöglichkeit gegeben das Gute zu erreichen, da aber die Unwissenheit schon in der Erziehung von Kindern ihren Ansatzpunkt finde, sei das Erreichen des höchsten Gutes aus eigenem Willen de facto und der Erfahrung nach nicht möglich (vgl. Ritschl, RuV 3III, 357). 394 Ritschl, RuV 3III, 317. 395 Ritschl, UcR, §34, 51f. 396 Sünde sind für Ritschl dementsprechend sowohl die in der Welt geschehenden Handlungen, als auch die im Geist formulierten „bösen Willensäußerungen, auch die entsprechenden Absichten, habituellen Neigungen, Gesinnungen“ (Ritschl, UcR, §35, 52); die ein Einstellen in die enacted narrative des Reiches Gottes für das Individuum selbst verunmöglichen würden (Vgl. Ritschl, UcR, §35, 52, Fn 138). Axt-Piscalar zeigt auf, dass sich hierin gerade die Abkehr von Kant und Julius Müller vollziehe und dieses wiederum auf den Vollzug verweise, da der „Hang zum Bösen als Resultat der Selbstbestimmung des empirischen Willens“ dazu führt, „daß der einzelne vor aller individueller Tat als Sünder zu verstehen ist, mithin immer schon durch eine strukturelle Verkehrung bestimmt ist, welche sich in den einzelnen Vollzügen manifestiert, aber nicht allererst durch diese bewirkt wird“ (Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 274).
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umzusetzen: Das ist in der Differenzierung der beiden Deutekategorien der widerständigen Erfahrungen (des Bösen) als „Übel“ und „Strafe“ enthalten.397 Ritschl macht im Rahmen seiner Werturteilslehre darauf aufmerksam, dass die Deutung des Bösen unterschiedliche Grade kennen könne. Die Deutung als „Übel“ weist laut Ritschl auf die Momente hin, in denen die Welt als so übermächtig und in ihrer Kausalität nicht aufhaltbar wahrgenommen werde, dass keine narrative Entfaltung des Reiches Gottes dieser gerecht werden könne.398 Dementsprechend kann z. B. der Tod unter dieser Prämisse als das höchste Übel gedeutet werden. Diese Deutung ist für Ritschl jedoch nicht zwingend, sondern von der Wirklichkeitswahrnehmnung abhängig.399 Die Deutung von Widerfahrnissen als „Strafe“ charakterisiert hingegen die Momente, in denen das Reich Gottes sich zwar situativ als performante Erfahrung erwiesen hat, allerdings so, dass es als widersprüchlich und schmerzhaft wahrgenommen wurde.400 Kuhlmann kritisiert an Ritschl, dass die Rede von der „Strafe“ ein rein passives Ergeben und Erdulden impliziere, das kein Interesse an der Änderung der bestehenden Verhältnisse habe.401 Demgegenüber kann man allerdings argumentieren, dass Ritschl mit „Übel“ und „Strafe“ Deutekategorien gewinnt, die kontrafaktisch im Rahmen narrativer Strategien auf die Änderung von Verhältnissen und die Übernahme von Verantwortung abzielen: Indem sie darauf verweisen, dass die Passgenauigkeit von Narrativ und Situativität zwar 397 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 320. Das meint auch die Rede von dem „Hang“ zur Sünde bzw. zum Bösen (vgl. Ritschl, RuV 3III, 326). Im Unterschied zu Kants Vorstellung vom „radikalen Bösen“ (AA VI, 37), kann auch dieser Hang zum Bösen nur in konkreten Zusammenhängen und d. h. im sich empirisch vorfindenden Willen realisiert werden (vgl. dazu auch Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 273). 398 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 333. 399 Vgl. Ritschl, UcR, §41, 58. „Die subjective Bedingtheit des Begriffes vom Uebel aber macht sich auch bei den Fällen der ersten Klasse darin geltend, daß der Eine zufällige körperliche Leiden als Uebel empfindet, welche der andere durch Gewohnheit oder durch Anstrengung des Willens nicht mehr als Hemmungen seiner Freiheit erfährt“ (RuV 3III, 334). Ritschl ist es im Folgenden allerdings wichtig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass der Tod weder Übel noch Strafe sei, sondern höchstens als solche gedeutet werden könne bzw. im Bewusstsein der Versöhnung auch positiv als Übergang in das ewige Leben verstanden werden könne (Ritschl, RuV 3III, 341–343). Gleichzeitig lässt Ritschl jedoch gelten, dass die Frage nach Tod und dem Empfinden von Übeln als Strafe derart existentiell ist, dass auch Theologen ihm nicht ausweichen können (Ritschl, RuV 3III, 348). 400 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 335; UcR, §42, 59, Fn 154. Für Ritschl gilt zudem: Die einzige Deutungsoption, die in keinem Sinne förderlich werden könne, sei der bewusste Entschluss, sich nicht auf das Reich Gottes zu beziehen, obwohl die Möglichkeit dazu gegeben wäre: In diesem Sinne kann Ritschl die Sünde wider den Heiligen Geist oder die Verstockung profilieren (vgl. Ritschl, RuV 3III, 243). 401 Kuhlmann führt aus, dass sich für Ritschl aus dem Natur-Geist-Dualismus eine Vernachlässigung der körperlichen Übel ergebe. Deswegen verhindere die Deutung der Übel als Erziehungsstrafen Gottes für Ritschl eine ausreichende Reflexion der materiellen Armut seiner Zeit (vgl. Kuhlmann, Ethik, 272f.).
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momentan nicht gegeben ist, darin aber zugleich die Hoffnung ausdrücken, dass diese gegeben sein könnte. Idealiter kann der Bezug auf das Narrativ des Reiches Gottes so entfaltet werden, dass diese Hoffnungsperspektive deutlich wird.402 Ritschl deutet nur an, dass der Ort, an dem dieses geschehen kann, die Gemeinde in ihrer situativen Verfasstheit als Kirche und präziser noch als gottesdienstliche Gemeinschaft sei.403 Die Vermittlung in der Gemeinde in ihrer momentanen Gestalt z. B. als Kirche kann jedoch ebenso den Bezug auf das Narrativ eher verunmöglichen: Das ist, was Ritschl mit der von Schleiermacher aufgegriffenen und innovativ gewendeten Rede vom „Reich der Sünde“ gewinnt.404 In den konkreten Gestalten der Sozialform der Gemeinde, also im Wesentlichen in der Kir-
402 Ritschl macht in äußerst scharfem Tonfall darauf aufmerksam, dass dieses immer nur für die eigene Beurteilung gelten und auf keinen Fall als Beurteilung einer bestimmten Situation von außen aufgedrängt werden könne: „Wenn der durch die Dogmatik übel berathene pastorale Eifer es unternimmt, solche Calamitäten als Anlässe zu Strafpredigten an die Gemeinde zu benutzen, so erregt er berechtigte Erbitterung“ (Ritschl, RuV 3III, 338). 403 Die gottesdienstliche Gemeinschaft ist im Wesentlichen durch das Gebet bestimmt (vgl. Ritschl, UcR, §81, 109f.) und durch die Sakramente, die der Ort sind, an dem einer „zur Ausbildung christlicher Persönlichkeit gelangen könne“ (Ritschl, UcR, §89, 121). 404 Ritschl, RuV 3III, 320. Axt-Piscalar zeigt, dass Ritschl das Konzept dieses Reiches der Sünde zwar strukturell von Schleiermacher übernehme, es aber nicht wie das Reich Gottes auf alle Menschen erweitern würde oder im Sinne Schleiermachers als anthropologische Grundkonstante setze, sondern vielmehr als Summe des Sündigens aller Einzelnen verstehen würde (vgl. Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 272). Es ist zu fragen, ob es für Ritschl ein „aus den einzelnen Tatsünden resultierende[s] Reich der Sünde“ gibt (Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 272), oder ob es auch hier nicht vielmehr um den Erkenntnisprozess geht – das Individuum kann sich nur seiner eigenen Sündenvergebung bewusst werden und damit auch nur seine eigene Sünde als solche erkennen. Die Vorstellung einer allgemeinen Sünde ist dann schlicht erkenntnistheoretisch chronologisch nachgelagert. Damit wird aber nicht im eigentlichen Sinne die „individuelle Tatsünde in das Zentrum seiner Sündenlehre“ gerückt (Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit, 273), sondern vielmehr nur der Erkenntnisprozess der Sünde oder des Bösen im Zusammenhang von eigener in der Sündenvergebung erfahrener Sünde und allgemeiner Verstricktheit in potentiell als sündig zu bestimmende Vollzüge aufgezeigt. Axt-Piscalar nimmt deswegen über Ritschl hinausgehend die strukturelle Verkehrung der endlichen Subjektivität, die sich in allen Lebensvollzügen manifestiert, in die Bestimmung des Reiches der Sünde mit auf (vgl. Axt-Piscalar, Freiheit, 275; AxtPiscalar argumentiert in Anlehnung an Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 125). Damit kehrt sie aber gerade die Ritschl’sche Perspektive um: Das Reich der Sünde fungiert dann nur noch als Chiffre für die größeren Wirkzusammenhänge der Sünde, aber gerade nicht mehr für die Beschreibung des Vollzuges als allen theologischen Begriffen vorgängige Bestimmung. Das Reich der Sünde ist bei Ritschl eben gerade nicht in dem Sinne selbstständig, dass es als außerhalb des Zusammenwirkens der sich in Vollzügen vorfindenden Individuen gedacht werden könnte, sondern an diese gebunden – und kann als Sünde nur von denen begriffen werden, die sich auf den speziellen Vollzug des Reiches Gottes einlassen.
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che, können sich in „gemeinsamen Gewohnheiten und Grundsätzen, in stehenden Unsitten und sogar in bösen Institutionen“405 habituelle Verstärkungen von Sünde bilden.406 Ritschl scheint hier anzunehmen, dass bestimmte momentane situative Verfasstheiten der Gemeinde sich für das Individuum in seiner eigenen Situativität so aufdrängen können, dass der Bezug auf das Narrativ des Reiches Gottes erschwert oder verunmöglicht wird.407 Ritschls eigenes theologisches Vorgehen, die ständig notwendige Überprüfung der Angemessenheit der dogmatischen loci, findet seine Legitimierung in einem Sündenverständnis, das die Anstrengungen dieses Vorgehens eigentlich für die Gewissensbildung jedes Einzelnen voraussetzt.408 Diese Überprüfung könne, so Ritschl, nicht anders als im Modus der Hoffnung auf die Leitung und Fürsorge (die väterliche Vorsehung) geschehen, die Ritschl dementsprechend als das Gegengewicht der Sünde bestimmt.409 In diesem Modus der Hoffnung kann Ritschl zwei Ableitungen aus dem obigen präsentieren, nämlich einerseits den Gedanken der Verantwortung:410 Die Rede von der Sünde kann bei Ritschl so verstanden werden, dass die – im performanten Vollzug sich plausibilisierende – Sündenvergebung immer schon eine schmerzhafte oder zumindest unbequeme Selbsterkenntnis impliziere (und so formuliert zeigt sich auch, warum Ritschl sich damit selbst im Mainstream reformatorischer Theologie verorten kann). Die Narrative, mit denen bisher eigene Lebensvollzüge plausibilisiert wurden, können in der Begegnung mit anderen Narrativen, die sich performant als evident erweisen, in Frage gestellt werden. Ritschl kann andererseits den Gedanken der Erziehung in kollektiven Bezügen profilieren, das stetige Bemühen darum, die Begegnung von Lebenserfahrung und Reich Gottes immer wieder für andere deutlich zu machen – in dem Bewusstsein, dass es keine Garantie dafür geben kann, dass anderen diese Erfahrung ebenso eindrücklich wird.411 405
Ritschl, UcR, §39, 55f. Vgl. Ritschl, RuV 3III, 331, auch diese Fortpflanzung der Sünde basiert auf der Weitergabe von Erfahrung (die dann eben die Erfahrung von verunmöglichtem Vollzug ist): „Gemäß der unwillkürlichen Keplerbewegung, welche der nicht in der guten Richtung befestigte Wille auf die Erfahrung von Einwirkungen Anderer ausübt, pflanzt sich die Sünde von Einem zum Anderen fort“ (Ritschl, RuV 3III, 331). Diese Rede vom „Reich der Sünde“ ist anschlussfähig an eine Vielzahl von Kontexten, bis hin zu einer innovativen Umformulierung zu „Todsünden“, wie es jüngst auch Derek R. Nelson versucht (vgl. Nelson, Schleiermacher, 131–154). 407 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 326; Ritschl, UcR, §39, 55. 408 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 331. 409 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 577. 410 Vgl. den Paragraphen zur Vorsehung in Ritschl, UcR, §60, 82. U. Barth führt aus, dass Ritschl die Veranwortung als das Ideal des Berufsgedankens Luthers zur Geltung bringe, da die ethische Verantwortung in der Welt sich aus der religiösen Grunderfahrung speisen könne, was kompatibel mit dem modernen Lebensideal sei (vgl. Barth, Reformation, 138f.). 411 Ritschl verwendet dafür eine mit seinen vorherigen Überlegungen konsistente Metapher, nämlich die von Lessing aufgegriffene „Erziehung des Menschengeschlechtes“, die 406
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3.3.3. Versöhnung und Gotteskindschaft An dieser Stelle kann Ritschl, analog zu seinem Vorgehen in der Christologie, einen Begriff aus der christlichen Tradition aufgreifen und diesen als angemessen für die Darstellung dieser Zusammenhänge bestimmen, nämlich die Rede von der Versöhnung. Ritschl differenziert zwischen Sündenvergebung und Versöhnung folgendermaßen:412 Beide gleichen sich strukturell darin, dass sie zur Beschreibung derjenigen Momente dienen, in denen der Bezug auf das Reich Gottes sich situativ als evident erweist und für andere repräsentativ wird.413 Sündenvergebung und Versöhnung sind dennoch laut Ritschl zu unterscheiden, denn „[i]n der Versöhnung nämlich tritt die Sündenvergebung nicht mehr bloß als Absicht Gottes, sondern als der beabsichtigte Erfolg auf“414. Dieser „Erfolg“ definiere sich darin, dass „[g]emäß der Versöhnung
sich auf eine Erziehung hin zum Reich Gottes in der „Menschengeschichte“ erweisen werde (vgl. Ritschl, RuV 3III, 288). Im Unterschied zu Lessing lässt Ritschl den Erziehungsgedanken auf das Reich Gottes hinführen und nicht wie Lessing auf die Vernunftreligion (vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin 1870). Ritschl entwirft die Perspektive eines „Weltreiches“, das zusammen mit der Familie als Gemeinschaft und dem Volk im Staate als Rechtsgemeinschaft Voraussetzung für die „Geltung des Gedankens vom Reiche Gottes als der bestimmungsmäßigen sittlichen Gemeinschaft der Menschen“ sei (Ritschl, RuV 3III, 292), da dieser nicht verstanden werden könne, wenn die drei anderen politisch-ethischen Formen nicht „erlebt und ihr eigenthümlicher Wert anerkannt worden“ sei (Ritschl, RuV 3III, 293). 412 Ritschl, RuV 3II, 235; UcR, §46, 64. Wiederum betont Ritschl, dass sich die Sündenvergebung nicht aus dem Gottesbegriff ableiten lasse, sondern nur in der Wirkung auf die Gemeinde als Bedingung ihrer Konstitution zu verstehen sei, insofern „auch ihre Geltung […] an das eigentümliche Wirken Christi geknüpft“ sei (Ritschl, UcR, §48, 66). 413 So kann Ritschl als das Neue der Theologie Johann von Hofmanns, auf die er sich in Affirmation und Abgrenzung bezieht, hervorheben, dass für diesen die Rechtfertigung mit der Versöhnung identisch sei (vgl. Ritschl, RuV 3I, 621; für die Ausführung des Zusammenhanges der Theologie Hofmanns und Ritschl, wenn auch stark positionell, vgl. Steffen, Heilsbedeutung, 81). 414414 Ritschl, UcR, §46, 63. An diese Stelle ist die Frage anzuschließen, ob das Rechtfertigungsurteil ein analytisches oder ein synthetisches sei, wie schon Kähler sie an Ritschl richtet (Martin Kähler, Zur Lehre von der Versöhnung, Gütersloh 1937, 338.416f.). Mühling erwägt aus eschatologischen Gründen unter der Prämisse der Konstitution geschöpflicher Identität im Gericht, dass dieses Urteil immer ein analytisches sein müsse („Der Sünder ist gerecht“; vgl. Markus Mühling, Der Tod Christi als Sühnopfer – Probleme und gegenwärtige Antworten der Forschung, in: Kerygma und Dogma 62 [2016], 135–159, hier: 140f.). Diese Frage stellt sich für Ritschl jedoch nicht, insofern er – wie oben dargelegt – die Position der Rückschau einnimmt, in der auf eine gelingende Aneignung des Reiches Gottes in Korrelation mit der eigenen Lebensgeschichte geblickt wird, die nun als vorher unter der Sünde, jetzt unter der Sündenvergebung stehend beurteilt werden kann. Ähnlich argumentiert auch Wittekind, wenn er formuliert, dass „Sünde als zugleich notwendiges und doch die Wahrheit selbst beeinträchtigendes individuelles Aneignungsgeschehen des Glaubens [...] also auf-
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mit Gott [...] der Mensch in seinem Glauben und Vertrauen sich den Endzweck Gottes angeeignet“415 habe. Diese Bestimmung von Versöhnung kann im Aufgreifen des bisher Entfalteten so verstanden werden: Ein Narrativ kann sich situativ als derart angemessen und performant erweisen, dass es stimmig erscheint, sich über die situative Deutung hinaus auch potentiell in anderen Situativitäten auf dieses Narrativ beziehen zu können.416 Ritschl selbst präzisiert das über Gewissheit und Streben als Modi der Versöhnung, in denen sich der dynamische Bezug auf das Reich Gottes in zwei Richtungen erweist: Die Unvollkommenheiten der Welt und die Fülle sich widerstrebender Lebenserfahrungen präfigurieren auch in diesem Teil der Ritschl’schen Theologie die Art und Weise, wie sich das Individuum in seinen eigenen Lebensvollzügen auf das Reich Gottes beziehen könne.417 Ritschl formuliert sehr prägnant, dass die Gewissheit nur in der Zielperspektive („Aussicht und Aufgabe“) als ein Einheitsprinzip in „Verneinung“ und Umkehrung der weltlichen Verhältnisse gelten könne.418 Diese Zielperspektive könne sich jedoch nur dort erweisen, wo das Reich Gottes mit der eigenen Lebensgeschichte, die an weltliche Verhältnisse gebunden ist, korreliert wird: Das ist für Ritschl deswegen nur „im Streben“, am Ort des konkreten, situativ gebundenen Handelns denkbar. 419 Ritschls Differenzierung von Gewissheit und Streben kann so verstanden werden, dass er damit unterschiedliche situative Qualitäten religiöser Erfahrung bestimmt: Ohne den Aspekt des Strebens könne sich die grund der Notwendigkeit individueller Aneignung ein im Raum der weltlichen Existenz immer bleibendes Moment der wahrhaft ethischen Bestimmung des Menschen zum Reiche Gottes [ist]“ (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 71). 415 Ritschl, UcR, §46, 63. 416 In den Vorlesungen zur Ehtik führt Ritschl aus, dass der Vorsehungsglaube ein Erkennen sei, das die Interpretation eigener und fremder Geschichte begründe (Ritschl, VLE, 134f.; vgl. Kuhlmann, Ethik, 246) und dem ein Gefühl entspreche, das sich in Demut und Geduld als eine kontrafaktische Freiheit von der Welt ausdrücke (vgl. Ritschl, VLE, 134f.). Kuhlmann deutet das so, dass Ritschl versuche, in seiner Ethik die Freiheit der Gotteskindschaft mit sittlicher Freiheit und Humanität zu verbinden (vgl. Kuhlmann, Ethik, 266). 417 Vgl. Ritschl, RuV 3III, ab 575. Wittekind beschreibt dieses folgendermaßen: „Damit ist das Paradoxon der Ritschl’schen Realisierungstheorie des Geistes in der Welt auf die Spitze getrieben: Die Realität der Weltherrschaft besteht in der überwindenden Unterwerfung unter die Welt. [...] Der Vollzug des Glaubens negiert sich selbst in dem Moment, wo er sich als notwendig für das Geschehen der Wahrheit anerkennt“ (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 62). Wittekind sieht darin die Pointe der Ritschl’schen Theologie, dass für ihn erst mit dieser Form der Weltüberwindung die Individualität in die Welt komme, nämlich durch Jesus Christus (vgl. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 63). 418 „Also Weltverneinung haftet am Christentum nur soviel, als zur Weltbeherrschung gehört. Verneint wird eben die Herrschaft der Welt über den Menschen, indem das umgekehrte Verhältnis als Aussicht und Aufgabe gestellt wird“ (Ritschl, RuV 3III, 579). 419 Denn Gewissheit und Streben seien so für die einzelne Person verbunden, dass sie darin dem „Werte der ganzen Welt als der Ordnung des geteilten und natürlich bedingten Daseins überlegen ist“ (Ritschl, UcR, §59, 80,).
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Relevanz einer religiösen Erfahrung für das Individuum in weltlichen Kontexten nicht zeigen; die Gewissheit motiviert wiederum sich auf weiteres Streben einzulassen.420 Für Ritschl wird die Dynamik zwischen „Gewissheit der Versöhnung“ und „Streben nach dem Reiche Gottes“ zum Prüfstein des gelingenden Vollzuges, „zur Probe ihrer Richtigkeit und Echtheit“421. Es ist auffallend, dass die Semantik hier bei Ritschl sehr auf das garantierte Einstellen religiöser Vollzüge abzielt, wenn er vom „Erfolg“ im obigen Zitat spricht oder hier von der „Probe“. Das könnte das Missverständnis hervorrufen, dass Ritschl nun doch eine Probe im Sinne eines wissenschaftlichen Beweises bis hin zu einem aus der Anthropologie abgeleiteten Gottesbeweis annimmt. Diese Problematik ergibt sich daraus, dass Ritschl eine Position einnimmt, in der ein Individuum aus der Rückschau argumentiert und d. h. aus der Perspektive einer bereits erfolgten religiösen Erfahrung:422 Aus dieser kann die „Probe“ durch ihre dau-
420
Deswegen kann die Gewissheit keine bewusste Entscheidung sein, sondern stelle sich laut Ritschl ein, wenn wir „das Vertrauen auf unsere Versöhnung mit Gott durch ihn [Christus] zu dem Vertrauen auf Gottes väterliche Gnade in allen unseren Erlebnissen ausbreiten“ (Ritschl, RuV 3III, 557). Damit steht das Verhältnis zur Welt bei Ritschl unter genau der Annahme, die Wittekind folgendermaßen beschreibt: „Denn es ist genau das Eigentümliche des Glaubens, als Vollzug der Wahrheit einerseits inhaltlich durch die Idee des überindividuellen Reiches Gottes, andererseits aber formaliter durch den Akt des Vollzuges selbst bestimmt zu sein“ (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 61). Es bleibt aber zu fragen, ob dieser Vollzug vollständig erfasst ist, wenn Wittekind ihn bewusstseinsimmanent beschreibt, als: „Das Bewußtsein vollzieht seine Wahrheit: Als Vollzugsort ist es weltlich, in der inhaltlichen Bestimmung dieses Vollzuges durch die Wahrheit selbst hingegen göttlich-geistig bestimmt“ (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 61). 421 Ritschl, UcR, §46, 63; vgl. Ritschl, RuV 3III, 267. Dieses Streben nach dem Reich Gottes könne aber – für das christliche Bewusstsein – nie anders als ein ethisches (d. h. auf das Handeln als enacted narrative des Reiches Gottes) verstanden werden. Deswegen ist es notwendig, dass beide „ebenso gewiß in Wechselwirkung [stehen], als die Ziele und Beweggründe in beiden Fällen die gleiche überweltliche Höhe einnehmen“ (Ritschl, UcR, §56, 76). Hier ist der Befund für die Änderungen in den Auflagen sehr relevant: Die §56–62, die darlegen, wie sich diese Gotteskindschaft ausbuchstabiert, sind in der ersten Auflage die ersten Paragraphen des Dritten Teils „Die Lehre vom christlichen Leben“, d. h. der individuellen Gestaltung der in den vorherigen Teilen religiösen und ethischen Bestimmungen. In der zweiten und dritten Auflage und werden diese Paragraphen dann aber direkt an §25 angegliedert, also an die Bestimmungen des Reiches Gottes und bilden somit den Abschluss vom Ersten Teil A: „Die Lehre vom Reich Gottes. Das Reich Gottes als religiöse Idee“, sodass sich das „Reich Gottes als sittlicher Grundgedanke“ aus der Bestimmung der Gotteskindschaft ableitet. 422 Was sich auch daran zeigt, dass Ritschl in der zweiten und dritten Auflage zu „so dienen diese beiden Reihen sich gegenseitig zur Probe ihrer Richtigkeit und Echtheit“ hinzufügt: „oder bedingen sich gegenseitig“ (Ritschl, UcR, §46, 63, Fn 168).
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ernde Erprobung, der „Erfolg“ durch seine dauernde Infragestellung in der immer wieder neuen Korrelation zwischen Situativität und Narrativ charakterisiert werden.423 Im Rahmen der Familienmetaphorik, also ab der zweiten Auflage des UcR, kulminieren diese Bestimmungen bei Ritschl in der „Gotteskindschaft“. 424 Diese wird von Ritschl als Adoption verstanden:425 Obwohl die anthropologische Bestimmung es im Unterschied zur christologischen Bestimmung nicht erfordert, können Menschen so den Vaternamen in Gebrauch nehmen, wie Jesus Christus es gemacht hat und darauf hoffen, dass sie in der Anrufung eine religiöse Erfahrung machen.426 Damit zieht Ritschl über die christologischen Bestimmungen den Bezug auf das Kreuz als konstitutiv notwendig in die Gebetslehre ein, insofern sich an dessen Ort die Ingebrauchnahme des Vaterna-
423 Wittekind formuliert diese Problemstellung für Ritschl so, dass „die Versöhnungslehre den Umstand [reflektiert], daß das Bewußtsein des Menschen durch vielfältige Vollzüge und inhaltliche Bestimmungen immer schon besetzt ist“ (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 67). Dieser spezifische Vollzug des Glaubens richtet sich aber eben nicht auf die Produktion von Gehalten, denn „Glauben ereignet sich als Zusammenfall von Bestimmung und Vollzug, der nicht selbst wiederum der Aktivität des Bewußtseins unterliegt, sondern auf der rechtfertigende Offenbarung Gottes beruht“ (Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 67). 424 Ritschl spricht – analog zum Gebrauch des Vaternamens – erst ab der zweiten Auflage des UcR von der Gottessohnschaft (vgl. Ritschl, UcR, §54, 72f.). 425 Vgl.: „In der Adoption (der Annahme als Kind) wird die Gnadenabsicht des Urteils der Sündenvergebung oder Rechtfertigung dahin ausgeführt, daß Gott den Gläubigen sich als Vater gegenüberstellt und sie zu dem völligen Vertrauen eines Kindes berechtigt“ (Ritschl, UcR, §46, 63). Die Metapher der Adoption bietet Ritschl den Vorteil, die Differenz zwischen der Gottessohnschaft Christi und der Gotteskindschaft der Menschen zu profilieren. Sie hat den Nachteil, dass damit ein Gottesbild impliziert werden könnte, das auf einem juridischen Verhältnis zwischen Menschen und Gott basiert. 426 Damit müsse sich jede Form von Kommunikation dieses Verhältnisses an den Vater richten: Das erklärt bei Ritschl die Betonung der Anrufung Gottes als Vater als genuines Merkmal des Christentums, das dieses von der israelitischen Religion unterscheidet und z. B. im „Vater Unser“ alle weiteren Bitten schon perspektiviert (vgl. Ritschl, UcR, §§78f., 105–107). Meyer-Blanck bestimmt das aktuell ähnlich so, dass Jesus selbst – am Kreuz und im Vaterunser – auf den Psalter zurückgreift und „die Christenheit mit dem Psalter – wie mit dem Vateruser – im Geiste Jesu betet“ (Michael Meyer-Blanck, Das Gebet, Tübingen 2019, 221). Meyer-Blanck führt in diesem Sinne auch die Vateranrede auf den Psalter zurück, denn: „Gott ist keine bloße Kraft und kein Prinzip, kein ungreifbarer Grund oder Ausdruck für etwas Theoretisches – Gott ist Name und damit dem Menschen nah, aber für ihn nicht verfügbar“ (Meyer-Blanck, Gebet, 221). Mit der neueren exegetischen Forschung muss hingegen angemerkt werden, dass die Anrede Gottes als Vater keine genuin jesuanische Erfindung ist, sondern auf den alttestamentlichen und frühjüdischen Gebrauch zurückgehe (vgl. Christiane Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont, [AJEC 69] Leiden/Boston 2007, 48).
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mens in der Anrufung erst in ihrer vollen Konsequenz als kontrafaktische Performanzerfahrung erweise. Dieser komplexe Zusammenhang, der ein Gespür Ritschls für die Abgründigkeiten menschlicher Welterfahrungen und vor allen Dingen für die Entzogenheit des Gottesgedankens im Rahmen funktionaler Kategorien beinhaltet, wird jedoch durch die oben aufgerufene, an Erfolg und Gelingen orientierte Semantik unterminiert. Ritschl muss die sich für ihn aus der fortdauernden Existenz der Gemeinde legitimierende Position der Rückschau einnehmen und profiliert diese in einzelnen Passagen derart, dass eine einseitige Lesart dieser Passagen verständlich wird. Das ist eine bleibende Fragestellung aus der Analyse der bisherigen anthropologischen Bestimmungen Ritschls: Wie kann die aus der Rückschau geschehende Perspektive einer bereits erfolgten, situativ wirkmächtig gewordenen Performanzerfahrung so eingespielt werden, dass dennoch nicht einseitig die Semantik des Erfolges und des Gelingens dominiert, so dass das Ausbleiben von Performanzerfahrungen thematisch werden kann? 3.3.4. Funktionen des Vorsehungsglaubens Aus der Perspektive der Rückschau ist Glaube bei Ritschl als individuelle Verarbeitung dieser Zusammenhänge immer schon als Vorsehungsglaube präfiguriert.427 Mit Demut, Geduld und Gebet kann Ritschl profilieren, wie der Vorsehungsglaube in unterschiedlichen Dimensionen im Zusammenfall von Gewissheit und Streben situativ erfahrbar wird: „Der Glaube an die väterliche Vorsehung Gottes, welcher durch die Demuth die Fühlung mit Gott, durch die Geduld die richtige Fühlung mit der Welt behält, und welcher durch das Gebet sich kundgiebt und befestigt, ist also im Allgemeinen die Form der aus der Versöhnung mit Gott durch Christus entspringenden religiösen Vollkommenheit.“428
Dieses, in typischer Weise sehr komplexe Zitat, das sich in ersten Auflage von RuV III findet, kann unter den in den vorherigen Kapiteln entfalteten Überlegungen folgendermaßen verstanden werden: Religiöse Vollkommenheit heißt, die enacted narrative des Reiches Gottes in und trotz der Fülle der Lebenserfahrung zu vollziehen. In der ersten Auflage bestimmt Ritschl den Vorsehungsglauben als die „Form“ der religiösen Vollkommenheit rein strukturell. Es geht Ritschl um das individuelle Erleben der Versöhnung, die sich in diesen Momenten als wirkungsvoll erweise.429 Der „Vorsehungsglaube“ ist jedoch – mit 427
Ritschl argumentiert, dass die reformatorischen Bestimmungen des Glaubens bei Melanchthon sowie in der APO als fiducia, notitia und assenus sinnvoll durch Demut, Geduld und Gebet ergänzt werden können. Ritschl kann diese Bestimmungen zwar als notwendig hervorheben, sie sind ihm jedoch noch keine hinreichende Begründung des Glaubens (vgl. Ritschl, FI, 95–97). 428 Ritschl, RuV 1III, 580 (kursiv durch KO). 429 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 617. Ritschl bezieht sich hier ausdrücklich auf Melanchthon und unter Verweis auf CA XX.
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dem bisher Entwickelten – inhaltlich als Ausdruck der Hoffnung auf die Möglichkeit des Vollzugs des Reiches Gottes bestimmt und nicht reines Formalprinzip: Erst in der Rückschau, in Hoffnung und Dankbarkeit, erschließt sich, dass Reich Gottes und momentane situative Verfasstheit so aufeinander bezogen werden konnten, dass sie performant wurden und damit die Hoffnung darauf eröffnen, dass dieses wieder so geschehen kann. Aus diesem Grund korrigiert Ritschl in der zweiten und dritten Auflage: „Der Glaube an die väterlicher Vorsehung Gottes, welcher durch die Demuth die Fühlung mit Gott, durch die Geduld die richtige Fühlung mit der Welt behält, und welcher durch das Gebet sich kundgiebt und befestigt, ist also im Allgemeinen der Inhalt der aus der Versöhnung mit Gott durch Christus entspringenden religiösen Vollkommenheit.“430
Diese Ersetzung von „Form“ durch „Inhalt“ ist m. E. nicht die Korrektur eines kontingent aufgetretenen Fehlers, sondern ein Hinweis auf die Komplexität des Strukturprinzips einer Theologie, die mit Narrativen in situativer Perspektive operiert. Die formale Struktur der religiösen Vollkommenheit kann als eine Erfahrung bestimmt werden, also z. B. als Gewissheit oder Streben als Teil der Versöhnung. Die Versöhnung erschließt sich jedoch – in Ritschls System – nur sinnvoll über den Bezug auf ein Narrativ, nämlich das Reich Gottes, das seinen Ausdruck im Rahmen der Gotteslehre als väterliche Vorsehung findet.431 Damit ist eine rein formale Bestimmung nicht mehr möglich, insofern das Narrativ eine inhaltliche Füllung impliziert, nämlich die unter dem Stichwort der Vorsehung im Modus der Hoffnung und Dankbarkeit formulierte Möglichkeit, dass eine Performanzerfahrung gelingen kann. Dass es Ritschl um den Bezug auf die Lebenserfahrungen geht, zeigt sich auch daran, dass in der vierten Auflage die „religiöse Vollkommenheit“ durch „religiöses Leben“ ersetzt wird.432 Die formale Strukturbestimmung des Vollzugs ist sowohl durch die den Vollzug bestimmenden Narrative geprägt als auch durch die momentane situative Verfasstheit des Individuums, das in diesem Vollzug steht. Über Ritschl hinausgehend muss man sicherlich konstatieren, dass die den Vollzug prägenden Narrative andere als die des Reiches Gottes sein können. Ritschl gewinnt jedoch mit der Verengung auf das Narrativ des Reiches Gottes, dem sich alle anderen narrativen Bestimmungen zuordnen, die Möglichkeit, dieses komplexe Verhältnis für konkrete Situationen durchzuspielen und exemplarisch die Konsequenzen einer solchen Theoriebildung zu zeigen.
430 Ritschl, RuV 2III 580; 3III, 616 (kursiv durch KO). Glaube an ist in dem Zitat nicht mit einer fides quae zu verwechseln. Dieses würde auch Ritschls Überlegungen zum „Fides implicita“ und dem Köhlerglauben widersprechen (vgl. Ritschl, FI, bes. 95–97). 431 Denn Ritschl betont, die „väterliche Vorsehung“ sei „im Allgemeinen“ der Begriff (Ritschl, RuV 3III, 583) oder auch sie sei die „die christliche Weltanschauung in verkürzter Gestalt“ (Ritschl, UcR, §60, 82,). 432 Ritschl, RuV 4III, 616.
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Ritschl kann nun zwei qualitativ unterschiedliche Bewertungen von momentanen situativen Verfasstheiten treffen, die dementsprechend Einfluss auf die Art und Weise haben, wie die Dynamik zwischen Situativität und Narrativ interpretiert wird. Das sind zunächst diejenigen situativen Verfasstheiten, die als positiv beurteilt werden und für die Ritschl dem Narrativ des Reiches Gottes eine korrigierende Funktion zuschreibt: „Allein nicht minder deutlich beleuchtet der Vorsehungsglaube die Erfahrungen von Wohlsein oder Glück als Gaben Gottes, welche unsere Dankbarkeit gegen ihn und die Reinigung und Mäßigung unseres Selbstgefühls erfordern.“433 Ritschl nimmt also an, dass es bestimmte situative Verfasstheiten geben könne, in denen eine religiöse Erfahrung keine vollständige Transformation dieser Verfasstheiten bedeute, sondern eher einen abgemilderten Umgang mit diesen. Wesentlich komplexer stellt sich der Zusammenhang jedoch dort dar, wo momentane situative Verfasstheiten und Narrativ scheinbar nur schwer oder gar nicht miteinander zu korrelieren sind. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn mit belastenden Lebenserfahrungen umgegangen werden muss: „Es gibt keine andere Art, sich von seiner Versöhnung mit Gott durch Christus zu überführen, als daß man die Versöhnung erlebt in dem activen Vertrauen auf Gottes Vorsehung, in der geduldigen Ergebung in die von Gott verhängten Leiden als die Mittel der Erprobung und Läuterung, in dem demüthigen Lauschen auf den Zusammenhang seiner Fügung unseres Schicksals, in dem Muthe der Unabhängigkeit von den menschlichen Vorurtheilen, gerade auch sofern sie die Religion regeln sollen, endlich in dem täglichen Gebete um die Sündenvergebung unter der Bedingung, daß man durch die Uebung der Versöhnlichkeit seine Stellung in der Gemeinde Gottes bewährt.“434
Ritschl präzisiert hier die Darstellungsmodi der jeweiligen performances für die Verarbeitung von im weitesten Sinne krisenhaften Erfahrungen (Leiden, Schicksal, Vorurteile). 435 Er nimmt an, dass sich in diesen Erfahrungen ein Narrativ wie die Versöhnung nicht sofort als evident erweisen werde, sondern es verschiedener abwartender „Strategien“ bedürfe (Ergebung, Lauschen, Mut, Gebet), um überhaupt erst auf die Möglichkeit aufmerksam zu werden, dass
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Ritschl, UcR, §59, 82. Ritschl, RuV 3III, 616f. [Hervorhebungen KO]. Diese Emphase auf Vorsehungsglaube und, daraus folgend, Demut, Geduld und Gebet, findet sich auch in UcR wieder (Ritschl, UcR, §§60ff., 82–87,), allerdings mit der wiederum zu beobachtenden Verschiebung, dass das Gebet aus dem dritten Teil „Der Lehre vom christlichen Leben“ in den späteren Auflagen in den vierten Teil „Die Lehre von der gemeinschaftlichen Gottesverehrung“ (§§78f.) verschoben wird. 435 In einer anderen Formulierung: „1) Die religiöse Herrschaft über die Welt, welche die directe Bestimmung der Versöhnung mit Gott durch Christus bildet, wird durch den Glauben an die liebevolle Vorsehung Gottes, durch die Tugenden der Demuth und der Geduld, endlich durch das Gebet ausgeübt, und durch dieses auch zu gemeinschaftlicher Erscheinung gebracht“ (Ritschl, RuV 3III, 634). 434
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Versöhnung geschehen könne.436 Erst mit dem Gebet wird von Ritschl auf eine stärker aktive Haltung abgezielt, welche die Notwendigkeit der Beziehung von Situativität und Narrativ („Sündenvergebung“) explizit zur Sprache bringt. Das kulminiert darin, dass Ritschl die Grundhaltung des Vorsehungsglaubens als „actives Vertrauen“ bestimmt. Der Vorsehungsglaube, in diesem Sinne als „actives Vertrauen“ verstanden, ist eine Deuteoption Ritschls, die als Zielperspektive eher das Potential religiösen Lebens als dessen wirkliche Realisierung benennt. Diese auch für heutige Diskurse produktive Betrachtung der von Ritschl vorgeschlagenen Verarbeitungsstrategien wird nichtsdestotrotz durch die von ihm gewählten Formulierungen unterminiert: Denn Ritschl schreibt stark normativ („es gibt keine andere Art“) und unter der bereits problematisierten Semantik des Erfolgs („daß man sich überführt/bewährt“), so als könne ein Automatismus angenommen werden, der performante Erfahrung in der Durchführung („Übung“) der performance garantieren würde. Zusätzlich können bestimmte Formulierungen als inhaltlich determinierend und dadurch problematisch verstanden werden: Z. B. dort, wo Ritschl nicht nur die Art des Bezuges auf das Narrativ beschreibt („geduldige Ergebung“), sondern auch schon eine einseitige Deutung vornimmt („die von Gott verhängten Leiden als die Mittel der Erprobung und Läuterung“), die andere Deutungsmöglichkeiten im Rahmen einer Performanzerfahrung negieren kann. Als bleibende Fragestellung kristallisiert sich aus dieser Analyse heraus, inwieweit durch die sprachliche wie konzeptuelle Gestaltung eine Normativität in die theologische Reflexion und religiöse Verkündigung eingeführt wird, die besonders dort problematisch 436
Dies ist bei Ritschl jedoch nicht mit einer Form von weltabgewandtem Stoizismus zu verwechseln: „Hieraus [aus der Beurteilung der Welt durch den Vorsehungsglauben, KO] entspringt diejenige Art von Zuversicht, welche in allen ihren Abstufungen ebensoweit von der aufreibenden Sorge entfernt ist, die aus unserer Stellung zur Übermacht der Natur hervorgehen dürfte, wie von der stumpfen Gleichgültigkeit oder dreisten Sorglosigkeit, wie von der stoischen Unerschütterlichkeit, weil dieses alles kein Ausdruck der stetigen geistigen Freiheit sein würde. […] Insbesondere bietet der Vorsehungsglaube den Maßstab dafür dar, daß man den ersten Eindruck der Übel als Freiheitshemmung oder als Verdammungsstrafen [zweite und dritte Auflage: „göttliche Strafen“] in ihre Deutung als Güter oder als Erziehungs- und Prüfungsmittel umsetzt“ (Ritschl, UcR, §60, 82). Im Rahmen der für den Resilienz-Diskurs angeregten Distinktion von Richter zwischen „Aushalten“ und „Gestalten“ kann zudem Folgendes weiterführend aufgenommen werden: Ritschl benennt mit Demut und Geduld zwei Strategien, die das „Gestalten“ von momentaner situativer Verfasstheit im „Aushalten“ verorten. Auch angesichts der Erwartungshaltung, ein Narrativ auf die eigene Verfasstheit beziehen zu wollen, kann die Strategie darin liegen, nicht sofort in blinden Aktionismus zu verfallen, sondern vielmehr eine Form von abwartender Haltung einzunehmen. In dieser kann sich ein Narrativ z. B. im Nachdenken über Erfahrungen, im sich Einlassen auf verschieden narrative Entfaltungen und Veränderungen etc. als evident erweisen (Vgl. Cornelia Richter, Ohnmacht, Angst und Sorge – Klinische Belastungen aushalten, in: Manfred Nock u. a. (Hrsg.): Hauptsache gesund (?) Übergänge in der Medizin. Ein medizinethisches Symposium, Jena/Frankfurt a. M. 2016, 31–41, bes. 37.
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werden kann, wo es um als leidvoll und lebenshinderlich erfahrene Situationen menschlichen Lebens geht. Der Umgang mit der Fülle der Lebenserfahrung kann in gemeinschaftlichen Praxen narrativ einseitig durch normierende Setzungen, Semantiken des Gelingens oder vorschnelle Deutungsmuster unterlaufen werden. Das verweist wiederum auf die Notwendigkeit, die Dynamik zwischen kollektiver und individueller momentaner situativer Verfasstheit noch präziser zu bearbeiten als Ritschl das unternimmt. Der Gewinn der Ritschl’schen Überlegungen zu Demut, Geduld und Gebet besteht darin, konkrete religiöse Praxen und deren situativen Bezugnahmen auf das a-funktional konnotierte Narrativ des Reiches Gottes exemplarisch im Rahmen seiner Theoriebildung untersuchen zu können und diese für die religiöse Verkündigung im gemeindlichen Kontexte anschlussfähig zu machen.
4. Zwischenfazit: Vom Narrativ des Reiches Gottes zur performanten Praxis der Demut 4. Zwischenfazit
Im Durchgang durch Gotteslehre, Christologie und Anthropologie konnte mit Ritschl exemplarisch gezeigt werden, wie eine theologische Reflexion in funktionaler Perspektive durchgeführt werden kann. Der besondere Gewinn der Betrachtung der Position der Ritschl’schen Theologie liegt darin, so die Herangehensweise dieser Relecture, dass Ritschl nicht bei den Formalbestimmungen bleibt, sondern diese für die Theologie im Durchdenken der Materialdogmatik selbst situativ werden lässt. Das zeigt diejenigen Punkte auf, in denen schon die Ritschl’schen Transformationen weiterführend sind, verweist aber vor allem darauf, dass Ritschl über die Ausrichtung der theologischen Reflexion auf Situativitäten zwar schon an existenzphilosophische Überlegungen anschlussfähig wäre, diese aber mit dem ihm zur Verfügung stehenden Instrumentarium in ihrer Abgründigkeit noch nicht vollständig durchdringen konnte. In der hier vorliegenden Relecture wurde das als eine Dynamik des funktionalen Bezuges auf A-Funktionalität in einer bestimmten momentanen situativen Verfasstheit entschlüsselt. In der Erfahrung der Gemeinde wie derjenigen des Individuums sind diese drei Aspekte derart dynamisch aufeinander bezogen, dass eine Differenzierung nur im Rahmen von Theoriebildung geschehen kann. Um diese Dynamik erfassen zu können, wurde auf narrativitätstheoretische Methoden zurückgegriffen, die es erlauben, das Reich Gottes bei Ritschl als ein Narrativ für Gemeinde zu verstehen, in dem sich die A-Funktionalität des Gottesgedankens funktional vermitteln lässt. Im Folgenden werden deswegen zuerst die aus Ritschl gewonnen Einsichten zu Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität als Kategorien der theologischen Reflexion dargestellt und anschließend die bleibende Problemstellung fokussiert, die sich daraus ergibt, dass Ritschl
4. Zwischenfazit
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den Zusammenhang von kollektiver und individueller momentaner situativer Verfasstheit nur andenkt. 4.1. Funktionalität und Gemeinde Das weist auf die grundlegende Strukturentscheidung der Ritschl’schen Theologie zurück: Denn für die Bestimmung der Funktionalität bei Ritschl lässt sich festhalten, dass es die Gemeinde als kollektive Größe ist, über die er die Wirkung in die theologische Reflexion einführt. Die Gemeinde ist der Startpunkt theologischer Überlegungen, mit dem eine imaginierte Perspektive der Funktionalität eingenommen werden kann. In diesem Sinne kann die Art und Weise, wie Ritschl die Gemeinde entfaltet, ebenfalls als ein Narrativ verstanden werden: Das Narrativ der Gemeinde erfüllt für die theologische Theoriebildung die Funktion, auf die Notwendigkeit der Einbeziehung funktionaler Kategorien aufmerksam zu machen. Dass das geschehen kann und dass es bei Ritschl explizit thematisch wird, liegt – auch im Selbstverständnis Ritschls – daran, dass die Funktion der Gemeinde in ihrer momentanen situativen Verfasstheit als Kirche im 19. Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich ist. Ritschl aufgreifend kann das für die institutionalisierten Formen von Kollektiven bedeuten, dass sie den Verlust von Selbstverständlichkeiten und Irritationen ihres Selbstverständnisses als produktive Marker für solche Überprüfungsvorgänge setzen können: Der Verlust von Selbstverständlichkeiten ermöglicht es, in Frage zu stellen, inwieweit und in welchen Kontexten bestimmte, bisher unhinterfragte Narrative noch weiter kolportiert werden sollten oder dringend notwendiger Umformulierungen bedürfen. Für die Postmoderne beschreiben Adrian Hermann und Stephanie Gripentrog dieses als die Notwendigkeit, sich gerade in pluralen Ausdifferenzierungen einer kollektiven Identität versichern zu können, also der Wunsch nach einem einheitlichen Narrativ.437 Dieses einheitsstiftende Narrativ ist bei Ritschl das Reich Gottes. Die Pointe liegt nun darin, dass dieses Narrativ über den Bezug auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens nicht auf eine Funktion für die Gemeinde reduziert werden kann, die über eine allgemeine strukturelle und notwendig vage Bestimmung hinausgeht. Ritschl sieht es durchaus als Tragik, dass in bestimmten Gestalten der Kirche, nämlich den pietistischen, die Identität als „Gemeinde“ auf einzelne Funktionsbestimmungen reduziert werde, mit denen der Bezug auf die A-Funktionalität gerade nicht offen gehalten werde. Das ist für Ritschl umso 437 Vgl. Hermann/Gripentrog, Religiöse Kollektive, 224. Die narratologische Perspektive, im Anschluss an Laclau, bietet dabei den Vorteil, über die „narrative Herstellung von kollektiven Identitäten“, auch zu einem „prozessualen Verständnis“ von Religion zu gelangen, das kollektive Größen nicht nur als soziale Artefakte betrachtet, sondern darauf aufmerksam macht, dass diese einen Einfluss auf die Lebensweise und Entscheidungsfindung haben – besonders dann, wenn sie narrativ aufgerufen werden (Hermann/Gripentrog, Religiöse Kollektive, 224).
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eindrücklicher, als dass er den Pietismus eigentlich als diejenige kirchliche Strömung versteht, die genau richtig erkannt habe, dass die Ausrichtung auf das Reich Gottes das ganze Leben so bestimmen könne, dass sich eigene Leben situativ in jeder Lebenserfahrung auf dieses Narrativ beziehen könne. Man kann Ritschls Kritik am Pietismus so interpretieren, dass im Pietismus diese Dynamik auf die Kongruenz von einem einzigen Narrativ mit bloß einer Situativität dogmatistisch verengt werde. Die mit Ritschl zu Recht problematisierende Logik dahinter ist, dass es ein Narrativ geben könnte, das in einer bestimmten situativen Verfasstheit in Anspruch genommen werden kann und dessen Funktion im Sinne eines input-output-Denkens dann auch garantiert werden könne. Auch wenn die Diskurse sich seit Ritschls Zeit grundlegend gewandelt haben, lässt sich sein Bemühen nach der Verbindung von Reich Gottes und kollektiver Identität der Gemeinde als das Bemühen um ein Nachvollziehen der funktionalen Bezugnahme auf A-Funktionalität verstehen. Die Identitätsbildung der Gemeinde als explizite Rede wie als enacted narrative des Reiches Gottes kann bei Ritschl in zwei Kontexten verortet werden, die zunächst konträr erscheinen: Nämlich erstens in der Gemeinschaft der gottesdienstlichen Verkündigung und besonders in den Sakramenten als dem Alltag enthobene Vollzüge, zweitens hingegen in genau jenem Alltag, in dem das Reich Gottes ganz unspektakulär gelebt wird, nämlich im „Beruf“ des Einzelnen.438 Ritschls Gebrauch des Reiches Gottes kann zudem so verstanden werden, dass es exemplarisch dasjenige Narrativ bildet, in dem sowohl der Verweis auf die situative funktionale Einbettung als auch die diese Situativität immer schon transzendierende A-Funktionalität des Gottesgedankens integriert sind. Damit ist eine Dynamik zwischen der Funktionalität von Narrativen und einer sich daraus ergebenden funktionalen Ausrichtung der Theologie und der aus theologischen Gründen gleichzeitig notwendigen Aufrechterhaltung der prinzipiellen A-Funktionalität des Gottesgedankens eingeführt, die nun weder auf ihre Funktion hin reduziert noch nicht-funktional werden kann. Die Problemstellung ist von höchster Relevanz für die gegenwärtige Dogmatik, weil einerseits auch in der funktionalen Logik für die Identitätsbildung der Gemeinde gewahrt bleiben muss, dass der Gottesgedanke a-funktional gedacht wird: Ein rein funktionaler Gottesgedanke könnte keine spezifische Form eines Narrativs für die Gemeinde in ihrer Identitätskonstruktion bieten, das nicht ebenso gut durch ein anderes Narrativ ersetzt werden könnte. Der Gottesgedanke kann deswegen gleichzeitig als das für die Gemeinde funktional absolute Narrativ und als das 438
„Also Kirche sind die an Christus Glaubenden, sofern sie im Gebete ihren Glauben an Gott den Vater [...] darstellen. Reich Gottes sind die an Christus Glaubenden, sofern sie [...] die in allen möglichen Abstufungen bis zur Grenze der menschlichen Gattung sich ausbreitende Gemeinschaft der sittlichen Gesinnung und der sittlichen Güter hervorbringen“ (Ritschl, RuV 3III, 271).
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Narrativ von der konstitutiven Nicht-Absolutheit aller Narrative verstanden werden. Ritschls Kritik am Gebrauch des Zornes Gottes kann so interpretiert werden, dass der Gottesgedanke als ein solches „absolutes“ Narrativ so wenig konkret wie möglich bleiben müsse, um nicht doch in einem – anders konnotierten – konkreten Narrativ aufzugehen und so die potentielle Vielfalt der Narrative und Narrationen, in dem sich Aneignungsprozesse vollziehen können, zu negieren. Andererseits gilt unter funktionalen Gesichtspunkten, dass das absolute Narrativ „Gott“ in der Gemeinde neu in vielfältigen nicht-absoluten Formen (Gestaltungen und Narrativen) situativ zum Ausdruck gebracht wird. Wenn „Gott“ ob der prinzipiellen Absolutheit des Narrativs nicht mit einem einzigen konkreten Narrativ identifiziert werden kann, dann müssen zwangsläufig in verschiedenen situativen Verfasstheiten verschiedene Narrative in Gebrauch genommen werden. Für die funktionale Ingebrauchnahme eines Narrativs können dann situationsangemessene Kriterien gefunden werden, die im oben genannten Sinne auf die Anfragen in den je unterschiedlichen Resonanzräumen reagieren, wie z. B.: Inklusivität, logische Kohärenz, inter- und transdisziplinäre Übersetzbarkeit, im weitesten Sinne seelsorgerliche Funktionen, liturgische Angemessenheit u. v. m. 4.2. A-Funktionalität und Gottesgedanke In Aufnahme von Ritschls Metaphysikkritik kann die folgende These formuliert werden: Kein konkretes Narrativ kann – mit historischer Kritik und aus hermeneutischer Vorsicht – als derart „absolut“ gedacht werden, wie es für den Gottesgedanken und den christologischen Anspruch, dass Gott sich in Christus erweist, gilt. Sobald Gott als Gott gedacht wird und Christus als Christus, ist damit ein Absolutheitsanspruch verbunden, der, wenn er situativ in ein Narrativ übergeht, immer schon gebrochen ist und sich als „gesetzt als nicht-gesetzt“ darstellt.439 In diesem Sinne ist die notwendige A-Funktionalität des Gottesgedankens eine Grundbedingung, welche die funktionalen Überlegungen perspektiviert: Jede in den Gottesgedanken selbst eingezogene Funktionalisierung würde diesen gerade nicht mehr als „Gott“ denken, sondern in der jeweils situativen und kontingenten Reduktion auf die Funktion verenden lassen. Mit Ritschls Darstellung der Kanonbildung als einer Form von situativem Transformationsprozess des Narrativs des Reiches Gottes kann dieselbe Struktur auch für die Dynamik zwischen Aneignung und situativer Entfaltung weiterführend benannt werden. Auch diese kann, im Idealfall, nicht anders als mit einem Bewusstsein für die Polyvalenz von Narrativen geschehen. In der Art 439
Vgl. zu diesem Ausdruck: „Das Vorausgesetzte wird als nicht gesetzt gesetzt“ (Falk Wagner, Zur Revolutionierung des christlichen Gottesgedanken. Texte zu einer modernen philosophischen Theologie, aus dem Nachlaß ed. v. Christian Danz/Michael Murrman-Kahl, Tübingen 2014, 145 sowie weiter zu Setzen und Voraussetzen, Wagner, Religiöser Inhalt, bes. 212–214; der auf Hegel, WdL II, 180–184; GW 12, 120–122 zurückgeht).
