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German Pages 308 Year 2014
Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.) Kultur der Ökonomie
Edition Kulturwissenschaft | Band 25
2014-07-24 10-23-51 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372606713854|(S.
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Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.)
Kultur der Ökonomie Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen
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Inhalt
Kultur(en) der Ökonomie. Einleitendes
Inga Klein und Sonja Windmüller | 7 Notizen zur Umwertung der Werte. Perspektiven auf ökonomische Konzepte im interdisziplinären Diskurs
Hans Peter Hahn | 17 Neutralisierung der Ränder. Prämonetärer Tausch bei Karl Polanyi und Raymond Firth
Anna Echterhölter | 37 Rhythmen (in) der Ökonomie . Kulturanalytische Schlaglichter auf eine Denk- und Praxisfigur
Sonja Windmüller | 57 Von der Schalterhalle zum Erlebnisbanking. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Veränderung des Bankwesens durch den Geldautomaten
Sophia Booz | 81 Entstörungstechniken. Falschgeldprävention aus kulturwissenschaftlicher Perspektive
Il-Tschung Lim | 97 »Fake it ’til you make it« Narrative und Praktiken des Ökonomischen in der Hochstapelei
Inga Klein | 111 »Mehr braucht’s ja nicht.« Kapitalsorten und ihre Konvertierung
Silke Meyer | 131 Warum wir handeln
Michael Oliva Córdoba und Rolf W. Puster | 149
Hafenarbeit im Museum . Verflechtungen von Kultur und Ökonomie am Beispiel Hafenmuseum Hamburg
Janine Schemmer | 155 Standards und die Herstellung des Ökonomischen . Am Beispiel geschützter Herkunftsangaben für regionale Lebensmittelprodukte
Gisela Welz | 175 Zwischen Glasperlenspiel- und Ingenieurssemantiken . Diskursanalytische Untersuchungen zur Hegemonie neoklassischer Wissenschaftskultur nach 1945
Hanno Pahl | 191 Die ›(Wirtschafts-)Krisen‹ von 1966/67 und 1973-75 . Annäherungen aus historisch-semantischer Perspektive
Kristoffer Klammer | 215 Das Politische als ›konstitutives Außen‹ des Ökonomischen . Grenzziehungen zwischen ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ in historischer Perspektive
Stefan Scholl | 235 Bestätigende und herausfordernde Impulse in der kokreativen Interaktion. Kokreative Wertschöpfung unter den Bedingungen von Koopetition am Beispiel der Ideenplattform jovoto
Nadja Marlene Antoine und Holger Gerhardt | 259 Hoffnung als ökonomischer Affekt
Urs Stäheli | 283 Autorinnen und Autoren | 301
Kultur(en) der Ökonomie Einleitendes I NGA K LEIN UND S ONJA W INDMÜLLER
»Ökonomie« erscheint gemeinhin als ein Forschungsgegenstand, der so allumfassend ist, der alle anderen gesellschaftlichen Bereiche so grundlegend durchwirkt, dass der Begriff »Ökonomie« beziehungsweise »Wirtschaft« in den Registern kulturwissenschaftlicher Überblicks- und Einführungswerke oft nicht als eigenständiges Stichwort auftaucht.1 Daneben stellt sich allerdings »die Ökonomie« auch als ein Feld dar, das als zunehmend geschlossen wahrgenommen wird – und das zeigt sich nicht zuletzt in den gerade wieder öffentlich thematisierten Krisenzeiten, in denen Expertise nur noch insular vorhanden zu sein scheint. So spricht etwa der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Jakob Tanner von dem »Eindruck, ›die Wirtschaft‹ sei eine von der übrigen Gesellschaft abgesonderte Wirklichkeit, einerseits ein objektives System, das ›harte Tatsachen‹ produziert, andererseits ein besonders ideosynkratischer Aktor, der seinen Launen oft zu freien Lauf lässt und einmal Arbeitslosigkeit produziert und dann wieder ›Silberstreifen am Horizont‹ aufleuchten lässt.« (Tanner 2002: 129)
In dieser Singularisierung und Exklusivierung des Ökonomischen liegt ohne Frage eine besondere Herausforderung kulturwissenschaftlicher Annäherung, die letztlich
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Dies gilt u.a. für Standardeinführungen der Volkskunde/Kulturanthropologie (vgl. Kaschuba 2003; Brednich 2001). Ein ausgeprägter Bereich der disziplinären Beschäftigung mit dem Themenfeld ist die Arbeitskulturen- und Unternehmensforschung (vgl. u.a. Herlyn/Müske/Schönberger/Sutter 2009; Löfgren/Willim 2005). In der Ethnologie etablierte sich mit der Wirtschaftsethnologie ein eigener Forschungszweig (vgl. die Beiträge von Hahn und Echterhölter in diesem Band).
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zu berücksichtigen hat, dass wirtschaftliches Handeln stets in gesellschaftliche Kontexte »eingebettet« (Polanyi 1944; Granovetter 1985) ist und aus diesen Kontexten heraus hervorgebracht wird. Diese »heterogene Sicht«, die entsprechend nahe legt, »von vornherein verschiedene Ökonomien in Betracht zu ziehen« (Adelmann/ Keilbach/Stauff/Thiele 2006: 12, 13), eröffnet wiederum Anschlussmöglichkeiten für eine Kulturanalyse des Ökonomischen, die ein Verständnis von Wirtschaft als Diskurs- und Praxisform(en) favorisiert und entsprechend prozessual angelegt ist. So kann dann das ökonomische Denken und Handeln als »immer auch […] naturalisierte Form des Common Sense« (Knecht 2010: 169; in Bezug auf Herzfeld 2001: 91) mit Fokus auf dem »gesellschaftlichen Selbstverständnis der handelnden Akteure, ihren Deutungen, Wertsetzungspraxen und Wahrheitsansprüchen« (ebd.) befragt werden. Spätestens mit Michel Callon, der auf die substantielle Rolle der Wirtschaftstheorie in der wirtschaftlichen Praxis hingewiesen hat, scheint eine strikte Unterscheidung in empirisch erfassbare Ökonomie und vermeintlich objektive Ökonomik obsolet geworden zu sein (vgl. u.a. Callon 1998). Die Ökonomik selbst – als Faktor der Ökonomie – wird so zum kulturanalytischen Untersuchungsgegenstand. Beispielhaft sind hier wissenspoetologische Studien zur Herausbildung des modernen Paradigmas des homo oeconomicus (Vogl 2004), literaturwissenschaftliche, aber auch wirtschaftswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit ökonomischer Rhetorik und Metaphernbeständen (vgl. u.a. McCloskey 1985; Woodmansee/Osteen 1999), Studien zu den performativen Aspekten des Marktes (vgl. Callon 1998; Knorr Cetina/Preda 2005; MacKenzie 2006; Kalthoff/Vormbusch 2012), aber etwa auch die feingliedrige Analyse von Jakob Tanner zur Normalisierung der Wirtschaftskurve (Tanner 2002) oder der Ansatz von Ramón Reichert, »Finanzmärkte als ein mediales Dispositiv« (Reichert 2009: 13, vgl. auch Diaz-Bone/Krell 2009) zu fassen. Und in seinen Überlegungen zur »Materiality of Finance Theory«, die auf einer ethnographischen Studie im Handelsraum einer großen japanischen securities firm basiert, fragt der Wirtschaftsanthropologe Hirokazu Miyazaki, »how different kinds of objectification of economic theory open and close theory’s own materializing potential.« (Miyazaki 2005: 165). Anschließen lassen sich entsprechend Perspektivierungen des Themas, die in den Beiträgen dieses Bandes auf verschiedene Art aufgegriffen oder gewendet werden: Ausgehend von der Annahme, dass ökonomische Leitmotive und -konzepte weder autonom noch statisch gedacht werden dürfen, sondern vielmehr in einem ständigen Wechselverhältnis mit anderen gesellschaftlichen Feldern und Entwicklungen stehen, erscheint die Betrachtung ihrer Herausbildung, ihrer Etablierung und ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit lohnenswert. So fordern nicht zuletzt ökonomische (und gesellschaftliche) Schlüsselbegriffe wie Innovation, Kreativität und Rationalität oder auch das Modell der Konjunkturwellen zur Auseinandersetzung heraus.
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Auch stellt sich die Frage nach der (medialen) Kommunikation des Ökonomischen und den damit verbundenen Übersetzungsprozessen, die grundsätzlich reziprok gedacht werden müssen. Nicht nur verlangen Popularisierungen des Ökonomischen nach Elementen der Sinnstiftung, nach Bildern und Symbolen, nach kommunikativen Ritualen und Gesten. Diese Konkretisierungen wirken gleichzeitig als »metaphorische Konstruktion der Volkswirtschaft« (Tooze 2004: 332) umgekehrt auf deren Theoretisierungen zurück. Lohnenswert erscheint zudem eine eingehendere Auseinandersetzung mit der materialen Ausgestaltung ökonomischer Diskurse und Performanzen, die nicht nur zu zeigen vermag, wie maßgeblich mit Hilfe von Objekten – zuvorderst ›Geld‹ in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen – die Evidenz wirtschaftlicher Modelle und Konzepte hergestellt und stabilisiert wird, die aber auch – insbesondere unter Einbezug einer historischen Perspektivierung – Divergenzen, Irritationen und Verschiebungen offen zu legen vermag. Auch die Betrachtung ›gescheiterter‹ ökonomischer Vorstellungen und Modelle kann den Blick dafür schärfen, dass bestimmte Topoi, Themen und Figuren in Wirtschaftsdiskursen jeweils in bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen hervorgebracht, durchgesetzt und weiterentwickelt werden. Hier geben Überlegungen zu einer Kulturgeschichte des Nicht-Verstehens und des Scheiterns wichtige Impulse für einen wirtschaftshistorisch wie gesellschaftsanalytisch aufschlussreichen Perspektivwechsel, wie sich insgesamt – so ein Grundgedanke des vorliegenden Bandes – im analytischen Blick auf das gemeinhin hermetisch konzipierte Feld der ›Wirtschaft‹, ihrer Theorie- und Modellbildung eine Perspektive lohnt, die eben doch vorhandene Ausfransungen, die unscharfe Ränder in den Blick nimmt und sich für Umgebungen und Akteure, für Vernetzungen und Verstrickungen in ihren synchronen wie diachronen Dimensionierungen interessiert.2 In der Einleitung ihrer 2004 erschienenen, schnell zum zentralen Referenzwerk für ein dialogisches Aufeinanderzugehen von Kulturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften avancierten Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte diagnostizieren die Herausgeber Hartmut Berghoff und Jakob Vogel eine »Auseinanderentwicklung der Wirtschafts- und Kulturgeschichte« (Berghoff/Vogel 2004: 13), allerdings auch eine »vorsichtige Tendenz zur Wiederannäherung« (ebd. 18) – eine Entwicklung, die vor allem im Bereich der Finanzökonomie, wenn auch mit sehr unterschiedlichen methodischen und theoretischen Ansatzpunkten, in den vergangenen Jahren vorangeschritten ist (vgl. Knorr-Cetina/Preda 2005; Künzel/Hempel 2011; Kalthoff/Vormbusch 2012).
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An den Zusammenhang von Vernetzungen und Verstrickungen hat Hansjörg Siegenthaler im Zusammenhang mit der Tagung Pleitiers und Bankrotteure erinnert. Vgl. Siegenthaler, zit. nach Köhler/Rossfeld (2012: 13).
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Die vorliegende Publikation führt diese Annäherungsversuche auch in anderen Feldern des Ökonomischen fort, indem sie in einer breiten Anlage unterschiedlicher fachwissenschaftlicher, theoretischer wie methodischer Ansätze die aufgerissenen Zugangsmöglichkeiten ausmisst. Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag von Hans Peter Hahn, der aus der Forschungspraxis kulturwissenschaftlicher Wirtschaftsforschung, speziell der Wirtschaftsethnologie, im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Wirtschafts- und Kulturwissenschaften eine skeptische Haltung vertritt, die er nicht zuletzt mit den divergenten theoriegeschichtlichen Entwicklungen begründet. Über die ernüchternde Diagnose der interdisziplinären Sprachlosigkeit hinausgehend, sucht Hahn aber auch nach Ansatzpunkten für eine nichtsdestotrotz als unbedingt lohnenswert betrachtete Weiterverfolgung der Suche nach Fundamenten für einen ernstzunehmenden Austausch. Hier könnten wirtschaftsethnologische Arbeiten aus dem frühen 20. Jahrhundert einen Weg aufzeigen, in denen sich noch ein Zusammendenken von Geschichte und Ökonomie zeigt, und an die sich ebenso anknüpfen ließe wie an die differenzierte Auseinandersetzung mit den für Wirtschafts- wie Kulturwissenschaften gleichermaßen zentralen Begriffen Geld und Wert. Marginalisierten Ökonomien und deren Rolle in der Wirtschaftsmodellbildung widmet sich auch Anna Echterhölter. Den historischen und zugleich höchst aktuellen Richtungsstreit zwischen den Denkschulen der Substantivisten und Formalisten in den Blick nehmend, zeigt sie am Beispiel von Karl Polanyi (Vertreter des Substantivismus) und Raymond Firth (dem Formalismus zugerechnet), wie die kulturellen Faktoren wirtschaftlichen Handelns in nicht-monetären Gesellschaften unterschiedlich konzeptualisiert werden. Die Streitlinie verläuft nicht – wie vielleicht anzunehmen wäre – zwischen deren Berücksichtigung und Ausblendung, sondern vielmehr entlang der gesellschaftspolitischen Dimensionierung. Während Polanyi mit seinem Konzept der Einbettung gegen ein am neoklassischen Marktmodell ausgerichtetes, absolut gesetztes Wirtschaftsverständnis anarbeitet, indem er auf abweichende Wirtschaftsformen in unterschiedlichen kulturellen Rahmungen hinweist, fokussiert Firth geradezu entgegengesetzt die Anschlussmöglichkeiten nichtmonetärer Ökonomien an das neoklassische Modell und trägt so zur Stabilisierung der Vorstellung von dessen universaler Gültigkeit bei. Sonja Windmüller beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der (weitgehend unhinterfragten und zudem auffällig positiv besetzten) Denk- und Praxisfigur des Rhythmus beziehungsweise Rhythmischen im Kontext ökonomischer Theoriebildung. Dabei nimmt sie exemplarisch unterschiedliche wirtschaftswissenschaftliche Diskussionen vornehmlich aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Blick, um an ihnen zu zeigen, wie Rhythmuskonzepte – gerade in der ihnen zumeist eigenen semantischen Unschärfe – ökonomische Prozesse einerseits zu dynamisieren, andererseits aufzufangen und zu vermitteln vermögen, wie im diskursiven Rückgriff auf sie Evidenzen erzeugt werden, wie sie ökonomische Modelle und Perspek-
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tivierungen plausibilisieren und dabei als Konnektivitätsfigur Verbindungen zwischen verschiedenen Bereichen des Ökonomischen sowie in andere gesellschaftliche Bereiche hinein herstellen, aber auch als Instrument der Abgrenzung von Positionen und der Markierung von Einflusssphären fungieren. Mit der Einführung von Bankautomaten seit dem Ende der 1960er Jahre durchdringen Rationalisierungs- und Automatisierungsprozesse sichtbar die Geldinstitute in der Bundesrepublik Deutschland. Sophia Booz analysiert in ihrem Beitrag diese Prozesse im Hinblick auf die damit einhergehenden Veränderungen von Selbst- und Fremdbildern der Banken und ihrer Kundinnen und Kunden. Das Spannungsverhältnis zwischen Automatisierung, Technik und persönlicher Beratung, zwischen Sicherheits-, Anonymitätsbedürfnissen und Erlebnisorientierung wirkt sich dabei in besonderer Weise auf die räumliche und architektonische Gestaltung der Banken aus. Neue Formen der Selbstbedienung werden auch vor dem Hintergrund der Kundenbindung kontrovers diskutiert, wie Booz anhand von Presseberichten, wirtschaftswissenschaftlichen Publikationen und Veröffentlichungen von Akteuren des Kreditgewerbes nachzeichnet. Die räumlichen Bezüge, die Verschränkung des gebauten und des sozialen Raums lassen sich aus dieser Perspektive nicht nur als Modernisierungs- und Technisierungsvorgänge lesen, sondern auch als spannungsreiches Aushandlungsfeld. Il-Tschung Lim wendet sich dem Ökonomischen über dessen Störungen zu, indem er die US-amerikanische Falschgeldprävention im 19. Jahrhundert und damit verbundene Standardisierungsverfahren ökonomischer Operationen in den Fokus rückt. Falschgeld als Störfall fasst Lim mit Umberto Eco als kommunikatives Problem, das über Expertenwissen und Körpertechniken der Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitssteuerung bearbeitet wird. Gerade den kulturell codierten Techniken des visuellen Argumentierens, wie Kontrastierung, Gegenüberstellung und Vergleichsverfahren, – so arbeitet Lim anhand von sogenannten Counterfeit DetectorPublikationen und Illustrationen des United States Secret Service heraus – wird dabei besondere Bedeutung zugewiesen. Lim fordert eine verstärkte Auseinandersetzung mit Entstörungstechniken als Kulturtechniken, die weiterführende Erkenntnisse über – nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial gedachte – Prozesse der Wissensentstehung und -organisation zu liefern verspricht. In ihrem Beitrag rückt Inga Klein mit dem Wirtschaftshochstapler eine Figur in den Mittelpunkt, die ›Wirtschaft‹ als Aktionsfeld mit Täuschungen und dem Täuschen als kultureller Praxis verknüpft. Dabei werden Imaginationen und Figuren des Ökonomischen visualisiert, materialisiert und inszeniert. In populärmedialen Quellen – so die Argumentation – treten den Rezipientinnen und Rezipienten von Hochstaplergeschichten Narrative, Deutungsmuster und Praktiken als performative Realisierungen des Ökonomischen entgegen. Anhand einer konkreten Fallstudie zeigt Klein, wie soziokulturelle Imaginationen von Reichtum und wirtschaftlichem Erfolg mit Narrativen eines moralisch-verdorbenen Wirtschaftssystems verwoben
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werden und so eine über den Einzelfall hinausgehende Kritik an spezifischen Feldern wie etwa der Finanzwirtschaft herausfordern. Auch Silke Meyer wendet sich mit dem Ver- und Überschulden einer Form der ökonomischen Störung und gleichzeitig gesellschaftlich sensiblen ökonomischen Praktik zu. Vor dem Hintergrund des Bourdieu’schen Kapitalkonzepts analysiert Meyer anhand von qualitativen Interviews Strategien der Kapitalkonvertierung und deren narrative Bearbeitungen. Das Spannungsfeld zwischen Schulden und Schuld eröffnet dabei eine ganz eigene Dynamik: Der gezwungenermaßen veränderte Umgang mit Geld wird nicht einseitig als Problem thematisiert, sondern führt in den Selbstdarstellungen und -wahrnehmungen zu vielschichtigen Deutungs- und Handlungsmustern, über die sich die Akteurinnen und Akteure ihrer Handlungsmächtigkeit versichern. Gleichzeitig schreiben sich darüber aber auch kollektiv-moralische und ökonomische Diskurse in individuelle Schuldkonzeptionen ein und konstituieren die Beteiligten im Sinne eines unternehmerischen Selbst. Rolf W. Puster und Michael Oliva Córdoba begeben sich in ihrem Beitrag in das Spannungsfeld von Philosophie und Ökonomie. Die in der deutschen Sprache angelegte Zweideutigkeit des Begriffes »handeln« – zum einen als »tun«, zum anderen als »wirtschaften« – wird dabei zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, die das Aufeinanderbezogen-Sein beider Bedeutungen konsequent in den Mittelpunkt stellen. Damit fordern Puster und Oliva Córdoba im Anschluss an die Praxeologie Ludwig van Mises die Konzeptualisierung nicht nur allen Wirtschaftens als Handeln, sondern auch allen Handelns als Wirtschaften – eine Perspektive, die am Beispiel politischer Debatten um den Freiheitsbegriff auch die Kritik an der Ökonomisierung der Gesellschaft aufbricht und auf die diskursiven Zuschreibungen einer »guten« individuellen und einer »schlechten« ökonomischen Freiheit des Markts aufmerksam macht. Zugleich lassen sich mit der Frage, warum wir handeln, und dem Verweis auf das Unbefriedigt-Sein im Sinn einer Knappheit Ökonomie und Philosophie, Sozialwissenschaft und Handlungstheorie gewinnbringend miteinander verbinden. Einen detaillierten Blick auf eine neuartige ökonomische Praxis werfen Nadja Marlene Antoine und Holger Gerhardt. Am Beispiel einer kokreativen Internetplattform zeigt ihre Mikrostudie die Ausgestaltung eines ökonomischen Modells, das sich gegen lange Zeit vorherrschende ökonomische Grundannahmen richtet, indem es unter dem Begriff der Koopetition (engl.: co-opetition) zwei ökonomische Prinzipien, die Kooperation (cooperation) und den Wettbewerb (competition), direkt miteinander verschränkt, um gerade aus diesem Spannungsverhältnis Wertschöpfung – in Form von Ideen – zu generieren. Der Beitrag, der die Interaktionsdaten zu den Gewinnerplatzierungen aus zehn Ideenwettbewerben untersucht, lenkt den Blick auf die kommunikativen Mechanismen, die Dynamik von Kommentierung und Bewertung, wobei sich für den Erfolg einer Idee ein Wechselverhältnis zwischen »bestätigenden« und »herausfordernden« Beiträgen als maßgeblich er-
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weist. Antoine und Gerhardt weisen schließlich auf die mit der interaktiven Anlage des Verfahrens verbundenen Möglichkeiten für die Kunden hin, in einer ganz anderen Weise als bei konventionellen Ausschreibungen Einblicke in Haltungen und Gewohnheiten der »nicht mehr nur Zuschauenden« zu gewinnen. Der Beitrag von Janine Schemmer spürt den Verflechtungen zwischen Musealisierung, Eventisierung und Ökonomisierung im Hamburger Hafen nach. Die Auswirkungen der sich seit den 1970er Jahren verstärkenden Technisierungs- und Modernisierungsprozesse untersucht Schemmer anhand narrativer Darstellungen ehemaliger Hafenarbeiter, die sich mit veränderten Alltags- und Arbeitswelten auseinandersetzen müssen. Mit der Musealisierung von Arbeitswelten im Hafenmuseum Hamburg eröffnet sich über ehrenamtliche Tätigkeiten für diese Akteure ein neues Feld, in dem sie sich zwischen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen positionieren. Zugleich erweist sich aus dieser Perspektive das Museum als Kristallisationspunkt, an dem Repräsentationsformen von Kompetenz, Expertise und Professionalisierung sowohl innerhalb der Sammlungen als auch in den Beziehungen der Akteure zueinander festgelegt und zugleich immer wieder neu ausgehandelt werden. Mit der Frage nach der kulturellen Herstellung des Ökonomischen konzentriert sich Gisela Welz in ihrem Beitrag auf globale Wertschöpfungsketten und damit verbundene Prozesse der Standardisierung. Der Einsatz von Standards führt in der Fokussierung auf die Vereinheitlichung und Qualitätssicherung nicht nur von Produkteigenschaften, sondern von Herstellungsprozessen maßgeblich zu einer Erzeugung von Werten und Bewertungen, die Dinge, Dienstleistungen und Wissen zu ökonomisch interessanten Objekten machen. Sichtbar wird diese Entwicklung nicht nur an Produkten aus globalen Wertschöpfungsketten, für die Konformisierung entscheidend ist, sondern auch an solchen, die diesen Ketten entgegengesetzt werden und bei denen Standardisierung als Differenzierungsleistung eingesetzt wird, wie beispielsweise im Rahmen regionalspezifischer Lebensmittelprodukte. Mit dieser Perspektivierung öffnet Welz den Blick für neue Interpretationen solcher Wertschöpfungsprozesse, in denen sie auch Potentiale für eine Neuausrichtung der Ökonomischen Anthropologie erkennt. Hanno Pahl diskutiert in seinem Beitrag anhand von Fallstudien aus dem Bereich der neoklassischen Theoriebildung die Möglichkeiten einer diskursanalytischen, um den Blick auf wissenschaftliche Praktiken erweiterten Wissenschaftsforschung. So zeigt er unter anderem am Beispiel der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie die theoriepolitische Dimension ästhetischer Werturteile: Der Rekurs auf die »Schönheit« und »Eleganz« von Modellen, der sich in den Wirtschaftswissenschaften auffällig analog zur Beurteilung naturwissenschaftlich-mathematischer Modelle beobachten lässt, wird – wie auch die an »Neutralität« und »Objektivität« ausgerichtete Semantik der Ökonometrie (das zweite Beispiel Pahls) – von Anhängern wie Kritikern der Theorierichtung gleichermaßen als wirkmächtige Strategie im in-
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nerdisziplinären Kampf um Hegemonie, aber auch zur Homogenisierung der Disziplin als Basis für eine Ausweitung ihres gesellschaftlichen Einflusses eingesetzt. Am Beispiel der Rezession 1966/67 sowie der »kleinen Weltwirtschaftskrise« in den Jahren 1973 bis 1975 untersucht Kristoffer Klammer die politische und mediale Kommunikation von »Wirtschaftskrisen« und arbeitet heraus, dass diese als Phänomen eben der Kommunikation über sie zu begreifen sind. Bei der Analyse von Zeitungsartikeln sowie Parlamentsprotokollen der untersuchten Jahre zeigt sich, dass das Sprechen über die Krise nicht direkt an die wirtschaftliche »Faktenlage«, wie sie sich etwa in Wachstumsraten und Arbeitslosenzahlen abbildet, gekoppelt ist. Zugleich lassen sich – trotz unterschiedlicher ökonomischer Dimensionen beider Phänomene und jenseits der verwendeten konkreten Sprachbilder – Analogien der politischen und medialen Kommunikation identifizieren. Krisendiskurse gründen sich – so zeigt die Analyse von Klammer – vor allem auf Erwartungshaltungen sowie auf stark verkürzte Zukunftsentwürfe, die politisches Handeln als alternativlos deklarieren. Die Diskursgeschichte des Ökonomischen in ihrer politisch-praktischen Relevanz nimmt auch der Beitrag von Stefan Scholl in den Blick. Wirtschaft und Politik sind keineswegs per se kategorial differente Gesellschaftsbereiche, deren Schnittstellen und Effekte aufeinander es zu untersuchen gelte, sondern diese angenommene Trennung selbst wird als immer wieder neu zu verfestigendes, dabei aber eminent wirkmächtiges Ergebnis diskursiver Anstrengungen in den Blick genommen, die von den Akteuren mit eigenen Interessen verknüpft werden. Nicht nur werden über die Grenzziehung Sprecherpositionen legitimiert und mit praktisch relevanter Deutungsmacht ausgestattet, sondern damit zugleich auch – und Scholl zeigt dies eindrücklich am Beispiel der Mitbestimmungsdebatten in der Weimarer Republik wie in der Bundesrepublik Deutschland – Handlungsspielräume der Politik gegenüber dem behaupteten Bereich des »rein Ökonomischen« eingeschränkt. Den Band beschließend widmet sich Urs Stäheli der Hoffnung als ökonomischem Affekt, der in der ökonomischen Theoriebildung zu Unrecht weitgehend missachtet wurde. Im Unterschied zur Erwartung, die den allem ökonomischen Handeln immanenten Zukunftsbezug im Modus der Kontinuität und Berechenbarkeit erfasst, fängt Hoffnung gerade das Moment der Instabilität, der Unberechenbarkeit, der Kontingenz ein und wird dabei, wie Stäheli anhand des Beispiels der Börsenpaniken ausführt, zur notwendigen Grundlage der Schaffung eines ökonomischen Normalzustands. Hoffnung ist – so die abgeleitete Konsequenz – geradezu eine »Garantin des Ökonomischen«, die aber, und hier ist die elementare Relevanz der Hoffnung für die Ökonomie alles andere als naiv zu verstehen, auch zum Gegenstand von Politisierungen wird. Dies zeigt sich, so Stähelis abschließendes Beispiel, besonders eindrucksvoll während der Finanzkrise 2008/2009 in den USA.
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Die hier versammelten Beiträge gehen auf die interdisziplinäre Tagung »Kultur der Ökonomie. Materialisierungen und Performanzen des Wirtschaftlichen in kulturwissenschaftlicher Perspektive« zurück, die im September 2012 an der Universität Hamburg stattfand; die Herausgeberinnen danken allen, die zum Gelingen der Tagung und zur Realisierung des Bandes beigetragen haben.
L ITERATUR Adelmann, Ralf/Hesse, Jan-Otmar/Keilbach, Judith/Stauff, Markus/Thiele, Matthias (2006) (Hg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften. Bielefeld. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob (2004): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Synergiepotentiale. In: dies. (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a.M., S. 9-41. Brednich, Rolf W. (Hg.) (2001): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie. 3., überarb. u. erw. Aufl. Berlin. Diaz-Bone, Rainer/Krell, Gertraude (Hg.) (2009): Diskurs und Ökonomie. Diskursanalytische Perspektiven auf Märkte und Organisationen. Wiesbaden. Granovetter, Mark (1985): Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness. In: American Journal of Sociology 91, H. 3, S. 481-510. Herlyn, Gerrit/Müske, Johannes/Schönberger, Klaus/Sutter, Ove (Hg.) (2009): Arbeit und Nicht-Arbeit. Entgrenzungen und Begrenzungen von Lebensbereichen und Praxen. München/Mering (= Arbeit und Alltag. Beiträge zur ethnografischen Arbeitskulturenforschung 1). Herzfeld, Michael (2001): Anthropology. Theoretical Practice in Culture and Society. Malden MA/Oxford. Kalthoff, Herbert/Vormbusch Uwe (Hg.) (2012): Soziologie der Finanzmärkte. Bielefeld. Kaschuba, Wolfgang (2003): Einführung in die Europäische Ethnologie. 2., akt. Aufl. München. Köhler, Ingo/Rossfeld, Roman (2012): Bausteine des Misserfolgs: Zur Strukturierung eines Forschungsfeldes. In: dies. (Hg.): Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York, S. 9-34. Knecht, Michi (2010): Reflexive Bioökonomisierung. Werteproduktion in einer Samenbank. In: dies./Anna Frederike Heinitz/Scout Burghardt/Sebastian Mohr (Hg.): Samenbanken – Samenspender. Ethnographische und historische Perspektiven auf Männlichkeiten in der Reproduktionsmedizin. Berlin (= Berliner Blätter 51), S. 163-176.
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Knorr Cetina, Karin/Preda, Alex (Hg.) (2005): The Sociology of Financial Markets. Oxford. Löfgren, Orvar/Willim, Robert (Hg.) (2005): Magic, Culture and the New Economy. Oxford/New York. MacKenzie, Donald (2006): An Engine, Not a Camera. How Financial Models Shape Markets. Cambridge, MA/London. McCloskey, Deirdre N. (1985): The Rhetoric of Economics. Madison. Miyazaki, Hirokazu (2005): The Materiality of Finance Theory. In: Daniel Miller (Hg.): Materiality. Durham/London, S. 165-181. Polanyi, Karl (1944): The Great Transformation. New York. Reichert, Ramón (2009): Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarkts. Bielefeld. Tanner, Jakob (2002): Wirtschaftskurven. Zur Visualisierung des anonymen Marktes. In: David Gugerli/Barbara Orland (Hg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich (= Interferenzen 2), S. 129-158. Tooze, J. Adam (2004): Die Vermessung der Welt. Ansätze zu einer Kulturgeschichte der Wirtschaftsstatistik. In: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt a.M., S. 325-351. Vogl, Joseph (2004): Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich u.a. Woodmansee, Martha/Osteen, Mark (Hg.) (1999): The New Economic Criticism. Studies at the Intersection of Literature and Economics. London/New York.
Notizen zur Umwertung der Werte Perspektiven auf ökonomische Konzepte im interdisziplinären Diskurs H ANS P ETER H AHN
E INLEITUNG Ohne Zweifel muss die Wirtschaftsethnologie aus heutiger Sicht als ein marginaler Bereich der Ethnologie gelten. Dennoch hat dieses Forschungsfeld in bestimmten Momenten eine überraschende, vielleicht sogar eigenwillige Konjunktur. Immer dann nämlich, wenn Ökonomen, Finanzwissenschaftler und Betriebswirte nicht mehr weiter wissen und die »Wirtschaftskrise« allen vor Augen steht, erwacht auch das Interesse an einer Anthropologie des wirtschaftlichen Handelns.1 Alternative Modelle des Wirtschaftens aus aller Welt und auch aus vergangenen historischen Epochen werden dann begierig aufgegriffen und daraufhin geprüft, ob sie nicht einen Beitrag zur Lösung der eigenen gegenwärtigen Probleme liefern könnten. Boomt hingegen die Wirtschaft, so werden die Erkenntnisse der Ethnologen im Hinblick auf ökonomische Strukturen und das Handeln in diesem Kontext nicht zur Kenntnis genommen oder gar belächelt. Es soll in diesem Beitrag um einige Probleme ethnologischer Forschung im Bereich der Ökonomie gehen, die im Kontext eines interdisziplinären Projektes unter der Beteiligung von Ethnologie und Archäologie entstanden sind. Den Ausgangspunkt soll zunächst eine knappe Skizze der Wirtschaftsethnologie darstellen, so wie sie in diesem Projekt zum Tragen kommt und sich auch als praktikable Grundlage der interdisziplinären Arbeit erwiesen hat. Im Anschluss daran sollen zwei Beispiele herausgegriffen werden, nämlich Theorien zur Entstehung des Geldes und wider-
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Vgl. dazu Forschung Frankfurt. www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/43081494/ FoFra-2012_02web.pdf.
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streitende Definitionen von »Wert«. Diese Beispiele werden zeigen, wie problematisch heute der Dialog zwischen den Kulturwissenschaften – hier in Gestalt der Archäologie und der Ethnologie – und der Ökonomie insgesamt ist.