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und Weise, wie Ritschl die Bezugnahme der Gemeinde auf das Narrativ des Reiches Gottes in der Kanonbildung darstellt, liegt sein Fokus darauf, zu zeigen, wie zwar ein Narrativ als bestimmend für das kollektive Leben und Handeln gesehen wird, jedoch potentiell nicht als einziges Narrativ, sondern nur als das diesmal situativ geeignete. Die grundsätzliche A-Funktionalität des Gottesgedankens sowie des christologischen Narrativs kann mit dieser funktionalen Begründung als Kriterium dafür dienen, keinem materialdogmatischen Gehalt sowie keinem sich daraus ergebenen Narrativ eine solche Absolutheit zuzusprechen. Dieser Aspekt kann auch für eine in Lyotards Sinne postmoderne Theologie nutzbar gemacht werden, die skeptisch gegenüber Meta-Narrativen ist. Denn an Ritschl und vor allen Dingen an seiner Rezeptionsgeschichte zeigt sich, dass das Bedürfnis nach grands récits oder Meta-Narrativen so hoch ist, dass diese immer wieder implizit oder explizit für Theoriebildung in Anspruch genommen werden: 440 Die Kunst bestünde darin, diese Meta-Narrative als solche zu verstehen, welche die Unmöglichkeit ihrer eigenen Verabsolutierung schon in sich angelegt haben. Bei Ritschl kann in einzelnen Verweisen, ein erstes „Unbehagen“ an zu einheitlichen Meta-Narrativen oder grand récits vermutet werden, das sich durch die Auseinandersetzung mit der beginnenden pluralen Ausdifferenzierung der Gesellschaft ergibt.441 Die Korrektivfunktion, die aufgrund der A-Funktionalität des Gottesgedankens gefordert ist, kann in materialdogmatischen Entfaltungen z. B. darüber profiliert werden, dass die materialdogmatisch grundierten Narrative mit ihrem situativen Ursprung in biblischen Narrationen kontrastiert werden: Das ist der Gewinn der Polyvalenz der Narrative und ihrer Ursprungsnarrationen in Schrift und Tradition. Unabhängig davon, welches Narrativ wann funktional wird, bieten Schrift und Tradition allein durch das Nebeneinander der Narrative schon die Möglichkeit, die Narrative als Narrative offen zu legen und sie durch das vielfältige Angebot von Alternativnarrativen zu relativieren: Wenn es immer schon eine Vielfalt gibt, ist kein Narrativ allgemeingültig. Dort, wo sich ein Narrativ so als einzig mögliches setzt, dass es diesen Entstehungskontext als für sich gesetzten negiert, kann genau dieser situative Entstehungskontext selbst als Korrektiv dienen. Für das Christentum beansprucht dabei ein Narrativ diesen Zusammenhang selbst zu thematisieren: Nämlich das Narrativ von Jesus Christus, in dem die Vielzahl der Narrative konkret wird und als ein konkreter Aneignungsprozess
440 Das verdeutlicht nicht zuletzt die Inanspruchnahme der Kategorie der Einheit auch in aktuellen ekklesiologischen Überlegungen (vgl. dazu: Reiner Preul, Identität und Einheit im Gottesdienst, in: Gräb-Schmidt/Preul, Gottesdienst, 114–121). 441 Dass Ritschl kritisch gegenüber solchen Formationen ist, die als Meta-Narrative betrachtet werden können, zeigt sich z. B. in seiner Ablehnung von einheitlichen Welterklärungen, selbst wenn diese vom Begriff Gottes aus unternommen werden (vgl. Ritschl, RuV 3 III, 25).
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des Narrativs erzählt werden kann. Ritschl kann die Christologie als das Narrativ profilieren, in und mit dem dezidiert von a-funktionaler Funktionalität in situativer Verfasstheit erzählt werden kann. Daran anschließend kann Ritschl so interpretiert werden, dass das christologische Narrativ damit selbst wieder a-funktional funktional werden kann und eben nicht im Sinne einer ethischen Vorbildfunktion auf diese Funktion hin reduziert wird. Der funktional werdende Bezug auf die A-Funktionalität spiegelt sich in der Kreuzeserzählung so, dass das christologische Narrativ damit in sich ein kritisches Potential gegen Verabsolutierungs- und Instrumentalisierungsansprüche enthält. An entsprechender Stelle wurde schon festgestellt, dass dieser Zusammenhang bei Ritschl performanztheoretisch verstanden werden kann, wie er in dem Ausruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mk 15,34 und Mt 27,46) kulminiert. Der Ausruf geschieht hoch situativ, transzendiert im Ausrufen selbst jedoch diese Situativität, indem Jesus in Anspruch nimmt, dass auch dieser Moment nicht der Inanspruchnahme des Gottesgedankens entzogen ist. Insofern die Evangelien von Leben und Sterben Jesu Christi erzählen und eben nicht nur die Passion oder nur die Auferstehung, können sie mit Ritschl als eine Erzählung von fragmentarischem Leben in der Fülle der Situativitäten interpretiert werden. Wenn sich die Gemeinde als kollektive Identität auf diese Erzählung fragmentarischen Lebens bezieht, kann sie ihre eigene Erfahrung von Fragmentarität in der Fülle der Lebenserfahrung gespiegelt finden und zu einem produktiven Umgang mit dieser gelangen. Das – auf den ersten Blick – nicht-funktional erscheinende Narrativ vom Sterben Jesu ist für die Gemeinde, so kann Ritschls Argument in der Christologie verstanden werden, so funktional geworden, dass es ihr in ihrem Entstehen wie in ihrer Entwicklung gemeinschaftsbildend werden konnte. 442 Die Pointe liegt darin, dass die Gemeinde dieses Narrativ als ein solches erzählt, das zugemutet wurde und zugemutet werden konnte; das ausgehalten werden musste und ausgehalten werden konnte. In dieser Erzählung konstruiert die Gemeinde ihre Identität als eine, die sich nur aus dieser Zumutung ergibt, und gleichzeitig durch ihre fortführende Existenz anzeigt, dass diese Zumutung ausgehalten werden kann. 4.3. Situativität und Dogmatik Es zeigte sich bereits, dass die Situativität in den Überlegungen zur Dynamik von Funktionalität und A-Funktionaliät immer schon hintergründig mitlief: Auch ein auf A-Funktionalität bezogenes Narrativ wird in momentaner situativer Verfasstheit und nicht allgemein wirksam. Bei Ritschl zeigt sich implizit, dass die Frage nach der Funktion der Narrative immer schon die Frage nach Narrativen für, in und aus einer bestimmten Situativität ist. Die Gemeinde kann 442
Wenn die Sakramente in diesem Sinne Sinnbild fragmentarischer Identitätskonstruktion der Gemeinde sind, dann ist es – mit Ritschl – absurd, dass sich ausgerechnet an ihnen die Kirchenspaltungen festmachen (vgl. Ritschl, UcR, §90, 123).
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nicht anders als in ihrer momentanen situativen Verfasstheit als Kirche (oder Urchristentum) wahrgenommen werden. Sie geht jedoch nicht in dieser Situativität auf, weil sie grundlegend durch den Bezug auf die A-Funktionalität gekennzeichnet ist. Das erfordert es einerseits, beide Aspekte sowie deren wechselseitige Dynamik in jedes Moment theologischer Reflexion mit einzubeziehen und andererseits nicht nur strukturell diese Wechselwirkung zu bestimmen, sondern ebenso auch die Situativitäten in ihrem je eigenen Kontext zu analysieren. Zunächst wird jedoch die Interpretation von Ritschls theologischem Vorgehen aufgegriffen, die seinen Umgang mit der Materialdogmatik als situativ versteht: Dogmatische Gehalte, die in Resonanzräumen narrativ werden, sind in Glaubens- und Lebenspraxen immer funktional. Die theologische Reflexion der Materialdogmatik ist selbst ein Resonanzraum, in dem die christlichen Narrative funktional werden können, indem sie in ihrer Funktionalität erschlossen werden. Deswegen ist eine Form von Selbstreflexivität, die Narrative des christlichen Glaubens und ihre eigene akademische Reflexionstradition hinterfragt, für die Theologie zwingend notwendig. Wenn theologische Konzepte nicht höchst abstrakt bleiben sollen, dann werden sie zwangsläufig mit Narrativen operieren: Nämlich mindestens mit denjenigen, die ihnen durch die Tradition und die gelebte Glaubenspraxis vorgeben und die ebenso funktional und situativ gebunden sind. In der Reflexion dieser Narrative müssen diese Situativitäten und Funktionalitäten wiederum offengelegt und hinterfragt werden.443 An dieser Stelle kann auf die Problemstellung verwiesen werden, die immer wieder in der Analyse der Ritschl’schen Theologie auftaucht und die hier profiliert wird: Ritschl entwirft seine Theologie so vom Standpunkt der Gemeinde aus, dass er die Gemeinde als ein Subjekt versteht und fokussiert dementsprechend darauf, wie eine kollektive Größe sich in ihrer situativen Verfasstheit funktional auf a-funktionale Narrative bezieht. Ritschl denkt nun verschiedene Punkte zwar an, die sich auf die kontextuelle Einbettung der momentanen situativen Verfasstheit beziehen, führt diese jedoch nicht vollständig aus: Das ist zunächst die Einbettung der Situativität der Gemeinde in ihren Kontext, der eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit innerhalb der Theologie erfordert, wie sich z. B. in der Auseinandersetzung Ritschls mit Weiß um den Gebrauch des Neuen Testaments in der Systematik zeigt. Ebenso kann daraus auch eine über die Theologie hinausgehende interdisziplinäre Verständigung schon in der systematisch-theologischen 443 Bei Ritschl ist das bestimmende Narrativ der Reflexion damit die Gemeinde. Denn die Kirche als eine solche Figur kann die Theologie ausschließlich auf die Reflexion der historischen Gestalt und ihrer Eingebundenheit in konkrete Situationen zurückführen und damit entweder kirchliche Apologetik oder reine Kulturtheorie werden. Das Reich Gottes als eine solche Reflexionsfigur der Theologie kann demgegenüber die funktionale und situative Dimension in den Hintergrund drängen, sodass Theologie entweder spekulativ bleibt oder rein biblisch wird.
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und nicht erst in der praktisch-theologischen Reflexion nahegelegt werden, besonders mit jenen Fächern, welche die Expertise für Situationsanalysen haben, also mindestens mit den Kulturwissenschaften, mit den soziologischen Fächern, mit Rechts- und Wirtschaftwissenschaften sowie mit Psychologie und Medizin. Die Notwendigkeit dafür wurde an Ritschls eigenem Vorgehen gezeigt: Ritschls materialdogmatische Ausführungen, welche Narrative aus funktionaler Perspektive zu fördern seien, sind zeitgeschichtlich höchst normativ geprägt, ohne dass er dies selbst jeweils analysiert hätte bzw. ob der zwangsläufigen Standortgebundenheit hätte analysieren können – ein Problem, das selbstverständlich über Ritschl hinaus für jede Dogmatik gilt. Darüber hinaus denkt Ritschl derart von einer kollektiven momentanen situativen Verfasstheit her, dass die individuelle momentane situative Verfasstheit sowie die Dynamiken zwischen beiden nur sporadisch thematisch werden. Das zeigt sich an einem Punkt besonders herausragend: Ritschl startet seine theologischen Überlegungen in RuV I mit der Darstellung der Gemeinde in ihrer kollektiven situativen Verfasstheit in theologiegeschichtlicher Perspektive. Ritschl endet in RuV III in der Anthropologie, für die er durchdenkt, wie sich die Bezugnahme auf die a-funktionalen Narrative in dogmatischer Tradition aus der Perspektive der individuellen situativen Verfasstheit darstellt. Bei Ritschl sind mit der kollektiven und der individuellen Situativität der Ausgangspunkt und die Zielperspektive seiner Theologie markiert. Diese doppelt konzipierte Struktur zeichnet auch schon die eigentümliche Beobachtung vor, dass Ritschl RuV und UcR unterschiedlich enden lässt: In RuV III liegt der Fokus auf dem Handeln des Individuums in seinem alltäglichen Leben; im UcR hingegen auf den Sakramenten als Kulminationspunkt des außeralltäglichen Gottesdienstes. Der Gottesdienst ist für Ritschl der Ort, an dem das abstrakte Narrativ des Reiches Gottes konkret wird und sich situativ so sichtbar darstellt, dass sich ihm Menschen zuordnen können.444 Damit ist bei Ritschl implizit eine normative Vorordnung der Situativität vor den religiösen Narrativen wie den dogmatischen loci gegeben, welche ihm die Umformung traditioneller dogmatischer loci so ermöglicht, dass mit ihnen auf momentane, zeitgeschichtliche Notwendigkeiten reagiert werden kann. Ritschl legt an die einzelnen materialdogmatisch grundierten Narrative das Kriterium von gelingender situativer Vermittelbarkeit an und trifft darauf aufbauend eine Entscheidung darüber, ob sie für religiöse Kommunikationszusammenhänge bleibend sinnvoll sind oder nicht, ohne jedoch immer vollständig die kontextuelle Einbettung dieser Narrative zu bedenken
444 Ritschl führt das im UcR in den schließenden Paragraphen zu Taufe und Abendmahl aus (vgl. Ritschl, UcR, §§89f., 121–123).
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sowie ihre individuelle Ausprägung im Gegenüber zur Situativität der Gemeinde wahrzunehmen. Das hängt auch damit zusammen, dass Ritschl die Bildung von Identität in der Zielperspektive noch als Vollkommenheit und Einheitlichkeit denkt. Heute muss spätestens mit der durch H. Luther in den 1990ern eingeführten explizit theologischen Kritik an diesem Paradigma für aktuelle Kontexte diese Identität als fragmentarisch und fluid gedacht werden. 445 Als Problemstellung der in ihren Konnotationen schnell missverständlichen Figur der christlichen Vollkommenheit bei Ritschl bleibt, wie eine religiöse Verkündigung aussehen kann, die einerseits das Bewusstsein für die Zumutung fragmentarischer, sich situativ widersprechender Lebenserfahrungen wahrt und es ermöglicht, diese auszuhalten und die andererseits nicht darin aufgeht, sondern weitergehende Möglichkeiten aufzeigt, eine kohärente Lebenserzählung zur Sprache zu bringen. Die religiöse Verkündigung bleibt auf die theologische Reflexion dieser Zusammenhänge angewiesen, insofern die Möglichkeit einer christlich-religiösen Lebenserzählung an die Verbindung von Funktionalität und notwendiger A-Funktionalität des Gottesgedankens wie des christologischen Narrativs gekoppelt ist. Was funktional werden kann, stellt sich komplexer dar, dann nämlich, wenn z. B. ein zunächst verstörendes Gottesbild ein Individuum derart zum Zweifeln anregt, dass es z. B. dieses Gottesbild hinterfragt und so zu einem vertieften Glaubensverständnis kommen kann. Deswegen können Narrative, die zunächst scheinbar eher abzulehnen sind, als notwendiger Teil zur Bildung einer bewusst fragmentarischen Identität gesehen werden – indem sie immer wieder auf genau diese Brüchigkeit im Narrativ selbst verweisen.446 Idealerweise gelingt es, die Spannung zwischen Kohärenz und Fragmentarität, funktionaler Perspektive und A-Funktionalität auch in den religiösen Narrativen wie dem Narrativ des Reiches Gottes dynamisch aufrecht zu erhalten. Das könnte ebenso dazu beitragen, vorschnelle Moralisierungen zu 445
Vgl. H. Luther, Identität. Für Ritschl sind der „Zorn Gottes“ sowie das Opfer und die Sünde für das 19. Jahrhundert solche pathologischen Narrative. In diesem Sinne ist es auch nicht verwunderlich, dass er seine Bonner Antrittsvorlesung, in der es ihm um die Schnittstelle von Dogmatik (tradierten Narrativen) und Ethik (deren Funktionalität im Lebensbezug) geht, mit den Überlegungen zu „De ira Dei “ anreichert und damit 1856 in Bonn die Hauptperiode seines Schaffens beginnt. Ritschls Schwäche liegt darin, dass er diese Gottesbilder aufgrund der situativen Analyse seiner Zeit aus der religiösen Verkündigung eliminieren möchte, auch wenn er zugesteht, dass dieselben Narrative für andere Situativitäten sehr wohl eine Funktion gehabt haben könnten, wie z. B. der Zorn Gottes für Israel, das sich in lebensfeindlichen Zusammenhängen vorfindet; das Opfer für die Urgemeinde als Umgang mit dem Tod Jesu im Anschluss an die jüdischen Gottesvorstellungen; die Sünde als eine Heuristik für die Unmöglichkeit, das Reich Gottes so wie Christus zu vollziehen. Man kann die Auflagenentwicklung von RuV durchaus als Bewegung lesen, hin von einer Kritik dessen, was Theologie in der Moderne unter funktionalen Kategorien nicht sein kann (De ira Dei, 1859), zu einer vorsichtigen positiven Bestimmung dessen, was sie unter Einbeziehung von A-Funktionalität sein könnte (Fides implicita, 1989). 446
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vermeiden, die sich in einer auf momentane situative Verfasstheiten ausgerichteten Theologie dort ergeben können, wo der Umgang mit den Narrativen nicht nur vorgestellt, sondern präskriptiv wird. Mit einem im 20. Jahrhundert geschärften Blick für autoritative Strukturen und problematische Machtkonstellationen stellt sich an dieser Stelle die Frage nach Normativität und Autorität. 447 Einzelne Individuen gehen mit mehr oder weniger starken autoritativen Vorgaben mit Narrativen um, setzen diese, lehnen sie ab oder stoßen Transformationsprozesse an, besonders natürlich im Gottesdienst oder in ähnlichen Formen öffentlicher, gemeindlicher Versammlung, in denen die Gemeinde sich in ihrer Gestalt als Kirche konkret darstellt. Dann können Narrative normierend verstanden werden: Es gibt eine (oder mehrere) ideal gedachte Arten und Weisen wie ein Narrativ funktionieren soll. Diese Normativität ist in Praxisbezügen nicht zu vermeiden, insofern Menschen z. B. in seelsorgerlichen Kontexten mit einer Erwartungshaltung an religiöse Narrative herantreten, die für sie eine spezifische Funktion in ihrer existentiellen Situation entfalten sollen. Aus dieser existentiellen Perspektive ist grundlegend zu fragen, wie eine bestimmte, als selbstverständlich hingenommene Annahme über die Funktion eines Narrativs in kollektiven Größen wie der Gemeinde zustande kommt: So ob ein Narrativ idealiter tröstend oder aufrüttelnd wirken sollte, ob es idealiter Kohärenz und Sinn stiften oder Gewissheiten erschüttern sollte u. s. w. Über Ritschl hinausgehend ist es theologisch weiterführend, diese beiden Schlusspunkte zusammenzuführen und als Dynamik von kollektiver und individueller Situativität in funktionaler Bezugnahme auf a-funktionale Narrative weiterzudenken. Ritschls Schlusspunkte in UcR und RuV können dann als zwei Aspekte dieser Dynamik verstanden werden, die als Zielperspektiven einer liberalen Theologie wiederentdeckt werden können: Aus der Perspektive kollektiver Situativität können eher ekklesiologische Bestimmungen vorgenommen werden, aus der Perspektive individueller Situativität Überlegungen zu Frömmigkeitspraxen. Die Frömmigkeitspraxis kann, Ritschl fortführend, mit existenzphilosophischen Überlegungen kombiniert werden, die es ermöglichen sowohl die innere Dynamik von Glaubensvollzügen als auch die inhärente Abgründigkeit existentieller Erfahrung einzubeziehen.
447 Vgl. Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München/Berlin Butler/Athanasiou, Macht.
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2015; vgl. Butler, Haß;
IV. Demut Anschließend an die Relecture Ritschls ist die Demut der zweite Materialbestand der vorliegenden Arbeit, mit dem das Verhältnis von Funktionalität und A-Funktionalität in religiösen Kontexten so profiliert wird, dass der Gewinn der Einbeziehung funktionaler Kategorien für die theologische Theoriebildung gezeigt werden kann. Die folgende Problemstellung kann weiterführend aus Ritschl gewonnen werden: Wie stellt sich die funktionale Aneignung eines auf A-Funktionalität bezogenen Narrativs für das Individuum selbst dar? Ritschl reißt in den Schlusskapiteln von RuV knapp an, wie Demut, Geduld und Gebet als Ausdruck des Vorsehungsglaubens verstanden werden können. Die Ritschl’schen Überlegungen zur Demut dienen deswegen als Scharnierkapitel, das die Relecture und die über Ritschl hinausgehende Bearbeitung der Demut miteinander verbindet und aus denen heraus weiterführende Problemstellungen für die Beschäftigung mit der Demut in funktionalen Kategorien entwickelt werden. Daran schließt ein kurzer Forschungsüberblick über den aktuellen Demutsdiskurs an, für den Anknüpfungspunkte der aus Ritschl gewonnenen Überlegungen gezeigt werden. Die Absicht der vorliegenden Arbeit ist es dabei nicht, das sei hier vorausgeschickt, einen begriffsgeschichtlich oder theologiegeschichtlich erschöpfenden Überblick über die Demut zu geben, da diese Leistung von Eckhard Zemmrich 2006 ausführlich in der Monographie „Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs“ 1 durchgeführt wurde. Die Fragestellung der folgenden Kapitel lautet vielmehr, wie in funktionalen performances der Demut die A-Funktionalität des Gottesgedankens gewahrt bleiben kann und wie diese sich funktional in momentanen situativen Verfasstheiten zeigt.
1. Die Demut bei Ritschl 1. Demut bei Ritschl
Für Ritschl wurde herausgearbeitet, dass der Gewinn seiner Theologie darin liegt, dass er die A-Funktionalität des Gottesgedankens über das Narrativ des Reiches Gottes für die Gemeinde in funktionale Kategorien übertragen kann. Die Bewegung des theologischen Denkens startete dementsprechend bei der 1
Zemmrich, Demut.
1. Demut bei Ritschl
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A-Funktionalität des Gottesgedankens und endete in den je spezifischen Vollzügen der enacted narrative des Reiches Gottes für eine kollektive Größe, nämlich die Gemeinde, in ihrer je konkreten Gestalt als Kirche. Ritschl kann drei Weisen bestimmen, in denen sich das Narrativ des Reiches Gottes und momentane situative Verfasstheit zueinander verhalten: Der stärker das Narrativ fokussierende Bezug in der Demut („Fühlung mit Gott“); der stärker die momentane situative Verfasstheit und ihre Kontexte fokussierende Bezug in der Geduld („Fühlung mit der Welt“) und schließlich der dem Individuum wie der Gemeinde selbstreflexive Ausdruck dieses Zusammenhangs im Gebet. Im Gebet fallen idealtypisch Situativität und Narrativ in der Ingebrauchnahme so in eins, dass sie sowohl selbst performant werden können als auch Ausdruck von Performanz sein können („kundgiebt und befestigt“).2 Das verweist auch auf die unterschiedlichen primären Codierungen von momentanen situativen Verfasstheiten, mit denen ein Narrativ in Wechselwirkung stehen kann und die deswegen unterschiedliche Aspekte dieser Dynamik betonen: In der religiösen Codierung wird die Situativität primär als durch die Vielfalt der Gottesbilder und die Vielfalt der religiösen Narrationen sowie Narrative geprägt wahrgenommen, sodass sich die Erfahrung der Demut als Vollzug des Zusammenfalls von momentaner situativer Verfasstheit und a-funktional konnotiertem Narrativ erweist. In der kulturellen Codierung wird die Situativität primär durch die Vielfalt der teilweise widersprüchlichen Lebenserfahrung in ihren jeweiligen kontextuellen Prägungen wahrgenommen, sodass die Erfahrung der Geduld als Umgang mit der Welt mit einem Bewusstsein für das Reich Gott verstanden wird. In diesem Sinne kann man die Art und Weise, wie Ritschl Demut, Geduld und Gebet versteht, so aufnehmen, dass sie je spezifische, situativ angemessene performances in der Dynamik zwischen Reich Gottes und momentaner situativer Verfasstheit sind. Diese performances können einen Raum für Performanzerfahrungen eröffnen, diese jedoch nicht garantieren.3 Gleichzeitig können sie als sichtbare, und im Falle des Gebetes auch explizite, Vollzüge in gottesdienstlichem wie im alltäglichen Handeln für andere wie für das Individuum selbst repräsentativ werden.4
2
Ritschl, RuV 1III, 580 (kursiv durch KO). Vgl. Ritschl, RuV, 3III, 616. Richmond zeigt die Anschlussfähigkeit an existenzphilosophische Überlegungen auf, denn Demut, Geduld und Gebet seien die Organe, mit denen der Christ „den Strom weltliche Ereignisse, der ihm in seiner alltägliche Existenz begegnet, erfaßt, begreift oder überwindet“ (Richmond, Ritschl, 180). 4 Vgl. Ritschl, UcR, §60, 82; sowie: „[I]n der Erkenntnis aus dem Vorsehungsglauben will sich der Einzelne seiner besonderen Stellung zu dem Ganzen der Welt bemächtigen, in welcher er als Christ selbst den Wert eines ganzen erreicht“ (Ritschl, RuV 3III, 584.) 3
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Demut
1.1. Demut, Geduld und Gebet als religiöse Funktionen In einem ersten Schritt wird zur Erschließung der Demut mit den von Ritschl bereitgestellten Kategorien erarbeitet, was es bedeutet, Demut, Geduld und Gebet als religiöse Funktionen zu verstehen und was die konstitutiven Merkmale dieser religiösen Funktionen sind. Deswegen wird zunächst nicht zwischen Demut und Geduld differenziert, da ihre Struktur als religiöse Funktionen gleichartig ist.5 Ritschl bestimmt „Demut, Geduld und Gebet“ ausdrücklich als „religiöse Functionen“ und fragt dann nach der Funktion dieser Funktionen, die er als „Freude“ als Teil des „Gefühl[s] der Vollkommenheit“ bestimmt.6 Das wirkt auf den ersten Blick so, als ob die religiösen Funktionen rein auf wohlgefällige Emotionen im empirischen Erleben abzielen. In diesem Falle könnte man Ritschl vorwerfen, dass er seine Theologie doch mit dem Versprechen auflädt, dass es eine Garantie im Gelingen religiöser Vollzüge gibt. Die religiösen Funktionen sind jedoch bei Ritschl der Ort, an dem die Zielperspektive, die Freude als positive Glaubenserfahrung, mit der realistischen Anerkennung des Ausbleibens dieser Erfahrungen konfrontiert wird und diese integrieren kann, denn: „Mit dem qualitativen Sinne der christlichen Vollkommenheit steht es nun in keinem Widerspruch, daß man sich der quantitativen Unvollständigkeit und Mangelhaftigkeit auch der Funktionen bewußt bleibt, in denen man die christliche Religion ausübt.“7 Ritschl ist sich durchaus bewusst, dass die Zielperspektive der religiösen Funktionen sich nicht in jedem Lebensvollzug durchsetzen wird, sondern sich situativ besonders in Hindernissen (z. B. Verzögerungsphänomenen) darstellen kann, ohne dass das wiederum die Zielperspektive negiert. 8 In den folgenden Erläuterungen wird ersichtlich, dass
5
Das kann trotz einer sprachlichen Verschiebung in den Auflagen entwickelt werden: In der ersten und zweiten Auflage benutzt Ritschl in den Paragraphen 62–68 von RuV III primär den Begriff der Funktionen, in der dritten Auflage vereinheitlicht er den Gebrauch im gesamten Werk so, dass er auch dort den Tugendbegriff benutzt, wo er vorher von Funktionen gesprochen hat. Da er jedoch ansonsten keine inhaltlichen Änderungen vornimmt, kann der Tugendbegriff in diesen Passagen als analog mit dem Funktionsbegriff verstanden werden. 6 Ritschl, RuV 2III, 605. 7 Ebd. Ritschl führt das in der ersten Auflage von RuV noch dahingehend weiter aus, dass er darin die Differenz zwischen Heidentum und Christentum gegeben sieht, insofern im Heidentum die Zielperspektive der Freude rein auf das individuell-ästhetische Empfinden verlagert wird, das deswegen nur momentan, im Moment der Kultushandlung, besteht, aber keine Möglichkeit einer religiösen Haltung zur Welt über die Erfahrungen im Kultus hinaus bietet (Ritschl, RuV 1III, 578f.). Ritschl verzichtet auf diesen apologetischen Teil, der in der Bewertung des Christentums als allgemeingültige Religion endet, in den späteren Auflagen. 8 „Die Erscheinungen von Sprödigkeit des Vorsehungsglaubens, von Verzögerung der Ergebung in Gottes Fügungen, von momentaner Ungeduld im Leiden, kurz die Erscheinungen von Glaubensschwäche, von Mangel an Freudigkeit sind bekannt“ (Ritschl, RuV 2III, 605f.).
1. Demut bei Ritschl
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Ritschl anerkennt, dass es sich bei den Hindernissen um passive Zustände handelt, die ohne eigenes Zutun auftreten und mit denen man umgehen muss.9 Ritschl argumentiert darauf aufbauend, dass diese scheinbaren Hindernisse nicht das Gegenteil der religiösen Funktionen seien, sondern nur als solche empirisch (in quantitativer Hinsicht) empfunden würden.10 Aus der Zielperspektive der christlichen Vollkommenheit hingegen gehören sie konstitutiv zu dieser: „Sofern also daher auch Hemmungen und Störungen der eigentlichen Functionen des religiösen Lebens sich ergeben, so ist die Wahrnehmung dieser Hindernisse als solcher [...], ein Zeugnis der Unvollkommenheit nur in quantitativer Hinsicht, aber in qualitativer Beziehung selbst eine Erscheinung der religiösen Vollkommenheit“11.
Ritschl bestimmt die religiösen Funktionen also als den Ort, an dem sowohl die Erwartungen an religiöse Glaubensvollzüge als auch das Eintreffen und das Ausbleiben dieser Erwartungen thematisiert werden können, weswegen sie von Zartgefühl begleitet sein müssen, wie Ritschl in einem weiteren Kernzitat ausführt: „Um die Fülle der nächstliegenden Lebenserfahrungen, der speciellsten wie der gemeinsamen, unter dem allgemeinen Glauben an Gottes Vorsehung zu begreifen, giebt es keine anderen Organe, als die Geduld und die Demuth. In ihnen besteht die Vorsicht, welche der Vorsehung Gottes entspricht, oder das religiöse Zartgefühl, welches aus der christlichen Selbstbeurtheilung möglich ist.“12
Die gemeinsame Funktion von Demut und Geduld bei Ritschl kann folgendermaßen interpretiert werden: In Demut und Geduld können momentane situative Verfasstheiten unterschiedlicher Ausprägungen („die Fülle der Lebenserfahrungen, der speciellsten wie der gemeinsamen“) mit einem a-funktionalen Narrativ („Gottes Vorsehung“) für das eigene Leben bedeutsam und begriffen werden. Die Formulierung „begreifen“ kann nun m. E. als eine Art intuitive Evidenz verstanden werden, die sich im Zusammenfall von momentaner situativer Verfasstheit und a-funktionalem Narrativ ergibt. Das verweist auf ein bedeutsames Merkmal der religiösen Funktionen, dem Ritschl sich in einer Art Suchbewegung nähert, nämlich ihre uneindeutige Verortung im Zusammenspiel der facultates. Ritschl insistiert zunächst darauf, 9 Ritschl, RuV 2III, 606. Das gilt, insofern sie „nicht nothwendig Erscheinungen des sündigen Egoismus [sind], sondern Erscheinungen von Versuchung“ (ebd.). 10 Leonhardt beschreibt den Zusammenhang von auf Vollkommenheit gerichteter Zielperspektive und empirischer Unvollkommenheit in einer poetischen Formulierung folgendermaßen: „Nicht darum geht es Ritschl also, dass der Christ, wie in der vorneuzeitlichen Tradition, auf notgedrungen unvollkommene Weise möglichst vollkommen sein soll, sondern umgekehrt darum, dass er unvollkommen sei, dies aber auf vollkommene Weise“ (Leonhardt, Vollkommenheit, 50f., Hervorhebung im Original). 11 Ritschl, RuV 2III, 606. 12 Ritschl, RuV 3III, 592.
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Demut
dass die Demut nicht als rein rationales Vermögen zu verstehen sei, sondern „diese[...] eigenthümlichste[...] Gotteserkenntniß, Weltanschauung und Selbstbeurtheilung, [...] mehr in Gefühlsstimmungen als in Verstandesreflexionen verläuft“13. Ritschl unternimmt im Schlusskapitel von RuV III mehrere Anläufe, in denen er versucht zu bestimmen, wo die religiösen Funktionen zu verorten sind: Neben der affektiven Bestimmung kann er sie gleichzeitig als voluntativ verstehen, nämlich als „bewusste und absichtliche[…] Acte der Ergebung in Gottes Willen und [als] die Stimmung des stetigen Selbstgefühl[s]“14, insofern Demut und Geduld „den Willen motivieren und lenken“15. Wenn die Funktion der religiösen Funktionen die Verarbeitung von situativen Erfahrungen in Bezug auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens ist, dann muss diese Funktion situationsangemessen in Bezug auf die facultates adaptiv und variabel sein. 16 Der Begriff der religiösen Funktionen hat für Ritschl dementsprechend eine integrative Funktion, insofern sie sich selbst und ihr Gegenteil einschließen:17 Der funktionale Bezug auf das a-funktional gedachte Reich Gottes stellt sich aus der Perspektive der individuellen Erfahrung und auf emotionaler Ebene als Widerspruch zwischen der in der Zielperspektive gedachten Freude und den situativ, in jeglichen alltäglichen Lebens- und Glaubensvollzügen geschehenden Hindernissen dar. Ritschl beabsichtigt, mit dem Funktionsbegriff beides zu umfassen und so die Zielperspektive der Freude auslösenden christlichen Vollkommenheit zu erhalten. 1.2. Die Funktionalität der Demut in der Bezugnahme auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens Das bis hierhin Entwickelte gilt allgemein für die religiösen Funktionen bei Ritschl. Im Folgenden soll es jedoch um die Frage nach der je spezifischen Funktion der einzelnen religiösen Funktionen gehen, um in Abgrenzung die Funktion der Demut präziser zu bestimmen. Im Moment des Erlebens, als Aus-
13
Ritschl, RuV 3III, 617 Ritschl, RuV 3III, 616. 15 Ritschl, RuV 3III, 602. 16 Der Vollzug des Reiches Gottes (als Unterordnung unter Gott) ist aber eine sich „allen verschiedenen Lebensmomenten [...] anschmiegende [...] Stimmung“ (Ritschl, RuV 3III, 604). 17 Dieser Punkt, nämlich die Selbstverständlichkeit des Handelns in Demut, kann aber gerade zur Kritik reizen, wie sie Zemmrich formuliert (interessanterweise nicht in Abgrenzung zu Ritschl, sondern in Abgrenzung zu „Augustin, Thomas und Luther“): „Eine solche Regulierungsfunktion [die Reflexion und Akzeptanz der menschlichen Gleichheit, die innerlich ganz selbstverständlich mitläuft, KO] unter dem Begriff der Demut zu befassen, halte ich für problematisch, weil auf diese Weise die Gefahr droht, das Selbstverständliche mit dem Außer-Ordentlichen zu vermengen und dieses letztlich zu nivellieren“ (Zemmrich, Demut, 444). 14
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druck der subjektiven Religion, fällt das, was Ritschl in der Analyse nach Demut und Geduld unterscheidet, dann in eins, wenn die Korrelation von momentaner situativer Verfasstheit und Narrativ für einen bestimmten Kontext evident gegeben ist.18 Die Funktion der Geduld liegt bei Ritschl darin, die momentane situative Verfasstheit, die sich auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens bezieht, im Umgang mit ihren Kontexten zu bewältigen, als „Herrschaft über die Welt“19. Ein solcher Kontext ist für Ritschl primär der politischgesellschaftliche Raum, den er für seine Zeit durch Beschleunigung und Dramatik gekennzeichnet sieht. Demgegenüber setzt Ritschl die Geduld als die Funktion, die dennoch eine „behutsame Beurtheilung der Geschichte der Gegenwart“20 ermöglicht, so dass die eigene situative Verfasstheit nicht in dieser Dramatik aufgehen muss. Der primäre Bezugspunkt der Demut im Unterschied zur Geduld ist bei Ritschl der religiöse und nicht der politische Raum. 21 Die Demut wird von Ritschl explizit als diejenige Funktion bestimmt, die im Rahmen der Verbindung von momentaner situativer Verfasstheit und Narrativ den im Narrativ implizierten a-funktionalen Gottesgedanken fokussiert, „im Gefühl concentrierte[r] Unterordnung unter Gott“ 22. Der situative Bezug auf den Gottesgedanken ist deswegen – wie Ritschl darlegt – dadurch gekennzeichnet, dass es sich um undeutliche Vorstellungen handelt, so „daß die Beziehung der Vorstellung von Gott auf den einzelnen Lebensmoment undeutlich, oscillierend wird. Man kann niemals den bestimmten Lebensmoment so unter die Vorstellung der väterlichen Leitung Gottes subsumieren, daß nicht die unbegreifliche Erhabenheit seiner Weltleitung die Umrisse der Vorstellung schwankend mache“.23
Damit kann mit Ritschl eine Variante entfaltet werden, wie die A-Funktionalität der Glaubensvollzüge verstanden werden kann: Als Spiegelung der narrati-
18
Wie zentral der Gedanke der Demut für Ritschl ist, kann man schon an der sorgfältigen Überarbeitung des Kapitels zur Demut in den Vorlesungen zur Ethik sehen (vgl. Ritschl, VLE, 206–209). 19 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 592f. Die Geduld ist deswegen nicht Apathie, sondern vielmehr Beteiligung am Weltgeschehen, insofern sie die Haltung ist, in der „den dauernden Übeln, welche uns treffen, der Stachel entzogen wird“ (Ritschl, RuV 3III, 592). 20 Ritschl, RuV 3III, 597. 21 Zemmrich beschreibt einen ähnlichen Zusammenhang für die Demut unter dem Begriff der „Hoffnungsdemut“, die sich von anderen Formen der Demut dadurch unterscheide, dass sie „Hoffnung auf bleibende Gemeinschaft“ abbilde, insofern sie immer schon auf ein „überindividuelles Selbstverständnis“ bezogen sei, sodass die Demut eine Voraussetzung gelingender Gemeinschaft sei, indem sie Individualität sowohl bewahrt als auch vor einer Übersteigerung dieser Individualität schützt, die sich in zwischenmenschlichen Begegnungen ereignet (Zemmrich, Demut, 447f.). 22 Ritschl, RuV 3III, 601. 23 Ritschl, VLE, 137.
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ven A-Funktionalität des Gottesgedankens, der über die Aneignung des Narrativs notwendig auch die Glaubensvollzüge prägt. Das kann auch die Bemerkung in RuV erklären, in der Ritschl den „deutlichen Entschluß“24 zur Demut als ihr Gegenteil und als Hinweis auf die „hemmenden Gegenwirkungen in uns selbst“25 benennt – eine rein funktionale Erfahrung von A-Funktionalität wäre ein Paradox. Die paradoxen Formulierungen ergeben sich daraus, dass sich für Ritschl der Glaube als schwer zu entschlüsselndes Wechselspiel von Aktivität und Passivität darstellt, wenn Ritschl von der „absichtslosen Unterordnung unter Gott“ bzw. der „Unterordnung unter Gottes Fügung“26 spricht. Auch die aktiven Elemente der Demut sind über die A-Funktionalität des Gottesgedankens auf Passivität hin ausgerichtet. Die absichtliche Unterordnung unter Gott muss sich als „absichtslos“ oder unter der heteronomen Fügung Gottes stehend verstehen, um die A-Funktionalität des Gottesgedankens nicht in einer Reduktion auf die Funktion zu unterlaufen. Die Demut ist der Ort, an dem sich im Rahmen der Ritschl’schen Theologie eine wesentliche Problemkonstellation in paradoxe Formulierungen gefasst darstellt: Wie kann eine performante Erfahrung, die notwendig auf A-Funktionalität bezogen sein muss, reflexiv greifbar werden? Für die Reflexionsmöglichkeit auf die Demut ist bei Ritschl zunächst der folgende Kernsatz programmatisch: „Die Demut ist das Geheimnis des religiösen Menschen vor sich selbst“.27 Die Demut entziehe sich, laut Ritschl, jeder äußeren Beobachtung ebenso wie auch jeder Selbstbeurteilung, was Ritschl durch die Parallelisierung dieses Gedankenganges mit dem Ausspruch des Pietisten Christian Scrivers illustriert, der die Demut als „Auge, das alles sieht, nur sich selbst nicht“ beschreibt.28 Als Reflexion einer performanten Erfahrung kann die Demut als blind gegen sich selbst verstanden werden, insofern die Korrelation von Narrativ und momentaner situativer Verfasstheit zwar funktional ist, aber dennoch über die Narrative, auf die sie glaubend Bezug nimmt, in unterschiedlichen Graden an die A-Funktionalität des Gottesgedankens gebunden bleibt und sich deswegen nicht vollständig selbst einsichtig wird. Eine Demut, welche sich auf kognitiver Ebene nicht mit der A-Funktionalität ihrer Praxis auseinandersetzt, wäre laut Ritschl „reflektierte[r] Tugendstolz“ oder „reflektierte[r] religiöse[r] Hochmut“.29 Ritschl hat dabei diejenigen gemeinschaftlichen Kontexte vor Augen, in denen christliche Praxen normativen Funktionslogiken unterworfen werden, sodass diese Praxen verzweckt 24
Ritschl, RuV 3III, 600. Ritschl, RuV 3III, 600. 26 Ritschl, RuV 3III, 599. 27 Ritschl, UcR, §61, 84. 28 Ritschl, UcR, §61, 85; bei Christian Scriver, Die demüthige Seele, in: Ders.: Seelenschatz, Leipzig 1715, 715–749, §26, 725, als Teil einer Liste von Vergleichspunkten für die Demut. 29 UcR, §61 b), 85. 25
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und instrumentalisiert werden können:30 Der „Eifer [...] zeremonialgesetzliche Formen der Demut anderen aufzudrängen oder mit Gewalt durchzusetzen, ist der Fanatismus“. 31 In den folgenden Ausführungen wird ersichtlich, dass Ritschl sich besonders von denjenigen gemeinschaftlichen Kontexten distanziert, in denen bestimmte Glaubensvollzüge funktional als Ermöglichungs- oder Ausschlusskriterium von Performanzerfahrung gesetzt werden: Ritschl kann so verstanden werden, dass seine Kritik an Askese und gesetzlichem Verhalten darin liegt, dass sie in bestimmten Kontexten so gefordert werden, als ob ihre korrekte Durchführung eine Performanzerfahrung garantierte.32 Ebenso liegen laut Ritschl die Missdeutungen der Demut durch Calvinismus und Pietismus darin, dass umgekehrt bestimmte situative Erfahrungen so dargestellt werden, als ob sie eine Performanzerfahrung garantiert verunmöglichen würden: Nämlich „ästhethische Bildung“ und „Mittel der geselligen Erholung“33 bzw. „gesellige Freude“ und „Kunstgenuss“34. Die Reduzierung der Demut auf die Ablehnung dieser Momente in sektiererischer Tendenz bezeichnet Ritschl mit polemischem Unterton als „hochmütige Demut“35. Deswegen impliziere die Demut laut Ritschl auch keine Bescheidenheit: Bescheidenheit habe da ihre Grenzen, wo die Demut ihrer Funktion nicht gerecht werde, weil sie als Glaubensvollzug rein auf ihre Funktion reduziert wird. Die von Ritschl gewählten Beispiele sind nicht nur kontingente Abgrenzungsversuche. Sie sind diejenigen Praxen, die auf Repräsentanz abzielen: Das verschärft das Sachproblem dahingehend, dass nicht nur die Möglichkeit bedacht werden muss, wie der Bezug auf die A-Funktionalität reflexiv eingeholt werden kann, sondern wie auf der Ebene der christlichen Praxis selbst der Bezug auf die A-Funktionalität thematisch werden kann, um Verzweckungsmechanismen zu vermeiden.
30 Vgl. Ritschl, UcR, §61, 84, Fn 228, mit den Zufügungen in der zweiten und dritten Auflage: „Vielmehr schließt sie [die Demut] mit Rücksicht darauf ein lebhafteres Gefühl der Gnade Gottes und demgemäß die Scheu in sich, unsere, wenn auch noch so wohlgemeinten religiösen und sittlichen Überzeugungen unbedingt als die Sache Gottes anzusehen und zu verfechten.“ 31 Ritschl, UcR, §61, Fn d), 85. 32 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 604. 33 Ebd. 34 Ritschl, RuV 3III, 605. 35 Ebd. Ritschl identifiziert diese Form von fundamentalistischer Gesetzlichkeit biblisch mit den Pharisäern unter Bezug auf Mt 23 (vgl. Ritschl, RuV 3III, 603). Ritschl scheint allerdings selbst ein Gespür dafür zu haben, dass der Zusammenhang komplexer ist, wenn er in den entsprechenden Ausführungen in den Fußnoten des UcR minimal, aber gehaltvoll ändert von „[d]ie zeremonialgesetzliche Bewährung der Demut, als der besonderen Angehörigkeit zu Gott beurteilt Jesus in den Personen der Pharisäer als Heuchelei“ (Ritschl, UcR, §61 d) 85) zu „beurteilt Jesus an den Pharisäern als Heuchelei“ (Ritschl, UcR, §61 d), 85, Fn 230) in der zweiten und dritten Auflage.
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1.3. Der Ort der Demut in Gebet und Weltzugewandheit Der Bezug auf die Erfahrung bedingt in den Ritschl’schen Ausführungen eine Erweiterung der Funktion der Demut: Der Verweis auf die A-Funktionalität wird idealerweise im Glaubensvollzug so gespiegelt, dass er repräsentativ werden kann. Denn der Bezug auf die situative Verfasstheit stellt sich – für die Reflexion wie für die gelebte Glaubenspraxis – als von dem a-funktionalen Narrativ unterschieden dar. Die Selbstreflexion der Demut ist damit für Ritschl nur in einem Modus möglich, der einen funktionierenden Vollzug unter Bezugnahme auf die A-Funktionalität schon als gegeben voraussetzt und diesen zur Artikulation bringt. Ritschl argumentiert, dass die Demut nur im Nachhinein als schon geschehene Erfahrung erfasst werden könne, wenn sie in irgendeiner Form eine Funktion gehabt habe. Ritschl verlagert deswegen die reflexive Dimension in das Gebet und bestimmt damit zugleich dessen religiöse Funktion. Das lässt sich an der Umstellung illustrieren, die Ritschl mit den Paragraphen zum Gebet im UcR vornimmt: In der zweiten und dritten Auflage des UcR fügt Ritschl hinter die Paragraphen zu Vorsehungsglaube, Demut und Geduld zwei weitere Paragraphen zum Gebet des Einzelnen ein, die dieses als die Möglichkeit der Selbstartikulation darstellen:36 „Das Gebet als Danksagung wie als Bitte ist die bewusste und absichtliche Ausübung des Glaubens an Gottes Vorsehung und Demut.“37 Dass die Reflexion der religiösen Erfahrung im Gebet deren Eintreffen voraussetzt, erklärt die Vorordnung des Lob- und Dankgebets vor dem Bittgebet in der Ritschlތschen Dogmatik: Damit ein Glaubensvollzug auch in der Inanspruchnahme der A-Funktionalität des Gottesgedankens als funktionierend verstanden werden kann, muss sich diese Funktion in ihrer je situativen Gebundenheit erwiesen haben. Wenn der Glaubensvollzug in diesem Sinne funk-
36 In der ersten Auflage ist das Gebet der Ausgangspunkt des vierten Teils „Die Lehre von der gemeinschaftlichen Gottesverehrung“ und wird primär als der Ort verstanden, an dem sich die Gemeinde ihrer Identität vergewissert. Das Gebet, und besonders das „Vater Unser“ sei die Minimalbedingung für Gemeinde in ihrer Gestalt als Kirche (Ritschl, UcR, §81, 109), denn „[i]ndem die Christen Ekklesia, Kirche, heißen, so wird ihr identisches und gemeinschaftliches Gebet als das wesentliche Merkmal ihrer Einheit aufgefaßt“ (ebd.). In den weiteren Auflagen betont Ritschl diesen Zusammenhang, indem das Gebet zwar weiterhin Grundlage der ekklesiologischen Überlegungen bleibt, die Ausführungen zum Gebet als Bitte und Danksagungen aber in den Dritten Teil „Die Lehre vom christlichen Leben“, das hier stärker als individuelles christliches Leben verstanden ist, vorgezogen werden und direkt nach den Paragraphen zu Demut und Geduld behandelt werden (vgl. Ritschl, UcR, 86). Die §§54 und 55 werden ab der zweiten Auflage nach den Paragraphen zu Vorsehungsglaube, Demut und Geduld eingefügt. In der ersten Auflage folgte nach Demut und Geduld die tugendethische Reflexion dieser Begriffe. 37 Ritschl, UcR, §54, 86, Fn 234.
1. Demut bei Ritschl
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tioniert hat, ist damit auch die momentane situative Verfasstheit neu perspektiviert.38 Dass dennoch kein Automatismus für das Gebet angenommen werden kann, macht Ritschl in seiner schließenden Fußnote im UcR zu den Handlungen der Kirche (Gebet, Predigt, Sakramente) explizit deutlich: „Vielmehr muss der Gegensatz zwischen dem Worte Gottes und dem Gebet der Gemeinde festgestellt werden, um die Wechselbeziehung zwischen beiden zu erkennen, und man muß sich bei Taufe und Abendmahl klar machen, daß die Wechselbeziehungen zwischen dem Handeln der Gemeinde und der Gnadengabe Gottes in dem identischen Akt ausgedrückt sind.“39
In diesem Zitat ist Ritschl so zu verstehen, dass funktionale Bestimmungen (Handeln der Gemeinde/Gebet der Gemeinde) und die über den Gottesgedanken notwendig eingezogene A-Funktionalität (Wort Gottes/Gnadengabe Gottes) in der Analyse und reflexiv unterschieden werden müssen, obwohl sie im „identischen Akt“ in eins fallen. Der religiöse Raum muss bei Ritschl auf eine solche Art und Weise konstituiert sein, dass er zu einem Erprobungsraum wird, in dem die religiösen Funktionen nicht so auf ihre Funktionslogiken reduziert werden, dass die A-Funktionalität des Gottesgedankens nicht aufrecht erhalten wird, gerade dort, wo sie für andere repräsentativ wird. Darauf zu verweisen, ist die Funktion der Demut als religiöser Tugend bei Ritschl. Als sittliche Tugend, d. h. in ihrem Weltbezug, liegt die Funktion der Demutdementsprechend im Umgang mit Erwartungshaltungen an religiöse Narrative und an den Gottesgedanken, wie sie in der Konfrontation mit der Welt entstehen: Für Ritschl kann dieser Umgang nur darin bestehen, das Eigenrecht des Narrativs so hochzuhalten, dass sich dieses in der A-Funktionalität des Gottesgedankens spiegelt. Demut ist deswegen bei Ritschl keine Weltabgewandtheit oder eine fehlende Sensibilität für leidvolle Erfahrungen in der Welt, sondern eine situationsangemessene Korrelation von in der Welt gemachten Erfahrungen und dem Narrativ des Reiches Gottes, die gerade dadurch zum Handeln ermutigen kann, dass sie nicht jede momentane situative Verfasstheit als existentiell bedrohlich wahrnimmt.40 Das erklärt zudem Ritschls Insistieren darauf, dass die Demut unbedingt von Leiden oder Niedrigkeit zu differenzieren sei: Diese situativen Verfasstheiten selbst sind für Ritschl ausdrücklich nicht die Demut. 41 Deswegen ist die Beobachtung von Kuhlmann zunächst 38 Der Vollzug des Reiches Gottes (als Unterordnung unter Gott) ist aber eine sich „allen verschiedenen Lebensmomenten [...] anschmiegende [...] Stimmung“ (Ritschl, RuV 3III, 604). 39 Ritschl, UcR, §83 b), 112. 40 Die Geduld „bewährt sich in ihrer Verbindung mit der Demut auch als Mäßigung des Selbstgefühls im Zusammenhange der Erfahrungen des Wohlseins, welche den Menschen verwöhnen und so in die Abhängigkeit von der Welt versetzen können“ (Ritschl, UcR, §62, 86). 41 Schon „in der neutestamentlichen Vorstellungsweise [beginne] die Ablösung der Demuth von der Voraussetzung, daß diese an Elend gebunden sei“ (Ritschl, RuV 3III, 598).
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durchaus berechtigt, dass Ritschl die Situation der Gedemütigten nicht im Blick habe.42 Ritschl kann die situative Verfasstheit der Gedemütigten in seiner eigenen theologischen Logik jedoch gar nicht sinnvoll mit dem Begriff der Demut thematisieren, da sonst situative Verfasstheit und Funktion äquivok gesetzt würden. Die Funktion der Demut ist der – in der Praxis – selbstreflexive Verweis auf diesen Zusammenhang, der sich deswegen als die funktionale Darstellung von A-Funktionalität in andere momentane situative Verfasstheiten eintragen kann. Weil die Funktionalität der Demut darin besteht, auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens so zu verweisen, dass diese sich im Glaubensvollzug spiegelt, kommt es zu einer Komplexitätssteigerung in funktionaler Perspektive: Im Glaubensvollzug der Demut muss mit den je situativ unterschiedlichen Erwartungshaltungen an diesen sowie mit dem Ausbleiben dieser Erwartungen umgegangen werden. Ritschl profiliert hier die Demut als Haltung der Wahrhaftigkeit. 43 In diesen Passagen zeigt sich Ritschls normativer Anspruch, der sich aus dem Einbeziehen der momentanen situativen Verfasstheit in die theologischen Überlegungen ergibt: Ritschl kritisiert genau diejenigen Praxen, die situative Verfasstheit und Funktion so miteinander korrelieren, dass sie die religiösen Funktionen auf ihre Funktionslogiken reduzieren. Mit Ritschl kann die Ritschl beruft sich dabei im Wesentlichen auf Mt 11, 28–30, die Selbstaussage Jesu als IJĮʌİȚȞóȢ IJૌ țĮȡįȓĮ. Er deutet das IJૌ țĮȡįȓĮ so, dass damit die innere Zustimmung zu Leidenszuständen ausgedrückt sei, damit aber IJĮʌİȚȞóȢ eben nicht mehr das Leiden als solches bezeichne, sondern vielmehr eine Weise der Welt zu begegnen, die sich möglicherweise besonders im Leiden ausdrückt, aber nicht zwingend an dieses gebunden sei (Ritschl, RuV 3 III, 598). 42 Kuhlmanns Kritik ist, dass Ritschl die Demut im Sinne der Solidarität mit den Gedemütigten ihres Stachels beraubt habe (Kuhlmann, Ethik, 250). Kuhlmann arbeitet dem gegenüber heraus, dass die Differenz zwischen passivem Erleben (den Erfahrungen von Ohnmacht und Erniedrigungen, wie sie im sozialethischen Begriff von Demut zum Tragen kommen) und aktiver Deutung dieser Erfahrungen erhalten bleiben müsse. Es zeigt sich hier, dass Kuhlmann Ritschl in sozialethischen Kategorien deutet, die Ritschls Theologie in ihrer inneren Logik nicht treffen. Kuhlmanns Kritik wäre angemessener für die Geduld, insofern diese die auf die Welt bezogene Haltung ist – während die Demut eben stärker das religiöse Umfeld erfasst und schon allein deswegen nicht auf die soziale Lage der Gedemütigten abzielt. Durch den oben nachgezeichneten Unterschied zur Bescheidenheit könnte die Demut aber gerade als Solidarität mit religiös Gedemütigten verstanden werden. Denn durch den engen Zusammenhang mit der Geduld könnte man Ritschl auch so deuten, dass, wo immer Menschen ihrer Möglichkeiten des (religiösen) Vollzuges beraubt werden, im Modus der „Wahrhaftigkeit“ eine Solidarität mit den religiös Gedemütigten erreicht wird. 43 Vgl. Ritschl, RuV 3III, 603. Dass Ritschl die Demut in diesem Sinne auch persönlich als Verarbeitung existentieller Lebenserfahrungen versteht, kann an einigen Briefpassagen, besonders im Briefwechsel mit Harnack gehoben werden: „Wozu eigentlich all der Ehrgeiz unter den Theologen, wenn man doch auf ihn verzichten muß, so wie es zum Sterben kommt. Gott bewahre uns in der Demuth“ (Ritschl/Harnack, Briefwechsel, 285; Brief vom 16.06.1881).