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W IRTSCHAFTSETHNOLOGIE
Wirtschaftsethnologie gehörte in der Periode der Entstehung des Faches zu den »großen«, den klassischen Domänen der Ethnologie. Es ist ohne weiteres möglich, Karl Marx oder sogar Adam Smith als die ersten Wirtschaftsethnologen zu bezeichnen. Die Werke dieser beiden »Nationalökonomen« basieren ganz grundsätzlich auf Beobachtungen eines breiten Spektrums an Wirtschaftsweisen in aller Welt. Natürlich war Karl Marx auch Evolutionist und verstand die Entwicklung der Wirtschaftsformen als eine Reihe aufsteigender Komplexität und auch zunehmender Effizienz. Zu den wichtigsten Proponenten einer marxistisch beeinflussten Perspektive auf die Ökonomie gehört heute unter anderen der Ethnologe Keith Hart (Hann/Hart 2011: 27-29). Auf der Basis des Konzepts der Evolution von Gesellschaften definierten Marx und seine marxistisch inspirierten Nachfolger eine Entwicklungsreihe mit Stufen immer differenzierterer Ökonomien, bei denen die Verfügung über Produktionsmittel immer weiter beschränkt ist. Das Ergebnis ist im Grunde eine Universalgeschichte der Ökonomie, wie sie zu jener Zeit in ähnlicher Form auch als Weltgeschichte der Verwandtschaftsordnungen (Morgan 1908 [1877]) oder der technologischen Entwicklungen vorgestellt wurde.2 Die im ganzen 19. Jahrhundert von verschiedenen Wissenschaftlern immer wieder aufgegriffene Idee einer Weltgeschichte umfasst ganz explizit auch die Ökonomie im engeren Sinne und auch die Wirtschaftsethnologie, so wie sie heute verstanden wird. Die gerade in den deutschsprachigen Ländern zu jener Zeit weithin anerkannte Tradition der »Nationalökonomie« begriff sich als historische Wissenschaft; Geschichte war mithin der übergeordnete Begriff, der westliche (»moderne«) und andere Ökonomien untrennbar miteinander verband (Schefold 1992, 2009). Als letzter prominenter Vertreter dieser Einheit von Geschichte und Ökonomie wäre Max Weber zu bezeichnen, der ja zunächst einen Lehrstuhl für Nationalökonomie innehatte (Weber 1972 [1921]). Im Kontext der im eigentlichen Sinne erst später, nämlich im 20. Jahrhundert, entstehenden Wirtschaftsethnologie müssen die Konsequenzen der evolutionären
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Ein heute noch zu besichtigendes Beispiel einer ›Weltgeschichte technischer Entwicklungen‹ ist das Pitt Rivers Museum. Es trägt bis heute die Handschrift des ersten, evolutionistisch orientierten Kurators Henry Balfour (vgl. Larson 2007).
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marxistischen Theorie als fatal bewertet werden. Mit seiner Perspektive zwang Marx zahlreiche spätere Ethnologen in das Korsett des Evolutionismus. Das gilt auch für jene Zeiten, zu denen der Evolutionismus in der Ethnologie mehrheitlich schon längst abgelehnt wurde. In den Ländern des Sozialismus galt das sogar bis in die jüngste Vergangenheit. In diesem Rahmen drehte sich die Forschung nur um die Frage, an welcher Stelle genau ökonomische, ethnographisch dokumentierte Unterschiede in eine gedachte Stufenleiter der Wirtschaftsformen einzuordnen wären.3 Ein prominentes Beispiel für diese Art der Wirtschaftsethnographie im abgegrenzten Bereich des marxistischen Weltbildes ist die Forschungsarbeit der DDREthnologin Irmgard Sellnow (1961). Der eigentliche Ausgangspunkt der wissenschaftlich heute relevanten Wirtschaftsethnologie ist jedoch der französische Ethnologe Marcel Mauss und dessen Werk über die Gabe (Mauss 1968 [1924]). Mauss richtig zu verstehen bedeutet, vor dem Hintergrund der großen gemeinsamen Tradition von Geschichte und Ökonomie, die Entwicklung der Wirtschaftsethnologie als eine Geschichte des Niedergangs oder des Verlusts zu begreifen. Mauss bildet hier keine Ausnahme. Um seine Argumente und Einsichten auf eine solide Basis zu stellen, musste er an erster Stelle auf einige Konzepte verzichten, die zu seiner Zeit als etabliert galten, die jedoch zugleich als »Erbschaft« bekannter Vorgänger wie Marx, aber auch Emile Durkheim und Edward Tylor, eher eine Hypothek darstellten (Hahn 2013: 140). Dieser Verzicht ist also eine Befreiung, die wiederum zahlreiche neue Forschungen möglich gemacht hat, wie die aktuelle Resonanz auf die Schriften von Mauss zeigt.4 So verzichtet Mauss grundsätzlich auf evolutionäre Reihen und unterstellt die Gültigkeit der gleichen Gesetze in allen Gesellschaften – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Das von ihm gefundene Gesetz betrifft die Regeln der Gabe und die drei damit verbundenen Verpflichtungen: Geben, Gaben annehmen und Gaben erwidern. Zu den Konzepten, auf die er auch verzichtet, gehören problematische Kategorien wie profan und sakral oder ökonomisch und sozial. Indem er solche von seinem Onkel und Lehrer Emile Durkheim in den Jahren um
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Ein Beispiel dafür ist die Diskussion über die sogenannten Erntevölker. Gibt es heute ethnographisch beobachtbare Kulturen, die von der Ernte leben, ohne selbst Feldbau zu betreiben? Diese Möglichkeit ist theoretisch relevant, könnte sie doch den Übergang zum Feldbau (»Neolithisierung«) erklären. Sie ist jedoch praktisch ohne Bedeutung, da tatsächlich keine Gesellschaft heute auf diese Weise lebt. Julius Lips glaubte bei bestimmten indianischen Gruppen Nordamerikas diesen Tatbestand gefunden zu haben, und zwar in Form der Ernte von Wildreis (Lips 1953; Treide 2010).
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Hier seien beispielhaft nur drei Veröffentlichungen aus den letzten fünf Jahren genannt: Adloff/Papilloud 2008; Kämpf 2012; Hénaff 2013. Einen Überblick über einige ältere ethnologische Theorien, die von Mauss’ Klassiker inspiriert sind, gibt Därmann 2010.
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1900 herum entwickelten Kategorien zurückwies, schaffte er den notwendigen Freiraum für präzise ethnographische Analysen. Genau genommen hat Mauss allerdings nicht ethnographisch gearbeitet, sondern philologisch: Neben Ethnographien, die er natürlich auch kannte (z.B. von Malinowski über die Trobriand-Inseln und von Boas über den Potlatch der Kwakiutl), interessierte er sich für Texte und insbesondere alte Gesetzestexte. Es ging ihm um den genauen Wortlaut und um die daraus abzulesenden Regeln des Gebens. Mauss als »Lehnstuhlethnologe« hatte keine Möglichkeit, selbst den von ihm als Zeugen seiner Theorie bemühten Häuptling Tamati Ranaipiri der Maori in Neuseeland zu befragen. Aber er erkannte sehr wohl den Mehrwert der genauen Wiedergabe seiner Worte über den Geist der Gabe, wie zum Beispiel an dem vielzitierten Zitat in seinem Essay festzustellen ist (Mauss 1968 [1924]: 32).5 Es ist kein Zufall, dass Mauss’ Werk vielfach missverstanden wurde: So interpretierten es Generationen von Wirtschaftsethnologen als ein Dokument über die Tauschregeln in sogenannten »Gabengesellschaften« (Dalton 1961; Gregory 1982). Diese grob vereinfachende Interpretation könnte auch dadurch motiviert gewesen sein, dass die betreffenden Autoren nicht bereit waren, das letzte Kapitel von Mauss’ »Gabe« zur Kenntnis zu nehmen. Dort drückt er nämlich klar aus, dass die von ihm gefundenen Gesetze ebenso bei den Maori wie im Frankreich seiner Zeit gelten. Mauss hat mit der Institution der Gabe ein Fundament gesellschaftlichen Zusammenhalts für alle Gesellschaften erkannt. Die in der Wirtschaftsethnologie so lange aufrecht erhaltene Trennung von Tauschgesellschaften und Warengesellschaften steht mithin im Widerspruch zu Mauss’ Thesen (Moebius 2006, 2010). Ökonomie und Soziales sind in Mauss’ Werk untrennbar miteinander verbunden, die Vorstellung einer abgetrennten Sphäre des Ökonomischen wäre für ihn ein grundlegender Fehler. Das Gleiche gilt für das Verhältnis von Ökonomie und Religion: Mitunter wurde Mauss’ Studie als religionsethnologisches Werk gelesen, weil darin vom »Geist« der Gabe die Rede ist. Tatsächlich kommt Mauss – im Hinblick auf den dominanten Durkheim – aus einem Umfeld, in dem Studien zur Rolle der Religion für die Konstitution der Gesellschaft eine große Rolle spielen (Karsenti 1996). Mauss hat kein Problem mit Aussagen über religiöse Vorstellungen, weil Grenzen zwischen den Arbeitsfeldern der Ethnologie für ihn ohne große Bedeutung sind. Für ihn reicht wirtschaftliches Handeln in die Sphäre der Religion hinein und umgekehrt. Mauss steht am Anfang einer »modernen« Wirtschaftsethnologie, die sowohl auf Evolution verzichtet, als auch die letztlich problematischen Grenzen
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Natürlich macht sich Mauss die Mühe, hier die genaue Quelle anzugeben, nämlich R. Elsdon Best, der im Jahr 1909 ein Gespräch mit Ranaipiri geführt hatte und dieses in einem seiner Werke dokumentierte.
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zwischen sozialen, ökonomischen und religiösen Aspekten einer Gesellschaft überwindet. Der Zeithorizont von Mauss’ Forschung ist zudem durch das Ende der schon erwähnten »Nationalökonomie« und damit von dem Ende einer historischen Perspektive auf wirtschaftliches Handeln geprägt. Stellvertretend für viele andere Dokumente, die gewissermaßen im Moment des Untergangs der historischen Perspektive auf das Wirtschaften entstanden sind, sei hier auf das Werk des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi verwiesen. Polanyis fundamentale Studie mit dem Titel The Great Transformation (1977 [1944]) ist auf den ersten Blick zwar als eine historische Studie zu lesen: Es geht um die Veränderung der Regelungen, denen ein Tausch von Gütern unterworfen ist. Polanyis Hauptwerk lässt sich aber als ein Symptom dafür verstehen, dass eine historisch vorgehende »Nationalökonomie« in der Mitte des 20. Jahrhunderts offensichtlich nicht mehr möglich war. Bei Polanyi geht es zunächst um die grundlegende Frage, ob Gesellschaften das wirtschaftliche Handeln selbst bestimmen können. Wenn diese grundlegende Möglichkeit nicht mehr relevant ist, hat das marxistische Prinzip der Klassifikation von Wirtschaftsformen die Oberhand über das Prinzip der historischen Rekonstruktion gewonnen. Die Studie The Great Transformation führt im Grunde eine Dichotomie zwischen der westlichen (»modernen«) Ökonomie und den anderen (bei Polanyi noch: den »Primitiven«) ein (Özveren 2007). Polanyi vereinfacht und schematisiert. Zugleich reduziert er damit die Vielfalt von denkbaren Wirtschaftsweisen, die wenige Jahrzehnte zuvor als historisches Phänomen verstanden und untersucht wurden. Darauf baut eine parallel gelagerte Unterscheidung zwischen »Formalisten« (= die Wirtschaft regelt sich selbst) und »Substantivisten« (= die Wirtschaft ist der gesellschaftlichen Ordnung unterworfen) auf, die deshalb eher als eine Form der Resignation anzusehen ist (Gross 2000). Auf der einen Seite steht das substantivistische, dem Feld der Ethnologie zugeordnete Modell einer Wirtschaft, die den Menschen das Überleben ermöglicht (= Existenzsicherung). Auf der anderen Seite gibt es die formalistische Perspektive, bei der, frei nach Adam Smith und seinem Werk über den »Wohlstand der Nationen«, der Profit als Grundlage des modernen Wirtschaftens akzeptiert wird. Formalismus ist das Prinzip der unsichtbaren Hand,6 dem zufolge das Streben nach Gewinn universal als Eigenschaft des Menschen definiert ist (Seiser 2009). Polanyis Theorie reduziert die Wirtschaftsethnologie auf zwei einfache Grundmodelle, die sich im Grunde nur noch im Hinblick auf die Frage unterscheiden, welche Rolle Märkte in der Wirtschaftsgeschichte spielen. Sind soge-
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Zugleich ist Adam Smiths geflügeltes Wort von der unsichtbaren Hand bis hin zur Gegenwart immer mehr kritisiert worden (Grampp 2000). Kaum ein Ökonom wird heute noch annehmen, dass die freie, ungeregelte Entfaltung von Märkten der ideale Weg der wirtschaftlichen Entwicklung sei (Suntum 2005).
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nannte »freie Märkte« eine alte Einrichtung? Werden Märkte nicht sehr viel öfter durch Regierungen oder Administrationen kontrolliert? Der problematischen Dichotomie zwischen »Gesellschaften der Kontrolle des Tauschs« einerseits und andererseits »freien Marktgesellschaften« haben sich zahlreiche Wirtschaftsethnologen in den Jahren nach 1950 kritiklos angeschlossen. Prominente und bis heute vielzitierte Autoren der Wirtschaftsethnologie wie Paul Bohannan (1959) und George Dalton (1968) waren offensichtlich Substantivisten. Auf der anderen Seite gab es nur einige wenige Autoren, die als Formalisten für die universelle Regel des Profitstrebens argumentierten. Ethnologen wie Raymond Firth (1967) und Harold K. Schneider (1974) hatten mit ihrem Verweis auf freie Märkte und Gewinnstreben in entlegenen Weltgegenden nur eine deutlich geringere Resonanz (Seiser/Mader 2005). Der Konflikt zwischen Substantivisten und Formalisten dominierte das kurze 20. Jahrhundert und schwächte damit den Einfluss der Wirtschaftsethnologie auf das Fach insgesamt. Das abschließende Argument dieser stark vereinfachenden Skizze der Wirtschaftsethnologie lautet: Beide Seiten waren in diesem Streit betriebsblind; sie bemerkten nicht, auf welche fruchtlose Debatte sie sich eingelassen hatten (Kumoll 2007: 93). In dem Moment, in dem eine historische Argumentation zugunsten einer Dichotomie aufgegeben wurde, war die Glaubwürdigkeit der Fallbeispiele wie ihrer Interpretationen gefährdet. Während in der Ethnologie die substantivistische Perspektive größere Resonanz fand, dominierte in den Wirtschaftswissenschaften die »Neoklassik« und damit die Sichtweise der Formalisten. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht mag es gesellschaftliche oder kulturelle Regeln des Tausches zwar geben, aber im besten Fall nur noch als »Inseln« im Ozean rationaler und vom Profitstreben des Einzelnen geprägter ökonomischer Phänomene (Bourdieu 1997). Erst im Moment der Krise hinterfragen Volks- und Betriebswirte ihre eigenen Annahmen über den Homo oeconomicus und die unsichtbare Hand (Zielcke 2013; Lazzarato 2011; Minowitz 2004). Aber auch die andere Seite, die Vertreter der substantivistischen Theorie, hatte an Bedeutung abgenommen; Barry L. Isaac (2005) bezeichnet die Zeit um 1990 als den historischen »Tiefpunkt« dieser Schule, weil sie schon damals von kaum einem Ökonomen noch ernstgenommen wurde.7 In der zweigeteilten Welt der Wirtschaftsethnologie schienen die ethnographischen Studien ein Refugium einer exotischen (oder: exotisierenden) Sicht auf wirtschaftliches Handeln.
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Die Kritik betrifft allerdings nicht nur die Perspektive von Außen. Auch eingefleischte Substantivisten wiesen auf die Defizite der Dichotomie hin und versuchten die Frage der eingebetteten Wirtschaftsformen neu zu beantworten: nicht mehr »Entweder-oder«, sondern differenzierte Interpretationen, die sowohl Markt als auch Regelung zulassen (Gemici 2007).
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So wie es hier dargestellt wurde, ist die Wirtschaftsethnologie in einer Sackgasse angelangt. Gerade erst von Marcel Mauss aus den Fängen der evolutionistischen Theorie befreit, ist sie in eine problematische Dichotomie verfallen, die letztlich den Dialog mit Ökonomen schwierig, wenn nicht unmöglich gemacht hat. Die auch in der Ethnologie des 19. Jahrhunderts relevante Utopie einer Wissenschaft vom Menschen, die alle Kulturen und Gesellschaften umfasst, ist damit in weite Ferne gerückt (Hahn 2013: 30 ff.). Zwei Strategien sollen im zweiten Teil dieses Beitrags angewendet werden, um die soweit geschilderte Problematik einer reduktionistischen Wahrnehmung von Ökonomie zu überwinden. Zum einen ist es sinnvoll, noch einmal in den wissenschaftsgeschichtlichen Horizont zurückzugehen, während dem die Nationalökonomie von anderen Strömungen abgelöst wurde. Das bedeutet, die Frage nach der Geschichtlichkeit von Ökonomie neu zu stellen. Zum anderen ist es wichtig, genauer auf zentrale ökonomische Begriffe zu schauen, um Grundlagen des Dialogs zwischen Kulturwissenschaften und Ökonomie abzusichern.
B EGRIFFE
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E NTSTEHUNG
Beide strategischen Elemente werden im Rahmen des Frankfurter Graduiertenkollegs Wert und Äquivalent (GRK 1576) angewendet, um zu neuen Inhalten der Argumentation zu gelangen. Erstens werden Themen behandelt, die bereits in den 1920er Jahren, zu einem Zeithorizont, in dem noch ökonomisch und historisch argumentiert wurde, relevant waren. Zweitens gibt es eine Diskussion über grundlegende Begriffe. Dabei sind vorzugsweise solche Begriffe von Bedeutung, die auch heute noch, in der Wirtschaftsethnologie wie auch in der Ökonomie, eine signifikante Rolle spielen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Begriff von Geld. Die Entstehung des Geldes war in den 1920er Jahren ein intensiv diskutiertes Thema, in dem ethnographisches und archäologisches Material intensiv rezipiert wurde. Damals zeigten auch Ökonomen noch ein dezidiertes Interesse daran, durch eine Erklärung des Ursprungs von Geld einen erweiterten Blick auf dessen Funktionen zu erlangen. Einer der wichtigsten Autoren jener Zeit und zu diesem Thema war Bernhard Laum.8 In seiner historischen und archäologischen Untersuchung stellt er die Vermutung auf, die Idee des Geldes sei aus Opferhandlungen hervorgegangen. Der schon damals langwährende Streit zwischen Nominalisten (Geld = Wertspeicher)
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Es ist nicht überraschend, dass jüngst das grundlegende Buch von Laum wieder neu aufgelegt wurde (Laum 2006 [1924]). Zur gegenwärtigen Bedeutung von Laum vgl. auch Paul 2006; Wittenburg 1995.
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und Realisten (Geld = Tauschmittel) über die »wahren« Funktionen von Geld konnte er überwinden, indem er auf eine spezifische, historisch gegebene Vorbedingung hinwies: Eine solche Vorbedingung von Geld ist die Bereitschaft bestimmter Personen, dieses als Zumessung von Wert zu akzeptieren. Nur mit einer allgemein verbreiteten Akzeptanz der Quantifizierung von Wert kann die Münze zum universellen Äquivalent werden. Wert ist keine dem Objekt inhärente Eigenschaft, sondern eine Frage der Zuweisung dieser Bedeutung durch soziale Gruppen oder durch die Gesellschaft insgesamt. Wichtiger noch als dieses konkrete Argument erscheint die Tatsache, dass Laum hier wie selbstverständlich altphilologische, archäologische, wirtschaftswissenschaftliche und ethnologische Argumente miteinander verknüpfte. So rekurriert er genauso auf die Ilias von Homer, wie auch auf Wilhelm Wundts Völkerpsychologie. Die Gemeinsamkeiten in der Denkweise zwischen Laum und Mauss sind nicht zu übersehen: Beide unterstellen einen Zusammenhang von Religion und Ökonomie, beide nutzen historische und ethnologische Quellen für ihre Argumentation.9 Aus heutiger Sicht ist zunächst die kühne Vorstellung einer nicht-ätiologischen Herleitung von Geld bemerkenswert. Geld ist – auch wenn das alltäglich oftmals zu hören ist – nicht deshalb eingeführt worden, weil es praktisch wäre, oder weil es die beste Methode darstelle, wirtschaftliche Transaktionen zu messen oder zu quantifizieren. Vielmehr gilt: Geld ist etwas eigenes Neues, das mit der Etablierung und Akzeptanz neuer sozialer und kultureller Instanzen einhergeht. Während heute in der Öffentlichkeit vielfach ein nicht reflektierter Evolutionismus vorherrscht, demzufolge eine Welt ohne Geld unendlich viel komplizierter sein müsse, gab es in den Studien von Laum und seinen Zeitgenossen eine differenzierte Abwägung über gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Geld als Maßeinheit für Wert, die zur Zeit der Durchsetzung von Geld genauso Gültigkeit hatte wie heute. Angesichts der aktuellen Finanzkrise wäre hinzuzufügen: Laum und Mauss hatten noch in einer anderen Hinsicht recht. Es ist nämlich überhaupt nicht ausgemacht, ob eine Welt mit Geld »einfacher« ist als eine Welt der Tauschbeziehungen. Geld, so viel konnte aus der Erfahrung der Nationalökonomie wenigstens in den 1920er Jahren noch als gesichert gelten, hat viele Funktionen, die in alle Bereiche der Gesellschaft hinein wirken. Der Umgang mit Geld und sein Verständnis stehen
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Umso mehr ist es überraschend festzustellen, dass der Bezug zwischen den beiden Denkern nicht intensiver diskutiert wird. Iris Därmann (2005: 164) weist darauf hin, dass beide sich der gleichen Definition von Pecunias, also dem Geld in römischen Gesetzestexten, bedienen. Eine zurzeit im Entstehen befindliche Dissertation von Felix Brandl wird mehr Licht auf die bislang unzureichend aufgearbeiteten Bezüge werfen und kann auch auf einen Briefwechsel zwischen den beiden rekurrieren (Brandl, pers. Mitteilung am 16.07.2013).
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für einen historischen Pfad der Kulturentwicklung, der spezifisch für Europa war. Im Kontrast zu einer solchen Sichtweise überwiegen heute unreflektierte Annahmen über die pragmatischen Vorteile des Geldes. Leider hat heute eine solche Theorie der Geldentstehung im Sinne einer Kulturgeschichte seiner Vorbedingungen ihre Überzeugungs- und Anziehungskraft weitgehend eingebüßt. Damit ist auch die Idee einer Einheit des ökonomischen Denkens aufgegeben worden. Bei Autoren wie Mauss, Laum und anderen ihrer Zeit war sie noch selbstverständlich mitgedacht worden: Geld ist ein menschheitsgeschichtliches Problem. Die mit dem Gebrauch von Geld einhergehenden Veränderungen der Gesellschaft sind im Zeithorizont von dessen erster Verwendung genauso bedeutsam wie in der Gegenwart. Eine Trennung in »primitive« oder »archaische« und »moderne« Gesellschaften spielte in diesen Ansätzen keine Rolle. Diese Einheit würde heute in den Wirtschaftswissenschaften klar zurückgewiesen; im Einklang mit der unglücklichen Unterscheidung von Formalisten und Substantivisten geriet sie auch bei Ethnologen in der Zeit nach Mauss für Jahrzehnte in Vergessenheit. Offensichtlich sind die finanztechnischen Verwicklungen der Gegenwart und aktuelle Unsicherheiten über den Wert des Geldes gute Heilmittel, um die problematische Engführung der ätiologischen Geldtheorien zu überwinden. Wenn heute die Öffentlichkeit beschworen wird, bestimmte kritische Aspekte der aktuellen Bewertung von Geld (genauer: Währungen) nicht auszusprechen, so schwankt diese Beschwörung zwischen einer Vulgärpsychologie (»bitte nicht die Märkte schlechtreden«) und der magischen Vorstellung, durch solche Appelle genau das Ereignis zu verhindern, dessen Eintreten alle erwarten. Solche Gegenwartsbeobachtungen erinnern unwillkürlich an die religiöse Dimension von Geld und Gabe, die bei Laum und Mauss noch ganz offen als Argument genutzt wurde.10 Diese kritischen Anmerkungen über das gegenwärtige Verständnis von Geld sind nicht als Plädoyer für die Wiedereinführung von Geldopfern oder die Beschwörung von Geldgeistern zu verstehen. Ich meine aber, dass es sich heute mehr denn je lohnt, auf unkonventionelle Umgangsweisen mit Geld zu schauen. Solche Praktiken können Aufschluss geben über die Bedeutungen von Geld, die in den dogmatischen Vorstellungen von Geldwert und Geldnutzen vernachlässigt werden.
10 An der Stelle wäre zu ergänzen, dass die religiöse Dimension von Geld außerhalb der Ökonomie schon länger mitgedacht wurde. Beginnend mit Georg Simmel (1899), dem zufolge die Trennung von Geld und Religion das Ergebnis eines langwährenden historischen Prozesses ist, an dessen Ende die normative Trennung dieser beiden Sphären in Europa steht. Und in jüngerer Zeit gibt es zahlreiche Berichte von Ethnologen über Wechselwirkungen zwischen Geld und Religion (Geschiere 1992; Englund/Leach 2000; Tonda 2000). Auch die Theologie hat die Bedeutung von Geld in der Religion mittlerweile wieder entdeckt (Gestrich 2004).
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Das Ergebnis einer anthropologischen Betrachtung des Umgangs mit Geld könnte es sein, ein erweitertes Konzept von Geld heute zu erlangen. Auch unter Ökonomen gibt es den Konsens, dass Geld – wie die Ökonomie überhaupt – von Voraussetzungen abhängt, die es nicht selbst schaffen kann. Wer aber diese Voraussetzungen schafft, wer für sie einsteht und wie sie durchgesetzt werden, all dies kann nur durch gesellschaftstheoretische Untersuchungen, oder besser durch Ethnographie geklärt werden. Die Ökonomen halten sich für dieses Feld für nicht zuständig. Die damit angedeutete problematische Abgrenzung von Zuständigkeiten zwischen Ökonomie einerseits und Kulturwissenschaften andererseits ist ein wesentliches Hindernis für eine gemeinsame Begriffsbildung. Diese Abgrenzung ist natürlich auch eine Folge einer wissenschaftsgeschichtlich normalen Reinigung in den ökonomischen Wissenschaften: Historische Betrachtungen wurden dabei marginalisiert. Fragen, die über die Messbarkeit von Einkommen, Ausgaben und Haushalten hinausgehen, gelten in der Ökonomie als Randthemen (Caspari/Schefold 2011). Überhaupt sind die in den Wirtschaftswissenschaften berücksichtigten Zeithorizonte radikal geschrumpft: Messreihen über fünf oder zehn Jahre gelten schon als »langfristig«. Zu dieser Entkoppelung von Ökonomie und Kulturwissenschaften gehört auch eine spezifische wirtschaftswissenschaftliche Modellbildung, die unter dem Begriff des Homo oeconomicus bekannt ist. Auch wenn dieses vereinfachende Modell des Menschen über viele Jahrzehnte intensiv genutzt wurde, gilt es doch in jüngerer Zeit auch unter Ökonomen als problematisch (Henrich 2001; Manstetten 2000).11 Natürlich ist jedes Modell eine Vereinfachung. Aber im Kontext der Spieltheorie, der rational choice-Theorie oder anderer Theorieansätze der Wirtschaftswissenschaften zeigen sich die in dem Modell enthaltenen Verkürzungen des Menschenbildes überdeutlich. Solche Auffassungen über das soziale Wesen »Mensch« liegen in der Regel weit außerhalb dessen, was Kulturanthropologen als gesichertes Wissen über individuelles und kollektives Handeln annehmen würden.12 Es ist heute nicht möglich ein abschließendes Urteil darüber zu fällen, ob die Konzepte von »Geld« eines Tages wieder auf einer gemeinsamen Grundlage stehen
11 Eine polemisch zugespitzte Kritik wurde in Form eines ethnographischen Berichts verfasst, bei dem die verschiedenen ökonomischen Schulen als Stämme geschildert werden, die einen Streit über die zutreffende Beschreibung des Homo oeconomicus führen (Leijonhufvud 1973). 12 Verschiedentlich haben sich auch Ethnologen an die Prüfung dieses Modells gemacht. Während manche Autoren an die Anwendbarkeit dieses Modells glauben (Görlich 1993; Rössler 2005: 35 f.), überwiegt doch die Kritik daran, z.B. durch Ingold (1996) sowie Grabher/Stark (1997). In allgemeiner Form wurde von Ethnologen der Begriff des Handelns hinterfragt (Emirbayer/Mische 1998).
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werden. Die gegenwärtige Verunsicherung darüber, was Geld ist, mag dazu beitragen, dass in Zukunft einer historischen Perspektive wieder mehr Interesse zuteilwird. Ethnologie, Archäologie und andere Kulturwissenschaften sollten daran interessiert sein, den Dialog mit Ökonomen fortzuführen, beziehungsweise ihn neu zu beginnen. Dabei sollte allerdings nicht auf die differenzierte Betrachtung verschiedener Dimensionen von Geld – so wie hier ausgeführt – verzichtet werden.
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Die hier als Ausgangspunkt geschilderte Geschichte des Niedergangs eines gemeinsamen Forschungsfeldes führt zum Mangel an breiten Perspektiven und letztlich zur Unmöglichkeit von Synthesen zwischen Kultur und Ökonomie. Das ist zunächst nicht ein Mangel der Wirtschaftsethnologie als solcher, die trotz der eingangs erwähnten eigenwilligen Konjunktur Anlass zu intensiven Forschungen gegeben hat und für die Ethnologie insgesamt einen wichtigen Faktor darstellt. Das fundamentale Problem bezieht sich vielmehr auf den Verlust der Fähigkeit zum Dialog: Wirtschaftsethnologen sprechen gewissermaßen eine andere Sprache. Es ist eine Sprache, die von den Ökonomen nicht ernst genommen wird, oder wenigstens nicht als Beitrag zur Lösung von Problemen anerkannt wird, die auch sie betreffen. Dies wird besonders deutlich an dem zweiten, ebenfalls aus der Arbeit des Graduiertenkollegs stammenden Beispiel. Es geht dabei um Definitionen von »Wert«. In den Kulturwissenschaften wie auch in den ökonomischen Fächern ist sehr viel von »Wert« die Rede, was möglicherweise durch den umgangssprachlichen Gebrauch zu erklären ist, vielleicht aber auch ein Erbe der Nationalökonomie darstellt. Aber es gibt einen bezeichnenden Unterschied zwischen den Fächern: Während in der Ökonomie Wert zumeist die Bedeutung von »Preis« hat und stets im Singular gebraucht wird, favorisieren Kulturwissenschaftler eher den Plural und sprechen von »Werten«.13 Werte im Plural können als Resultat einer Suche nach kulturellen Bedeutungen verstanden werden. Auf dieser Grundlage kommt letztlich jede empirische Studie zu einem spezifischen Ergebnis. Relevant werden solche Untersuchungen, wenn sie »neue Werte« entdecken, wo man sie vorher nicht vermutet hatte, oder wenn sie konfligierende Werte beschreiben und entsprechende Aushandlungen in Wertekonflikten stattfinden.
13 Auch hier gibt es in den letzten zehn Jahren eine gewisse Konjunktur der ethnologischen Debatten. Beispiele dafür sind die Themenhefte in Cultural Anthropology (Eiss/Pedersen 2002), in Anthropological Theory (Foster 2008) sowie in HAU: Journal of Ethnographic Theory (Otto/Willerslev 2013).
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Die damit angesprochene Pluralisierung der Werte lässt sich, beginnend mit Karl Marx, ohne weiteres als eine Entwicklung der Diskurse nachzeichnen. Marx hatte für »Wert« nur zwei Definitionen: Gebrauchswert und Tauschwert. Ein komplexerer Gegenentwurf ist bei Wilhelm Dilthey, aber mehr noch bei Heinrich Rickert (1913) zu finden. Bei letzterem deuten die Begriffe »Werteordnungen« und »Wertesysteme« schon grammatikalisch den Plural an. Rickert hatte demensprechend auch einen großen Einfluss auf Max Weber und sein populäres Konzept des Idealtypus, dem eben auch eine bestimmte Wertvorstellung zugerechnet wurde. In den konzeptuellen Übergängen von Philosophie zu Nationalökonomie zeigen sich die damals noch möglichen Verbindungen zwischen Kultur- und Wirtschaftswissenschaften. In diese Denktradition gehört schließlich auch Friedrich Nietzsche, an dessen »Umwertung aller Werte« der Titel dieses Beitrags angelehnt ist. Die Reihe wichtiger Personen des geistigen Lebens um 1900 (Dilthey, Rickert, Weber, Nietzsche) macht zugleich deutlich, wie weit das Nachdenken über Werte damals über ökonomische Fragen hinausreichte. Das ist das umfassende, interdisziplinäre Erbe, das eine Debatte über den Wertbegriff heute anerkennen sollte, wenn von Werten im Plural die Rede ist. Die Sache wird etwas einfacher und leichter zu überblicken, wenn man die Frage nach dem Verhältnis von Wert und Werten auf den Kontext der damals verfügbaren ethnographischen Studien fokussiert. So ist der Wertbegriff natürlich auch schon in Malinowskis im Jahr 1922 veröffentlichter Studie über den KulaTauschhandel präsent (Malinowski 1979 [1922]). Malinowski macht es sich einfach, indem er die Wertobjekte, die im Mittelpunkt seiner Ethnographie stehen, mit den britischen Kronjuwelen vergleicht (ebd.: 121 f.). Gleich darauf erklärt Malinowski diese Parallele genauer und schränkt seinen Vergleich ein, weil die Kronjuwelen ihren Wert dadurch erhalten, dass sie niemals weitergegeben werden (außer durch Vererbung), wohingegen der Wert der Kula-Objekte gerade durch das Weitergeben angezeigt wird. In einer Linie damit stehen, 50 Jahre später, die Untersuchungen von Nancy Munn (1971, 1986). Sie kann – ebenfalls an Beispielen aus Ozeanien – zeigen, dass Werte immer diskursiv festgelegt werden. Kein Ding, kein Wertobjekt ist als solches wertbehaftet, sondern es sind stets die mit den Objekten verbundenen Geschichten, die Wert generieren. Von dieser Position ausgehend ist der Weg nicht mehr weit zu Bourdieu (1983). Gegenüber dessen Konzept vom Plural der Werte als »Kapitalsorten« wurde ja auch bereits kritisch hervorgehoben, dass es sich um einen Versuch der Ökonomisierung der Gesellschaft handele. Daniel Miller (2008) hat in einem Übersichtsartikel zum Wertbegriff einige der hier genannten Ethnologen erwähnt und deren Leistungen herausgestellt. Auch er wählt Karl Marx als Ausgangspunkt für die Differenzierung von verschiedenen Wertbegriffen. Millers eigentlicher Punkt betrifft aber die Originalität des Konzep-
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tes von Wert, dem er den Charakter einer weltweit relevanten Universalie zuschreibt. Ethnographisch bleibt es jedoch dabei, dass die Beschreibung kulturspezifischer Modelle der Erzeugung von Wert als die beste Strategie erscheint. Millers Perspektive ist aus der Sicht der Ethnologie ohne weiteres zuzustimmen. Dennoch ist offensichtlich, wie weit sie vom ökonomischen Wertkonzept entfernt ist. Hier ist die in diesem Beitrag schon mehrfach beklagte Trennung von Wirtschaft und Kultur wiederzuerkennen. Oftmals gilt gerade der Wert, den Kulturwissenschaftler entdecken, als ein Grund, eine wirtschaftliche Bewertung des beschriebenen Phänomens nicht vorzunehmen und das betreffende Objekt aus der Sphäre der Ökonomie auszuklammern. Ein gutes Beispiel dafür sind Kunstwerke. Stets wird in der Betrachtung von Kunst auf den künstlerischen Wert, auf die Bedeutung und auf die gesellschaftliche Anerkennung für Kunstwerk oder Künstler abgehoben. Dass zugleich ein Kunstmarkt existiert, der gerade die zuerkannte Singularität als Merkmal der Preisbildung versteht, wird dabei ausgeblendet. Wieder war es Bourdieu, der – zum Beispiel in Die feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) – die Werte mit dem messbaren Wert im Sinne eines Preises verknüpfte, dabei aber das Primat der sozialen Struktur, also der kulturwissenschaftlichen Perspektive, gewahrt wissen wollte. Das letzte Beispiel macht noch einmal deutlich, wie schwer es ist, gemeinsame Begriffe für Kulturwissenschaften und Ökonomie zu finden.14 Der offensichtlichen Überschneidung der Gegenstandsbereiche stehen so weit auseinanderliegende Erwartungen bezüglich der Analyse gegenüber, dass eine Verständigung kaum möglich erscheint. Eine ernst zu nehmende Wirtschaftsethnologie darf jedoch nicht den Anspruch aufgeben, für alle Gesellschaften weltweit relevant zu sein und zu Definitionen zu kommen, die überall anwendbar sind. Eine Teilung der Gesellschaften in solche, in denen die »Werte« im Vordergrund stehen, und solche, in denen »Wert« hauptsächlich im Sinne von Preisbildung verstanden wird, ist aus ethnologischer Sicht nicht zu akzeptieren. Ein Impuls, der diese Spaltung zwischen Kultur und Ökonomie überwinden könnte, geht von der sogenannten Post-MAUSS-Debatte aus. Als ein Vorläufer und früher Vertreter dieser Debatte wäre Maurice Godelier anzuführen, der schon in den 1960er Jahren in Papua-Neuguinea über das Salzgeld der Baruya geforscht hatte und damals in bester substantivistischer Manier eine gesellschaftlich kontrollierte Form von Geld präsentierte. Die Baruya kannten zwar diese spezielle Form des
14 Einen Versuch in diese Richtung unternimmt David Graeber, indem er die Frage nach Unterschieden zwischen der individuellen Bewertung und dem sozial anerkannten Wert stellt (Graeber 2001). Missverständnisse über das, was dem Einzelnen »etwas wert« sein sollte und was ein »sozialer Wert« ist, begründen die Ambivalenzen modernen Konsumverhaltens insgesamt (Graeber 2007).