2. Forschungsüberblick zum Demutsdiskurs
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Demut aus funktionaler Perspektive als dasjenige religiöse Phänomen profiliert werden, das über die Komplexität des Bezuges auf a-funktionale Narrative die Möglichkeit der Integration von Materialdogmatik und Anthropologie bietet. Bei Ritschl geschieht die Darstellung der komplexen Frage, wie sich die AFunktionalität des Gottesgedankens als immer nur paradox zu erfahrende AFunktionalität von Glaubensvollzügen im individuellen Erleben zeigt, auf wenigen Seiten im Kapitel 67 von RuV III, die auf die Legitimation der Rede von der christlichen Vollkommenheit auch im protestantischen Sprachgebrauch abzielen. Ritschl reißt damit diese Problemstellung an und liefert eine erste Skizze für die Thematik, die in den folgenden Kapiteln anhand der Demut ausführlich im Rahmen performanztheoretischer Überlegungen entfaltet wird: Wie kann die grundsätzliche A-Funktionalität der christlichen Praxen auf der Ebene der situativen Erfahrung funktional werden und wie können die Situativität sowie das innere Erleben ernst genommen werden?
2. Ein kurzer Forschungsüberblick zum Demutsdiskurs 2. Forschungsüberblick zum Demutsdiskurs
Im aktuellen Diskurs wird die Demut entweder als rein christliche Praxis verstanden oder – gegenläufig – als diejenige Praxis, die im interreligiösen oder transdizsiplinären Diskurs hoch anschlussfähig ist, weil sie als allgemein anthropologisches Phänomen in ethische Diskurse eingespielt werden kann. Ihre Verortung zwischen Komplexitätssteigerung und Komplexitätsreduktion scheint die Demut lange Zeit nicht sonderlich attraktiv gemacht zu haben, wohl auch bedingt durch die einflussreiche Kritik Friedrich Nietzsches, nach der eine Verteidigung der Demut auf funktionaler Ebene immer schon in eine apologetische Position gedrängt wird. Aleksander Radler ist in der Diagnose für die systematisch-theologische Durchdringung zuzustimmen, dass für das 20. Jahrhundert gegolten habe, dass „auf protestantischem Gebiet streng genommen seit A. Ritschl und W. Herrmann nichts Grundlegendes mehr über die Demut gesagt worden“44 sei. An dieser Stelle wird deswegen ein kurzer Einschub unternommen, um zu zeigen, wie Anfang des 20. Jahrhunderts die beiden Ritschl-Schüler Herrmann und Harnack die Demut in kleinen, aber letztlich weichenstellenden Artikeln so profilieren, dass der Fokus auf zwei sehr unterschiedlichen Verständnissen von Situativität liegt, in denen die Demut eine Rolle spielen kann.
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Aleksander Radler, Art. Demut VIII. Ethisch, in: TRE 8 (1981), 483–488, hier: 484.
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2.1. Die Demut bei Herrmann und Harnack am Übergang ins 20. Jahrhundert Sowohl Herrmann als auch Harnack akzentuieren – die grundlegende Struktur der Ritschlތschen Überlegungen aufnehmend – in ihren eigenständigen Erweiterungen der Demut eher die Seite der existentiell-situativen Erfahrung. Beiden ist dabei gemein, dass auch sie der Demut keine ausführliche Monographie widmen, sondern sie in knappen Aufsätzen behandeln. Herrmann führt im RE-Artikel zur Demut von 1898 in Aufnahme und Überbietung des Ritschlތschen Verständnisses eine zunächst zweifache und dann dreifache Differenzierung für das Demutsverständnis ein. Zunächst wendet er auf die aufgrund des Lexikon-Formats notwendige theologiegeschichtliche und exegetische Betrachtung der Demut die Differenzierung zwischen „humilitas“ und „IJĮʌİȚȞóȢ IJૌ țĮȡįȓĮ“ an. Humilitas ist für Herrmann Demut als Selbstbeobachtung, die auf eine aktuale Selbsterkenntnis und Handlungsänderung abzielt. Herrmanns Argument, warum dieses Verständnis eigentlich nicht christlich angemessen sei, zielt darauf, dass diese Selbstbeobachtung nicht schon durch eine Form von a-funktionaler Anerkennungserfahrung perspektiviert sei: Deswegen könne sie nicht freudig geschehen, sondern werde als Gericht erfahren. Zudem erfordere sie, als reine Selbstbeobachtung, keinen Bezug auf Gott und sei deswegen anthropologisch allgemeingültig.45 Herrmann verortet demgegenüber das innere Erleben dezidiert in der Christologie: Ein Verständnis von Demut als „IJĮʌİȚȞóȢ IJૌ țĮȡįȓĮ“ in Aufnahme von Mt 11,29 sei sowohl aus biblischer als auch aus glaubenspraktischer Perspektive angemessen, insofern es das innere Erleben des Gläubigen im Rahmen dieses Anerkennungsgeschehens ernst nimmt, als einen „Strom seines inneren Lebens von Gott her und zu Gott hin“46. Herrmann bleibt bei dieser Beschreibung des inneren Erlebens der Demut jedoch nicht stehen, sondern ergänzt diese um die Dimension des „Dienens“: Demut sei, laut Herrmann, „gewillt zu sein, so zu dienen wie er [Jesus, KO]“47 in der Hingabe an „das Große, Eine“48. Dass die eher als situative Verfasstheit zu verstehende IJĮʌİȚȞóȢ IJૌ țĮȡįȓĮ und das Dienen als aktive Handlung eng zusammengehören, wird daran deutlich, dass Herrmann sie in der Formulierung zusammenbindet: Demut sei, dass „man von Herzen dient“49. Diese Neuausrichtung führt bei Herrmann zu einer überraschenden Wendung des Kant’schen Sprachgebrauchs: Der Demütige sehe in 45
Wilhelm Herrmann, Art. Demut, demütig, in: RE 4 (1898), 571–576, hier: 572. Herrmann, Demut, 573. 47 Herrmann, Demut, 574. Für Herrmann ergibt sich daraus, dass die aus dieser Betrachtungsweise neu erwachsende Beziehung zur Welt nur „Selbstverleugnung“ sein kann, die zu einer aktive Neuausrichtung der eigenen Lebensdeutung führt (vgl. Herrmann, Demut, 574). 48 Herrmann, Demut, 574. 49 Herrmann, Demut, 574. Herrmann erkennt an, dass dieses Paradoxon nicht „durch begriffliche Konstruktionen“ gelöst, sondern nur in Erzählungen bezeugt werden kann: Das Zusammentreffen mit dem lebendigen Gott stelle sich als Erlösung dar, die zur Überwindung 46
2. Forschungsüberblick zum Demutsdiskurs
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seinem Verhältnis zu den Mitmenschen „sie als Zweck an, sich als Mittel“50. Die Pointe liegt bei Herrmann darin, dass idealerweise alle anderen ebenfalls diesen Blick einnehmen und jeweils alle anderen ebenso als Zweck, sich selbst als Mittel betrachten. Damit wäre an der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs nur insofern gerührt, als dass sie durch das intuitive Erleben zwar suspendiert werden kann, in der Beobachtung von außen jedoch nicht außer Kraft gesetzt wäre. Herrmann kann so verstanden werden, dass er zu zeigen intendiert, wie sich die A-Funktionalität des Gottesgedankens in denjenigen situativen Dimensionen für das Individuum darstellt, die der psychologischen Betrachtung zugänglich sind. Das bei Ritschl in der Analyse nur angedeutete Problem der Repräsentanz der Demut wird von Herrmann damit implizit in ethischen Kategorisierungen aufgenommen, bleibt aber weiterhin offen. Der Repräsentanzcharakter der Demut kann durch einen kurzen, aber gehaltvollen Aufsatz von Harnack zu „Sanftmut, Demut und Huld“ von 1920 ergänzt werden,51 in dem Harnack die Tugend der Demut als Umgang der beginnenden Christenheit mit den sie umgebenden politisch-gesellschaftlichen Kontexten entwickelt: Aus dogmengeschichtlicher Perspektive und ebenfalls ausgehend von Mt 11,29 vollzieht Harnack nach, welche Funktion „Sanftmut, Demut und Huld“ in der frühen Kirche zugekommen seien. Die Pointe Harnacks liegt darin, dass er Sanftmut und Demut für die beginnende Christenheit im 2. Jahrhundert, z. B. bei Ignatius, eine strategische Funktion im Rahmen ihrer Identitätsbildung zuschreibt, in paradoxer Profilierung gegen den Zeitgeist: „Den großen Kampf mit der Welt, in welche die christliche Religion einzog, und mit dem Staat, der sie nicht dulden konnte, hat sie wirklich durch Sanftmut und Demut bestanden“52. Das bedeutet im Umkehrschluss, den Harnack nur der einzelnen situativ geschehenden Sünden führe. Insofern aber die Transformation im ethischen Handeln als stärker erlebt werden könne, werde der Fokus auf diesen sekundären Aspekt gelegt und die Chronologie umgekehrt, indem „die Folgerungen die Sache selbst zurückgedrängt“ haben (Herrmann, Demut, 574). 50 Herrmann, Demut, 575. 51 Adolf von Harnack, „Sanftmut, Huld und Demut“ in der Alten Kirche, in: Arthur Titius/Friedrich Niebergall/Georg Wobbermin (Hrsg.), Festgabe für D. Dr. Julius Kaftan zu seinem 70. Geburtstage. 30. September 1918, Tübingen 1920, 113–129. Im „Wesen des Christentums“ kann Harnack ein Verständnis von Demut entfalten, das wesentlich näher an Herrmanns „von Herzen dienen“ ist: „Demut und Liebe hat Jesus in Eins gesetzt. Demut ist keine einzelne Tugend, sondern sie ist reine Empfänglichkeit, Ausdruck innerer Bedürftigkeit, Bitte um Gottes Gnade und Vergebung, also Aufgeschlossenheit gegenüber Gott. […] Von hier aus versteht man, wie Jesus Gottes- und Nächstenliebe bis zur Identifizierung aneinanderrücken konnte: die Nächstenliebe ist auf Erden die einzige Bethätigung der in der Demut lebendigen Gottesliebe“ (Harnack, Wesen, 49). 52 Harnack, Sanftmut, 129. Es ist auffallend, dass Harnack im Wesen des Christentums in der IV. Vorlesung diesen Gedanken der Demut noch nicht mit dem Gedanken der Kraft Gottes verknüpft (so wie Herrmann es für die innerliche Überwältigung annehmen kann). Erst in der folgenden Vorlesung verbindet Harnack diese beiden Gedanken auf der Ebene
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implizit mitvollzieht, jedoch auch, dass dieser Zeitgeist in der Spiegelung an den christlichen Narrativen überhaupt erst als Zeitgeist bewusst und thematisierbar wird: Die politische Situation benötigt ein entsprechendes Narrativ, um als solche problematisiert werden zu können. Dieses Narrativ wird dementsprechend ebenfalls in der kollektiven Haltung der beginnenden Christenheit repräsentativ. Harnack kann noch relativ eindeutig bestimmen, was die Narrative der Christenheit sind und in welcher Situation sie funktional werden können. Narrativitätstheoretisch muss jedoch offengehalten werden, dass Narrative deutlich fluider sind und z. B. ein „Kampf“ im Aufeinandertreffen von christlichem Narrativ und zeitgeschichtlicher Situation nicht zwingend ist. Welche Narrative sich entgegenstehen oder welche komplementär zueinander sind, ist nicht festgelegt, sondern wird in dynamischen Konfigurationsprozessen ausgehandelt. Die eigene individuelle wie kollektive momentane situative Verfasstheit wird bei Herrmann und Harnack in ihrer Situativität erst dadurch bewusst, dass sie durch andere narrative Größen perspektiviert wird, die auf A-Funktionalität verweisen (das jesuanische Handeln oder das Reich Gottes): Erst dadurch, dass Jesus anders handelt, können das eigene innere Erleben und dessen Konfliktträchtigkeit so in den Blick kommen, dass das „Dienen von Herzen“ attraktiv wird. Erst in dem Bezug auf politische Funktionsmechanismen außer Kraft setzenden Haltungen von Demut, Sanftmut, Geduld kann der politische Kontext mit seinen Logiken in den Blick kommen und diese gleichzeitig für das beginnende Christentum relativieren. Intendiert ist somit auch bei Herrmann und Harnack eine Komplexitätssteigerung, die nicht einseitig auf die Situativität fokussiert, sondern – stärker noch als bei Ritschl – implizit thematisch macht, wie diese Situativität in der Konfrontation mit der A-Funktionalität des Gottesgedankens sowie von individuellen und kollektiven Glaubensvollzügen überhaupt erst entsteht. 2.2. Der aktuelle Demutsdiskurs aus protestantischer Perspektive Mit der Kritik Nietzsches an der Demut im beginnenden 20. Jahrhundert bricht die bei Herrmann und Harnack noch angelegte Beschäftigung mit der Demut als produktiver Teil protestantischer Theologie ab. Mit dem Beginn des 21. Jahrhundert ist die Demut hingegen als Begriff wie als Konzept interessanterweise in fast allen theologischen Fachgebieten in unterschiedlichen Ausprägungen wieder in den Blick gerückt. Die Funktion der Demut wird dabei im Wesentlichen über ihre zu beobachtenden Gestalten sowie ihre narrativen Konfigurationen erhoben, wie im Folgenden disziplinübergreifend dargestellt wird. des Ethischen, indem der Fortschritt, der zur neuen Religionsstiftung führte, damit charakterisiert wurde, dass sich die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit unterwerfen (!) musste, […] der Gedanke der Brüderlichkeit und der Aufopferung im Dienste des Nächsten souverän wurde“ (Harnack, Wesen, 50f.).
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2.2.1. Das Problem der quellensprachlichen Verortung der Demut in der Exegese In den exegetischen Fächern stellt sich in die Frage, welche quellensprachliche Begrifflichkeit der Demut angemessen sei. An dem Artikel zu den IJĮʌİȚȞStämmen im ThWNT kann eine weiterführende Beobachtung gemacht werden: Walter Grundmann verwendet zwar den Begriff der Demut in den Überschriften und kontextualisiert IJĮʌİȚȞ* damit.53 Er benutzt „Demut“ jedoch nicht als direkte Übersetzung der IJĮʌİȚȞ-Derivate, auch nicht für IJĮʌİȚȞȠijȡȠıȪȞȘ in Phil 2,3, wo er stattdessen auf die Selbstlosigkeit abzielt: Der Begriff „Demut“ ist durch die Auslegungstradition vorgegeben, aber nicht quellensprachlich direkt erschließbar. Der Begriff der Demut leitet sich vielmehr aus der „nationalsprachlichen Rezeption der reformatorischen Bibelübersetzungen“ 54 ab, die mit „Demut“ das lateinische humilitas und die IJĮʌİȚȞ-Derivate im Griechischen übersetzen. Schon diese IJĮʌİȚȞ-Derivate sind in sich nicht eindeutig, wenn es sich auch immer um (negative) Zustandsbeschreibungen handelt: Mit IJĮʌİȚȞóȢ kann die geringe Macht einer kollektiven Größe, ein Mensch als niedrig oder von knechtischer Gesinnung, und die gedrückte Situation eines Menschen oder einer Gemeinschaft bezeichnet werden.55 Das verschärft sich für die Bestimmung, welche Wortstämme für Demut im Hebräischen in Frage kommen, noch einmal: Denn als Demut im Alten Testament werden im Wesentlichen die hebräischen Äquivalente der IJĮʌİȚȞ-Derivate durch die Übersetzung in der LXX bestimmt.56. Das sind jedoch eine Vielzahl von Stämmen, die unterschiedliche semantische Konnotationen haben: Das exemplifiziert sich am Vorgehen von Johannes Bremer, der ʲʰʫ, ʬʴˇ, ʤʰʲ und ʬʬʣ für die Demut betrachtet (während sich das ThWNT auf die Derivate von ʤʰʲ konzentriert). Bremer konstatiert, dass die Unterscheidung schwierig sei, denn: „Insbesondere bei den Wurzeln ʤʰʲ ‘nh II und ʬʬʣ dll II bleibt häufig unklar, ob sie primär materiell-sozial ‚Armut‘ oder religiös-spirituell ‚Demut‘“57 meinen. 53 So z. B. „Demut und Niedrigkeit im Neuen Testament“, Walter Grundmann, Art. IJĮʌİȚȞóȢ, IJĮʌİȚȞóȦ, IJĮʌİȓȞȦıȚȢ, IJĮʌİȚȞóijȡȦȞ, IJĮʌİȚȞȠijȡȠıȪȞȘ, in: ThWNT 8,1 (1969), 1– 27, hier, 15. 54 Eve-Marie Becker, Der Begriff der Demut bei Paulus, Tübingen 2015, 34. Das Wort „diomuoti“, das zur Übersetzung von humilitas herangezogen wurde, bezeichnet die Gesinnung zu dienen (vgl. Karl Thieme, Wortgeschichte und die Demut bei Jesus, Gießen 1906). 55 Vgl. Grundmann, IJĮʌİȚȞóȢ, 1–3. 56 Vgl. Grundmann, IJĮʌİȚȞóȢ, 6. 57 Johannes Bremer, Art. Demut, in: https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/demut-at/ch/348e2a34bc696e7b0d75a643fc0cf084/ (erstellt 2015, letzter Zugriff: 26.08.2019). Klaus Wengst schlägt in diesem Sinne für ʤʰʲ vor, die Demut als Haltung der „Gedemütigten“ und der Armen zu verstehen und sie in ihrem subversiven Potential zu profilieren (vgl. Klaus Wengst, Solidarität der Gedemütigten. Wandlungen eines Begriffes und seines sozialen Bezugs in griechisch-römisch, alttestamentlich-jüdisch und urchristlicher Tradition, München 1987).
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Die Konsequenz für die neutestamentliche Exegese zeigen sich exemplarisch bei Eve-Marie Becker58 und Reinhard Feldmeier59. Beide rücken die Demut programmatisch als hermeneutischen Schlüssel für Paulustexte (Becker) wie für die synoptischen Evangelien und Paulus (Feldmeier) in den Blick. Das unternehmen sie jedoch über einen Anlauf, der von der Demut „im kulturellen Diskurs“ in „Geschichte und Gegenwart“ (Becker) bzw. von aktuellen Machtdiskursen (Feldmeier) ausgeht. Beide nehmen unter dieser Perspektive zunächst die primäre neutestamentliche Belegstelle von IJĮʌİȚȞȠijȡȠıȪȞȘ in den Blick, nämlich Phil 2,3. Es handelt sich bei IJĮʌİȚȞȠijȡȠıȪȞȘ um einen Begriff, der bei Paulus erstmalig belegt und damit eng an die bei Paulus entwickelten Semantiken und Wortfelder gebunden ist.60 Das ist zunächst die christologische Deutung: Über den Christus-Hymnus (Phil 2,6–11) können Becker und Feldmeier IJĮʌİȚȞȠijȡȠıúȞȘ als „Niedrig-Gesinnung“ charakterisieren, die es Menschen ermöglicht, sich in Gemeinschaft mit Christus auf Gott zu beziehen.61 Beide beurteilen das so, dass Paulus damit eine Werteumwandlung gegenüber der Beurteilung von IJĮʌİȚȞ-Phänomenen in der Umwelt vornehme, insofern gerade die Kenosis nun als ein besonders erstrebenswertes Ethos erscheine.62 Während das Aufzeigen dieses subversiven Potentials des Demutsverständnisses das Ziel Feldmeiers ist, ergänzt Becker es noch um eine weitere Bestimmung: Sie verortet den Gebrauch von IJĮʌİȚȞȠijȡȠıȪȞȘ in einer sehr spezifischen momentanen situativen Verfasstheit des Paulus, nämlich seiner Inhaftierung.63 Daraus ergibt sich für Becker die Frage, inwieweit es bei Paulus nicht nur zu einer Parallelisierung seiner eigenen momentanen situativen Ver-
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Vgl. Becker, Demut, 2015. Vgl. Reinhard Feldmeier, Macht – Dienst – Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012 (engl.: Power – Service – Humility. A New Testament Ethics, übers. v. B. McNeil, Waco [Texas] 2014). 60 Die Diskussion, ob es sich um einen Neologismus handelt (Becker, Demut, 74f.;85) oder ob sich der Begriff zeitgleich mit dem Umfeld entwickelt (Feldmeier, Macht, 81) kann für die folgenden Überlegungen suspendiert werden. Becker zeigt die Wurzeln der IJĮʌİȚȞWortgruppe im jüdischen Denken in der LXX, bei Philon und in Qumram (Becker, Demut, 77–87). 61 Vgl. Becker, Demut, 97; Feldmeier, Macht, 108. 62 Vgl. Becker, Demut, 106; Feldmeier, Macht, 103–107. Die Kenosis wird als „Rechtsund Attributsverzicht Jesu“ (Becker, Demut, 106) bzw. als Statusverzicht und Selbstbeschränkung (vgl. Feldmeier, Macht, 106) verstanden. Das schließt an ältere sozialethisch ausgerichtete Literatur an, die diesen Statusverzicht als Distinktionsmerkmal zur Umwelt erschließt (vgl. Gudrun Guttenberger Ortwein, Status und Statusverzicht im Neuen Testament und seiner Umwelt, [NTOA 39] Freiburg/Göttingen 1999, bes. 317). Begründet würde diese Umkehr der Verhältnisse mit dem eschatologischen Positionswechsel, der die Umkehr der sozialen Verhältnisse in der Vorschau perspektiviert (Guttenberger Ortwein, Status, 324f.). 63 Becker, Demut, 107–113. 59
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fasstheit mit dem Kreuzestod Jesu komme, sondern auch, inwiefern diese Situativität – das dem Tode-Ausgesetztsein – notwendig für die Demut sei: Denn das würde implizieren, dass „der Apostel mit seiner Forderung von Demut [...] letztlich zum christlichen Martyrium“ 64 ermutige. Beckers exegetische Behandlung verweist auf ein grundlegendes Problem: Der Begriff der Demut kann durch seine situative Einbettung auf der Ebene der Textentstehung wie des Textes schon mit Bestimmungen aufgeladen sein, die in einer situativen Übertragung problematisch werden können, z. B. in der Reduzierung der Demut auf Niedrigkeit oder einer Glorifizierung des Martyriums.65 Der subversive und herrschaftskritische Umgang mit Machtstrukturen ist aus der exegetischen Beschäftigung mit Phil 2 und dem Magnificat in Lk 1 für die feministische Theologie relevant geworden. 66 Die kritische Betrachtung der Demut aus feministischer Perspektive als eigentlich abzulehnender, weiblich konnotierter Haltung von „obedience, self-effacement, and self-negation“67 wird so gewendet, dass gerade diese Haltung als Gegennarrativ zu (patriarchalen) hierarchischen Machtstrukturen verstanden wird, das diese subversiv unterläuft. Das kann besonders pointiert bei Sarah Coakley gezeigt werden, die sich zunächst mit einer Bestimmung von Daphne Hampson auseinandersetzt: Dem männlichen Denken sei laut Hampson der Verweis auf die Kenosis als Selbstentäußerung hilfreich, um einen anderen Umgang mit genderspezifischen Narrativen zu ermöglichen – dem weiblichen Denken hingegen nicht.68 Coakley verteidigt demgegenüber die Kenosis als eine feministische Praxis, die eine paradoxe Form des Umgangs mit vulnerability und self-effacement sein könne.69 „[T]his special ‚self-emptying‘ is not a negation of self, but the
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Becker, Demut, 125 (Hervorhebung im Original). Das verknüpft Becker mit ihrer Interpretation des Schicksals des Exegeten Ernst Lohmeyer, der seine eigene, zeitgeschichtliche Situation als „Märtyrer“ (die Becker in der Verurteilung zum Tode durch ein sowjetisches Militärtribunal 1946 gegeben sieht) in seiner Exegese von Phil 2 vorweggenommen habe (vgl. Becker, Demut, 215). An dieser Stelle zeigt sich jedoch m. E. dass solche Formen von narrativen Situativitätenübertragungen jenseits der eigenen momentanen situativen Verfasstheit eher durch die Konstruktion bestimmt sind, denn durch eine wirkliche Erhellung psychologischer Gegebenheiten. 66 Claudia Janssen/Regene Lamb, Das Evangelium nach Lukas. Die Erniedrigten werden erhöht, in: Luise Schottroff/Marie-Therese Wacker (Hrsg.), Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 513–541, 519; auch bei Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand. „Du stilles Geschrei“, Hamburg 31997. 67 Elizabeth L. Hinston-Hasty, Revisiting Feminist Discussions of Sin and Genuine Humility, in: Journal of Feminist Studies in Religion 28 (2012/1), 108–114, 109. 68 Daphne Hampson, Theology and Feminism, Oxford 1990, 155. 69 Vgl. Sarah Coakley, Powers and Submissions. Spirituality, Philosophy and Gender, Oxford 2002, 4f. Coakley führt aus, dass der theologische kenoticism (im distinkt amerikanischen Diskurs) sich ausschließlich auf die Schwäche und Limitierungen Gottes konzentriere, während der aus analytisch-philosophischer Perspektive geschehende anti-kenoticism 65
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place of the self’s transformation and expansion into God“70. In dieser Zielsetzung auf das empowerment unterläuft Coakley jedoch ihren eigenen Anspruch, die Kenosis als absichtslos zu verstehen. Die exegetische Beschäftigung wie die feministische Aufnahme von Phil 2 zeigen auf, wie die Demut zwischen IJĮʌİȚȞóȢ und IJĮʌİȚȞȠijȡȠıȪȞȘ distinkt bleibt. Darauf deutet auch hin, dass je nach dem, welche Absicht mit einer Definition der Demut verfolgt wird, unterschiedliche Bibelstellen profiliert werden: Bei Herrmann und Harnack wird für die Demut als wünschenswerte Tugend auf das christologische Vorbild in Mt 11,29 zurückgegriffen. In einer Erschließung, die auf den subversiven Umgang mit Machtstrukturen abzielt, wird IJĮʌİȚȞȠijȡȠıȪȞȘ in Phil 2 profiliert, für den Verweis auf menschliche Fragilität hingegen eher IJĮʌİȚȞóȢ in Lk 1. Die Beschäftigung mit der Demut in den biblischen Texten steht darüberhinaus implizit schon unter der Aufnahme und Abgrenzung der humilitas-Tradition in der Kirchengeschichte. 2.2.2. Der humilitas-Gedanke in der Kirchengeschichte und praktischtheologischen Diskursen Die kirchengeschichtliche Betrachtung fokussiert die Demut als Tugend der humilitas, die als Proprium des beginnenden und mittelalterlichen Christentums gesehen wird, mit dem es sich von seiner Umwelt distanziert, denn in der aristotelischen Tugendlehre taucht die Demut als Laster und nicht als Tugend auf.71 Für Aristoteles kann die Demut keine Tugend sein, da er sie mit mikropsychia im Sinne der Selbsterniedrigung identifiziert, die gerade nicht die für Tugenden konstitutive praktische Klugheit kenne.72 Das Narrativ der kirchengeschichtlichen Demutsforschung, wie es sich schon bei Harnack zeigt, ist, dass die Umdeutung der Demut durch Augustin vor diesem Hintergrund zu einem Distinktionsmerkmal des Christentums wird:73 Bei Augustin ist die Demut als Gegenbegriff zur superbia eine Kardinaltugend. 74 Notger Baumann sich auf die Beibehaltung von omnipotence und power konzentriere, beide jedoch auf „masculinist assumptions“ beruhen (Coakley, Power, 30). 70 Coakley, Power, 36. 71 Vgl. Iris Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, London/New York 1992, Kap. 15; sowie: vgl. Christoph Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik (stw 2081), Berlin 2013, 365. 72 Aristoteles, Ethica nic IV 7, 1123b 1–24; 1124a 12; vgl. auch Halbig, Demut, 344. 73 R. Barth versteht das als ein Narrativ, das mehr zu heutigen Phänomenerhellung denn zur Begriffsgeschichte beiträgt (vgl. Roderich Barth, The Rationality of Humility, in: European Journal for Philosophy of Religion 6 [2014], 101–116, hier: 104; vgl. Zemmrich, Demut, 139–200). 74 Vgl. Notger Baumann, Die Demut als Grundlage aller Tugenden bei Augustinus (Patrologia – Beiträge zum Studium der Kirchenväter Bd. 21), Frankfurt/M. u. a. 2009, 133– 135; bei Augustin: „valet autem hoc magnum humilitatis exemplum, quae maxima est disciplina christiana, humilitate enim conservatur caritas, nam nihil eam citius violat quam
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führt aus, wie die Demut bei Augustin christologisch begründet wird, ihre Funktion in der Selbsterkenntnis entfaltet, die das Bekenntnis ermöglicht, und in dieser Konstellation zur Grundlage aller weiteren Tugenden unter der Prämisse des Liebesgebotes wird.75 Für die kirchengeschichtliche Reflexion ist damit der Gegenstandsbereich ihrer Untersuchungen vorgegeben: Sie fokussiert die humilitas als Tugend und zeigt, wie diese in unterschiedliche Funktionalitätslogiken eingebunden ist. Das ist zunächst die Funktion für das Ordensleben als Praxis des gemeinschaftlichen Lebens mit dem Konzept der Selbstbeobachtung, so bei Bernhard von Clairvaux 76 und im benediktinischen Mönchtum. Daraus leitet sich die Funktion der Demut für das theologische System der Scholastik ab, wie sie von Stephan Ernst dargelegt wird: Bei Thomas von Aquin wird Demut in Aufnahme des augustinischen Denkens als Tugend der Mitte zwischen Hochmut und Niedrigkeit im Rahmen der Kardinaltugend der Mäßigung bestimmt.77 Schließlich kann die Demut als diejenige Praxis verstanden werden, der in der Mystik die Funktion der Konstitution der Gott-Mensch-Begegnung zukomme, als aus der Selbstbeobachtung entspringende Grenzüberschreitung und Selbstüberhöhung, die Donata Schoeller Reisch mit Meister Eckart und Jakob Böhme ausführt.78 Bei Michael Bangert dienen die leiblichen Gesten der Demut als Erschließung der Mystik bei Getrud
superbia“ [ex. Gal. 15, CSEL 84, 70]). Diese Untersuchungen gehen auf die wirkmächtige Bestimmung von Otto Schaffner, Christliche Demut. Des Hl. Augustinus Lehre von der Humilitas, (Classiciacum 17) Würzburg 1959, zurück. Diese Gegenüberstellung von Demut zu Stolz als proprium des Christentums ist bis in aktuelle Entwürfe hinein einflussreich, so bei Kent Dunnington, der diese Abgrenzung als (radikale) Grundlage des Christentums versteht (vgl. Kent Dunnington, Humility, Pride and Christian Virtue Theory, Oxford 2019). 75 Vgl. Baumann, Demut, 113. 76 Bernardo Bonowitz, Stufen rückwärts. Der Weg der Demut nach Bernhard von Clairvaux (3), in: Cistercienserchronik 120 (2013), 87–98. 77 Bei Thomas wird die Demut behandelt in Sth II-II, qq. 162–265. Ernst macht darauf aufmerksam, dass Thomas die Demut trotzt ihres konstitutiven Status für das Christentum nur im Rahmen der Kardinaltugend der Mäßigung analysiert (vgl. Stephan Ernst, Die bescheidene Rolle der Demut. Christliche und philosophische Grundhaltungen in der speziellen Tugendlehre [S.th. II–III, q. 161], in: Andreas Speer [Hrsg.], Thomas von Aquin. Die Summa theologiae. Werkinterpretationen, Berlin 2005, 343–376, hier: 348). Ernst versteht das als eine Profilierung der Demut vor anderen Tugenden, insofern sie sich dem Schema der Systematisierung entziehe und so christliche und philosophische Tugenden verbinde (vgl. Ernst, Demut, 374). 78 Vgl. Donata Schoeller Reisch, Enthöhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut, ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme, Freiburg i.Br. u. a. 2009; sehr knapp zu Meister Eckhart auch: Dietmar Mieth, Demut bei Meister Eckhart, in: Wort und Antwort 58 (2017), 107–111, der die Demut bei Eckhart, ausgehend von Schoeller Reisch, als aus der Gottes- und Menschenperspektive dynamisch zu betrachtenden, aber einheitlich zu erfahrenden Vollzug entfaltet.
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von Helfta.79 Barbara Müller nutzt schließlich das Demut-Hochmut-Schema, um die Eigenständigkeit der angelsächsischen Theologie im Verhältnis von Staat und Kirche zu profilieren.80 Die Betrachtung der Demut wird in der Kirchengeschichte im Wesentlichen in der Entfaltung der Funktion der humilitas als Tugend durchgeführt. Das ist anschlussfähig an aktuelle Diskurse, in denen die Demut als eine Form von humilitas auf ihre Qualität für die Praxis und das Zusammenleben befragt wird. Das ist zunächst die Demut in aktuellen katholischen Diskursen als Haltung, mit der der Begrenzung der eigenen Erkenntnisfähigkeit durch die Transzendenz begegnet werden kann. 81 Es geht in diesem Kontext weniger um die Selbstbeobachtung der existentiell-situativen Verfasstheit vor Gott, sondern um die Selbstbeobachtung der Erkenntnis, die sich ihrer eigenen Grenzen bewusst wird.82 So geht der größte Teil der Beiträge in dem Sonderband der Recherches Philosophiques „L’humilité“ in diese Richtung.83 Dann wird die Demut aktuell in evangelikal-akademischer Perspektive zum Thema, insbesondere in der von der John Templeton Foundation geförderten Projektreihe „The Science of Intellectual Humility“ unter der Leitung von Everett L. Worthington Jr. Dieses Projekt ist neben einer Grundsatzbestimmung der intellectual humility 84 um die Operationalisierung der humility im empirisch-psychologischen 79 Vgl. Michael Bangert, Demut in Freiheit. Studien zur geistlichen Lehre im Werk Getruds von Helfta, Würzburg 1997, der ausdrücklich untersucht, welche Gesten der Demut in Helfta in Gebrauch waren. 80 Vgl. Barbara Müller, Hochmut und Demut in der angelsächsischen Theologie. Studien zur altenglischen Interpretation von Gregor dem Großen; Orosius, Boethius und Augustin im Frühmittelalter, Diss. Univ. Bonn 2016, bes. 313–315. 81 Eine ältere katholische Variante, die im Demutsdiskurs aber immer noch populär ist, findet sich bei: Erich Przywara, Demut Geduld Liebe. Die drei christlichen Tugenden, Düsseldorf 1960. Przywara legt dar, dass die christliche Liebe sich nicht anders als im Zusammenfall mit Demut und Geduld entfalten kann, als die „je-immer-Größere“, die sich als das „je-immer-kindhaft-Kleinere“ zeige (Przywara, Demut, 65). Pzrywara bestimmt Demut und Geduld ausgehend von der beim Ordensnamen der Therese vom Kind Jesus und Heiligen Antlitz zu findenden Metaphorik als ein „Kindesspiel“, indem sich der Gekreuzigte nicht anders als in kindhafter Weise zeigen könne (Przywara, Demut, 64f.). 82 Vgl. Hermann-Otto Leng, Die Dimensionen der Demut. Ein naturgemäßer Zweifel an der Ausrichtung unseres Lebens, Baden-Baden 2015. 83 Carla Canullo, L’intelligence de l’humilité, in: Recherche Philosophique 4, 11–24; Roger Pouivet, L’humilité intellectuelle, la foi et l’épistémologie, in: Recherche Philosophique 4, 49–60; Marco Salvioli, O.P., L’irriducible ragionevolezza di un paradosso. L’umiltà secondo Tommaso d’Aquino e Gilbert K. Chesterton, in: Recherche Philosophique 4, 61–71; Elisa Grimi, L’humilité, une ontologie de l’identité, in: Recherche Philosophique 4, 73–90. 84 Vgl. Ian M. Church/Peter L. Samuelson, Intellectual Humility. An Introduction to the Philosophy and Science, London u. a. 2017; sowie das ebenfalls von der Templeton Foundation geförderte Kompendium: Everett L. Worthington Jr./Don E. Davis/Joshua N. Hook (Hrsg.), Handbook of Humility. Theory, Research and Applications, New York/London 2017.
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Sinn bemüht.85 Der Akzent liegt dabei auf der Demut als kognitivem Vermögen, das aus der Selbstbeobachtung Handlungsprimate ableiten kann, die dann in diskursive Zusammenhänge eingetragen werden oder als coping-Strategie bei begrenzenden Erfahrungen dienen können. Die Hintergrundannahme des Projekts ist, dass es keinen besseren Anwendungsbereich und keine größere Herausforderung für die intellectual humility geben könne, als den religiösen Dialog, in dem es möglich sei „to be intellectually humble and at the same time hold strong religious beliefs“86. Ein auf gelingende Lebensführung abzielendes funktionales Verständnis ist anschlussfähig an die säkulare Wiederentdeckung der Demut, in der Demut als Strategie eingesetzt wird, um zu einer besseren Selbsterkenntnis zu gelangen. Das wird als Funktion für Einzelpersonen propagiert, z. B. als eine leadership-quality87 oder in Liebesbeziehungen88 sowie als Funktion von Gemeinschaften.89 In diesen Ansätzen wird Demut letztendlich als ökonomische Ressource betrachtet, die es deswegen als Instrument zur Leistungssteigerung oder zur kulturellen Sensitivität („Cultural humility“90) zu 85 Vgl. Caroline R. Lavelock/Everett L. Worthington Jr./Brandon J. Griffin/Rachel C. Garthe/Don E. Davis/Joshua N. Hook, Humility Intervention Research. A Qualitative Review, in: Worthington/Davis/Hook: Handbook, 274–285; Edward B. Davis/Andrew D. Cuthbert, Humilty and Psychotherapist Effectiveness. Humility, the Therapy Relationship and Psychotherapy Outcomes, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 286–300; Steven J. Sandage/David Rupert/David R. Paine/Miriam Bronstein/Christopher G. O’Rourke, Humility in Psychotherapy, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 301–315; Claire E. Wolfteich/Callid Keefe-Perry/Steven Sandage/David R. Paine, Humility. Empirical Psychological Research in Dialogue with Practical Theology – Part 1, in: IJPT 20 (2016), 143–155. 86 Vgl. Church/Samuelson, Intellectual Humility, 317. 87 So das sehr populäre Konzept von John Dickson, Humilitas. A Lost Key to Life, Love and Leadership, Grand Rapids 2011; oder auch: Antonio Argandoña, Humility in Management, in: Journal of Business Ethics, 132 (2015); eine Übertragung der Benedikt-Regel auf die heutige Situation: Benedikt Jürgens, „Je weiter man nach Norden kam...“. Demut – eine Tugend für das Managment, in: Wort und Antwort 58 (2017), 122–129; aus dem Templeton Foundation Project: Bryan J. Dik/Jessica Morse/Mica White/Adelyn B. Shimizu, Humility in Carer Development, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 207–220; Angela S. Wallace/Chia-Yen Chiu/Bradley P. Owens, Organizational Humility and the Better Functioning Business Nonprofit and Religious Organisations, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 246–259. 88 So der Ansatz humility in der Paartherapie zu verwenden, um in einer Art Übung der Vergebung die soziale Bindung zu stärken und Wunden und Verletzungen in der Beziehung zu heilen (vgl. Rachel C. Garthe/Chelsea A. Reid/Terri N. Sullivan/Brianne Cork, Humility in Romantic Relationships, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 221–229, hier: 229). 89 In dem Projekt der Templeton Foundation: Everett L. Worthington Jr., Political Humility. A Post-Modern Reconceptualization, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 76– 90; Peter M. Ruberton/Elliot Kruse/Sonja Lyubomirsky, Boosting State Humility via Gratitude, Self-Affirmation, and Awe. Theoretical and Empirical Perspectives, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 260–273. 90 Ein besonders in der Psychologie/Medizin angesiedelter Ansatz, um mit auch kulturell bedingten Ungleichgewichten in der Behandelnden/Patient:innen-Beziehung umzugehen:
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fördern gilt. Dieser Diskurs der Demut findet sich m. E. nicht zufällig besonders im englischsprachigen Raum, insofern „humility“ in Aufnahme des humilitas-Gedankens eine positivere Konnotation als die „Demut“ im Deutschen hat: „She is such a humble person“ würde im Deutschen eher mit „bescheiden“, denn mit „demütig“ übersetzt werden. Im deutschsprachigen akademischen Diskurs wird die Demut auf protestantischer Seite wenig explizit thematisiert. 91 Das erklärt sich möglicherweise dadurch, dass sie als Praxis in dieser Traditionslinie kaum existiert.92 In Publikationen von Theolog:innen, die gezielt an ein Publikum außerhalb des akademischen Diskurses gerichtet sind, erfährt die Demut hingegen eine Renaissance, welche die allgemeine Wiederentdeckung der Demut spiegelt: So verhandelt Petra Bahr die Demut unter der Überschrift „Haltung zeigen. Ein Knigge nicht nur für Christen“93 als wünschenswerte, evangelische Tugend. Ebenso versteht Siegfried Eckert die Demut als ein programmatisches Narrativ für die Erschließung christlicher Lebensführung.94 Demut wird bei beiden als ein Instrument auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und zu einem verbesserten gemeinschaftlichen Zusammenleben verstanden, von der zwar angenommen werden kann, dass sie aktual selten erreicht wird, dass sie aber prinzipiell durch eine Form von angemessenem Verhalten als Einübung in eine Haltung herbeigeführt werden kann.95 2.3. Verortung der vorliegenden Arbeit im systematisch-theologischen Demutsdiskurs In der systematisch-theologischen Theoriebildung wird die Demut in den letzten Jahren im Rahmen ethischer Überlegungen wiederentdeckt. Zwar findet vgl. aus dem Templeton Foundation Project: David K. Mosher/Joshua N. Hook/Jennifer E. Farrell/C. Edward Watkins Jr./Don E. Davis, Cultural Humility, in: Worthington/Davis/Hook, Handbook, 91–104. 91 Das gilt mit Ausnahme der Überlegungen von Meyer-Blanck zur Demut des Liturgen, der aufbauend auf Phil 2,5–11 die Demut als diejenige Form des Bezuges des Liturgen auf Christus entwickelt, mit der die Liturgie sich selbst korrektiv werden kann (vgl. Michael Meyer-Blanck, Von der Demut des Liturgen, in: PTh 82 [1993], 160–167). 92 Möglicherweise erklärt sich so auch der inflationäre Gebrauch des Wortspiels „Mut zur Demut“, vgl. Emanuel Probst, Mehr Mut zur Demut, in: Erbe und Auftrag 91 (2015), 416–418; Stephan Burger, Mut zur Demut, in: Erbe und Auftrag 91 (2015), 421–422. 93 Vgl. Petra Bahr, Haltung zeigen. Ein Knigge nicht nur für Christen, Gütersloh 2010. 94 Vgl. Siegfried Eckert, Demut. Was uns gelassener leben lässt, (edition chrismon) Frankfurt a. M. 2015; auf katholischer Seite im Sinne von Literatur zur Lebenshilfe: Anselm Grün, Demut und Gotteserfahrung (Münsterschwarzacher Kleinschriften 185), Münsterschwarzach 2012. 95 So formuliert Eckert unter der Überschrift „Demut macht den Meister“: „Die Demut kann mir helfen, sich auf die gespurten Pfade religiöser Gewohnheiten zu begeben“ (Eckert, Demut, 133).
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sich die Demut in den meisten einflussreichen Dogmatiken des 20. Jahrhunderts, dort jedoch nicht so, dass ihr eine konstitutive Bedeutung zukommt, sondern eher indem ihr wenige Kapitel und Abschnitte gewidmet werden. Eine Ausnahme bildet K. Barth: Bei ihm wird die Demut der ratio explizit thematisiert, die sich gerade nicht rühmen könne, mit „Anschauungen und Begriffen wahrhaftig Gott [zu] erkennen“96. Die Demut steht bei K. Barth in Korrespondenz zu einem Gottesverständnis, das von der grundsätzlichen Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis ausgeht, die in der Demut verarbeitet werde. Nur in dieser Haltung der Demut könne die Rede von Gott überhaupt gelingen.97 Auf dieser Linie bewegt sich auch Dietrich Bonhoeffer, der eine in diesem Sinne demütige Theologie fordert, die sich des komplexen, nicht vollständig zu erfassenden Zusammenhangs zwischen Akt und Sein bewusst ist. Mit diesen beiden Ausnahmen verschwindet die Demut jedoch fast vollständig aus systematisch-theologischen Entwürfen. Ebenso findet sich die Demut nicht in protestantischen Ethiken, wie Roderich Barth anmerkt.98 Die Demut wird nur kurz dort aufgegriffen, wo sie als Begriff aus der Tradition kaum vermeidbar ist, so bei Eberhard Jüngel in Bezug auf Phil 299 oder das Magnificat bei Wilfried Härle100. Als christliche Praxis wird sie systematisch-theologisch dementsprechend nicht profiliert. Es kann jedoch überlegt werden, ob andere Denkfiguren dem in der vorliegenden Arbeit entwickelten Demutsverständnis entsprechen,101 so z. B. die geisttheoretische Figur des Ergriffenseins bei Paul Tillich102 oder die Anbetung als Anerkennung des Willens Gottes bei Pannenberg103.
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KD II/1, 240. KD II/1, 240f. Darren O. Summer versteht Barth ausgehend von seiner Aufnahme von Phil 2,7 deswegen als kenotischen Theologen (vgl. Darren O. Summer, Karl Barth and the Incarnation. Christology and the Humility of God, London u. a. 2014, 215). 98 R. Barth, Rationality, 105. 99 Eberhard Jüngel, Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit, Theologische Erörterungen IV, Tübingen 2000; 220. 100 Vgl. Wilfried Härle, Dogmatik, 353, der die Demut im Kontext der Mariologie thematisiert. 101 Auch wenn das für die vorliegende Arbeit zu weit führt, könnte in solch einem Vorgehen ein Gewinn der mehrdimensionalen Bestimmung der Demut gesehen werden, die auch solche Referenzautor:innen für die Demut öffnet, die im bisherigen Diskurs nicht thematisch geworden sind. 102 Vgl. Tillich, Paul, Systematische Theologie III, hrsg. v. Christian Danz, Berlin/Boston 5 2017, 589–598. 103 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie Bd. 3, Göttingen 2015, bes. 234– 237. 97
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Aktuell wird die Demut in der deutschsprachigen Theologie prominent im Rahmen des emotionstheoretischen und tugendtheoretischen Diskurses platziert: 104 Demut und Stolz dienen in diesem Diskurs als komplementäre Begriffe zur Erschließung und Präzisierung der rationality of emotions, die sie anschlussfähig an eine über die Theologie hinausgehende Ethik machen. Für das Verständnis der Demut als Scharnier zwischen tugendethischem und emotionstheoretischem Diskurs ist zunächst Robert C. Roberts Konzept der Demut als „intellectual virtue“105 einschlägig. In „Spiritual Emotions“ bestimmt Roberts die Rolle der humility folgendermaßen: „Humility is not itself an emotion [...]. But humility is an emotion-disposition – primarily a negative one, a disposition not to feel the emotions associated with caring a lot about one’s status“106. In der Abgrenzung zu vanity und arrogance profiliert Roberts die Demut als diejenige Tugend, die regulierend wirke, weil sie einübe, andere als gleichwertig anzusehen, sodass die eigene Selbst-Akzeptanz (self-acceptance) nicht auf den Vergleich mit anderen gründen müsse.107 Ebenso grundlegend ist die Bestimmung von Demut und Stolz als meta-stufige Tugenden bei Christoph Halbig.108 Als solche handele es sich für ein Individuum nicht „um Einstellungen zum konkreten Wert seiner selbst und auch nicht um komparative Einstellungen, in denen sich eine Person mit anderen vergleicht. Gegenstand der Einstellung ist vielmehr in beiden Fällen eine Relation, nämlich das Verhältnis seiner selbst zu dem Anspruch, dem normativen Gesamtprofil der jeweiligen Handlungssituation angemessen Rechnung zu tragen, und [...] einen Charakter zu erwerben, der es ermöglicht, diesem Anspruch nicht nur instantan, sondern verlässlich [...] gerecht zu werden.“109
Halbig greift – im Bemühen sich von einem christlichen Demutsbegriff abzugrenzen 110 – auf Jeanine Greenberg zurück. Diese spricht im Rahmen ihrer Kant-Interpretation von der Demut als „meta-attitude which constitutes the 104
Dieses Vorgehen wurde besonders von R. Barth angeregt, der zusammen mit Martin Fritz und Heiko Schulz die programmatische Tagung „Stolz und Demut. Zur emotionalen Ambivalenz religiöser Positionierungen“ am 25.-27. Januar 2019 in Rauischholzhausen verantwortete. Der Tagungsband erscheint als: Roderich Barth/Martin Fritz/Heiko Schulz (Hrsg.), Stolz und Demut. Zur emotionalen Ambivalenz religiöser Positionierungen, (Religiöse Dynamiken in Geschichte und Gegenwart) Tübingen. 105 Robert C. Roberts, Intellectual Virtues. An Essay in Regulative Epistomology, Oxford 2007, 237. 106 Robert C. Roberts, Spiritual Emotions. A Psychology of Christian Virtues, Grand Rapids 2007, 88. 107 Vgl. Roberts, Intellectual Virtues, 241.250. 108 Vgl. Christoph Halbig, Demut und Großgesinntheit. Apologie zweier schwieriger Tugenden, in: Winfried Rohr (Hrsg.), Liebe – Eine Tugend?, Wiesbaden 2018, 335–356, hier: 351. 109 Halbig, Demut, 351. 110 Vgl. Halbig, Demut, 349.
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moral agent’s proper perspective on herself as a dependent and corrupt but capable and dignified rational agent“111. Die Demut nehme die Unmöglichkeit zu handeln (im Zustand der Fragilität) genauso in den Blick, wie die Möglichkeit trotz aller Beschränktheit nie ganz ohne agency zu sein. Voraussetzung dafür sei, mit Greenberg, zu der Einsicht in die eigene Abhängigkeit nicht über den Vergleich mit Anderen zu kommen (self-other comparison).112 Die Demut sei diejenige Haltung, in der dieser Vergleich selbst suspendiert und darüber die Möglichkeit zum Handeln wiedererlangt werde.113 Für Halbig liegt die Funktion der Demut darauf aufbauend in einer Form von Selbsterkenntnis, die als Verortungsprozess des Subjektes beschrieben wird: Der Bezug auf eine Form von A-Funktionalität („absolut Großem“) ermögliche die Relationsbestimmung des Verhältnisses zum eigenen Selbst. In diesem Sinne können Demut und Stolz analog verstanden werden.114 Die emotionstheoretische Bestimmung von Demut und Stolz als relationale Selbsterkenntnis verweist die Tugendethik zudem implizit auf die situative Relationalität normativer Ansprüche. Darin liegt, paradox gewendet, die Funktion der Demut als meta-attitude: In ethischen Bezügen macht sie auf die Schwierigkeit eindeutiger tugendethischer Bestimmungen aufmerksam und ermöglicht es, damit indirekt den Tugendbegriff selbst zu kritisieren.115 Die vorliegende Arbeit verortet sich in diesem Diskurs so, dass sie ergänzend zum emotions- und tugendtheoretischen Diskurs die Demut nicht als Haltung, sondern vielmehr als christliche Praxis profilieren möchte. Die Frage der 111 Jeanine Greenberg, Kant and the Ethics of Humility, Cambridge 2005, 133; bei Halbig, Demut, 349. 112 Das führe dann zu „inferiority, worthlessness and self-contempt“ (Greenberg, Kant, 124), welche sie in der monastischen Praxis gegeben sieht. 113 Greenberg, Kant, 130. 114 Die Referenzen eines solchen Ansatzes sind in der psychologischen Theoriebildung zu verorten: So bei Gabriele Taylor, die Demut und Stolz als positive Emotionen profiliert, sodass sie als Gegenbegriff zu Demut nicht Stolz (pride), sondern conceit und arrogance versteht (vgl. Gabriele Taylor, Pride, Shame and Guilt. Emotions of Self-Assessment, Oxford 1985, 49; vgl. dazu auch: Íngrid Vendrell Ferran, Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie, Berlin 2008, 251–256) oder bei Shawn R. Tucker, der Demut als realistische Selbsterkenntnis als höchste Form der Anerkennung des Selbst und damit als Stolz betrachtet (Shawn R. Tucker, Pride and Humility. ]A New Interdisciplinary Analysis, Basingstoke [UK 2016). Diese Bestrebungen sind insofern nicht vollständig neu, als dass auf katholischer Seite schon Leonhard Gilen 1977 den Zusammenhang zwischen Selbstwertstreben und Demut gegenüber einer nur antithetischen Gegenüberstellung profiliert hat (vgl. Leonhard Gilen, Zur Psychologie der religiösen Persönlichkeit. Selbstwertstreben und Demut, Regensburg 1977, 106f.). 115 In diesem Sinne kann Demut eine der grundlegenden Arten und Weisen der Selbstbezugnahme sein, die Frauke A. Kurbacher als besonders geeignet für den Haltungsbegriff bestimmt (vgl. Frauke A. Kurbacher, Interpersonalität zwischen Autonomie und Fragilität – Grundzüge einer Philosophie der Haltung, in: Frauke Annegret Kurbarcher/Philipp Wüschner (Hrsg.), Was ist Haltung?, Würzburg 2016, 145–162, hier: 161).
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Anschlussfähigkeit an den inter- und transdisziplinären Diskurs ist eine der Grundlagen der folgenden Kapitel: Das nimmt die Beobachtung im Forschungsüberblick auf, dass mit den Begriffen der humilitas, der Demut und der humility bestimmte Erwartungshaltungen an (christliches) gemeinschaftliches Leben verbunden werden. In der Materialfülle spiegelt sich die Ernsthaftigkeit, mit der die Demut als Sehnsuchtsfigur konstruiert wird: Die Demut fungiert als ein Begriff, der anzeigt, dass eine grundsätzliche Haltung, die nicht von reiner Machbarkeit und Selbstverwirklichung ausgeht und die nicht in Funktionslogiken aufgeht, für Einzelne wie für Gemeinschaften wünschenswert sei. Die Prämisse der praktisch ausgerichteten Reflexionen der Demut ist jedoch oftmals, dass mit der richtigen Einübung dieses Ziel garantiert werden könne. Es wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein, dass genau dieses Bedürfnis nach einer aktiven Übung der Demut nur auf komplexe und paradoxe Weise mit den Dimensionen der Demut als christlicher Praxis kompatibel ist.