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Geldes, aber eine Akkumulierung (= Vermögensbildung) war nicht vorgesehen (Godelier 1970). Im Jahr 1996 folgte dann Godeliers Buch über Das Rätsel der Gabe, das wichtige Fragen der Post-MAUSS-Debatte aufgreift und auf der Grundlage von ethnographischem Material diskutiert: Godelier fragt zum Beispiel danach, wie eine »erste Gabe« zustande kommen kann (ders. 1999). Wenn jede Gabe als solche ein Akt der Erwiderung ist, wie kann man sich dann vorstellen, dass ein Individuum spontan, ohne bereits etwas erhalten zu haben, eine Gabe gibt? Diese Frage basiert natürlich auf einer Idee von Wert, ist doch die Voraussetzung für die Anerkennung einer Gabe nicht nur die Anerkennung des ökonomischen Wertes einer Sache, sondern auch der Übertragbarkeit der Gabe als Eigenschaft des gegebenen Objektes (Hénaff 2009). Die Unterscheidung zwischen Dingen, die eine Gabe sein können, und solchen, die von den Regeln der Reziprozität ausgeschlossen sind, hat in der Ethnologie in den letzten Jahren eine beständig größer werdende Aufmerksamkeit erfahren.15 Mit dem Buchtitel Inalienable Possessions hatte Annette Weiner kurze Zeit vor Godelier darauf aufmerksam gemacht, dass die soziale Ordnung in einer Gesellschaft wenigstens in gleichem Maße durch unveräußerliche Güter wie durch Gaben definiert wird (Weiner 1992). Godeliers Frage ist daher naheliegend und führt zu wichtigen ergänzenden Fragen: Wie erklärt man den Unterschied zwischen Dingen, die als Gaben ihren sozialen Sinn erfüllen, und solchen, die als gehortete Schätze ihre Bedeutung erlangen? Das übergeordnete Anliegen der Post-MAUSS-Debatte besteht darin, das Theorem der Gabe für ein allgemeines Verständnis von Gesellschaft fruchtbar zu machen. Wenn »Geben« übertragbaren Wert und soziale Bindungen definiert, wie verhalten sich dann Sozialstrukturen und Gabenpraktiken zueinander? Solche Fragen interessierten bald auch Mediävisten, die mit Godelier auch Marcel Mauss für sich entdeckten (Hannig 1988; Algazi/Groebner/Jussen 2003).16 Wichtiger als die Fragen, ob Gaben nun Gesellschaften abbilden, und ob Gesellschaften ohne Gaben überhaupt denkbar wären, ist der durch diese Debatte deutlich gewordene Anspruch, durch die Gabe, und implizit durch die soziale Anerkennung von »Wert«, Zusammenhänge für alle Gesellschaften weltweit aufzudecken. Neuere Autoren wie Alain Caillé erweitern die Gabe zu einem konstitutiven Merkmal moderner Gesellschaften. Immer dann, wenn ein Konzept des Individu-
15 Nicht ohne Bedeutung ist hier die Beobachtung, dass Dinge durch das Weitergeben mitunter selbst eine Umwertung erfahren. Die Zuordnung eines neuen Kontextes hat fast immer eine grundlegende Neubewertung des Objektes selbst zur Folge. Jedes beliebige Objekt kann durch Mobilität einer Vielzahl von Kontexten und Werten zugeordnet werden (Hahn/Weiss 2013). 16 In einer Rezension zu Godeliers Werk hat Elisabeth von Thadden (1999) auf diese Verbindung aufmerksam gemacht.
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ums existiert, muss Partizipation an Gesellschaft als Geben (und Nehmen) interpretiert werden (Caillé 2000, 2005). Die Gabe wird damit zum elementaren, symbolischen Merkmal der Gesellschaft, weil sie die Grundform der Verbindung zwischen dem Einzelnen und der Gruppe ausdrückt. Geben und Nehmen ist damit eine Bedingung von Existenz. Es ist nicht ein Akt, der aus einer Zweckgebundenheit heraus zu erklären wäre. Mit diesen eher philosophischen Erwägungen erklärt sich im Übrigen der Name der Bewegung, der eigentlich eine Abkürzung darstellt: Hinter den Buchstaben von MAUSS verbirgt sich Mouvement Anti-Utilitariste en Sciences Sociales (Papilloud 2006).17 Es ist heute noch zu früh, um zu entscheiden, ob die Interpretation des »NichtZweckgebunden-Seins« der Gabe eine wirklich schlüssige Neuinterpretation von Maussʼ fundamentalem Essay darstellt. Die Relevanz dieser Überlegungen besteht jedoch zweifellos darin, die alte Zweiteilung in Gesellschaften der Gabe und Gesellschaften der modernen Ökonomie zu überwinden. Damit steht die PostMAUSS-Debatte für eine zukunftsträchtige Perspektive auf wirtschaftliches Handeln insgesamt: Sie geht davon aus, dass in allen Gesellschaften die gleiche Rationalität vorherrscht. Das ist die notwendige erkenntnistheoretische Basis, auf der kulturwissenschaftliche Positionierungen zur Ökonomie aufbauen sollten. Von dieser Grundlage ausgehend, gibt es deshalb gute Gründe sich heute in Debatten über ökonomische Probleme der Gegenwart einzumischen.
S CHLUSS Im Anschluss an eine knappe Skizze der Wirtschaftsethnologie wurden hier zwei Themen aus der Arbeit des Graduiertenkollegs Wert und Äquivalent beschrieben, die Schlaglichter auf die Schwierigkeiten eines über die Kulturwissenschaften hinausreichenden interdisziplinären Dialogs geworfen haben. Trotz der Anwendung von spezifischen Strategien, wie dem Rekurs auf historische Ansätze aus den 1920er Jahren sowie der Reflektion über grundlegende Begriffe, bleibt eine Skepsis, ob ein solcher Dialog heute möglich ist. Gerade im Lichte dieser Schwierigkeiten wäre es sicher die schlechteste Lösung, den Anspruch eines Dialogs über die Ökonomie aufzugeben.
17 Diese wirtschaftsethnologische Bewegung hat vor allem in verschiedenen frankophonen Ländern zahlreiche Anhänger unter Ethnologen. Ihre Denkansätze sind regelmäßig in der Zeitschrift La revue du M.A.U.S.S. nachzulesen. Heft Nummer 36 (2010) dieser Zeitschrift mit über 40 Beiträgen über Mauss und sein Werk ist ein Manifest der außerordentlichen Rolle von Mauss und der Bewegung MAUSS.
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Würde es tatsächlich eine »rationale« Form der Ökonomie geben, wohingegen andere (zumeist außerhalb Europas zu beobachtende) Formen nur noch als »Folklore« taugen oder gar Zeugen untergegangener Modelle darstellten, so hätte die Ethnologie nur wenig zum Nachdenken über Wirtschaften beizutragen. Diversität und Differenz sind aber nicht nur Aspekte von Kultur, sondern spielen auch in der Ökonomie eine wichtige Rolle. Die Beteiligten am Graduiertenkolleg gehen dabei von der Überzeugung aus, dass unterschiedliche Wirtschaftsweisen durch universelle Grundkonzepte erklärt werden können, so wie es hier am Beispiel der Theorien über Geldentstehung gezeigt wurde. Eine Betrachtung ganz unterschiedlicher Kontexte ermöglicht es, zu erweiterten und besser differenzierenden Konzepten für ökonomische Grundbegriffe zu kommen. Das gemeinsame Interesse der am GRK beteiligten Kulturwissenschaftler ist es, den Nutzen einer Arbeit an solchen gemeinsamen und geteilten Grundlagen aufzuzeigen. Es ist jedoch an erster Stelle eine Aufgabe einer an universellen Grundlagen interessierten Wirtschaftsethnologie, anhand von geeigneten Fallstudien die Existenz solcher Grundlagen zu exemplifizieren und deren Relevanz für die Gegenwart unter Beweis zu stellen. Es sollte dabei stets ein wichtiges Ziel der kulturellen Analyse des Ökonomischen bleiben, die bis heute die Kulturwissenschaften und Ökonomie voneinander trennende Sprachlosigkeit zu überwinden.
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Neutralisierung der Ränder Prämonetärer Tausch bei Karl Polanyi und Raymond Firth A NNA E CHTERHÖLTER
In grauen Vorzeiten und auf entlegenen Inselarchipelen, an den Rändern der globalen Sichtbarkeit und in informellen Zonen der Industriegesellschaften sind Tauschund Produktionsroutinen situiert worden, die sich als marginale Ökonomien umreißen lassen. Um die Frage, wie diese oftmals prämonetären, immer aber nichtkapitalistischen Wirtschaftsformen theoretisch zu repräsentieren und zu analysieren seien, entstanden mehrfach ausgreifende Fachdiskussionen. So etwa die Debatte zwischen Modernisten und Primitivisten in den kulturwissenschaftlich orientierten Altertumswissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, angeführt von Karl Bücher und Eduard Meyer (vgl. Pearson 2000). Daran anschließend ist zudem der Richtungsstreit zwischen Substantivisten und Formalisten zu nennen, wie er die Wirtschaftsethnologie der 1950er und 1960er Jahre prägte. Er wurde von Karl Polanyi, George Dalton und Marshall Sahlins auf der einen, Raymond Firth, Melville J. Herskovits und George Foster auf der anderen Seite ausgetragen (vgl. Hann/Hart 2012). Die marginalen Ökonomien sind insofern ein selten aufgeschlagenes, aber höchst aufschlussreiches Kapitel für das Verhältnis von Kultur und Ökonomie. Die Wirtschaft kann in diesen Debatten nicht losgelöst von der Gesellschaft verhandelt werden, sondern die gegenseitige Bedingtheit der Sphären oder ihre Stellung zueinander bildet den Kern der Auseinandersetzung. Die Position der Substantivisten besteht darin, wirtschaftliche Prozesse kulturell eingebettet zu lesen, die Alterität der Tauschpraktiken in marginalen Ökonomien aufzuzeigen und in einem methodischen Weitwinkel die Wirtschaft in eine Versorgungsfunktion für die Gesellschaft zu rücken. Aus der Perspektive der Ränder wird die heutige Ökonomie so in ein neutraleres Licht gerückt. Formalisten hingegen nehmen auch vor-industrialisierte Wirtschaftsformen in den Gültigkeitsbereich des neoklassischen Marktmodells auf, was dessen Universalisierung befördert und die Besonderheiten der marginalen Ökonomien neutralisiert. Ausgetragen wird der
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Streit zudem vor dem brisanten Hintergrund maßgeblicher Weichenstellungen in der Entwicklungshilfe. In konzeptgeschichtlicher und wissenschaftshistorischer Perspektive geht es im Folgenden darum, anhand prämonetärer Tauschszenen die jeweiligen Affiliationen und Rahmungen des ökonomischen Handelns aufzuzeigen und die Formen und Strategien kulturell eingebetteter Darstellung zu bestimmen. Zunächst steht ein Verteilungsalgorithmus zur Diskussion, den Karl Polanyi für den marktlosen Handel in der mykenischen Kultur (13. Jahrhundert v. Chr.) geltend macht und an dem sich alle Charakteristika der substantivistischen Perspektive aufzeigen lassen. Sodann steht mit Raymonds Firths Feldforschungen in der polynesischen Enklave Tikopia ein formalistischer Blick auf eine prämonetäre Wirtschaftsform im Zentrum. Firth gehört, wie Polanyi, zu den frühesten und lesenswerten Debattenteilnehmern eines Streits, der Anfang der 1970er Jahre verebbte, ohne dass eine Seite zum klaren Sieger ausgerufen worden wäre (vgl. Dale 2010).1 Es zeigt sich allerdings, dass Firths Feldforschungen von einem höchst präzisen Verständnis der Kultur auf Tikopia zeugen. Er ist damit derjenige unter den Formalisten, der von der Kultur und den Produktionskontexten auf detaillierteste Art Auskunft gibt. Auffällig wird in diesem Vergleich, dass sich Substantivisten und Formalisten nicht ausschließlich in dem Ausmaß unterscheiden, in welchem sie kulturelle Faktoren aus den Modellierungen der vermeintlich unterentwickelten Welt heraushalten, sondern vor allem in der Bewertung kultureller und ökonomischer Logiken. Es wird zu zeigen sein, dass nicht die Ausblendung kultureller Details, sondern die Einblendung gesellschaftspolitischer Entwürfe den entscheidenden Streitpunkt ausmacht – auch und gerade im formalistischen Lager, wo methodische Präferenzen für abstrakte und neutrale Repräsentationsformen eine sakrosankte ökonomische Sphäre behaupten, die von Kultur nicht tingiert wird und zu dieser in keinem Verantwortungsverhältnis steht.
P RÄMONETÄRER T AUSCH UND METROLOGISCHE S ITUATION In marginalen Ökonomien, in denen Münzgeld oder doch zumindest das ›all purpose money‹ moderner Prägung zumeist nicht in Gebrauch ist, müssen andere Instanzen die Allokation von Gütern im Tauschakt gewährleisten. In Abwesenheit eines Marktes nach den Prinzipien von Preis und Nachfrage kommt oftmals der Kulturtechnik des Wiegens eine zentrale Rolle im Tauschakt zu. Die Operation des Bemessens und Zuteilens im weiteren Sinne soll hier als metrologische Situation bezeichnet werden.
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Als seltener Fall eines expliziten Anknüpfens an den Streit vgl. Graeber 2012: 29 ff.
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Eine sehr frühe solche Situation beschreibt die in Athen arbeitende Archäologin Anna Michailidou. Sie geht auf den Fund eines ovalen Steinobjektes aus dem bronzezeitlichen Kreta ein (vgl. Michailidou 2001, 2008).2 Ein eingravierter Fisch ist deutlich erkennbar, zudem einige verwitterte Zeichen der bisher nur ansatzweise entzifferten Linearschrift A. Michailidou beschreibt detailliert die Maße, Färbung, die Lage am Fundort sowie das heutige Gewicht des Steins. Nach eingehender Diskussion der sichtbaren Dimension des Objekts geht sie jedoch über die klassischen Fragestellungen der Hilfswissenschaft Metrologie hinaus, die sich auf die physikalischen Bedeutungen der Gewichte festgelegt hat. Michailidou situiert den Stein in historischen Handlungen und sozialen Ordnungen und erst über diese Rekontextualisierung, also die Berücksichtigung kultureller Kontexte, erschließt sich seine ökonomische Funktion. Anhand historischer Techniken des Fischens und in Kenntnis der Lebensformen umherziehender Fischschwärme folgert sie plausibel, dass für deren Fang eine kollektive Anstrengung notwendig war. Zudem vergleicht sie den Fund mit dem besser dokumentierten Ägypten und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Objekt aller Wahrscheinlichkeit nach um ein Steingewicht handelt, das dazu diente, den Fang nach der Landung unter den beteiligten Fischern aufzuteilen. Das metrologische Objekt, das hier an der Leerstelle operiert, die später von Markt und Geld gefüllt wird, ist zudem ein Zeugnis aus einer interessanten ersten Phase des Wiegens, die Michailidou »concrete weighting« nennt. Denn für diese Zeit ist bisher kein allgemeingültiges System von Maßeinheiten nachgewiesen. Niemand kannte und verwendete überregionale Mengenangaben und keine Autorität überwachte ihre korrekte Anwendung oder sorgte für die flächendeckende Einhaltung des Systems. Charakteristisch für die Organisation des »concrete weighting« ist es, dass nur je eine spezifische Substanz mit dem ihr zugehörigen Gewichtsobjekt vermessen wurde. Mit dem Stein aus Hagia Photia verband sich also vermutlich nur die bereits erwähnte, eng umschriebene Funktion, die erst in den Blick gerät, als Michailidou das archäologische Objekt in einem minimalen theoretischen Konfigurationsakt als soziales Dokument versteht und ihm im Kontext seiner Kultur und historischer Sozialbeziehungen eine ökonomische Funktion zurück verleiht. Zu einer metrologischen Situation wurde die entworfene Deutung des Gewichtes in dem Moment, als sich aus Fischen, Fischern und Steingewicht eine kausale Kette oder ein potentieller Ablauf ergab. Güter, anonyme Akteure, Interessen und
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Bei Ausgrabungen im bronzezeitlichen Kreta, Zypern und den Siedlungsplätzen der minoischen Kultur wurde das Objekt in Siteia in der Nähe von Hagia Photia auf Kreta gefunden. Aufgrund der Inschrift lässt es sich in die Zeit der Verwendung der Linearschrift A einordnen (MM IIA - LM IIIA) und damit auf ein Alter von annähernd 4.000 Jahren (vgl. Michailidou 2001: 21).
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Verteilungsregeln werden vor dem Hintergrund einer nicht näher bestimmten öffentlichen Lokalität in eine Prozesslogik überführt. Die Situation entfaltet sich szenisch mit mehreren Akteuren und ist in mehreren Richtungen bespielbar und entfaltbar, hierin eher der temporalen Struktur eines Modells als einer linearen Narration vergleichbar (vgl. Morgan 2004; Chadarevian 2004). Die Metrologie ist also nicht bloß eine Art Schatten der Geldgeschichte. Beschreibungen und Entwürfe der gesamten metrologischen Situation bieten vielmehr Negativabdrücke und Reflexe auf das, was hier in erster Näherung Rhetorik des Marktmodelles heißen soll. Insgesamt ist das Untersuchungsgebiet von der Textur her brüchig wie eine theoretische Endmoräne, es bildet keinen eigenen Diskurs und genau hierin liegt das Interesse. Die metrologischen Szenen führen nicht auf funktionierende Gegenentwürfe hin. Aber sie verlangsamen und pluralisieren die gängigen Repräsentationen des Marktes und helfen, ihre Bauelemente zu isolieren. Trotz der überzeugenden Arbeiten Michel Callons zur Performativität der Märkte (vgl. Callon 1998) möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich von Marktmodellen, nicht von historischen Märkten ausgehen. Die Analyseebene betrifft also diejenige Schicht selbstverständlich gewordener und wirksam popularisierter Marktmodelle, die im New Economic Criticism und insbesondere den Arbeiten David Ruccios aufgezeigt wurden (vgl. Ruccio 2008; Woodmansee/Osteen 1999). Denn nur dies ermöglicht eine Suche nach denjenigen Verschiebungen des wirtschaftswissenschaftlichen Blickfeldes, die eine Amnesie spezifisch gesellschaftlicher Interessenslagen methodisch festschreiben und die sich zu der Konstellation auswachsen, die das 20. Jahrhundert geprägt hat. Polanyis Theorem der »Einbettung« und seine Engführung von Handel und Sozialstruktur stellte für die mathematisierte Volkswirtschaftslehre keine geringe Provokation dar. Firth und Polanyi stellen die von ihnen untersuchten marginalen Ökonomien jeweils sehr bewusst in das Interesse einer methodischen Perspektive, und die beiden ausgewählten metrologischen Situationen werden nicht hinsichtlich ihrer faktischen Differenzen untersucht, sondern auf die Differenzen der Modellierung und Rahmung hin. Sie haben in theoretischen Auseinandersetzungen um den Geltungsbereich des neoklassischen Marktmodells ihre spezifische Form angenommen.
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Neben dem Indien und Dahomé der Neuzeit, neben dem vorchristlichen Mesopotamien und Athen stellt die mykenische Kultur des 13. Jahrhunderts vor Christus für Karl Polanyi ein bevorzugtes Bewährungsfeld substantivistischer Theoriebildung dar. Die Thesen, die Polanyi über die auf Kreta und in weiten Teilen des Peloponnes verbreitete Form der Palastwirtschaft entwickelt hat (vgl. Polanyi 1979
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[1957]), stießen unter Althistorikern auf weit mehr Zustimmung als beispielsweise sein Aufsatz »Der marktlose Handel zur Zeit Hammurabis«.3 Auch in der mykenischen Kultur ist kein Geld bekannt, selbst Sacheinheiten, die die Funktion des Wertstellvertreters einnehmen, wie man es von Silberbarren und Getreideeinheiten kennt, selbst die bei Homer angeführten Rinder oder Dreifüße als allgemeine Vergleichsgröße hohen Werts sind auf den überlieferten Zeugnissen der Palastarchive nicht nachweisbar. Zugleich aber belegen alle Funde unmissverständlich die Komplexität der ökonomischen Transaktionen, bei denen Güter in großem Stil aus tributpflichtigen Gegenden einzogen und gegebenenfalls gezielt an Werkstätten, Soldaten, Kinder und Frauen verteilt wurden. Es geht Polanyi um genau diejenigen Handlungsalgorithmen, welche Teilfunktionen des Münzgeldes vor dessen Einführung erfüllten. Mit Bezug auf die mykenische Kultur heißt es: »Komplexe arithmetische Ergebnisse, die im ökonomischen Bereich normalerweise durch Verrechnung in Geld erzielt werden, scheint man in der Frühgesellschaft mit Hilfe funktioneller Methoden ohne jegliche Beteiligung von Geld oder von Berechnungen durchgeführt zu haben.« (Polanyi 1979 [1957]: 406)
Dabei hielt Polanyi die Metrologie für einen wichtigen Schlüssel zu der »Entwicklung der monetären Sphäre« und forderte eine Untersuchung dessen, was er die »Dimension der Quantitäten« nannte (ebd.: 392). An anderer Stelle parallelisiert Polanyi Metrologie, Geld und Sprache als Kommunikationssysteme nach je eigenen Regeln (Polanyi 1977) – was an die Wertschätzung der Maßsysteme, Münzen und Sprache als »kulturellem Band« bei Gabriel Tarde erinnert (vgl. Tarde 1902).4 Die Eigenheit des metrologischen Systems ist bei Polanyi, dass es massegebunden ist – anders als das lautgebundene System der Sprache – und auf halbem Weg zwischen Abstraktion und realweltlicher Sichtbarkeit in den Dingen verankert wird. Zudem fehlt den Quantifizierungspraktiken ein entscheidender Freiheitsgrad, der erst über das Geld erreicht wird: die Bezifferung und abstrakte Repräsentation der Bedeutsamkeit eines Gegenstandes in einer gegebenen Situation (Polanyi 1977:
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Polanyis These der Marktlosigkeit in Mesopotamien ist zugleich Titel eines Aufsatzes, der in Ökonomie und Gesellschaft aufgenommen wurde. Für eine geneigte aber fundierte Einschätzungen der altertumswissenschaftlichen Rezeptionsgeschichte vgl. Dale 2010; Humphreys 1979; sowie als Beispiel einer mit Finley und Polanyi operierenden Lehrbuchmeinung über die ökonomischen Verhältnisse der mykenischen Kultur: Killen 2008.
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»Sans avoir la même importance que l'unification des langues dans une région donnée, l'unification des monnaies – ainsi que celle des poids et mesures – y concourt notablement à aider l'action inter-spirituelle.« (Tarde 1902: 221).
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98).5 Der Übergang der bloßen Messung zum Geld – das zugleich Preise zu repräsentieren vermag (scale of value) und ein neutral gedachtes Tauschmedium darstellt (medium of exchange)6 – vollzog sich nach Polanyi über die Zwischenstufe manuell und visuell handhabbarer »operational devices« (Polanyi 1977: 101).7 Zu diesen Hilfsapparaten, die eine wichtige Vorstufe der »Sozialmaschine Geld« bilden, zählt Polanyi vor allem Einrichtungen, die aus der Staatsverwaltung hervorgingen, wie den Abakus, die Kieselzählungssysteme (mittels unterschiedlicher Boxen konnten Verhältnisse bestimmt werden) sowie symmetrische Registrierungsverfahren oder rhythmische Verteilung. Es handelt sich um einfache operative Formate, die bei aller Neutralität jedoch tendenziell der Gesellschaft gegenüberzutreten vermögen und ihre Struktur prägen. Die monetäre Sphäre bei Polanyi lässt sich als Kreuzungspunkt beschreiben, an dem eine Hellhörigkeit für konkrete Kulturtechniken dem ältesten Verdacht der politischen Ökonomie begegnet. Dort nämlich, wo es nach Marx oder auch Sohn-Rethel mit der Einführung des symbolischen Äquivalents des Geldes auch zur Etablierung der verzerrenden, aber als neutral wahrgenommenen Wertform kommt, in die ein Ding genau dann abgleitet, wenn fluktuierende Preise zur Abstraktion von den Grundbedürfnissen zwingen und den Kaufakt zu einer Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheit machen. Polanyis theoretische Aufmerksamkeit für Situationen, die die Allokation von Gütern ohne Zuhilfenahme von Preisen oder auch nur Geld gewährleisten sowie sein daran gekoppeltes Interesse für die mykenische Kultur und ihre Verteilungsoperationen ist insofern substantivistisches Programm, als in den marginalen Ökonomien existierende Wirtschaftsstrukturen nachgewiesen werden, die sich einer Beschreibung in den Parametern des liberalistischen Marktmodells schlichtweg entziehen. Mehr noch, die Untersuchung findet nicht im Rahmen althistorischen oder ethnologischen Wissenszuwachses statt, sondern verdankt sich explizit der polemischen Absicht, die universelle Gültigkeit des Marktmodells wirksam zu begrenzen und dessen »natürlichen« Charakter durch Historisierung zu entkräften. Die mykenische Kultur war zudem durch die Entzifferung der Linearschrift B zu Polanyis Zeit soeben erst wie neu erstanden und musste sein Interesse wecken, da sie als sel-
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»Money, thus defined, resembles a metrological system in that its symbols have mostly been attached to physical objects; yet it differs from metrology as to its purpose. Though in some ways money acts as a means of measurement, that which is gauged is not how long, large, or heavy an object is, but how great its importance is to us in a definite situation.« (Polanyi 1977: 98).
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Vgl. zu den klassischen Funktionen des Geldes Hart 1986. »Operational devices necessarily appear as no more than crude substitutes for writing and reckoning, great though their importance under primitive and archaic conditions undoubtedly is.« (Polanyi 1977: 101).
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tener Fall einer Kultur gilt, die sich zwar der Schrift bediente, nicht aber zugleich auch einer Form der Währung geschweige denn des Münzgeldes (vgl. Polanyi 1979 [1957]: 406). Polanyis Ausgangsfrage ist also, wie unter diesen Umständen die Zirkulation von Gütern bewerkstelligt wurde. Auf Tontafeln aus den Verwaltungsarchiven der Paläste der mykenischen Zeit hat sich eine Liste erhalten, die die Massegüter aus sechs tributpflichtigen Bezirken registriert. Setzt man die vielen angegebenen Zahlen zueinander in numerische Verhältnisse, so erscheint eine erstaunliche Ordnung, nämlich dass die sechs Posten von Gütern in folgendem Verhältnis zueinander stehen 7:7:2:3:11/2:150. Eine ähnliche Technik belegt eine Mc-Tafel aus Knossos, hier verhalten sich die Quantitäten ungefähr wie 5:3:2:4 (vgl. ebd.: 405 f.).8 Gedeutet werden diese Ziffern als Verhältnisketten von Mengeneinheiten konkreter Güter und damit als eine bloß stoffgebundene Äquivalenz im Gegensatz zu wertbasierten Äquivalenzen. Eine 4 steht hier für eine bestimmte Sache, etwa Wolle, Korn oder Oliven in abgewogenen Quantitäten und abzählbaren Einheiten. Sie beziffert an dieser Stelle jedoch nicht den Preis des Materials, sondern Anzahlen einer Mengeneinheit im Verhältnis zu den anderen zu liefernden Gütern – der größere Ort liefert zwanzig Schafe, der kleinere sechs und von dieser Zahl hängt die zu entrichtende Menge der Hörner der Agrimi-Ziege ab, die zur Herstellung von Waffen Verwendung fanden. Die sechs abgabepflichtigen Gemeinden oder Landsitze lieferten nicht exakt die gleiche Quantität, aber Güter in identischem Verhältnis zueinander. Auffällig ist zudem die Einführung der Brüche in der Linearschrift B, wo Maßeinheiten ausgedrückt werden sollen. Polanyi deutet sie mit Bennett als Reflex einer Neuorientierung am metrologischen System Mesopotamiens, mitsamt seiner wirtschaftlichen Struktur und redistributiven Organisation (vgl. Polanyi 1979 [1957]: 408).9
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Vgl. zudem seine Hauptquelle, das Kapitel über Arithmetik in Ventris/Chadwick 1956: 118 f. sowie die Reihe der Ma-Tafeln aus Pylos, bestehend aus 18 Fundstücken (S. 289295), die Mc-Tafeln aus Knossos, die sich auf 11 belaufen (S. 301) und als einen von Polanyi nicht weiter erwähnten Bestand vergleichbarer Listen, die Es-Serie (S. 275-280).
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Bennett geht von der Beobachtung aus, dass in der Linearschrift B Brüche eingeführt wurden, um abgemessene Mengen zu indizieren. Er lehnt Erklärungen ab, die diese Neuerung auf eine simple Reform in der Ausbildung der Palastschreiber zurückführen oder auf eine Verwaltungsreform. Vielmehr macht er einen Wechsel im metrologischen System verantwortlich: »We must rather imagine that there was introduced to Knossos at the time when the Linear-B was first used, a new system of weights and measures fashioned rather after the Mesopotamien system than after the Egyptian, and that the accounting methods of Linear-A, otherwise taken over without serious change, were modified to fit the new metrical system.« (Bennett 1950: 221). Dieser Wechsel bedeutete direkte Nach-
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Zur Erläuterung, wie dieser Schriftfund plausibilisiert werden kann, führt Polanyi einige bekannte Tauschszenen an, in denen ebenfalls abstrakte Werte nicht bilanziert, sondern »gleichsam blindlings« (Polanyi 1979 [1957]: 404) durch submonetäre Instrumente gezählt werden. Es wird noch in großer Nähe zur Sichtbarkeit öffentlich quantifiziert und serialisiert: Aus indischen Dörfern ist ein Kornverteilungsmodus bekannt, bei dem in einem nach Rang und Anspruch des Empfängers bestimmten Algorithmus eine bestimmte Anzahl an fixen Mengen der jeweiligen Person zugedacht werden, bis der Kornbestand erschöpft ist (vgl. ebd.: 406).10 In dieser öffentlichen metrologischen Situation tritt die praktische, rhythmische Verteilung sichtbarer Einheiten in den Vordergrund. Aus dem Buch Hesekiel 27 zitiert Polanyi eine Vergleichspassage, in der jeder der beiden Handelspartner so lange »Ware Einheit um Einheit aus seinem Vorrat« herausgibt, bis das eine oder andere Lager leer ist (Polanyi 1979 [1957]: 407). Von der Richtigkeit und Fairness des vor seinen Augen ablaufenden Geschäfts kann sich jeder überzeugen, da nur die allgemein und dauerhaft bestimmte Quote eingehalten werden muss. Ohne abstrakten Wert, aber über die Bestimmung von Teilquantitäten wird eine Ware hier in auffälliger Nähe zur visuellen Überprüfbarkeit durch funktionelle Methoden zugemessen. Die prämonetäre Sphäre ist für Polanyi Generator und Austragungsort von Verteilungsformen, die er in funktionelle Analogie zum Marktmechanismus setzt. Die Palastwirtschaften der mykenischen Kultur gelten als Beispiel für den Wirtschaftsmodus der Redistribution. Diese beruht auf einem starken Zentrum, während der ebenfalls von Polanyi beobachtete Allokationsmodus der Reziprozität auf Symmetrie und Gleichstellung der Tauschenden etwa in der Familie oder beim Gabentausch zwischen Herrschern beruht. Diese Kategorien allerdings sind nicht ausschließlich ökonomischer Natur, sondern werden in ihren Korrelationen mit der Sozialstruktur erst ermöglicht: »Symmetrie und Zentrizität befriedigen halbwegs die Erfordernisse von Reziprozität und Redistribution, institutionelle Formen und Verhaltensweisen passen sich einander an. […] In einer solchen Gemeinschaft ist der Profitgedanke ausgeschlossen, Schachern und Feilschen sind verpönt, […] die angebliche Neigung zu Tausch, Tauschhandel und Tauschgeschäften tritt nicht in Erscheinung. Das ökonomische System stellt sich in der Praxis als Funktion der gesellschaftlichen Organisation dar.« (Polanyi 1978 [1944]: 79)
teile für den Handel mit dem Umland, in dem noch die älteren Messmethoden angewandt wurden, oder, wie Bennet schreibt, ein anderes »economic system« Gültigkeit besaß (ebd.: 222). 10 Er bezieht sich auf Hesekiel 27 sowie auf den wohl einflussreichsten Sammelband der Substantivisten, insbesondere den Artikel von Neale 1957.