3. Dimensionen der Demut zwischen performance, Performanz und Situativität 3. Dimensionen der Demut
Als bleibende Problemstellung des Forschungsdiskurses zur Demut kann die Fragestellung nach dem Zusammenhang von Funktion(en) der Demut und den damit verbundenen Erwartungshaltungen gehoben werden. Zur Erschließung der Demut als christlicher Praxis unter dieser Fragestellung werden im Folgenden Performanztheorien in der oben genannten Differenzierung zwischen performance und Performanz hinzugezogen. Die Demut wird damit zu einem materialdogmatischen Anwendungsfall des performanztheoretischen Diskurses, der über die konkreten performances und Narrative zeigt, wie dieses Zusammenspiel aussehen kann und welche Probleme damit verbunden sein können. Da es sich bei der Demut um ein Phänomen handelt, das im christlichen Kontext durch seine Leiblichkeit charakterisiert ist, rücken die performances der Demut als konstitutiver Teil performanztheoretischer Überlegungen in den Blick. Im Hintergrund stehen natürlich die Überlegungen zur funktionalen Bezugnahme auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens, die sich in performance und Performanzerfahrung gespiegelt findet, wenn sie auch nicht mit dieser identisch gedacht werden können. Dabei läuft immer die Fragestellung mit, inwiefern mit den Erwartungen an die Funktionen religiöser Praxen wie der Demut umgegangen werden kann, die sich aus dem Bezug auf momentane situative Verfasstheiten ergeben. Daraus ergibt sich für die folgenden Kapitel ein Aufbau, der eine sachlogische Unterscheidung in der Abfolge von performance, Performanz und Situativität für die Betrachtung der Demut trifft. Das geschieht anhand einer positi-
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onellen Auswahl von Referenzautor:innen, mit denen je unterschiedliche Aspekte der performance, der Performanzerfahrung und der situativen Einbettung der Demut thematisiert werden können. Dementsprechend ist die Absicht nicht, einen Beitrag zur Forschung der jeweiligen Referenzautor:innen zu leisten: So geht es z. B. nicht um eine Erarbeitung des Kierkegaardތschen Verständnisses von Demut in der Absicht, damit zur Kierkegaard-Rezeption beizutragen, sondern die Art und Weise wie Referenzautor:innen die Demut beschreiben, dient als Erschließungsmuster für die Dimensionen der Demut. Die Demut wird zunächst als performance verstanden, die durch die Dimensionen der Schutzlosigkeit und Ernsthaftigkeit gekennzeichnet ist. Diese Dimensionen werden primär im Rückgriff auf die benediktinisch-monastische Tradition erschlossen und ergänzt durch aktuelle emotionstheoretische Überlegungen, in denen die Leiblichkeit sowie die intersubjektiven Konstitutionsbedingungen von performances mit einbezogen werden können. Anschließend an die Betrachtungen zur performance der Demut werden die Performanzerfahrungen als eigenständiger Teil theologischer Reflexion ergänzt. Mit Luther und Kierkegaard werden zwei schon zeitgeschichtlich sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Performanzerfahrung präsentiert, in denen als Dimensionen der Demut die Dankbarkeit in reflektierender Rückschau und das Grauen in antizipierender Vorschau entfaltet werden. Dankbarkeit und Grauen sind hier nicht als Gegensatzpaar zu verstehen, sondern als extreme Markierungen für die vielfältigen Bewertungen einer Performanzerfahrung. Das gilt ebenso für die daran anschließenden Bestimmungen der Demut als Demütigung bei Nietzsche und als engagierte Gelassenheit bei Dietrich Bonhoeffer: Sie beschreiben Aspekte eines Spektrums, auf dem sich Demut in und für momentane situative Verfasstheiten darstellen kann. Als eine Vorbemerkung sei an dieser Stelle direkt gesagt, dass die Dimensionen der Demut nicht identisch mit den Funktionen der Demut sind: Vielmehr ist es so, dass die im Folgenden profilierten Dimensionen der Demut Betrachtungsfelder eröffnen, unter denen die Demut funktional werden kann. 3.1. Schutzlosigkeit und Ernsthaftigkeit als Dimensionen der Demut Zur Entfaltung des komplexen Zusammenhangs von performance und Performanzerfahrung wird in diesem Kapitel zunächst die Seite der performance der Demut in den Blick genommen. Die Fragestellung lautet: Wie drückt sich die Funktion der Demut in ihren performances aus und welche Erwatungen werden mit diesen performances verbunden? Das ist der Gewinn der Betrachtung der monastisch-benediktinischen Praxis, insofern dort diese funktionalen Erwartungen sehr explizit benannt werden (Gemeinschaftsstiftung und Selbsterkenntnis).
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3.1.1. Die Schutzlosigkeit in der monastischen Praxis: Regula Benedicti Als Illustration für eine idealtypische performance der Demut im monastischen Kontext wird im Folgenden die Art und Weise in den Blick genommen, wie die Demut in den Ordensregeln der benediktinischen Tradition seit der Regula Benedicti (RB, ca. 540) entfaltet wird.116 In der RB kulminiert in der Demut die Ausrichtung auf die praktische Gestaltung des gemeinschaftlichen Ordenslebens und die dahinterliegende theologische sowie existentiell-anthropologische Theoriebildung. Die Stufenregeln der Demut bilden in der RB das Zentrum der Anweisungen zum Ordensleben, die durch keine andere Praxis substituiert werden könne: Die Demut hat eine doppelte Funktion, nämlich einerseits so zur Selbsterkenntnis der einzelnen Mönche zu führen, dass dadurch anderseits ein gemeinschaftliches Leben möglich ist. In der RB kann deswegen die höchste Stufe der Demut als diejenige performance interpretiert werden, in der beide Funktionen so ineinander greifen, dass sie als körperliche Haltung das innere Erleben sichtbar machen:117 „Die zwölfte Stufe der Demut: Der Mönch sei nicht nur im Herzen demütig, sondern seine ganze Körperhaltung werde zum ständigen Ausdruck seiner Demut für alle, die ihn sehen. Das heißt: Beim Gottesdienst, im Oratorium, im Kloster, im Garten, unterwegs, auf dem Feld, wo er auch sitzt, geht oder steht, halte er sein Haupt immer geneigt und den Blick zu Boden gesenkt.“118
Die performance der Demut als Selbsterkenntnis in der RB hat eine strategische Funktion,119 nämlich die Anerkennung der Gleichheit aller Menschen, die 116 Dass die monastische Praxis immer vor dieser Problemstellung steht, zeigt sich bereits exemplarisch an den Überlegungen zur Demut in der RB, die wirkungsgeschichtlich als stilbildend für eine Vielzahl monastischer Regeln gelten kann. Da an dieser Stelle nur die Demut in der RB als wirkungsgeschichtlich relevant aufgenommen wird, muss die Abhängigkeit der RB von der Regula Magistri nicht eigens bedacht werden, vgl. dazu: Bernd Jaspert, Die Regula Benedicti-Regula Magistri-Kontroverse, (Regulae Benedicti Studia Suppl 3) Hildesheim 21977. 117 Vgl. Peter Neugeschwandtner, Demut. Das VII. Kapitel der Benediktusregel als innerer und äußerer Weg des Menschen zur Gottes- und Nächstenliebe, Kirchstetten 2003; dazu Aquinata Böckmann, Christus hören. Exegetischer Kommentar zur Regel Benedikts, Teil 1. Prolog bis Kapitel 7, St. Ottilien 2011, 341–434; Michael Casey, Truthful Living. St. Benedict’s Teaching on Humility, Petersham 1999. 118 RB VII, 62–63 (nach: Salzburger Äbtekonferenz, Die Benediktusregel lateinisch/deutsch, Beuron 1992, 113, „Duodecimus humilitatis gradus est, si non solum corde monachus, sed etiam ipse corpore humilitatem videntibus se semper indicet, id est in opere dei, in oratorio, in monasterio, in hort, in via, in agro, vel ubicumque sedens, ambulans vel stans inclinato sit semper capite defixis in terram aspectibus“, Salzburger Äbtekonferenz, Benediktusregel, 112). 119 Bernhard von Clairvaux, De gradibus humilitatis et superbiae. Über die Stufen der Demut und des Stolzes, in: Ders.: Sämtliche Werke lateinisch/deutsch II, Innsbruck 1992, 29–143, hier: 47; „humilitas est virtus, qua homo verissima sui cognitione sibi ipse vilescit“ (Bernhard, De gradibus, 46).
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konstitutiv für den Ordenseintritt und die Gestaltung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ist.120 In den liturgischen Vollzügen wie im gemeinschaftlichen Alltag im Kloster befinden sich ko-präsente Körper im Raum, die sich begegnen und in dieser Begegnung reaktiv werden: Die sich daraus ergebende Vorsicht für das Zusammenleben im Modus der Selbstzurücknahme ist in den monastischen Regeln angelegt und zwar so, dass sie in einer Selbstdeutung als demütig plausibilisiert werden kann – im Sinne der Gleichheit mit den anderen Personen, mit denen der Raum geteilt wird. Durch die habitualisierte performance der Demut soll im gemeinschaftlichen Zusammenleben ein Resonanzraum geschaffen werden, in dem die realistische Selbstbeobachtung gelingen kann.121 Die Demut entwickelt sich somit im Rahmen der Ordensregeln von einer performance zu einem bestimmenden Narrativ für das Ordensleben. 122 Das kann dort problematisch werden, wo das Narrativ der Demut autoritativ durchgesetzt wird. Das kann geschehen, wenn schon alleine die Verengung der Lebensdeutung auf bestimmte Narrative selbst als Demut gesehen wird, die dann das Potential zu verschiedenen Formen der Demütigung bietet, z. B. in der Selbstdemütigung oder in der Unterordnung unter die Autorität des Priors.123 Bei Benedikt kann diese Verengung oft an der indikativischen oder appellativen Sprache festgemacht werden („Ein Mönch ist/macht“). In ebenso indikativischer Sprache wird in der RB vorausgesetzt, dass die Demut ihre Funktion erfüllen wird, sofern die performance ordnungsgemäß und unter innerer Beteiligung vollzogen wird. Die RB setzt zudem schon in der Anlage der Demut als
120 Bernhard, De gradibus, 142. Bernhard argumentiert, dass demgegenüber das „Aufheben“ des Blickes, das „unbekümmerte Mustern“ („curiose circumspicit“) zu Vergleichen und damit zu Differenzierungen innerhalb der Gemeinschaft führt, indem man zu einigen aufsehen würde, zu anderen hingegen herabsehen würde (Bernhard, De gradibus, 105). 121 Michaela Puzicha OSB macht darauf aufmerksam, dass die Demut in der RB keine Tugend, sondern ein Lebensstil sei, der prozesshaft das Leben in der Gemeinschaft sowie die Anerkennung des eigenen Selbst ermögliche (vgl. Michaela Puzicha OSB, „...die gemeinsame Regel des Klosters [RB 7,55]. Aufsätze und Vorträge zur Benediktusregel II, [Regula Benedicti Studia 25] Sankt Ottilien 2017, 168–172). 122 Zur Demut als synonym mit dem monastischen Leben, vgl. Albrecht Dihle, Art. Demut, in: RAC 3 (1957), 736–778. 123 Dass diese Probleme offensichtlich im Blick behalten und narrativ verarbeitet wurden, deutet die von Georg Holzherr OSB (Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben, Zürich – Einsiedeln – Köln 1985, 124f.) geschilderte Anekdote an, in der ein Abt einen sich selbst kasteienden Mönch unter strategischem Einsatz im Verweis auf die Demut und den Gehorsam dazu zwingt, seinem Vorbild zu folgen und sich der Selbstkasteiung zu entziehen. Köpf führt aus, dass die Autorität (auctoritas) bei Bernhard als Hermeneutik verstanden werden kann, in der fremde Erfahrungen bei der Interpretation eigener Erfahrungen helfen (vgl. Ulrich Köpf, Religiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux, [BHTh 61] Tübingen 1980, 198f.).
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Stufenweg voraus, dass die Demut ihre Funktion als Selbsterkenntnis erfüllen kann: „Wenn also der Mönch alle Stufen auf dem Wege der Demut erstiegen hat, gelangt er alsbald zu jener vollendeten Gottesliebe, die alle Furcht vertreibt. Aus dieser Liebe wird er alles, was er bisher nicht ohne Angst beobachtet hat, von nun an ganz mühelos, gleichsam natürlich und aus Gewöhnung einhalten.“124
Dass die Erfahrung der Gottesliebe sich einstellen wird, wenn diese Stufenregelung, auch in ihrer dynamisierten Form befolgt wird, steht für Benedikt außer Frage.125 Die argumentative Begründung erfolgt in der RB über ein kosmologisch-metaphysisches Gottesbild, das mit der realen Möglichkeit göttlichen Handelns rechnet. Benedikt schließt ausdrücklich damit, dass das erbetene Endziel durch den Heiligen Geist von Anfang an idealiter erreicht werden könne: „Dies [die Gottesliebe, KO] wird der Herr an seinem Arbeiter, der von Fehlern und Sünden rein wird, schon jetzt gütig durch den Heiligen Geist erweisen.“126 Damit ist eine performanztheoretisch wichtige Bestimmung verbunden: Die Erfahrung der Gottesliebe wird als so selbstverständliche Konsequenz aus den performances vorausgesetzt, dass die Bedingungen ihres Eintreffens nicht explizit thematisiert werden müssen.127 Die Demut findet in der RB ihre Garantie im Befolgen der Anweisungen für die monastische Praxis,
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RB VII, 67 (nach Salzburger Äbtekonferenz, Benediktusregel, 115; „Ergo his omnibus humilitatis gradibus ascensis monachus mox ad caritatem dei perveniet illam, quae perfecta foris mittit timorem, per quam universa, quae prius non sine formidine observabat, absque ullo labore velut naturaliter ex consetudine incipiet custodire“, ebd. 114). 125 Trotz dieser Zielperspektive und der Konstruktion als „Stufenregel“ ist diese auf den ersten Blick sehr gradlinige Abfolge, die eine durch menschliche Anstrengung erreichbare Gottesliebe anzeigen könnte, bei Benedikt in der Anlage seiner Regel gebrochen: Die Stufen vollziehen sich nicht chronologisch, „Gehorsam“ und „Schweigsamkeit“ sind vielmehr dem Stufenweg der Demut als einzelne Kapitel vorgeordnet und sind gleichzeitig die Stufen drei, vier (Gehorsam) und neun (Schweigsamkeit) der Demut, was ein zirkuläres Denken zumindest impliziert (vgl. Frumentius Renner OSB, Die literarische Struktur der Demutsstufen in der Benediktus- und Donatusregel, in: Regulae Benedicti Studia. Annuarium Internationale 8/9 [1979/1980], 13–33; sowie André Borias OSB, „Primus humilitatis gradus est...“. Recherches sur l’hermenéutique des Saint Benoît, in: Regulae Benedicti Studia. Annuarium Internationale 14/15 [1985/1986], 59–67). 126 RB VII, 67 (nach Salzburger Äbtekonferenz, Benediktusregel, 115; „Quae dominus iam in operarium suum mundum a vitiis et peccatis spiritu sancto dignabitur demonstrare“, ebd. 114). 127 Bernhard betont, dass es Gott sei, der auf die unterschiedlichen Stufen rufe und an dessen Güte die Möglichkeit der Realisierung des Stufenweges letztlich ende (Bernhard, De gradibus, 49). Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass auch Bernhard seine eigene Demut auf zumindest fragwürdige Weise inszeniert, wenn er dem ihn Anfragenden schreibt, dass er selbst die Stufen nicht als Aufstieg der Demut, sondern nur als Stufen des Abstiegs des Stolzes beschreiben könne.
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sodass das Ausbleiben von Performanzerfahrungen jenseits dieser normativen Aspekte nicht als grundsätzliches Problem thematisch werden muss. Demgegenüber kann im Folgenden gezeigt werden, dass auch diese auf den ersten Blick eindeutigen Bestimmungen in der RB in der monastischen Praxis über ihre konstitutive Leiblichkeit als performance unterlaufen wird. Dafür sei an dieser Stelle noch einmal das Zitat aus der RB aufgerufen: „Der Mönch sei nicht nur im Herzen demütig, sondern seine ganze Körperhaltung werde zum ständigen Ausdruck seiner Demut für alle, die ihn sehen.“128 Als Körperhaltung ist die Demut bei Benedikt dezidiert als äußere Repräsentanz innerer Vorgänge gedacht und in der RB durch das Neigen des Hauptes und das Senken des Blickes charakterisiert. Dass die RB hier von „Blicken“ spricht, ist eine Konsequenz, die sich aus der Funktion der Demut als Selbsterkenntnis ergibt, wenn diese wörtlich oder metaphorisch in leiblichen Semantiken erschlossen wird. In der RB gehören zur Selbsterkenntnis Modi des „Sich-Sehens“, die als sehr statisches „Von-Sich-Selbst-Absehen“ gedacht und die als Richten des Blicks sehr eindeutig bestimmt sind (aspexit). Das wird in der kritischen Interpretation der RB durch Bernhard von Clairvaux dynamisiert:129 Bei Bernhard ist in „De gradibus humilitas et superbiae“ (1124) die performance der Demut als ein Blickwechsel gedacht, in den die Erde aktiv miteinbezogen ist: „Blick zur Erde, um dich selbst zu erkennen: Sie wird sich dir vor Augen stellen (repraesentabit), denn du bist Erde und wirst zur Erde wiederkehren.“130 Bernhard führt das bei Benedikt angelegte Motiv des Blicks zur Erde so weiter, dass dieser nicht selbstverständlich ist, sondern hermeneutische Funktion hat, insofern der Blick zur Erde auf die Fragilität des Menschen verweist: Die Selbsterkenntnis, um die es Bernhard geht, ist die sich im Blick auf die Erde erweisende realistische Anerkenntnis der eigenen Konstitution als menschlich und damit sterblich.131
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RB VII, 62–63 (nach: Salzburger Äbtekonferenz, Benediktusregel, 112; kursiv KO). Vgl. Jean Leclercq, Bernhard von Clairvaux. Ein Mann prägt seine Zeit, München 1990; der hervorhebt, dass Bernhard die Ausführungen zur Demut in situativ narrativ entfalteten Porträts von „Charakteren“ im künstlerischen Stil durchführt (Leclercq, Bernhard,119). 130 Bernhard, De gradibus, 89; „Terram intuere, ut cognoscas te ipsum. Ipsa te tibi repraesentabit, quia terra es et in terram ibis“ (Bernhard, De gradibus, 89). Daran anschließend kann Bernhard zu der vielzitierten Erkenntnis kommen: „Die Demut ist die Tugend, durch die sich der Mensch in der aufrichtigsten Selbsterkenntnis für gering einschätzt“ (Bernhard, De gradibus, 47); „humilitas est virtus, qua homo verissima sui cognitione sibi ipse vilescit“ (Bernhard, De gradibus, 46). 131 Insofern diese Form von Demut die erste Stufe ist, greift die an Kant entfaltete Kritik von Greenberg an Bernhard nicht: Denn die Demut bei Bernhard beginnt nicht mit den „habits of self-comparison“ (Greenberg, Kant, 123), sondern diese werden aus der Perspektive der durch den Blick auf die Erde gelenkten realistischen Selbsteinschätzung getätigt. Ulrich 129
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So verstanden macht die Demut in der monastischen Praxis auf eine Dimension aufmerksam, die für den Zusammenhang von individueller momentaner situativer Verfasstheit und kollektiver Einbettung relevant ist: Nämlich das Problem der Beobachtbarkeit dieser Vollzüge, das mit Luhmann als Beobachtung erster wie zweiter Ordnung verstanden werden kann.132 Der Blick auf die Erde in der Haltung der Demut ist eine Beobachtung erster Ordnung, in der sich idealiter die Welt anders erschließt. Insofern diese performance selbst wieder beobachtbar werden kann, ist eine Beobachtung zweiter Ordnung evoziert: Beobachtende zweiter Ordnung können nun das zu Beobachtende zuerst nur durch die Relation zur Beobachtung erster Ordnung wahrnehmen.133 Aus performanztheoretischer Perspektive wird mit der Beobachtbarkeit der performances ein Problemhorizont eröffnet, der die sehr optimistische Haltung unterläuft, in der die RB die äußeren Vollzüge als Repräsentanzen des inneren Erlebens sehen kann: Das Gelingen oder Ausbleiben einer performanten Erfahrung ist nicht an der äußeren peformance ablesbar. Es ist nicht feststellbar, ob jemand, der die Augen auf den Boden senkt, heuchelt oder ernsthaft um Demut bemüht ist, oder ob er gar in diese Haltung gezwungen wurde oder aus ganz anderen Gründen zur Erde blickt. Die Beobachtenden und möglicherweise auch der Selbst-Beobachtenden können anhand der performance allein nicht bestimmen, ob es zu einer Performanzerfahrung gekommen ist. Für diesen Zusammenhang von beobachtbarer performance und dem sich Einstellen oder Ausbleiben der Performanzerfahrung kann somit die „Schutzlosigkeit“ als eine Dimension der Demut profiliert werden. Stoellger macht hierfür weiterführend auf den Unterschied zwischen visibility und exposure aufmerksam, der so aufgegriffen werden kann:134 Die performance der Demut ist nicht nur visible, sondern auch exposure, d. h. ein „Aufgedecktwerden“, indem die eigene Sichtbarkeit bewusst wird. Die Sichtbarkeit bedeutet in der verleiblichten performance der Demut dementsprechend immer auch ein „Ausgesetztsein“ oder – das ist an dieser Stelle wichtig – in monastischen Praxen ein im Idealfall freiwillig geschehendes „Sich-Aussetzen“. In der aktiven Komponente dieses „Sich-Aussetzens“ ist die der Geste der Demut inhärente Schutzlosigkeit nicht aufgehoben, sondern kann wiederum auf die eigene Sichtbarkeit aufmerksam machen und so weitere Schutzlosigkeit evozieren. Dass die eigene Beobachtbarkeit als exposure gewahr wird, kann sogar eine Köpf pointiert das, indem er die Theologie Bernhards ausgehend vom Erfahrungsbezug bestimmt, in der Stufenweg und Autorität als hermeneutische Erschließung der Erfahrungsdimension des religiösen Lebens verstanden werden kann (Köpf, Religiöse Erfahrung). 132 Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft II, 766f. sowie 1120–1123; als grundlegende Verfahrensweise der Soziologie, Wissenschaft der Gesellschaft, 72–74. 133 Gesellschaft der Gesellschaft II, 94. Luhmann selbst nimmt den Aspekt der Macht bewusst von diesen Überlegungen aus (vgl. Wissenschaft der Gesellschaft, 74, Fn 13). 134 Stoellger führt diese Unterscheidung anhand der performance-art Aufführung „Emergence“ ein (Stoellger, Passions’ Performance, 185–207).
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eigentlich performante Erfahrung unterbrechen, wenn in das Bewusstsein rückt, dass man selbst beobachtet wird oder potentiell beobachtet werden könnte: Das kann z. B. dort geschehen, wo performances in gottesdienstlichen Vollzügen gefilmt oder fotografiert werden und damit die Möglichkeit der Beobachtung äußerst deutlich in den Raum eingetragen ist.135 Unabhängig von der Dauer oder dem Gegebensein der performanten Erfahrung überhaupt gilt, dass sich andere Narrative der eigenen Selbstdeutung in den Vordergrund drängen können, die in dem Moment der exposure als schwierig empfunden werden. Denn die Anderen können den Blick repräsentieren, den ich auch auf mich selbst richten kann und in dem die eigene Schutzlosigkeit aufgedeckt wird. Die Bandbreite kann von höchster Scham über das Angesehen-Werden bis hin zur Erleichterung darüber reichen, so gesehen zu werden, wie man ist. Die Dimension der Schutzlosigkeit – die sich wie gesagt situativ unterschiedlich darstellen kann – ist nicht mit der antizipierten Funktion der Demut in der monastischen Praxis identisch, ihr jedoch über ihre Konstitution als performance in leiblicher Ko-Präsenz inhärent: Die leibliche Praxis macht auf die Schutzlosigkeit als Dimension der performance der Demut aufmerksam, anhand derer die a-funktionale Dimension von Glaubensvollzügen (als exposure) aufgedeckt (exposed) werden kann.136 Es wird im Folgenden herausgearbeitet, dass diese funktionalen Erwartungen nicht identisch mit den Dimensionen sein müssen, auf welche die Demut in ihrer leiblichen Einbettung in monastischen Lebensvollzügen verweist. Diese impliziten Dimensionen können über die Fokussierung auf die performances ebenso in den Blick kommen: Die Dimensionen der Demut können als eine Form von verborgener Erwartung an die Demut verstanden werden, die besonders in ihren konkreten Ausdrucksgestalten wie der 135
Auf diese Unverfügbarkeit, gerade dann, wenn sie erzwungen werden soll, reflektiert Harnack für das Mönchtum in der Alten Kirche m. E. sehr treffend: „[S]o wollte man den Frieden der Seele in der Contemplation Gottes erzwingen: Rein sein und schweigen. Aber sie selbst [die Asketen, KO] mussten gestehen, daß die Empfindung des Friedens nur selten und nur auf Minuten über sie kam“ (Adolf von Harnack, Das Mönchthum. Seine Ideale und seine Geschichte, Berlin 1895, 21). 136 Das ist auch der Entdeckungszusammenhang für diese Theoriebildung, der durch ein mir bekanntes fünfjähriges Kind, Ella Marie Kämpfer, angestoßen wurde: Sie beobachtete die leiblich-körperliche performance der Brüder der Communauté von Taizé im Rahmen des Freitagsabendgebetes am Kreuz, in der die Brüder sich kniend mit dem Gesicht zur Kreuzikone herabbeugen und in dieser Haltung verharren. Ihre eigenständige Interpretation war, dass sie und die anderen beim Abendgebet anwesenden Kinder zwar um die Brüder herumsitzen würden, aber nicht mitbeten und sich zum Kreuz hinabbeugen würden, sondern stattdessen die Brüder beschützen würden. Denn die Brüder wären ja klein und könnten nichts sehen, wenn sie sich zum Kreuz herabbeugen. Es zeigt sich exemplarisch, wie die leibliche performance etwas erschließen kann, wenn sie – hier aus intuitiv-kindlicher Perspektive – ernst genommen wird. Die Schutzlosigkeit über die konkrete performance hinausgehend als Dimension der Demut zu verstehen, verdankt sich dem Austausch mit Frère Timothée (Communauté de Taizé).
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Leiblichkeit präsent ist, auch wenn sie z. B. in den normativen Texten der monastischen Praxis nicht immer ausreichend reflektiert wird. Die Leiblichkeit als hermeneutische Erschließung von Demut ist aus sachlogischen Gründen der Frage nach der Performanz vorgelagert, sodass nun eine die sonstige Chronologie durchbrechende Erörterung der emotionstheoretischen Perspektive auf die Demut erfolgt. 3.1.2. Die Ernsthaftigkeit der Haltung der Demut Die obige Betrachtung der Demut in der monastischen Praxis kann im Rahmen des Ansatzes von Dalferth und Simon Peng-Keller als verleiblichtes Verstehen bestimmt werden, 137 insofern sie in ihrer leiblichen performance mit der Schutzlosigkeit auf eine Dimension verweist, die über die explizite Funktionsbestimmung in der RB hinausgeht. Die Rede vom „verleiblichten Verstehen“ erschließt bei Dalferth und Peng-Keller, dass die Reflexion religiöser Vollzüge, wie z. B. des Gebetes, nicht nur aus ihren Sinngehalten besteht, sondern ebenso „die Bedeutung der Leiblichkeit des Betens und der Sinnlichkeit seines Sinns“138 mit einschließen kann. Das gilt unter der Prämisse, dass Vollzüge wie das Beten nie in „Reinform“ vorkommen, sondern nur als „Lebensvollzüge“, die einen „anthropologisch, psychologisch oder soziologisch beschreibbaren Ort im menschlichen Leben [haben, sowie] leibliche Qualifikation durch expressive, affektive, emotionale oder rezeptive Vollzüge“139. Der Gewinn des Ansatzes liegt darin, dass verleiblichte Vollzüge von Peng-Keller und Dalferth als eigenständige Kategorie theologischer Theoriebildung so profiliert werden, dass es für die in der vorliegenden Arbeit geschehende Theoriebildung anschlussfähig ist: Ein Vergleich der leiblichen performances der Demut könnte dort als Ergänzung hinzugezogen werden, wo komparative Ansätze vor der Problemstellung stehen, dass sich eine direkte Übersetzung von „Demut“ oder „humilitas“ in andere Sprach- und Kulturräume schwierig gestaltet. Zudem kann der Blick auf die performance der Demut als Haltung in verleiblichter 137 Die Rede vom „verleiblichten Verstehen“ machen Peng-Keller und Dalferth als eine „Hermeneutik des Ereignis des Gebets“ stark (so der Titel des gemeinsamen Forschungsprojektes; vgl. Ingolf U. Dalferth/Simon Peng-Keller [Hrsg.], Beten als verleiblichtes Verstehen. Neue Zugänge zu einer Hermeneutik des Gebets, [QD 275] Freiburg i. Br. u. a. 2016). 138 Dalferth/Peng-Keller, Beten, darin: Vorwort, 7f., hier: 7. 139 Dalferth/Peng-Keller, Beten, darin, Einleitung, 9–22, hier: 11. Daraus folgt für Dalferth und Peng-Keller, dass die theologische Reflexion nicht nur das Gebet einer einzelnen Person in den Blick nehmen sollte – das ist die Kritik der Autoren an Gerhard Ebelings Gebetstheorie – sondern vielmehr „gemeinschaftliche Gebetsformen und die stimmlich-leibliche Dimension“ konstitutiv mit zum Gebet gehören (Dalferth/Peng-Keller, Beten, 13). Insofern jedes Gebet situativ und durch die gemeinschaftliche Praxis präfiguriert ist, ist es folgerichtig, dass im Tagungsband verschiedene Traditionen mit ihren jeweils eigenen Gebetsverständnissen unter der Prämisse der Leiblichkeit in den Blick kommen.
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Gestalt und ko-präsenten Räumen den emotionstheoretischen Diskurs ergänzen, wie im Folgenden gezeigt wird. Die Funktion der Demut wird im emotionstheoretischen Diskurs als dasjenige Phänomen gesehen, an dem sich die Verbindung von emotionstheoretischem und tugendethischem Denken besonders eindrücklich zeigen lässt. Diesen Ansatz nimmt R. Barth seit seiner Antrittsvorlesung an der Universität Gießen 2014 zunächst für die Demut und dann ausgeweitet auf den Stolz im deutschsprachigen Diskurs kritisch auf. 140 R. Barth konstatiert, dass Demut nicht eine Form der apathe sei, sondern eng mit den Gefühlen verknüpft, sodass „Demut im tugendethischen Sinne [...] weniger ein einfaches Gefühl, als eine bestimmte Haltung zu Gefühlen ist.“141 Die Demut als eine solche Haltung ermögliche es mit der Spannung von diastatischen Situationen wie Hoheit und Niedrigkeit einerseits umgehen zu können, trage diese jedoch andererseits so in die Haltung (attitude) des Subjekts ein, dass sie Teil der Selbst-Wahrnehmung (self-assessment) werden.142 Die Funktion der Demut wird von R. Barth darin bestimmt, ein Integral bereitzustellen, „das negative Gefühlsmomente umgreift, ohne in ihnen gänzlich aufzugehen,“143 also eine Form von Gefühlsregulierung zu ermöglichen, in der die situativ empfundenen Gefühle transzendiert werden. Die Demut kann somit – auf der Ebene einer meta-stufigen Haltung – als Kommentar des emotionstheoretischen Diskurses zu religiösen Phänomenen gesehen werden, dessen Gewinn darin liegt, emotionales Erleben
140 Roderich Barth, Die Dialektik der Demut. Emotionstheoretische Überlegungen zu einer christlichen Tugend, auf Deutsch bisher unveröffentlichtes Manuskript der Antrittsvorlesung von Roderich Barth, Justus-Liebig-Universität Gießen, 05.06.2014; leicht verändert veröffentlicht als: R. Barth, Rationality, 101–116. 141 R. Barth, Dialektik der Demut; „If we understand humility, in a virtue ethical sense, as a basic attitude or disposition of this kind, it is not so much a simple emotion, but rather a certain attitude towards emotions“ (R. Barth, Rationality, 108). Landweer und Wüschner bestimmen, dass die Demut als indirekte Emotion zwischen Haltung und Emotion stehe. Für die Demut sei „wie bei vielen indirekten Emotionen, die ein Netzwerk aus Bezüglichkeiten bilden, der Schritt zur Haltung bereits halb vollzogen: Die angesprochenen Emotionen können zugleich auch als Haltungen verstanden werden“ (Hilge Landweer/Philipp Wüschner, Wie entsteht Gerechtigkeit? David Humes Affekttheorie als Propädeutik zu einer Theorie der Haltung, in: Kurbarcher/Wüschner, Haltung, 63–88, hier: 73) 142 Vgl. R. Barth, Rationality, 113. R. Barth zeigt dabei exemplarisch auf, wie Demut in verschiedenen Kontexten als Rationalisierungsmethode dienen könne: In den neutestamentlichen Texten zur Verarbeitung der Erfahrung der Niedrigkeit Jesu am Kreuz, bei Augustin zur Einbeziehung der Bußtheologie in die Ethik, in der Moderne als eine Form der Vergewisserung des Selbst als Teil menschlicher Freiheit (vgl. R. Barth, Rationality, 108–111). 143 R. Barth, Dialektik der Demut, „ [It] allows for an understanding of humility as an integral that comprises negative emotional aspects, but is not exhausted by them“ (R. Barth, Rationality, 114). 143 R. Barth, Dialektik der Demut.
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über den Verweis auf ein (transzendentes) Drittes in den Blick nehmen zu können und einen – rationalen – Umgang mit diesem zu ermöglichen, ohne es gleich zu dramatisieren.144 Die Bevorzugung des Haltungs- vor dem Tugendbegriff für die Demut wird in der vorliegenden Arbeit aus den folgenden Gründen aufgegriffen: Haltung deutet ein hintergründig mitlaufendes Phänomen an, das situativ unterschiedlich ausgeprägt ist und sich als Handlung nur in konkreten Situationen ausdrückt.145 Zudem verweist die Rede von der Haltung in ihrer Doppeldeutigkeit auf solche habitualisierten Körperhaltungen, die beobachtbar sind und damit schon in ihrer Leiblichkeit konstitutiv die Differenz zwischen innerer und äußerer Haltung anzeigen.146 Ergänzend kann deswegen Jan Slabys Verständnis von Haltung mit aufgenommen werden, der die aktive Komponente auch einer habitualisierten Haltung betont: Haltung impliziere, nicht in eine Passivität zu versinken, welche die Welt nur unter einem „Imperativ einer Gewöhnung an ein Leben in auf Dauer gestellten Gefährdungslagen“147 kenne. R. Barth reißt den Aspekt der Leiblichkeit der Demut nur an. Es ist jedoch weiterführend, welches Beispiel er dafür nimmt: Willy Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto (1970) dient ihm als Illustration einer solchen Haltung der Demut, die eine rationale Verarbeitung der diastatischen Empfindungen von Würde und Scham angesichts des Ghettos ermögliche und diese in die Geste integrieren könne. Mit dem Kniefall Brandts greift Barth eine mögliche leibliche performance der Demut auf, mit der die Demut als abwägende und beruhigende Haltung gegenüber hoch emotionalisierten Gefühlszuständen illustriert werden kann. Für die Problemstellung der vorliegenden Arbeit wird das so verstanden, dass in der Haltung der Demut angezeigt ist, dass es „um etwas 144
R. Barth, Dialektik der Demut. Barth verweist darauf, dass diesem Unbedingtheitsbezug „eine prinzipielle Affinität und Offenheit für religiöse Auslegungen“ eignet, die er besonders in Jesu Hingabe an den göttlichen Willen sieht. R. Barth und Zarnow machen gerade die Möglichkeit einer „spezifischen Erlebnistiefe“, definiert als „Feierlichkeit, Ernsthaftigkeit oder Intensität“ als ein Proprium religiöser Gefühle aus (Roderich Barth/Christopher Zarnow, Das Projekt einer Theologie der Gefühle, in: Dies. [Hrsg.], Theologie der Gefühle, Berlin/Boston 2015, 1–19, hier: 9). 145 Vgl. dazu: Kurbarcher/Wüschner, Haltung; Frauke Annegret Kurbacher, Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung, Würzburg 2017; Philipp Wüschner, Eine aristotelische Theorie der Haltung. Hexis und Euexia in der Antike (Paradeigmata Band 35), Hamburg 2016; Eva Weber-Gurska, Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde, Münster 2016. 146 Zum Begriff der Haltung in dieser Doppeldeutigkeit und ihrer Etymologie vgl. Thomas Wild, Was wissen wir von Haltung? Eine kleine enzyklopädische Suche, in: Kurbacher/Wüschner, Haltung, 91–108. Schmidt argumentiert, dass sich die Haltung in der „Semantik von innen und außen“ (Schmidt, Gewahrte Haltung, 552) und deren In-Eins-Fallen abbilden lasse, als ein „eigentümliches Zugleich von Zeigen und Verbergen, von Selbstausdruck und Selbstverstellung“ (Schmidt, Gewahrte Haltung, 552). 147 Jan Slaby, Kritik der Resilienz, in: Kurbacher/Wüschner, Haltung, 273–289, hier: 292.
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geht“: Die Demut macht schon dort, wo ihre performance im Wesentlichen in der rationalen Verarbeitung emotionaler Zustände gesehen wird, darauf aufmerksam, dass diese situativen Verfasstheiten offensichtlich wichtig genug sind, um einen Umgang zu erfordern. Um diese Dimension der Demut zu erfassen, wird der „Ernst“ oder die „Ernsthaftigkeit“ (sincerity) von R. Barth aufgegriffen, mit der er die die Demut begleitende Stimmungslage (mood) beschreibt: Diese kann „als eine gegenüber dem überschwänglichen Hochmut gesenkte, vielleicht mit einer aus überwundener Trauer resultierende Spur des Ernstes versehene Stimmungslage [abgegrenzt werden], ohne sie jedoch mit einem ängstlich-verzagten Kleinmut zu verwechseln“148. In diesem Sinne kann die Dimension der Ernsthaftigkeit verstanden werden: Sie verweist auf die momentanen situativen Verfasstheiten, in denen mit der performance der Demut bestimmte Erwartungen verknüpft werden. Um das Spektrum der performances der Demut abbilden zu können, mit denen angezeigt wird, dass es in voller Ernsthaftigkeit „um etwas geht“, werden im Folgenden dem Kniefall Brandts scheinbar höchst konträre, ekstatische Ausdrucksformen der Demut in den Blick genommen: Dabei wird auf die Analyse von Bekehrungserlebnissen in der Erweckungsbewegung des 18. Jahrhunderts in Neuengland zurückgegriffen, die Katharina Krause vorgelegt hat. Krause arbeitet unter der Prämisse, dass auch die Formen ekstatischer Bekehrungserfahrungen als „karthatisches Emotionsmanagement [...] als eine Form religiösen Copings“ 149 erscheinen können. Sie konkretisiert das anhand des Beispiels eines Bekehrungserlebnisses aus dem Jahre 1742 in welcher eine jugen Frau namens Sarah Edwards die Demut angesichts der Heilserfahrungen in „Freudensprüngen“ zum Ausdruck bringe.150 Krause macht drauf aufmerksam, dass die performances in ihrer Körperlichkeit und Emotionalität im Rahmen der protestantischen Bekehrungsfrömmigkeit hoch normiert sind: Geistgewirkte Rede wird dort laut Krause als intentional selektierende und vor allen Dingen über körperbetonte wie rhetorische Strategien als überwältigende Rede inszeniert.151 Die – als unweigerlich – verstandene Reaktion darauf ist die Bekehrung in Demut. 148 R. Barth, Dialektik der Demut, „[O]ne can distinguish it from exalted pride by describing it as lowered mood with a trace of sincerity that might stem from having overcome a sadness“ (R. Barth, Rationality, 115). 149 Katharina Krause, Bekehrungsfrömmigkeit. Historische und kultursoziologische Perspektiven auf eine Gestalt gelebter Religion, (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 23) Tübingen 2018, 176. 150 Sarah sei „faint with joy“ (bei Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, 177). 151 Krause, Bekehrungsfrömmigkeit,170; vgl. auch die von ihr aufgelisteten Beschreibungen von „Predigt-Performances“, die in allerhöchster Dramatik inszeniert werden: „Währenddessen sprängen die von Heilfreude Überwältigten umher, sängen aus voller Kehle und verursachten mit ihren Lachkrämpfen einen solchen Lärm, dass er noch meilenweit zu hören sei“ (Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, 179).
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Krause hebt hervor, dass als Ziel der ekstatischen Momente eine Form von Verarbeitung von Lebenserfahrungen intendiert sei, weswegen die Ekstasen im emotion talk begleitet und für andere erschlossen würden.152 Die vorgeprägten Narrative der Bekehrungserlebnisse, die Krause untersucht, lassen dennoch kaum Raum für Alltagserfahrungen, insofern diese immer vor der göttlichen Erfahrung verblassen müssen, so Krause.153 Kriterium dafür, wie über eine ekstatische Erfahrung geredet werden könne, sei – trotz der dramatisierenden und emotionalisierenden Beschreibung – die Norm der Ernsthaftigkeit (sincerity), die diesen Beschreibungen zugrunde liege.154 An dieser Stelle könnte m. E. die Differenzierung zwischen performances und Performanz hilfreich sein, denn was Krause hier beschreibt, sind performances, deren Performanz aus den Berichten nur vermutet werden kann. In diesen von Krause analysierten performances der Demut drückt sich ein funktionaler Bezug auf das A-Funktionale aus, der als Überwältigungsgeschehen in Ernsthaftigkeit codiert ist, in dem die momentanen situativen Verfasstheiten verarbeitet werden155 Die performances können auf der Ebene von Glaubenserfahrungen so als sich gegenseitig ergänzend und korrigierend verstanden werden, wie es für Narrative und Narrationen auf der Ebene der religiösen Verkündigung profiliert wurde: Die leiblichen performances der Demut können – gerade in ihren scheinbaren Extrempositionen – darauf aufmerksam machen, dass sich der individuelle Bezug auf das A-Funktionale situativ je anders vollzieht. Weder kann Demut nur als Regulierung und Rationalisierung von emotionalen Zuständen noch nur als Übersteigerung und dramatisierter Ausdruck dieser Zustände beschrieben werden. Der stille Kniefall und die freudenspringende Ekstase können vielmehr als Positionen eines Spektrums verstanden werden. In diesem Sinne kann die Ernsthaftigkeit als eine Dimension der Demut festgehalten werden, ohne dass damit eine Reduzierung auf bestimmte Gesten oder emotionale Stimmungslagen erfolgen würde. 152
Krause profiliert das für die innere Eigenlogik im Gefühlserleben der Zeit: „Ekstatisches Erleben erweist sich, wird darunter ein ich-entgrenzendes Gewahrwerden eines Transzendenten verstanden, als ein konstitutives Moment bekehrungsfrommer Gefühlsordnungen. [...] Ekstatische Erfahrungen werden darin all jenen zugänglich, die mit der Erfahrungslogik der kathartischen Spirale vertraut sind und die beschriebenen emotionalisierenden Praktiken kompetent anzuwenden wissen“ (Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, 172). 153 Vgl. Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, bes. 250–254. 154 Krause zeigt auf, wie Edwards auf eine Beurteilung ihrer performance von außen, die ihr als nicht ernsthaft genug erscheint, mit einem Verweis auf diese existentielle Dimension in der nächsten performance reagiert (vgl. Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, 177). 155 Vgl. dazu den bei Krause zitierten Auszug aus der Beschreibung der Erfahrung Sarah Edwards: „I was at once filled with such intense admiration of the wonderful condescension and grace of God [...] as overwhelmed my soul, and immediately took away my bodily strength“ (bei Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, 175). Krause bewertet das folgendermaßen: „Das Überwältigtwerden ihrer Seele angesichts des Wirken göttlicher Gnade aktualisiert sie in den Performanzen eines bezwungenen Körpers“ (Krause, Bekehrungsfrömmigkeit, 175).
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An dieser Stelle kann die Rede von der Ko-Präsenz in Fischer-Lichtes Analyse von performances in theaterwissenschaftlichen Kontexten aufgegriffen werden, um auf einen weiteren Themenkomplex zu verweisen, der in der Analyse der Demut in den folgenden Kapiteln hintergründig mitlaufen wird. Dieser beinhaltet die Frage nach dem Zusammenhang von verleiblichten Körperpraxen in Gemeinschaften und den dahinter liegenden Normativitäten: FischerLichte geht davon aus, dass in einer Theaterinszenierung die Körperlichkeit in einem gemeinschaftlichen Akt explizit gemacht wird,156 der auf Ko-Präsenz und auf Resonanz angewiesen ist. Im Theater ist damit immer die Frage verbunden, wer eigentlich eine Aufführung inszenieren kann: Die Regieführenden, die Schauspieler:innen, das Publikum oder eine Vielzahl weiterer Akteur:innen.157 Das kann als leiblich-affektive Wendung dessen verstanden werden, was bei Butler in den sprachtheoretisch-soziologischen Überlegungen zur Macht entfaltet wird:158 Wer bestimmt, was performed wird (und hat damit auch Kontrolle über die Körper in der Inszenierung) und wer deutet eine bestimmte Aufführung als performance? In diesem Zusammenhang macht die katholische Systematikerin Saskia Wendel unter Bezugnahme auf Foucaults Diskurstheorie159 darauf aufmerksam, dass gerade performante, verleiblichte Körperpraxen hoch diskursiv geprägt und in Legitimierungs- und Plausibilisierungsstrukturen von Macht eingebunden seien: „[E]s geht nicht zuletzt vor allem auch um die Kodifizierung dieser Praxen durch moralische Regeln und Ge- bzw. Verbote, durch normierende Codes, kurz: es geht immer auch um den kritischen Blick auf hegemoniale Körperdiskurse“160. Die Frage nach der Normativität von (religiösen) performances ist nicht ausschließlich an leibliche Praxen gebunden: Sie wird durch diese jedoch sichtbar (in der Ambivalenz von visibility und exposure) und kann aufgrund der Repräsentanz der Leiblichkeit in gemeinschaftliche Vollzüge rückwirken, um dort auf bisher unsichtbare Machtstrukturen aufmerksam zu machen. Hier bietet die performanztheoretisch differenzierte Begrifflichkeit die Möglichkeit zur Klärung, wie performances in ko-präsenten Räumen verstanden werden können: Die Performanz kann nicht beobachtet werden. Die performances können hingegen in ihren
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Fischer-Lichte, Ästhetik, 38. Fischer-Lichte, Performativität, 58. Aus dieser Betonung der „Ko-Präsenz“ erwachsen für Fischer-Lichte drei Kategorien von „Inszenierungsstrategien“ (die als solche im Bewusstsein der Unwägbarkeit markiert werden), nämlich a) der Rollenwechsel zwischen Akteur:innen und Zuschauenden, b) die Bildung einer Gemeinschaft und c) verschiedene Modi der Berührung (Fischer-Lichte, Ästhetik, 62). 158 Vgl. Butler, Haß spricht; sowie Butler/Athanasiou, Macht. 159 Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983. 160 Saskia Wendel, Resilienz – Diskursive, machtbesetzte und performative Körperpraxis, in: Richter, Ohnmacht, 133–145, hier: 141. 157
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verleiblichten Formen beobachtet werden und deswegen folgendermaßen verstanden werden: Es wird nicht die Performanz selbst in den performances der Demut sichtbar, vielmehr können die repräsentativ geschehenden performances der Demut als Ausdruck der Hoffnung auf performante Erfahrungen verstanden werden sowie – im Idealfall – als verleiblichter Umgang mit dem Sich-Einstellen und Ausbleiben performanter Erfahrung.161 Darüberhinaus kann es jedoch auch zu einer Form von nicht-intentionaler, atmosphärischer Emotionsbildung kommen. 162 In einem Raum können, mit Hilge Landweer, gemeinschaftlich geteilte Emotionen entstehen, die sich individuell möglicherweise nicht hätten bilden können und als leibliche Resonanz über die Summe der je individuellen Emotionen hinausgehen. 163 Für die Demut als performance kann sich dies z. B. in liturgischen Räumen plausibilisieren: Wenn alle an einem Gebet oder Gottesdienst Beteiligten in anbetender Haltung auf das Kreuz blicken, kann in der leiblich geteilten Sphäre des (Kirchen-)Raumes ein intersubjektives Gefühl von Demut entstehen.164 Dieses Gefühl kann sich in bestimmten Situationen auch textlich verdichtet in kollektiven Narrativen wiederfinden (z. B. in der Rede von Schwachheit oder Verletzlichkeit). Diese können dann – im Sinne des Präsenzraumes bei Fischer – eine Möglichkeit eröffnen, sich auf das Gefühl als „im Raum Stehendes“ zu beziehen, ohne es selbst zu teilen. Das kann als das Ideal der Demut in der RB und der monastischen Praxis verstanden werden, das jedoch dort unterlaufen wird, wo der freiwillige Bezug nicht gewahrt bleibt. Die Funktion der performance der Demut kann in diesem Kontext in paradoxer Weise in den problematischen
161 Schmidt führt aus, dass auch inszenierte Körperhaltungen dazu führen können, dass „ein Vorgang der sukzessiven Resubjektivierung“ in Gang gesetzt werden könne, der über die veränderte Körperhaltung zu einer veränderten Haltung führen kann. Dabei müsse gewahrt bleiben, dass der Verlauf der Resubjektivierung vollständig offen ist (Jochen Schmidt, Gewahrte Haltung. Überlegungen zu einer skeptischen Tugendethik, in: NZSTh 60 [2018], 548–558, hier: 554f.). 162 Vgl. zum Begriff des „Atmosphärischen“: Johannes Fischer, Emotionen und die religiöse Dimension der Moral. Zum Reflexionsgegenstand einer theologischen Ethik, in: Barth/Zarnow, Theologie, 191–205, bes. 195–198; sowie: Ders., Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur Handlungen geht, Stuttgart 2012. 163 Vgl. Hilge Landweer, Therapeutik der Affekte. Leibliche Resonanz und Gemeinschaftsgefühle als Bewältigungsstrategien, in: Richter, Ohnmacht, 71–89, hier: 81; Dies., Gemeinsame Gefühle und leibliche Resonanz, in: Undine Eberlein (Hrsg.), Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen – Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge, Berlin 2016, 137–174, hier: 169. Dies., Leibliche Interaktion und gemeinsame Absichten, in: Marta Ubiali/Maren Wehrle (Hrsg.), Feeling and Value, Willing and Action. Essays in the Context of a Phenomenological Psychology, (Phaenomenologica 216) Cham u. a. 2015, 263–291. 164 Landweer beschreibt dieses für einen alltäglichen Blickwechsel, nämlich das flüchtige Ansehen und Angsehenwerden zwischen Passant:innen, die dadurch ihre Bewegungen im Raum koordinieren (Landweer, , 81).
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Aspekten ihrer Leiblichkeit gesehen werden, die oftmals als Unterdrückungsgesten codiert sind, wie es für die monastische Praxis und die Analyse der Bekehrungserlebnisse durch Krause gezeigt wurde. Das gilt umso mehr, insofern die Dimension der Ernsthaftigkeit in der Demut nicht nur verleiblicht wird, sondern als verleiblichte Dimension auch im Raum steht und diese auf einem Spektrum von pathischen Formen sowie in der Regulation von hoch gefühlsgeladenen Expressionen je situativ angemessen (auf)zeigen kann. Die Demut ist dafür auf Räume angewiesen, in denen mit diesem Erfahrungsspektrum umgegangen werden kann und in dem – weil es „um etwas geht“ – die Möglichkeit für ernsthafte performances gegeben ist, die einen emotionalen Ausdruck der momentanen situativen Verfasstheit erlauben und gleichzeitig die Praxen nicht auf diese emotionalen Ausnahmesituationen reduzieren, sondern Narrative für die Fülle der Lebenserfahrungen bieten. 3.2. Dankbarkeit und Grauen als Dimensionen der Demut Die performance der Demut kann implizit auf die Dimension der Performanzerfahrung und die darin angelegte A-Funktionalität von Glaubensvollzügen verweisen. In der RB wird das Eintreffen einer Performanzerfahrung relativ selbstverständlich vorausgesetzt: Die Frage, was es bedeutet, eine performante Erfahrung zu machen und wie diese auf den Gottesgedanken bezogen werden kann, läuft nur hintergründig mit. Explizit wird diese Frage erst dort, wo die performance nicht mehr im Rahmen traditioneller Vorgaben über bestehende Narrative und dogmatische Figuren plausibilisiert werden kann: Ob eine ernsthaft durchgeführte performance eine Performanzerfahrung garantiert und wie das Ausbleiben wie Eintreffen der Performanzerfahrung in die religiöse Erfahrung integriert werden kann, rückt dann in die Mitte der Theoriebildung. Im folgenden Kapitel werden mit Luther und Kierkegaard zwei zeitgeschichtlich divergente Thematisierungen derjenigen Problemstellung behandelt, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit folgendermaßen verstanden wird: Wie stellt sich der Bezug auf A-Funktionales auf der Ebene der Erfahrung selbst dar? Mit Luther und Kierkegaard können darüber zwei weitere Dimensionen der Demut entfaltet werden: Das ist einerseits die Dankbarkeit bei Luther, mit der auf eine performante Erfahrung in der reflektierenden Rückschau reagiert werden kann. Das ist andererseits das Grauen bei Kierkegaard, das die antizipierende Vorschau auf diese Erfahrung begleiten kann. Mit Dankbarkeit und Grauen sollen wiederum keine Oppositionen angezeigt werden, sondern Bezugspunkte in einem Spektrum markiert werden, die darauf verweisen, dass ebenso wie die performance der Demut auch die Performanz der Demut nicht eindeutig zu bestimmen ist.
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3.2.1. Die Dankbarkeit als Dimension der Demut: Martin Luther Es ist in der Forschung weitgehend anerkannt, dass die wichtigsten Überlegungen Luthers zur Demut in den frühen Werken zu finden sind, nämlich der Psalmenvorlesung von 1513/15, der Römerbriefvorlesung von 1515/16, und schließlich den einflussreichsten Formulierungen zur Demut der Magnificatauslegung von 1521, die Zemmrich 165 und Burger 166 detailliert bearbeitet haben. Dass Luther sich hauptsächlich in seinen frühen Schriften mit der Demut beschäftigt, ist insofern zu erwarten, weil er sich an ihr als Teil monastischer Praxis abarbeitet, um sie dann im Rahmen der reformatorischen Umstellungen in den Magnificatauslegungen zu reformulieren.167 Neben den Transformationen der Bußtheologie verweist besonders die Entwicklung der Demutstheologie darauf, wie Luther in der existentiell-biographischen Auseinandersetzung mit den monastischen Praxen seiner Zeit die reformatorischen Umstellungen von menschlicher Aktivität hin zum passiven Empfang der Gnade im Glauben unternimmt. In der Forschung werden deswegen die demutstheoretischen Umstellungen Luthers zur Datierung oder aktueller zur Einordnung der sogenannten reformatorischen Erkenntnis genutzt.168
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Vgl. Zemmrich, Demut, 247; Rudolf Damerau, Die Demut in der Theologie Luthers, Gießen 1967. Luther übernimmt den Gedanken der Demut von Bernhard von Clairvaux und deutet ihn spezifisch reformatorisch (vgl. Ulrich Barth, Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-, Schrift-, und Gnadenverständnis, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27–51, hier: 33; Elisabeth Gräb-Schmidt, Freiheit und Selbsterkenntnis. Zur Bedeutung der Buße in der Anthropologie Luthers, in: ThLZ 143 [2018], 571–588). Leppin nimmt an, dass man gerade aus der geteilten Verwendung des Wortes „Demut“ ableiten könne, wie sehr besonders der junge Luther durch Bernhard beeinflusst war (vgl. Volker Leppin, 4. Mönchtum, in: Albrecht Beutel [Hrsg.], Luther Handbuch, Tübingen 22010, 50–61, hier: 60). 166 Vgl. Christoph Burger, Marias Lied in Luthers Deutung. Der Kommentar zum Magnifikat (Lk 1, 46b-55) aus den Jahren 1520/21, (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 34) Tübingen 2007. 167 Der enge Bezug der lutherischen Theologie zum monastischen Denken wird besonders herausgearbeitet von: Volker Leppin, Die Erforschung von Luthers reformatorischer Entwicklung auf dem Weg vom „Wende-Konstrukt“ zur Kontextualisierung, in: Christoph Bultmann/Volker Leppin/Andreas Lindner (Hrsg.), Luther und das monastische Erbe, (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 39) Tübingen 2007, 1–7 sowie in den weiteren Beiträgen des Sammelbandes. Das geht mit der biographischen Kontextualisierung Luthers im Rahmen der frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung einher, vgl. Bernhard Lohse, Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, (FKDG 12) Göttingen 1963; Berndt Hamm, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, (BHTh 65) Tübingen 1982. 168 Neuere Ansätze der Datierungsfrage, die eher von kontextuellen Entwicklungen ausgehen, nehmen dabei ebenso Bezug auf die Demut (vgl. Berndt Hamm, Naher Zorn und nahe Gnade. Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung, in: Bultmann/Leppin/Lindner, Luther, 111–151) wie es die ältere Forschung für eine präzise
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In den folgenden Überlegungen wird diese Datierungsfrage nicht eigens thematisiert, sondern ein semantischer Umschwung fokussiert, den Luther in der Magnificat-Auslegung unternimmt:169 Luther gelangt von einem Verständnis der Demut als „humilitatio“ aus menschlicher Perspektive zu der Demut als „respexit“ aus göttlicher Perspektive. Luther bestimmt die humilitas im Rahmen seiner bußtheoretischen Überlegungen zunächst als humilitatio.170 An dieser Stelle wird die enge Verbindung von Gottesbegegnung und der Reaktion auf diese Begegnung auf der Ebene der Erfahrung bei Luther deutlich.171 Die humilitatio sei konstitutiver Teil der humilitas, insofern man sich selbst im Verhältnis zu Gottes Macht als dieser nicht würdig wahrnehmen würde: 172 „Qui est potentia Dei per maximam et profundissimam humilitatem; Ideo iam est in altissimi per summam gloriam.“ 173 Das kann aus performanztheoretischer Sicht so verstanden werden, dass Luther hier genau das Performanzerfahrungen inhärente Moment der Wirklichkeitsveränderung beschreibt, das als eine Art der Erschütterung bisheriger Gewissheiten verstanden werden kann.174 Dennoch ist die humilitatio bei Luther in der Aufnahme der augustinischen Lehre keine rein negative Erfahrung: Sie ist vielmehr, wie die Sündenerkenntnis, ein notwendiger Teil der durch die Buße geprägten Glaubenspraxis und nicht nur ein letztlich zu überwindender Affekt: „Iusti et humiles [...] sumus.“175 Luther kann über die Praxis der Demut als humilitas eine Problemstellung in den Blick nehmen, in der die Fragestellung seiner frühen Theologie Datierung der reformatorischen Wende unternimmt (vgl. Bernhard Lohse, Luthers Auslegung von Psalm 71 [72], 1 und 2 in der ersten Psalmenvorlesung, in: Ders. [Hrsg.], Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, Stuttgart 1988, 1–13). 169 Das folgt den Ansätzen, die eher von einer Reformationshermeneutik ausgehen, die in sich mehrere Perspektiven zulässt, indem sie auf existentielle Fragen antwortet, vgl. Slenczka, Reformationshermeneutik, 55. 170 Zur Differenzierung zwischen humilitas und humilitatio, vgl. Zemmrich, Demut, 254. 171 Vgl. Friederike Nüssel, Sola gratia – in einer gnadenlosen Wettbewerbsgesellschaft, in: Ulrich Heckel u. a. (Hrgs.), Luther heute. Ausstrahlungen der Wittenberger Reformation, Tübingen 2017, 49–67, hier: 53; vgl. zur Gnade ebenfalls Dietrich Korsch, Glaube und Rechtfertigung, in: Albrecht Beutel (Hrsg.), Luther Handbuch, Tübingen 22010, 372–381. 172 Laut Bernd Hamm ist die Demut bei Luther in der Zeit der ersten Psalmenvorlesung ein „radikal desillusioniertes Innewerden meiner realen Niedrigkeit“ (vgl. Hamm, Naher Zorn, 133). 173 WA 55/II 432,210–214. 174 Zu diesen Erschütterungs-Figuren bei Luther in den frühen Psalmvorlesungen vgl. Thorsten Dietz, Der Begriff der Furcht bei Luther, (BHTh 147) Tübingen 2009, 123f. 175 WA 55/II, 436,76; vgl. die ausführliche Einordnung der Demut in Luthers Verständnis von iudicatus bei Zemmrich, Demut, 262. Leppin bewertet die Umstellung in der reformatorischen Theologie im Gerechtigkeitsbegriff so: „Hier verschiebt sich die Akzentsetzung von einer Betonung der Gerechtigkeit als einer Gott leitenden kriterienhaften Urteilseigenschaft hin zu einer existentiellen Anwendung“ (Volker Leppin, Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen in Theologie und Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter und
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performanztheoretisch folgendermaßen zugespitzt werden kann: Wie kann damit umgegangen werden, dass trotz ernsthafter performances Performanzerfahrungen ausbleiben oder als erschütternd erfahren werden? In den frühen Psalmen- und Römerbrief-Vorlesungen wird auf eine Performanzerfahrung im Modus der antizipierenden Vorschau gehofft, wie sie in der performance der Demut geschehen kann – und in Luthers monastischem Verständnis auch geschehen sollte, so dass er mit der Diskrepanz umgehen muss. Die Funktionsfrage, die mit der humilitas verknüpft ist, wird somit zur Frage nach der AFunktionalität und deren Konstitutionsbedingungen auf der Ebene der Erfahrung. In der Magnificatsauslegung nimmt Luther eine grundlegende Umstellung der Bestimmung der Demut vor, die sich aus der konsolatorischen Ausrichtung des Werkes erklären lässt: Die Magnificatsauslegung ist in ermahnend-erbaulicher Absicht geschrieben, um dem 17-jährigen Herzog Johann Friedrich von Sachsen mit der Figur der Maria ein Vorbild für den Umgang mit weltlichen Machtstrukturen zu liefern.176 Luthers theologische Pointe liegt jedoch darin, aufzuzeigen, dass die Erfahrung der Gnade Gottes jegliche situative menschliche Machterfahrung transzendiere, sowohl die Niedrigkeit der Maria als auch die Hoheit des Kurfürsten.177 Luther nutzt nun das Magnificat und die narrative Entfaltung der Figur der Maria, um die Perspektive des Rückblicks auf eine
Reformation, Tübingen 2015, 435). Er führt für die Demut aus: „Folgt man der von Bizer eingeführten Deutung der frühen Theologie Luthers als einer monastisch gefärbten Demutstheologie, so wird deutlich, dass diese in diesem Text des Jahres 1519 noch keineswegs ihre Bedeutung verloren hat, sondern leitend für das Verständnis des theologischen Zentralbegriffs der Gerechtigkeit bleibt – anders gesagt: Die oben angeführte Ausformulierung einer augustinisch gestalteten Rechtfertigungslehre steht nicht an Stelle einer vorherigen, abgelösten Demutstheologie, sondern beide theologische Paradigmen stehen nebeinander, beziehungsweise liegen ineinander“ (Leppin, Transformation, 435). Leppin verweist nur in einer Fußnote darauf, dass Luther später in der Magnificatsauslegung die Demutsterminologie der humilitas positiv nutzen kann (vgl. Leppin, Transformation, 437). 176 Sie hat damit sowohl die Funktion eines „Fürstenspiegels“ wie einer „Erbauungsschrift“ (vgl. Burger, Marias Lied, 10). Ugi arbeitet heraus, inwieweit es sich bei den Sermones um Situationsschriften handelt, in denen Luther „kontextuell und situativ sensibel eine theologische Sprache“ (Ugi, Tod, 116) findet, die hilft, mit existentiellen Lebensphänomenen umzugehen; vgl. Gerhard Ebeling, Luthers Seelsorge an seinen Briefen dargestellt. Theologie in der Vielfalt der Lebenssituationen, Tübingen 1997. 177 Luther gibt dazu Maria eine ausführliche, narrativ entfaltete Hintergrundgeschichte, die darauf abzielt, ihre Situation der Niedrigkeit deutlich im Rahmen von gemeinschaftlichen Sozialbezügen zu kennzeichnen (vgl. Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 377; WA 7, 549).
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bereits erfolgte Erfahrung der Gnade einnehmen zu können und für andere repräsentativ zu machen: Diese Erfahrung sei es, so seine Interpretation, die Maria überhaupt motiviert, das Magnificat anzustimmen.178 Die Reaktion, das Lob der Maria, setzt in der Logik der Narration die performante Erfahrung der Gnade schon voraus. Das erklärt auch, warum Luther in der Magnificasauslegung an der entscheidenden Stelle Lk 1,48a („Denn er hat die Niedrigkeit/Demut seiner Magd angesehen“) einen ausführlichen Exkurs zur Demut einschiebt, mit dem er dieses Vorgehen reflektiert und plausibilisiert. Luthers Fragestellung an dieser Stelle ist, was Maria eigentlich preise: Dafür müsse dasjenige Phänomen in den Blick genommen werden, das in der Vulgata mit humilitas übersetzt werde.179 Luther geht auf den griechischen Urtext zurück und legt aus, dass das mit humilitas übersetzte IJĮʌİȚȞઁȢ gerade nicht als Demut zu verstehen sei, sondern als Niedrigkeit. Die Begründung dafür ist nur vordergründig philologisch, da es Luther vielmehr darum geht, den Eindruck zu vermeiden, Maria habe Gott wegen ihrer Demut als performance, im Sinne der monastischen humilitas gepriesen.180 Es scheint nun zunächst so, als ob Luther demgegenüber festhalten müsse, dass Maria Gott wegen ihrer Niedrigkeit preise. Aus seelsorgerlicher Perspektive führt das Luther jedoch in ein Folgeproblem: Denn die Aussage, dass sich Maria ihrer Niedrigkeit rühme, ist insofern höchst problematisch, als dass daraus eine Überhöhung der Situation der Niedrigkeit entstehen könnte, so als wären leidensvolle situative Verfasstheiten besonders rühmenswert. Um dieses Problem zu umgehen, ändert Luther in der Textbetrachtung die Perspektive: „Darum liegt der Akzent nicht auf dem Wörtchen humilitatem, Demut, sondern auf dem Wörtchen respexit, er hat angesehen“181. Luther setzt weder die funktionale performance noch die momentane situative Verfasstheit
178 Dabei geht Luther grundsätzlich davon aus, dass solch eine Erfahrung auch für andere nachvollziehbar sei: „Es lässt sich nicht mit Worten lernen, sondern nur durch eigene Erfahrung erkennen“ (Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 377; WA 7, 550). Zu Luthers Erfahrungsbegriff hält Richter gegen Loewenich fest, dass Luthers Theologie sehr wohl als eine Erfahrungstheologie verstanden werden könne, die sich aus kreuzestheologischer Perspektive mit der „bleibende[n] Distanz zwischen Glaube und Erfahrung“ auseinandersetze (Cornelia Richter, Luthers theologia crucis. Eine Erinnerung in systematischer Absicht, in: Luther 84 [2013], 81–90, hier: 85; in Bezug auf: Walther von Loewenich, Luthers Theologia crucis [1929], München 61982). 179 Zu Luther als Exeget vgl. Albrecht Beutel, Im Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, Tübingen 22006, 89f. 180 Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 397; WA 7, 559f. Luther konnte für diese Übersetzung auf Erasmus von Rotterdam zurückgreifen, der IJĮʌİȚȞȦıȚȢ ebenfalls als Kleinheit und nicht als tugendhafte Haltung versteht (vgl. Desiderii Erasmi Roterodami in novum testamentum ab eodem denuo recognitum Annotationes, ingenti nuper accessione per autorem locupletate, Basel 1519, 119; vgl. Burger, Marias Lied, 61). 181 Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 401; WA 7, 561.
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primär, sondern die A-Funktionalität der Gnade Gottes, das Angesehen-Werden (respexit), das eine Reaktion erfordert. Das kann zunächst als eine Abkehr vom mönchischen aspexit gesehen werden, dem Richten des Blicks auf sich selbst oder zur Erde.182 Mit der von Maria narrativ vorgegebenen Erfahrungsebene kann Luther auf die Art und Weise aufmerksam machen, wie sich diese A-Funktionalität in Glaubensvollzügen so ausdrückt, dass auch die momentane situative Verfasstheit durch diese performante Erfahrung von A-Funktionalität präfiguriert wird: Maria rühme sich „weder ihrer Würdigkeit noch ihrer Unwürdigkeit, sondern allein des Ansehens Gottes“183. Die Aktivität des Sehens liegt für Luther aus gnadentheoretischen Gründen primär bei Gott. Gottes Macht vollziehe sich laut Luther im Ansehen,184 es sei geradezu das Charakteristikum Gottes, dass er in die Tiefe und damit den Menschen sehe.185 Bei Luther gewinnt dieses anthropomorphe Gottesbild in den indikativischen Formulierungen die Qualität unhinterfragbarer metaphysischer Zuschreibungen. Für heutige Kontexte anschlussfähig sind diese Überlegungen deswegen nur, wenn auch das „Angesehen-Werden“ durch Gott streng metaphorisch verstanden wird. Die Perspektive, die Luther hier mit der narrativ entfalteten Figur der Maria auf die Performanzerfahrung einnimmt, ist für alle weiteren Überlegungen entscheidend: Aus der Perspektive der reflektierenden Rückschau auf die Erfahrung der Gnade, das „Angesehen-Werden“, hat sich Maria ihre eigene situative Verfasstheit bereits neu erschlossen: Die Erfahrung der Demut ist für Maria, dass sie in ihrer Tiefe angesehen wurde.186 Luther behält – und das ist sowohl durch die biblische Textvorlage als auch durch die seelsorgerliche Intention vorgegeben – konsequent diese Perspektive der Rückschau bei. Die performance mit der Maria auf die Performanzerfahrung des Angesehen-Werdens reagiert, sieht Luther deswegen im Lob.187 Luther führt vor, wie im Modus der lobend-reflektierenden Rückschau von der Demut geredet werden kann, in der sich die freudige Überraschung über das unwahrscheinliche Eintreffen einer 182 Burger sieht das als dezidierte Abgrenzung Luthers zur Auslegung seines Ordensbruders Johannes Paltz (vgl. Burger, Marias Lied, 53). Paltz schreibt: „respexit istam humilitatem, quod semper desideravi esse ancilla sua“ (Johannes von Paltz, Supplementum Coelifodinae, hrsg. v. Berndt Hamm, Berlin/NewYork 1983, 104, 23–24). Das respexit ersetzt bei Paltz das, was mit Luther als humilitatio beschrieben werden kann, sodass die humilitatio dem respexit vorausgehen müsse und dieses – über die Reinheit Marias – zumindest in diesem einen Fall auch garantiere. 183 Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 399; WA 7, 561; ebenso: Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 413; WA 7, 568. 184 Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 373, WA 7, 547f. 185 Ebd. 186 Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 377; WA 7, 549. 187 Burger bewertet das so, dass Luther damit die individuell-subjektive Selbstprüfung vor der Wirkung auf andere profiliert (Burger, Magnifikat, 80).
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Performanzerfahrung, das Angesehen-Werden durch Gott, spiegelt. Daher bestimmt Luther das Lob ausdrücklich als „fröhliche Passivität“188, so dass die Demut nun mit Freude und nicht mehr, wie noch die humilitatio, mit Angst korreliert. In diesem Sinne wird Maria selbst zum Vorbild, aber nicht als statische Ikone, sondern mit ihrer dynamischen performance des Lobens. Somit kann die Dankbarkeit als Reaktion auf eine performante Erfahrung als Dimension der Demut benannt werden. Die Dankbarkeit ist jedoch, das zeigt sich schon bei Luther durch die Entwicklung der humilitatio, dringend ergänzungsbedürftig um diejenigen Elemente der Gnade, die eher erschütternd wirken. Den komplexen Zusammenhang zwischen der Funktion, die das Magnificat für Maria in ihrer situativen Verfasstheit hat, und der A-Funktionalität, auf die sich ihr Preisen für Luther theologisch notwendig beziehen muss, löst Luther, indem er die Nicht-Bestimmbarkeit der Demut hervorhebt. Die einzige positive Bestimmung, die Luther über die Demut trifft, ist dementsprechend, dass sie sich selbst in der reflektierenden Selbst-Rückschau auf die Erfahrung der Gnade nicht weiter zugänglich ist: Gott „allein beurteilt und offenbart sie [die Demut] auch, so dass ein Mensch niemals weniger von der Demut weiß als eben dann, wenn er recht demütig ist“189. Aus der Entwicklung des DemutGedankens in der Magnificatsauslegung kann festgehalten werden: Mit „Demut“ ist weder die momentane situative Verfasstheit angemessen zu bezeichnen, noch eine menschliche performance, wie Luther es für die humilitatio angenommen hatte. Die christliche Praxis der Demut erfordert eine – nie vollständig zu erfassende – Reflexion in der Rückschau auf eine performante Erfahrung, in der die eigene situative Verfasstheit, wie z. B. die Niedrigkeit, durch die Gnade Gottes neu perspektiviert wurde. Anhand der Magnificatsauslegung kann ein weiterer Punkt profiliert werden, der für den Umgang mit Narrativen grundlegend ist. Denn Luther formuliert sehr prägnant und in der Semantik des Sehens, dass es nicht darum gehe, spezifische Bilder als „demutsfördernd“ oder „hochmutsfördernd“ zu erschließen: „Deswegen nützt es nichts, Demut in der Weise zu lehren, dass man geringe, verachtete Dinge vor Augen stellt. Umgekehrt wird niemand davon hochmütig, dass man ihm hohe Dinge vor Augen stellt. Nicht die Bilder, sondern die Sichtweise muss man abschaffen“190. Das kann für die vorliegende Arbeit programmatisch so interpretiert werden, dass in funktionalen Kategorien kein Bild oder kein Narrativ per se zu bevorzugen oder abzulehnen ist, so als ob bestimmte Narrative besonders geeignet seien, Performanzerfahrungen 188
Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 377; WA 7, 549. Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 397; WA 7, 560. Das geht einher mit einer weiteren Bestimmung: „Die Demut ist etwas so Zartes und Kostbares, dass sie es nicht ertragen kann, sich selbst anzusehen“ (Luther, Magnifikat, Studienausgabe, 405; WA 7, 563); dass Luther selbst dieses in der Gerichtsperspektive eschatologisch deutet, schwächt sein Argument allerdings. 190 Luther, Magnifikat, Studienausgabe 403; WA 7, 563. 189
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unabhängig von situativen Verfasstheiten zu evozieren oder zu verhindern. Vielmehr muss für jedes Bild, für jedes Narrativ geprüft werden, ob die Perspektivierung stimmt: Ob diese Bilder es ermöglichen, momentane situative Verfasstheiten in den Blick zu nehmen und gleichzeitig nicht im Blick auf diese Situativitäten aufzugehen, sondern auf die Möglichkeit der Performanzerfahrung zu verweisen. Für die theologische Reflexion bedeutet das, dass weniger die Inhalte einzelner Narrative in den Blick kommen, als vielmehr die Art und Weise, wie auf diese Narrative Bezug genommen wird (die „Sichtweise“). Luther löst das auf der Ebene der Präsentation, indem er strikt die Perspektive der Maria im Magnificat einnimmt und sie narrativ entfaltet: Damit ist ihm jedoch die Perspektive der dankbaren Rückschau in seinem Materialbestand vorgegeben, die er sehr schnell absolut setzt. Das ist theologisch sinnvoll, in der existentiellen Erfahrung jedoch der – mehr oder weniger bewussten – Frage nachgeordnet, warum man sich auf eine religiöse performance wie die Demut einlassen sollte. Das kann als performanztheoretische Formulierung der reformatorischen Rechtfertigungslehre verstanden werden: Die Performanz der Demut kann nicht durch eine performance erzwungen werden, sondern die Performanz erschließt die performance der Demut erst als solche. Die Performanzerfahrung des „Angesehen-Werdens“ macht die Demut in ihrer performance als auf diese Performanzerfahrung angewiesen sich selbst durchsichtig. In dieser Bestimmung hat die A-Funktionalität nicht nur im Gottesgedanken, sondern auch in Glaubensvollzügen ihren Ort. Denn die Perspektive der dankbaren Rückschau kann in gelebten Glaubensvollzügen zunächst nur imaginiert oder antizipiert werden. Das kann zwar im Modus begründeter Hoffnung geschehen, weil man Narrationen, wie dem Magnificat Maria, vertraut oder auf eigene bereits erfolgte Erfahrungen zurückblicken kann. Dennoch muss in dieser Perspektive sehr ernst genommen werden, dass die Begründung aus der Imagination der Rückschau nicht ausreichen kann: Denn dass eine Performanzerfahrung noch einmal geschehen wird, kann eben nicht garantiert werden. 3.2.2. Das Grauen als Dimension der Demut: Søren Kierkegaard Was es für das Individuum heißt, dass Performanzerfahrungen nicht garantiert werden können, kann weitergehend mit Kierkegaard erschlossen werden. Bei Kierkegaard ist die grundlegendere Fragestellung, ob christliche Praxen überhaupt so transformiert und in kulturelle Kontexte eingebettet sein können, dass sie den existentiellen Erfahrungen des Subjekts gerecht werden: Das kann Kierkegaard an der Demut exemplifizieren. An dieser Stelle kann Kierkegaard durch den Vergleich mit Ritschl profiliert werden: Kierkegaard muss – ebenso wie Ritschl – plausibilisieren, warum man sich überhaupt auf christliche Praxen einlassen sollte, wenn die Begründung nicht mehr in metaphysisch-kos-
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mologischen Notwendigkeiten oder traditionellen Vorgaben liegt.191 Die kirchliche Einbettung des Christentums wird bei Ritschl als reformbedürftig gesehen, jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Bei Kierkegaard zeigt sich, zumindest probeweise, die deutlich stärkere Anfrage, ob diese Transformation überhaupt noch für eine moderne Gesellschaft jenseits einer radikalen Christusnachfolge gelingen kann, verbunden mit einer deutlich stärkeren Kirchenkritik als bei Ritschl.192 Kierkegaard nimmt dementsprechend christliche Gehalte immer schon aus der Perspektive der Existenz unter der Fragestellung in den Blick, wie sie sich in konkreten, christlichen und d. h. meistens kirchlichen Phänomenen darstellen und wie sie sich für das Christentum darstellen könnten, wenn sie nicht durch christliche Traditionen oder scheinbare dogmatische Eindeutigkeiten in der Christenheit eingeengt wären:193 „Das Christentum ist eine Existenz-Mitteilung und kann nur dargestellt werden – dadurch daß man existiert“194. Die 191
Es gibt m. W. keine gesicherten Belege darüber, ob Ritschl Kierkegaard gelesen hat. Bis zu Ritschls Tod 1889 waren schon einige der Werke Kierkegaards in deutscher Übersetzung publiziert, so u. a.: Zur Selbstprüfung der Gegenwart empfohlen, übers. und hrsg. v. Christian Hansen, Erlangen 1862, 21869, 31881; Die Krankheit zum Tode. Eine christliche psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung, übers. v. Albert Bärthold, Halle 1881; Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de silentio (Sören Kierkegaard), übers. und hrsg. von Hinrich Cornelius Ketels, Erlangen 1882. Entweder – Oder. Ein Lebensfragment, übers. v. Alexander Michelsen und Otto Gleiß, Bd. 1, Leipzig 1885; Bd. 2 Leipzig 1885; vgl. insgesamt zur Sekundärliteratur Eva Kaminski/Gerhard Schreiber/Heiko Schulz, Søren Kierkegaard in deutscher Sprache. Eine Gesamtbibliographie der Quellen und Sekundärliteratur von 1855–2015, Berlin 2016, 4f. 192 Das zeigt sich besonders in der letzten Phase seines Lebens in der Auseinandersetzung mit der dänischen Staatskirche. Kierkegaard eröffnet diese mit einem Artikel am 18.12.1854 in Fædrelandet zur Frage, inwieweit der aktuelle Bischof Hans Lassen Martensen und der verstorbene Bischof Mynster als Wahrheitszeugen gelten können (vgl. Matthew T. Nowachek, The Monumental Task of Kierkegaard’s Attack upon Christendom, in: Kierkegaard Yearbook Studies 1 (2016) 159–185). 193 Sylvia Walsh führt aus, dass Kierkegaard eine inverse Dialektik betreibe, um das Christentum wieder in die Christenheit einzuführen. Kierkegaard ziele darauf ab, positive christliche Praxen immer von negativen Definitionen der christlichen Existenz begleiten zu lassen (Sylvia Walsh, Living Christianly. Kierkegaard’s Dialectic of Christian Existence, University Park 2006). 194 Søren Kierkegaard, Papirer IX, A207 (1848), nach: Ders., Der Einzelne und die Kirche. Über Luther und den Protestantismus, übers. v. Wilhelm Kütemeyer, Berlin 1934, §54, 74. Der Frage, wie sich Kierkegaard als religiöser Schriftsteller inszeniert, wird u. a. nachgegangen durch Joseph Westfall, The Kierkegaardian Author. Authorship and Performance in Kierkegaard’s Literarcy and Dramatic Criticism, (KSMS 15) Berlin/New York 2007; Keith H. Lane, Kierkegaard and the Concept of Religious Authorship, (RPT 45) Tübingen 2010; Sylvia Walsh, Kierkegaard and Religion: Personality, Character and Virtue, Cambridge 2018. Während Westfall, Land und Walsh in unterschiedlichen Abstufungen Kierkegaard mindestens als religiös motivierten Autor sehen, der dementsprechend nicht von seinem christlichen Kontext zu trennen sei, plädieren u. a. George Pattinson (The Philosophy
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„Existenz-Mitteilung“ ist Kierkegaards Überbietung der Klassischen Deutschen Philosophie:195 Aus der Perspektive der Existenz liegt die grundlegende Problemstellung darin, dass diese sich nie derart unmittelbar zum Ausdruck bringen kann, wie sie sich selbst existent erlebt, und deswegen immer schon gezwungen ist mit dieser Differenz umzugehen.196 Eine Konsequenz daraus ist für Kierkegaard das Spiel mit literarischen Formen sowie die Art und Weise,
of Kierkegaard, [Contintental European Philosophy 7] Montreal/Kingston 2005) und C. Stephen Evans (Kierkegaard. An Introduction, Cambridge 2009) dafür, Kierkegaard als eigenständigen Philosophen jenseits seiner religiösen Einbettung wiederzuentdecken. 195195195 Für das Schleiermacherbild Kierkegaards zeigt Andreas Krichbaum auf, wie dieses durch die dänische Rezeption bei Henrik Nikolai Clausen und Jakob Peter Mynster beeinflusst worden ist (Andreas Krichbaum, Kierkegaard und Schleiermacher. Eine historisch-systematische Studie zum Religionsbegriff, Berlin u. a. 2008, 17–30). Krichbaum legt detailliert dar, wie Kierkegaard Schleiermacher aufnimmt und von einer kulturtheoretischtranszendentalen zu einer existenzdialektisch-pragmatischen Theorie der Religion weiterdenkt (Krichbaum, Kierkegaard, 387). Das unmittelbare Selbstbewusstsein werde zu einer durch leidenschaftliches Interesse legitimierten Gewissheit, die konstitutiv den Zweifel miteinbeziehen müsse (Krichbaum, Kierkegaard, 219). In der Gestalt des Climacus profiliere Kierkegaard die Religionsphilosophie über Schleiermacher hinausgehend mit der einschlägigen Unterscheidung von Religiosität A (der allgemeinen Religiosität) und Religiosität B (der christlichen Religiosität): Letztere könne insofern nur positionell denken und sei damit immer schon leidenschaftlich interessiert, sodass Kierkegaard nicht auf eine allgemeine Wesensbestimmung des Christentums, sondern auf das Christwerden abziele (Krichbaum, Kierkegaard, 325f.). Als grundlegende Umstellung bestimmt Krichbaum die Bewegung von der Grammatik religiöser Rede bei Schleiermacher auf die Theorie der indirekten Mitteilung bei Kierkegaard, in der die Unmöglichkeit, das Unmittelbare zu thematisieren, am Ort des Subjektes als eine nicht aufzulösende, beständige dialektische und paradoxe Bewegung verortet werde. Diese ergebe sich aus dem Überschwung eines individuellen Selbstbewusstseins auf die Wirklichkeit des Existierens (Krichbaum, Kierkegaard, 382). Jon Stewart arbeitet differenziert heraus, wie Kierkegaard die deutsche Philosophie im Kontext ihrer dänischen Rezeption aufnimmt und vor allen Dingen für das Konzept der Ironie fruchtbar mache (vgl. Jon Stewart, Søren Kierkegaard. Subjectivity, Irony and the Crisis of Modernity, Oxford 2015). Mit Stewarts Forschung wird das Bild der Bezugnahme Kierkegaards auf die Klassische Deutsche Philosophie differenzierter und ergänzt Lesarten, die Kierkegaard entweder in Aufnahme der kritischen Passagen zur Begriffssynthese als gegen Hegel gerichtet lesen, insofern dieser die Widersprüche seiner eigenen Denkpraxis ignoriere (vgl. Lore Hühn, Sprung im Übergang. Kierkegaards Kritik an Hegel im Ausgang von der Spätphilosophie Schellings, in: Jon Stewart/Jochem Henningfield, Kierkegaard und Schelling. Freiheit, Angst und Wirklichkeit, Berlin 2002, 133–183, hier: 139–141), oder Kierkegaard als Hegelianer verorten (vgl. Joachim Ringleben, Aneignung. Die spekulative Theologie Søren Kierkegaards, Berlin/New York 1983). 196 In diesem Sinne betreibt Kierkegaard Existenzwissenschaft und kann als ein Vorläufer (oder der erste Vertreter) der Existenzphilosophie gesehen werden (vgl. Heiko Schulz, Aneignung und Reflexion Bd. 1. Studien zur Rezeption Søren Kierkegaards, Berlin/New York 2011).
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wie Kierkegaard die Lesenden in diesen Prozess maieutisch-ironisch mit einbindet, und sie in die Suchbewegung seines Denkens mit hineinnimmt:197 Kierkegaards Werk gewinnt seine bis heute anhaltende Wirkmächtigkeit auch dadurch, dass seine Gedankengänge und ihre sprachliche Darstellung so sehr faszinieren wie sich entziehen.198 Die Erkenntnisse aus der Existenz-Mitteilung für erkenntnis- und handlungstheoretische Überlegungen zielen in der Rezeption Kierkegaards aus religionsphilosophischer Sicht auf die subjekttheoretische Analyse von Kierkegaards Verständnis des Selbst in epistemologischer und ethischer Hinsicht ab. 199 Das gilt auch für die Demut: Subjekttheoretisch kann die Demut bei Kierkegaard als Verortung des Selbst bedacht werden und die dialektische Struktur entschlüsselt werden, in der er sie als Selbstverleugnung oder Selbstverlust zur Selbstfindung beschreibt. 200 Aus theologischer Perspektive wird
197 Eine so kurze wie konzise Darstellung der Konsequenzen für die Rezeption Kierkegaards findet sich bei Jaspers. Er zeigt auf, dass eine Reproduktion der Kierkegaard’schen Philosophie scheitern müsse und höchstens deren Denkbewegungen nachvollziehen könne, aber nur so, dass der Rezipierende offenlegt, wie er in den Denkprozess einbezogen wird (vgl. Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Nachlaß 1. Darstellungen und Fragmente, hrsg. v. Hans Saner, München/Zürich 1981, 419). 198 Der Gehalt von Kierkegaards Werk erschließt sich auch an der Gestaltung, wie Heiko Schulz prägnant darlegt: „Kierkegaards Texte [sind] Ausdruck und Instrument eines Kommunikationsprozesses, der zugleich die eigenen [...] Mitteilungsbedingungen reflektiert und die Resultate dieser Reflexion – z. B. durch Einschaltung von Pseudonymen, wechselnden Stilformen, ironische Brechung des Mitgeteilten etc. – konsequent in den Mitteilungsvollzug selbst überführt“ (Heiko Schulz, Søren Kierkegaard, in: Martin Breul/Aaron Langenfeld [Hrsg.], Kleine Philosophiegeschichte. Eine Einführung für das Theologiestudium, 187– 194, hier: 188). 199 Im deutschsprachigen Raum ist das besonders Hermann Deuser (vgl. die gesammelten Betrachtungen zu Kierkegaard in: Hermann Deuser, Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus, Berlin/New York 2011). Heiko Schulz sieht Kierkegaards Verdienst darin, die christliche Ethik als Zusammenfall von Glauben und Handeln, Religion und Moral, Dogmatik und Ethik sehr viel präziser zu bestimmen als die Kantތsche Vernunftreligion (vgl. Heiko Schulz, Du sollst, denn du kannst. Zur Selbstunterscheidung christlicher Ethik bei Sören Kierkegaard, in Ingolf U. Dalferth [Hrsg.], Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards „Taten der Liebe“, [RPT 4] Tübingen 2002, hier: 69). 200 Jürgen Boomgarden interpretiert das im Rahmen der Sündenlehre als paradoxale Dialektik des Glaubens (vgl. Jürgen Boomgarden, Das verlorene Selbst. Eine Interpretation zu Søren Kierkegaards Schrift „Die Krankheit zum Tode“, [FSÖTh 140] Göttingen 2016, 114). Zur Demut als Bedingung der Selbsterkenntnis im Modus der Selbstverleugnung, vgl. John Lippit, Kierkegaard and the Problem of Self-Love, Cambridge 2013; Robert B. Puchniak, „Humility“, in: Steven M. Emmanuel u. a. (Hrsg.), Kierkegaard Research: Sources, Reception and Resources 15, Kierkegaard´s Concepts, Tome III: Envy to Incognito, London 2014, 169–174. Die Werke, die diese Rezeptionslinie fokussiert, sind im Wesentlichen „Der Be-
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Demut
diese dialektische Bestimmung des Selbst dann christologisch in der Kenosis sowie der Bewegung von Erhöhung und Erniedrigung bei Kierkegaard fortgeführt.201 Im Rahmen der Fragestellung der vorliegenden Arbeit läuft dieser Aspekt in der folgenden Betrachtung hintergründig mit, wird jedoch nicht eigens fokussiert. Vielmehr kommen diejenigen Stellen bei Kierkegaard in den Blick, in denen er die Demut als Praxis des funktionalen Bezugs auf A-Funktionales konkretisiert sowie die sprachliche Gestaltung, in der sich diese Problemstellung spiegelt. In „Der Liebe Tun“ (Kjerlighedens Gjerninger, 1847) thematisiert Kierkegaard nicht die Demut an sich (ydmyghed).202 Er zeigt im achten Kapitel der zweiten Folge unter der Überschrift: „Der Sieg der Versöhnlichkeit in Liebe, welche den Überwundenen gewinnt“203 vielmehr auf, wie „sich demütigen“ (ydmyger sig) ohne Demütigung (ydmygelse) gelingen kann. Dazu sei eine Bemerkung vorausgeschickt: Während „Der Liebe Tun“ lange Zeit eines der eher weniger beachteten Werke Kierkegaards war, wird es aktuell verstärkt als eigentliche Essenz der Ethik Kierkegaards gegenüber „Entweder-Oder“ (EntenEller, 1843) wiederentdeckt. Kierkegaard analysiert in der ersten Folge von „Der Liebe Tun“ die grundsätzlichen Möglichkeiten ethischen Handelns unter dem Liebesbegriff und stellt in der zweiten Folge verschiedene situative Anwendungsgebiete vor.204 Er geht zunächst der Frage nach, wie Liebe in Ausle-
griff Angst“ und „Die Krankheit zum Tode“ (vgl. Michael Theunissen, Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a. M. 1993, bes. 78–83; Arne Grøn, Angst bei Søren Kierkegaard. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart 1999, bes. 117–122). 201 David R. Law, Kierkegaard’s Kenotic Christology, Oxford 2013. Die Konstitution des Selbst in der Gottesbegegnung wird von Simon D. Podmore (Kierkegaard and the self before God. An anatomy of the abyss, Indiana 2011) profiliert. 202 Im Sinne der Problemstellung ist der Titel Kjerlighedens Gjerninger bewusst doppeldeutig: Das Tun der Liebe kann sein, was man um der Liebe willen tut, sowie das, was die Liebe tut. Die erste deutsche Übersetzung bildet das mit „Leben und Walten der Liebe“ ab (Albert Dorner, Leipzig 1890, vgl. Kaminski/Schreiber/Schulz, Kierkegaard, 5). 203 Sören Kierkegaard, Der Liebe Tun. Ethische christliche Erwägungen in Form von Reden, GW 19, übers. v. Hayo Gerdes, Düsseldorf/Köln 1966, 364–377 (IX 315–326). 204 Vgl. M. Jamie Ferreira, Love´s Grateful Striving. A commentary on Kierkegaard´s Works of Love, Oxford/New York 2001; Arne Grøn, Ethics of Vision, in: Dalferth: Ethik, 111–122; ebenso: Friedrich Hauschildt, Selbstseinkönnen. Søren Kierkegaards christliche Ethik in Die Taten der Liebe, in: Christine Axt-Piscalar/Mareile Lasogga (Hrsg.), Christliche Existenz heute. Zur Bedeutung der Theologie Sören Kierkegaards für die Praxis des Glaubens, 217–252; Klaus-Henning, „Die Taten der Liebe“. Überlegungen zu Søren Kierkegaards Ethik der Intersubjektivität, in: Axt-Piscalar/Lasogga, Christliche Existenz, 253– 281. Claudia Welz nutzt den Kierkegaard’schen Liebesbegriff, um die Abgrenzung Kierkegaards von Hegel zu profilieren und zu zeigen, inwieweit für Kierkegaard aus existentieller Perspektive das Selbst auf das Gegenüber des Gottesgedankens angewiesen ist (vgl. Claudia Welz, Love’s transcendence and the problem of theodicy, [RPT 30] Tübingen 2008).
3. Dimensionen der Demut
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gung von Mk 12,31 („Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“) eigentlich möglich sei.205 Kierkegaards Ausgangspunkt ist, dass das Liebesgebot unter den Bedingungen der Existenz unmöglich zu befolgen und als Gebot an sich paradox sei: Eine allgemeine Menschliebe könne, laut Kierkegaard, keine Abstufungen vornehmen, sondern müsse idealtypisch die Gleichheit aller Menschen annehmen.206 Die sich daraus ergebende Fragestellung für Kierkegaard (wie für die Kierkegaard-Rezeption) lautet nun, ob damit überhaupt ein konkretes Handeln aus Liebe möglich sei oder ob die Liebe als Verweis auf die Gleichheit aller Menschen keine Distinktionen vornehmen könne und somit notwendig abstrakt bleiben müsse.207 Bei Kierkegaard kann die Problemstellung exemplarisch daran gezeigt werden, wie er den Gottesgedanken in der
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Kierkegaard nutzt den Bibelvers als Ausgangspunkt seiner Überlegungen, weil dieser Vers paradox ist und sich nicht eindeutig erschließt. Hugh Pyper zeigt das als hermeneutische Herangehensweise an die Bibel auf: Kierkegaard beabsichtige zu zeigen „how the most troubling, puzzling and offensive passages of the Bible bring a message of good news and of joy“ (Hugh Pyper, The Joy of Kierkegaard. Essays on Kierkegaard as a biblical reader, Abingdon 2014, vii). 206 Vgl. Kierkegaard, IX 60–62/GW 19, 66–69. 207 Das hat Konsequenzen für die Frage nach der Ernsthaftigkeit der ethischen Haltung, die sich exemplarisch in der Diskussion um die preferential love zwischen Jamie Ferreira, Sharon Krishek und John Lippitt zeigen lässt. Sie bestimmen in je unterschiedlichen Akzentuierungen, in welcher Weise der Bezug auf einen abstrakten middle term, wie die Liebe, es ermögliche, sich situativ anderen zuzuwenden. Krishek geht davon aus, dass im Rahmen des Liebesgedankens die situative romantische Liebe nicht zu heben sei, wohl aber seien situative Formen der Liebe (wie Romantik und Freundschaft) bei Kierkegaard als Ausdruck des Glaubens denkbar (vgl. Sharon Krishek, Kierkegaard on Faith and Love, Cambridge 2009). Ferreira profiliert demgegenüber den middle-term bei Kierkegaard als ein notwendiges Moment, das situatives Handeln überhaupt erst erlaube, insofern es dieses im Vergleich mit dem abstrakten Dritten in den Blick nehmen könne (vgl. Ferreira, Striving, sowie ihre Review von Krishek: Dies., Review of Krishek 2009, in: Notre Dame philosophical reviews, http://ndpr.nd. edu/news/24273-kierkegaard-on-faith-and-love/). Lippitt erweitert nun Ferreiras Argument um einen Gottesbegriff, der es ihm erlaubt, die strategische Funktion des middle term als die eines Filters herauszustellen, der gerade auf diejenigen Verhältnisse von preferential love verweist, die Krishek profiliert. Im Rahmen dieses Arguments verbindet Lippit dann Demut und Dankbarkeit mit den „Spiritual Emotions“: Der Gottesgedanke als middle-term erlaube es, diesen für die tugendethische Betrachtung fruchtbar zu machen (vgl. John Lippitt, Kierkegaard and the problem of special relationships: Ferreira, Krishek and the God filter, in: Int J Philos Relig 72 [2012], 177–197). In einem ähnlichen Sinne weist Dalferth darauf hin, dass Kierkegaard Gott als middle-term nicht im Sinne des klassischen Theismus konstruiere, sondern als grundlegende Beschreibung dessen, wie die Liebe das Leben nicht nur bereichert, sondern es in der Interaktion mit anderen und der Umwelt überhaupt erst ermöglicht (vgl. Ingolf U. Dalferth, The middle term. Kierkegaard and the contemporary debatte about explanantory theism, in: Kierkegaard Studies 20 [2015], 69–90, bes. 89).
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Metapher des absoluten Angesehen-Werdens ausführt: 208 Das AngesehenWerden durch Gott ermögliche es, nicht selbst den anderen anzusehen, sondern selbst blind zu bleiben (und damit dem Liebesgebot zu folgen) und sich Gottes Sicht anzueignen.209 Insgesamt ist „Der Liebe Tun“ derart durch die Semantik des Sehens geprägt, dass Arne Grøn das Werk als „Ethics of Vision“ charakterisiert.210 In dieser Semantik kann die obige Fragestellung folgendermaßen verstanden werden: Wie ist es nun möglich, blind die konkreten Anderen anzusehen?211 Kierkegaard nimmt die Lesenden in die Suchbewegung der Fragestellung mit hinein, indem er ein Gedankenexperiment durchspielt, im Rahmen dessen er die Demut einführt: Wie könne jemand von dem Paradigma der Liebe und Gleichheit aller Menschen überzeugt werden, wenn dieser ein „Böser“ ist, d. h. die Liebe nicht annehmen wolle?212 Das Problem sieht Kierkegaard darin, dass die der Liebe angemessene Art und Weise nicht in der Überredung des
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Ausführlich und stärker auf die Werkeinbettung fokussiert findet sich der Gedankengang in: Katharina Opalka, Humility – A work of love, in: Recherche Philosophique 4 (2017), 35–48. 209 Während Luther dies als anthropomorphes Gottesbild im Rahmen eines theistischen Verständnisses beschreibt, ist es bei Kierkegaard weitaus stärker als Metaphorik gekennzeichnet: Derjenige, der spricht, ist „lauter Auge“ – was nur durch die kreative Überbietung der Metapher in der Kombination von Sehen und Hören sinnig ist. Es ist eine Metaphorik, die zwar die Notwendigkeit konkreter Bilder zur Bezugnahme aufgreift, diese aber in der Übersteigerung sofort wieder als Bilder kenntlich macht. Kierkegaard gelingt es über die sprachliche Gestaltung in der Übersteigerung der Metapher die A-Funktionalität des Gottesgedankens zu wahren und dennoch anzuerkennen, dass sich dieser nur in konkreten Situationen erweisen kann, über die er jedoch gleichzeitig hinausweist. Auf theologischer Ebene könnte damit die Problemlage als gelöst betrachtet werden, da Kierkegaard jedoch auf der Ebene der existentiellen Situation denkt, steht er weiterhin vor der Schwierigkeit zu zeigen, warum sich überhaupt irgendjemand auf diesen abstrakten Liebes- oder Gottesgedanke beziehen sollte. Ulrich Lincoln beschreibt Kierkegaards Vorgehen in „Der Liebe Tun“ als „expressive Methode“, die darauf abziele, die in dem Begriff der Liebe angelegte kommunikative Kraft zu entfalten (vgl. Ulrich Lincoln, Christliche Ethik als expressive Theorie humaner Praxis. Zur Methode in Kierkegaards Die Taten der Liebe, in: Dalferth, Ethik, 1–18, hier: 9). Dorothea Glöckner geht in ihrer Analyse von „Der Liebe Tun“ ebenso der Frage nach, inwieweit Kierkegaard als sprachphilosophischer Denker verstanden werden kann (Dorothea Glöckner, Das Versprechen. Studien zur Verbindlichkeit menschlichen Sagens, in Søren Kierkegaards Werk Die Taten der Liebe, [RPTh 39] Tübingen 2009). Sie entfaltet darauf aufbauend, wie menschliches Sagen als verbindliches Sagen unter dem Imperativ der gebotenen Liebe geschehen könne, wenn es sich als verletzliches Sagen erweise (Glöckner, Versprechen, 21). Weil Glöckner „Der Liebe Tun“ als eine Ethik des Sprechens versteht, nimmt sie diese Semantik des Sehens nicht mit auf. 210 Vgl. Grøn, Ethics, 111. 211 Vgl. Kierkegaard, IX 69f./GW 19, 77; vgl. Grøn, Ethics, 116f. 212 Vgl. Kierkegaard, IX 315-IX 326/GW 19, 364–377.
3. Dimensionen der Demut
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Bösen liegen könne: Diese wäre das Gegenteil von Liebe, weil sie eine Wertung zwischen Überredendem und zu Überredendem vornehmen würde. 213 Man kann sagen: Kierkegaards Befürchtung ist, dass die performance der Überredung zur Liebe die Performanz der Liebe verhindert. Die auf diese Art geschehende Überredung würde, so Kierkegaard, zur Demütigung (ydmygelse) führen, einer situativen Verfasstheit, die es dem Bösen verunmögliche, sich auf die Liebe einzulassen. Für Kierkegaard liegt die Lösung darin, dass der Überredende selbst das performed, was er dem zu Überredenden eigentlich ersparen will, von dem er jedoch weiß, dass es unausweichlich ist, nämlich „sich zu demütigen“ (ydmyger sig). Kierkegaard entfaltet das narrativ in einer Szene, die es dem Lesenden ermöglicht, sich sowohl mit der Person des Überredenden wie der des Bösen zu identifizieren, und in welcher sich zu demütigen als ein Vollzug von Absehen und Ansehen dargestellt wird: Der Überredende sieht vom anderen ab und blickt stattdesssen auf Gott, die Liebe oder das Gute. Das geschieht, um den „Bösen“ zur Nachahmung anzuregen und ihm die Erfahrung, gedemütigt zu werden, (ydmygelsee) zu ersparen, weil der Liebende sich selbst demütigt (ydmyger sig).214 Für die vorliegende Arbeit ist dazu eine Beobachtung an der von Kierkegaard vorgegebenen Szene und seiner Deutung relevant: Was Kierkegaard für den Liebenden als „sich demütigen“ beschreibt, ist eine bewusste performance.215 Kierkegaard betont nun, dass diese dann keine bloße Schauspielerei sei, wenn sie in voller Ernsthaftigkeit um der Liebe und um des Anderen willen durchgeführt werde.216 Dass diese Überredung um des Anderen willen gelinge, so Kierkegaard, könne aus der Perspektive des Überredenden
213
Vgl. Kierkegaard, IX 321f./GW 19, 370–372. Vgl. Kierkgaard, IX 324/GW 19, 374f. Kierkegaard führt aus, dass der Überwundene sich zwar schämen mag, aber diese Scham sei nicht in sich selbst demütigend, insofern sie wiederum auf die Gleichheit aller Menschen verweise: „Der Liebende blickt also nicht auf den Überwundenen. Das war das erste und sollte das Demütigende verhindern. Aber in einem anderen Sinne blickt der Liebende doch auf ihn. Das ist das nächste“ (Kierkegaard, IX 324/GW 19, 375). Als eine solche performance habe die Demut, wie Ferreira ausführt, die Möglichkeit, potentielle Macht-Spiele zu dekonstruieren, in dem an die Gleichheit aller vor Gott erinnert werde (Ferreira, Striving, 203). 215 Vgl. Ferreira, Striving, 104f. Grøn erweitert diese Strategie auf die literarische Inszenierung, insofern die thematisch reiche Ausgestaltung die Lesenden in das Werk hineinziehe, über die rhetorischen Mittel aber eigentlich nur die Schlussfolgerung zugelassen werde, dass der Lesende sich ändern müsse – das wirke so, dass der Lesende peinlich berührt werde, da dieses eben die einzige Lösung sei (Grøn, Ethics, 115f.). Ferreira deutet dieses Strategie als ganz im Sinne der Demut selbst: „[Works of Love] employs the loving strategy of maieutic and it helps us to understand how love itself is maieutic“ (Ferreira, Striving, 16). 216 Vgl. Kierkegaard, IX 322f./GW 19, 372–374. Kierkegaard nimmt hier ausdrücklich die Dimension der „Ernsthaftigkeit“ auf (vgl. Kierkegaard, IX 323/GW 19, 373f.). 214
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nicht erzwungen werden, sondern darauf könne er nur vertrauen oder es erhoffen.217 Der Anspruch, den Kierkegaard für den Liebenden formuliert, ist im Sinne der radikalen Christusnachfolge hoch: Er erweise sich überhaupt erst als Liebender, wenn diese Überredung ohne Demütigung gelinge. 218 An dieser Stelle kann im Vergleich mit Luther eine weiterführende Distinktion eingeführt werden: Luther entfaltet für die Bestimmung der Demut im Magnificat eine Szene, in der er auf eine Performanzerfahrung in der Rückschau blickt. Kierkegaard nimmt hingegen die Perspektive der antizipierenden Vorschau ein und fragt, welche Begründungen es für ein Individuum geben kann, sich einer performance auszusetzen, deren Erfolg nicht garantiert werden kann. Aus der Perspektive der Vorschau, so kann Kierkegaard hier interpretiert werden, ist solch eine performance immer mit Unsicherheit konnotiert, so dass ein etwaiger Erfolg als alleinige Begründung für das Einlassen auf die performance nicht gelten kann. Weiterführend für die Erschließung der Demut ist nun, wie Kierkegaard dieses Grundproblem des Sich-Einlassens auf christliche Praxen im Wechsel der Pseudonyme mehrstimmig durchspielt und verschiedene Aspekte aufzeigt.219 Für die obige Szene kann die folgende Antwort bei Kierkegaard gehoben werden: Um der Liebe willen, für den anderen, trotz der damit verbundenen Unsicherheit, ist es möglich sich auf die performance der Demut einzulassen und sich zu demütigen (ydmyger sig). Eigentlich, so kann man Kierkegaards narrative Entfaltung hier interpretieren, wäre demgegenüber die Perspektive des Bösen sogar zu bevorzugen: Der Böse ahmt die performance des Überredenden zunächst nur nach, er erwartet nichts, so dass sich seine Erwartungen weder erfüllen noch enttäuschen können. Eine solche „naive“ Blickweise wäre eigentlich zu präferieren, insofern in dieser die performance in der Vorschau
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„Und der Liebende weiß nur allzugut, wie schwierig es ist, derart zu freien, einen vom Bösen frei zu machen, ihn frei zu machen von der Demütigung, der Überwundene zu sein, ihn frei zu machen von dem betrübten Gedanken an die Vergebung, derer er bedarf“ (Kierkegaard, IX 325/GW 19, 376). 218 „Denn der Liebende wünscht zwar, diesen Überwindenen zu gewinnen, aber dieser sein Wunsch ist zu heilig, um die Art Leidenschaft zu haben, welche sonst ein Wunsch“ hat (Kierkegaard, IX 325/GW 19, 376). 219 Zum Umgang mit den Pseudonymen ist Jochen Schmidts Vorschlag weiterführend, die Pseudonyme nicht in ihrer Nähe zu Kierkegaards eigener Position zu gewichten oder nebeneinander stehen zu lassen, sondern sie als Mehrstimmigkeit zu verstehen. Schmidt liest Kierkegaard als literarisch-ästhetischen Schriftsteller, in dessen literarischem, mit Pseudonymen operierenden Vorgehen sich die Unsagbarkeit seines Gegenstandes im Medium der Mitteilung abbilde. Dass Kierkegaard nicht auf den Begriff gebracht werden könne, sei die eigentliche inhaltliche Aussage, als „Modell einer vielstimmigen Rede vom unsagbaren Glauben“ (Jochen Schmidt, Vielstimmige Rede vom Unsagbaren. Dekonstruktion, Glaube und Kierkegaards pseudonyme Literatur, [KSMS 14] Berlin/New York 2006, 220).
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nicht mit Unsicherheit konnotiert wäre.220 Im Kontext seiner Zeit ist für Kierkegaard die Prägung durch kirchliche Deutungen bestimmter Praxen jedoch noch so hoch, dass ein solch „naiver“ Bezug auf diese kaum möglich wäre. Für die vorliegende Arbeit weiterführend ist nun, wie Kierkegaard die Demut in diesem Sinne in den „Einübungen ins Christentum“ (Indøvelse i Christendom) thematisiert und im Wechsel des Pseudonyms begründet. Kierkegaards Argumentation erfolgt in den ersten zwei Auflagen der „Einübungen“ aus der Perspektive des Anti-Climacus, der die bestehende Gestalt des Christentums in radikaler Konsequenz verteidigen will: Die Demut sei die Grundhaltung, mit der man sich auf die Idealbestimmung des Christentums einlasse, sich ganz in die Passivität zu begeben. Das geschehe in einer Haltung, in der man nur in freudiger Dankbarkeit auf erfahrene Gnade reagieren könne.221 Mit Anti-Climacus nimmt Kierkegaard hier „ganz lutherisch“222 die Position der reflektierenden Rückschau und der bereits erfolgten Gnadenerfahrung ein: Denn Anti-Climacus kann nur in dieser Perspektive begründen, warum man sich auf christliche Praxen einlassen soll. Schon in den bisherigen Beschreibungen hat Kierkegaard das angedeutet, was er Anti-Climacus in der „Moral“, der Zusammenfassung der ersten Abhandlung der Einübungen, so pointiert zusammenfassen lässt: „Aber wenn das Christliche etwas so Erschreckendes und Grauenvolles (Forfærdende og Rædsomt) ist, wie in aller Welt kann denn ein Mensch darauf verfallen, das Christentum anzunehmen? [... A]llein das Bewußtsein der Sünde kann, wenn ich so sagen darf, den Menschen in dies Grauen hineinzwingen (von der anderen Seite her ist die Gnade das Zwingende).“223
220 Als „naiv“ kann das verstanden werden, was Kierkegaard mit eenfoldig in der „Moral“ der Einübungen beschreibt, wenn er den „Einfältigen“ aus diesem Problemkomplex herausnimmt: „Der Einfältige, der demütig bekennt, daß er Sünder ist, er selber persönlich (der Einzelne), – er braucht schlechterdings nichts zu wissen von all den Schwierigkeiten, die zutage treten, wenn man weder einfältig noch demütig ist“ (Kierkgaard, XII 65, Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum, GW 26, übers. v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf/Köln 1962, 68). 221 „‚Und was will nun all das heißen?‘ Es will heißen, daß jeder für sich, in stiller Innerlichkeit vor Gott, sich darunter demütigen (ydmyge sig under) soll, was es doch besagen will, im strengsten Sinne ein Christ zu sein, aufrichtig vor Gott gestehen soll, wie er ist, auf daß er doch würdiglich die Gnade empfange, die jedem angeboten wird, der unvollkommen ist, das heißt also jedem“ (Kierkegaard, XII 64/GW 26, 67). 222 Ebd.; vgl. zur Lutherrezeption Kierkegaards Harald Steffes, Luther und Kierkegaard oder: Der Reformator und das Polizeitalent, in: Christian Danz/Rochus Leonhard (Hrsg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Lutherrezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2008, 167–200. 223 Kierkegaard, XII 64/GW 26, 67.