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Die submonetären Verfahren erschließen bei Polanyi soziale Bindekräfte, im Gegensatz zur Verteilung unter Marktbedingungen, in der die unentwegt fluktuierenden Preise, die geschickten Vorteilsnahmen und die Prinzipien von Angebot und Nachfrage prinzipiell Agonalität stiften, gerade im Fall des klassischerweise sensibelsten Materials: des überlebenswichtigen Getreides.11 Die Verhältnisketten rein quantitativer Äquivalenz im System der redistributiven, zentralistischen Palastwirtschaften nehmen eine sozialverträglichere Konkurrenzstellung zum Marktmechanismus ein. Polanyi begegnet durch diese historische Analyse auch den auf Herbert Spencer und Adam Smith zurückgeführten Tendenzen einer ursprünglichen anthropologischen Verankerung des Markttausches samt seines Gewinnstrebens in den nicht hinterfragbaren Bereichen des ersten Ursprungs.12 Er unterbricht diese zu einfache Genealogie der Wirtschaft und opponiert der Autorität eines wirtschaftsliberalistischen Gründungsaktes, der mit der Natur des Menschen argumentiert. Seine Wirtschaftsgeschichte operiert sogar vorwiegend auf der Ebene von Gründungsansprüchen und Gründungserzählungen, wie sie Friedrich Balke für die politische Theorie beschrieben hat (vg. Balke 2011). Denn es bedeutet den raffiniertesten Schachzug der Polanyi’schen historischen Wirtschaftstheorie, dass die Untersuchungsszene des klassischen Marktmodells nicht ganz verlassen oder ersetzt, sondern durch Alternativen wie von innen heraus entkräftet wird. Der Kauf unter Marktbedingungen wird bei Polanyi durch Redistribution und Reziprozität flankiert (vgl. Polanyi 1978 [1944], 1979).13 Wenn auch diese in großer Nachbarschaft zur Tauschszene des Marktes entwickelten Modelle ihm den immer wieder formulierten Einwand einbrachten, die Produktionssphäre zu vernachlässigen, so bezog doch das Projekt andererseits genau durch diese mimetische Nähe zum Marktmodell sein kritisches Potential. Polanyis theoretische Handlung modifiziert das neoklassische Modell und unterwirft es mehrfachen Modifikationen. Diese lassen sich als unterschiedliche Strategien der Einbettung beschreiben, dem Konzept Polanyis, das sich wohl der regsten, wenn auch ambivalentesten Rezeption erfreut hat.
11 Vgl. zu den konkreten Handgriffen und Sitten des Kornverkaufs Kula 1986; Thompson 1971. 12 »Im Übrigen waren Adam Smiths Behauptungen bezüglich der wirtschaftlichen Psychologie des Frühmenschen ebenso falsch wie Rousseaus Auffassungen über die politische Psychologie der Naturmenschen.« (Polanyi 1978 [1944]: 72). Auch dem Urkommunismus wird eine Absage erteilt (ebd.: 73). 13 In frühen Publikationen kam Haushaltung als vierte Kategorie neben Markt, Reziprozität und Redistribution vor: Polanyi 1978 [1944]: 71-87; ausgeführt werden die Tauschmodi an zahlreichen Stellen, maßgeblich in dem Artikel: Polanyi 1979: 219-244.
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Ausgehend von der Verteilungssituation in der mykenischen Kultur lassen sich drei Formen der Einbettung und damit der Verschaltung von Ökonomie und Kultur ausmachen, die ich als historische, domestizierende und methodische Einbettung fassen möchte. (1) Zunächst werden die Verteilungs-Algorithmen und submonetären Instrumente der mykenischen Zeit als eine historische Tatsache gesetzt. Das unumstößliche Faktum anders organisierter Tauschpraktiken in archaischen, aber auch nichtindustrialisierten Gesellschaften begrenzt den Territorialanspruch des klassischen Marktmodells und verhindert dessen Naturalisierung. Die Einbettung liegt hier in der Eigenheit redistributiver Zirkulationsmodi begründet, soziale Bindungskräfte zu mobilisieren. Für diesen unauflöslichen Zusammenhang, nach dem Tauschformen nur in der vorgängigen Struktur von Symmetrie, Zentrizität und Markt praktikabel sind, nennt Polanyi Richard Thurnwald und Bronislaw Malinowski als Referenzen. Auch Gareth Dale hat in seiner Analyse der Vorläufer des Einbettungskonzepts diese ethnologischen Arbeiten hervorgehoben (vgl. Dale 2011: 316 f.). Allerdings fällt Polanyis Beschreibung der Einbettung historisch mobiler und säkularer aus als die Bindungskräfte des fait social total bei Marcel Mauss, bei dem der Tauschakt mit dichten religiösen, magischen und juristischen Verpflichtungen in eins fällt und die Verwobenheit der Handlungsebenen das zentrale Charakteristikum bildet. Polanyi konzediert demgegenüber an einer Stelle explizit, sexuelle und territoriale Ordnung sowie Sitte, Gesetz, Magie und Religion beiseitegelassen zu haben, »da wir nur aufzeigen wollten, wie sich sogenannte ökonomische Motivationen in Wirklichkeit aus gesellschaftlichen Zusammenhängen entwickeln«. (Polanyi 1978 [1944]: 76) (2) Von dieser Mikrokonstellation in marginalen Ökonomien zu unterscheiden ist eine zweite Form der Einbettung, die von einer grundsätzlich verlorenen domestizierenden Funktion der Kultur ausgeht. Hier setzt die liberalismus- und faschismuskritische These Polanyis an: Sie besagt, dass im 19. Jahrhundert die kulturellen Codes ausgehebelt wurden, die die Sprengkraft des Marktes noch lange nach seiner Einführung einzudämmen vermochten. Aus der Entbettung jedoch und der subsequenten Dominanz der Marktbedingungen resultieren der soziale Zerfall und die gesellschaftlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Der Appell der domestizierenden Einbettung ist nicht die Wiederherstellung historischer Verbindlichkeiten, sondern die Zurückdrängung der Marktideologie und damit ein fundamental politischer, der die auch durch methodische Filter installierte Unabhängigkeit der Sphären von Kultur und Ökonomie negiert und die Gesellschaft vielmehr als Opfer der Ökonomie setzt. (3) Die Verteilungsketten der mykenischen Zeit werden bei Polanyi schließlich drittens aus einem Blickwinkel betrachtet, der nicht nur historisch und politisch, sondern auch auf Ebene der methodischen Zugriffe einen Perspektivwechsel be-
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werkstelligt. Der klassischen ökonomischen Theorie wird von Polanyi vorgehalten, dass sie »eine Art von künstlicher Landschaft« (Polanyi 1979: 228) entwerfe.14 Er selbst will das Transaktionsmodell anreichern und nimmt dabei auffallend häufig einen Blick ein, der sich als Heuristik der Situation beschreiben ließe und die Akteure, Objekte und Bewegungen sowie die Möglichkeit ihrer historischen Alterität umfasst (vgl. ebd.: 223).15 Die Hintergrundfolie der Ökonomie wird also als ein sozialer Raum konturiert, in dem die Güterzirkulation als »Integrationsmuster« oder »Integrationsform« wirksam ist (ebd.: 219, 224), wobei Polanyi hier Institutionen, nicht Mentalitäten und Moralitäten am Werk sieht. Sein Institutionenbegriff setzt sich aus der Direktion von Begehren durch objektive Gegebenheiten zusammen und muss als eine theoretische Verstrickung des Subjekts in die Zeitumstände gelesen werden. Diese zu jeder Zeit und an jedem Ort gültige methodische Einbettung ist seit Marc Granovetters einflussreichem Aufsatz zu einem wichtigen Baustein der Economic Sociology und insbesondere der New Institutional Economics avanciert (vgl. Granovetter 1985, hier S. 485, ders. 2004). Allerdings ist das Konzept in der Folge zu einer Floskel beliebiger mesosoziologischer Zugriffe und stereotyper Netzwerkanalysen verflacht, ein Prozess, den Jens Beckert treffend als »transformation of embeddedness« (Beckert 2007) in dieser Rezeptionslinie kritisiert hat. Polanyi ist mithin als Autor einer doppelten und ineinander verzahnten Skalierung zu betrachten: Wirtschaft wird nicht länger von der Kultur isoliert betrachtet. Dieser methodische Weitwinkel geht aber mit einer Umbesetzung der normativen Obertöne des Marktmodells einher, die im Streit um die konnotative Lufthoheit in Opposition zu den Formalisten entstand.
14 »Dies führt natürlich dazu, daß man Märkte sieht, wo keine sind, und Handel und Geld dort ignoriert, wo sie vorhanden sind, nur weil es keine Märkte gibt. Der kumulative Effekt dessen muß zur Erfindung des Stereotyps der Ökonomien ferner Zeiten und Gegenden führen, einer Art von künstlicher Landschaft, die nur wenig oder überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Original hat.« (Polanyi 1979: 228). 15 Über ethnologische Studien heißt es: »[I]n ihrem jeweiligen Wirkungskreis werden durch die Bildung freiwilliger und halbfreiwilliger Zusammenschlüsse militärischen, beruflichen, religiösen oder gesellschaftlichen Charakters Situationen geschaffen, in denen es, zumindest zeitweise oder hinsichtlich einer gegebenen Örtlichkeit oder einer typischen Situation, zur Herausbildung symmetrischer Gruppierungen kommt, deren Mitglieder eine Art von Gegenseitigkeit praktizieren.« (Ebd.: 223) Über den Geschenkeaustausch auf den Trobriand Inseln schreibt er: »[K]eine andere Begründung der Zweiseitigkeit hätte den Erfordernissen der Situation so entsprochen.« (Ebd.: 234) »Die Definitionen der verschiedenen Verwendungsweisen von Geld enthalten zwei Kriterien: die gesellschaftlich bestimmte Situation, in der die Verwendung entsteht, und der Vorgang, der in dieser Situation mittels der als Geld verwendeten Gegenstände vollzogen wird.« (Ebd.: 237).
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Raymond Firth, der 1944 Malinowskis Lehrstuhl an der London School of Economics übernahm, ist mit Studien über die Wirtschaft in nicht-monetären Gesellschaften hervorgetreten.16 Es ist für seine verhalten oder vielleicht sogar verdeckt formalistische Position aufschlussreich zu sehen, wie eigene Beobachtungen und Kommentare seines Informanden Pa Ranifuri einem Prozess unterzogen werden, der wie eine Übersetzungsübung wirkt. Denn Firth überführt die beobachtete ökonomische Kultur mit chirurgischer Sorgfalt und bestechendem Augenmaß in ein ökonomisches Vokabular, in welchem »scarcity«, »rational choice«, Innovation, Unternehmertum auch für entlegene und hochgradig heterogene Wirtschaftsformen behauptet werden. Dies leistet dem im Lager der Formalisten erwünschten Effekt der unterschiedslosen Behauptung und Universalisierung ihrer Marktauffassung Vorschub. Die Tikopia, eine vom Fischfang lebende Gesellschaft auf einer Insel im SüdWest-Pazifik, unterscheiden zwischen schweren und leichten Gütern und Dienstleistungen, wobei der Anwendungskontext der gewichtigen Produkte vorwiegend rituell bestimmt ist. Die Instrumente Kauf, Preis und Geld sind nicht bekannt, und es kommen von daher andere Modi zum Tragen. Benötigt ein Tikopia eine Vorrichtung zum Reiben von Kokosnüssen, so geht er mit einem Korb präparierter Speisen zu einem Nachbarn und kann auf diese Art das Werkzeug über den Modus des »forced exchange« erlangen, da eine Rückkehr mit den Lebensmitteln sofort öffentlich wahrgenommen würde und für den unfreigiebigen Nachbarn eine deutliche Statuseinbuße nach sich zöge (Firth 2004 [1939]: 316). Dieser hat jedoch das ungeschriebene Recht auf eine spätere Gegenleistung. Neben den auf solche Art »erzwungenen« Transaktionen beobachtet Firth zudem extensives Leihen, Unterschlagungen und Diebstahl als Möglichkeiten der Akquise. Letztendlich zirkuliert allerdings das Gros der wertvollen Gegenstände im »ceremonial exchange« anlässlich von Initiationen, Begräbnissen und Hochzeiten. Dabei unterliegen die Produkte Äquivalenzverboten: Eine Holzschale kann gegen eine Garnsträhne aus einheimischen Fasern den Besitzer wechseln, nicht aber gegen ein Kanu oder gegen einen Haken für den Haifischfang, der als wertvollster Gegenstand der Inselgesellschaft fast exklusiv den Häuptlingen vorbehalten ist: »It is impossible for example to express the value of a bonito-hook in terms of a quantity of food, since no such exchange is ever made and would be regarded by the Tikopia as fantastic.« (Ebd.: 340) Hier zeichnet sich eine doppelte Limitation ab, die kulturell codiert ist: Güter können nicht frei zirkulieren, sondern nur in einer von drei mögli-
16 Firths Arbeiten zu den Tikopia beruhen auf einer 12-monatigen Feldstudie 1928/29. Von seiner Frau begleitet kehrte er mehrfach auf die Insel zurück. Die Analyse geht vor allem aus von: Firth 2004 [1939] und Firth 1967.
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chen »spheres of exchange«. Der Markt ist von Äquivalenzverboten begrenzt und in sich strukturiert. Zusätzlich aber konstatiert Firth eine schwer zu fassende psychologische Barriere, nämlich dass niemand unter den Fischern sich in der technisch wenig aufwändigen Herstellung der Haken engagiert und das wertvollste Objekt der Inselökonomie in größeren Mengen produziert. Der Markt ist so in seinem Gesamtwachstum eingeschränkt. Dass der Impuls zur Akkumulation nicht besteht, dass die Mechanik von Nachfrage und Angebot ausgerenkt zu sein scheint, bringt Firth mit gesellschaftlichen Strukturen in Verbindung, die die Interessen der Akteure divergierend kanalisieren.17 Entscheidend an dieser Passage ist, dass das Interesse an ökonomischem Vorteil damit konzeptuell nicht negiert wird. Diese beiden ausgewiesenen Ränder des Marktes werden von Firth jedoch durch eine genaue Lektüre der metrologischen Situation an das neoklassische Marktmodell angeschlossen. An dem Bemessungsmechanismus, der in dieser Gesellschaft die Zirkulation der Güter reguliert, betont Firth zunächst die klar hierarchische Struktur. An Stelle des Preises tritt ein fixiertes Wissen um die Sphären und Skalen des Tausches, die er als »ranking system«, »scale of comparative utilities« oder »discrete scales of value« anspricht (Firth 2004 [1939]: 337, 336).18 Diese traditionellen Vorstellungen regulieren den Wert eines Objektes und binden das Verhalten im Modus der Reziprozität, was auch einer der wichtigsten Beiträge zur substantivistischen Wirtschaftsanthropologie herausgestellt hatte (vgl. Bohannan/Bohannan 1968; Barth 1967). Neu bei Firth ist jedoch das Taxieren innerhalb der »spheres of exchange«. So beschrieben, kann das Instrument der Skala Allokation erklären und es kann dies ohne die konzeptuelle Beimischung von Großzügigkeit, Kooperation, Gerechtigkeit oder Gemeinsinn – die der Reziprozität üblicherweise beigelegt werden, was Firth etwa am Konzept der Gabe bei Marcel Mauss einer sardonischen Kritik unterzieht.
17 »I have always thought it remarkable that the Tikopia do not make more bonito-hooks. The question why some sharp individuals do not accumulate a stock for trading purposes and why all men do not put in more labour in the production of them is difficult to answer. It seems that the attitude of the Tikopia in this is governed by other factors than those mentioned. Supply does not necessarily respond to demand because of indifference which is the result of attitudes towards time, labour, and material objects which themselves are part of a wider scheme of social values – indeed, almost of a philosophy of life. There is in Tikopia a lack of stimulus to ultimate acquisition; they have other channels for the expression of their interests. For this reason they divorce the values of their endproducts from the values of the labour and material involved in the production itself.« (Firth 2004 [1939]: 342). 18 Er konzediert aber auch: »[…] scale, this means a substantial rather than formal term.« (Firth 2004 [1939]: 337).
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Er kommt insgesamt nicht umhin, in Primitive Polynesian Economy zu konzedieren, dass die Transaktionen auf Tikopia vorwiegend der Kategorie der Reziprozität geschuldet sind, die er, wie Karl Polanyi, auf Richard Thurnwald, Marcel Mauss und Bronislaw Malinowski zurückführt (Firth 2004 [1939]: 348).19 Er betont zudem, dass auch in einer formalen Theorie auf der Basis freier und rationaler Entscheidungen zwischen Mitteln und Zwecken in den untersuchten Kulturen zusätzliche Postulate eingeführt werden müssen, und nennt diese explizit »human behaviour in defined cultural situations« (ebd.: 359). Diese Rahmenbedingungen der ökonomischen Transaktionen jedoch hindern Firth nicht daran, die Dinge im Sinne der subjektiven Wertlehre aufzufassen, die unterschiedliche Wertebenen zur Geltung bringt, beispielsweise die Kategorie der Zeit selbst als eine solche Qualität erscheinen lässt.20 Über das Prinzip der Reziprozität heißt es: »In the economic sphere, it supplies the long-period view which is necessary to the working of the conventional exchange rate. This rate is by implication not for the immediate individual transaction alone, but for an infinite series of transactions in which the idea of reciprocity is embedded.« (Ebd.: 348)
Die ökonomische Handlung operiert also in einem ihr eigenen Zeitrahmen, der neben der Langzeitbeziehung auch die Bekanntschaft der Akteure voraussetzt.
19 »But they do not mean simply an automatic conformity to an arbitrary rule of custom, once established, and followed insensately; they fluctuate according to specific conditions, and their efficacy is linked essentially with the concept of reciprocity. This principle, which has been shown by Thurnwald, Malinowski, Mauss, and Maunier to be extremely important in primitive societies, is one of the foundations of Tikopia social relationships.« (Firth 2004 [1939]: 348). 20 Neben den »spheres of exchange« denkt Firth einen zweiten metrologischen Mechanismus an: Weniger ausgearbeitet aber vielversprechend sind seine Überlegungen zur Lebenszeit als ökonomischer Vergleichsgröße unter nichtmonetären Bedingungen. Diesen alternativen Allokationsmechanismus, der gelebte Zeit oder gearbeitete Zeit in ein Verhältnis zu dem in Frage stehenden Tauschobjekt oder einer Dienstleistung setzt, will er auf die wirtschaftsethnologischen Arbeiten Richard Frank Salisburys (Salisbury 1962) und Cyril Belshaws (Belshaw 1965) bezogen wissen, nicht auf Marx Betonung der Produktion als einziger wertschöpfender Instanz. »While in a general way time spent can be regarded as a measure of real cost, this still touches only part of the attribution of value. The concept can be linked, of course, […] with Karl Marx’ view of the labour-cost theory of value. […] But it must be made clear that labour – or labour-time – as a measure of cost is very different from labour or labour-time as a measure of value.« (Firth 1967: 21).
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Ausgerechnet durch den Hinweis auf die Einbettung, also die Handlungskontexte der Reziprozität, zeigt Firth einen Weg auf, diese Transaktionen als Kalkül zu verstehen. So wird beispielsweise eine durch Trauerriten bedingte, aber ökonomisch wenig sinnvolle Zurückhaltung von Schiffsbaukundigen, die Firth bezeugt, durch Zuhilfenahme einer zweiten Ebene der Vorteilsnahme zu einem eigenen Typus von Werten erklärt: »the value of securing and maintaining social co-operation.« (Ebd.: 331) Die soziale Bindung erscheint Firths ökonomisch geschultem Blick einerseits als rituelle Verpflichtung, andererseits als eine Form des Speichers von zukünftigem materiellem Gewinn beziehungsweise der Sicherung des Lebensunterhaltes. Das dichte Netz aus Verpflichtung und Verantwortung, die »complex social obligations«, erscheinen so in anderem Licht: »But these may be considered as part of a rational economic choice, if a preference for other types of advantage or satisfaction that the mere increase of wealth be regarded as legitimate.« (Ebd.) Die Basis dieser Mischkalkulation aus materiellen und symbolischen Gewinnen wird nicht aus der divergierenden Natur oder Moralität der Tikopia heraus erklärt, sondern aus einer divergierenden Temporalität und Räumlichkeit der Nahbeziehung, die durch die Geographie vorgegeben ist. Zwar arbeitet Firth diesen Rückhalt nicht systematisch aus. Überall dort aber, wo die vermutete lange Dauer eine Art Letztbegründung vielgestaltiger Sozialbeziehungen liefert, ist diese theoretische Raumzeitlichkeit implizit präsent. Firth konzediert an anderer Stelle spiegelbildlich, dass das Marktmodell den Tauschpartner von den Interessen des Anderen entbindet. Neben den realen Marktplätzen nennt er den Gesamtmarkt der Güter und Dienstleistungen als einen Ort, an dem diese Reduktion des Tauschpartners auf eine punktuelle Raumzeit vor sich geht, und leitet daraus die gängige Marktdefinition ab: »Springing from this, however, is the use of the concept in still another sense, implying the allocation of resources by reference to impersonal criteria which disregard personal ties and social ends in favour of an immediate maximization principle of profit-making.« (Firth 1967: 5)
Dem Marktmodell eingeschrieben ist mithin die Zeit der Fremdbegegnung, die von den Folgen des Tauschs für die Gegenseite abstrahiert und damit gesellschaftliche Beziehung und mögliche Bindung bereits auf konzeptueller Ebene ausblendet. Firth kommt es umgekehrt darauf an, auch für die Tauschprozesse, die im Bewusstsein langer Kooperation stehen, in die also eine kollektive Mengenlehre eingeschrieben ist, individualistische Perspektiven zu behaupten: »They are asserted not to have a ›market mentality‹ or not to have the kinds of institution which allow individuals to operate in this way even if they wished. I think some confusion can easily arise here. Evidence of gross difference between primitive, peasant, and industrial
52 | A NNA ECHTERHÖLTER economic systems is obvious. But absence of general markets for goods and services for all kinds and the lack of impersonal market relationships does not mean the lack of any concept of economic advantage.« (Ebd.)
An Stellen wie diesen zeichnet sich deutlich ab, weshalb Firth dem Lager der Formalisten zuzurechnen ist. Ausgerechnet die wichtigsten Verankerungspunkte der substantivistischen Position – kulturell eingebettete Strukturen, die »spheres of exchange«, Tauschmodi wie Redistribution und Reziprozität – schließt er unablässig an Marktprinzipien an. Hervorzuheben ist zudem seine Bewertung der sozialen Bedingtheiten, denen bei ihm durchaus nicht der unverbrüchliche Kredit humanerer Verhältnisse zukommt. Die dichte kulturelle Einbettung der Transaktionen wird wie von innen als erdrückende und negative Atmosphäre beschrieben. Die Akteure können sich dem Regelkonformismus nicht ganz entziehen, dennoch sieht er sie stets geneigt, durch Ausflüchte und Vermeidungsstrategien ihren eigenen Vorteil zu sichern. Kultur bleibt ein Hindernis: Er spricht von »dictates of tradition which impose irksom self-denial.« (Firth 2004 [1939]: 361) Dichte Traditionen rücken in den Bereich möglicher Ursachen für wirtschaftliche Rückständigkeit.21 Der unternehmerische Einzelakteur sieht sich empfindlich limitiert, doch eines kann man ihm bei Firth nicht vorwerfen: »automatic conformity to an arbitrary rule of custom, once established, and followed insensatly.« (Ebd.: 348) Innerhalb des durch Sanktionen abgesicherten ökonomischen Korsetts der Kultur kann nach eigenem Ermessen taktiert werden und dies durchaus in Abhängigkeit von den vorhandenen Mitteln und mit Aussicht auf Profite oder »super-economic advantages« wie soziale Bindungen, Statusgewinne und Freiheit von übler Nachrede. (Ebd.: 349) Profitorientierung ist innerhalb der kulturellen Regeln genau da möglich, wo in der kurzfristig analysierten Situation Vorteilsnahmen und Einschätzungen der Lage eine Rolle spielen. Was Firth hier vornimmt, ließe sich wiederum als eine Relektüre der Reziprozität ansprechen. Wo Polanyi moralisch verwerfliche Agonalität in der Markttransaktion lokalisiert hatte, interpretiert Firth die Einbettung als eine Umklammerung durch Gebote, der allerdings nirgends ohne Sinn und Verstand einfach Folge geleistet wird. Den Substantivisten wirft er vor, dass die Freiräume von Entscheidung und Wahl in ihren Modellen zugunsten eines Gesetzesgehorsams heruntergespielt
21 Dass Notlagen in den Ländern des Globalen Südens umgekehrt durch die gezielte Unterminierung bestehender kultureller und traditioneller Sicherungssysteme seitens der liberalistische Ideologie der Kolonialmächte oder durch Versagen des kulturellen Zusammenhaltes erklärt werden können, liegt auf der Hand (vgl. Davis 2004; Douglas 2004).
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würden,22 und fordert demgegenüber »acceptance of the view that the logic of scarcity is operative over the whole range of economic phenomena, and that, however deep and complex may be the influence of social factors, the notions of economy and of economizing are not basically separate.« (Firth 1967: 4, Herv. i. Orig.) Neben der kulturstiftenden Bedeutung des freien, selbstverantwortlichen Unternehmers führt Firth die Kategorie des Mangels stets mit, die mit Lionel Robbins in die maßgebliche Definition des Marktes aufgenommen wurde: »Economics is a science which studies human behavior as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses.« (Robbins 1932: 16; Backhouse/Medemaz 2009) Die sukzessive Durchsetzung dieser Definition zur Dominanzstellung in den 1960er Jahren stellen Roger Backhouse und Steve G. Medemaz anhand einer Reihe von Lehrbuchdefinitionen vor. Sie skizzieren die gleichzeitige Abnahme der soziographischen Kompetenzen der Ökonomie und den vermeintlichen Gewinn an Operativität durch Mathematisierung, Ausblendung kultureller Kontexte sowie eine Offenheit für die Aufnahme der rational-choice-Ansätze. Wenn Firth einigen Wirtschaftsethnologen also vorwirft, die Grundkategorie der »scarcity« außer Acht zu lassen, so unterstreicht er unmissverständlich die individualistische Logik der ökonomischen Theorie, der es entspricht, sich eine Lebensgrundlage auf Kosten der anderen erwirtschaften zu dürfen, da ein immer existenziell grundierter Mangel spürbar ist. Diese Passage ist insofern bemerkenswert, als die entscheidenden Obertöne des Konzeptes einen womöglich sogar lebensbedrohlichen Versorgungsengpass nahelegen, der egoistisches Taktieren legitimiert. In die heuristische Fassung der ökonomischen Bedingungen eingelassen findet sich also nicht nur im Falle der Reziprozität oder Redistribution eine normative Agenda, wie etwa Irene van Staveren herausgearbeitet hat (Staveren 2001), sondern der Markttausch steht und fällt mit der Verteidigung individueller unternehmerischer Freiheit. Obwohl Firth die marginalen Ökonomien kulturell kontextualisiert beschreibt, so verteidigt und behauptet er dennoch einen Kern des Marktmodells: die Wahlfreiheit angesichts knapper Ressourcen. Diese wird weltweit und restlos nachgewiesen, selbst die Ränder ökonomischer Organisationen sind ihr neutraler Nährboden, wodurch die Konzeption universalisiert und naturalisiert erscheint. Mit Rücksicht
22 »There is in social anthropology an understandable view that it is the social relation which is primary, which dictates the content and form of the transaction. When this view is pushed to its extreme, notions of choice and decision among alternatives are played down and conformity to social pattern is regarded as paramount. So significant are deemed to be the socially received ideas about the nature and use of goods and services that it is asserted that the notion of scarcity can be dispensed with as an analytical concept.« (Firth 1967: 4).
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auf den Umstand, dass Firth die Ethnologie und die nicht-europäischen Gesellschaften auf Augenhöhe mit der Ökonomie bringen wollte und für seine junge Disziplin innerhalb der London School of Economics wissenschaftspolitisch agierte, bleibt im Vergleich doch unübersehbar, wie tendenziös seine vermeintlich rein sachlich konfigurierte Wirtschaftsanalyse ist. Firth wie Polanyi verstehen es meisterhaft, die metrologischen Tauschakte im Sinne weitergehender gesellschaftspolitischer Forderungen umzukuratieren. Wichtigstes Werkzeug ist hierbei die methodische Geographie, die entweder auf interessensgesteuerte Individuen oder auf situierte Kollektive ausgelegt ist, die mehr oder weniger Bindung, größere oder kleinere Zeitfenster präjudiziert. Polanyi behauptet als Substantivist die Eigenständigkeit und Alterität marginaler Ökonomien. Die für die Wiener Grenznutzenschule typische Kalkülisierung auch des symbolischen Bereichs im Sinne einer subjektivistischen Wertlehre lehnt er ab und stellt durch mehrfaches Nachjustieren des theoretischen Ausschnitts neue ökonomische Prinzipien her, die im Sinne seiner Kapitalismuskritik als neutrales ökonomisches Terrain gelten können. Der Markt hingegen verliert durch beständige Verschaltung mit den kulturellen Kontexten den Status einer politisch neutralen Entität. Firth hingegen gelingt es, selbst in den nichtmonetären Tausch die Grundprinzipien der Marktdefinition einzutragen, die hierdurch grenzenlos durchgesetzt werden und weder Randgebiete noch Grauzonen zulassen. Bedingt durch kulturelle Zusatzbedingungen kann es lediglich sein, dass die raumzeitlichen Gegebenheiten in nicht-industrialisierten Gesellschaften die gebotene Fremdheit und Relationslosigkeit der entwickelten Ökonomie verhindern. Die neutralisierte Sozialität unter Marktbedingungen entspricht hingegen denjenigen Dynamiken des ökonomischen Diskurses, die Joseph Vogl »dunkle Entelechie« genannt hat (Vogl 2010/11: 121 f.). In seinen von Aristoteles ausgehenden Überlegungen bezeichnet er so die Wirksamkeit der Chrematistik, als dem sich lossagenden, künstlich zeugenden, entgrenzenden, von Bindungen lösenden Prinzip.
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N EUTRALISIERUNG
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Rhythmen (in) der Ökonomie Kulturanalytische Schlaglichter auf eine Denk- und Praxisfigur S ONJA W INDMÜLLER
1. R HYTHMEN ALS P HÄNOMEN DER W IRTSCHAFT /- STHEORIE Im fünften Heft des Jahrgangs 1990 veröffentlichte die Frauenzeitschrift »Brigitte« einen Cartoon der Illustratorin Jutta Bauer mit dem Titel »Kurvenreich« (Abb. 1). Die mehrteilige Bildserie zeigt eine junge Frau in bequemer Kleidung, mit mühsam gebändigten Haaren und einem Säugling im Tragetuch vor einem Kurvendiagramm, das nach Wochentagen strukturiert acht Linien aufweist: darunter – so die der Frau in den Mund gelegte Legende – der eigene Biorhythmus (rot), die Kinder (blau, gelb, türkis), der »Rhythmus, in dem meine Mutter anruft« (grün), der »Ausgehrhythmus von Struppi« (braun), der »Arbeitsrhythmus meines Mannes« (grau) sowie »mein Dienstplan« (lila). Thematisiert der Cartoon zunächst den – so wohl die Aussage – anspruchsvollen, mit Aufgaben und Verpflichtungen gefüllten, ja überfüllten Alltag der modernen Frau im Spannungsfeld von Familie und Beruf, Planungen, Erwartungen und äußeren Einflüssen, so weist er doch auch darüber hinaus. Der Cartoon zeichnet – und diese Spur soll in den folgenden Ausführungen aufgenommen werden – zugleich direkte wie metaphorische Bilder des Ökonomischen. Nicht nur spielt er mit einer aus dem medialen Diskurs vertrauten Analogisierung von privater Haushaltsführung und betrieblichem Management, die eineinhalb Jahrzehnte später über eine Werbekampagne noch weiter popularisiert werden wird (»Ich führe ein sehr erfolgreiches kleines Familienunternehmen«; Kampagne des Staubsaugerherstellers Vorwerk, 2006).
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Abbildung 1: Jutta Bauer: »Kurvenreich«
Quelle: Brigitte 5/1990, S. 258; Orig. in Farbe.
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Mit der leitmotivisch den Bildhintergrund dominierenden Graphik, einer überdimensionierten Kurve, wird zugleich ein »potentes Symbol«1 der Betriebs- wie Volkswirtschaft/-slehre in Szene gesetzt. Auf der Textebene des Cartoons korrespondiert die Kurve mit dem augenfällig dominanten Begriff des Rhythmus, der ein breites semantisches Feld aufspannt, in dem ökonomische Ordnungen (hier die Strukturierung der Arbeit) mit biologischen Konzepten und alltagsweltlichen Routinen verwoben werden. Der Rhythmus beziehungsweise das Rhythmische (in) der Ökonomie soll im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Es geht mit ihm um eine Denkund Praxisfigur, die Konzepte und Theoriebildungen, Materialisierungen und Performativitäten (nicht nur) des Ökonomischen durchwirkt und dabei in einer eigentümlichen Selbstverständlichkeit, weitgehend unhinterfragt und auffällig positiv besetzt, jedoch keineswegs naiv, sondern durchaus interessengeleitet in Erscheinung tritt. Dieser Beobachtung soll anhand ausgewählter Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen der Wirtschaft/-stheoriebildung nachgegangen werden, für die Vorstellungen rhythmischer Modulation und Organisation geradezu als Leitkonzept identifiziert werden können. Exemplarisch soll an ihnen der Frage nachgespürt werden, wie Wirtschaft/-stheoriebildung im Rückgriff auf Rhythmusmodelle organisiert ist, wo und wie Rhythmusmodelle Eingang in die Wirtschaft/-stheoriebildung finden, wie sie kontextualisiert werden, welche diskursiven Effekte – im weiten Sinne – und welche Praxisformen mit ihnen verbunden sind und wie sie nicht zuletzt auch in andere gesellschaftliche Bereiche zurückwirken.2 Der für dieses Unterfangen gewählte Zugang ist ein historischer, mit Schwerpunkt auf dem ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert. Damit ist ein Zeitschnitt gewählt, in dem sich die Volkswirtschaftslehre in Deutschland professionalisierte und als eigenständige Disziplin institutionalisierte (vgl. u.a. Beckmann 2000: 24 f.), in dem sich aber zugleich die das Fach heute prägende »große Einheitlichkeit« (Köster 2011: 307) noch nicht herausgebildet hatte. So stellt etwa Roman Köster noch für die deutsche Nationalökonomie der 1920er Jahre ein »Nebeneinander verschiedenster Schulen und Richtungen« fest, »die sich untereinander be-
1
Birgit Schneider spricht im Hinblick auf von ihr untersuchte Kurven zur Darstellung des Klimawandels vom diesen Kurven zugewiesenen »Status von potenten Symbolen« (Schneider 2009: 44). Zur Popularität der Wirtschaftskurve vgl. Tanner (2002).
2
Damit unterscheidet sich der Zugang von der in jüngerer Zeit erfolgreich in der sozialund kulturwissenschaftlichen Wirtschaftsforschung etablierten Metaphernanalyse, ohne jedoch den metaphorischen Gehalt des Rhythmusbegriffs marginalisieren zu wollen. Ganz im Gegenteil ist es gerade der Begriff in seinen metaphorischen Qualitäten, der das analytische Feld profiliert.
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kämpften und zwischen denen eine Vermittlung allem Anschein nach nicht möglich war.« (Ebd.: 307 f.) Gerade diese Pluralität konkurrierender Ansätze eröffnet so einen (wirtschafts-)kulturanalytischen Zugang zur Gewordenheit des später Selbstverständlichen.3 Darüberhinaus werden aber auch an einigen Stellen Verlängerungen in die Gegenwart vorgenommen. Die ausgewählten Beispiele entstammen verschiedenen Diskursfeldern der Wirtschaft beziehungsweise Wirtschaftswissenschaft, die zunächst getrennt voneinander existieren, durchaus aber in der skizzierten analytischen Absicht erkenntnisleitend aufeinander bezogen werden können. Mein Vorgehen ist – wie im Untertitel angekündigt – schlaglichtartig; der Beitrag gliedert sich in drei Anläufe: der erste gilt dem Feld der ökonomischen Arbeitsforschung, insbesondere den Studien des Nationalökonomen Karl Bücher, und den hier zu beobachtenden Semantiken und (diskursiven) Funktionen des Rhythmus-Begriffs. Eine zweite Perspektivierung richtet sich auf die Rhythmen der Wirtschafts- beziehungsweise Konjunkturzyklen und damit auf einen Zweig der Wirtschaftsforschung, der sich im betrachteten Zeitraum zu einem zentralen ökonomischen Feld entwickelte. Ein dritter Anlauf schließlich rückt am Beispiel des Börsentickers – vielleicht des ökonomischen Rhythmus-›Geräts‹ par excellence – die Materialisierungen, die Instrumente und Hilfsmittel wirtschaftlicher Praxis und Theoriebildung ins analytische Blickfeld – und mit ihnen auch noch einmal anders gewendet die performative und nicht zuletzt die sinnlich-physische Dimension ökonomischer Prozesse und ihrer Theoretisierungen.
2. ARBEITSRHYTHMEN – Z UR PHYSISCHEN O RGANISATION DES W IRTSCHAFTLICHEN UND SEINER T HEORETISIERUNG Erstmals im Jahr 1896 publizierte der Leipziger Nationalökonom Karl Bücher mit »Arbeit und Rhythmus« ein Werk, das nicht nur auf große Beachtung stieß, sondern bis 1924 auch sechs zum Teil stark erweiterte Auflagen erfuhr. Die Abhandlung versammelt über einige hundert Seiten hinweg vom Autor akribisch zusammengetragene, größtenteils vorindustrielle Arbeitsgesänge. Zugleich unternahm Karl Bücher in dieser Schrift eine Theoretisierung produktiver Tätigkeit, die auf der Annahme
3
Vgl. hier jüngst auch Eder/Kühschelm/Schmidt-Lauber/Ther/Theune (2013: 8 f.), die den »Nutzen der Historie« nicht darin sehen, »den Spezialdiskurs der Ökonomie um ein wirtschaftshistorisches Expertenwissen zu ergänzen oder gar an dessen Stelle zu treten; der Beitrag einer kulturwissenschaftlich orientierten Wirtschaftsgeschichte liegt vielmehr in der Relativierung eines ahistorischen Anspruchs von Expertise« (Eder/Kühschelm/ Schmidt-Lauber/Ther/Theune 2013: 8 f.).
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einer jedem Menschen eigenen, organischen Anlage und Neigung zu rhythmischer Bewegung begründet ist und die Bücher in der Formulierung vom »Rhythmus als ökonomische[m] Entwicklungsprinzip« (Bücher 1924: 434) kondensierte. Vor allem im (romantisierenden) Blick auf die »Arbeitsweise der Naturvölker« (ebd.: 1) versuchte der Wirtschaftsforscher Bücher zu zeigen, dass gerade deren monotone, durch Rufe oder Gesänge unterstützte Verrichtungen »an sich befriedigend« (ebd.: 443) wirken und damit das »ökonomische Prinzip instinktiv zur Geltung« kommen kann, »welches […] uns befiehlt, möglichst viel Leben und Lebensgenuß mit möglichst geringer Aufopferung an Lebenskraft und Lebenslust zu erstreben.« (Ebd.: 436) Abbildung 2: Aus dem Bilderanhang von »Arbeit und Rhythmus«
Quelle: Karl Bücher (1909): Arbeit und Rhythmus. 4., neubearb. Aufl. Leipzig/Berlin, Anhang, S. III.
Karl Bücher lieferte damit eine ganzheitlich angelegte, organisch verankerte Deutung des zentralen ökonomischen Faktors Arbeit – eben als (physischer) Arbeits-Rhythmus. Der Rückgriff auf die Leitfigur des Rhythmischen ist dabei nicht singulär. Büchers Studie erschien in einer Zeit, für die eine besondere RhythmusFaszination, mehr noch: eine »wahre Rhythmuseuphorie« (Zollna 1994: 19; vgl. Windmüller 2006, 2010) diagnostiziert wurde – und zwar quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche. So erschien etwa in den Jahren 1913 bis 1925 im American Journal of Psychology eine eigens erstellte, in vier Folgen veröffentlichte transdisziplinäre Bibliographie mit über 700 Titeln einschlägiger wissenschaftlicher Abhandlungen (Ruckmich 1913 ff.; vgl. auch Winick 1974), und 1928 wurde in Genf der erste Rhythmuskongress abgehalten (vgl. Spitznagel 2000: 4). Auch der Natio-
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nalökonom Karl Bücher verstand seine Arbeit als explizit fächerübergreifend, ausdrücklich angesiedelt im Schnittfeld von Ökonomik, Physiologie und Psychologie sowie Sprachwissenschaft und Musik. Neben selbst gesammeltem Material griff er auf Forschungsergebnisse aus Volks- und Völkerkunde zurück, wirkte aber andersherum auch in diese und weitere Fächer hinein. Die bisher zusammengetragenen Hinweise auf interdisziplinäre Verflechtungen, in denen Büchers Studie erschien und rezipiert worden ist (vgl. u.a. die einschlägigen Beiträge in Backhaus 2000, Baxmann/Göschel/Gruß/Lauf 2009, Neumann 20134), sind trotz noch ausstehender systematischer Erforschung bereits jetzt beeindruckend. So hatte nicht nur der Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski von 1908 bis 1910, sondern nahezu zeitgleich auch der Historiker und Mitbegründer der Annales-Schule Marc Bloch zwischen 1908 und 1909 in Leipzig unter anderem bei Karl Bücher studiert und spricht rückblickend über die »pages lumineuses« der volkswirtschaftlichen Schriften Büchers sowie deren Bedeutung für die Ausbildung zukünftiger Wirtschaftshistoriker (Bloch 1932: 66; vgl. auch Baxmann 2009: 29). Und der Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss, der in seinen Überlegungen zu den »Techniques du corps« die »Bedeutung des Rhythmus für das Soziale« (Baxmann 2009: 30) herausstellte, bezieht sich dabei auf Büchers »Arbeit und Rhythmus« (vgl. ebd.): In »durchaus widerspenstiger Verwandtschaft« (Därmann/Mahlke 2013: 35) zu Bücher konzipiert er den Menschen als von Grund auf »rhythmisches Wesen« (Mauss 2013 [1967]: 160) und lässt die Arbeit aus dem Rhythmus hervorgehen.5 Nicht zuletzt rekurrierten die Protagonisten einer lebensreformerischen Rhythmuserziehung auf Bücher, so etwa Wolf Dohrn, Bauherr der Bildungsanstalt Hellerau bei Dresden, der zukünftigen Wirkstätte des Rhythmikers Emile Jaques-Dalcroze, in einer Rede anlässlich der Grundsteinlegung 1911, in der er als ein »bedeutsames Zeichen« sah, »daß, völlig unabhängig von Jaques-Dalcroze, ja früher als er, ein deutscher Gelehrter, kein Musikhistoriker, kein Kunsthistoriker, sondern ein nüchterner Nationalökonom die Bedeutung des Rhythmus für die bisherige Entwicklung der Menschheit festgestellt hat« (Dohrn 1911: 7; vgl. auch Gruß 2009: 179). Bücher, dem »[u]nter den deutschen Gelehrten der Nationalökonomie [...] besonnenste[n] Kopf« (Dohrn 1911: 7), sei es gelungen, »mit nüchternem Tatsachensinn die Bedeutung des Rhythmus als eines Erziehers der Menschheit durch die Jahrtausende
4
Vgl. zudem den nun auch digital zugänglichen Bücher-Nachlass an der Universitätsbibliothek Leipzig, histbest.ub.uni-leipzig.de/content/estate_buecher.xml.
5
Vgl. Mauss (2013 [1967]: 160): »Die Arbeit leitet sich vom Rhythmus ab, mehr noch als der Rhythmus von der Arbeit.« Bücher dagegen sieht in der »Dreieinigkeit« Arbeit, Musik, Poesie die Arbeit als »Grundelement«, »während die beiden anderen nur accessorische Bedeutung haben« (Bücher 1924: 385).
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hindurch, in allen Völkern, auf allen Wirtschaftsstufen nach[zu]weis[en]« (ebd.: 8; vgl. Windmüller 2006: 71). Während Karl Büchers Untersuchung offenkundig Impulse aus verschiedenen, allen voran kulturwissenschaftlichen Disziplinen bezog und andersherum – gerade über die Akzentuierung eines »vorbewussten Körperwissens« (Baxmann 2009: 28) – auch in diese hineinwirkte, der Rhythmusbegriff also Anschlussstellen schuf, die reichlich ausgelotet wurden, scheint das Werk im Hinblick auf die zeitgenössischen ökonomischen Entwicklungen und deren wissenschaftliche Begleitung in der Hochphase moderner Maschinisierung und Rationalisierung dagegen zunächst einen unvermittelbaren Kontrapunkt zu bilden6 – und dies, obwohl auch das Scientific Management von Frederick Winslow Taylor, die Konzepte von Henry Ford oder die industrielle Psychotechnik, wie sie etwa Hugo Münsterberg vorantrieb, ihr besonderes Augenmerk auf die detaillierte Erforschung von Arbeitsabläufen und deren Taktungen im Zusammenwirken von Mensch und Arbeitsgerät, auf die rhythmische Gliederung von Arbeitsvorgängen zur Optimierung und Dynamisierung industrieller Prozesse richteten. Die von Karl Bücher im historischen Entwicklungsmodell herauspräparierte Verschiebung der impulsgebenden Kraft vom Menschen auf die Maschine lasse jedoch – und hier sind Büchers Ausführungen als kritische Bemerkung zu den zeitgenössischen Verhältnissen im »Taylor-System« zu lesen – den ehemals mit dem Gesang verbundenen Arbeitstakt zu »wirre[n], ohrenbetäubende[n] Geräusche[n]« (Bücher 1924: 460) werden, der arbeitende Mensch sei »an den toten und doch so lebendigen Mechanismus gefesselt.« (Ebd.) Damit bewegen sich Karl Büchers Überlegungen im Rahmen eines antipodischen Rhythmusmodells, das kategorial zwischen dem organisch gedachten, lebensnahen und künstlerisch aufgegriffenen Rhythmus einerseits sowie dem rationalistisch-mechanischen, stets gleichförmigen (Maschinen-)Takt andererseits unterscheidet und das wohl am konsequentesten Ludwig Klages in seiner Schrift »Vom Wesen des Rhythmus« (1934) ausformuliert hat: Hier stehen mit dem Menschen wie der Natur assoziierte »Rhythmen des Lebendigen« dem dominanten physischen Organisations- und Konfigurationsmodell ökonomischer wie gesamtgesellschaftlicher Rationalisierungsbestrebungen, dem Maschinentakt (das heißt: der unablässigen »Wiederkehr des Gleichen«), gegenüber. Karl Bücher sieht dabei die Problematik industrialisierter Maschinenarbeit jedoch nicht in der Einförmigkeit vermeintlich »geisttötender« und »aufreibender« Tätigkeiten (Bücher 1924: 443), ermögliche andersherum doch gerade die Automatisierung der Bewegungen erst eine Freiheit
6
Senn (2000: 77) weist darauf hin, dass Büchers »Arbeit und Rhythmus« in den Bibliotheken eher in den Musik-Abteilungen als in den Ökonomie-Abteilungen zu finden ist.
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des Geistes und der Phantasie (ebd.).7 Stattdessen sei es die (noch) fehlende Abstimmung zwischen Maschinenrhythmus und organischem Rhythmus, bei der seine Kritik ansetzt. Über die naheliegende Lesart eines kulturpessimistischen, rückwärtsgewandten Kommentars hinaus eröffnen Büchers Ausführungen damit zugleich auch ein utopisches Potential – gerade über die Herausarbeitung einer Opposition innerhalb des Referenzrahmens »Rhythmus« –, indem sie auf eine so ebenfalls vorhandene Möglichkeit einer neuerlichen Vereinigung verweisen, die wiederum ein neues energetisches Potential freisetzen könne: Es sei nicht auszuschließen, ja es müsse angestrebt werden, meint Bücher, dass es unter Beibehaltung der Effizienzsteigerung der gegenwärtigen ökonomischen Strukturen »gelingen wird, Technik und Kunst dereinst in einer höheren rhythmischen Einheit zusammenzufassen, die dem Geiste die glückliche Heiterkeit und dem Körper die harmonische Ausbildung wiedergibt ...« (Bücher 1924: 463). In der Betonung der Differenz wie der Möglichkeit ihrer Überwindung erweist sich das Büchersche Denkmodell als Reflex, aber auch als Effekt auf ökonomische Praktiken sowie auf die ökonomische Ideenbildung seiner Zeit – und hier insbesondere dort, wo Arbeit und Ökonomie im Verhältnis zu Lebensformen und damit als integraler Bestandteil gesamtgesellschaftlicher Entwürfe gedacht werden. So findet sich etwa die von Bücher theoretisierte Idee vom »alten Traum von der glücklichen Arbeit« (Baxmann 2009: 16) nicht zuletzt eindrücklich auch im sozialistischen Arbeitsideal der jungen Sowjetunion wieder, das die »Rhythmisierung der Arbeitsgemeinschaft« als »Ausdruck neuer Arbeits- und Lebensformen« (ebd.: 18) verstand – nun im Rückgriff auf neueste technische Entwicklungen, ein symbiotisches Mensch-Maschine-Verhältnis und den entsprechend »maschinisierten Kollektivkörper« (Baxmann 2009: 18; vgl. auch Bailes 1977; Misler 2005). Der hier nur ausschnitthafte Blick auf Arbeit und Arbeitsforschung und damit auf einen wirtschaftlichen wie wirtschaftstheoretischen Kernbereich zeigt, wie im untersuchten Zeitschnitt des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts über das Rhythmische als Wahrnehmungs- und Deutungsfigur, als beherrschendes Leitkonzept und körperliches Organisationsmodell, unterschiedliche, auch zunächst gegenläufige ökonomische Entwürfe physisch wie ideell synchronisiert werden. Dass die Wirkkraft der Rhythmus-Figur in diesem Feld offensichtlich auch heute – unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen – über eine analytische Attraktivität ver-
7
Wörtlich heißt es bei Bücher: »Gerade die Einförmigkeit der Arbeit ist die größte Wohltat für den Menschen, so lange er das Tempo seiner Körperbewegungen selbst bestimmen und beliebig aufhören kann. Denn sie allein gestattet rhythmisch-automatische Gestaltung der Arbeit, die an sich befriedigend wirkt, indem sie den Geist frei macht und der Phantasie Spielraum gewährt.« (Bücher 1924: 443).
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fügt, zeigt nicht zuletzt deren Einsatz im Zusammenhang jüngerer Diskussionen um Zeitökonomie, um flexibilisierte Arbeitszeiten und deren Effekte auf die Lebensgestaltung (vgl. u.a. Geißler 1999), aber auch ganz konkret der Rückverweis auf die Ideen Karl Büchers bei der »Auseinandersetzung mit dem Wandel und der Zukunft von Arbeit im Rahmen einer Neuverhandlung von Wissenskulturen« (Baxmann/ Göschel/Gruß/Lauf 2009b: 10), wie sie etwa der von Inge Baxmann, Sebastian Göschel, Melanie Gruß und Vera Lauf herausgegebene Sammelband »Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel« (2009) verfolgt. Dieser fügt sich nicht zuletzt in eine breitere gesellschaftliche Debatte über die Herausforderung ein, »Arbeits- und Lebensrhythmen« miteinander in Einklang zu bringen, die – und hier sei der eingangs angeführte Cartoon (Abb. 1) noch einmal in Erinnerung gebracht – »von den Biorhythmen über die Rhythmen der Arbeit und ihrer Organisation bis zu den sozialen Rhythmen [reichen], wie sie aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Kooperation entstehen.« (Baxmann 2009: 15).
3. K ONJUNKTURZYKLEN , K ONJUNKTURWELLEN , K ONJUNKTURRHYTHMEN Das ›dem Rhythmischen‹ als kognitiver Figur offensichtlich eigene integrative Potential soll wie die offensichtlich ebenso vorhandene Eigenschaft der Markierung und Abstützung von Differenz im Folgenden für einen weiteren Bereich der Wirtschaft und Wirtschaftsforschung überprüft werden: Das zweite Schlaglicht auf den Konnex von Ökonomie/Ökonomik und Rhythmus ist auf die Rhythmen wirtschaftlicher Bewegung, genauer: des makroökonomischen Diskurses um Wirtschafts- beziehungsweise Konjunkturwellen, gerichtet. Zunehmend etablierte sich im frühen 20. Jahrhundert mit der Konjunkturanalyse eine Forschungsrichtung, die auf Schwankungen im Wirtschaftsverlauf fokussierte und – im Unterschied zur älteren Krisenlehre – endogene Erklärungen dafür suchte.8 In den 1920er Jahren wurden in verschiedenen europäischen und US-ame-
8
Die Geschichtsschreibung der Konjunkturforschung sieht deren Anfänge zumeist in den 1860er Jahren, bei den Überlegungen von Clément Juglar zur Periodizität von Wirtschaftsverläufen (vgl. Juglar 1862). Der ›rhythmische Charakter‹ der Wirtschaft sei, so Frederick Lavington in seiner Abhandlung »The Trade Cycle«, dort am ausgeprägtesten, wo die Wirtschaft am meisten entwickelt ist: »rhythmical movements« fänden sich nicht »in the outlying regions of retail trade and agriculture«, sondern in den »highly organized centres of commerce and industry« (Lavington 1922: 14). Zur Verknüpfung von Konjunkturzyklus und kapitalistischer Wirtschaftsform vgl. auch Röpke (1932: 1): »Das, was wir eine Wirtschaftskrise nennen, also jener mehr oder weniger dramatische Starrkrampf
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rikanischen Metropolen Einrichtungen zur Erfassung konjunktureller Entwicklungen installiert: in Deutschland seit 1925 das Berliner Institut für Konjunkturforschung, das später in Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung umbenannt wurde (vgl. Kulla 1996, Tooze 1999). Begründer und erster Leiter war der Volkswirtschaftler und Statistiker Ernst Wagemann, der zudem Präsident des Statistischen Reichsamtes war und bereits seit 1919 eine außerordentliche Professur an der Universität Berlin innehatte. Wagemann veröffentlichte Ende der 1920er Jahre seine Konjunkturlehre. Eine Grundlegung zur Lehre vom Rhythmus der Wirtschaft (1928) sowie wenige Jahre danach Struktur und Rhythmus der Volkswirtschaft. Grundlagen einer weltwirtschaftlichen Konjunkturlehre (1931).9 Erklärtes Anliegen des Autors Wagemann war es hier, noch deutlich unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise von 1929, die »weltwirtschaftliche Dynamik« (Wagemann 1931: VII) zu erfassen.10 Diese machte er an den »konjunkturellen Schwingungen« (ebd.: 6), an den »Konjunkturwellen« fest, die sich »von einem Wirtschaftsgebiet zum andern fortpflanzen« und dabei »von dem Charakter der Wirtschaftssysteme beeinflußt« werden: »[D]as Wirtschaftssystem verhält sich zur Konjunktur wie die Konstitution eines Organismus zu seinen Funktionen und Funktionsstörungen.« (Ebd.: 7) Analog zu Karl Bücher rückt auch Wagemann den Rhythmus – in diesem Fall den »weltwirtschaftlichen Rhythmus« (ebd.: 368-374) – ins Zentrum seines Erklärungsversuchs ökonomischer Prozesse und spricht ihm die Rolle einer Art wirtschaftstheoretischen Leitkonzepts mit Qualitäten einer Grundkonstante zu. Wirtschaftliche Eruptionen, die Wagemann nicht zuletzt in seinem statistischen Material
des Wirtschaftslebens, jenes vorübergehende Nicht-mehr-Funktionieren der modernen, so ungeheuer komplizierten kapitalistischen Verkehrswirtschaft, ist nur eine kurze Phase, nur ein Taktteil in jenem großen allgemeinen Rhythmus, dem das gesamte moderne Wirtschaftsleben unterworfen ist.« 9
In der gängigen Unterscheidung zwischen theoretischer und empirischer Konjunkturforschung gilt Wagemann als Hauptvertreter der sogenannten Empirischen Theorien, und damit eines Ansatzes, der durch die Überzeugung geprägt war, dass eine sinnvolle Theoriebildung nur aus empirischen Daten heraus entwickelt werden könne, während er einer allein auf theoretischen Annahmen fundierten Konjunkturtheorie jeglichen Aussagewert absprach. Wagemann verfügte über ein »gespanntes Verhältnis« zur Nationalökonomie, während er »sich mehr den Naturwissenschaften verpflichtet fühlte« (Küster 2011: 242).
10 U.a. Kulla weist darauf hin, dass die Konjunkturforschung ausgerechnet in einer Zeit zu boomen begann, die kaum Regelmäßigkeiten im Konjunkturverlauf zeigte: »Von einem Konjunkturzyklus konnte in Deutschland – und nicht nur hier – seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr gesprochen werden.« (Kulla 1996: 15; ähnlich Köster 2011: 228).
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abgebildet findet, werden über ein global orientiertes Modell unterschiedlich langer Konjunkturwellen, der aufeinander treffenden Rhythmen der Volkswirtschaften und der Weltökonomie deutbar: »Mit dem Ineinandergreifen der langwelligen mit der kurzwelligen Wirtschaftsbewegung ist es möglicherweise zu erklären, daß nach einer längeren Periode verhältnismäßig leichter Krisen plötzlich heftige Erschütterungen auftreten, so wie auf eine Periode schwacher Erdbeben von Zeit zu Zeit schwere Katastrophen zu folgen pflegen.« (Ebd.: 372) Ökonomische – und mit ihnen gesellschaftliche – Krisen können dann auch »›strukturelles Maß‹ annehmen, wenn die weltwirtschaftliche Dynamik zuvor in einen allzu scharfen Gegensatz zu den innerwirtschaftlichen Konjunkturen geraten war.« (Ebd.: 373) Konkret lasse sich eine »7-9jährige Konjunkturwelle in der Wirtschaftsgeschichte so weit« zurückverfolgen, »wie wir überhaupt Einblick gewinnen konnten. Sie dürfte eine mit aller Wirtschaft unlöslich verknüpfte Erscheinung sein.« (Ebd.: 372) Daneben sei aber auch – und zwar global – eine »langwellige« Konjunkturbewegung zu beobachten, die »mit großer Kraft durch alle Wirtschaftsvorgänge hindurchschlägt« (ebd.: 372) und damit den »Grundrhythmus der Weltwirtschaft« (Huber 1988: 424, Wagemann wiedergebend) bilde. In der Identifizierung der verschiedenen Konjunkturzyklen greift Wagemann auf bestehende Erklärungsmodelle konjunktureller Verläufe zurück, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts breit diskutiert wurden; 1927 wurde die Zahl der existierenden Konjunkturtheorien von Foster und Catchings bereits mit 230 angegeben (vgl. Schmölders 1949: 105). Dabei werden die von Wagemann angeführten »langen Wellen« gemeinhin, auch wenn es Vorläufer wie die niederländischen Ökonomen Jacob van Gelderen und Samuel de Wolff gab, mit dem russischen Wirtschaftswissenschaftler und Begründer des Moskauer Konjunkturinstituts im Jahr 1920, Nikolai Kondratieff, verbunden und sind entsprechend als KondratieffZyklen beziehungsweise Kondratieff-Wellen etabliert.11 Mit Hilfe der Auswertung statistischer Datensätze aus Deutschland, Frankreich, England und den USA seit ihren Anfängen im ausgehenden 18. Jahrhundert – etwa zur Entwicklung der Warenpreise, der Arbeitslöhne, Umsätze im Außenhandel, aber zum Beispiel auch der Kohlenerzeugung und des Kohlenverbrauchs – versuchte Kondratieff zu zeigen, so eine Äußerung in seinem programmatischen Text zu den »langen Wellen der Konjunktur« von 1926, »daß die Dynamik des Wirtschaftslebens in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht einfachen und linearen, sondern komplexen und zyklischen Charakters ist« (Kondratieff 1926: 573). Das »Vorhandensein langer Wellen mit ungefähr den gleichen Perioden« (ebd.: 587)
11 Es war vor allem Schumpeter (1939), der die Bezeichnung »Kondratieffzyklus« etablierte. Zu Vorstellungen von »langen Wellen« vor Kondratieff vgl. u.a. den Überblick bei Tuchtfeldt (1998: 2-4).
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bleibe dabei nicht nur auf die Wirtschaftsentwicklung beschränkt, sondern habe Effekte auch auf andere gesellschaftliche Bereiche. So fallen zum Beispiel »[i]n die Zeit des Ansteigens der langen Wellen, d.h. der Hochspannung im Wachstum des Wirtschaftslebens […] in der Regel die meisten und größten kriegerischen und inneren sozialen Erschütterungen.« (Ebd.: 591) Das Konzept der rhythmisch organisierten Konjunkturverläufe dient einerseits als organisch angelegte Denkfigur – Ernst Wagemann spricht unter anderem von der »launische[n] Göttin der Konjunktur« (Wagemann 1931: 371) und ihrer »lebhaft schwingenden Bewegung« (ebd.: 368) – der besseren Greifbarkeit ökonomischer Veränderungen. Dabei wird der Rhythmusbegriff von Wagemann durchaus auch strategisch eingesetzt. Im Rückgriff auf die vertraute Rhythmus-TaktDifferenz unterscheidet er den »mehr oder weniger freien Rhythmus« vom »strengen Takt der Maschine« (ebd.: 171), wobei er letzteren für das Grundverständnis der US-amerikanischen Konjunkturforschung als prägend sieht. Seine Kritik (»Nichts hat dem Konjunkturdienst, wie er zuerst an verschiedenen Stellen in Amerika entwickelt wurde, mehr geschadet als diese mechanistische Betrachtungsweise«; ebd.) dient auch der Profilierung des eigenen Ansatzes und ist damit nicht zuletzt ein Beispiel für die (interessengeleitete) Herstellung von Differenz mit Hilfe der (positiv aufgeladenen) Semantik des Rhythmus-Begriffs. Andererseits vermag das rhythmische Konjunkturkonzept – über die zugleich vorgenommene Essentialisierung – wirtschaftliche Prozesse aus ihren gesellschaftlichen Kontexten zu abstrahieren und absolut zu setzen. »Wer aber wollte glauben«, heißt es bei Wagemann, »daß der Konjunkturzyklus durch Änderung der volkswirtschaftlichen Organisationsform beseitigt werden könnte?« (Ebd.: 372) Konjunkturforschung, wie sie hier in Beispielen aus ihrer Frühphase vorgestellt wurde, zeigt sich letztlich nicht nur als eine Übersetzungsleistung empirisch erhobener Zahlen – in Form linearer, tabellarischer Datensätze – in ein zyklisches Modell der zunächst verorteten, schließlich freigestellten Kurven. Diese Transformationen werden von mathematischen Operationen begleitet, die als »Bereinigung« verstanden werden – schon Kondratieff verweist auf »kompliziertere Methoden der Verarbeitung statistischer Reihen« (Kondratieff 1926: 575 f.), da sonst »die Wellen entweder gar nicht oder nicht deutlich genug in die Erscheinung« (ebd.: 575) treten.12
12 Heinz Kuschmann spricht – unter Verwendung von Arthur Spiethoffs Begriff der »Wechsellagen« für die Konjunkturbewegungen – davon, »daß Methoden entwickelt worden sind, um aus einer rohen statistischen Reihe wenigstens annähernd die Bewegung der wirtschaftlichen Wechsellagen herauszulösen. Jedoch gibt es keinen direkten Weg. Durch Ausschaltung aller als ›störend‹ aufgefaßten Bewegungen aus der statistischen Reihe muß
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Konjunkturforschung stellt sich so – zugespitzt – als Arbeit an der idealtypischen Kurve dar. Ging es Kondratieff dabei um eine möglichst genaue Beschreibung empirischer Befunde und explizit nicht um die Suche nach einer Erklärung der von ihm herausgearbeiteten Konjunkturwellen13, verschiebt sich der Fokus in Abhandlungen anderer Autoren zum Konjunkturverlauf auf dessen Theoretisierung (als prominentes Beispiel vgl. Schumpeter 1939) – und damit verbunden auf die Erarbeitung prognostischer Qualitäten14 sowie in der Folge auch die Ermöglichung und Abstützung wirtschaftspolitischer Interventionen (exemplarisch der entsprechende Hinweis von Assenmacher 1995: XII). Dabei scheint sich im Verhältnis von statistisch erhobenen Datensätzen und daraus generierten Kurven das Bezugssystem insbesondere in Konjunkturlehrbüchern und -materialien jüngeren Datums geradezu umgekehrt zu haben.
die Wechsellagenbewegung gleichsam von Verunreinigungen befreit werden.« (Kuschmann 1933: 6). 13 Trotz rechnerischer Anstrengungen, die einer stärkeren Herauspräparierung der Wirtschaftswellen dienten, musste und konnte Kondratieff vermerken, dass es ihm auch nach bereinigender »Verarbeitung« der vorgefundenen statistischen Reihen nicht für alle Bereiche gelungen sei, das »Vorhandensein langer Wellen mit ungefähr den gleichen Perioden« (Kondratieff 1926: 587) nachzuweisen; so sei dies etwa für den französischen Baumwollverbrauch und für die Woll- und Zuckererzeugung der Vereinigten Staaten von Amerika nicht gelungen. Kondratieff konnte diese Beobachtung stehen lassen, ohne sie als Irritation seines Kurvenmodells zu begreifen, indem er sie als Rest einer mathematischen Operation verstand, die insgesamt auf eine Bereinigung des vorgefundenen Materials ausgerichtet war. 14 Schmölders (1955: 35) bezeichnet die Konjunkturprognose als die »Krönung der Analyse und vielleicht sogar das eigentliche Ziel aller Konjunkturforschung«.
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Abbildung 3: »Der idealtypische Konjunkturverlauf«
Quelle: Ehlgen (2004: 1).
Der »idealtypische Konjunkturzyklus« (Ehlgen 2004: 1) ist nunmehr nicht selten Ausgangs- und Referenzpunkt der Darstellung von Konjunkturentwicklungen, an dem dann die ›wirtschaftliche Wirklichkeit‹ gespiegelt wird. Ein eindrückliches, aber keineswegs singuläres Beispiel ist hier das Papier Die Messung von Konjunkturschwankungen zu einer Lehrveranstaltung des Siegener Volkswirtschaftlers Jürgen Ehlgen aus dem Jahr 2004, das mit einer idealtypischen Verlaufskurve für das Bruttoinlandsprodukt (Abb. 3) und deren Erläuterung beginnt, um dann festzustellen: »In der Realität kann man den oben beschriebenen schematischen Konjunkturzyklus jedoch aus mehreren Gründen nicht beobachten.« (Ehlgen 2004: 2) Ehlgen konstatiert weiter, dass »in der Praxis die konjunkturellen Schwankungen des BIP nicht dem oben beschriebenen idealtypischen Ablauf folgen. Stattdessen verlaufen Konjunkturschwankungen unregelmäßig.« (Ebd.: 3) Ähnlich steigt auch Lutz Arnold in die Ausführungen zur Konjunktur in seinem Standardwerk zur »Makroökonomik« mit dem abstrakten Schema ein, um dann aber ebenfalls zu notieren: »Tatsächliche Konjunkturzyklen sehen natürlich nie so regelmäßig aus wie hier beschrieben.« (Arnold 2006: 165) Und in Überblickswerken zur Konjunkturlehre ist verschiedentlich zu lesen, dass sie bewusst empirische Kontextualisierungen konjunktureller Modelle aussparen und sich stattdessen ausschließlich den Modellen selbst und den »mathematical techniques« und »mathematical tools« (u.a. Gabisch/Lorenz 1989: 3) zu ihrer Berechnung widmen möchten.