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Was in der Analyse von „Der Liebe Tun“ noch schwächer als Unsicherheit charakterisiert werden konnte, steigert sich hier für Kierkegaard zu einem abgründigen Erleben, als forfærdende og rædsomt. Dafür wird in der vorliegenden Arbeit die von Emmanuel Hirsch vorgeschlagene Übersetzung mit „Erschreckendes und Grauenvolles“224 übernommen. Das Grauen als Dimension der Demut wird für die vorliegende Arbeit als eine Extremposition aufgenommen, mit der Kierkegaard auf die existentielle Ernsthaftigkeit aufmerksam macht, die den christlichen Praxen zu eigen ist. In der Lebenswirklichkeit wird sich dasselbe Phänomen jedoch wahrscheinlich nur selten als Grauen manifestieren, sondern z. B. eher als Unsicherheit, Unbehagen oder in Formen von Besorgnis und Beklemmung. Deswegen muss auch die Begründung aus der reflektierenden Rückschau auf die Gnadenerfahrung für Anti-Climacus eine vorsichtige Apologie bleiben: Die Erfahrung von Gnade ist für Kierkegaard grundsätzlich durch die Möglichkeit des Grauens geprägt.225 Schon für Anti-Climacus macht das theologische Begründungsfiguren jenseits der (existentiellen) Sündhaftigkeit des Menschen fragwürdig, da diese sofort im Verdacht stünden, aus anderen, z. B. kirchenpolitischen Motiven zu erfolgen.226 Das ist Kierkegaards Begründung im Vorwort zur dritten Auflage der „Einübung“ (1855) dafür, nun das Pseudonym abzulegen:227 Das bestehende Christentum mit seinen Praxen hätte er nur unter dem Pseudonym verteidigen können, da sich das Grauenvolle der radikalen Christusnachfolge schon in den Praxen selbst zeige. Im Pseudonym des AntiClimacus habe er es durch die „Moral“ reflektiert zu retten versucht. In dieser Rettung habe sich jedoch das Problem des christlichen Gnadenbegriffs in aller Schärfe gezeigt, so dass die letzte Verteidigung des bestehenden Christentums
224
Ebd. Vgl. dazu Kierkegaard, XII 427 (Sören Kierkegaard, Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen, GW 28, übers. v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1953, 180); hier scheint Kierkegaard darauf abzuzielen, dass deswegen die angemessene Reaktion eigentlich der „Undank“ und nicht der „Dank“ sei. 226 Vgl. Kierkegaard, XII, 65/GW 26, 65: „Für jede andere Betrachtung ist das Christentum und soll es sein ein wahnsinnig Ding oder das größte Grauen!“ (Kierkgaard, XII, 65/GW 26, 65). 227 Die Aufgabe des Pseudonyms Anti-Climacus erfolgt in der dritten Auflage nach dem Tod von Bischof Mynster, wie Kierkegaard in der Erklärung vom 16. Mai 1855 voranstellt (Kierkegaard, XIV 80f./GW 26, 278–280): „[E]s wäre [ohne Rücksicht auf den Bischof, KO] nicht von einem pseudonymen Verfasser gewesen, sondern von mir, und das dreimal wiederholte Vorwort wäre fortgefallen, selbstverständlich auch die Moral zu Nr. 1, wo der pseudonyme Verfasser die Sache so wendet, wie ich persönlich im Vorwort dem beipflichte“ (Kierkegaard, XIV 80/GW 26, 278). Im Rahmen von Kierkegaards maieutischen Vorgehen kann natürlich auch dieses Ablegen des Pseudonyms als literarische Strategie Kierkegaards verstanden werden, mit der er betonen kann, dass Verteidigung und Angriff des Christentums nicht trennscharf zu unterscheiden sind. 225
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nun ein Angriff auf dieses geworden sei.228 Die Pointe liegt darin, dass Kierkegaard für diese Bewertung keine inhaltlichen Umstellungen in der Beschreibung der christlichen Praxen vornehmen muss, sondern nur die Deutung dieser Praxen im Rahmen von Gnade und Sünde aufgibt, weil diese unter existentiellen Bedingungen ungenügend bleiben müsse. Eine Variante, wie das dem Subjekt selbst-reflexiv werden kann, führt Kierkegaard in der zweiten Folge von „Zur Selbstprüfung“ (Dømmer selv! Til Selvprøvelse Samtiden anbefalet) von 1851/52 vor. 229 Was Kierkegaard beschreibt, kann so interpretiert werden, dass diese existentielle Abgründigkeit nun auch die Bewertung einer Performanzerfahrung in der Rückschau prägt: Denn in dieser Reflexion zeigt sich der Abstand von momentaner situativer Verfasstheit vor und nach der Performanzerfahrung. Kierkegaard sieht das besonders eindrücklich dort, wo dieser Abstand als sehr massiv empfunden wird: „Ich möchte sagen: was ist denn Erhebung? Steht nicht alle Erhebung in einem Verhältnis zum Druck der Demütigung? Kann aber zu stark gedrückt werden in Richtung auf Demütigung – so könnte die Klage [über die erfahrene Demütigung, KO] ja dahin gedeutet werden, daß die Erhebung zu gewaltig sei.“230
Das ist trotz der zunächst erstaunenden quantitativen Konnotation für die performanztheoretischen Überlegungen weiterführend: Auch eine Performanzerfahrung z. B. von Trost, die eigentlich Dankbarkeit hervorrufen könnte, kann durch die situativen Verfasstheiten so geprägt bleiben, dass sie gerade keinen Dank erzeugt.231 Wenn z. B. an einem Krankenbett gebetet wird und eine performante Erfahrung des Trostes gemacht wird, ist es unwahrscheinlich, dass diese überschwängliche Dankbarkeit hervorruft. Denn die Erfahrung der Gebetserhörung bleibt dadurch geprägt, dass es überhaupt situativ notwendig geworden ist, so zu beten. Diese letzte, aus Kierkegaard entwickelte Überlegung verweist nun auf die konstitutive Einbeziehung der momentanen situativen Verfasstheit in die Reflexion der Performanzerfahrung und ergänzt die narrative Entfaltung der Situativität Marias bei Luther.232 Die an „Der Liebe Tun“ aufgemachte Differenz von „Demütigung“ (ydmygelsee) und „sich demütigen“ 228
Vgl. Kierkgaard, XIV 80/GW 26, 278f. Vgl. Kierkgaard, XII 427/GW 28, 180. 230 Ebd. 231 Kierkegaard führt als erläuterndes Beispiel an, wie man – wohl in einem Seilzug – von Gewichten gehoben werden solle, anstatt zu versuchen, diese Gewichte selbst zu heben (vgl. ebd.). Die physikalischen, quantitativ messbaren Größen als Referenzrahmen sind in der Metapher nicht übertragbar, insofern das Empfinden des Abstandes zwischen zwei Situativitäten affektiv und nicht rational geschieht. 232 Demütigung und Dankbarkeit als zwei Dimensionen der Gnade finden sich in folgender Weise bei Kierkegaard selbst als Proprium des Christentums reflektiert: „Nein, die unendliche Demütigung (Ydmygelse) und die Gnade und dann ein Streben der Dankbarkeit, das ist Christentum“ (Sören Kierkegaard, Die Tagebücher, Bd. 4 [1849–1851], übers. v. Hayo Gerdes, Düsseldorf/Köln 1970, 278/X 3A). 229
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(ydmyger sig) kann außerdem als aufschlussreich für die Thematisierung der Demut im folgenden Kapitel verstanden werden: Wie können (passive) situative Verfasstheiten wie Demütigung oder Schwachheit in ihrem Eigenrecht als Dimension der Demut ernst genommen werden, ohne die Demut auf diese zu reduzieren oder sie mit den (aktiven) performances der Demut zu identifizieren? 3.3. Demütigung und engagierte Gelassenheit als Dimensionen der Demut Im Folgenden wird die Demut aus der Perspektive der Erfahrung bezogen auf die momentane situative Verfasstheit und die sich aus dieser ergebenden Handlungsoptionen in den Blick genommen. Anhand von Nietzsche wird entschlüsselt, warum eine Differenzierung zwischen momentanen situativen Verfasstheiten und performances notwendig ist. Die Dimension der Demütigung wird als ein notwendiger Bestandteil der Demut entfaltet, der auf missbräuchlichen Aspekte aufmerksam macht, wo diese Differenzierung unterlaufen wird. Jedoch können Aktivität und Passivität im Erleben nicht so trennscharf geschieden werden, wie Nietzsche das annimmt. Mit Bonhoeffer wird deswegen anhand der Art und Weise, wie er die Ohnmacht christologisch durchdenkt, die Medio-Passivität in der Form engagierter Gelassenheit als eine Dimension der Demut entwickelt. 3.3.1. Die Demut als Demütigung: Friedrich Nietzsche Mit Nietzsche kann das profiliert werden, was sich bei Luther und Kierkegaard schon angedeutet hat: Es gibt einen Unterschied zwischen IJĮʌİȚȞóȢ und humilitas, zwischen ydmygelse und ydmyger sig, zwischen Demütigung und sich demütigen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird das zunächst als Differenzierung zwischen einer momentanen situativen Verfasstheit (IJĮʌİȚȞóȢ, ydmygelse) und einer performance (humilitas, ygmyger sig) verstanden. Dass im Begriff der „Demut“ Situativität und performance zusammenfallen, wird im Folgenden als Kern der Kritik Nietzsches am Christentum entfaltet. Nietzsche hat den Zusammenfall von Aktivität und Passivität maßgeblich in einer verzweckten Form vor Augen, in der über die Gleichsetzung der Demut mit Demütigung eine Glorifizierung von Schwachheit, Passivität und Leiden erfolgt, die dem Menschen Handlungsoptionen raubt. Deswegen entzündet sich Nietzsches Kritik des Christentums nicht primär an theologischen Argumenten, sondern an ethisch-anthropologischen Beobachtungen, die sich an den für ihn beobachtbaren Formen des Christentums in der Gestalt der Kirche des 19. Jahrhunderts festmachen.233 Für Nietzsches gilt in mindestens ebenso starkem 233
Das ist eine teilweise problematische Gleichsetzung des Christentums mit seiner sichtbaren Gestalt als Kirche (vgl. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum [1888/89], in: KGA VI.3 [nachfolgend: AC], Berlin 1969, 162–252, hier: 250). Andreas Urs
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Maße wie für Kierkegaard, dass sich die Suchbewegung seines Denkens in literarischen Stilmitteln niederschlägt, so z. B. in der Wahl von Pseudonymen und einem bewusst fragmentarischen Stil, der die notwendige Unabgeschlossenheit des Denken anzeigen soll und die Lesenden aktiv in diesen Gedankengang einbezieht. 234 Zusammen mit der Inszenierung Nietzsches als „AntiChrist“, dessen Ziel die Überwindung des Christentums sei, wirft das die Frage auf, wie Nietzsches Überlegungen für die Theologie anschlussfähig gedacht werden können. Tabea Knura schlägt weiterführend vor, dass Nietzsche trotz der abwehrenden Haltung keine grundlegende Kritik am Christentum intendiere.235 Er kritisiere vielmehr die Art und Weise, wie die Akteure des Christentums dessen Praxen so verzwecken, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu pathologischen Situationen führen.236
Sommer macht darauf aufmerksam, dass die Theologie sich dieser Kritik Nietzsches stellen müsse und sie nicht rein psychologisch als Ausdruck von Nietzsches inneren Vorbehalten gegenüber dem Christentums deuten dürfe (vgl. Andreas Urs Sommer, Theologie nach Nietzsches Antichrist?, in: Ulrich Willers, Theodizee im Zeichen des Dionysos. Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion, [Religion – Geschichte – Gesellschaft 25] Münster/Hamburg/London 2003, 179–189, hier: 179). 234 Vgl. dazu auch: Christian Jung, Die Sprache im Werk Friedrich Nietzsches. Eine Studie zu ihrer Bedeutung für eine Theologie jenseits von Theologie, (HUTh 61) Tübingen 2013. 235 Vgl. Tabea Knura, Religionspädagogik mit Friedrich Nietzsche. Eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Religions- und Bildungskritik, (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 24) Tübingen 2018, 69. Knura geht dabei selbst auf Wagner (Falk Wager, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986), Jörg Lauster (Aufgeklärtes Christentum? Nietzsches Kritik der theologischen Aufklärungsrezeption, in: Renate Reschke [Hrsg.], Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, [Nietzscheforschung, SB 2] Berlin 2004) und Christian Danz (Religion zwischen Atheismus und Kritik, Anmerkungen zur Religionskritik und ihrer Dialektik, in: Glaube und Lernen 28 [2013], 174–192) zurück. Sie führt aus, dass Nietzsche nicht als Teil der genetischen Religionskritik des 19. Jahrhunderts verstanden werden müsse, insofern es ihm nicht nur um die Dekonstruktion religiöser, sondern allgemein menschlicher Wahrheitsansprüche gehe (vgl. Knura, Religionspädagogik, 24–27). 236 Nietzsches Kritik ist auch deswegen von der Theologie ernst zu nehmen und weiterzuführen, weil sie die Anfragen aus anthropologischer oder psychologischer Richtung spiegelt, in der religiöse Vollzüge und Praxen primär aus der Perspektive derjenigen wahrgenommen werden, denen diese pathologisch geworden sind. So beschreibt der Religionspsychologe James L. Griffith ausgehend von Fallbeispielen, wie diese Mechanismen in hierarchischen Strukturen funktionieren können, denn „[a]uch wenn sie notwendig und unausweichlich ist, bewertet die religiöse soziale Hierarchie doch häufig Gehorsam und Unterwerfung in einer Weise, die Ausbeutung, Missbrauch und Selbstvernachlässigung Tür und Tor öffnet“ (James L. Griffith, Religion hilft, Religion schadet. Wie der Glaube unsere Gesundheit beeinflusst, Darmstadt 2013, 145). Griffith legt diese Bewegung anhand eines Beispiels aus dem Ordensleben dar (Karen Armstrongs autobiographischen Erzählungen in: The Spiral Staircase. My climb out of darkness, New York 2005), in dem die, durch die Ordens-
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Diesen Gedankengang gewinnt Nietzsche besonders in „Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ (1886)237 und der „Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“ (1887)238 durch die Rede von der „Sklavenmoral“, in der seine Kritik kulminiert.239 Die Kritik der Sklavenmoral ist Teil der allgemeinen Ethik Nietzsches, in der er die kontextuellen und situativen Entstehungsbedingungen aller Werte hervorhebt: Werte sind nicht gegeben, sondern entstehen in Wertegemeinschaften. Unter dieser Prämisse untersucht Nietzsche in der „Genealogie der Moral“, warum welche Werte in bestimmten historischen Gemeinschaften entstanden sind, und ob diese – auch wenn sie sich als allgemeine Beschreibung des Menschen setzen – überhaupt Werte sein müssen.240 In diesem Zusammenhang dient das Christentum Nietzsche als Beispiel, um zu zeigen, wie die Sklavenmoral Werte auf eine Funktion verenge: „Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral“241. Die Kritik an der Sklavenmoral könnte auf der Oberfläche nun so verstanden werden, als ob Nietzsche mit der christlichen Umwertung der Werte meine, dass das Christentum einfach die Werte vertausche, so dass Gutes böse und Böses gut werde. Der Zusammenhang ist jedoch diffiziler. Nietzsches Verdacht gegenüber der christlichen Wertereduktion ist, dass diese als Instrument der Herrschaftssicherung und einer Verhinderung notwendigen Fortschritts in den kirchlichen Institutionen diene.242 Die Sklavenmoral unterbinde jegliche Form von subversivem Umgang mit Machtverhältnissen, sodass der eigentlich äußerlich-manipulative Zwang als eigene innere Haltung verstanden werde und deswegen noch weniger hinterfragbar sei. Deswegen könne im Christentum keine Möglichkeit
regel habitualisierte, Gewohnheit des Wartens auf Gott nicht mehr als performance verstanden, sondern in einen „unterwürfigen Lebensstil“ transformiert wurde, der letztlich keine Möglichkeit zu aktiven Handlungen zulässt (Griffith, Religion, 145). Programmatisch wurde dieses Verständnis in der deutschsprachigen Theologie mit dem eindrücklichen Titel von der „Gottesvergiftung“ des Psychoanalystikers Tillmann Moser als Paradigma schädlicher Gotteserfahrungen (Tillmann Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a. M. 1976). 237 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886) (nachfolgend: JGB), in: KGA VI.2, Berlin 1968, 1–255, hier: 221/JGB 260. 238 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887) (nachfolgend: GM), in: KGA VI.2, Berlin 1968, 257–430, hier: 295/GM I.14. 239 Diese Werke bilden den Kern der philosophischen Beschäftigung Nietzsches, in der er durch die Überwindung der Diastase von Gut und Böse unter dem Willen zur Macht eine Demaskierung der bisherigen ethischen Werte unternimmt, indem er ihre Genese aufzeigt (vgl. dazu Knura, Religionspädagogik, 72). 240 Vgl. Magnus Striet, Das Ich im Sturz der Realität. Philosophisch-theologische Studien zu einer Theorie des Subjekts in der Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Friedrich Nietzsches, Regensburg 1998, bes. 149. 241 Nietzsche, VI.2, 221/JGB 260. 242 Vgl. Nietzsche, KGA VI.2 211/JGB 46.
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geben, Werte außerhalb dieser Funktionslogik zu schaffen.243 Gegen die christliche Umwertung aller Werte setzt Nietzsche – mit expliziten normativen Ansprüchen – eine auf menschliche Aktivität abzielende neue Umwertung aller christlichen Werte, als Wert-Restitution des eigentlich Menschlichen gegen das Christliche. Was Nietzsche an der Sklavenmoral als problematisch ansieht, führt direkt in die Bestimmung der Demut, in der er die „Sklavenmoral“ par excellence verwirklicht findet: „Die Schwäche soll zum Verdienst umgelogen werden [...] und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ‚Güte‘; die ängstliche Niedrigkeit zur ‚Demuth‘; die Unterwerfung vor Denen, die man hasst, zum ‚Gehorsam‘“.244 Nietzsche wirft dem Christentum also vor, dass seine Umwertung aller Werte eine Verkehrung des Verhältnisses von aktiv und passiv sei.245 Nietzsche kann so verstanden werden, dass er nicht die Demut als Wert an sich kritisiert, sondern die Praxis der Konfusion von momentanen situativen Verfasstheiten mit performances, „gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst [...] eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine That, ein Verdienst sei“246. Hier sieht Nietzsche die Umdeutung der Niedrigkeit im Sinne einer situativen Verfasstheit zur Demut im Sinne eines aktiven Handelns gegeben – damit argumentiert er eigentlich ganz lutherisch, insofern das die Unterscheidung zwischen IJĮʌİȚȞóȢ und humilitas abbildet, die Luther ja bewusst aufrechterhält.247 Wenn die Kritik an der Demut in diesem Sinne verstanden wird, dann schließt sich sofort die Frage an, wen Nietzsche als diejenigen bestimmt, die diese nor-
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Vgl. dazu auch den bekannten Aphorismus 87: „Lucas 18,14 verbessert. – Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden“ (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1878], [KSA 2], München 1980, 87, Hervorhebung im Original; bei Zemmrich, Demut, 49). 244 Nietzsche, KGA VI.2, 295/GM I.14. 245 Vgl. in der programmatischen Beschreibung von „Jenseits von Gut und Böse“ in „Ecce homo“, die Bestimmung der „neinsagende[n], neinthuende[n]“ Aufgabe, die „Umwerthung der bisherigen Werthe selbst“ (Friedrich Nietzsche, Ecce homo. Wie man wird, was man ist, in: KGA VI.3, Berlin 1969, 255–372, hier: 348, hervorgehoben im Orginal). 246 Nietzsche, KGA VI.2, 293/GM I,14, kursiv im Original; bei Zemmrich analysiert, Demut, 41. 247 Deswegen können aufgeklärter Glauben und Demut nur so in eins gehen, dass die Demut sich als die Unvernunft des Glaubens darstellt, die glaubt, obwohl sie ihren Glaubensgegenstand geopfert habe (vgl. Friedrich Nietzsche, Morgenröthe (1881/1887), in: KSA 3, München 1980, 9–331, Aphorismus 219, KSA 3, 194; sowie Aphorismus 417, Nietzsche, KSA 3, 256; ausführlich dargestellt bei Zemmrich, 47f.). Sommer sieht hierin den Gewinn einer Theologie, die sich mit Nietzsche beschäftigt, insofern diese sich ihres eigenen Verhältnisses zu Macht- und Absolutheitsansprüchen bewusst werden müsse (vgl. Sommer, Theologie, 186). Einer der ersten, der sich theologisch in diesem Sinne mit Nietzsche befasst hat, ist Ritschls Sohn O. Ritschl gewesen (vgl. Otto Ritschl, Nietzsches Welt- und Lebensanschauung in ihrer Entstehung und Entwicklung dargestellt und beurteilt, Bonn 1897).
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mativen Setzungen durchführen und diese Umwertungen vornehmen. Nietzsches Vorgehen in der „Genealogie der Moral“ kann so verstanden werden, dass er diese Frage nicht beantwortet, sondern die komplexe Dynamik nachvollzieht, in der sich Werte in ihrer Entwicklung von ihren Urhebern sowie deren Intentionen lösen und ein Eigenrecht gewinne: Der Sklavenaufstand der Moral sei zunächst aus dem Ressentiment der Unterdrückten gegen die Herrschenden erfolgt. Die Gedemütigten hätten ihre eigene Situation aktiv umgedeutet, um sich so über die herrschenden Klassen erheben zu können, ohne an ihrer eigenen Situation etwas ändern zu müssen.248 Schon hier zeigt sich, dass Nietzsches Bestimmung nicht so trennscharf sein kann, wie sie vorgibt, denn diese Umdeutung ist ja schon – vor allen Dingen durch ihren Erfolg – eine Form von Aktivität und Machtausübung, die Nietzsche den Menschen des Ressentiment gerade nicht zugesteht.249 Eine Lesart Nietzsches, die m. E. weiterführend ist, kann darin liegen, dass „Starke“ und „Schwache“ nicht als empirisch bestimmbare Gruppen verstanden werden, sondern dass die Zuschreibungen je nach Deutungsoptionen wechseln: Wer aktiv handelt und sich auf performances einlässt, ist stark; wer seine momentane situative Verfasstheit so als performance deutet, dass am Ende nur die reine Situativität übrig bleibt, hingegen schwach.250 Das perfide Element des Christentums würde in dieser Lesart für Nietzsche darin liegen, dass die funktional Schwachen ihre Schwäche so hypostasieren und als Wertegemeinschaft tradieren, dass Stärke und Schwäche zu Narrativen 248
Vgl. Nietzsche, KGAVI.2, 65/ JGB III, 46. Das schließt an Sommer an, der darlegt, dass jenseits der historischen Plausibilität dieser Darstellung schon in Frage zu stellen sei, warum Nietzsche den Entwicklungsprozess der Schwachen nicht als aktiv, sondern nur als reaktiv bestimmen könne: „Es ist mit anderen Worten von den axiomatischen Voreinstellungen abhängig, wie man den Transformationsprozess bewertet, der laut Antichrist vom Christentum zu verantworten ist (vgl. Sommer, Theologie, 185). 250 Auch an dieser Stelle ist Nietzsche aufgrund der sprachlichen Ausgestaltung nicht eindeutig: So kann er zunächst die Starken und Schwachen mit zwei Tierrassen identifizieren, was für feste Zuschreibungen sprechen würde: „Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen“ (Nietzsche, KGA VI.2, 292f./GM I,13). Nur wenige Zeilen weiter argumentiert er jedoch, dass bestimmte Begriffe sich allein über ihre Funktion ergeben würden. Zu sagen, dass ein Blitz leuchte, sei umgangssprachlich überflüssig, weil das Leuchten als Tun des Blitzes schon im Begriff enthalten sei: „Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, — das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung“ (Nietzsche, KGA VI.2, 293/GM I,13). 249
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mit normativen Vorgaben werden.251 Nietzsches Kritik an dem Narrativ der Schwäche im Christentum kann so verstanden werden, dass es in der Konfusion von Situativität und performance zu einer Reduktion von Handlungsoptionen kommt, die es nicht ermöglichen, den jeweiligen momentanen situativen Verfasstheiten gerecht zu werden.252 Dann kann weder die momentane situative Verfasstheit ernst genommen werden noch eine performance gefunden werden, mit der dieser Verfasstheit begegnet werden kann. In diesem Sinne können besonders diejenigen narrativen Inszenierungen von Demut als für Missbrauch anfällig verstanden werden, die nicht um eines Anderen willen, zur Korrektur von bestehenden Machtstrukturen geschehen, sondern die Demut als derart passiv bestimmen, dass eine Veränderung der momentanen situativen Verfasstheit und der mit ihr verbundenen Machtstrukturen überhaupt nicht in den Blick kommen kann. Damit verfestige sich laut Nietzsche eine Form von Betrogen-Werden und Sich-Selbstbetrügen, insofern diese Glaubenssätze „der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen.“ 253 Das kann als pervertierte Form dessen verstanden werden, was Kierkegaard beschrieben hat: Der Selbstbetrug wird externalisiert in der Form der subtilen, eigenen Überredung; die performance wird um der Schwäche willen, zur eigenen Beruhigung inszeniert.254 Nietzsche hebt hervor, dass die Werteumkehr des Christentums auch den Gottesgedanken tangiere, der im Christentum dem Selbstbetrug diene, da „[i]n Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen“ 255 251 Rainer Bucher macht darauf aufmerksam, dass eine mögliche Konsequenz aus diesem Mechanismus für Nietzsche darin bestehen kann, dass das eigene Selbst sich in der Denunziation anderer konstruiere (vgl. Rainer Bucher, Nietzsches Mensch und Nietzsches Gott. Das Spätwerk als philosophisch-theologisches Programm, Frankfurt a. M. u. a. 1993, 65). 252 Nietzsches Kritik der Demut wird ohne direkten Verweis von Stoellger aufgegriffen, bei dem die Demut im Wesentlichen als performance von Passivität in den Blick kommt, die an einer Änderung situativer Verfasstheit nicht interessiert sei. Das wird explizit in Stoellgers Analyse der Mystik, in der er die Demut als Ausdrucksform eines „Lebens als Leiden“ gegeben sieht (vgl. Stoellger, Passivität, 200). Die Gleichsetzung von passiver Verfasstheit mit der performance der Demut wäre problematisch, eine Differenzierung zwischen beiden ermöglicht es aber, die Demut als eine Haltung zu sehen, die sich – wie Stoellger fordert – aus „Passivität als Passion mit aller Leidenschaft“ freisetzt (Stoellger, Passivität, 484). 253 Nietzsche, KGA VI.2, 295/GM 1,13. Nietzsche akzentuiert die Unterscheidung zwischen den wenigen Menschen, die sich als stark verstehen, und der Masse der Schwachen, über die Figur des „Pathos der Distanz“, das diese Unterschiede fortführe (Nietzsche, KGA VI.2, 273/ GM I, 2; vgl. Sommer, Theologie, 187). 254 Das führt zu einem Folgeproblem für Nietzsche, insofern er diese Moral der Stärke anderen nicht vorschreiben kann, da das genau diese Mechanismen, die er vermeiden will, implizieren würde (vgl. Sommer, Theologie, 189). 255 Nietzsche, KSA 6, 185/AC 19.
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werde. Wiederum kann Knuras, auf Lauster aufbauender, Nietzsche-Interpretation gefolgt werden, dass „Nietzsches Kritik am Gottesglauben [...] mit der Funktionsbeschreibung Gottes für das menschliche Leben einhergeht“ 256 . Nietzsche kritisiert diejenigen Begründungsfiguren, die diastatisch so aufgebaut sind, dass sie eine Eindeutigkeit zu evozieren scheinen, die dem menschlichen Handeln nicht angemessen ist: Deswegen müsse nach Kategorien jenseits von Gut und Böse gesucht werden, die über eine Reduktion auf diastatische Legitimierungen hinausgehe. Nietzsche sensibilisiert somit für diejenigen Deutungen, in denen normativ aufgeladene Narrativ und momentane situative Verfasstheit scheinbar eindeutig miteinander korreliert werden können: Schwäche ist immer gut; Stärke ist immer böse. Wenn Nietzsche in diesem Sinne interpretiert wird, dann weist das schon auf die Problemstellung hin, was diese Konfusion von Situativität und performance für den Umgang mit a-funktionalen Narrativen bedeutet.257 Vor diesem Hintergrund sieht sich Nietzsche herausgefordert, ein neues Narrativ zu finden, das weder mit der Diastase von Gut und Böse operiert, noch die Vertauschung von Aktivität und Passivität legitimiert. In „Jenseits von Gut und Böse“ spielt Nietzsche das für das Narrativ des „Menschen“ durch, der diese Diastasen so in sich vereine, dass er sie dadurch transzendiere.258 Verdichtet findet sich das in folgendem Ausspruch: „Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, HammerHärte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: – versteht ihr diesen Gegensatz?“259 Schon in dieser Auflistung zeigt sich, wie Nietzsche versucht ein diastatisches Denken zu überwinden: „Geschöpf und Schöpfer“ können noch als Gegensatz verstanden werden, die darauf folgenden Aufzählungen bilden jedoch keine Gegensatzpaare, sondern bilden vielmehr eine Form von situativer Vielfalt von Aktivität und Passivität ab. Das Narrativ des „Menschen“ hat bei Nietzsche dieselbe Funktion, die er dem Gottesgedanken in christlichen Bezügen nicht mehr zugesteht. Es soll den Menschen über sich selbst und damit die beobachtbare empirische Phänomenologie hinausweisen und – als letzter Schritt der Genealogie der Moral – zu sich selbst finden lassen.260 In diesem 256
Knura, Religionspädagogik, 71, bei Lauster, Verzauberung, 543. Nietzsche bestimmt hier ausdrücklich das Reich Gottes als höchst anfällig für Manipulationen: „Diese Schwachen – irgendwann einmal nämlich wollen auch sie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch ihr ‚Reich‘ kommen – ‚das Reich Gottes‘ heisst es schlechtweg bei ihnen, wie gesagt: man ist ja in Allem so demüthig!“ (Nietzsche, KGA VI.2, 297/GM I,15). 258 Vgl. Nietzsche, KGA VI.2, 166f./JGB 225; sowie die Analyse dessen bei Knura, Religionspädagogik, 78f. 259 Nietzsche, KGA VI.2 167/JGB 225. 260260 In dem Sinne kann die Rede Nietzsches vom Übermenschen verstanden werden: Selbstbejahung sei für Nietzsche, so Knura, gerade die Anerkennung von Stärken wie 257
3. Dimensionen der Demut
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Zusammenhang kann Nietzsche sogar die Demut positiv bestimmen, wie Schoeller-Reisch herausarbeitet: Nämlich dort, wo sie der Selbstüberwindung als Verwirklichung des Selbst dient.261 Aus der Kritik Nietzsches an der Demütigung im Christentum kann für die vorliegende Arbeit folgendes profiliert werden: Demütigung ist nicht das Gegenteil von Demut, sondern vielmehr eine integrale Dimension der Demut. Die Demütigung als Dimension der Demut macht auf diejenigen Momente aufmerksam, in denen es zu einer Konfusion von momentaner situativer Verfasstheit und performance kommen kann. Beide Aspekte gehören zur Demut und können im Erleben als einheitlich erfahren werden, sodass die Differenzierung nicht – wie von Nietzsche gefordert – trennscharf darzustellen ist. Für die theologische Reflexion wie für die religiöse Verkündigung ist die Differenzierung zwischen momentaner situativer Verfasstheit und performance hilfreich, um solche Gleichsetzungen von Situativität der Demut und performance der Demut zu vermeiden, die Handlungsoptionen reduzieren und z. B. Schwachheit glorifizieren.
Schwächen (d. h. von Handlungsoptionen wie von Situativitäten, vgl. Knura, Nietzsche, 136) oder, mit Kleffmann, die grundsätzliche Bestimmung des Lebens, in dem der Übermensch „die rein formal zu verstehende Perspektive der Selbst-Überwindung jedes Identitätsmoment des Willens zur Macht“ sei (Tom Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Intepretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, [BHTh 120] Tübingen 2003, 301). Diese Selbstüberwindung ist für Nietzsche kein einmaliges, sondern ein fortlaufendes Geschehen in der ewigen Wiederkunft: „Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu mir. ,Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selbst überwinden muss( “ދFriedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883–1885], in: KGA VI.1, Berlin 1968, 144). 261261 Vgl. Schoeller-Reisch, Enthöhter Gott, 294–301; Dies., Die Demut Zarathustras. Ein Versuch zu Nietzsche mit Meister Eckhart, in: Nietzsche-Studien 27 (1998), 420–439, bei Nietzsche, KGA VI.1, 183–185. Tom Kleffmann macht darauf aufmerksam, dass diese Betonung der Aktivität bei Nietzsche ein Krisenphänomen sei, denn die „Kraft der SelbstÜberwindung im Identitätsmoment ist freilich der Krise nicht als Vermögen vorausgesetzt, sondern nur in der Krise zu erfahren und nur in Bezug auf sie zur Sprache zu bringen“ (Kleffmann, Nietzsches Begriff, 288). Das ist auch Knuras Pointe der Anwendung Nietzsches auf die Religionspädagogik, die „Brüchen und Zweifel einer individuellen Entwicklung Raum [gibt], indem diese als konstitutive Elemente religiöser Selbstverwirklichungsprozesse verstanden und konstruktiv-bejahend als Bestandteil menschlichen Seins aufgefasst werden“ (Knura, Nietzsche, 303). Diese Möglichkeit, mit Nietzsche solche scheinbar gegenläufigen Elemente als Ausdruck der situativen Verfasstheit menschlichen Lebens in unterschiedlichen Kontexten darzustellen, ist prävalent in der Frage nach der Anschlussfähigkeit Nietzsches für die Rezeption in der Theologie. Vgl. Daniel Mourkojannis, Ethik der Lebenskunst. Zur Nietzsche-Rezeption in der evangelischen Theologie, (Studien zur Systematischen Theologie und Ethik 23) Berlin 2000.
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3.3.2. Die Demut als engagierte Gelassenheit: Dietrich Bonhoeffer Die Auswahl von Bonhoeffer als Referenzautor bedarf einer Vorbemerkung: Im Wesentlichen wird Bonhoeffer als eine Form der narrativen Verarbeitung des bei Nietzsche angelegten Problems der Differenzierung von Passivität und Aktivität in situativen, religiösen performances hinzugezogen. Diese narrative Verarbeitung findet sich nun nicht explizit unter dem Stichwort der Demut, sondern in der Art und Weise, wie Bonhoeffer Macht und Ohnmacht in den Briefen aus der Tegeler Haft mit christologischen Figuren so konstruiert, dass sie eine Form von medio-passiver Verarbeitung der momentanen situativen Verfasstheit ermöglichen. Als Grundlage dieser impliziten Thematisierung der Demut bei Bonhoeffer werden seine expliziten Überlegungen zur Demut vorangestellt, wie er sie in seiner Habilitationsschrift „Akt und Sein“ von 1930 entwirft.262 Die existentielle Herangehensweise Bonhoeffers in „Akt und Sein“ ist durch die Christologie präfiguriert: Existenz ist bei Bonhoeffer in Weiterführung von Kierkegaard durch Christus bestimmte Existenz.263 Wie diese Existenzbestimmung durch Christus geschieht, formuliert Bonhoeffer in „Akt und Sein“ in einer Weise, die hoch anschlussfähig für performanztheoretische Überlegungen ist: „Existenz ist als pati bestimmt, d. h. von Existenz kann ‚eigentlich‘ erst geredet werden als von getroffener Existenz. Jeder Existenzbegriff, der nicht vom Getroffen- oder Nichtgetroffensein durch Christus gebildet ist, ist ‚uneigentlich‘“.264 262 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie (1931), DBW 2, München 1988. „Akt und Sein“ ist deutlich weniger erschlossen als z. B. „Nachfolge“, „Communio Sanctorum“ oder die Gefängnisbriefe. Es liegt die Monographie von Jürgen Boomgaarden vor, der eine detaillierte Analyse aller Passagen von Akt und Sein vornimmt und sie in Bonhoeffers Rezeption von Fichte und Hegel sowie der Philosophie Husserls, Schelers und Heideggers einordnet. Es ist auffällig, dass Boomgaarden den Bezug auf Kierkegaard nicht weitet ausführt, obwohl dieses durch Bonhoeffer eigentlich vorgegeben ist (vgl. Jürgen Boomgarden, Dietrich Bonhoeffers systematische Theologie und ihr philosophischer Hintergrund in „Akt und Sein“, Gütersloh 1999, 500). Das Interesse von Christiane Tietz an „Akt und Sein“ liegt in der Bestimmung des Verhältnisses von existentieller Ausrichtung auf Christus und reflexiver Distanz als dialektische Bezugnahme am Ort der Vernunft selbst bei Bonhoeffer (vgl. Christiane TietzSteiding, Bonhoeffers Kritik der verkrümmten Vernunft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, [BHTh 112] Tübingen 1999). 263 Bonhoeffer nehme Kierkegaard so auf, dass erst der von der Gnade betroffene Mensch in der radikalen Christusnachfolge existiere, in dem das Christusverhältnis zum existentiellen Selbstverhältnis werde (vgl. Friederike Barth, Die Wirklichkeit des Guten. Dietrich Bonhoeffers „Ethik“ und ihr philosophischer Hintergrund, [BHTh 156] Tübingen 2011, bes. 96– 119, hier: 112f.; vgl. zum Verhältnis Kierkegaard und Bonhoeffers im Nachfolgedanken Geffrey B. Kelly, Kierkegaard as „Antidote“ and as Impact on Dietrich Bonhoeffer’s Concept of Christian Discipleship, in: Peter Frick [Hrsg.], Bonhoeffer’s Intellectual Formation, [RPT 29] Tübingen 2008, 145–165). 264 Bonhoeffer, DBW 2, 113, vgl. F. Barth, Wirklichkeit, 109.
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Dieses „Getroffensein“, das als Performanzerfahrung charakterisiert werden kann, ist die Grundlage der weiteren Überlegungen Bonhoeffers: 265 In der Glaubenserfahrung als glaubendem Erkennen seien Akt und Sein als Einheit vorausgesetzt, auf die in theologischem Erkennen und predigendem Erkennen reflektiert werde und die darum – im Sinne der Kierkegaard’sche Existenzmitteilung – der Differenzierung bedürfen.266 Im Rahmen dieser Problemkonstellation taucht bei Bonhoeffer die Demut als Demut oder Gehorsam der Theologie auf, die sich dieser Problematik bewusst sein müsse, um die konstitutive Bedeutung der religiösen Verkündigung und der kirchlichen Sozialformen für ihr Denken anzuerkennen.267 Daraus ergeben sich für Bonhoeffer zwei Konsequenzen: Das ist einerseits ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, sich auf existentielle Fragestellungen einzulassen und die Theologie auf diese hin zu durchdenken.268 Was Bonhoeffer hier unternimmt, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit so verstanden werden, dass die Einheit von performance und Performanzerfahrung am Ort des Erlebens des Individuums thematisiert so wird, dass diastatisches Denken in der Existenz überwunden werden kann. Andererseits ist in „Akt und Sein“ ein Bewusstsein dafür angelegt, dass mit der Materialdogmatik im Rahmen der Ausrichtung auf die Praxis der religiösen Verkündigung situativ umgegangen werden kann.269 Die Einbeziehung der Situativität und Passivität bereitet Bonhoeffer in „Akt und Sein“ vor, unternimmt sie jedoch nicht explizit. In den Gefängnisbriefen drängt sich die Notwendigkeit der Einbeziehung der Situativität über Bonhoeffers eigene Situation geradezu auf. Diese Situativität seiner Theologie macht Bonhoeffer so faszinierend wie herausfordernd für die theologische Rezeption: Die Gefängnisbriefe und Werke aus der Haft sind derart kontextgebunden, dass
265 Tietz merkt an, dass das in „Akt und Sein“ dazu führt, dass das Thema des Buches nicht eindeutig bestimmt werden könne: „In der Sekundärliteratur bleibt zunächst unklar, ob Bonhoeffer den Gegensatz von Akt und Sein überwinden oder als Gegensatz fruchtbar machen will oder ob Akt- und Seinsbegriff überhaupt echte Gegensätze sind“ (Tietz, Bonhoeffer, 16). 266 Vgl. Bonhoeffer, DBW 2, besonders 113–119; Bonhoeffer entwickelt diesen Gedanken im Rahmen ekklesiologischer Überlegungen, als Ort, an dem Akt und Sein zusammenfallen (Tietz, Bonhoeffer, 300). Er bezieht sich dabei auf Hegel (vgl. David S. Robinson, Christ and Revelatory Community in Bonhoeffers Reception of Hegel, [Dogmatik in der Moderne 22] Tübingen 2018, 59). 267 Vgl. Bonhoeffer, DBW 2, 129f. Als eine Nebenbemerkung: Die Demut wird laut Albrecht Schödl mit der – wahrscheinlich von Ritschl entlehnten – Beschreibung „Das Auge sieht sich nicht selbst“ charakterisiert (DBW 2, 40; vgl. Albrecht Schödl, „Unsere Augen sehen nach dir“. Dietrich Bonhoeffer im Kontext einer aszetischen Theologie, Leipzig 2006, 32). 268 Vgl. dazu Bonhoeffer, DBW 2, 70–74. 269 Deswegen kann Bonhoeffers Ethik als eine Situationsethik charakterisiert werden, die von diesen Gestalten aus denkt (vgl. F. Barth, Wirklichkeit, 125).
294
Demut
sie die Einbeziehung der Biographie Bonhoeffers erfordern.270 Sie sind gleichzeitig in ihrer sprachlichen Durchführung so gestaltet, dass sie über diese Kontexte hinaus Menschen intuitiv ansprechen können.271 Das macht sie einerseits für eine Vielzahl von Kontexten anschlussfähig, in denen die Biographie Bonhoeffers für die Identifizierung mit religiösen Aussagen hilfreich ist, so z. B. in den Gebeten und Liedtexten im EG.272 Die biographische Eindrücklichkeit der Lebenserzählung Bonhoeffers kann andererseits die theologische Rezeption so dominieren, dass sie auf diese Aspekte hin reduziert wird.273 Ebenso bedingt die Unabgeschlossenheit seines theologischen Werkes, dass Bonhoeffer für eine Vielzahl von divergenten ethischen Themen in Anspruch genommen wird.274 Die vorliegende Arbeit fokussiert im Bewusstsein dieser Problemstellung einen sehr kleinen Ausschnitt des Werkes Bonhoeffers, nämlich die Gefängnisbriefe vom 17.07.1994 und 21.07.1944, insofern sich dort einige der wirkmächtigsten Passagen finden.
270 Florian Schmitz führt das anhand der Entwicklung des Nachfolgegedankens vor: „Am Beispiel der ‚Nachfolge‘ wurde gezeigt, inwiefern Bonhoeffer die jeweilige historische Situation zum produktiven Anlass von Theologie nimmt. [...] Kontinuität besteht im Werk dieses Theologens zuerst in der Überzeugung, dass Theologie nur als konkrete, situative, kontextuelle Theologie überhaupt Theologie ist“ (Florian Schmitz, „Nachfolge“. Zur Theologie Dietrich Bonhoeffers, [FSÖTh 138] Göttingen 2013, 406). 271 Schmitz beschreibt das als „Spitzensätze“ Bonhoeffers (vgl. Florian Schmitz, Dem Rad in die Speichen fallen“? Zu einem Paradigma der Bonhoeffer-Forschung, in: Kerygma und Dogma 65 (2019), 126–144, bes. 142). 272 In diesen Zusammenhang gehören auch die zahlreichen Biographien Bonhoeffers, in denen besonders seine Rolle im Widerstand mit den theologischen Implikationen seines Werkes verbunden werden und einem nicht-theologischen Publikum zugänglich gemacht werden (vgl. Wolfgang Huber, Dietrich Bonhoeffer, Auf dem Weg zur Freiheit, München 2019; sowie die prägende Lebensdeutung Bonhoeffers durch seinen Freund Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie [1978], Darmstadt 82004). 273 Ein eindrückliches Beispiel für diese Identifizierung findet sich bei Jürgen Moltmann, der in biographischer Reminiszenz seine eigene theologische Entwicklung mit der Bonhoeffers verwebt: „Dann kam 1951 Widerstand und Ergebung und schlug bei mir wie eine Bombe ein. Ich war begeistert, hingerissen und wie befreit von meiner existentialistischen Neigung zu Schuld und Scheitern, Abgrund, Verzweiflung und Einsamkeit. [...] Bonhoeffers Theologie des Lebens geht bis heute mit mir“ (vgl. Jürgen Moltmann, Theologie mit Dietrich Bonhoeffer, Die Gefängnisbriefe, in: John W. De Gruchy/Stephen Plant/Christiane Tietz [Hrsg.], Dietrich Bonhoeffers Theologie heute. Ein Weg zwischen Fundamentalismus und Säkularismus/Dietrich Bonhoeffer’s Theology Today. A Way between Fundamentalism and Secluarism, Gütersloh 2009, 17–31, hier: 18). 274 Als ein Beispiel für dieses Vorgehen kann die Jahrestagung der Internationalen Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft (ibg), vom 05.-08.09.2019 in Eisenach, dienen, auf der unter der Überschrift „Civilcourage. Bonhoeffers Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und völkischem Denken“ u. a. aktuelle rassistische Bewegungen in den Blick genommen wurden.
3. Dimensionen der Demut
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In den Gefängnisbriefen denkt Bonhoeffer die Problemstellung von Passivität und Aktivität christologisch unter dem Narrativ der Macht Gottes durch. Die grundsätzliche Weichenstellung ist die schon bei Kierkegaard, Ritschl und Nietzsche in unterschiedlichen Kontexten angelegte Beobachtung, dass der Verlust der Selbstverständlichkeit von Narrativen im christlichen Kontext einen innovativen Umgang mit diesen nicht nur ermöglicht, sondern auch erfordert (und vice versa). Bei Bonhoeffer wird das besonders in den vielzitierten Passagen vom „religionslosen Christentum“ in den Gefängnisbriefen deutlich und in Verbindung mit dem problematisch gewordenen Narrativ von der Allmacht Gottes: Die Umstellung, die Bonhoeffer an diesem Narrativ vornimmt, ist, dass das Narrativ der Macht Gottes für religionsmündige Menschen angesichts der Abgründigkeit der Welt nicht länger in den Narrationen eines allmächtig handelnden, theistisch-personal gedachten Gottes entfaltet werden könne.275 Ohne diesen Gott müsse, mit Bonhoeffer, das Leben geführt werden „etsi Deus non daretur“276. Bis hierhin bleibt Bonhoeffer im Rahmen der in „Akt und Sein“ entwickelten Überlegungen: Der Gottesgedanke kann nicht unabhängig davon erschlossen werden, wie er für den Menschen erfahrbar wird. Gleichzeitig hat Bonhoeffer jedoch das Bedürfnis sehr klar im Blick, dass in ohnmächtigen situativen Verfasstheiten genau solch ein Gott wünschenswert wäre, der eine Änderung der Situation herbeiführen kann. Da das Narrativ der Allmacht Gottes diese Funktion nicht mehr erfüllen kann, steht Bonhoeffer vor der Aufgabe, ein anderes Narrativ zu finden, dass auf diese Erwartung ansprechbar ist. In der dichten Passage zum Problem von Allmacht und Ohnmacht Gottes im Brief an Bethge vom 17.07.1944 führt Bonhoeffer vor, wie das christologische Narrativ diesen Anspruch erfüllt:277 „Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist Matthäus 8,17 ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! [...] Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht Gottes und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen. Insofern kann man sagen, daß die beschriebene Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt
275 Ein Gedankengang, der sich in den Briefen an Bethge vom Juni/Juli 1944 in einer von situativen Gegebenheiten unterbrochenen Suchbewegung entwickelt (vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, DBW 8, München 1998, 475–482; 503f.; 509–512; 529–535). 276 Brief vom 16.07.1944 an Eberhard Bethge, in: Bonhoeffer, DBW 8, 533. 277 In diesem Brief vom 16.07.1944 an Eberhard Bethge arbeitet sich Bonhoeffer an der „nicht-religiösen Interpretation der biblischen Begriffe“ ab (Bonhoeffer, DBW 8, 529). Nach einem äußerst knappen theologiegeschichtlichen Überblick über alle weiteren zu verwerfenden Gottesvorstellungen kommt er zu der Frage, wie dennoch ein intellektuell redlicher Gottesbegriff aussehen kann.
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Demut
wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel, der durch seine Ohnmacht in der Welt Macht und Raum gewinnt.“278
In der christologischen Figur kann Bonhoeffer zunächst die momentane situative Verfasstheit des Leidens mit der Performanzerfahrung der Macht Gottes über die performance des leidenden Gottes am Kreuz integrieren. Er löst diese komplexe Dynamik allerdings ebenso wie Nietzsche einseitig in einer Form von diastatischem Denken auf, nun jedoch zur Seite der Ohnmacht hin. Ricœur versteht in diesem Sinne die Passage als eine direkte Auseinandersetzung Bonhoeffers mit Nietzsche, in der Bonhoeffer Nietzsches Anfrage affirmativ aufnehme und sie in christologischer Perspektive bis zu ihrem radikalen Ende durchdenke: Wenn das Christentum grundlegend eine Religion der Passivität sei, dann müsse dieser Gedanke der Passivität sich auch im Gottesbegriff zeigen. 279 Diese Gegenüberstellung von Bonhoeffer und Nietzsche zeigt aber schon an, dass idealerweise eine Bewegung, die solche Diastasen aufzulösen versucht, das nicht einseitig nach der einen oder andere Seite unternehmen sollte, da dann die Gefahr besteht, dass in der Rezeption nur der „Übermensch“ oder nur der „leidende Gott“ profiliert wird. Die Auflösung hin zur Passivität im Narrativ der Macht Gottes bei Bonhoeffer führt nun jedoch nicht zu einer weltabgewandten Passivität, sondern steht in einem Kontext, in dem sie aktives Handeln legitimiert: Der Brief ist ausdrücklich in der Hoffnung auf das Gelingen des Stauffenberg-Attentats vom 20.07.1944 geschrieben.280 Die Haltung
278
Bonhoeffer, DBW 8, 534f. „What is very difficult to grasp [...] is the conjunction of these two themes: to meditate on the weak God, the suffering God, in the experience of the fullness of life. One could say that this is precisely the inverse of what Nietzsche hated in Christianity, that is, an omnipotent God opposite a weak human being“ (Paul Ricœur, The Non-religious Interpretation of Christianity in Bonhoeffer, in: Brian Gregor/Jens Zimmerman [Hrsg.], Bonhoeffer and Continental Thought. Cruciform Theology, transl. Brian Gregor, Bloomington [IN] 2009, 156– 175, hier: 167; original in: Les Cahiers du Centre Protestant l’Ouest 7 [1966], 3–20). Ricœur hat für diesen Zusammenhang einen scharfen Blick, argumentiert sonst in Bezug auf Bonhoeffer allerdings nicht immer kenntnisreich, so in der zumindest missverständlichen Formulierung, dass Bonhoeffer selbst zu den Waffen gegriffen habe (vgl. die Anmerkung von Brian Gregor dazu, ebd. 175). Ricœur fährt fort, Bonhoeffer als die christliche Überbietung des Nietzsche’schen Gedankens menschlicher Stärke in seiner Umkehrung zu verstehen: „It seems to me that here in Bonhoeffer there is an approach that consists in taking the Nietzschean idea to its end, in order to reverse it, by adopting it entirely“ (167). Der Einfluss der späten Schriften Nietzsches auf Bonhoeffer wird in der Forschung als gegeben angenommen, besonders in der Entwicklung der Christologie als Gegenbild zum Übermenschen (vgl. F. Barth, Wirklichkeit, 25–27). 280 Es muss m. E. nicht so weit gegangen werden, „jeden Gedanken, den Bonhoeffer im Sommer 1944 fasste, in der einen oder anderen Weise durch diese Situation“ des Stauffenberg-Attentats beeinflusst zu sehen (Cornelius Bormann, Jesus Christus und die mündige Welt. Dietrich Bonhoeffers Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft vor dem Hintergrund 279
3. Dimensionen der Demut
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der Passivität ist durch die Bezugnahme auf das Weltgeschehen, die Möglichkeit zu aktivem Widerstand im Stauffenberg-Attentat, präfiguriert und muss dennoch damit umgehen können, dass diese Aktivität aufgrund äußerer Umstände an ihr Ende gekommen ist.281 Bonhoeffer gewinnt diesen Gedanken, zumindest in der Selbstdarstellung, aus den biblischen Berichten.282 In der situativ gebundenen Deutung gelangt er dabei nun zu einer Interpretation dieser Passagen, die weiterführend ist; in der Interpretation der Kreuzeserzählung integriert Bonhoeffer die momentane situative Verfasstheit über die trinitarisch-christologische performance des Kreuzes: Der ohnmächtige, leidende Gott hilft.283 In den Formulierungen zielt das darauf ab, dass der leidende Gott hilft, aber Bonhoeffer thematisiert nicht auf der Ebene der expliziten theologischen Überlegung, wie dieser leidende Gott hilft. Das könnte die Interpretation zulassen, dass Bonhoeffer schon das Leiden als momentane situative Verfasstheit als dasjenige Charakteristikum Jesu Christi versteht, das hilft und zur Nachfolge anregt. Dass Bonhoeffer jedoch einen Umgang mit der Situativität kennt, der jenseits der Diastase von Aktivität und Passivität liegt, zeigt sich implizit darin, wie Bonhoeffer seine der erinnerten Jugendzeit, Rheinbach 2015, 315). Die Briefe vom 16. und 18.07.1944 eröffnen jedoch dezidiert mit der Bezugnahme auf die Attentatspläne, so: „Sehr froh bin ich, daß Klaus so guter Dinge sein soll! Er war längere Zeit so deprimiert. Nun, ich denke, alles, was ihn so bedrückt, wird bald wieder ganz in Ordnung kommen“ (Bonhoeffer, DBW 8, 528). Der Hinweis auf Klaus von Dohnanyi ist als Mitteilung an Bethge über das Fortschreiten der Attentatspläne gedacht. Huber macht darauf aufmerksam, dass es – eingedenk der Notwendigkeit, an der Gestapo vorbei zu kommunizieren – beeindruckend sei, in wie vielen Passagen Bonhoeffer direkt oder indirekt über die Widerstandspläne spricht (vgl. Wolfgang Huber, The Theological Profile of Bonhoeffer’s Political Resistand, in: Busch Nielsen/Wüstenberg/Zimmermann, Rad, 15–33, hier: 20). 281 Moltmann deutet in Aufnahme dieser Passagen bei Bonhoeffer die Kreuzesmystik als Grund einer „aktiven, politisch relevanten Nachfolge“ (Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, Gütersloh 92007, 55). 282 Bonhoeffers Vorgehen kann dabei als diejenige Hermeneutik der Responsivität verstanden werden, die Nadine Hamilton anhand von „Schöpfung und Fall“ als charakteristisch für Bonhoeffers Umgang mit der Bibel beschreibt: „Dietrich Bonhoeffers Schriftauslegung begründet eine Hermeneutik der Responsivität, weil sie die Begegnung mit dem Wort als existentielles Sprachgeschehen beschreibt“ (Nadine Hamilton, Dietrich Bonhoeffers Hermeneutik der Responsivität. Ein Kapitel Schriftlehre im Anschluss an Schöpfung und Fall, [FSÖTh 155] Göttingen 2016, 408). Wie die Schrift selbst Bonhoeffer responsiv wird und seine Situation als Angesprochener neu konstituiert, kann m. E. in Aufnahme dieses Verständnisses auch in den folgenden Passagen der Gefängnisbriefe entfaltet werden. 283 Das kann als Korrektur dessen verstanden werden, was Bonhoeffer in dem Werk „Nachfolge“ vorgenommen hat, in dem er das Kreuz stärker als passive Situativität Jesu versteht, die sich aus der göttlichen Notwendigkeit des Kreuzes ergebe (vgl. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge [1937], DBW 4, München 1989, 77f.; vgl. dazu Bernd Liebendörfer, Der Nachfolge-Gedanke Dietrich Bonhoeffers und seine Potentiale in der Gegenwart, Stuttgart 2016, 56f.).