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Auffällig analog zur im ersten Teil der Ausführungen skizzierten Arbeitswissenschaft scheint auch die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion um Wirtschaftsund Konjunkturwellen sowie deren Erfassung nicht nur elementar auf Begriff und Idee des Rhythmischen zurückzugreifen, sondern damit auch auf das diesem offenkundig eigene Potential, widersprüchliche Semantiken wie performative Dynamiken in sich zu vereinen. Der »›Normalzyklus‹ der Konjunkturen« (Schmölders 1949: 105) kann einerseits als »wiederkehrende[s], geradezu rhythmische[s] Muster« (Plumpe 2011: 8) behauptet werden, »das nicht mehr äußeren Irritationen, sondern offensichtlich einer Art inneren Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung folgte.« (Ebd.)15 Andererseits wird Wirtschaft und Wirtschaftsforschung gerade über die vorgenommene Abstraktion – als »Drift zum Normalen« (Tanner 2002: 151) – wiederum einpassbar in unterschiedliche gesellschaftliche und wissenschaftliche Kontexte. Hier bietet die im zyklischen Wirtschaftsmodell implizit, aber auch explizit ausformulierte Figur des Rhythmischen ein Set an Deutungs- und Erklärungsangeboten, auf das nicht nur innerwissenschaftlich rekurriert, sondern das daneben – und erinnert sei noch einmal an den eingangs gezeigten Cartoon von Jutta Bauer – auch populär-medial genutzt und dabei zugleich weitergeschrieben und verfestigt wird.
4. R HYTHMUS -P ERFORMANZEN : T AKTGEBER , S EISMOGRAPHEN UND DIE M ORPHOLOGIE DER B ÖRSE Der dritte Anlauf meiner Überlegungen stellt auf die Performativität und Materialität ökonomischer Praktiken, hier speziell auf dem Finanzmarktsektor, und deren Theoretisierung auch und maßgeblich durch kultur- und sozialwissenschaftliche Zugänge ab. In den letzten Jahren hat sich im Bereich der Studies of Finance eine
15 Schmölders (1949: 107; vgl. nahezu wortgleich auch ders. 1955: 103 f.) stellt die kritische Frage, »ob es richtig war, die sogenannte Eigengesetzlichkeit der Konjunkturrhythmen durch immer weitergehende Isolierung und Abstraktion, vor allem aber auch durch die statistische Aussonderung des ›reinen‹ Konjunkturzyklus zu erforschen, oder ob nicht vielleicht ein Zurückgehen auf die ältere Krisentheorie, verbunden den [sic!] mit einer Gesamtbetrachtung aller wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Verursachungsmomente periodischer Bewegungen, uns helfen könnte, aus der Sackgasse der heutigen Konjunkturtheorien heraus- und in der Erforschung der ökonomischen Rhythmik weiterzukommen.« Auch Schmölders nutzt dann das Basalmodell Rhythmus, um eine Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen vorzuschlagen, ja mehr noch: einzufordern – »[v]on der Meteorologie über die Bioklimatik zur Physiologie und Psychologie« (Schmölders 1949: 111).
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Forschungsperspektive etabliert, die – mit besonderem Blick auf das Börsengeschehen – verstärkt den Objekten als Akteuren eine zentrale Funktion zuerkennt und insbesondere auch auf die physisch-sinnliche und damit verbunden auf die affektive Dimension von Wirtschaft verweist. Dabei bekommt für den hier betrachteten Zeitschnitt des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor allem der zur »Ikone des Wirtschaftssystems« (Stäheli 2007: 309) aufsteigende Börsentelegraph beziehungsweise Börsenticker nicht nur über seine physische Präsenz und Greifbarkeit einen zentralen Platz in der (medialen) Vermittlung von Wirtschaft(sprozessen) zugewiesen (u.a. Stäheli 2004, Preda 2006), sondern er vermag auch im Hinblick auf die innere wie äußere Organisation des Ökonomischen eine besondere Rolle einzunehmen. Dabei scheinen es nicht zuletzt seine rhythmischen wie rhythmisierenden Qualitäten zu sein, entlang derer sich die zeitgenössische Wirkkraft wie auch deren Theoretisierung entfalten konnte. Der 1867 erstmals auf dem Parkett der New Yorker Börse in Einsatz gebrachte mechanische Börsentelegraph fand bis zu seiner Ablösung durch den elektronischen Ticker ab 1960 in verschiedenen Weiterentwicklungen Verwendung, indem er die Bewegungen des Marktes in auf ein Papierband gedruckte Buchstaben- und Zahlenkolonnen (Bezeichnungen der Finanzgüter, Preise, Handelsvolumina) übertrug. Gerade über die von zeitgenössischen Berichterstattern immer wieder herausgestellte Lautstärke, mit der das neue Gerät arbeitete, über seine pulsierende »Lärmigkeit« (Stäheli 2004: 257; vgl. Preda 2006: 126 f.), über das Raum füllende »unaufhörliche Hämmern« (Stäheli 2007: 333) vermochte der Börsenticker Kontinuität zu produzieren16; der »Takt der Börse« (Stäheli 2004) wurde performativ und dabei ganz unmittelbar physisch etabliert. Am Beispiel des Börsentickers zeigt der Finanzwissenschaftler Alex Preda, wie die eingesetzte Technik zur Formatierung der (Finanz-)Märkte beiträgt. Dabei standen am Anfang nicht unbedingt Normierungs- und Rationalisierungsbestrebungen im Vordergrund; es ging nicht primär um eine »erhöhte Leistungsfähigkeit oder Geschwindigkeit«, sondern viel grundlegender darum, »die Geräusche und das Durcheinander zu beseitigen, die von der Börse ausgingen« (Preda 2006: 117), mit anderen Worten: über den akustisch wie optisch potenten Rhythmus des Geräts ökonomische Geordnetheit zu forcieren, aber auch darum, »den sozialen Status und das Monopol über Preisdaten zu verstärken« (ebd.: 118) – und zwar über die Verteilung von Zugangsmöglichkeiten, aber nicht zuletzt auch über die Erlangung und den (demonstrativen) Einsatz von Kompetenzen im Umgang mit der (rhythmisch organisierten) Gleichmäßigkeit und Gleichförmigkeit. So berichtet etwa der Makler und Gründer des Magazine of Wall Street Richard D. Wyckoff in seinen 1934 ver-
16 Zu den durchaus vorhandenen technischen Synchronisationsschwierigkeiten der frühen Tickerapparate vgl. u.a. Stäheli (2007: 318 f.).
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öffentlichten Memoiren von Freunden, die es eineinhalb Stunden aushielten, vor dem Ticker zu sitzen und auf das Band zu schauen. Er selbst schaffe es nach intensivem Training, dieses bis zu einer Stunde ohne Unterbrechung zu beobachten (erwähnt bei Preda 2006: 123). Neben die räumliche und sozial(hegemonial)e Ordnungsfunktion, die Zugehörigkeiten regelt und – auch öffentlichkeitswirksam (vgl. Stäheli 2007) – anzeigt, tritt zudem eine zeitliche Ordnungsfunktion. Der Börsentelegraph, so Predas Argumentation, generiert ebenfalls Zeitstrukturen – auch in die Zukunft hinein –, die er zugleich synchronisiert: »Aus der Perspektive des Maklerhauses half er, Zeit und Rhythmus von Marktteilnehmern am Rhythmus der Wall Street zu orientieren.« (Preda 2006: 118; vgl. Reichert 2009: 127 f.)17 Dabei induzierte der Börsentelegraph als sinnlich erfahrbares Instrument ganz neue Handlungen – im Modus des Rhythmischen – um seine physische Präsenz herum: »Der Ticker band Investoren und Makler an seinen Rhythmus fest«, formuliert es Alex Preda (2006: 122) mit Blick in die zeitgenössischen Handbücher, und Urs Stäheli spricht von einer Übersetzung der »ökonomischen Operationen in den Takt des Tickers« (Stäheli 2007: 314). Über die Kulturtechnik der Synchronisierung gelang es in der physischen wie kognitiven Ausrichtung auf das technische Gerät zudem, individuelle Erfahrungen und Bestrebungen in eine gemeinschaftliche Bewegung zu transformieren und damit wechselseitig abzusichern, zu plausibilisieren und zu verstärken. Der französische Historiker Robert Lacour-Gayet verweist auf diese »kollektive Kraft des Tickers« (Stäheli 2007: 336): »A chaque vibration du ›ticker‹ correspond, dans le cœur de millions d’individus, une vibration identique qui, a travers l’espace, les réunit dans un même vœu ou dans une même désillusion.« (Lacour-Gayet 1929: 174; zit. n. Stäheli 2007: 336). Als technisches Gerät hatte der Börsenticker paradoxerweise gerade in seiner physischen Konkretheit ebenfalls massiv an der Abstraktion des Wirtschaftsgeschehens teil – wobei sich beide Dimensionen nicht gegeneinander aufheben, sondern wechselseitig bestärken: »Der Fluss der Preisveränderungen machte die Resultate fortwährender Gespräche sichtbar und trennte deren Resultate von der einzelnen Autorität der Teilnehmer an jenen Gesprächen. Gleichzeitig verband dieser Fluss die Resultate miteinander und machte diese Verbindungen sichtbar, während das Band weiterlief. Der Markt wurde als abstraktes, dennoch sehr lebhaftes Ganzes sichtbar gemacht.« (Preda 2006: 119)
17 Stäheli sieht den Ticker als Signet für »den Umbau einer auf Repräsentation beruhenden räumlichen Ordnung hin zu einer in erster Linie temporal organisierten Ordnung der Gleichzeitigkeit.« (Stäheli 2007: 321).
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Zugleich wurde der Ticker für die Spekulanten zum Seismographen des Marktgeschehens: »[W]hen the market was breaking he could tell it with his eyes closed just by listening to the ticker« (Schwed 1940: 157; zit. n. Stäheli 2007: 336). Durchaus analog zum im ersten Anlauf in den Mittelpunkt gestellten Arbeitsrhythmus als Interaktionsbeziehung Mensch-Werkzeug/Maschine bietet offensichtlich auch das technische Instrument Börsenticker als – in Akteur-Netzwerk-theoretischer Diktion – Aktant in einem zentralen performativen Feld der Ökonomie im betrachteten Zeitschnitt Anknüpfungspunkte für interpretierende Zugänge zum Wirtschaftsgeschehen – und im Folgeschritt auch für Theoretisierungsbestrebungen. Auf einer alltagsweltlichen Erfahrungsebene wurde er zum wirtschaftsanalytischen Instrument, das hier über die Störung, die Konfrontation (den Lärm, der schon bald mittels einer über den Ticker gestülpten Glashaube gedämpft, nicht jedoch zum Verstummen gebracht wurde; Abb. 4) Vorstellungen eines regulären Wirtschaftsverlaufs indizieren konnte. Abbildung 4: »Der Ticker in der Vitrine«
Quelle: Stäheli (2007: 335).
Gerade die sich abwechselnden Phasen des An- und Abschwellens, die jeweils immer schon die Ablösung durch die andere Phase mit aufrufen und damit das Wirtschaftsgeschehen – als Handlungsaufforderung und Versprechen – in die Zukunft verlängern, lassen (eben gerade in der Veränderlichkeit) Wirtschaft evident werden: Der Börsenticker – auch nachdem er in seiner mechanischen Form längst seine Bedeutung eingebüßt hatte und durch andere Technik ersetzt worden war – verkörper-
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te in offensichtlich geradezu idealtypischer Weise die bis heute wirkmächtige Vorstellung von der »Börse als dem Herzen der Wirtschaft, dessen Pulsschlag an den Ausschlägen des Index gemessen werden konnte.« (Tanner 2002: 146)18 Dabei implementierte der Börsenticker nicht nur über seine Funktion der kontinuierlichen Echtzeitübertragung von Informationen eine räumliche Entgrenzung des Marktes (vgl. u.a. Reichert 2009: 128). Wie schon beim Konjunkturzyklus gesehen, bot das Denk- und Erfahrungsmodell »Rhythmus« auch hier Anschlussmöglichkeiten an andere Felder19 – und es eröffnete über die Unschärfe seines Bedeutungsspektrums interessengeleitete Handlungsoptionen, indem es den Wechsel zwischen Aufstieg und Niedergang zum Prinzip und Motor wirtschaftlicher Aktivität erhob.
5. R HYTHMUS ALS ( ÖKONOMISCHE ) D IFFERENZ - UND K ONNEKTIVITÄTSFIGUR (S CHLUSSBEMERKUNGEN ) Die vorangegangenen Ausführungen sollten anhand ausgewählter, verschieden gelagerter Beispiele zeigen, dass – und wie – die Figur des Rhythmischen ökonomische Prozesse moderiert und choreographiert. So unterschiedlich sich die Bereiche wirtschaftlicher Analyse und Theoriebildung darstellen, in denen auf rhythmische Konzepte zurückgegriffen wird, so vergleichbar sind doch die erkennbaren Funktionen, die Rhythmuskonzepte einnehmen: als Ordnungs- und Gliederungsinstrument, als Modus der Evidenzerzeugung und Plausibilisierung ökonomischer Modelle und Perspektivierungen, als wirkmächtiger Generator von Anschlussstellen und Verknüpfungen zwischen verschiedenen Bereichen des Ökonomischen sowie in andere gesellschaftliche Bereiche hinein, als Konnektivitäts-, aber auch als Differenzfigur, als Instrument der Abgrenzung von Positionen und der Markierung von Einflusssphären. Verstärkt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – mit unverkennbaren Verlängerungen aber auch bis heute – scheint es insbesondere die konzeptuelle Unschärfe, die semantische Vieldeutigkeit der Theorie- und Praxisfigur des Rhythmischen zu sein, die Ökonomie wie Ökonomik einerseits zu dynamisieren, andererseits aber auch aufzufangen und zu vermitteln vermag.
18 Vgl. den Webauftritt der Stock Ticker Company, »The Heartbeat of Wall Street«; www.stocktickercompany.com/. 19 Auch hier ist es nicht zuletzt das Bild vom Organismus, das in Abhandlungen über die Börse bemüht wird. Vgl. exemplarisch Bernhard (o.J.: 39), der über die Aufgabenverteilung von Bankiers und Börsenmaklern im Börsengeschehen schreibt, »daß die Bankiers den Verkehr der Börse mit der Außenwelt vermitteln, also gewissermaßen dem Börsenkörper von außen fortwährend frisches Blut zuführen, während die Makler den Kreislauf der Geschäfte im Innern der Börse zu regulieren haben.«
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In den exemplarisch vorgeführten wirtschaft(swissenschaft)lichen Feldern20 ist das ›Prinzip Rhythmus‹ Versicherungsmoment und Reflexionsimpuls gleichermaßen. Als durch und durch diskursive Figur eröffnet es – und hier scheint einer der Gründe für die anhaltende Attraktivität der Rhythmusfigur zu liegen – dennoch ebenso Zugänge zum prä-kognitiven (Körper-)Wissen und damit zur physischen Dimension ökonomischer Praktiken; zur Konzeptualisierung von Rhythmus gehört elementar auch die Annahme eines »Rhythmischen vor dem Diskursiven« (Nohr 2006: 228), das aber erst über seine Intellektualisierung naturalisiert werden kann. Gleichermaßen trägt es auch zur Rationalisierung, zur Herstellung von Abstraktion und damit zur Einpassbarkeit ökonomischer Modelle in übergeordnete ökonomische Zusammenhänge bei. Der genauere Blick auf die ›Rhythmen (in) der Ökonomie‹ zeigt nicht zuletzt, dass – und wie – etablierte heuristische Vorannahmen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Wirtschaftsforschung durch das untersuchte Phänomen selbst, durch das (hier ökonomische) Denk- und Praxismodell ›Rhythmus‹, maßgeblich irritiert und herausgefordert werden: so die gängige Differenzierung zwischen ökonomischer Praxis und deren wissenschaftlicher Durchdringung (zur Kritik dieser – diskursiv weiterhin wirkmächtigen – Grenzziehung vgl. grundlegend Callon 1998), aber auch zwischen ›der Wirtschaft‹ und ihrer Vermittlung (vgl. Stäheli 2007). Dabei arbeitet die Figur des Rhythmischen im ›ökonomischen Feld‹ auch gegen den gerne behaupteten Status der Wirtschaftswissenschaften als von anderen akademischen Disziplinen abgekoppelter ›Sonderwissenschaft‹21 an. Wenn, wie Bruno Latour und Vincent Lépinay unlängst behauptet haben, »die ökonomische Disziplin« die Wirtschaft nicht entdeckt, sondern »fabriziert«, ja »organisiert, erobert, kolonisiert« (Latour/Lépinay 2010: 24), dann ist die Denk- und Praxisfigur Rhythmus für die Zeit des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts (und darüber hinaus) eine Orientierungsmarke und ein zentrales Gestaltungselement gleichermaßen. Die Vorstellung vom »economic behaviour to occur in rhythms« (Backhaus 2000b: 7) findet sich in der »daily economic activity« ebenso wie in der »global economy« (ebd.) und hier nicht zuletzt in der ökonomischen Theoriebildung.
20 Ein weiterer zentraler Bereich der Ökonomie, der sich für interdisziplinär fundierte Rhythmus-Studien aufdrängt, ist die Geld-Theorie. Vgl. exemplarisch die von RhythmusVorstellungen geprägten Überlegungen von Georg Simmel zur »Philosophie des Geldes« (1900), aber etwa auch in jüngerer Zeit den kulturgeschichtlichen Großentwurf von Bockelmann (2004). 21 Zu den Bemühungen der Wirtschaftswissenschaften um die Etablierung dieses Sonderstatus vgl. u.a. Pahl 2013.
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Von der Schalterhalle zum Erlebnisbanking Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Veränderung des Bankwesens durch den Geldautomaten S OPHIA B OOZ
Wie kaum ein anderes Gerät steht der Geldautomat und mit ihm die Einführung der Selbstbedienung für die Rationalisierung des Bankwesens. 1968 erstmals in Deutschland aufgestellt, verbreitete sich der Geldautomat vor allem in den 1980er Jahren und ist heute der meistgenutzte Automat in Deutschland (vgl. FraunhoferInstitut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO 2011: 9). Durch die Einführung des Geldautomaten wandelten sich auch das Erscheinungsbild der Banken und deren Selbst- und Fremdwahrnehmung. Diesen Veränderungsprozessen wird im folgenden Beitrag nachgegangen, wobei ich den Zeitraum von 1968 bis heute untersuche. Die Analyse der Entwicklung des Geldautomaten als »Prototyp aller sonstigen Rationalisierungstendenzen« (Baethge/Oberbeck 1986: 100) und als sichtbares Zeichen der Veränderung des Selbst- und Fremdbildes lässt Rückschlüsse auf die Wandlung des Verhältnisses von Banken zu ihren Kunden zu. Dabei fokussiere ich insbesondere die Gestaltung der Bankräume in Zusammenhang mit dem Geldautomaten. Raum kann in Anlehnung an Johanna Rolshoven sowohl als individuell erfahrener und konstruierter Raum sowie als gesellschaftlicher Raum, »dem der subjektive Prozess der Raumaneignung untersteht« (Rolshoven 2003: 197), begriffen werden. Der gesellschaftliche Raum ist schon vorab Bedeutungsträger und setzt damit unsichtbare Grenzen und bestimmt die normative Codierung für Individuen oder Gruppen (ebd.). Bankräume, wobei hier insbesondere der gebaute, physisch erlebbare Raum gemeint ist, können damit nicht als neutral aufgefasst werden, sondern als Bedeutungsräume, die historisch vorgeformt sind (vgl. ebd.: 198). Meine Analyse setzt an dieser historischen Formung an und beleuchtet dabei insbesondere die Veränderung durch die Automatisierung des Auszahlungsvorgangs seit den 1960er Jahren. Die Gestaltung der Bankräume gibt wesentlich Aufschluss darüber, wie die
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Banken die Veränderungen selbst initiierten, aber auch auf die Folgen der Automatisierung reagierten. Als Grundlage dienen sowohl Berichte aus Tageszeitungen, Magazinen und Wochenzeitungen als auch Zeitschriften aus dem Bereich des Kreditgewerbes selbst. In Verbindung mit Publikationen aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften wird damit zugänglich, wie die Banken selbst die Veränderungen durch den Geldautomaten bewerteten. Zudem wird darin deutlich, welche Annahmen über die Nutzerinnen und Nutzer die Überlegungen leiteten.
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Durch die Abschaffung der Lohntüte und die Einführung der bargeldlosen Lohnund Gehaltszahlung ab Ende der 1950er Jahre erhielten breite Bevölkerungskreise erstmals ein (Gehalts-)Konto bei Sparkassen und Banken. Auf dem Bankierstag 1958 erklärten die Banken öffentlich die Aufnahme des sogenannten Mengengeschäftes. So erschlossen sie sich neue Kundenkreise, die mit eigens entwickelten Finanzprodukten wie etwa dem Persönlichen Klein-Kredit (ab 1959) umworben wurden (vgl. Cordewener 1981: 1). Bewusst sollte sowohl intern als auch öffentlich nicht der Begriff Massengeschäft verwendet werden, da dieser, so befürchteten die Banken, negativ konnotiert sei (vgl. Historische Gesellschaft für die Deutsche Bank e.V. 2009: 77). Die Kunden mussten nun für Bargeldverfügungen zur Bank gehen, wobei es aufgrund der steigenden Kundenzahl vor allem gegen Abend vermehrt zu Warteschlangen vor den Kassenschaltern kam. Die zeitliche und räumliche Verfügbarkeit der Banken und Sparkassen wurde damit zunehmend wichtig. Durch eine im weltweiten Vergleich außergewöhnlich hohe Dichte der Zweigstellen war die räumliche Nähe zum nächsten Geldinstitut gewährleistet (vgl. Schuster 1982: 156), jedoch überschnitten sich häufig die Öffnungszeiten der Kreditinstitute mit den Arbeitszeiten der Kunden (vgl. Historische Gesellschaft für die Deutsche Bank e.V. 2009: 78). Einen Ausweg bot der Geldautomat, der erstmals in Deutschland 1968 bei der Sparkasse Tübingen eingeführt wurde. Dieser Automat wurde über einen Doppelbartschlüssel, einen gelochten Plastikausweis und Lochkarten bedient. Für jede Lochkarte konnten sich Kunden einen 100 DM-Schein aus dem Automaten auszahlen lassen. Der maximal verfügbare Betrag war auf 400 DM pro Tag und Kunde festgesetzt, die Zahl der zugelassenen Nutzer war aus technischen Gründen auf 1.000 Personen beschränkt (vgl. Wehber 2008: 8). Durch diese frühen Geldautomaten, die auch in anderen Städten wie Lübeck (vgl. N.N. 1968: 22) oder Konstanz
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(vgl. N.N. 1969: 22) folgten, war es erstmals möglich, Geld vom eigenen Konto auch außerhalb der Öffnungszeiten der Bank abzuheben; jedoch konnten sie nur von Kunden der aufstellenden Bank(filiale) genutzt werden. In der Bedienung waren sie, zumindest rückblickend, umständlich und anfällig hinsichtlich technischer Störungen, womit in der Fachliteratur die zunächst nur zögerlich verlaufende Verbreitung von Geldautomaten erklärt wurde (vgl. Cordewener 1981: 29). Als Alternative zum Geldautomaten wurde in den 1970er Jahren die Einführung von Spätschaltern mit Öffnungszeiten bis 18 Uhr diskutiert. Geldautomaten wurden dagegen als »technische Spielzeuge« bewertet (Steen 1974: 28). Eine Ausweitung der Öffnungszeiten scheiterte jedoch an tariflichen und arbeitsvertraglichen Regelungen (vgl. Cordewener 1981: 135). Zu einem flächendeckenden Einsatz von Geldautomaten kam es erst durch technische Weiterentwicklungen, insbesondere der Verbindung zwischen den Automaten und einem zentralen Rechner, wodurch die Geldautomaten auch von Kunden anderer Bankinstitute genutzt werden konnten. Dazu wurde im Mai 1979 die Vereinbarung über das institutsübergreifende Geldausgabeautomaten-System des deutschen Kreditgewerbes zwischen den Spitzenverbänden des deutschen Kreditgewerbes und der Deutschen Bundespost geschlossen, in der unter anderem technische Standards und Sicherheitsmaßnahmen festgelegt wurden (vgl. Hartwig 1995: 28). Als Zugangsmedium zu den angeschlossenen Geldautomaten wurde die bereits 1969 eingeführte eurocheque-Karte (ecKarte) bestimmt. Dazu wurde die Karte zusätzlich mit einem Magnetstreifen ausgestattet und eine dazugehörige persönliche Geheimzahl ausgegeben (vgl. Otto 1979: 6). So erweiterte sich die ursprünglich als Garantiekarte für eurocheques eingeführte und aus diesem Grund schon weit verbreitete ec-Karte um die Funktion der Geldautomatenbedienung (vgl. Ehrlicher 1989: 16). In der Vereinbarung wurde zudem bestimmt, dass Standorte von Geldautomaten außerhalb von Zweigstellen nur in gegenseitiger Abstimmung festgelegt werden dürfen. So sollte der Wettbewerb zwischen den Banken vermieden werden, der durch die größere Anzahl an Automaten zu geringer genutzten und damit nicht wirtschaftlich betriebenen Automaten geführt hätte. Gleichzeitig kam es jedoch auch zu einer Einschränkung der Standortwahl, denn eine Zustimmung für die Aufstellung an einem belebten Platz oder in einem Einkaufszentrum durch konkurrierende Banken wurde nur in Ausnahmefällen erlangt. Weiterhin wurde festgelegt, dass alle auch außerhalb der Öffnungszeiten zugänglichen Automaten laut Vereinbarung mit dem einheitlichen ec-Zeichen ausgestattet werden müssen, um so für die Kunden schnell sichtbar zu sein (vgl. Hartwig 1995: 28 f.). Durch die Vereinbarung kam es zu einer weitgehenden Normierung, sowohl hinsichtlich der technischen Ausstattung der Automaten und des Zugangsmediums als auch der äußeren Gestaltung der Automaten. Nach dem 1981 erfolgreich gestarteten Pilot-Projekt in West-Berlin (vgl. Kroschinski/Prast 1981: 264) wurde das Geldautomaten-Netz auf ganz (West-) Deutschland ausgedehnt; Geldautomaten setzten sich damit im Verlauf der 1980er
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Jahre flächendeckend durch. So stieg die Zahl von zunächst 200 Geldautomaten im Jahr 1979 (vgl. Dambmann 1979: 26) auf etwa 4.500 Geräte im Jahr 1987 (vgl. Hartwig 1995: 186). Mit der Vereinbarung über das deutsche ec-GeldautomatenSystem wurde 1993 das Geldautomaten-Netz flexibler. Unter anderem wurde die Standortwahl für Geldautomaten gelockert (vgl. Hartwig 1995: 29 f.), so dass sie ab diesem Zeitpunkt auch an Orten wie Raststätten und Tankstellen, in Supermärkten oder Baumärkten aufgestellt werden konnten, ohne dafür eine Genehmigung durch konkurrierende Banken zu benötigen (vgl. Stürmlinger 1993: 39). 2011 standen in Deutschland nach Angaben der Deutschen Bundesbank (2011) 60.315 Geldautomaten, wobei der größte Teil von den Sparkassen betrieben wird.
G ELDGESCHÄFTE UNTER FREIEM H IMMEL ? D IE E NTSTEHUNG DER SB-Z ONE Die ersten Geldautomaten waren meist an der Außenwand von Banken angebracht, um auch außerhalb der Öffnungszeiten zugänglich zu sein (vgl. Biering 1988: 60). Aus diesem Grund erklärt sich die zunächst größere Beliebtheit dieser Geräte im Vergleich zu in den Filialen selbst installierten Geräten, welche lediglich der Entlastung der Kassenschalter dienten (vgl. Fleischhauer 1982: 121). Bezüglich der Nutzung dieser so genannten Outdoor-Automaten zeigten sich von Beginn an Sicherheitsbedenken, vor allem bezogen auf die Gefahr eines Raubüberfalls. Die Kunden würden »gezwungen, ihren Monatslohn oder ihre Rente auf offener Straße in Empfang zu nehmen« (Solidus 1991: 23), hieß es in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Dies gehe mit einer höheren Gefahr eines Raubüberfalls einher. Seitens der Banken wurden daneben auch Sicherheitsbedenken beim Befüllen der Automaten mit Bargeld geäußert (vgl. Fleischhauer 1982: 121) sowie der schlechte Schutz vor Witterung und die damit verbundene höhere Anfälligkeit für technische Störungen kritisiert. Die Bedienung von Outdoor-Automaten wurde deshalb auch als »banking in the rain« (Hartwig 1995: 158) bezeichnet. Aus den genannten Gründen setzte sich die Installation der Automaten in den neu entstehenden Foyers der Banken durch. Dazu wurden die Türen zu den Foyers mit einem Kartenlesegerät für ecKarten1 ausgestattet, außerhalb der Öffnungszeiten trennten flexible Wände die Foyers von den Kundenhallen (vgl. ebd.). Häufig blieben die Foyers, auch SB-Zonen genannt, nachts verschlossen, da die Banken davon ausgingen, dass die Kunden in dieser Zeit kein Bargeld benötigen.
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Die Zugangskontrolle wurde in den letzten Jahren bei einigen Banken abgeschafft, nachdem immer wieder Manipulationen dieser festgestellt worden waren (vgl. N.N. 2010).
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Außerdem waren hier die Sicherheitsbedenken größer – so zumindest beschreibt dies Helmut Gabel (2009: 20) in einem Rückblick über die Entwicklung der Geldautomaten bei der Kreissparkasse Köln: »Sie [die Kunden] fühlten sich in einen Gangsterfilm versetzt, wenn sie sich bei einbrechender Dunkelheit – draußen wartete meist der Partner im Auto mit laufendem Motor – mit Bargeld versorgten.« Zum Schutz vor Vandalismus und Manipulationen der Automaten, aber auch um das Sicherheitsgefühl zu steigern, hatten über das Kartenlesegerät an der Tür nur Nutzer von Geldautomaten Zugang zu den Räumen.2 Durch die Einrichtung einer »Personenvereinzelung« (Beutel 1990: 36) konnte zudem verhindert werden, dass sich mehrere Personen gleichzeitig im Foyer aufhalten. Durch die Trennung von der Kundenhalle wirkt das Foyer wie ein eigenständiger Raum, der, »weil abseits vom Schalter- und Kassenbereich gelegen, eine eigene Welt zu sein« scheint (Schneider 1997). Der Umgang mit Bargeld verlagert sich damit von der Kundenhalle in die Vorräume der Bank. Nur für beratungsintensivere Leistungen, die häufig mit einem größeren Vermögen verbunden sind, ist noch der Gang zum Schalter notwendig. Die weite Verbreitung der ec-Karte und damit die Berechtigung zur Nutzung von Geldautomaten, seit den 1990er Jahren auch bei Jugendlichen, führt dazu, dass die meisten Menschen Zugang zu den Foyers der Banken haben. Damit wird der Raum weder als rein privater noch als rein öffentlicher wahrgenommen, sondern befindet sich im Dazwischen: zwischen dem privaten Raum, der Kundenhalle, und dem öffentlichen Raum, der Straße. Auf die Bedeutung des Dazwischen als Übergangs- oder Zwischenraum macht Johanna Rolshoven (2000) im Hinblick auf die kulturwissenschaftliche Stadtforschung aufmerksam, wobei sie damit verbunden eine Hinwendung zur Bewegung in der Stadt als zentrale Perspektive fordert. Mit dem Begriff des Zwischenraumes verbunden sind Raumhierarchien (vgl. ebd.: 113): Dem Foyer als Zwischenraum sind Haupträume übergeordnet, hier die Kundenhalle. Durch ihren Status als Zwischenraum kommt es gerade in den Foyers auch zu Umnutzungen, wie etwa in den letzten Jahren zu einer unangemeldeten Partyreihe in den SB-Zonen der Sparkassen unter dem Motto »Reclaim the Sparkasse« (Fritzsche 2007: 11). Das Foyer wird dabei zum Möglichkeitsraum, dessen »Anziehungskraft gerade darin [besteht], daß man sich an der Grenze zum Unerlaubten bewegt« (Rolshoven 2000: 120).
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Von der Nutzung von Geldautomaten ausgeschlossen waren zunächst Kinder und Jugendliche sowie häufig Kunden ohne regelmäßiges Einkommen (vgl. Ehrlicher 1989: 18).