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Demut
eigene Situativität unter dem Narrativ des leidenden Gottes verarbeitet. Das kann exemplarisch an dem Brief an Bethge vom 21.07.1944 dargestellt werden, in dem Bonhoeffer das Scheitern des Stauffenberg-Attentats an Bethge kommuniziert und verarbeitet.284 Der gesamte Brief ist von einer Suchbewegung durchzogen, in der sich – so kann vermutet werden – in der Kombination von biblischen Narrationen, eigenen Empfindungen und dogmatischen Traditionen Bonhoeffer selbst die Art und Weise erschließt, wie der leidende Gott konkret helfen könne: „Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. [...] – und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane“285.
Bonhoeffer entwirft in dieser Passage ein Verständnis von Nachfolge für die situative Verarbeitung der Fülle der Lebenserfahrung, das als „Einlassen“ charakterisiert werden kann.286 Die Qualität dieses Einlassens stellt Bonhoeffer in sehr kurzen narrativen Passagen als eine Form von aktiver Passivität vor: Man wirft sich aktiv in die Arme, in eine Haltung, in der man dann passiv verharrt; man nimmt aktiv die Haltung ein, die Leiden eines anderen passiv zu ertragen; man beginnt aktiv eine Wache, die aus passivem Abwarten besteht.287 In diesen Formulierungen ist nun ein Zusammenfall von Aktivität und Passivität auf der
284
Bonhoeffer, DBW 8, 542. Dass Bonhoeffer hier mit „Erfolge und Mißerfolge“ kaum verschleiert auf das Stauffenberg-Attentat Bezug nimmt, ist durch den Nachsatz des Briefes: „Du verstehst, was ich meine, auch wenn ich es so kurz sage“ (Bonhoeffer, DBW 8, 543) verstärkt. Für Bethge war dieses der eindrücklichste Brief Bonhoeffers an ihn (vgl. Huber, Political Resistance, 31). Bonhoeffer reflektiert die eigene Emotionalität und bringt dabei en passant die Notwendigkeit der Kommunikation von Leiden zum Ausdruck: „Vielleicht wunderst du dich über einen so persönlichen Brief. Aber, wenn ich einmal so etwas sagen möchte, wem sollte ich es sonst sagen? Vielleicht kommt die Zeit, in der ich auch zu Maria so sprechen kann; ich hoffe es sehr. Aber noch kann ich ihr das nicht zumuten“ (Bonhoeffer, DBW 8, 542). 285 Ebd. 286 Das ist laut Schmitz ebenfalls eine Korrektur des Nachfolgegedankens als „ein Abschied von der Vorstellung, Glauben könne dadurch gelernt werden, dass der Christ ,so etwas wie ein heiliges Leben ދführt“ (Schmitz, Nachfolge, 396). 287 Schmitz macht darauf aufmerksam, dass „[d]as Motiv des Wartens, das Bonhoeffer in dessen handlungsverzögernden Ausprägungen des zögernden Abwartens in ‚Kirche und Völkerwelt‘ vehement abgelehnt hatte (‚worauf warten wir noch? Wollen wir mitschuldig werden wie nie zuvor?‘, DBW 13, 301), 1944 im Taufbrief in produktiver Gestalt wiederkehrt; das ‚Warten auf Gottes Zeit‘ tritt neben das „Beten“ und das ‚Tun des Gerechten‘ als den einzigen dem Gefangenen noch verbliebenen Möglichkeiten des Christeins“ (Schmitz, Rad, 141).
3. Dimensionen der Demut
299
Ebene existentieller Erfahrung ersichtlich, der als medio-passives „Sich-Lassen“ verstanden werden kann.288 Der Begriff der „Medio-Passivität“ wird m. W. seit 2015 von Béatrice HanPile im tugendethischen Diskurs gebraucht:289 Han-Pile entwickelt die MedioPassivität über den Gedanken der Hoffnung, zu dem konstitutiv die Erfahrung von powerlessness gehöre. Eine vorläufig von Han-Pile gegebene Definition von Medio-Passivität ist Folgende: „In these [...] instances, agents can only act if they understand themselves as also passive in the acting itself: their acting integrates the experienced powerlessness into their agency. In previous work I have called this exercise of agency ‚medio-passive‘ (in reference to the ancient Greek middle voice) and put forward a provisional de¿nition and some examples. Medio-passivity involves a (pre-)reÀective experience of powerlessness as presently ineliminable, to which the agent responds by integrating this experience into her agency.“290
Die konstitutive Einbezogenheit von Ohnmacht in die medio-passive Erfahrung führt bei Han-Pile nicht zu einer Opferhaltung, sondern vielmehr umgekehrt zu einer neu gewonnenen agency. Diese agency beschreibt Han-Pile als „letting go“,291 als „Geschehen-Lassen“, eine Vorstellung, die schon grammatikalisch zwischen Aktivität und Passivität konnotiert ist: Es ist ein Geschehen, das darin aktiv ist, dass es sich weder nur hilflos in die Ohnmacht fallen lässt, noch sofort zu Überwindungsmechanismen greift, sondern vielmehr den Zustand der Ohnmacht aktiv aushält, indem diese als passive Haltung im Gegenüber zu anderen Handlungsoptionen gewählt wird.292 Für die Erschließung von Narrativen ist das weiterführend, weil in Verkündigungs- oder Seelsorgekontexten besonders nach solchen Formulierungen gesucht werden kann, die einen
288
Für solche Phänomene des Lassens als Beschreibung des Zusammenhangs von Aktivität und Passivität sind die Arbeiten von Stoellger einschlägig, der diese unter dem Begriff der „Pathosperformanz“ verhandelt. Stoellger differenziert nicht zwischen performance und Performanz, meint jedoch m. E. an dieser Stelle das, was in der vorliegenden Arbeit als performance bezeichnet wird, insofern er von medio-passiven Handlungen ausgeht, nicht von der Widerständigkeit performanter Erfahrung: Stoellger profiliert, dass diese auch aktivpassiv konnotierte Figuren wie die des „Lassens“ und der „Latenz“ umfassen könne. Er macht in seiner Kritik an Wilfried Härle explizit darauf aufmerksam, dass „Lassen“ als Begriff zur Beschreibung von reiner Passivität ungeeignet sei, insofern es sich schon grammatisch „um ein transitives und intentionales Aktiv“ handele (vgl. Stoellger, Passivität, 455). 289 Dieses geschieht im Rahmen des an der Universität Essex angesiedelten Projekts einer Ethics of Powerlessness (2015–2018), die besonders an der Erfahrungsdimension der Ohnmacht in Kontexten von Palliative Care interessiert ist. Han-Pile entwickelt den Begriff ausgehend von Nietzsches Amor fati, vgl. Béatrice Han-Pile, Nietzsche and Amor Fati, in: European Journal of Philosophy 19 (2009), 224–261. 290 Béatrice Han-Pile, Hope, Powerlessness and Agency, in: Midwest Studies in Philosophy 41 (2017), 175–201, hier: 197. 291 Han-Pile, Hope, 197. 292 Han-Pile, Hope, 198.
300
Demut
medio-passiven Charakter haben, wie z. B. das „Lassen“.293 Im „Lassen“ und ähnlich konnotierten performances können die momentane situative Verfasstheit in ihrer Passivität und die aktiven performances zur Überwindung oder Veränderung dieser Situativität zusammengedacht werden. In diesem Sinne wird als medio-passive Dimension der Demut die engagierte Gelassenheit eingeführt. 294 Engagiert gelassen ist die Demut aus der Eindrücklichkeit und Evidenz der Performanzerfahrung heraus, die sie in die Lage versetzt, momentane situative Verfasstheiten und deren Kontexte unter a-funktionalen Narrativen zu beurteilen: Die Welt und mein Leben können auch anders aussehen. Engagiert gelassen ist sie als performance, die es aushalten kann, der Welt gezwungenermaßen wieder und wieder zu begegnen – ohne darauf jedes Mal mit höchster Drastik reagieren zu müssen und die momentane situative Verfasstheit um jeden Preis ändern zu müssen. Die engagierte Gelassenheit ist nicht das Gegenteil der Demütigung, sondern Teil eines Spektrums von Dimensionen der Demut, mit denen die Demut je situativ angemessen verstanden werden kann. Der aus der Beschäftigung mit Nietzsche und Bonhoeffer entstehende Vorschlag für die auf Situativität bezogenen Dimensionen der Demut ist nun, aus der berechtigen Kritik am Christentum die Demut als Demütigung ernst zu nehmen, um sie als engagierte Gelassenheit verstehen zu können. Der Verweis auf die Demütigung dient dem Bewusstsein für diejenigen Narrative und Praxen, in denen es zu einer Konfusion von momentaner situativer Verfasstheit und performances kommen kann. Die Haltung der Demut als medio-passives Lassen ist darauf angewiesen, sensibel für diese mögliche Vermischung zu sein, um die Gelassenheit nicht einseitig auf Passivität oder Aktivität hin zu reduzieren.
4. Zwischenfazit: Dimensionen der Demut 4. Zwischenfazit
Die übergreifende Problemstellung der Beschäftigung mit der Demut ist die Möglichkeit einer situativen, funktionalen Bezugnahme auf A-Funktionalität: 293 Damit ist sie einer Ethik, die sich auf das „Lassen“ vor dem „Tun“ konzentriert ähnlich. Diese Ethik wird als „Negative Ethik“ von Henning Ottmann programmatisch unter dem Stichwort der Gelassenheit entfaltet (vgl. den Titel von Henning Ottmann/Stefan Saracino/Peter Seyferth [Hrsg.], Gelassenheit und andere Versuche zur negativen Ethik, Berlin 2014). So sehr diesem Ansatz in der Einbeziehung der passiven Komponenten wie dem „Lassen“ oder der „Gelassenheit“ in die Ethik zuzustimmen ist, sollten diesen nicht das alleinige Primat vor den aktiven Komponenten zukommen (vgl. dazu Henning Ottman, Let it be, in: Ders./Saracino/Seyferth, Gelassenheit, 8–14, hier: 9). Aktivität wie Passivität können vielmehr als komplementäre Ergänzungen des Handelns gedacht werden, die situativ je stärker oder schwächer akzentuiert werden können. 294 Der Ausdruck „engagierte Gelassenheit“ und die Idee, die Demut probeweise unter diesem Ausdruckt zu entwickeln, verdankt sich Zachhuber.
4. Zwischenfazit
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Mit Ritschl konnte im ersten Materialbestand nachgezeichnet werden, wie der a-funktionale Gottesgedanke für eine kollektive Größe wie die Gemeinde in ihrer situativen Gestalt als Kirche funktional werden kann. Anhand des zweiten Materialbestandes, der Demut, wurde die Frage thematisiert, wie sich diese Bewegung für das Individuum auf der Ebene existentieller Erfahrung darstellt: Dort geschieht die funktionale Aneignung von A-Funktionalem in individueller momentaner situativer Verfasstheit. In der Relecture Ritschls lief die Denkbewegung vom kollektiven Narrativ des Reiches Gottes zu den performanztheoretisch zu erschließenden individuellen Praxen von Demut, Geduld und Gebet. In der Betrachtung der Demut läuft die Denkbewegung umgekehrt von der performanztheoretischen Erschließung der individuellen Praxis der Demut zur Bedeutung der Demut als Narrativ in kollektiven Kontexten. Deswegen konnte die Demut primär als christliche Praxis in den Blick genommen werden, deren Proprium darin besteht, selbst-reflexiv auf diesen komplexen Zusammenhang einer funktionalen Bezugnahme auf A-Funktionales zu verweisen und dieses in ihren Praxen nachzuvollziehen. Im Folgenden wird abschließend zusammengefasst, wie die Demut als christliche Praxis zum Verständnis von Funktionalität, A-Funktionalität und deren situativer Einbettung beiträgt. Die Pointe der gesamten Betrachtungen zur Demut liegt darin, dass in den Referenztexten wie in den phänomenologisch zu beobachtenden Praxen die Demut selbst zum Narrativ für gemeinschaftliche Kontexte wird. 4.1. Funktionalität und performance der Demut In der Betrachtung der Demut aus funktionaler Perspektive hat sich gezeigt, dass es nicht darum gehen kann, einzelne Funktionen der Demut als Bezug auf die A-Funktionalität präzise zu bestimmen oder eine vollständige Funktionsbeschreibung zu liefern. 295 Vielmehr impliziert ein situatives, funktionales Denken, dass für solche eindeutigen Bestimmungen christlicher Praxen die Bezüge grundsätzlich zu komplex sind: Die Funktion einer christlichen Praxis als Bezugnahme auf A-Funktionales ist an die momentane situative Verfasstheit und deren gemeinschaftliche sowie zeitgeschichtliche Kontexte gebunden. Die Demut macht einerseits darauf aufmerksam, wie notwendig es ist, für christliche Praxen zwischen der momentanen situativen Verfasstheit, ihrer performance und der Performanzerfahrung zu differenzieren, um einseitige funktionale Reduzierungen zu vermeiden. Andererseits zeigt sich an der Praxis der Demut, dass im Erleben alle diese Aspekte zusammenfallen und auf unterschiedliche Dimensionen der Demut verweisen können. Die jeweiligen Dimensionen sind dabei nicht statisch, im Sinne von Systemdifferenzierungen, zu verstehen: So sind z. B. Grauen und Dankbarkeit keine Gegensatzpaare, deren 295
Implizit geht auch Zemmrich so vor, ohne allerdings dieses Vorgehen offenzulegen, wenn er die Demut nach Glaubensdemut, Liebesdemut, peristatischer Demut und Hoffnungsdemut differenziert (vgl. Zemmrich, Demut, 440–448).
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Grenzbestimmung einen Systemübergang anzeigt. Sie stellen vielmehr ein Spektrum dar, in dem sich die Funktionalitätsbestimmungen der Demut im Traditionsbestand verwirklicht haben und bieten Anknüpfungspunkte für materialdogmatische oder auch liturgische Weiterführungen.296 Die Dimensionen sind zudem nie abschließende oder vollständige Bestimmungen dessen, was Demut als christliche Praxis ausmacht, sondern im Zugriff auf den Traditionsbestand positionell. In der vorliegenden Arbeit wurden im Rückgriff auf die benediktinisch-monastische Tradition aus liberal-theologischer Perspektive mit existenzphilosophischer Ausrichtung die folgenden Dimensionen der Demut bestimmt: Schutzlosigkeit und Ernsthaftigkeit, Dankbarkeit und Grauen, Demütigung und engagierte Gelassenheit. Für die Demut als christliche Praxis hat sich gezeigt, dass die Erschließung über die performances den Blick auf Dimensionen eröffnet, die möglicherweise in bestimmten Traditionsbeständen eher implizit enthalten sind und die expliziten Bestimmungen anreichern. So ist die Schutzlosigkeit eine implizite Dimension der Demut in den performances der monastischen Praxis, die über die explizite Funktion der Demut in der RB als gemeinschaftsstiftende Selbsterkenntnis hinausgeht. Die performance verweist auf einen Aspekt der Demut, der diese nicht auf ihre Funktion hin reduziert, sondern sie in der Praxis selbst in Frage stellt. Es ist zudem weiterführend zu untersuchen, welche performances mit einer christlichen Praxis verbunden sind, insofern diese – möglicherweise unerwartete – Aspekte abdecken können, die dann wiederum die Reflexion ergänzen könnenz: Wenn mit der Demut die performance Brandts im Warschauer Ghetto verbunden ist, dann kann die Funktion der Demut eher in der Regulation gesehen werden. Wenn mit der Demut die performance einer ekstatischen Überwältigung verbunden ist, dann liegt die Qualität der Demut 296 Über das Format einer Dissertation hinausgehend, könnten die Dimensionen der Demut durch weitere positionelle Bestimmungen der Demut z. B. in orthodoxer, römisch-katholischer oder charismatischer Tradition und aus weiteren theologischen und philosophischen Perspektiven, besonders der dialektischen Theologie, ergänzt werden. Diese müssten jedoch aus der Perspektive der jeweiligen Traditionen und theologischen Richtungen selbst untersucht werden, was wiederum auf die Notwendigkeit von interdisziplinärem und interkonfessionellem Arbeiten verweist. Für den interreligiösen Dialog und die Exegese gilt, dass der Begriff der Demut im Spannungsfeld von IJĮʌİȚȞóȢ und humilitas derart an den christlichen Traditionsbestand gebunden ist, dass ein komparativer Ansatz eher die performances oder Dimensionen der Demut in den Blick nehmen kann. So z. B. Phänomene betrachtet werden, die an die Dimension der engagierten Gelassenheit anschließen und als Ergänzung für diejenigen hebräischen Wortstämme dienen, die in der LXX mit den IJĮʌİȚȞ-Derivaten übersetzt werden. In diesem Sinne könnte z. B. die Gelassenheit im Kohelet-Buch mit der hier entwickelten Dimension der Demut verglichen werden, wie sie Markus Saur beschreibt: „Kohelet [steht] letztlich mit einer gewissen Gelassenheit vor seinen sehr ernüchternden Einsichten zu Gott, Welt und Mensch, die ihn aber dennoch nicht in den Nihilismus hineinführen, sondern ihm das Leben neu erschließen“ (vgl. Markus Saur, Einführung in die altestamentliche Weisheitsliteratur, Darmstadt 2012, 120).
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gerade nicht in ihrer regulierenden Wirkung, sondern darin, der eigenen Überwältigung einen expressiven Ausdruck zu verleihen. Für die weitere Betrachtung der Demut als christlicher Praxis wird deswegen vorgeschlagen, die Demut nicht auf einzelne performances einzuengen, sondern diese als je situativ angemessenen Ausdruck davon zu verstehen, dass es in der Demut „um etwas geht“: Es gibt keine der Demut unangemessenen performances, sondern nur solche, die einen Umgang mit der momentanen situativen Verfasstheit ermöglichen, so leicht oder schwer diese auch sein mag. Was hier für die Demut durchgeführt wurde, könnte im Sinne einer situativen Dogmatik auch für verwandte Phänomene wie z. B. das Gebet, die Geduld, das Danken und Loben, das Zuhören und weitere durchgeführt werden: Welche performances dienen in welchen Kontexten und Traditionen zur Illustration christlicher Praxen? Wie bildet sich in diesen performances je situativ angemessen der funktionale Bezug auf A-Funktionales ab? 4.2. A-Funktionalität und Performanzerfahrungen Die funktionale Perspektive allein bedingt demnach keine Komplexitätsreduktion, insofern sie auf die Notwendigkeit verweist, die Funktion je situativ angemessen zu bestimmen und auf die impliziten Dimensionen aufmerksam zu machen, die z. B. in performances einer christlichen Praxis enthalten sind. Die weitere Komplexitätssteigerung ist nun, dass die Funktion der Demut als christliche Praxis in ihrem Bezug auf A-Funktionales liegt. Die Demut kann – scheinbar paradox – als funktional a-funktionale christliche Praxis verstanden werden. Das hier vorgeschlagene Vorgehen erlaubt es, die sich als a-funktional erweisenden Aspekte von Glaubenserfahrungen und christlichen Praxen ernst zu nehmen, ohne diese metaphysisch so zu hypostasieren, dass Reflexionsmöglichkeiten reduziert werden. In der Relecture Ritschls konnte die Christologie als dasjenige Narrativ entfaltet werden, das A-Funktionalität und Funktionalität auf der Ebene des Gottesgedankens kombiniert und somit diejenigen Narrative ergänzen kann, die einseitig Funktionalität oder A-Funktionalität fokussieren. Auch auf der Ebene der Demut als christlicher Praxis zeigt sich dieser Gewinn des christologischen Narrativs: Das Kreuz kann, ausgehend von Bonhoeffer, als medio-passive performance der performanten Erfahrung in momentaner situativer Verfasstheit verstanden werden. Im christologischen Narrativ gehen dementsprechend die A-Funktionalität des Gottesgedankens und die A-Funktionalität des Glaubensvollzugs in eins. Das wird in den Narrationen der Evangelien in Passion, Kreuz und Auferstehung so erzählt, dass sich diese performance wiederum vor Augen stellen kann und situativ performant für andere werden kann. Ritschl und Bonhoeffer aufnehmend kann deswegen die Christologie so profiliert werden, dass sich in ihr mit dem Kreuz nicht nur eine aktive performance von Passivität zeigt, sondern dass in der Christologie die existentielle Ebene so in den Gottesgedanken integriert ist, dass dieser
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selbst als funktional a-funktional verstanden wird: Die Rede von der Demut Gottes oder dem Gebet Gottes ist nur als christologische Redeweise möglich, die in den Evangelien selbst jedoch als situatives Geschehen erzählt wird. Der funktionale Bezug auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens wird der Demut in ihrer Praxis selbstreflexiv: Die A-Funktionalität ist nicht nur im Gottesgedanken sowie in den damit verbundenen Narrativen enthalten, sondern wird im Erleben des Individuums selbst thematisiert. Mit der christlichen Praxis der Demut werden funktionale Erwartungen verbunden, die sich im Moment der Erfahrung jedoch als a-funktional erweisen: Die performance der Demut zielt funktional auf eine Performanzerfahrung ab, ist jedoch unbedingt von dieser zu differenzieren, denn die performance einer christlichen Praxis garantiert noch nicht ihre Performanz. Im Gegenteil, das mögliche Ausbleiben wie das mögliche Eintreffen einer Performanzerfahrung sind in die Praxis selbst mit einbezogen, so dass deren A-Funktionalität konstitutiv ist. Die Differenzierung von performance und Performanz der Demut ermöglicht es aus a-funktionaler Perspektive die mit einer performance verbundenen funktionalen Erwartungen ernst zu nehmen: Ich weiß möglicherweise, dass im Niederknien keine Erfahrung von Geborgensein garantiert ist. Dennoch knie ich nieder, um diese Erfahrung (oder eine andere) zu machen und hoffe darauf, dass meine Erwartung nicht enttäuscht wird. Ob und wie sich diese Erwartungen erfüllen oder enttäuscht werden, ist wiederum situativ und kann sich in einer Vielzahl von Korrelationen zwischen Erwartungen und performanten Erfahrungen ausdrücken, die hier nur exemplarisch angedacht werden können: Die Performanzerfahrung bleibt möglicherweise in der performance vollständig aus und weist mich wieder und wieder auf diese zurück. Die Performanzerfahrung tritt möglicheweise so ein, wie ich sie erwartet habe und überrascht mich damit umso mehr. Die Performanzerfahrung tritt ein, aber möglicheweise genau entgegen gesetzt zu dem, was ich erwartet habe – ich habe mir im Niederknien bestätigenden Trost erhoffe und erhebe mich wütend provoziert. In der theologischen Reflexion sowie der seelsorgerlichen oder verkündigenden Praxis bedingt diese Offenheit die Notwendigkeit, beständig auf die konstitutive A-Funktionalität der christlichen Praxen zu verweisen und gleichzeitig die funktional mit diesen Praxen verbundenen Erwartungen ernst zu nehmen.297 297 In diesem Sinne könnten weiterführend auch neue Dialogpartner:innen im inter- und transdisziplinären Diskurs erschlossen werden, die in der bisherigen Beschäftigung mit der Demut wenig in den Blick gekommen sind. So könnte z. B. der Dialog mit der Psychologie nicht auf die Frage nach dem Verhältnis von Demut und Stolz als Formen der Selbstanerkennung reduziert werden, sondern das Feld der Schutzlosigkeit in (leiblich) beobachtbarem Gesehen-Werden thematisieren. Im interdisziplinären Austausch könnten besonders die zunächst problematisch erscheinenden Dimensionen christlicher Praxen, wie die Schutzlosigkeit, das Grauen oder die Demütigung, weiterführend sein: Schon in den christlichen Praxen selbst könnten die möglicherweise von außen an die theologische Reflexion oder religiöse Gesprächssituationen herangetragenen Anfragen explizit und ernsthaft thematisiert werden.
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Schon in den obigen Entfaltungen zeigt sich, dass die Differenzierung zwischen performance und Performanz einen Distinktionsgewinn in der Betrachtung christlicher Praxen bietet, auch wenn performance und Performanz im Erleben in eins fallen. In der Analyse von Luther und Kierkegaard konnte gezeigt werden, dass es in dieser Unterscheidung zu zwei unterschiedlichen Perspektiven auf die Performanzerfahrung kommen kann, die bedingen, wie über diese gesprochen wird: Eine performante Erfahrung kann in der Vorschau antizipiert oder in der Rückschau reflektiert werden. Diese Differenzierung ermöglicht es, mit Erwartungen an eine Performanzerfahrung in religiösen Kontexten sowie mit (narrativen) Verarbeitungen von Performanzerfahrungen umzugehen. Dass eine bestimmte Erfahrung performant geworden ist und die eigene Wirklichkeit verändert hat, erschließt sich nur in der Rückschau.298 Luther versteht diese durch die Dankbarkeit geprägt, weil es zu einer Performanzerfahrung gekommen ist, auch wenn diese sich – wie für Maria in Lk 1 – zunächst scheinbar gar nicht so eindeutig darstellt. An Luthers Vorgehen zeigt sich jedoch eine der performanten Erfahrung inhärente Problematik: Luther bezieht sich auf eine narrative Entfaltung einer performanten Erfahrung, wie er sie im Magnificat vorzufinden meint. Er muss deswegen annehmen, dass in der narrativen Entfaltung des Lukasevangeliums von dieser Performanzerfahrung ausgegangen wird. Aufgrund dieses Mechanismus ist z. B. in der religiösen Verkündigung von einem Übergewicht an performanten Erfahrungen auszugehen, insofern diese ein größeres narratives Potential haben. Weil narrativ von performanten Erfahrungen meistens in der Rückschau gesprochen wird, kann es so erscheinen, als ob diese eben nicht a-funktional seien, sondern sich automatisch einstellen werde. Die Perspektive der Rückschau bildet jedoch nicht immer die religiöse Erfahrung in der individuellen Lebenswirklichkeit ab, in der erhoffte Performanzerfahrungen genau so gut ausbleiben wie eintreffen können. Dieser Aspekt kann mit Kierkegaard entfaltet werden, der ernst nimmt, dass in der antizipierenden Vorschau der Verweis auf die Möglichkeit einer performanten Erfahrung den existentiellen Erwartungen nicht gerecht wird, die mit christlichen Praxen einhergehen: Es geht in diesen Praxen um etwas – nämlich um die Hoffnung auf eine performante Wirklichkeitsveränderung. Deswegen ist die Dimension der Dankbarkeit aus der Perspektive der Vorschau nicht angemessen, In transdisziplinärer Hinsicht, z. B. in Seelsorgesituationen, würden diese Dimensionen die Gelegenheit für einen offeneren Umgang über die Explikation der Problemstellung bieten. In diesem Sinne und im Bewusstsein von Dimensionen christlicher Praxen könnte dann z. B. in Seelsorge und Verkündigung adaptiv und situativ angemessen reagiert werden. 298 So kann Ritschls Bestimmung verstanden werden, dass „wenn wir wissen, daß Gott uns erhört, wir zugleich wissen, daß wir die Güter besitzen, die wir erbeten haben“ (Ritschl, UcR, §55, 87, Fn 234; vgl. auch Ritschl, RuV 3II, 156). Ritschl führt für das individuelle Gebet aus, dass „Erhörung“ gerade nicht Wunscherfüllung bedeute (Ritschl, UcR, §55, 86f., Fn 234).
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sondern muss um Formen von Unsicherheit, Besorgnis oder Beklemmung ergänzt werden. Um aufzuzeigen, dass die Demut als grundsätzlich a-funktionale Praxis aus funktionaler Perspektive mit dieser Antizipation umgehen muss, wurde das Grauen als Dimension der Demut als eine extreme Konsequenz aus der notwendigen A-Funktionalität christlicher Praxen von Kierkegaard aufgenommen. Die Vorschau auf die Performanzerfahrung in der performance und die Rückschau auf die performante Erfahrung können sich gegenseitig ergänzen und die Deutung der Performanzerfahrung präfigurieren. Das zeigt sich besonders bei denjenigen performanten Erfahrung, auf die in der Rückschau eigentlich mit Dankbarkeit reagiert werden könnte, weil z. B. unerwarteter Trost erfahren wurde. Wenn es in einem Trauergottesdienst zu solch einem Trost kommt, kann die Dankbarkeit über die geschehene Performanzerfahrung jedoch mit Formen von Trauer (oder anderen Empfindungen) verbunden bleiben. Wiederum zeigt sich an dieser Stelle, dass die Differenzierung zwischen performance und Performanz in Vorschau und Rückschau die Möglichkeit bietet, solche sich situativ erweisenden Phänomene in den Blick zu nehmen. 4.3. Situativität und Medio-Passivität Die Performanzerfahrung ist a-funktional und somit nicht an die momentane situative Verfasstheit und die mit ihr verbundenen Erwartungen gebunden: Es kann keine situative Verfasstheit von vornherein festgelegt werden, in der sich eine performante Erfahrung garantiert erweisen wird. Ebenso kann keine situative Verfasstheit festgelegt werden, in der sich eine performante Erfahrung garantiert nicht erweisen wird. Darauf hat schon Ritschl in seiner Abgrenzung zu katholischen und pietistischen normativen Vorgaben hingewiesen. Eine solche eindeutige Bestimmung würde die grundsätzliche A-Funktionalität von christlichen Praxen negieren und diese auf ihre Funktionalität reduzieren. Dennoch erweist sich Performanz nicht anders als in situativen performances und ändert die momentane situative Verfasstheit (in unterschiedlichem Grade), so dass die Situativität zu einem integralen Bestandteil der Reflexion der Performanz christlicher Praxen wird. Weiterführend für die Fragestellung der Arbeit ist folgende Überlegung, die implizit aus Nietzsche und Bonhoeffer gewonnen werden kann: Performances und momentane situative Verfasstheit sind nicht so zu differenzieren, dass die performances mit Aktivitität und die Situativität mit Passivität gleichzusetzen wäre. Vielmehr können sowohl performances als auch momentane situative Verfasstheiten als medio-passiv verstanden werden. Für die Reflexion ist diese Differenzierung nötig, um sowohl Glorifizierungen von Passivität als auch absoluten Machbarkeitsphantasien vorzubeugen. Für alle Dimensionen der Demut ist dementsprechend nicht von vornherein bestimmbar, ob sie eher aktiv oder eher passiv konnotiert sind: Das passive Ausgesetztsein und die Beobachtbarkeit in der Dimension der Schutzlosigkeit
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kann in der monastischen Praxis auch ein bewusstes Sich-Aussetzen sein, indem aktiv eine passive momentane situative Verfasstheit hergestellt wird. Die Ernsthaftigkeit kann sich einstellen, wenn wahrgenommen wird, dass es in der Praxis der Demut „um etwas geht“ und sie kann als Haltung bewusst gesucht werden, um zu markieren, dass es jetzt um etwas gehen könnte. Auch das enge Verhältnis von Dankbarkeit und Grauen als Reaktion auf eine mögliche Performanzerfahrung in Vorschau und Rückschau kann sich als medio-passiv erweisen: Die narrative Figur der Maria lobt Gott, laut Luther, aktiv dafür, dass sie sich medio-passiv in ihrer passiven situativen Verfasstheit der Niedrigkeit hat ansehen lassen. Das aktive Einlassen auf die christliche Praxis der Demut um der Überredung des Bösen willen geschieht, laut Kierkegaard, in der Hoffnung, dass der Böse eine medio-passive Erfahrung des Sich-Lieben-Lassens macht, die beiden ermöglicht, weiter zu lieben. Die Dimensionen der Demut zielen in diesem Sinne auf eine Form von Medio-Passivität als Ausdruck der funktional a-funktionalen Praxis ab. Die Demut zeigt sich zudem schon in ihrer Begriffsgeschichte zwischen passiver IJĮʌİȚȞóȢ und aktiver humilitas als eine medio-passive christliche Praxis par excellence: Was sich begriffsgeschichtlich als Problem darstellt, kann aus systematischer Perspektive als Verweis auf all diejenigen Phänomene begriffen werden, zu denen Medio-Passivität konstitutiv gehört und die sich dementsprechend nicht auf die Diastase Aktivität und Passivität reduzieren lassen. Da in der Erfahrung sowie in der antizipierenden Vorschau und der bewertenden Rückschau möglicherweise nicht deutlich ist, ob es sich um eine eher aktive oder eher passive Erfahrung handelt, ist die Differenzierung zwischen momentaner situativer Verfasstheit und performance in der theologischen Reflexion umso notwendiger. Dies gilt besonders für all diejenigen christlichen Praxen, die medio-passiv auf eine Performanzerfahrung bezogen sind. Die Differenzierung zwischen performance und momentaner situativer Verfasstheit ist – wie besonders Nietzsches Kritik aufzeigt – umso wichtiger, weil es sonst zu subtilen oder expliziten Gleichsetzungen kommen kann, in denen absichtlich oder unabsichtlich Situativität und performance äquivok gesetzt werden. Im Extremfall kann es zu einer vollständigen Verschiebung auf die Seite der Passivität kommen, in der die einzige Aktivität die Deutung von passiven situativen Verfasstheiten als aktive performances ist, wie Nietzsche in überzeichneter Weise für das Christentum vorführt. Nietzsche selbst setzt der Reduktion auf die Passivität in poetischer Übersteigerung die einseitige Betonung der Aktivität entgegen, die jedoch ebenso reduktiv ist. 299 Über diese Differenzierung 299
Es ist demnach sinnvoll, zwischen momentaner situativer Verfasstheit und performance in der Analyse zu differenzieren, was jedoch nicht vollständig identisch mit der Differenzierung zwischen Passivität und Aktivität ist. Auch diese Unterscheidung lässt sich exemplarisch an der Versprachlichung der Demut im Deutschen zeigen: Die Sätze „ich demütige mich“ und „ich bin gedemütigt“, können beide als Ausdruck von Medio-Passivität verstanden werden. Es
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kann problematischen Dynamiken in gemeinschaftlichen Kontexten vorgebeugt werden, die z. B. um jeden Preis ein Narrativ oder eine christliche Praxis passiv oder aktiv gestalten wollen und nicht offenhalten oder explizit machen, dass und in welcher Weise christliche Praxen medio-passiv sind. Bestimmte individuelle Praxen können narrativ in einer Gemeinschaft so aufgeladen sein, dass sie mit einer bestimmten Erwartungshaltung verknüpft werden. Das kann dort besonders problematisch werden, wo diese Erwartung mit der scheinbaren Garantie einer Performanzerfahrung verbunden ist, weil deren Ausbleiben nicht ernsthaft thematisiert wird, so wie es z. B. in der RB impliziert ist: Im Blick auf die Erde werden sich Selbsterkenntnis und Gottesliebe einstellen. In dieser Hinsicht können über die Erwartungshaltung normative Vorgaben an christliche Praxen herangetragen werden: Das Ausbleiben einer performanten Erfahrung kann als nicht gelingendes Vollziehen der performance verstanden werden. Das wäre eine Reduktion der Demut als christliche Praxis, insofern diese nur funktional und nicht auch a-funktional verstanden würde. Die AFunktionalität der performance der Demut ist idealiter Teil einer funktionalen performance, die im Idealfall leiblich für andere, die mit derselben Erfahrung umgehen müssen, repräsentativ wird. An dieser Stelle kann für die Demut noch eine weitere Beobachtung gemacht werden, die auf die Ritschl’sche Relecture zurückweist. In der Relecture wurde aus dem kollektiven Gebrauch des Narrativs des Reiches Gottes die Fragestellung nach den individuellen christlichen Praxen unter diesem Narrativ entwickelt. Für die Demut kann die umgekehrte Bewegung festgestellt werden: Die individuelle christliche Praxis wird selbst zum Narrativ einer kollektiven Größe. Exemplarisch wurde diese Bewegung anhand des benediktinischen Mönchtums und der Kritik des Christentums bei Nietzsche dargestellt. So verschieden die Intentionen in diesen beiden Kontexten sind, so ähnlich ist die Struktur: In der RB wie in Nietzsches Kritik wird die Demut zu einem Narrativ, das fast synonym mit benediktinischem Mönchtum oder Christentum verwendet werden kann. Eine ähnliche Narrativierung einer (christlichen) Praxis kann auch in den tugendethischen Diskussionen beobachtet werden, in denen die Demut als Narrativ für die Unmöglichkeit einer eindeutigen Tugendbestimmung steht. Wenn die Demut als Narrativ verstanden wird, das die Identität einer kollektiven Größe prägt, kann im Vergleich mit der Relecture Ritschls das Narrativ der Demut von dem Narrativ des Reiches Gottes differenziert werden. In einer vorläufigen Bestimmung, deren Konsequenzen und weitere Anwendungen ebenfalls Desiderat für eine an Funktionalität interessierten Theologie bleiben, kann folgende Kategorisierung unternommen werden: Es gibt ist dennoch möglich, sie in der Analyse nach performance („sich demütigen“) und momentaner situativer Verfasstheit („gedemütigt sein“) zu unterscheiden. In der performance liegt der medio-passive Aspekt im aktiven Einlassen auf einen passiven Zustand, in der situativen Verfasstheit kann z. B. der eigene passive Zustand aktiv als Demütigung gedeutet werden.
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einerseits Narrative, die aus christlichen Praxen entstehen, wie z. B. die Demut, aber auch das Gebet, die Geduld, die Dankbarkeit u. v. m. Diese Narrative partizipieren an der Dynamik christlicher Praxen und verweisen in verschiedenen Graden auf den funktionalen Charakter der jeweiligen Praxen sowie auf ihre situative Einbettung.300 Deswegen können diese Narrative in ihrer Funktionalität überbetont werden und ihren konstitutiven a-funktionalen Charakter aus dem Blick verlieren – das ist im obigen Sinne Teil der Kritik Nietzsches am Narrativ der Demut im Christentum. Es gibt andererseits Narrative, die auf Konzepten und Narrationen beruhen, wie das Reich Gottes. Diese Narrative sind weniger dynamisch, verweisen jedoch z. B. durch den Bezug auf den Gottesgedanken auf das a-funktionale Element. Für diese Narrative müsste demnach möglicherweise stärker ihre Funktionalität und ihre situative Einbettung thematisiert werden, die nicht derart offensichtlich ist, wie bei den auf Praxen bezogenen Narrativen. Während diese Differenzierung für die Narrative „Demut“ und „Reich Gottes“ sehr offensichtlich ist, gibt es darüberhinaus auch Narrative, in denen der Bezug auf die Praxis und der Bezug auf die A-Funktionalität stärker zusammenfallen, so – in einer vorläufigen Annährung – in den Narrativen von der Liebe Gottes, der Macht Gottes oder der Versöhnung.301 In einer ersten, sehr schematisch bleibenden Differenzierung kann zwischen Narrativen, die auf Praxen bezogen sind, Narrativen, die auf Konzepte und Begrifflichkeiten bezogen sind, und Narrativen, die beides integrieren, unterschieden werden. Diese Differenzierung kann weiterführend für die Betrachtung christlicher Gemeinschaften sein: Bestimmt sich eine Kirchengemeinde, eine spirituelle Gemeinschaft, eine Gruppe innerhalb kirchlicher Strukturen eher durch auf Praxen oder durch auf Konzepte bezogene Narrative? Es macht möglicherweise einen Unterschied, ob sich eine Gemeinschaft als „Gemeinschaft der Demut“, als „Gemeinschaft des Reiches Gottes“ oder in einer spezifischen Kombination dieser Narrative versteht. Das je unterschiedliche Verhältnis von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität in den jeweiligen
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Schneider-Flume hat im Rahmen ihrer narrativen Dogmatik ein Bewusstsein dafür, dass besonders Verben in die Erzählung hineinführen, bleibt in ihren Beispielen dann aber auf die Ebene der Narrationen und der Funktion der Verben in diesen Narrationen beschränkt (vgl. Schneider-Flume, Dogmatik erzählen, 143–145). 301 Diese Narrative haben ihre Stärke darin, dass sie als Praxis auf situative menschliche Verfasstheiten ansprechbar sind, diese über den Verweis auf A-Funktionales gleichzeitig transzendieren und so eine Reduzierung auf reine Funktionalität vermeiden: Die Rede von der „Liebe Gottes“ zeigt schon an, dass diese nicht mit menschlichen Liebesbedingungen zu verwechseln ist und bietet gleichzeitig intuitive Anknüpfungspunkte über anthropologische Verständnisse von Liebe. Hierin liegt gleichzeitig eine Schwäche, wenn z. B. in dieser Hinsicht menschliche Liebe als äquivalent mit göttlicher Liebe gesetzt und die konstitutive AFunktionalität negiert wird oder ein situatives Verständnis von Liebe als der göttlichen Liebe entsprechend gesehen wird.
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Narrativen kann m. E. etwas über die kollektive Größe aussagen, die diese Narrative für sich in Anspruch nimmt. Ebenso kann die Art und Weise, wie eine kollektive Größe mit diesen Narrativen umgeht, weiterführend für das Verständnis und die präzisere Bestimmung dieser Narrative sein.
V. Narrativität und Performanz der Demut Die übergreifende Problemstellung der vorliegenden Arbeit war es, den Zusammenhang von Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität näher zu bestimmen und eine erste begriffliche Präzisierung zu unternehmen. Wie und mit welchen Abwägungen kann man sich in Demut üben, wenn die Demut doch das Geheimnis des religiösen Menschen vor sich selbst ist? Im nun folgenden Fazit werden diejenigen Ergebnisse für diese Problemstellung kurz explizit zusammengefasst und anhand der in den Materialbeständen gewonnenen Differenzierungen zu Funktionalität, A-Funktionalität und Situativität profiliert, mit denen die theologische Analyse das bearbeiten kann, was in der individuellen und kollektiven Praxis im Erleben oft in eins fällt. Daran anschließend wird je ausblickartig auf weiterführende theologische Diskurszusammenhänge – Ekklesiologie, Frömmigkeit und die gottesdienstliche Praxis – verwiesen, in die diese Ergebnisse eingebracht werden können.
1. Funktionalität und Ekklesiologie 1. Funktionalität und Ekklesiologie
Welche Konsequenzen hat ein auf Funktionalität ausgerichtetes Denken für die theologische Reflexion?, lautet die übergreifende Fragestellung der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die Funktionalität. Dabei schwang in der Fragestellung schon mit, dass die hier avisierte Zielperspektive theologischer Reflexion darin liegt, Funktionalitäten in den performances ernst zu nehmen, die christlichen Phänomenbestände, Praxen und Narrative jedoch nicht auf ihre Funktion hin zu reduzieren. Vielmehr können – wie für die Demut exemplarisch aufgezeigt wurde – Dimensionen christlicher Praxen und Narrative bestimmt werden, die sich je situativ anders als funktional erwiesen haben und erweisen können. Diese Dimensionsbestimmung kann jedoch nie anders als positionell und in Aufnahme spezifischer Traditionsbestände geschehen: Für die Demut wurden Schutzlosigkeit und Ernsthaftigkeit, Dankbarkeit und Grauen, Demütigung und engagierte Gelassenheit als Dimensionen aus einer existenzphilosophisch ausgerichteten, protestantisch liberal-theologischen Haltung in Aufnahme monastischer Traditionen bestimmt. Im Durchgang durch die beiden Materialbestände hat sich gezeigt, dass die grundlegende Frage zunächst lauten muss, für wen etwas eine Funktion hat.
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Narrativität und Performanz der Demut
Anhand der Relecture Ritschls konnte die Differenzierung zwischen Funktionen für eine kollektive Größe und für ein Individuum getroffen werden, insofern er im Versuch der Weiterführung der klassischen deutschen Philosophie sowohl die kollektive Größe der Gemeinde als auch das Individuum als Subjekte versteht, für die etwas eine Funktion hat. Im Sinne einer situativen Dogmatik ergibt sich daraus ein Interesse an konkreten Formen von „Gemeinde“ als einer auf A-Funktionalität bezogenen Größe: Die Gemeinde zeigt sich in verschiedenen momentanen situativen Verfasstheiten, die je unterschiedlich funktionalen Bezug auf A-Funktionales nehmen. 1 Die Differenzierung zwischen Funktionen für kollektive Größen und für Individuen ist weiterführend für die Analyse von christlichen Narrativen und Praxen, so basal sie zunächst auch erscheinen mag: Eine christliche Praxis wie das Beten des Vater-Unsers kann (und wird wahrscheinlich) für ein einzelnes Individuum eine grundlegend andere Funktion haben als für eine kollektive Größe. So kann das Vater-Unser z. B. für eine Gemeinschaft eine Vergewisserung ihrer Tradition sein; für ein Individuum kann es z. B. in existentieller Not ein Ausdruck letzter Hoffnung sein. Bestimmte Narrative werden aufgrund ihres semantischen und metaphorischen Gehaltes eine andere Funktion für eine kollektive Größe wie die Gemeinde haben als für ein Individuum (und sind möglicherweise eher für die Gemeinde rezipierbar als für Individuen): Das Reich Gottes hat bei Ritschl die Funktion der Identitätsstiftung der Gemeinde. Für ein Individuum ist der Bezug auf das Reich Gottes möglicherweise eher in der Vermittlung und dem Einstellen in diese Gemeinde gegeben. Die erste Präzisierung der Fragestellung ist dementsprechend darin zu sehen, wie die Bezugsgröße verstanden wird, für die etwas eine Funktion hat. Eine funktionale Perspektive bedingt für die theologische Reflexion somit ein positionelles und kontextuelles Arbeiten. Im Vorgehen Ritschls sowie in der Erschließung der Dimensionen der Demut wird deutlich, dass eine funktionale Betrachtungsweise auf inter- und transdisziplinäres Arbeiten angewiesen ist, insofern die Erschließung der Kontexte auf die Expertise der entsprechenden Referenzwissenschaften oder der praktischen 1
Die Differenzierung zwischen „Gemeinde“ als abstrakter Größe und ihren je situativen Gestalten ist keine präskriptive Lösung für kirchenpolitische Fragestellungen und praktische Implementierungen, jedoch eine Möglichkeit zur deskriptiven Diskursbeschreibung, um den Gemeindebegriff zwischen Ortsgemeinde und anderen Formen von Kirche zu verstehen (vgl. Uta Pohl-Patalong, Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten. Ein Zukunftsmodell, Göttingen 2004; Dies., Volkskirche weiterdenken. Zukunftsperspektiven der Kirche in einer religiös pluralen Gesellschaft, Stuttgart 2004; Kristian Fechtner, Späte Zeit der Volkskirche. Praktisch-theologische Erkundungen, Stuttgart 2010; Ders., Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten, Gütersloh 22011). Der Fokus der Fragestellungen wird i. W. durch die Ergebnisse der Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD gelenkt (vgl. Heinrich Bedford-Strohm u. a. [Hrsg.], Vernetzte Vielfalt. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015; darin besonders: Jan Hermelink, Die Ortsgemeinde in der Wahrnehmung der Kirchenmitglieder – Dimensionen und Determinanten, 59–67).
1. Funktionalität und Ekklesiologie
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Arbeit angewiesen ist. Daraus ergeben sich weitere Konsequenzen dafür, in welchem Kontext diese Bezugsgröße gesehen wird und welche Referenzwissenschaften hinzugezogen werden: Wenn das Gebet in seiner Funktion für die Gemeinde erfasst wird, wäre z. B. eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Soziologie sinnvoll. Wenn das Gebet hingegen in seiner Funktion für ein Individuum erfasst wird, wären die Dialogpartner:innen z. B. eher in der Psychologie zu suchen. Der inter- und transdisziplinäre Austausch kann nun in unterschiedlichen Hinsichten geschehen, wenn die Referenzwissenschaften die Expertise für die funktional zu erschließenden Phänomene liefern. Daraus ergibt sich jedoch die nächste Präzisierung der Fragestellung: Es ist weiterhin notwendig zu bestimmen, was eine Funktion hat. Das erfordert eine strukturelle Differenzierung, die in den beiden Materialbeständen folgendermaßen unternommen wurde: In der Relecture Ritschls wurde die Funktion von Narrativen in religiösen Kontexten profiliert; in der Untersuchung des Phänomenbestandes der Demut die Funktion von christlichen Praxen. Diese Differenzierungen können im Erleben jedoch nie trennscharf sein. Deshalb ist hier noch einmal ausdrücklich hervorzuheben: Es ist schon auf der Ebene der Methodenwahl notwendig zu unterscheiden, ob z. B. die Demut als ein Narrativ oder als eine christliche Praxis untersucht werden soll. Das Narrativ des Reiches Gottes wird als enacted narrative im Vorsehungsglauben zu einer Praxis der Gemeinde; die christliche Praxis der Demut kann selbst zu einem Narrativ werden. Eine funktionale Perspektive bedeutet keine Komplexitätsreduktion, sondern kann schon auf der Ebene der notwendigen Differenzierungsleistungen und methodischen Betrachtungen eine Komplexitätssteigerung sein. Dann können Narrative und Praxen im inter- und transdisziplinären Austausch als gemeinsamer Gegenstandsbereich verstanden werden, der bearbeitet wird, und der über die traditionellen Gegenstandsbereiche sowie Methoden der jeweiligen Fächer in der Betrachtung der Phänomenbestände weiterführend ist: Welche Funktion haben Narrative und Praxen für wen? Was ist das Interesse der jeweiligen Disziplin an der Frage nach diesen Funktionen? In der Erschließung der Demut zeigt sich, dass diese als dezidiert christliche Praxis nicht in all ihren Gehalten zu transferieren ist, jedoch über die Dimensionen neue Gesprächspartner:innen für den Demutsdiskurs in den Blick kommen können. Schon für Ritschl konnte gezeigt werden, dass mit dem hier skizzierten Denken in systematisch-theologischer Perspektive ekklesiologische Fragestellungen in den Fokus rücken, die über institutions- und organisationstheoretische Betrachtungen hinausgehen und ebenso nicht mit Problemstellungen kirchlicher Praxis identisch sind, auch wenn sie auf diese z. B. für Seelsorge und religiöse Verkündigung abzielen.2 Das schließt an diejenigen Diskurse an, die aktuell Formen von Vergemeinschaftung untersuchen und damit ein Desiderat Liberaler 2 Im ekklesiologischen Diskurs gibt es aktuell im Wesentlichen Lehrbücher zum Kirchenverständnis (vgl. Christian Albrecht [Hrsg.], Kirche, [Themen der Theologie 1] Tübingen
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Narrativität und Performanz der Demut
Theologie angehen:3 So fragen Robinson und Evan Kuehn in einer aktuellen Publikation nach den Formen von kirchlicher Vergemeinschaftung bei Schleiermacher und Troeltsch, in der Absicht, diese an den soziologischen Diskurs anschlussfähig zu machen. Die vorliegende Arbeit komplementiert das mit dem Verweis auf die ekklesiologischen Umstellungen, die Ritschl zwischen Schleiermacher und Troeltsch vornimmt, und die Teil der Bewegung von der Subjekttheorie hin zur Kultur- und Lebenswelt sind.4 Dieser Diskurs kann aus funktionaler Perspektive mit den Differenzierungen der vorliegenden Arbeit so präzisiert werden, dass Narrative und christliche Praxen in ihrem Zusammenspiel in den Blick kommen: Die Fragestellung der Ekklesiologie kann in systematisch-theologischer Perspektive durch die Frage ergänzt werden, wie in Praxen und Narrativen der funktionale Bezug auf A-Funktionales aussieht.5 Das fügt den bisherigen Überlegungen den Aspekt der Funktion von Narrativen und Praxen für die ekklesiologisch zu erschließenden kollektiven Größen hinzu, die zudem ohne das Narrativ der Krise der Kirche zu perpetuieren in den Blick genommen werden können.6 Der Untersuchungsgegenstand kann dahingehend erweitert werden, wie in gemeinschaftlichen, intersubjektiven sowie leiblich ko-präsenten Formen das Zusammenspiel von Kommunikation dieser 2011). Bei Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong besteht der Ansatz des Lehrbuches darin, unter der Chiffre Kirche drei funktional verschiedene Phänomene zu sehen, nämlich „Kirche als aktive Gruppe, Kirche als Volkskirche und Kirche als Unternehmen“ (Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong, Kirche, [Lehrbuch Praktische Theologie 4], Gütersloh 22018, 137), was im Schluss zu einem noch differenzierteren Bild mit sechs verschiedenen Aufgabenbereichen der Kirche wird, die je arbeitsteilig mit ihren jeweiligen Funktionen handeln, ohne dass diese Perspektiven isoliert voneinander zu betrachten seien (je direkt oder indirekt auf Thema, Subjekt und Welt bezogen, vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 435–437). 3 Vgl. Matthew R. Robions, Redeeming Relationship. 4 Vgl. Matthew R. Robinson/Evan Kuehn, Theology Compromised. Schleiermacher, Troeltsch, and the Possibility of a Sociological Theology, Lanham 2019. 5 Das kann diejenigen Ansätze ergänzen, in denen Kirche unter dem Paradigma von sichtbarer und unsichtbarer Kirche in den Blick kommt. Moxter schlägt in Aufnahme von Jüngel vor, von der Verborgenheit der Kirche zu sprechen und denkt dieses bildtheoretisch durch: „Die Kirche ist eine menschliche Gemeinschaft, für die es konstitutiv ist, um ihre eigene Unverfügbarkeit zu wissen und dieses Wissen in ihrem Symbolsystem auch zur Darstellung zu bringen. Von der Entfaltung einer Ekklesiologie wird man [...] erwarten dürfen, dass sie einen spezifischen Blick auf die Eigenart menschlicher Gemeinschaft erlaubt“ (vgl. Michael Moxter, Das Unsichtbare der Gemeinschaft und die Verborgenheit der Kirche, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Ferdinando G. Menga [Hrsg.], Grenzgänge der Gemeinschaft, [Dogmatik in der Moderne 17] Tübingen 2016, 127–148, hier: 148). 6 Die aktuelle Situation im 21. Jahrhundert und die sich aus dieser ergebenden notwendigen Transformationen des Christentums kann Lauster in ähnlicher Weise wie Ritschl für das 19. Jahrhundert als „Aufbruchsstimmung“ verstehen oder auch als notwendiges Prinzip der Reformation im Sinne der ecclesia semper reformanda, das durch den Verlust von Selbstverständlichkeiten angestoßen wird (Jörg Lauster, Der ewige Protest. Reformation als Prinzip, München 2017).