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V ON DER B EHÖRDE ZUM E RLEBNIS : D AS S ELBSTVERSTÄNDNIS DER B ANKEN IM W ANDEL Noch nach dem 2. Weltkrieg war das Bild der Banken in erster Linie mit dem des »soliden und integren« Bankiers verbunden. Der Historiker Hans Pohl (1998: 15) leitet dies aus den Bezeichnungen Bankbeamter und Schalterhalle ab. Die Bank sollte, so seine Folgerung, wie eine Behörde wirken. Die Kundenhalle war geprägt durch einen langen Tresen, der den Raum unterteilte. Schalter und Schalterhallen seien, so der Soziologe Günter Voß (1987: 190), charakteristisch für Banken und entscheidend für Sympathien, Bindungen und Ansehen der Banken, da sie »die wichtigsten Kontaktpunkte zwischen Instituten und Kunden« sind. Im Unterschied zu anderen Schaltern gehe es dabei zudem »um die besondere Ware Geld« (ebd.: 221). Die verschiedenen, in den Tresen integrierten Schalter waren nach den Geschäftssparten wie Giro-, Spar-, Wertpapier- und Kreditkonten gegliedert und bezeichnet. Wollte ein Kunde also mehrere Bankgeschäfte erledigen, so musste er sich an den unterschiedlichen Schaltern nacheinander anstellen und zudem über das Wissen verfügen, welcher Schalter in welchem Fall der richtige ist (vgl. Hauser 1979: 38). Durch den Tresen war der Raum in zwei Teile getrennt – auf der einen Seite die Mitarbeiter, auf der anderen die Kunden. Diese Gliederung des Raumes wies damit den Menschen auch ihre Rollen zu: Kunden mussten über das nötige Wissen und die Zeit verfügen, sich an der richtigen Stelle anzustellen. Der Raum als gerichteter Raum (vgl. Rolshoven 2003: 203) war physisch geteilt in ein Vorne und Hinten und vollzog damit aber auch die soziale Trennung von Banken zu ihren Kunden. Neben den Schaltern prägte die Panzerglas-Sicherung der Kassenschalter, die als Reaktion auf zahlreiche Banküberfälle seit 1966/67 durch die Unfallverhütungsvorschrift Kassen vorgeschrieben war, das Raumbild. Wollte der Kunde in Kontakt zum Kassenmitarbeiter treten, so konnte er das nur durch einen kleinen Schlitz im Glas (vgl. Biering 1988: 48). Kunden und Mitarbeiter waren beim Umgang mit Bargeld also noch stärker voneinander getrennt. Ab den 1980er Jahren wurde mit dem Abbau der Kassenboxen begonnen, wie die Sicherung aufgrund des auch nach oben hin absichernden Panzerglases bezeichnet wurde. Durch von Mitarbeitern bediente Bankautomaten wurde nun sichergestellt, dass kein direkter Zugriff auf Bargeld mehr möglich war (vgl. ebd.). Dies führte auch zu einer größeren Flexibilität in der Gestaltung der Räume, Kassenvorgänge konnten in die schon früher begonnene Umstrukturierung integriert werden. Die Umstellung auf die marktorientierte Absatzorganisation hatte in den 1970er Jahren begonnen, die Orientierung an Geschäftssparten wurde aufgegeben. Es galt dabei das Prinzip »alles aus einer Hand« (Baethge/Oberbeck 1986: 88). Kunden erhielten damit nur noch eine Anlaufstelle (vgl. Liebau 1983: 216 f.). Den einzelnen
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Mitarbeitern, nun Kundenberater genannt, wurden Kundengruppen zugeordnet. Ziel war dabei die »Übertragung der überschaubaren Atmosphäre einer Zweigstelle in das Hauptgeschäft« (Historische Gesellschaft für die Deutsche Bank e.V. 2009: 204). Die Umstrukturierung spiegelte sich insbesondere auch in der Gestaltung der Bankfilialen wider. Gefordert wurde der Abschied vom »Amtsstubencharakter« (ebd.: 205). Statt eines starren Tresens mit den verschiedenen Schaltern wurde der Raum in »Kundenberatungszonen« und »Selbstbedienungszonen« unterteilt (Baethge/Oberbeck 1986: 88). Mitarbeiter und Kunden bewegten sich im selben Raum und waren nicht länger voneinander getrennt.3 Programmatisch wurde das neue Selbstverständnis der Banken im Titel eines Artikels der Zeitschrift bank und markt formuliert: »Vom Bankbeamten zum kundenorientierten Gesprächspartner« (Helm/Hoerner 1979: 28). Gleichzeitig wurde eine Trennung in beratungsintensive und selbstbedienungsfähige Leistungen vorgenommen. Uneinigkeit bestand bei den Banken darüber, welchen Stellenwert diese unterschiedlichen Bereiche im Raum einnehmen sollten. So forderte beispielsweise der Finanzberater Dimitris Chorafas: »Der alte, von den Schaltern beherrschte Grundriß ist überholt […]. Wenn wir die Schalterangestellten durch automatische Vorrichtungen ablösen wollen (und das ist ja wohl der Fall), dann sollten die Schalter nicht mehr im Mittelpunkt der Geschäftsstelle stehen, denn sie haben nicht mehr den gleichen Stellenwert wie vorher. Der neue Schalter ist die ATM [Automated Teller Machine; S.B.].« (Chorafas 1989: 81)
Nicht mehr die persönliche Bedienung, wie etwa am Schalter, steht im Zentrum, sondern der Geldautomat selbst. Betrachtet man die Entwicklung der Bankräume, wird ersichtlich, dass sich andere Formen der Gestaltung durchsetzen konnten. Die persönliche Beratung sollte nicht aufgegeben werden, sondern in einer wohnlichen Umgebung stattfinden: »Blumengalerien und Teppichböden sorgen anstelle hallender Stein- und Linoleumfußböden für eine ansprechende, gedämpfte Gesprächsatmosphäre« (Baethge/Oberbeck 1986: 196 f.). Verfolgt wurde damit die »Bank mit Wohnzimmeratmosphäre, jedoch gleichzeitig mit hochtechnisierten Schnellzonen« (Pachtenheimer 1980: 21). Technische Geräte, wie der sich zu dieser Zeit verbreitende Geldautomat, haben hier ihren Platz neben der wohnlichen Einrichtung und bilden einen Kontrast zu dieser. Sie fungieren als Zeichen des Fortschritts und der
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Ähnlich erläutert dies Stephan Voswinkel auch für die Einführung der Selbstbedienung im Handel, insbesondere im Lebensmittelhandel: Bei der Bedienung durch Verkäufer sei der Kunde durch die Ladentheke als »Barriere« von den Waren getrennt gewesen. Durch die Einführung der Selbstbedienung verändert sich dieses Verhältnis: »Das Verkaufsgeschäft öffnet sich dem Kunden.« (Voswinkel 2005: 214).
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Modernität des Kreditinstituts; der Geldautomat darf und soll hier also als technisches Objekt sichtbar werden. Dies wird auch an der Gestaltung des Automaten selbst ersichtlich, dessen technische Wirkung durch das vorherrschende Metall unterstrichen wurde.4 Deutlich wird hier das von Gernot Böhme (1995: 34) beschriebene »Machen von Atmosphären«. Sie sind nicht einfach da, sondern sollen gezielt geschaffen werden, über die Einrichtung, aber auch über die Beeinflussung der Geräuschkulisse. Die Wahrnehmung des Raumes wird damit gezielt vorbereitet (vgl. Löw 2011: 208). Mit den Bereichen der Beratung beziehungsweise der Selbstbedienung waren differenzierte Vorstellungen der Geschwindigkeit verbunden: Für Routineaufgaben wie das Abheben von Geld standen Automaten zur Verfügung, die eine schnelle Abwicklung gewährleisten sollen. Für Beratungsgespräche sollte Geschwindigkeit dagegen keine Rolle mehr spielen. Diese Unterscheidung wird auch bei einer Werbeanzeige der Firma Nixdorf Computer herausgestellt: »Hier werden die Kunden jetzt schneller bedient, weil die Bank schneller bedient wird: Von Nixdorf Computersystemen, die die Abwicklungsroutinen beschleunigen, […] und alle Bearbeitungszeiten auf ein Minimum reduzieren. Nixdorf-Schnelligkeit, die den Banken hilft, wieder mehr Zeit in die persönliche Beratung zu investieren.« (Nixdorf Computer 1985: 180 f.)
Nach der Betonung der hohen Geschwindigkeit des Automaten wird der zeitliche Aspekt umgekehrt und auf die neu gewonnene Zeit für Beratungsgespräche verwiesen, die einer Rechtfertigung für die Einführung von Geldautomaten gleicht. Die Bedeutung der Geschwindigkeit und die Einführung von Geldautomaten sei jedoch nicht nur auf Rationalisierungsbestrebungen der Banken zurückzuführen, sondern entspreche dem Wunsch der Kunden, da »der heutige ›eilige‹ Kunde an einer schnellen Abwicklung dieser [Routinegeschäfte] interessiert« sei (Liebau 1983: 218). Die Kunden mussten durch die Einführung der Selbstbedienung in Form von Geldautomaten nicht mehr in persönlichen Kontakt zu den Mitarbeitern der Banken treten, sondern konnten viele Leistungen selbst und außerhalb der Öffnungszeiten erbringen. Inwiefern Bankkunden das aber alleine können, wurde zu Beginn der Entwicklung kritisch gesehen. So forderten die Banken, die Geldautomaten so auf-
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Dies zeigt sich auch in den Beschreibungen des Geldautomaten als »eisern« (Hoffmann 1985: 16) und »stählern« (Lütge 1986: 24). Andere Umschreibungen betonen die Technizität und benennen den Geldautomaten als »elektronischen Bankangestellten« (N.N. 1984: 23.), »Geldmaschinen« (N.N. 1985: 16), »EDV-Schalter« (N.N. 1986: 89) oder »Geldcomputer« (N.N. 1982: 24).
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zustellen, dass die Mitarbeiter jederzeit sehen können, wenn sich Kunden am Geldautomaten aufhalten. Darüber hinaus wurde über eine technische Verbindung zwischen dem Geldautomaten und dem Arbeitsplatz der Mitarbeiter nachgedacht, etwa in Form von Telefonleitungen, Videokameras oder einfachen Leuchtanzeigen. Unter dem Schlagwort »Entpersönlichung« (Reiter 1982: 13) wurde das veränderte Verhältnis von Kunden zu ihrer Bank diskutiert. Gefordert wurde, dass Berater informiert werden, wenn ein Kunde den Geldautomaten benutzt, und Beratungswünsche außerhalb der Öffnungszeiten gespeichert werden können (vgl. ebd.). Damit sollte bei den Kunden der Eindruck entstehen, weiterhin in einer persönlichen Beziehung zur Bank zu stehen, denn auf den Kontakt zu den Mitarbeitern, so die Vermutung, würden Kunden nicht verzichten wollen. Außerdem – und dies scheint mir einen Hinweis auf die größere Sorge der Banken zu geben – sollte dadurch auch weiterhin die Möglichkeit des cross-selling bestehen, indem der Berater den am Geldautomaten stehenden Kunden gezielt für ein Beratungsgespräch ansprechen könne (vgl. Liebau 1983: 223; Cordewener 1981: 166). Durch die Ausgliederung der Routinegeschäfte an Geldautomaten in die SBZonen war die Kundenhalle nicht länger der zentrale Anlaufpunkt der Kunden. Als »Fluch der Technik« bezeichnete dies der Journalist Heinrich Thöns (1986a: 39) im Hamburger Abendblatt. Durch die zunehmende Aufstellung von Geldautomaten kämen immer weniger Kunden in die Filialen: »Man muß den Kunden nachlaufen, wo man sie zu fassen bekommt, um sie zu beraten – für Kredite oder Geldanlagen«, so kommentierte er die geplante Einrichtung von Bankbüros in Warenhäusern. Und weiter: »Die Geldinstitute werden sich – durch Qualität und Atmosphäre – so attraktiv machen müssen, daß sie als Nachbarschaftsvertraute ihrer Kunden zum Magneten werden.« Der Platz vor dem Schalter fungiert in der Kritik an der Automatisierung der Banken als Ort der Menschlichkeit. Das Warten in der Schlange und der Kontakt mit den Bankangestellten habe, so Thöns in einem anderen Artikel, die »Funktion des früheren Tante-Emma-Ladens an der Ecke« (Thöns 1986b: 21). Diese Sichtweise mag verklärend wirken, findet sich jedoch häufig als Gegenüberstellung von kühlen, seelenlosen Automaten und freundlichen Bankmitarbeitern. Die Gestaltung der Räume und die damit geschaffene Atmosphäre wurden als zentrales Instrument gesehen, um auf das gewandelte Verhältnis zwischen den Banken und den Kunden durch die Einführung der Selbstbedienung einzuwirken: »Je weniger der Kunde jedoch im klassischen Sinne bedient wird, desto wichtiger ist die psychologische Funktion, die die Innenarchitektur einer Bank zu übernehmen hat. Lichtführung, Farben, Materialien und Raumerlebnis sind Komponenten, mit denen der gefühlsmäßigen Entpersönlichung der Routineleistung entgegengewirkt werden muß.« (Fleischhauer 1982: 120)
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Die gesamte Erscheinung wurde vom Konzept der Corporate Identity bestimmt, das die »Persönlichkeit« der Banken widerspiegeln sollte (Lorenz 1988: 15). Der Geldautomat galt als austauschbares Produkt, das nicht in die aufkommende Idee des Corporate Design passte (vgl. Hartwig 1995: 315). Verkleidungen wurden als adäquates Mittel gesehen, den Geldautomaten in die Gesamtgestaltung zu integrieren. Häufig war der Geldautomat so in die Wände eingebaut, dass dieser nur noch durch die Beschriftung als »Geldautomat« erkennbar war (vgl. Biering 1988: 63). Auch die Hersteller der Automaten reagierten auf diese Entwicklung und entwarfen individuell anpassbare Geldautomaten, damit »die Systeme nicht mehr wie Fremdkörper in sonst durchgestylten Kundenzonen wirken« (N.N. 1997: 46). Ein weiteres Schlagwort bestimmte ab den 1990er Jahren die Diskussion über die Gestaltung der Banken: »Erlebnisorientierung«. Der Besuch bei der Bank sollte damit nicht mehr dem einer Behörde gleichen, sondern zum Erlebnis werden (vgl. Hartwig 1995: 316 f.). Die Innenraumgestaltung orientierte sich nach wie vor an der »Wohnzimmeratmosphäre«, sollte dabei aber offener wirken und wurde ergänzt durch Elemente aus »Science-fiction-Fernsehserien, cooler Club-Culture, Wohnzimmer-Lounges und Chill-out-Rooms, also aus Bereichen der Jugendkultur«, wie dies der Architekt Martin Kaltwasser (2001: 184) beschreibt. Damit sollten insbesondere auch Jugendliche angesprochen und erreicht werden, die als neue Zielgruppe seit den 1990er Jahren in den Blick geraten waren. In einer Gesprächsrunde zur Bankenplanung aus gestalterischer Sicht auf der Messe Orgatec bezeichnete ein Teilnehmer diese Erlebnisatmosphäre auch abschätzig als »›Behübschung‹ einer Automatenlandschaft« (N.N. 1998: 86), die damit in seinen Augen der verfolgten Vermittlung von Seriosität widerspricht. Ein anderer, auf die Inneneinrichtung spezialisierter Teilnehmer konstatierte: »Eine Bank betrifft das Innerste des Menschen, nämlich sein Vermögen […]. Das ist ein sehr sensibler Bereich.« (ebd.) Aus diesem Grund sei es insbesondere wichtig, das Gefühl der Sicherheit zu erzeugen. Durch die Architektur des Bankgebäudes und die Innenraumgestaltung sollen also einerseits Solidität und Vertrauen vermittelt werden, andererseits aber auch Schwellenängste und Barrieren abgebaut werden, wie dies bei der Erlebnisorientierung verfolgt wird. Bis zu diesem Zeitpunkt waren viele Geldautomaten in einzeln betretbaren Räumen oder Nischen aufgestellt, die der Sicherheit und Diskretion dienten, indem sie das Verstauen des Geldes und die Eingabe der PIN vor den Blicken Fremder schützten. Dies sei notwendig, um nicht andere Menschen leichtsinnig auf das Geld aufmerksam zu machen (vgl. Fleischhauer 1982: 121 f.; Biering 1988: 62).5 Im Zu-
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Eigene Beobachtungen geben einen Hinweis darauf, dass sich der Umgang mit dem gerade abgehobenen Geld gewandelt hat: Viele Menschen, die gerade am Geldautomaten Geld abgehoben haben, verstauen dieses im Gehen, beim Verlassen des Automaten. Die
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ge der Erlebnisorientierung wurden diese Nischen und kleinen Räume abgebaut. Die Raumwirkung sollte großzügig und offen sein, zudem forderte die einsetzende Videoüberwachung gut einsehbare Räume (vgl. Kaltwasser 2001: 185; Ehrlicher 1989: 22). Schutz vor direkten Blicken boten in die Geldautomaten integrierte Sichtblenden oder kleinere Sichtschutzwände, Trennlinien auf dem Boden und unterschiedliche Bodenbeläge sollten zudem auf die erwünschte Distanz aufmerksam machen (vgl. Hartwig 1995: 314 f.). Die Frage nach der Diskretion war in den 1980er Jahren auch für Bankschalter diskutiert worden, nachdem sich Kunden immer wieder beschwert hatten, dass andere Wartende mitbekommen, wie viel Geld dort abgehoben wird, denn »[w]enn’s um Geld geht, läßt sich niemand gern über die Schulter schauen« (Stemmler 1986: 3). Mit Schildern am Schalter, Aufstellern im Kundenraum und weißen Linien auf dem Fußboden sollte der Abstand gewährt werden. Die Kunden begrüßten die Einführung dieser »Diskretionszone« zwar, allerdings hielten sie trotzdem nicht mehr Abstand. Dies wurde auf die mangelnde Gewöhnung zurückgeführt. Diskretion spielt auch auf den Geldautomaten selbst bezogen eine wichtige Rolle, was insbesondere ab den 1990er Jahren zu einer positiven Bewertung des Automaten führte. Dabei wurde meist ein Gegensatz zwischen dem Geldautomaten und den Bankangestellten hergestellt, wobei letztere »unnötig laut herumposaunen« (Saur 1997: o.P.). Der Geldautomat dagegen »hat niemals irgendwelche Fragen und schaut nicht streng, wenn der Kontostand mal an Grenzen stößt. Immer wirft er die Summe aus, die ich eingetippt habe.« (N.N. 2002: 1) Insbesondere bei der Überziehung des Kontos wird auf die Diskretion durch den Geldautomaten verwiesen: »Zwar erfährt man dort manchmal die grausame Wahrheit über Dinge, die man seinem Konto angetan hat, doch steht man deswegen nicht gleich völlig würdelos herum.« (Saur 1997: o.P.) Hier wird also gerade die sonst hervorgehobene menschliche Seite der Bedienung am Schalter ins Gegenteil gekehrt und als Indiskretion wahrgenommen. Die sonst kritisierte Anonymität wird als höhere Diskretion in Form von Neutralität positiv bewertet. Diese Wandlung spiegelt sich auch in einer Umfrage des Fraunhofer Instituts (2011: 11) wider: Die Anonymität von Automaten, in diesem Fall positiv konnotiert, ist bei etwa jedem vierten Befragten ein Argument für deren Nutzung. Seit den 1990er Jahren kommt es damit zu einer Umwertung des Geldautomaten: Galt er bis dahin als anonymes, seelenloses und damit negativ besetztes Gerät, so scheint er nun gerade durch diese Eigenschaften als besonders diskret.
Befürchtung, mit dem gerade abgehobenen Geld gesehen zu werden, scheint dabei keine Rolle zu spielen.
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D ER G ELDAUTOMAT : Z WISCHEN R ATIONALISIERUNG , M ODERNISIERUNG UND ANONYMISIERUNG DER B ANKEN Dieser Beitrag hat gezeigt, wie sich das Erscheinungsbild der Banken durch neue technische Möglichkeiten wie dem Geldautomaten aber auch Aspekte der Sicherheit und (vermeintlich) veränderte Kundenbedürfnisse verändert hat. Mit der Einführung des Geldautomaten sollte einerseits die Rationalisierung des Bankwesens, insbesondere der Kassenvorgänge, andererseits aber auch die Modernisierung desselben erfolgen. Den durchaus kritischen Stimmen, auch von Seiten der Banken, zur Einführung des Geldautomaten wurde vorgeworfen, Neuerungen gegenüber nicht aufgeschlossen zu sein: »Derjenige, der ein Rädchen im Getriebe, einer von vielen ist, mag es nicht, wenn Dinge immer wieder in Frage gestellt werden.« (Chorafas 1989: 84) Die Einführung der Kundenselbstbedienung scheint hier als quasinatürlicher Prozess, ein Verharren am Alten als konservativ. An der aufgezeigten Entwicklung wird zudem ein durchaus widersprüchliches Verhältnis der Banken zu ihren Kunden sichtbar: Einerseits sollten sie Routinegeschäfte an den Geldautomaten in den Foyers der Banken selbst erledigen. Andererseits wurde durch die Übernahme von Konzepten aus dem Handel die behördenähnliche Wirkung abgebaut. Banken wurden zu Verkaufsräumen, in denen Kunden gezielt Bankleistungen verkauft werden, Schwellenängste sollten dazu abgebaut werden. Im Kontrast zur Erlebnisorientierung steht jedoch das Bestreben der Kreditinstitute, ihren Kunden Sicherheit und Seriosität zu vermitteln und damit Vertrauen aufzubauen. Dieses Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Erlebnis zeigt sich auch an der Gestaltung und Wahrnehmung des Geldautomaten: Nachdem er zunächst als technische Spielerei kritisiert wurde, wurde seit den 1990er Jahren insbesondere der spielerische Umgang bei der Bedienung des Gerätes beispielsweise durch Touch-Screens hervorgehoben (vgl. Stieffenhofer/Uhe 1990: 28). Aber nicht nur die Bedienung des Geldautomaten als neues technisches Gerät, sondern auch die Frage nach dem Bedürfnis nach persönlichen Absprechpartnern und damit dem Maß an Anonymität, das beim Umgang mit Geld akzeptabel oder sogar erforderlich ist, wandelte sich in den letzten Jahrzehnten.
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Entstörungstechniken Falschgeldprävention aus kulturwissenschaftlicher Perspektive I L -T SCHUNG L IM
1. E INLEITUNG Verglichen mit den großen Wirtschaftskrisen, wie zuletzt der globalen Finanzkrise seit 2007, stellt ein ökonomisch dysfunktionales Phänomen wie die Produktion und Verbreitung von Falschgeld eine weitaus geringere Störung der Ökonomie und ihrer Funktionsfähigkeit dar. Falschgeld als Problem und Herausforderung ökonomischer Operativität ist als Folge einer sich wechselseitig verstärkenden Dynamik von qualitativ immer hochwertigeren Fälschungen einerseits und einer unentwegt an fälschungssicheren Standards und Prüfverfahren arbeitenden Praxis der Falschgeldprävention andererseits, ein mehr oder weniger erwartbares, und darin nicht zuletzt auch kontrollierbares Phänomen geworden. Wenn Elastizität und Bewältigungskompetenz einer ökonomischen Ordnung im Umgang mit Falschgeld auf eine sich mit der Zeit stabilisierende Routine in der Praxis der Echtheitssicherung von Geld zurückgeführt werden können, dann liegt die Frage nahe, wie solche Friktionen und Störungen vor ihrer vergleichsweise erfolgreichen Domestizierung wahrgenommen, beobachtet und schließlich durch präventive Maßnahmen bearbeitet wurden. Wie wird sozusagen am Nullpunkt der Störung an der Entstörung gearbeitet? Welche Techniken und Strategien stehen angesichts eines sozial noch nicht bearbeiteten Problems zur Verfügung? Die Zirkulation von Papiergeld in der US-amerikanischen Geldwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich soziale Verfahren der Prävention zu einem Zeitpunkt herausbilden, wo sich entsprechende Standards zuallererst entwickeln und bewähren müssen. Papiergeld ist in dieser Phase ein heftig umstrittenes Geldformat, und folglich auch noch weit davon entfernt, Routinen in der alltäglichen Geldverwendungspraxis auszubilden (Car ruthers/Babb 1996). Seine mangelnde Institutionalisierung, und somit auch ein
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nur geringes Systemvertrauen in das Geldmedium, stellen also eine besonders günstige Geldmedienumgebung für Falschgeldoperationen dar – und demzufolge eine vergleichsweise große Herausforderung für die Falschgeldprävention (Mihm 2007). Damit soll nicht behauptet werden, dass Falschgeld heute nur noch ein sekundäres Bearbeitungsproblem darstellt; und schon gar nicht sollte ein Vergleich zwischen Falschgeld und Finanzkrise als unterscheidbaren ökonomischen Störungsklassen zu der Auffassung einer qualitativ festgeschriebenen Differenz hinsichtlich der jeweiligen Störungsqualität – hier die kleine Störung im System, dort der mögliche Kollaps und Komplettzusammenbruch des Systems – verleiten. Auch Katastrophen beginnen im Kleinen und können sich über diese Mikroprozesse hinausgehend zu systemrelevanten Krisen ausweiten (vgl. dazu Vollmer 2013, Egner u.a. 2012).1 Vielmehr soll die Beobachtung der US-amerikanischen Geldwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert in ihrem Umgang mit Falschgeldpraktiken aufzeigen, dass sich hier ein Muster der Falschgeldprävention herauspräparieren lässt, das gewissermaßen avant la lettre eine ›Kultur des Kopierschutzes‹ (Schröter u.a. 2010a, 2010b) entfaltet. ›Kultur des Kopierschutzes‹ meint, dass die medientechnischen Möglichkeiten zur Reproduktion nahezu beliebiger Gegenstände »zwingend die Entstehung einer technischen Nicht-Reproduzierbarkeit zur Folge« (Schröter 2010: 14) haben. Die Entstehung einer technischen Nicht-Reproduzierbarkeit wiederum formiert sich nach Schröter entlang von drei Komponenten: erstens durch strafrechtliche Sanktionen; zweitens durch ein hochspezialisiertes Professionswissen, wobei der Zugang zu diesem sensiblen Wissen um Fertigungs- und Reproduktionsverfahren rigide reglementiert ist; und drittens durch die Einübung von Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungstechniken, die das alltägliche Diskriminierungsvermögen zwischen echt und falsch, Original und Fälschung steigern sollen. Das Zusammenwirken von juristisch-institutionellen, medialen und körpertechnischen Elementen formiert demnach das Dispositiv der Echtheitssicherung, das auf der Grundlage der Leitdifferenz von Original/Kopie oder echt/falsch durch Techniken der Sanktionierung, der Verknappung und der Schärfung der haptischen Wahr-
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Ein gutes Beispiel ist das »Unternehmen Bernhard«, jenes groß angelegte Falschgeldprojekt der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg, das als waffentechnisches Element der Kriegführung durch die massenhafte Fälschung des britischen Pfunds die Schwächung der britischen Wirtschaft herbeiführen sollte. Vgl. dazu Kretschmann 2001: 107 ff.; zu dieser und auch weiteren historischen Störoperation mittels Falschgeld ferner Bower (1995). Aus einer systemtheoretischen Perspektive müsste man schließlich darauf hinweisen, dass die Störqualität von Falschgeld eminente Folgen für das Gesamtsystem der Ökonomie haben könnte, insofern – wie unwahrscheinlich dieser Fall auch immer sein mag – die, mit Rudolf Stichweh (2010) gesprochen, Korruption des Geldsymbols sich zu einer Funktionssystemkrise insgesamt ausweiten könnte.
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nehmung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten reproduktionssensible Artefakte schützt. Während strafrechtliche Sanktionen aber erst dann wirksam werden können, wenn eine unzulässige Reproduktion bereits stattgefunden hat, stellen Expertenwissen und Wahrnehmungstechniken die eigentlichen Kernbereiche der Falschgeldprävention dar. Innerhalb der temporalen Struktur eines Zirkels der Störungskommunikation, der Falschgeld als ökonomischen Störfall in ein »Davor«, »Während« und »Danach« schematisiert, wäre die Sanktion also primär dem Bereich der kommunikativen Nachbearbeitung einer Störung zuzurechnen. Die bis heute auf Geldscheinen lesbare Annotation, wonach die illegale Reproduktion von Geld strafbar (früher: Todes-, heute: Freiheitsstrafe) ist, mag zwar eine abschreckende und insofern strafvereitelnde Wirkung haben, die durch die bloße Androhung strafrechtlicher Konsequenzen präventiv wirksam ist. Falschgeldprävention im eigentlichen Sinne, das war auch schon die Vorstellung in der USPapiergeldwirtschaft des 19. Jahrhunderts, sollten aber vor allem die beiden anderen Faktoren, die Kommunikation von Expertenwissen und Wahrnehmungstraining, leisten.
2. F ALSCHGELD
ALS
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Bevor sich die Darstellung diesen beiden Präventionstypen zuwendet, möchte ich zunächst in aller Kürze auf ein für die Reflexion der Fälschung wesentliches Merkmal eingehen, das die Fälschungskategorie zugleich in die semantische Nähe von kulturwissenschaftlichen Beschreibungen gesellschaftlicher Störphänomene rücken wird. Denn ohne das Spezifische einer Fälschung unterschlagen zu wollen oder pauschal unter einen Großbegriff zu subsumieren, erscheint es dennoch adäquat, Fälschungsphänomene als eine besondere Klasse von Störfällen auszuweisen: Jede Fälschung stellt eine Störung dar, aber nicht jede Störung ist eine Fälschung.2 Fälschungen stören das »reibungslose Funktionieren bestimmter Wissensgebiete, institutioneller Bereiche oder Kommunikationsordnungen von innen heraus in actu, insofern sie dafür sorgen, dass in diesen Feldern gültige Aussagen und Praktiken auf den Prüfstand gestellt werden.« (Doll 2012: 12) Als Störung legt die Fälschung aber nicht nur die diskursiven Regeln von sozialen Ordnungen frei, sondern sie schärft vor allem auch den »reflexiven Blick auf kulturelle Verarbeitungsroutinen« (Koch/Petersen 2011: 10), und damit dafür, wie Gesellschaften mit der »Notwendigkeit weiterbearbeitender Zukunftsorientierung« (ebd.: 9) angesichts eines Störgeschehens umgehen.
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Einen guten Einblick in die kulturwissenschaftliche Fälschungsforschung bietet Reulecke (2006); zum Konzept der Störung vgl. Koch/Petersen/Vogl (2011).
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Eine Besonderheit der Fälschung als einer spezifischen Klasse von Störphänomenen ist jedoch, dass sich von einer Fälschung nicht einfach aufgrund bestimmter Merkmale oder Eigenschaften eines gefälschten Artefaktes sprechen lässt, also nicht wegen einer wie auch immer gearteten »inneren Beschaffenheit« eines Gegenstandes, sondern, wie Umberto Eco formuliert hat, »kraft einer Identitätsbehauptung.« (Eco 1992: 227, Herv. i. Orig.) Eco sieht in einer Fälschung also vor allem ein pragmatisches oder kommunikatives Problem. In seinem für die Fälschungsforschung einschlägigen Aufsatz Nachahmungen und Fälschungen hält er für das Vorliegen einer Fälschung zwei Bedingungen fest: »Es muß, wenn die wirkliche oder angenommene Existenz eines von A (einem menschlichen oder nichtmenschlichen Akteur) hervorgebrachten Gegenstandes Ga in einer bestimmten geschichtlichen Situation T1 gegeben ist, ein anderer, davon verschiedener von B (menschlicher oder nichtmenschlicher Autor) in der Situation T2 hervorgebrachter Gegenstand Gb existieren, der unter bestimmten Gesichtspunkten eine starke Ähnlichkeit mit Ga (oder einer traditionellen Vorstellung von Ga) aufweist. Die ausreichende Bedingung für eine Fälschung besteht darin, dass jemand erklären muß, Gb sei identisch mit Ga.« (Ebd.: 226, Herv. i. Orig.)
Für Eco ist dabei die Frage, ob der Autor oder die Autorin von Gb eine Täuschungsabsicht verfolgt hat, jedoch vollkommen zweitrangig. Und selbst noch der Sachverhalt, dass jemand eine Identitätsbehauptung zwischen Gb und Ga unterstellt, ist für das Vorliegen einer Fälschung sekundär. Denn dieser, in Ecos Terminologie, Prätendent, kann ja ehrlich an die unterstellte Identität glauben. Eine Fälschung, so Eco, »ist darum nur eine für einen äußeren Beobachter – den Richter –, der, da er weiß, daß Ga und Gb zwei verschiedene Gegenstände sind, begreift, daß der Prätendent, sei es böswillig oder guten Glaubens, eine falsche Identifikation vorgenommen hat.« (Ebd., Herv. i. Orig.) Es ist hier die Figur des beobachtenden Richters, der innerhalb der abstrakten Rollentrias aus Autor, Prätendent und Richter die entscheidende Funktion der Verifizierung oder Falsifizierung einer Identitätsbehauptung zufällt. Denn die Richterfunktion macht deutlich, dass es nicht vorrangig um die Frage geht, ob es sich bei einer Fälschung um die Fälschung eines Echten oder eines Authentischen handelt, sondern darum, was diese Fälschung bis zu ihrer Aufdeckung als echt erscheinen ließ und vor allem: warum und aufgrund welcher Verfahren sie diesen Status dann wieder verlieren muss. Damit hören Unterscheidungen von echt und falsch, von Original und Kopie natürlich nicht auf, kulturell und sozial Sinn zu machen. Gerade im Umfeld postmoderner Theorieansätze wird die Fälschung aber gerne als eine mit subversiven Prestigeanleihen versehene Wissensfigur dargestellt, weil sie kulturelle Gewissheiten, Muster und Routinen verstöre und in ihrer Kontingenz sichtbar mache. Kulturtechniken wie der Fake oder Mashups gelten als kreative künstlerische Strategien, mit denen zuweilen auch im Gestus der Abgeklärtheit und Ironie auf
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diese massive kulturelle Verunsicherung über bisher bewährte Echtheitsnarrative reagiert wurde (Römer 2001; Schwartz 1996; von Gehlen 2011). Im Sog dieser Faszination für die Fälschung, die Kopie und noch weiteren »Praktiken des Sekundären« (Fehrmann/Linz/Schumacher/Weingart 2004), droht dann aber beinahe in Vergessenheit zu geraten, dass sich die Fälschung nur auf der Grundlage eines Vergleichs mit dem, was imitiert, kopiert und nachgestellt wird, beobachten lässt – und nicht zuletzt auch, dass es sich bei der Fälschung um ein sozial zu bearbeitendes Störphänomen handelt. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich nun den beiden weiter oben genannten Präventionstypen, also der Kommunikation von Expertenwissen und der Einübung von Wahrnehmungsroutinen, in der US-amerikanischen Geldwirtschaft zuwenden – und damit der Frage, wie, in Ecos Metaphorisierung gesprochen, die Funktion des Richters hier vollzogen wird.
3. »C OUNTERFEIT D ETECTORS « UND DER U NITED S TATES S ECRET S ERVICE – ODER : D AS W ISSEN DER E XPERTEN UND DIE H APTIK DER F ALSCHGELDWAHRNEHMUNG Die Geschichte der Falschgeldprävention in der US-amerikanischen Papiergeldwirtschaft lässt sich bis zu dem von Benjamin Franklin bereits im 18. Jahrhundert für den Gebrauch in den amerikanischen Kolonien entwickelten NaturselbstdruckVerfahren – das sogenannte Stereotyping-Verfahren, bei dem der Abdruck eines Pflanzenblattes auf einen metallischen Träger zur Vervielfältigung übertragen wird – zurückverfolgen (vgl. dazu Bernasconi 2010; Newmann 1971). Es sind aber dann vor allem die im 19. Jahrhundert in großer Zahl publizierten sogenannten Counterfeit Detectors – Publikationen, in denen produktionstechnische Merkmale und Standards zur Identifizierung von Falschgeld formuliert wurden –, die zum maßgeblichen Instrument in der Falschgeldprävention werden sollten. »The Counterfeit Detector is like a powerful optical instrument. It reveals to you, through the darkness of human hypocrisy, a dim outline landscape of a great system of counterfeiting, by which, however, you may know with perfect safety that it is nearly as extensive as our vastly ramified system of banks, and may be regarded as an image of that system from the mirror of the depraved classes.« (Dillistin 1949: 53, Herv. i. Orig.)
Dillistins Studie von 1949 ist nicht nur die bis heute umfangreichste und verlässlichste Quelle, die Auskunft über die Verbreitung der Counterfeit DetectorPublikationen gibt. Seine Studie verschafft auch einen luziden Einblick in die Aussichtslosigkeit in der Bekämpfung von Falschgeld angesichts des Fehlens eines einheitlichen Papiergeldstandards bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg. Solange
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jeder amerikanische Einzelstaat sein eigenes Geld emittierte, war es schlichtweg unmöglich, einheitliche Maßstäbe zu finden, die auch jenseits der bundesstaatlichen Grenzen die Echtheit der massenhaft von seriösen bis sogenannten Wildcat-Banken ausgegebenen Banknoten zweifelsfrei zu überprüfen erlaubten. So schnell, wie neue Falschgeldnoten auftauchten, kamen die Counterfeit Detectors überhaupt nicht nach, neu entdeckte Fälschungen zu dokumentieren. Die Pluralität von Banknoten forcierte darüber hinaus auch noch eine Dynamik, in der ausgerechnet die Counterfeit Detectors der Falschgeldproduktion ironischerweise in die Hände spielten. Denn zahlreiche der organisierten Falschgeldbanden ließen bewusst handwerklich schlecht gefertigte Fälschungen in den Umlauf bringen, mit dem Kalkül, dass diese Noten in den Counterfeit Detectors auftauchten, um schließlich davon abweichende Falschgeldnoten herzustellen und in den Umlauf zu bringen (vgl. Mihm 2007: 209 ff.). Abbildung 1: Buchcover der bekanntesten US-amerikanischen Counterfeit Detector-Publikation
Quelle: Heath’s Infallible Counterfeit Detector at Sight, 1864, New York, Archiv der American Numismatic Society, New York.