2. A-Funktionalität und Spiritualität
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Narrative und Aneignung in den christlichen Praxen geschieht und für andere repräsentativ wird.
2. A-Funktionalität und Frömmigkeit 2. A-Funktionalität und Spiritualität
Die eingangs formulierte Fragestellung für die gesamte Arbeit in Bezug auf die A-Funktionalität lautet: Wie kann der funktionale Bezug auf A-Funktionalität so verstanden werden, dass Gottesgedanke und christliche Praxen weder nichtfunktional werden noch auf eine Funktion hin reduziert werden? Die in den beiden Materialbeständen erarbeitete Differenzierung liegt darin, dass die Rede von der A-Funktionalität sowohl für den Gottesgedanken in Narrativen wie dem Reich Gottes als auch für die erfahrene A-Funktionalität der christlichen Praxen als Performanz selbst durchdacht werden kann. In der Relecture Ritschls konnte gezeigt werden, warum der Umschwung auf narrative Strukturen, die an der A-Funktionalität des Gottesgedankens partizipieren, für diese Fragestellung weiterführend ist: Die Funktionalität des Narrativs des Reiches Gottes ist bei Ritschl dann gegeben, wenn die A-Funktionalität des Gottesgedankens offen gehalten wird. Die A-Funktionalität des Gottesgedankens muss demnach nicht nur um ihrer selbst willen und aus definitorischen Gründen gewahrt bleiben, sondern ebenfalls aus funktionaler Perspektive um Reduzierungen auf eine einzige Funktion zu vermeiden: Der Gottesgedanke kann z. B. so auf die Absolutheit reduziert werden, dass eine relationale Bezugnahme in christlichen Praxen und theologischer Reflexion auf ihn unmöglich wird. Eine Theologie, die nur auf die Kategorie der A-Funktionalität fokussiert und funktionale Kategorien, um der Reduktion auf eine Verzweckung willen vermeiden möchte, kann – entgegen ihrer Intention – Verzweckungen gerade ermöglichen, wenn sie eine grundsätzliche Absolutheit der Narrative legitimiert. Für eine seelsorgerlich verantwortete Dogmatik unter funktionalen Kategorien ist die Reflexion auf den Umgang mit a-funktionalen Narrativen unablässlich: Die Inanspruchnahme der Kategorie der Funktionalität drückt ein hohes Bewusstsein für die Möglichkeit und das Risiko von solchen Reduzierungen aus. Das zeigt sich auch im zweiten Aspekt, in dem A-Funktionalität thematisch werden kann, nämlich in den christlichen Praxen. Die A-Funktionalität ist den christlichen Praxen selbst inhärent, in diesen jedoch mit funktionale Erwartungen konfrontiert: Im Beten muss offengehalten werden, dass das Gebet ganz anders wirkt als erwartet oder auch gar nicht wirkt.7 Hier zeigte sich der Gewinn der performanztheoretischen Differenzierungen: Die performance in 7
In diesem Sinne kann z. B. die Unterscheidung zwischen Beten als performance und Gebet als demjenigen Phänomen, das performance und Performanzerfahrung umschließt, profiliert werden, in Anlehnung an die Distinktion, die Meyer-Blanck unternimmt: „Es geht
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Narrativität und Performanz der Demut
christlichen Praxen garantiert keine Performanzerfahrung. Eine Performanzerfahrung geschieht jedoch in – möglicherweise äußerst subtilen – performances, so dass die Wechselwirkungen zwischen performance und Performanz in die theologische Reflexion einbezogen werden können: Das ist besonders in seelsorgerlichen Kontexten relevant, in denen mit performances Erwartungen verbunden werden, die in konkreten situativen Lebensumständen von hoher Dringlichkeit sein können. Die grundsätzliche Notwendigkeit, die A-Funktionalität des Gottesgedankens sowie des Glaubens selbst in den christlichen Narrativen und Praxen offenzuhalten, negiert dementsprechend nicht die Notwendigkeit, die mit Narrativen und Praxen verbundenen funktionalen Erwartungen ernst zu nehmen. Das ist eine Problemstellung, mit der Frömmigkeits- und Spiritualitätsdiskurse ergänzt werden können. Christliche Praxen können als funktionale Bezugnahme auf A-Funktionales verstanden werden, in denen dem Individuum situativ je anders eine a-funktionale Performanzerfahrung funktional wird: In einer funktionalen Betrachtung der christlichen Praxen ist die Reduktion auf deren Funktionalität über diese Bestimmung schon unterbunden.8 Die detaillierte Analyse des Verhältnisses von Funktionalität und A-Funktionalität kann dafür sensibilisieren, einseitige Reduzierungen auf die Funktion bewusst zu machen und dort zu vermeiden, wo das komplexe Verhältnis negiert wird und darüber problematische Strukturen der instrumentalisierenden Verzweckung in Gemeindepraxen eingeführt werden. Es kann eine normative Erwartung an das Funktionieren eines Glaubensvollzuges in einer bestimmten Situation geben oder an den Effekt, den bestimmte Gottesbilder haben (z. B. dass der Satz „Gott ist die Liebe“ unbedingt eine tröstende Funktion erfüllen soll). Zudem tariert sich zwischen den individuellen normativen Erwartungen an Glaubensvollzüge und Gottesbilder sowie den in einer Gemeinschaft implizit oder explizit gemachten Vorgaben situativ aus, was die Funktion dieser Funktionalitäten eigentlich ist. Die Funktion kann eine Handlung nachträglich oder vorrausschauend scheinbar legitimieren, wenn die Handlung in der Rückschau so funktioniert hat, wie in der Vorschau antizipiert wurde. Das kann besonders in als abgründig empfundenen Lebenssituationen zu Pathologisierungen führen, die Menschen in Passivitäten treiben oder schlussendlich an dem sich Nicht-Erfüllen dieser Erwartungen zerbrechen lassen, wenn dieses nicht reflektiert wird. Ebenso können Gottesbilder wie christliche Praxen in missbräuchlicher Absicht durch gemeindeleitende Autoritäten so verzweckt werden, dass sie manipulativ werden, indem sie auf eine Funktion reduziert werden, deren Nicht-Erfüllung als persönliches Versagen gedeutet wird. In solch einem Denken gilt z. B.: Das Gebet um Heilung wird solch eine Heilung, wenn [...] nicht nur um das Beten als religiösen Vorgang, sondern um das Gebet als einen religiösen und theologischen Gegenstand“ (Meyer-Blanck, Gebet, 2). 8 Für das Gebet führt Meyer-Blanck diese funktionale A-Funktionalität so aus: „Wer betet, der betet, weil er beten will“ (Meyer-Blanck, Gebet, 5).
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es denn nur richtig durchgeführt wird, hervorbringen, es wird – mit einem bestimmbaren outcome – funktionieren. Dass das Ausbleiben von Gotteserfahrungen, der Zweifel und das Bestehenbleiben von belastenden Situationen zur Glaubenspraxis gehören, muss demgegenüber konstitutiv mit in theologische Reflexion wie religiöse Verkündigung einbezogen werden. Das ehrliche Thematisieren des Ausbleibens von Performanzerfahrungen in christlichen Praxen, von Zweifel und Unglaube kann in diesem Sinne funktional verstanden werden: Eine Strategie für die Vermeidung von Reduzierungen auf eine Funktion kann z. B. das Aufrechterhalten von polyvalenten Narrativen in Bezug auf den Gottesgedanken sein. Das ist weiterführend für die Betrachtung christlicher spiritueller Praxen, die ebenfalls ein Desiderat aktueller theologischer Reflexion bleibt, wie anhand des Forschungsüberblicks exemplarisch für die Praxis der Demut gezeigt werden konnte und wie Meyer-Blanck programmatisch für die Notwendigkeit einer Monographie zur Praxis des Gebets begründet.9 Die evangelische Zurückhaltung mag sich auch damit erklären lassen, dass befürchtet wird, dass in diesen Formen „frommer“ oder spiritueller Praxen die theologische Reflexion suspendiert und in ein unerklärliches individuelles Erleben aufgehoben oder als Bedürfnisbefriedigung verzweckt wird.10 Die A-Funktionalität einer Performanzerfahrung nun einzig über den Verweis auf die A-Funktionalität des Gottesgedankens zu lösen, würde möglicherweise die mit einem Narrativ oder einer Praxis verbundenen Erwartungen nicht ernst nehmen: Wenn ich z. B. mit voller Ernsthaftigkeit um das Wohlergehen eines anderen Menschen bete und eine Gebetserhörung (als performante Erfahrung) ausbleibt, dann ist ein Verweis darauf, dass Gottes Wege unergründlich seien, der situativen Dringlichkeit meines Gebets nicht angemessen.11 9 „Eine zusammenfassende Monographie zum Gebet aus evangelischer Perspektive lag bislang nicht vor“ (Meyer-Blanck, Gebet, 2). Das ist umso eindrücklicher, insofern MeyerBlanck diagnostiziert: „Das Gebet ist für viele, gerade auch für die mit der Kirche weniger verbundenen Menschen, der Ernstfall religiöser Praxis“ (ebd.). 10 Das fasst Martin Riesebrodt so zusammen: „Offensichtlich sind Theologen und Theologien aufklärbar, aber aufgeklärte Theologien scheinen sich nicht so recht als Grundlage für Liturgien zu eigenen, die den religiösen Bedürfnissen und Erwartungen der Gläubigen gemäß sind“ (Martin Riesebrodt, Religion zwischen Aufgeklärtheit und Aufklärungsresistenz, in: Ulrich Barth u. a. [Hrsg.], Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, [TBT 165] Berlin/Boston 2013, 3–25, hier: 21). 1111 Das wird von Ritschl selbst als von ihm noch nicht zu lösende Problemstellung in anderer Terminologie und angelehnt an Paulus dargestellt, wenn er die Überlegungen zu Demut und Geduld einführt mit: „Trotzdem ist der Glaube an die göttliche Vorsehung mit einer Schwierigkeit behaftet, welche aus dem religiösen Begriff von Gott selbst hervorgeht, und darin ihren präcisen Ausdruck findet, daß die Gerichte und Wege Gottes unerforschlich sind (Röm. 11,33)“ (RuV 3III, 590). Eine ähnliche Überlegung findet sich für das Gebet bei Emanuel Hirsch: „Der Fromme hat für dies Geheimnis den Namen Gott“ (Emanuel Hirsch, Der Sinn des Gebets [1921], in: Ders., Dogmatische Einzelabhandlungen II. „Der Sinn des
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Das hat eine weitere Konsequenz für die theologische Reflexion der performanten Erfahrung in christlichen Praxen, für die auf die schon im Eingangsteil gemachte Beobachtung zurückgegriffen wird: „Die Demut ist das Geheimnis des religiösen Menschen vor sich selbst“ 12, ist ein poetisch-ästhetischer Satz, der umso mehr überrascht, weil er aus Ritschls sonst trocken-juristischer Sprache herausragt. Damit ist der Satzabschnitt Teil einer Reihe von Sätzen, in denen Ritschl das Sprachspiel wechselt. Diese „Spitzensätze“ begeben sich auf die situative Ebene und sprechen in bestimmte existentiell momentane situative Verfasstheiten – noch im Modus der Reflexion, durch den situativen Bezug aber schon über diesen hinausgehend.13 Sie tauchen bei Ritschl dort auf, wo die A-Funktionalität konstitutiver Teil der Theoriebildung wird. Die Rede vom Geheimnis dient dementsprechend nicht als Verweis auf die Unmöglichkeit der Reflexion. Sie ist vielmehr selbst schon Teil der Reflexion der durch die funktionale Bezugnahme auf A-Funktionales gesteigerten Komplexität: Das Geheimnis ist an die performante Erfahrung gebunden, die sich als funktional afunktional darstellt. Der Ritschl’sche Spitzensatz hat darüber hinaus selbst performative Qualitäten, indem er das darstellt, von dem er redet: „Demut ist Geheimnis“ – und der Satz nutzt „geheimnisvolle“, d. h. uneindeutige Sprache, um genau dieses zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinne verstanden negiert
Gebets“ und andere Beiträge zur Frömmigkeitstheorie [Gesammelte Werke 15/1], hrsg. v. Arnulf von Scheliha u. Justus Bernhard, Kamen 2013, 25). 12 Ritschl, UcR, §61, 84. 13 Solche Sätze können als „Spitzensätze“ bezeichnet werden, insofern sie aus dem üblichen Duktus herausragen und sofort ins Auge stechen. Sie sind von einer eigenartig poetischen Qualität, indem sie Bilder, Metaphern, Figurationen oder emotional aufgeladene Sprache benutzen, sodass das Sprachspiel der Wissenschaftssprache zumindest bis an seine Grenzen gebracht wird. Sie können in diesem Sinne auch Zitat sein, das mit den restlichen Konventionen des Textes bricht oder sie nutzen auf andere Art und Weise das Potential intertextueller Anspielungen aus. Dass es solche Spitzensätze gibt, die ein relevanter Teil theologischer Betrachtung sind, wurde in der Betrachtung von Bonhoeffer von Schmitz eingeführt: Anhand des Spitzensatzes Bonhoeffers „Dem Rad in die Speichen fallen“ kann Schmitz zeigen, dass der Gewinn solcher Spitzensätze darin liegt, dass sie – über diese Wirkung, die in der Diktion der vorliegenden Arbeit als performativ verstanden werden kann – situative und kontextuelle Gebundenheit transzendieren: „Der semantische Geltungswert solcher Spitzensätze lässt sich nicht historisch einschränken – eine Einsicht, die sich durch die Bonhoeffer-Rezeption in Lateinamerika, Südafrika [...], Japan, Südkorea oder in der ehemaligen DDR Schritt für Schritt bestätigt hat. Insofern erweisen Spitzensätze dieser Art ihre metakontextuelle Funktion: sie ermöglichen Rezeption auf Dauer“ (Schmitz, Rad, 142). Spitzensätze stehen jedoch immer in Gefahr in verfälschender Weise kolportiert zu werden, insofern sie einen „geradezu verführerischen Charakter“ (Schmitz, Rad, 142) haben.
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die Rede vom Geheimnis nicht die Notwendigkeit der Reflexion religiöser Erfahrungen, sondern forciert diese sogar noch.14 Spitzensätze werden da eingebracht, wo Sprache an ihre Grenzen gelangt und das Ringen um die Angemessenheit des Gegenstandes, der sich beständig entzieht, zum Ausdruck gebracht werden muss. Deswegen ist jede Vereindeutigung dieser Spitzensätze und jede Reduktion genaues Gegenteil dessen, was sie ausmachen.15 Daran kann ausblickartig die folgende Frage angeschlossen werden: Wie formuliert die theologische Reflexion selbst die funktionale Bezugnahme auf A-Funktionales? Das kann zunächst als eine Art Hermeneutik verstanden werden, mit der funktionale Bezüge auf A-Funktionales und die Erwartung an die Performanz in performances in theologischen Reflexionen aufgedeckt werden können: Insofern es an diesen Stellen nicht um abstrakte Strukturbestimmungen, sondern um die Reflexion konkreter, situativer Erfahrungen geht, bedarf es einer ebenso situativ sensiblen Sprache.16 Das bemerkt Ritschl sehr pointiert für die Reflexion auf Demut und Geduld in einem weiteren Spitzensatz: „Alles logische Urtheilen ist schneidend, wie es der Sprachgebrauch auch direct bezeichnet; das religiöse Urtheil über unsere Lebenserfahrung ist leise tastend, zart fühlend, schmiegsam.“17 Die theologische Reflexion erfordert – um der
14 Das „Geheimnis“ muss deswegen nicht zwingend mit der realen wie metaphorischen „Unsichtbarkeit“ Gottes konnotiert sein, unter die Jüngel seine Rede von „Gott als Geheimnis der Welt“ stellt (vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zu Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 2001, bes. 516–518). Die Rede vom „Geheimnis“ hat bei Jüngel apologetische Funktion in der Rechtfertigung gegenüber „Nichtchristen“, im oben skizzierten Sinne hätte sie hingegen eine hermeneutische Funktion für inner-religiöse Vollzüge in der Differenz von theologischer Reflexion und Glaubensvollzügen. 15 Vgl. dazu die Verkürzung des Ritschl’schen Spitzensatzes „Der vollständige christliche Begriff von Gott ist die Liebe“ auf „Gott ist Liebe“ als Kernaussage Ritschl’scher Theologie bei: Christopher Frey (Hrsg.), Repetitorium der Dogmatik. Für Studierende der Theologie, Waltrop 72000, 266. 16 Ritschl kann so interpretiert werden, dass er sich eine Form von tentativer Sprachbildung in der Reflexion vorstellt, die nicht vorgibt, die begriffliche Präzision wäre ihr vorgängig. Das schließt an Donata Schoellers Überlegungen zu den tentativen Sprechakten an, die durch Situativität und einen suchenden und tastenden Diskurs geprägt sind. Schoeller bezieht dezidiert die Dimension mit ein, dass dogmatische Theologie in diesem Sinne nie nur deskriptiv-analytisch, sondern immer auch schon präskriptiv-normativ ist (vgl. Donata Schoeller, Tentative Sprechakte. Zur erstaunlichen Entfaltbarkeit von Hintergründen beim Formulieren, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66 [2018], 183–201, 196). Nachdenklichkeit und Verzögerung sind bei Schoeller ein positives Merkmal des Diskurses, gerade aufgrund der Komplexität des Gegenstandes. Zögern und Nachdenklichkeit als eigentlich kulturschaffende Techniken gehen auf Hans Blumenberg zurück, vgl. Hans Blumenberg, Nachdenklichkeit, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1980, 57–61, hier: 57. 17 RuV 3III, 592.
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Narrativität und Performanz der Demut
existentiellen Ernsthaftigkeit willen – eine situativ angemessene Sprache: 18 Wo in der ersten Person geschrieben wird, wo Spitzensätze und poetische Sprache verwendet werden, geht es möglicherweise, implizit und den Autor:innen nicht vollständig bewusst, um die folgende Problemkonstellation: Wie kann das Unsagbare einer performanten Erfahrung, die situativ a-funktional funktional geworden ist, in die theologische Reflexion eingetragen werden? Die Suchbewegung kann dann schon in der theologischen Reflexion selbst auf die situative Gebundenheit des theologischen Denkens wie der theologischen Formulierung explizit verweisen und muss nicht implizit, z. B. über Spitzensätze, gehoben werden: Denn bei K. Barth und Bonhoeffer zeigt sich, dass eine situativ angemessene Rede eben nicht notwendigerweise suchend und vorsichtig sein muss, sondern z. B. in Reaktion auf die Kriegserfahrung höchst pathetisch und eindeutig sein kann. Der Wechsel auf die Ebene ontologisch vergewissernder, indikativisch-empathischer Sprachspiele in theologischen Entwürfen kann in diesem Sinne und provokativ formuliert dieselbe Funktion erfüllen, wie der Wechsel in die erste Person in der vorliegenden Arbeit: Es wird angezeigt, dass es jetzt in voller Ernsthaftigkeit um etwas geht, weil man an die Grenzen des Sagbaren gekommen ist. Dieser Wechsel muss aber selbst nüchtern reflektiert werden und nicht zu einem nicht mehr zu reflektierenden Geheimnis stilisiert werden. Insofern ergibt sich ein Primat der nüchtern reflektierenden Rede, da es sonst zu Missverständlichkeiten kommen kann und eine im beschwörenden oder möglicherweise bekennenden Sinn gemeinte theologische Aussage als ontologische Definition (miss)verstanden werden könnte. Auch deswegen ist die Perspektivierung durch Performativitäts- und Narrativitätstheorien sinnvoll, um diesen Zusammenhang für die religiöse Rede wie die Theologie zu erschließen und eine Kriterienbildung zu liefern, die situativ angemessene theologische Reflexion ermöglicht.
3. Situativität und gottesdienstliche Praxis 3. Situativität und gottesdienstliche Praxis
In der Einleitung ergab sich als Fragestellung für die Arbeit: Welche Funktionen werden in welchen momentanen situativen Verfasstheiten von kollektiven Größen und einzelnen Individuen in der Bezugnahme auf A-Funktionales erwartet, erfahren oder auch nicht erfahren? Auch an dieser Stelle ist die für die Funktionalität entfaltete Differenzierung zwischen individuellen und kol-
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In einer Diskussion des Ritschl’schen Spitzensatzes durch Claus-Dieter Osthövener, vorgetragen auf der Tagung Liberale Theologie Heute/Liberal Theology today, München, 18–21. Juli 2018, ergab sich die Formulierung, dass die Theologie deswegen das Suchende und Tastende ihres theologischen Erkenntnisweges einbeziehen solle, gerade da, wo sie doctrina sana sein will.
3. Situativität und gottesdienstliche Praxis
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lektiven Situativitäten weiterführend, die zudem durch die in der Durcharbeitung der Demut profilierte Differenzierung zwischen momentaner situativer Verfasstheit und performance ergänzt wird. Die Differenzierung zwischen momentanen situativen Verfasstheiten und performances ist dementsprechend besonders für diejenigen theologischen Reflexionen relevant, die an medio-passiven Phänomenen interessiert sind. In der Analyse solcher Phänomene sind Situativität und performance umso sorgfältiger zu unterscheiden, wo sie im Erleben in eins fallen, um sie nicht einseitig auf rein passive Verfasstheiten oder aktive performances zu reduzieren. Für die Demut als christlicher Praxis zeigt sich das schon in der Begriffsgeschichte von IJĮʌİȚȞóȢ und humilitas: Der Zustand der Demut als Niedrigkeit ist nicht identisch mit der aktiven Haltung der Demut z. B. als Selbstzurücknahme. In der christlichen Tradition gibt es einige solcher Phänomene wie die Demut, die sowohl als momentane situative Verfasstheit als auch als performance verstanden werden können: In einer aktiven Handlung begebe ich mich in Passivität, z. B. in einem Moment des Lassens im Beten, im Danken oder in Formen der Klage. Christliche Praxen können in diesem Sinne als medio-passiv verstanden werden und über die Differenzierung von momentaner situativer Verfasstheit und performance präziser untersucht werden: Welcher Aspekt des Gebetes ist z. B. eher eine medio-passive Erfahrung und welcher eher eine performance? Die abschließende Frage in diesen Betrachtungen ist demnach, wie in der christlichen Praxis selbst situative Verfasstheit und performance (medio-passiv) zusammen gehen und darüber für andere sichtbar werden.19 Mit dem Verweis auf die momentane situative Verfasstheit ist zudem impliziert, dass christliche Praxen in der Fülle der Lebenserfahrung relevant werden und nicht religiösen Spezialmomenten vorbehalten bleiben. Das ist eng an die Bestimmung der A-Funktionalität der christlichen Praxen geknüpft: Keine performance, aber auch keine momentane situative Verfasstheit kann eine Performanzerfahrung garantieren oder verhindern. Eine performante Erfahrung wird nicht in jedem Moment gemacht, aber kein zeitlicher Moment, keine kontextuelle Situation und keine innere und äußere Verfasstheit sind davon ausgeschlossen, dass in ihnen potentiell eine Performanzerfahrung gemacht werden könnte. Denn durch die Performanzerfahrung kann eine situative Verfasstheit als diese situative Verfasstheit überhaupt erst bewusst werden: Ich führe eine performance des Betens durch und bemerke über die performante Erfahrung des Trostes, wie niedergeschlagen ich vorher war. Unter der Einbeziehung der 1919
Carl Heinz Ratschow nimmt genau diese Sichtbarkeit als Repräsentanzhandeln positiv auf und weist darauf hin, dass die Repräsentierenden Zeugnis auch für diejenigen geben, die sich auf die Gegenwart Gottes nicht beziehen können (vgl. Carl Heinz Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes. Gedanken zur Lehrgestaltung des ProvidentiaGlaubens in der evangelischen Dogmatik, in: Ders., Von den Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie, Berlin/New York 1986, 117–139, bes. 125–135).
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Narrativität und Performanz der Demut
momentanen situativen Verfasstheit können ebenso die funktionalen Erwartungen an christliche Praxen und Narrative noch einmal präziser benannt werden: Die Erwartung kann als der Abstand zwischen zwei momentanen situativen Verfasstheiten interpretiert werden. Dieser Abstand wird in der Vorschau antizipiert und in der Rückschau reflektiert und kann von ganz unterschiedlicher Qualität und Intensität sein: Es kann eine Transzendierung der momentanen situativen Verfasstheit erwartet werden (alles soll anders werden) oder eine – möglicherweise in Dankbarkeit vorgebrachte Bitte – um gerade den Erhalt der Situation, so wie sie ist. Die Erwartung an die performance wird wiederum die Bewertung grundieren, mit der eine Performanzerfahrung beurteilt wird: Wenn ich erwarte, dass ich nach dem Gebet genau die gleiche bin wie vorher, und in einer Performanzerfahrung in meiner Identität produktiv irritiert werde, ist das eigentlich eine enttäuschte Erwartung. Dementsprechend bedeutet eine tiefe Vertrautheit mit christlichen Praxen, die mit Erwartungen verknüpft ist, dass diese Erwartungen potentiell enttäuscht werden können. Das ist umgekehrt eine Betrachtungsweise, die einen neuen Blick auf solche Personen ermöglicht, die mit religiösen performances und der in ihnen angelegten Hoffnung auf Performanzerfahrungen nicht vertraut sind und sich deswegen bis zu einem gewissen Grad unbeschwerter in diese performances begeben können: So kann man sich z. B. auf die performance des Betens einlassen, ohne sofort in existentieller Betroffenheit eine Gebetserhörung zu erwarten. In der christlichen Tradition ist nun der Gottesdienst der Ort, an dem exemplarisch individuelle und kollektive christliche Praxen und Narrativen in vielfältigen Bezugnahmen zusammenkommen. Die individuellen christlichen Praxen sind im gottesdienstlichen Geschehen in komplexe Interaktionsprozesse kopräsenter Leiblichkeit eingebunden: Die eigene individuelle situative Verfasstheit findet sich im Kontext kollektiver situativer Verfasstheiten und deren Bezugnahme auf die aus der Tradition stammenden Narrative vor.20 In diesem Sinne kann der Gottesdienst als der Ort verstanden werden, an dem eine situative Dogmatik sich in der Dogmatik als Praxis erweist.21 Das kann hier nur sehr knapp ausblickartig angerissen werden, da dieses situative Verständnis die Betrachtung konkreter gottesdienstlicher Gemeinschaften und Praxen erfordert: 20
Diese können auch distanzierte kollektive Verfasstheiten sein, die sich mit Schütz/Luckmann als Zeitgenossenschaften verstehen lassen, in denen z. B. bestimmte Narrative prävalent sind, die die eigene Erfahrung prägen (vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen, 169). 21 Das hier Vorgeschlagene ergänzt, was Meyer-Blanck aus praktisch-theologischer Perspektive für die Liturgik fordert: „Künftig wird man [in der empirischen Erforschung] aber auch Interaktions- und Interventionsforschung vornehmen können. Ich nenne das einmal ‚Performanzforschung‘: Welche Gottesdienste mit welchen Zielen haben welche Wirkungen auf konkrete Besucher?“ (Michael Meyer-Blanck, Wohin geht die Liturgiewissenschaft? Festvortrag zum 25-jährigen Jubiläum des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD [19.03.2019], in: Texte aus der VELKD 183 [2019], 7–13, hier: 12).
3. Situativität und gottesdienstliche Praxis
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Der Gottesdienst ist der Resonanzraum, in dem dogmatisch aufgeladene Narrative und in Traditionszusammenhänge eingebettete christliche Praxen in vielfältigen Bezugnahmen auf momentane situative Verfasstheiten treffen.22 Mit Richter kann der Gottesdienst als ein exemplarischer Ort verstanden werden, in dem situative Dogmatik „in der Orientierung an divergenter menschlicher Lebenswirklichkeit den Resonanzraum für die Gottesbegegnung“23 mitgestaltet. Die Differenzierungen der vorliegenden Arbeit können zur Analyse gottesdienstlichen Geschehens beitragen: Das wäre zunächst die basale Unterscheidung zwischen den individuellen momentanen situativen Verfasstheiten, in denen sich die einzelnen Gottesdienstbesucher:innen befinden, und der kollektiven momentanen situativen Verfasstheit der Gottesdienstgemeinschaft. Die individuelle Verfasstheit und die kollektive Verfasstheit können sich in vielfältigen Bezugnahmen zueinander verhalten: Sie können sich z. B. ergänzen, verstärken oder diametral entgegenstehen. Für die Betrachtung des gottesdienstlichen Geschehens kommt es deswegen darauf an, auch implizite kollektive situative Verfasstheiten für eine bestimmte gottesdienstliche Gruppe in den Blick zu nehmen. Denn die kollektiven wie individuellen momentanen Verfasstheiten tragen je unterschiedliche Erwartungen an das gottesdienstliche Geschehen heran: Idealiter kann als verbindendes Element die funktionale Bezugnahme auf A-Funktionales in Narrativen und Praxen verstanden werden, die sich situativ je anders darstellen können. Gottesdienstliches Geschehen in diesem weiten Sinne ist ein Untersuchungsbereich, in dem situative Dogmatik exemplarisch entfaltet werden kann: Das kann jedoch nur in der inter- und transdisziplinären Bearbeitung konkreter gottesdienstlicher Vollzüge geschehen, in denen auf Narrative und christliche Praxen Bezug genommen wird.
22
Der Raum verweist auf all diejenigen Theorien, die im Zuge des „spatial turns“ die Räume religiöser Erfahrung untersuchen, vgl. dazu in dezidiert dogmatischer Perspektive: Kathrin Schindehütte, Der Kirchenraum als Topos der Dogmatik, (DoMo 19) Tübingen 2017; sowie besonders den Sammelband von Thomas Erne/Peter Schüz (Hrsg.), Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion, (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 63) Göttingen 2010; Elisabeth Jooß, Raum. Eine theologische Interpretation, (BEvTh 122) Gütersloh 2005. 23 Richter, Gottesdienst, 97.
Literaturverzeichnis Die Abkürzungen folgen dem IATG (Schwertner, Siegfried M.: IATG3 Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/New York 32013). Das Verzeichnis enthält auch Internetquellen, die in der Arbeit Verwendung fanden.
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Sachregister
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Sachregister
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Sachregister
Abgründigkeit 41, 51, 85, 167, 192, 199, 214, 223, 283, 295 Absolute, das 17, 57 Adoption Siehe Gotteskindschaft A-Funktionalität 1–3, 11–17, 21, 28, 66, 95f., 99, 133, 149–159, 164–166, 215, 217–219, 225, 228, 238, 265, 303, 304, 315–320 – Geheimnis 1, 230, 318 – Unverfügbarkeit 12–15, 98 agency 249, 299 Aktivität 230, 287, 288, 290, 295, 297, 299, 306 Allmacht Siehe Gottes Macht Altes Testament Siehe biblische Narrationen Aneignung 76, 218 Angesehen-Werden 257, 270–272, 278 Anthropologie 104, 159, 188, 192f., 221 Apostolikumsstreit 33 Atmosphäre 264 Auferstehung Siehe Christologie: Leben und Sterben Jesu Christi Aufführung 88 Baur-Schule 31, 57f., 60, 116, 117, 118, 180 Bekehrungserlebnisse 261f. Beobachtung 96, 256f. Beruf 216, Siehe Christologie: Beruf Christi Bescheidenheit 231 biblische Narrationen 64, 131, 134–142, 149, 157, 170, 173f., 176, 181, 185, 218, 297 Biblizismus Siehe biblische Narrationen Blicken 255–257, 270–272, 279 Buße 267
Christentum 31, 41, 118, 237f., 282, 284f., 288, 291, 295, 296 Christologie 50, 104, 158, 168, 173–192, 217f., 236, 292, 295, 303 – Ämterlehre 178f. – Beruf Christi 175–178 – Christus-Hymnus 240 – Leben und Sterben Jesu Christi 173f., 178, 181, 185–188, 194, 219 – Sohnschaft 186-191 – Verkündigung Jesu 136f., 141 – Zwei-Naturen-Lehre 177 Dankbarkeit 265, 271f., 281–283 Demut 2, 22, 112, 210, 224–310 – als Narrativ 253, 308 – blinde 230 – des Herzens 236, 255 – Dimensionen der 251, 301, 311 – intellektuelle 244, 247, 293 – quellensprachlich 239f. – sich demütigen 276 – Stufen der 253f. Demütigung 234, 253, 276, 279f., 284, 291, 300 Dienen 236–238 Dogmatik 60, 78, 110, 112, 122, 216, 219, 221 Dynamik/Dynamisierung 6, 8, 17, 26f., 33, 37, 62, 71, 100, 142, 144, 154, 158, 193 Dysfunktionalität 13f., 70 Einheitsprinzip 108, 118 Ekklesiologie 22, 29, 62, 99, 103, 123, 124–131, 223, 232f., 273, 311–314 Ekstase 262f. Ellipse 54
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Sachregister
Emotionstheorie 248f., 259, 264 engagierte Gelassenheit 284, 292, 300 Erbsünde Siehe Sünde Ereignis 83–87 Erfolg Siehe Gelingen Erkenntnistheorie 153 Erlanger Schule 29–31, 57, 164 Ernsthaftigkeit 250, 261, 262, 279, 317, 320 Erschütterung 41, 51, 84, 267 Erwartung 72, 92, 96, 223, 227, 234, 250, 257, 261, 304f., 316, 319, 321 Erweckungsbewegung 261f. Erzähltheorie 66 Erzählungen 66f., 69–71, 74f., 137, 142, 159, 170, 173, 236, 285 Erziehungsstrafen 171f. Ethik 6, 50, 52, 73, 116, 133, 195, 276, 286 Exegese 64, 139–141, 240 Existenzphilosophie 48, 108, 214, 273, 292 – Existenzmitteilung 274, 293 exposure Siehe Beobachtung facultates 227f. Familienmetaphorik 171f., 188, 192, 209 Fragmentarität 74f., 109, 219, 222 Freiheit 195f, 201 Frömmigkeit 22, 111, 223, 315–317 Funktionalität 1–11, 13f. 16, 18, 21, 26, 27, 64, 67, 70, 95, 109, 125, 131, 134, 141, 154, 157f., 164f., 172, 176, 215, 220, 301, 311 – Funktion 1, 4–6, 10, 12, 15, 16, 18, 92, 95, 156, 216, 311, 313 – erkennende und organisierende 5f. – religiöse 226–228, 234 – funktionale Differenzierungen 9f. – Funktionalismus 4 – funktionieren 4, 8, 223 Funktionsbegriff Siehe Funktionalität Gebet 12, 14, 20, 92, 94, 112, 209, 210, 213, 225, 232, 258, 283, 316f., 321f. Geduld 112, 210, 225–227 Gefühle 259, 264 Geist 60, 117, 194
– Geistmetaphysik 56 Gelingen 16, 81, 198, 206, 208, 210, 211, 214, 221, 226, 231f., 256, 308, 316 Gemeinde 34, 100, 106–134, 136, 138, 139, 142, 153, 155, 157, 159, 162, 172f., 193, 204, 215, 219, 311 – als Narrativ 215 – als Subjekt 11, 126f., 135, 220 – in zeitgeschichtlicher Situativität 125, 128, 130, 136, 142–145, 167, 169, 181, 195, 215, 220 – Standpunkt der 106, 108f., 124 Geschichtsphilosophie 36, 57–60, 107, 117 Gewissen 104, 146, 193f., 196, 198 – gesetzgebendes 197f. – rügendes 197f. Gewissheit 207–210 Glauben 122, 127, 210, 222, 236 – ~sgewissheit 49 – ~spraxen 99, 232 – ~svollzug 59, 96, 99, 159, 229, 232, 257, 265, 272 Gnade 189, 268–270, 281f. Gott 16, 23, 78, 158, 159 – ~es Macht 295 – ~esbeweis 55, 162 – ~esbewusstsein 195 – ~eserkenntnis 162, 247 – ~esgedanke 1f., 12, 16, 28, 40, 57, 133, 150–159, 164, 216f., 229, 289, 295, 315 – ~eskindschaft 188, 192, 209 – ~eslehre 103, 159, 161, 165 – ~essohnschaft Siehe Christologie: Sohnschaft – ~esvergiftung 286 – Absolutheit ~es 29, 103, 151, 164– 166, 217, 315 – als Liebe 161–164, 170f., 254 – Nähe ~es 182–185 – Personalität ~es 163 – Vatername ~es 170–173, 188, 209 – Zorn ~es 103, 160, 167f., 182, 217 Gottesdienst 22, 124–126, 204, 216, 221, 320–323 grands récits Siehe Narrativ: MetaGrauen 282
Sachregister Haltung 244, 246, 248f., 252, 255, 256, 258–260 Handeln 6, 38, 51, 61, 72f., 78, 97, 110, 116, 126, 129, 132, 138, 143, 145, 160–163, 176, 178, 190f., 197, 199f.0, 202, 207, 208, 218, 221, 225, 233, 237f., 249, 275, 277, 287, 290, 296 Heilsgeschichte 181 Historismus 35, 54, 60, 107, 118, 125f., 133, 173 Hochmut 230, 243, 261 Hoffnung 205, 211 humilitas 236, 239, 242–246, 250–252, 255, 258, 267–269, 284, 287, 302, 307 humilitatio 267, 270f. Idealismus Siehe Klassische Deutsche Philosophie Identität 5, 6, 72– 75, 126, 128, 131, 134–136, 138f., 141f., 156, 173, 199f., 216, 219, 237 illokutionär Siehe Sprechakt inneres Erleben 22, 34, 236, 252, 255, 293 Inszenierung 87–90, 97, 263, 289 intellectual humility Siehe Demut: intellektuelle Intensität 87, 93f., 197 Interdisziplinarität 3, 12, 148, 220, 250, 312 Kanonbildung 138, 140, 217 Kapporet Siehe Opfer Katholizismus 125, 190, 199, 244 Kenosis 240f. Kirche Siehe Ekklesiologie Kirchengeschichte 243 Klassische Deutsche Philosophie 37, 54, 55, 60f., 113, 274 Kohärenz 70f., 73f., 142, 173, 198, 199f. Kommunikationstheorie 8, 10 Komplexitätsreduktion 2, 10, 22, 70, 99 konstativ Siehe Sprechakt Kontext 17, 19f. , 42, 52, 82, 90, 96, 98, 176, 193, 268 Ko-Präsenz 77, 88, 263, 322 Körperlichkeit 88, 252f., 261
355
Kreuz 74, 181, 184–186, 192, 209, 219, 296f., 303 Krieg 42, 145 Kulturprotestantismus 142 Kulturtheorie 6 –8 Kulturwissenschaft 7, 12, 63, 67, 74, 87, 148, 154, 221 Lassen 299f. Leben – ~serfahrung 2, 23, 95, 205, 212 – ~serfahrung, Fülle der 19, 144, 158, 174f., 180, 187, 191f., 194, 198f., 207, 210, 214, 219, 222, 225, 227, 265, 298, 321 – ~serzählung 72–74, 173, 175f., 178, 185, 294 – ~svernichtung 167, 169, 182f., 186 – ~swelt 19, 142, 148 – ~swirklichkeit 18, 20, 82 Leiblichkeit 83, 88, 95, 250, 255, 257f., 260, 263, 265, 322 Leiden 18, 130, 180, 186f., 190f., 209, 212, 226, 233f., 284, 289, 295, 297f. Liberale Theologie 1, 21, 23, 30f., 33, 39, 43, 148, 334 Literaturwissenschaft 63 lokutionär Siehe Sprechakt Luthertum 28, 32 Macht 240f., 263, 286, 292 Magnificat 266, 268, 271 Manifest der 93 43, 147 Materialdogmatik 1f., 23, 30, 31, 41, 101, 156f., 214, 218, 220 Medio-Passivität 284, 292, 299, 306f., 321 Metapher 70 Metaphysik 34, 48, 55f., 150, 151–156, 217, 254 Metaphysikkritik Siehe Metaphysik Mönchstum Siehe Praxen: monastische Moral 72, 264, 275, 281f., 285f., 288f., 291 Mystik 154, 243 Mythos 70 Narrativ 21, 63–76, 98, 132, 134f., 138f., 141, 143, 145, 149, 155f. , 203, 212, 218, 220, 262, 271, 288, 312f.
356 – enacted narrative 72f., 131f., 133, 138, 142–144, 158, 161, 172, 174, 176, 180, 185, 189, 192, 208, 210 – Meta-~ 69, 71, 218 – Mini-~ 68 – Narration 139, 141, 149 Narrative Theologie 65f. Narratologie 66 Nationalstaat 144f., 147, 149 Neukantianismus 55 Nicht-Funktionalität 13, 16, 166 Niedrigkeit 233, 239f., 243, 259, 268f., 287 Normativität 68, 73, 75, 89, 97, 213, 221, 223, 263, 289, 316 Offenbarung 41, 45, 47–49, 58 Ohnmacht 292, 295, 297, 299 Ontologie 10, 19, 29 Operationalisierung 12 Opfer 179–184 Passivität 227, 230, 271, 281, 287, 289f., 293, 295–297, 299, 306, 316 performance 77–79, 87–90, 92, 95f., 212, 225, 250–258, 260–262, 264, 272, 279, 288, 289, 301f., 316 Performanz 76–99, 219, 225, 250, 262, 263 – ~erfahrung 86, 88, 90, 92–96, 98f., 184, 185, 192, 197f., 210f., 213, 225, 230f., 250f., 256, 264f., 267f., 270– 272, 280, 283, 293, 296, 300f., 303– 308, 315–317, 321f. – performant 92f., 95, 98 Performativität 77, 79–82, 88, 90f. perlokutionär Siehe Sprechakt Perspektive 272, 279 Philosophie 153 Pietismus 53, 110, 113, 119, 168, 199, 216, 231 Polyvalenz 23, 217 Postmoderne 69, 71, 215, 218 Präsenz 83–87 Praxen – christliche 1f., 12, 14, 16, 20f., 79, 249f., 281f., 302, 305, 309, 313, 315 – kulturelle 8
Sachregister – monastische 252–257, 266, 268 – therapeutische Interventionen 12f. Prolegomena 156 Psychologie 12f., 56, 148, 313 Räumlichkeit 20, 137f., 142 Rechtfertigung 129, 189f., 206 Rechtsstaat 143, 147 Reformationstheologie 53, 120f., 191, 266–272 Regula Benedicti 252–255 Reich Gottes 51, 60, 100, 111, 114f., 123, 125, 131–256, 158f., 161, 172, 174, 177, 179, 190, 196, 198f., 202, 211, 215f., 225, 309, 312 – Herrschaft 136–138, 144, 146, 147f., 172, 179f., 196 – in zeitgeschichtlicher Situativität 143, 147–149 Relationalität 8, 166, 248f. Religionsgeschichte 35, 37, 115 Religionsphilosophie 1, 37f., 53, 55, 61, 117, 119, 274 Repräsentanz 233, 237, 255f. Resonanz 14–16 Resonanzraum 16, 75, 98, 158, 217, 220, 253, 263f., 322 Responsivität 84 Ritschlschule 32–34, 38, 43 Rückschau 25, 72, 75, 92– 95, 99, 206, 208, 210f., 251, 265, 270– 272, 280– 283, 305, 307, 316, 321 Satisfaktion Siehe Opfer Scholastik 243 Schriftprinzip 134f. Schuld 201 Schutzlosigkeit 252, 256f. Schwäche 287–290 Selbstbildung 73 Selbsterkenntnis 249, 252, 255 Selbstlosigkeit 239 Selbstverleugnung 236, 275 Selbstverstehen 73 Setting 89 Sichtbarkeit 256, 263 Sinndeutung 21, 77, 83 Sinnstiftung 68, 70, 258 Sittlichkeit 50, 197, 233
Sachregister Situative Dogmatik 21–23, 53, 322f. Situativität 2f., 17–23, 27, 39, 85, 100, 125, 142, 145, 158, 181, 203, 212, 219, 221, 288, 293, 297, 300, 306, 320 – momentane situative Verfasstheit 3, 17, 20f., 42, 85, 149, 192, 289 – Situation 17–21, 51, 86 – Grenz~ 17, 18, 19, 76, 86, 187 – Grund~ 18 – zeitgeschichtliche 53 Sklavenmoral 286f. Sozialethik 51f. Soziologie 8, 12, 15, 18, 148, 312 Sprache 319 – eindringliche 42 – Erste Person 93, 319 – indikativisch 253 – indikativisch-empathisch 320 – ironisch 275 – poetisch 1, 111, 318 Sprachphilosophie 63, 82, 90 Sprechakt 80–83, 91f., 94 Stimmungslagen 261f. Stolz 248f. Störung Siehe Dysfunktionalität Strafe 203 Streben 207, 210 Subjekt 6, 49f., 55, 59, 115, 117, 119, 249, 259, 275, 283 Sünde 201, 205 – ~nvergebung 189–191, 201, 205f. – Reich der ~ 204f. Symbolisierung 8 Systemtheorie 9f. Taizé 257 Teleologie 133, 137f., 155, 173, 194 Theaterwissenschaft 87f., 90, 263 Theologie 60 – feministische 241 – im 19. Jahrhundert 26, 28, 58, 102 Transzendenz 19
357
– ~en 19 – ~erfahrung 34 Tugend 233, 237, 242f., 246, 248, 260 Tugendethik 72, 242, 248f., 259 Übel 160, 203 Übung 138, 205, 213, 246 Unruhe 41, 43, 102 Unterordnung 230 Verantwortung 205 Verkündigung 42, 62, 75, 126, 130f., 140, 158, 168, 172, 222, 313 Versöhnung 129, 189, 191, 206f., 210– 212 Vertrauen 18, 213 Verzweckung 189, 315f. visibility Siehe Sichtbarkeit Vollkommenheit 104, 193f., 198f., 210f., 222, 226–228 Vorschau 94f., 99, 240, 251, 265, 268, 280, 305, 307, 316, 321 Vorsehung 172f., 205, 211 – ~sglaube 112f., 207, 210, 212f., 232 Werte 202, 248, 286, 288 – Umwertung der 286f., 289 Werturteil 197f., 202f. Widerfahrnis 50, 83, 84, 87, 203 Wille 162, 163, 164, 195, 196, 228 Wirkung 8, 19, 21, 77, 91, 110, 119, 125f., 128, 136, 142, 152, 164, 166, 173, 176–178, 184, 189, 215 – Trost 14, 75, 130, 160, 283 Wunderfrage 118, 119 Zartgefühl 198, 227 Zeitlichkeit 19, 137f., 142 Zweck 10, 12f., 90, 126, 132, 145, 152, 162f., 237 IJĮʌİȚȞ-Derivate 239, 240, 242, 269
Personenregister
Abbott, H. Porter 64 Ächtler, Normann 68 Arendt, Hannah 223 Aristoteles 242 Armbruster, Ann-Kathrin 22 Arndt, Johann 112 Augustin 242 Austin, John L. 80 Axt-Piscalar, Christine 61, 202 Bahr, Petra 246 Bangert, Michael 243 Barth, Karl 39, 46–49, 52, 55, 58, 99, 146, 169, 247 Barth, Roderich 247, 259, 260 Barth, Ulrich 10, 121 Barton, John 64 Battersby, James 71, 74 Baumann, Notger 242 Becker, Eve-Marie 240 Bender, Wilhelm 33 Bernhard von Clairvaux 243, 254f. Bethge, Eberhard 298 Birkner, Hans Joachim 30 Blumenberg, Hans 70 Bonhoeffer, Dietrich 247, 292–299 Boomgarden, Jürgen 292 Bremer, Johannes 239 Burger, Christoph 268, 270 Butler, Judith 82, 127, 263 Cassirer, Ernst 7f. Chalamet, Christophe 43, 45 Chapman, Mark D. 53, 128, 171 Christiane Tietz 292f. Coakley, Sarah 241 Coccejus, Johannes 111f. Cohen, Hermann 4, 34
Dalferth, Ingolf U. 65, 258 Derrida, Jacques 87 Deuser, Hermann 275 Dierken, Jörg 39 Dressler, Bernhard 77 Duttlinger, Carolin 97 Ecke, Gustav 129 Eckert, Siegfried 246 Emmet, Dorothy M. 4 Ernst, Stephan 243 Esfeld, Michael 4 Fabricius, Cajus 101, 150 Feldmeier, Reinhard 240 Ferreira, M. Jamie 276f., 279 Fischer, Johannes 86 Fischer-Lichte, Erika 87f., 263 Frank, Franz Hermann Reinhold 29, 57, 164–166 Frankl, Viktor E. 20 Frère Timothée 92, 257 Früchtl, Josef 85 Geiser, Franziska 12 Geisler, Ralf 55f. Geisler, Ralph 162 Genette, Gérard 66 Gottschick, Johannes 32 Greenberg, Jeanine 248 Griffith, James L. 285 Gripentrog, Stephanie 215 Grøn, Arne 278f. Grove, Peter 6 Grundmann, Walter 239 Gumbrecht, Hans Ulrich 83 Guttenberger Ortwein, Gudrun 240 Halbig, Christoph 248f.
Personenregister
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Hamilton, Nadine 297 Hamm, Berndt 266 Hampson, Daphne 241 Han-Pile, Béatrice 299 Härle, Wilfried 247 Hauschildt, Eberhard 313 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 116, 118f. Henrich, Dieter 54 Hermann, Adrian 215 Herms, Eilert 160 Herrmann, Wilhelm 26, 34, 51, 151, 236, 237 Hirsch, Emanuel 129, 322 Hofmann, Frank 53, 121 Höhn, Hans-Joachim 16 Hök, Gösta 44, 54
Leonhardt, Rochus 199 Leppin, Volker 266f. Lessing, Gotthold Ephraim 205 Lévi-Strauss, Claude 66 Lincoln, Ulrich 278 Lippit, John 275 Lipsius, Richard Adalbert 31 Lohmeyer, Ernst 241 Lohse, Bernhard 267 Lotz, David 45 Lotze, Rudolf Hermann 54 Luckmann, Thomas 18 Luhmann, Niklas 8–10, 256 Luthardt, Christoph Ernst 28, 150f. Luther, Henning 74, 222 Luther, Martin 120, 266–272 Lyotard, Jean-François 69
Jaspers, Karl 17f., 275 Jüngel, Eberhard 65, 247, 318
MacIntyre, Alasdair 72, 132, 139, 155 Marcion 36, 140 Marsh, Clive 134 McAdams, Dan P. 63 McKenzie, Jon 90 Melanchthon, Philipp 121f., 175 Mentzos, Stavros 13 Mersch, Dieter 84 Metz, Johannes Baptist 65 Meyer-Blanck, Michael 65, 97, 209, 246, 315, 317, 322 Mjalaandt, Marius 180 Moltmann, Jürgen 294, 297 Moser, Tillmann 286 Moxter, Michael 89, 314 Mühling, Markus 190, 206 Müller, Barbara 244
Kaftan, Julius 120 Kämpfer, Ella Marie 257 Kampmann, Claudia 39 Kant, Immanuel 55, 114, 119, 132 Kattenbusch, Ferdinand 32, 150 Kierkegaard, Søren 17, 272–284 Kinzig, Wolfram 36, 147 Kleffmann, Tom 291 Klie, Thomas 77 Knura, Tabea 285, 290f. Kohl, Katrin 70 Köpf, Ulrich 253 Korsch, Dietrich 7, 22, 33, 40, 45, 49, 114, 151, 191 Koschorke, Albrecht 68–70 Krämer, Sybille 80 Krause, Katharina 261 Krichbaum, Andreas 274 Krishek, Sharon 277 Kuehn, Evan 314 Kuhlmann, Helga 28, 40, 45, 52f., 203, 233f. Landweer, Hilge 259, 264 Laube, Martin 6 Lauster, Jörg 21, 83, 134f., 314 Leclercq, Jean 255 Leonhard, Silke 77
Natorp, Paul 34 Neugebauer, Matthias 56, 154, 155 Nietzsche, Friedrich 235, 284–296 Nippold, Friedrich Wilhelm Franz 31 Nünning, Ansgar 63, 66 Nünning, Vera 63, 66 Nussbaum, Martha 64 Nüssel, Friederike 267 Ohst, Martin 120 Ottmann, Henning 300 Otto, Rudolf 84
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Personenregister
Pannenberg, Wolfhart 53, 247 Paulus 184 Peng-Keller, Simon 258f. Pfleiderer, Georg 201 Pfleiderer, Otto 30 Pohl-Patalong, Uta 312f. Przywara, Erich 244 Rade, Martin 120 Radler, Aleksander 235 Ratschow, Carl Heinz 321 Regenbogen, Arnim 5 Regner, Friedemann 141 Richmond, James 43, 45, 48 Richter, Cornelia 6f., 12, 23, 78, 84, 93, 98, 269, 323 Ricœur, Paul 73f., 139, 296 Ritschl, Albrecht 1f., 11, 272, 321 – Demut 224–235 – Relecture 62, 99–223 – Rezeption 39, 63 – Werkgeschichte 100–106 – zeitgeschichtlicher Kontext 26–39, 110–122 Ritschl, Dietrich 65 Ritschl, Otto 1, 105 Roberts, Robert C. 248 Robinson, Matthew R. 62, 116, 314 Rosa, Hartmut 14, 15, 16 Rossa, Daniel 98 Rössler, Martin 10 Ruprecht, Lucia 97 Sauter, Gerhard 64 Schäfer, Rolf 45f., 124, 134 Schafer, Roy 72 Schapp, Wilhelm 71 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 5–9, 114–116, 119, 130, 175, 204, 274 Schmidt, Jochen 260, 264, 280 Schmitz, Florian 294, 298, 318 Schmitz, Herrmann 94 Schneider-Flume, Gunda 65, 309 Schoeller Reisch, Donata 243, 319 Schulz, Heiko 275 Schürer, Emil 32 Schütte, Hans Walter 169
Schütz, Alfred 18 Scriver, Christian 230 Searle, John R. 81 Seel, Martin 85, 89 Slaby, Jan 260 Slenczka, Notger 30, 57, 165, 196 Sommer, Andreas Urs 285, 288 Sparn, Walter 148, 182 Steffen, Bernhard 110 Steiner, Hans Georg 4 Stephan, Horst 120 Stewart, Jon 274 Stoellger, Philipp 77, 170, 256, 289, 299 Strauss, David Friedrich 140 Strawson, Galen 74 Strohmaier, Alexandra 76 Taylor, Gabrielle 249 Thiel, Christian 4 Tholuck, August 111 Thomas von Aquin 243 Tietz, Christiane 293f. Tillich, Paul 247 Timm, Hermann 34, 45, 51, 102, 106, 136, 146 Troeltsch, Ernst 36f., 60 Ugi, Dorothea 75, 268 Vanhoozer, Kevin J. 78f., 96 Velten, Hans Rudolf 79 Volbers, Jörg 91 von Harnack, Adolf 33–35, 105, 146, 236, 237, 257 von Scheliha, Arnulf 27 Wagner, Falk 9, 27, 152 Walsh, Sylvia 273 Weinhardt, Joachim 32 Weinrich, Harald 65 Weiß, Johannes 140, 220 Welz, Claudia 180 Wendel, Saskia 263 Wenzel, Knut 65 Weyer-Menkhoff, Stephan 45, 48, 152, 154 White, Hayden 69 Winnebeck, Julia 33
Personenregister Wittekind, Folkart 9, 46, 58, 59, 118, 131, 136, 157, 194, 206f., 209 Wolter, Michael 125, 138, 185 Worthington, Everett L. Jr. 244 Wrzecionko, Paul 44, 55, 64 Wüschner, Philipp 259
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Zachhuber, Johannes 37, 60, 101, 107f., 111, 114, 116, 118, 153, 159, 162, 194f., 197 Zeller, Eduard 118 Zemmrich, Eckhard 224, 228, 301 Zimmermann, Jörg 85