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Dennoch stellten diese Publikationen die einzige Wissensquelle in der Authentifizierung und Echtheitssicherung von Geld dar, was nicht zuletzt auch die heftige Konkurrenz anschaulich macht, die die Counterfeit Detectors untereinander austrugen: »There is quite a competition at the present time in the business of publishing COUNTERFEIT DETECTORS. New works of the kind are constantly springing up, with a great flourish of trumpets, puffing, advertising, ›newspapering,‹ etc. And what is very amusing, the publishers of every new enterprise of the kind, endeavor to make the public believe that their work is in all respects vastly superior to all other Detectors ever before published – more reliable, more correct, has greater facilities, more sources of information, etc. etc. […].« (Dillistin 1949: 53 f., Herv. i. Orig.)
Dass die besondere monetäre Konstellation in der US-amerikanischen Papiergeldwirtschaft insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts günstige Bedingungen für Falschgeldpraktiken schuf, was sich zuallererst in der eklatanten Unkenntnis der Bevölkerung über die Validität der unzähligen Banknoten niederschlug, autorisierte die Autoren der Counterfeit Detectors fast zwangsläufig zu Falschgeldexperten. Diese Akkumulation an Expertenmacht übersieht aber leicht, worauf auch Dillistin hinweist, dass es praktisch keine Institutionalisierung gab, die dann beispielsweise die Kompetenz zur Expertise zertifizieren konnte, so dass der Zugang eher durch sachfremde Faktoren (etwa schlicht den Mangel an Geld für die Herstellung der Publikationen) reglementiert wurde. Das änderte sich erst mit dem United States Secret Service (kurz: U.S.S.S.), also jener Geheimdienstbehörde, die ursprünglich als politisches Instrument zur Bekämpfung vor allem von Wirtschaftskriminalität Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde (Johnson 1995; Kagan Wartenberg 2010). Der U.S.S.S. löste die Counterfeit Detectors als zentrale Instanz in der Falschgeldprävention im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sukzessive ab – ein Umstand, der nicht zuletzt auch mit der Ausgabe des Greenback zusammenfällt, also jener exklusiv von der Zentralbank emittierten und mit wenig Änderungen bis in die 1990er Jahre gültigen Einheitsnote. Der vorrangige Modus in der Beweisführung von Falschgeld des U.S.S.S. ist dabei ein vorrangig visueller, involviert aber, was nicht weniger wichtig ist, auch Aufmerksamkeits- beziehungsweise Wahrnehmungstechniken, was ich im Zusammenhang mit einer Illustration im Rahmen der sogenannten Know your MoneyKampagne des U.S.S.S. kurz erörtern möchte.3 Der U.S.S.S. beginnt 1941 mit der Verbreitung von Informationsbroschüren zur Falschgeldprävention im Rahmen der
3
Zu einer ausführlicheren Darstellung der spezifisch visuellen Kommunikationsstilistik in der US-amerikanischen Falschgeldprävention vgl. auch Lim (2013).
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Know your Money-Kampagne – einer Aufklärungskampagne, die vornehmlich als Bildkampagne angelegt ist. Diese steht, wie anhand der vielfach zum Einsatz kommenden visuellen Verfahren der Gegenüberstellung, Kontrastierung und des Vergleichs unschwer zu erkennen ist, in der Tradition einer Technik visuellen Argumentierens, die heute längst in das allgemeine Repertoire unterschiedlichster populärer Bildverwendungspraktiken eingegangen ist (etwa die einschlägig bekannten Vorher-/Nachher-Bilder in der Bewerbung etwa von Diätprogrammen). Das aus der Kunstgeschichte und Kunstpädagogik, und nicht zuletzt auch in der Erzeugung kriminalistischen Wissens (Lombroso) vertraute Vergleichsbild (beziehungsweise die Seh-Praxis des vergleichenden Sehens) ist einer der bevorzugten Bildtypen, die in der Know your Money-Kampagne des U.S.S.S. zum Einsatz kommen.4 Das liegt schlicht daran, dass komparatistische Verfahren besonders evident und anschaulich Orientierungen in der Gegenüberstellung von Unterscheidungspaaren verschaffen und Bildpaare, die nach dem Schema vorher/nachher, richtig/falsch, Original/Kopie, oder in Ecos Terminologie: in der Gegenüberstellung von Gb und Ga, geordnet sind, Zurechnungen über die Falschheit einer Banknote vereinfachen. Folgt man Felix Thürlemann, dann bezeichnet das Vergleichsbild nicht nur eine grundsätzlich andere Klasse von Bildern, die sich vom Einzelbild kategorisch unterscheidet, sondern darüber hinaus lassen sich diesen beiden Bildtypen zwei grundsätzlich verschiedene Verhaltensweisen gegenüber dem Bild zuordnen.5 Demnach folge die kognitive Verarbeitung des visuellen Syntagmas im Bildvergleich eigenen Regeln, die aus dem vergleichenden Sehen eine primär »intellektuelle Operation« (Thürlemann 2005: 167, Herv. i. Orig.) machten, weil die Wahrnehmung von Bildzusammenstellungen die Fähigkeit zur Kategorienbildung voraussetze. Als intellektuelle Tätigkeit, so ließe sich dann auch mit Peter Geimer (2010) bilanzieren, stellt die Sehtechnik des Vergleichs dann eine spezifisch kognitive Operation dar, in die immer schon kulturelle Raster und Repertoires wie Erwartungen, Strategien, Wünsche, Assoziationen und ebenso Regeln, Funktionen und Geltungsgrenzen des Vergleichs eingelagert sind. Allerdings ist diese Praxis der paarweisen Zusammenstellung von Bildern, sofern sie in ihrer Adressierung tatsächlich einen kognitiven
4 5
Zum Vergleichsbild vgl. Bader/Gaier/Wolf (2010). Zum Einzelbild heißt es dabei: »Wenn man sich jedoch fragt, welche Klassen von Bildern innerhalb unserer Kultur mit Vorliebe einzeln dargeboten und rezipiert werden – es sind dies die Ikone oder das Gnadenbild, das Bild des verehrten oder geliebten Menschen, das überragende Meisterwerk im Sinne der modernen Ästhetik oder eben das Pinup-Girl – so handelt es sich allesamt um Bilder, die an Reflexe wie ›Verehrung‹ und ›Bewunderung‹ appellieren, an Rezeptionsformen, die den Bildgegenstand (oder das Bild selber) personalisieren, es als leibhaftes Gegenüber vermenschlichen und gleichzeitig als ›unberührbar‹ auf Distanz halten.« (Thürlemann 2005: 166 f.).
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Rezeptionsmodus fokussiert, äußerst voraussetzungsreich: Sie mag zwar in der Handlungsentlastetheit von fälschungsanfälligen Interaktionen ein wirksames didaktisches Instrument sein, jedoch unterschätzt sie, dass im Alltag in den allermeisten Fällen schlicht und einfach zu wenig Zeit für eine eingehende Prüfung von Geldscheinen bleibt. Das scheint auch dem U.S.S.S. bewusst gewesen zu sein, der sich nicht allein auf die Evidenzkraft visueller Vergleichsarrangements in der Falschgeldprävention verlassen, sondern auch an das haptische Vermögen eines impliziten Wissens appelliert hat, das als körperliche Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsressource die Defizite einer rein kognitiven Arbeit an der Diskriminierfähigkeit von echtem und Falschgeld beheben sollte. Die Know your MoneyKampagne bietet hierfür jedenfalls ein luzides Beispiel: Abbildung 2: Comic aus der KYM-Kampagne des U.S.S.S., 1941
Quelle: N.N. (1941): Know Your Money. Manual des U.S. Secret Service, Archiv der American Numismatic Society, New York, S. 16-17.
Was wie eine kurzweilige, im Format des Comics verpackte Illustration daherkommt, birgt doch einen ernstzunehmenden pädagogischen Sinn. Denn das Anliegen scheint hier unmissverständlich zu sein: So wie der Lebensmittelhändler intuitiv um die Qualität seiner Beeren weiß – zu reif, zu viel Sand –, so soll er eben auch die Echtheitskriterien von Geld schon bei der buchstäblichen Berührung eines Geldscheins gewissermaßen habitualisieren. Genau darin scheint letztlich der Sinn
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des Comics zu bestehen, der nicht nur als populäres Medium eines spielerischen Lernens des Verhaltens in potenziell verdächtigen Interaktionssituationen in Betracht zu ziehen ist, sondern als ein Hinweis auf die vom U.S.S.S. erkannte Notwendigkeit und Einsicht, dass die Habitualisierung entsprechender Körpertechniken womöglich den zuverlässigsten Schutz vor Falschgeld bietet: • »Good Night! Why didn’t I look at it [die Banknote; I.L.] like I did my strawber-
ries? • (Two days later): Papa, Papa! I just heard that Counterfeiter was arrested at
Jones’ store. • That’s fine. Jones knows his money! MORAL: KNOW YOUR MONEY!« (N.N.
1941: 16 f.)
4. S CHLUSSBETRACHTUNG Der historische Kontext der US-amerikanischen Geldwirtschaft war nicht willkürlich gewählt, sondern diese Wahl hängt damit zusammen, dass die USA nicht nur den aus papiergeldgeschichtlicher Perspektive, sondern auch mit Blick auf die Hoch- und Blütezeit der Falschgeldzirkulation den wichtigsten geldhistorischen Kontext darstellt (vgl. Galbraith 1976; Newman 2008). Die Hochzeit der Falschgeldproduktion wurde dabei durch strukturelle Rahmenbedingungen begünstigt, die allesamt mit der Einführung von Papiergeld zusammenhängen: eine explosionsartige Vergrößerung der Umlaufmengen von unzähligen Banknoten – also die Emission von Papiergeld durch staatliche, halbstaatliche und private Banken, Versicherungsunternehmen, Eisenbahn- und Schifffahrtsgesellschaften, Import- und Exportunternehmen –, eine technisch mangelhafte Notenherstellung und schließlich das Fehlen einer zentralen ökonomischen Steuerungsinstanz, die in der Lage gewesen wäre, effizient Kontrolle über die unzählig emittierten Papiergeldwährungen auszuüben (vgl. Johnson 1995; Mihm 2007). Dabei mobilisiert bereits die bloße Materialität von Papiergeld die Reflexion darüber, ob der Symbolgebrauch ökonomischer Operationen durch das Papiergeldmedium ausreichend stabilisiert und das Vertrauen geldvermittelter Märkte in das Funktionieren einer ihrer zentralen Institutionen quasi naturalisiert ist. Die in den USA des 19. Jahrhunderts geldpolitisch heftig debattierte Deckungs-Frage, ob also die emittierten Banknoten durch ihre Konvertibilität in Gold oder Silber gedeckt sein müssen, oder ob es ausreicht, dass ihr Wert durch die autorisierende Institution des Finanzministeriums einfach zugerechnet wird, ist jedenfalls ein guter Beleg, dass es erheblicher sozialer und kultureller Investitionen wie beispielsweise eben
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der Falschgeldprävention bedarf, um die Validität und Funktionalität eines so störanfälligen Geldformats wie Papiergeld sicherzustellen. Bedenkt man ferner, dass Falschgeld als Zahlungsmittel vielfach erfolgreich in Umlauf gebracht werden konnte, Falschgeldpraktiken also strenggenommen eine zugleich funktionale wie dysfunktionale ökonomische Operation beschreiben, dann stellt sich die Frage, wie Papiergeld authentifiziert und als gültiges Zahlungsmittel schließlich institutionalisiert werden konnte, in erster Linie als ein Problem der Formierung und Etablierung einer legitimen ökonomischen Semantik. Anders gesagt: Der Falschgelddiskurs konturiert ein Feld ökonomischer Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen, die bestrebt sind, die Paradoxie zu lösen, einen legalen und offiziellen Kontext geldvermittelter Kommunikationen von einem operativ ebenso funktionierenden Kontext falschgeldvermittelter Kommunikationen durch semantisch stabilisierte Unterscheidungen abzugrenzen. Und zumindest soviel dürfte klar sein: dass angesichts von Falschgeld nichts törichter wäre als anzunehmen, dass die Unterscheidung von echt/falsch oder von Original/Kopie im Zeitalter einer beliebige Dinge und Artefakte umfassenden technischen Reproduzierbarkeit implodiere. Denn auch wenn das technische Potential zur endlosen technischen Reproduktion von Falschgeldnoten vorhanden ist, so führt Falschgeld doch vor Augen, dass technisch Machbares und gesellschaftlich Erlaubtes sich unversöhnlich gegenüber stehen. Oder, wie es Schröter auf den Punkt gebracht hat: »Geld, geheime Dokumente, Personalpapiere sollen nicht oder genauer: nur von bestimmten Institutionen reproduziert werden dürfen. Andernfalls würde die Kriterien für ihre ›Echtheit‹, und d.h. nichts Anderes als ihre Operativität, aufgehoben.« (Schröter 2010: 14, Herv. i. Orig.) Techniken der Echtheitssicherung und Verfahren der Authentifizierung von Geld wären in diesem Sinne daher auch als ein spezifisches Mittel zur Reproduktion zu begreifen: aber eben nicht zu einer immer weiter um sich greifenden Reproduktion, an deren imaginärem Endpunkt die Unterscheidung von Original und Kopie aufhörte, Sinn zu machen – sondern vielmehr umgekehrt: als Techniken zur Stabilisierung der reproduktiven Differenz von Original und Kopie. Was schließlich generell in der Fälschungsforschung und in der Reflexion entsprechender Präventionstechniken energischer thematisiert werden müsste, ist eine Perspektive auf die vielfältigen Formen visueller Mittel, die im Verbund mit körpernah gebauten Adressierungsformen effiziente Medien darstellen, Fälschungen zu erkennen, darstellbar zu machen und somit ihren Gebrauch zu diskriminieren. In dieser Perspektive legt das Beispiel der Falschgeldprävention nahe, dass Entstörungstechniken Kulturtechniken bezeichnen, die eine epistemologische, pragmatische und auch ästhetische Dimension umfassen. Darin kann man letztlich auch die produktive Funktion von Falschgeld als einer ökonomischen Störung sehen. Denn dort, wo sie unterschiedliche Verfahren zur Prävention und Beobachtung von Falschgeld mobilisiert hat, die das ökonomische Wissen der Zeit mit stabilen Unterscheidungen über richtiges und falsches Geld zu versorgen haben, dort fällt ihr
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sozusagen ex negativo eine regelrechte organisatorische Potenz zu: Erst in der Störung werden die Techniken zur Authentifizierung generiert, die nicht nur echtes Geld gegenüber Falschgeld zu qualifizieren erlauben, sondern die maßgeblich auch an der gesellschaftlichen Attribution von Geld als echtem Geld partizipieren. Die Unterstellung einer sozialen Ordnungskompetenz, die Störungen des ökonomischen Systems wie das Falschgeld zum Startpunkt von Entstörungstechniken nimmt, führt auch zu einer interessanten Perspektivenverschiebung auf das Geld, das Georg Simmel durch seine »Unpersönlichkeit«, »Farblosigkeit« und »Charakterlosigkeit« doch gerade in seinen quantifizierenden Eigenschaften schätzen wollte (Simmel 1992: 80). Simmels Diagnose ist bestimmt nicht falsch, sie erscheint aber zu wenig störungssensibel in dem spezifischen Sinne, dass sie primär auf Situationen zutrifft, in denen das Systemvertrauen in das Geldmedium generell außer Frage steht. In Situationen des Einsickerns von Störungen in die Geldkommunikation, wie die Zirkulation von Falschgeldnoten zeigt, verschiebt sich jedoch der Fokus, und es zählt dann praktisch jedes produktionsästhetische Detail einer Banknote. Als konstitutiver Bestandteil eines ökonomischen Entstörungs-Programms sind Techniken der Echtheitssicherung in der Falschgeldprävention daher als Produktionsinstanz eines monetären Wissens zu begreifen. Festgehalten ist damit, dass angesichts einer Störung die Reflexion über Echtheit und Authentizität von Geld immer auch ein Potential zu deren Epistemologisierung birgt. Dieses Potential hat Sybille Krämer hinsichtlich der Problemformel Authentizität wie folgt zusammengefasst: »Authentizität ist ein Begriff, der insofern an etwas Krisenhaftes gebunden ist, als er situiert ist in problematischen Situationen von Unsicherheit und Unwissenheit, in denen durch Authentizität eine Evidenz zu schaffen ist, die es anders nicht gibt. [...] Wenn eine Unsicherheit im Wissen der Nährboden für Authentizitätsfragen ist, dann ist Authentizität – auch – ein epistemologischer Begriff.« (Krämer 2012: 25 f., Herv. i. Orig.)
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»Fake it ’til you make it« Narrative und Praktiken des Ökonomischen in der Hochstapelei I NGA K LEIN
F INANZJONGLEURE
UND DAS GROSSE
G ELD
Ein Elektriker, so berichtet im August 2012 die Wochenzeitung DIE ZEIT, habe sich durch gefälschte Zeugnisse bis zum Gymnasiallehrer für Sport und Biologie hochgearbeitet und sei erst nach jahrelanger Unterrichtspraxis entdeckt worden. Der »Mogel-Pädagoge«, so die Etikettierung der Journalistin, habe jetzt aber immerhin noch eine Chance als »Coach für Selbstmarketing«, denn er erfülle in geradezu idealtypischer Weise die auf strategische Eigendarstellung ausgerichteten Anforderungen des modernen Wirtschaftslebens (Tutmann 2012). Medienbeiträge und Kommentierungen dieser Art sind nicht erst seit den öffentlichen Debatten um wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten von Politikerinnen und Politikern zu finden. Sachbuchautorinnen und -autoren, Journalistinnen und Journalisten konstatieren, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die das Täuschen indirekt zur allgemein anerkannten – und eingeforderten – Praxis erhoben habe (vgl. Saehrendt/Kittl 2011; Pannen 2009). Parallel dazu wird seit einiger Zeit diskutiert, inwieweit Täuschungen in Form von Selbsttäuschung und -darstellung, Betrug und Fälschungen elementare Momente des konkreten Markthandelns darstellen (vgl. Gruss/Piotti 2012) und auch in Bezug auf wirtschaftstheoretische Überlegungen beachtet werden müssen (vgl. Gerschlager 2005a, 2005b). Nicht zuletzt beschäftigen sich Disziplinen wie die Soziobiologie aktuell mit dem ›natürlichen‹ Täuschungsverhalten des Menschen und dessen Bedeutung für die Evolution (vgl. Trivers 2011). Täuschen erweist sich damit sowohl mit wissenschaftlichen als auch alltagsweltlichen Diskursen aktuell eng verknüpft. Aus volkskundlich-kulturanthropologischer Perspektive reizt zum einen dieses grundsätzliche Interesse am Täuschen und die darin sichtbar werdenden konkurrierenden Deutungen selbst. Zum anderen zeigen sich – und darauf konzentrieren sich die folgenden Über-
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legungen – in spezifischen Ausgestaltungen des Phänomens diskursiv wie performativ vermittelte kulturelle Imaginationen und Bilder gesellschaftlicher Felder ebenso wie Normen und Wertvorstellungen. Eines dieser Felder, das mit auffallender Regelmäßigkeit thematisiert wird, ist das der ›(Finanz)Wirtschaft‹ – und der Hochstapler1 ist eine jener Figuren, die das Täuschen mit dem Ökonomischen verknüpft. In der Wirtschaftshochstapelei werden kulturelle Imaginationen und Figuren des Ökonomischen visualisiert, materialisiert und inszeniert. Größere Popularität erlangen solche Fälle vor allem über die Medienberichterstattung im Fall des Scheiterns und der daran anschließenden Selbstvermarktung, über Autobiographien, filmische und literarische Bearbeitungen des Sujets. Dabei treten den jeweiligen Rezipientinnen und Rezipienten – so die These meines Beitrags – populärmediale Narrative und Deutungsmuster im Sinn von moralisch aufgeladenen Bildern von Wirtschafts- und Arbeitswelten, ebenso wie Praktiken als performative Realisierungen des Ökonomischen entgegen. Die von mir untersuchten Fallstudien aus dem Bereich der Wirtschaftshochstapelei, von denen ich im Folgenden eine in den Fokus rücken möchte, zeichnen sich – im Unterschied zu literarisch-fiktional markierten Quellen – insbesondere durch das Spannungsverhältnis zwischen der Kennzeichnung als nicht-fiktionale Darstellung und der gleichzeitigen narrativ-literarischen Überformung aus. D.h., die Quellen fußen auf einer behaupteten Referentialität auf lebens- und alltagsweltliche Erfahrungen und Deutungen (vgl. Kormann 2011: 99 ff.), die eine quellenkritische Aufmerksamkeit erfordert: Nicht die als ›wahre‹ Lebensgeschichte definierte Erzählung, sondern die Erzählung als ›Ware‹ im Sinn ihrer narrativen Aufbereitung und Repräsentation gerät so in den Blick. Im Mittelpunkt meines Beitrags stehen Jürgen Harksen und seine Autobiographie: Harksen war in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren ein schillernder Akteur der Hamburger Wirtschaftsszene, der seine Kunden und Kundinnen als Anlageberater mit dem sogenannten Faktor 13-Versprechen2 lockte, hinter dem sich ein klassisches Pyramidensystem verbarg. 2003 wurde er wegen Betrugs verurteilt, drei Jahre später erschien seine Biographie unter dem Titel »Wie ich den Reichen ihr Geld abnahm«. Die Karriere eines Hochstaplers (Harksen/Mailänder 2006; Abb. 1). Harksen selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in Haft.
1
Obwohl Hochstapelei grundsätzlich kein rein maskulin besetztes Deutungsmuster ist, wird die Figur selbst überwiegend als männliche verhandelt. Im Folgenden wird daher die maskuline Form beibehalten, zumal sich auch die hier vorgestellte Fallstudie einem Hochstapler widmet.
2
Harksen versprach seinen Anlegerinnen und Anlegern die Verdreizehnfachung ihrer Investitionen durch die Beteiligung an seinem in Skandinavien liegenden Milliardenvermögen, dessen Ausschüttung immerzu kurz bevor stehen würde.
»F AKE IT ’ TIL
YOU MAKE IT «
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Bis heute ist er Gast in Talkshows, Protagonist in Dokumentationen und Vorlage für Fernsehfilme.3 Auch in dieser Hinsicht zeigt sich die gescheiterte, aufgedeckte Hochstapelei im Zuge der anschließenden Selbstvermarktung noch als wirtschaftliches Phänomen. Abbildung 1: Fremd- und Selbstinszenierung als sympathischer Hochstapler
Quelle: Harksen/Mailänder 2006, Umschlagabbildung.
Im Folgenden untersuche ich entlang von vier Beobachtungen, welche Narrative, Praktiken und Imaginationen von und über ›Wirtschaft‹ sich in performativen Realisierungen durch Akteure zeigen, die über ihre Kompetenzen, Legitimationen, Absichten täuschen.4
3 4
Vgl. exemplarisch Adolph (2006, 2009); Jentzsch (2003); Wedel (2009); Will (2011). Grundsätzlich hat die literarische Bearbeitung ökonomischer Motive, Modelle und Figuren in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren; vgl. Klettenhammer (2010); Hempel/Künzel (2009); Künzel/Hempel (2011); Wegmann (2002); Kuschel/Assmann (2011).
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R OLLEN UND R EQUISITEN Als »Elite der Gaunerwelt« (Larsen 1984) bezeichnet der Schriftsteller und Journalist Egon Larsen den Hochstapler, der Kriminologe Günther Kaiser spricht von »Gaunern mit ›Format‹« (Kaiser 1987: 74). Beide Umschreibungen sind typisch für die populären Deutungen von Hochstaplern, die zwischen Verurteilung und Bewunderung changieren. Zum einen wird er zwar als kriminelle beziehungsweise kriminalisierte Figur kategorisiert,5 zum anderen verweisen solche Umschreibungen aber auch auf das Streben nach einer höherwertigen sozialen Position. Die Rollen und Requisiten, in denen sich Hochstapelei materialisiert, geben so Einblicke in zeit- und kontextspezifische gesellschaftliche Wertvorstellungen und -ordnungen, ebenso wie die grundsätzliche Interpretation des Phänomens zeitgebunden ist:6 »Sinn und Wert von Darstellungen, in denen auf Täuschungstechniken zurückgegriffen wird, vollziehen sich also in soziokulturellen Rahmen; Verstehen und Bewertung von tatsächlichen oder vermeintlichen Täuschungshandlungen ist ohne Rückgriff auf Vorstellungswelt(en) der Beteiligten und deren kulturelle Deutungsmuster nicht möglich.« (Ottermann 2000: 94)
Wenn Hochstapelei uns bei Jürgen Harksen in der Figur des ›Finanzgenies‹ begegnet, zeigt sich in der Rollenwahl, den Requisiten und der dazugehörigen Inszenierung7 auch die gesellschaftliche Wertschätzung dieser Rolle. Da sie sich durch eine gewisse Unbestimmtheit der (beruflichen) Laufbahn und des Expertentums auszeichnet, erscheint das rollengerechte Auftreten des Akteurs umso wichtiger, wobei auch Elemente der Überzeichnung, Verzerrung und Über-Inszenierung als legitime Formen der Inszenierung gelten können. In Harksens Biographie werden solche Formen, die zugleich als Brechung mit wie als Bestärkung von normativen Erwartungen fungieren, auch thematisiert:
5
Hochstapelei ist – als kulturelle Praxis des Erzeugens eines täuschenden Eindrucks – nicht strafbar, dazu bedarf es aus juristischer Perspektive Betrug, Urkundenfälschung, Titelmissbrauch und ähnlichem.
6
So wurde Hochstapelei zu Beginn des 20. Jahrhunderts als psychopathologisches Phänomen behandelt, als »Pseudologia phantastica« (Delbrück 1891); in den späten 1960er und 1970er Jahren standen dann vor allem die strafrechtlichen und kriminologischen Aspekte im Mittelpunkt (vgl. dazu beispielsweise Siegel 1975; Haag 1977).
7
Ottermann behandelt diesen Zusammenhang unter dem Begriff der Eindrucksmanipulation (impression-magangement), die erst dann zum Betrug werde, wenn bewusst ein falscher Eindruck erweckt werde (vgl. Ottermann 2000: 87). Vgl. grundsätzlich Goffman (2004 [1969]), auf den sich Ottermann bezieht.
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»Ich war unwahrscheinlich jung für mein erfundenes Milliardenvermögen, zudem war ich ungewöhnlich freigiebig in seiner Verteilung, lebte offen in Saus und Braus, machte völlig absurde Renditeversprechen und spontane Millionenspenden – all das machte meine Geschichte noch absurder und damit zugleich glaubhafter.« (Harksen/Mailänder 2006: 109)
Ein solches »notwendiges Sozialverhalten« (Polt-Heinzl 2011: 93) dient als demonstrativer (Luxus-)Konsum (vgl. Veblen 1986 [1899]) vor allem dazu, diejenigen zu beindrucken und zu überzeugen, die selbst in anderen Alltagswelten verhaftet sind – und die im vorliegenden Fall dann zu Anlegerinnen und Anlegern werden. Hierfür erweisen sich gerade auch die in den Massenmedien (re-)präsentierten Bilder von Reichtum als nützlich, vor deren Hintergrund solche Überzeichnungen gleichsam zum Inbegriff des ›Authentischen‹ werden. Geldbesitz und dem ›richtigen‹ Umgang mit Geld, vor allem auch der Inszenierung, dem Spiel mit dem Schein des Geldes, werden innerhalb des untersuchten Materials besondere Bedeutung zugemessen, die sich in ihrer konkreten Ausformung wiederum an gesellschaftlich-alltäglichen Imaginationen orientiert: »[...] viele Menschen glauben, dass es in der Welt des großen Geldes Umgangsformen gibt, die ihnen fremd, aber beneidenswert erscheinen. [...] Wer großes Geld bewegen will, braucht große Legenden, und die konnte ich liefern.« (Harksen/Mailänder 2006: 109) Bei der Realisierung der Täuschung werden also zum einen Narrative eingesetzt, gleichzeitig wird mit kulturell codierten Materialitäten gearbeitet. Der Einsatz von Dingen als Referenzen, wie beispielsweise gefälschte Dokumente und Stempel – in der Fallstudie etwa Kontoauszüge, Schecks oder Plastiktüten, in denen große Summen Bargeld vermutet werden8, – wird über den gezielten Einsatz von Statussymbolen noch gesteigert. Zugleich betont Harksen seine eigenen moralischen Grenzen: »Niemals setzte ich gefälschte Papiere ein, um Geld […] einzuwerben – dazu reichte mein Mundwerk und die Mund-zu-Mund-Propaganda.« (Ebd.: 18) Mit solchen Aussagen wird das Hauptaugenmerk auf die verbalen Dimensionen des Täuschens gelenkt, vor allem materielle Beglaubigungsstrategie, wie gefälschte Bankbelege, Verträge etc., bleiben im Verborgenen. Dass es hierfür spezifische Gründe gibt, die wohl weniger im literarischen oder gar moralischen Bereich, sondern vielmehr im juristischen liegen, zeigt sich darin, dass Harksen auch auf Grund dieser Argumentation nur wegen
8
Harksen beschreibt in einer Episode, dass er, beladen mit Lebensmitteln in zwei Plastiktüten einer dänischen Bank, von einem Nachbarn beobachtet wurde. Auf die Tüten angesprochen, wurde Harksen klar, dass der Nachbar große Summen Bargeld und Bank wichtige Bankunterlagen darin vermutete. Er klärt den Irrtum jedoch nicht auf. Das Ergebnis: Der Nachbar investiert aufgrund seiner Vermutung erneut bei dem Hochstapler (vgl. Harksen/Mailänder 2006: 77).
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›einfachem Betrug‹ verurteilt wurde – ›schwerer Betrug‹ setzt den Einsatz von gefälschten Unterlagen voraus. Hochstapeln ist – so zeigt also der Blick auf Rollen und Requisiten – nicht nur als narrative Praktik (etwa lügen) zu verstehen, sondern ebenso als spezifische Materialisierung, die Körpertechniken und Wissensbestände einbezieht. Es ist an Formen der körperlichen Präsenz gebunden und wird im alltäglichen Handeln realisiert. Gerade der letzte Punkt öffnet aber den Blick für Praktiken, die im jeweiligen Feld als anerkannt und alltäglich gelten: etwa Patientinnen behandeln, Flugzeuge steuern, an der Börse handeln, Investitionen tätigen, Kundinnen betreuen. Hochstapeln lässt sich in diesem Sinn als spezifische Kombination legitimierter und illegitimierter Praktiken erfassen, als kulturelle Technik, zu deren Enttarnung – denkt man etwa an Fälle von ›falschen‹ Ärztinnen und Ärzten – ja oftmals gerade nicht Unstimmigkeiten in der konkreten Ausübung der an die Rolle geknüpften Handlungen geführt haben, sondern Dinge wie fehlende oder fehlerhafte formale Nachweise9 oder auch wirtschaftliche Misserfolge. Vor allem im Bereich der (Finanz-)Wirtschaft entscheidet oftmals erst der Erfolg oder Misserfolg, ob Handlungen und Entscheidungen als Hochstapelei, Betrug oder als geniale Zukunftsvision und erfolgreiche Strategie eingestuft werden,10 auch weil die augenblickliche Enttarnung in einem auf zukünftige Gewinne ausgerichteten System nur schwer möglich ist.
T AUSCHEN UND T ÄUSCHEN Was also macht das Hochstapeln am Hochstapeln aus? Auf den ersten Blick scheint diese Frage leicht zu beantworten: Hochstaplerinnen und Hochstapler lügen, betrügen, fälschen, sie täuschen ihr Gegenüber bewusst und erzeugen darüber Eindrücke, die Andere zu bestimmten Annahmen und Handlungen verleiten. Während sich das Lügen als kommunikativer Prozess und Strategie auf die Ebene des Narrativen richtet, weisen Betrug und vor allem Fälschungen auf den Einbezug von Artefakten, Titeln o.ä. hin. Bezogen auf die vorangegangene Beobachtung zum Hochstapeln als kultureller Technik der Verknüpfung mit legitimen Praktiken, beleuchtet diese Antwort jedoch nur eine Seite der Medaille. Wichtig ist zudem die von den Akteuren selbst ausgehende Bewertung und Einordnung der Praktiken. Eine sozial- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Definition von Betrug verweist auf zentrale Aspekte, die auch für das Hochstapeln als spezifische Form des Betrugs gelten. Ralf Ottermann schlägt vor, unter Betrug
9
So etwa im Fall des als Psychiater arbeitenden Postboten Gert Postels, vgl. Mauz (1997).
10 Zu der Diskussion eines fließenden Übergangs zwischen legitimem und wirtschaftskriminellem Handeln anhand von Finanzmarktprodukten vgl. Biegler (2010).
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»sämtliche als illegitim, regelwidrig oder unfair bewertete Täuschungshandlungen zu verstehen, mittels derer der oder die Getäuschten zu einer unabsichtlichen materiellen oder immateriellen Selbst- oder Fremdschädigung veranlaßt werden, die direkt oder indirekt, im materiellen oder immateriellen Sinne dem oder den Täuschenden bzw. deren Bezugspersonen der Intention des oder der Täuschenden nach zugute kommen soll; der oder die Täuschenden müssen sich der negativen Bewertung ihres Tuns (durch andere) bewußt sein, sie aber nicht notwendig oder in gleichem Maße teilen.« (Ottermann 2000: 38)
Bedeutsam ist also nicht nur eine (im)materielle Schädigung des oder der Getäuschten – die ja aus juristischer Perspektive notwendig ist, damit ein Betrug vorliegt –, sondern das vorhandene Bewusstsein der negativen Bewertung der Handlungen. Gerade der Aspekt des Zitats erweist sich dabei im Hinblick auf die Rechtfertigungsstrukturen innerhalb der von mir untersuchten Fallstudien als bedeutsam: Dass ein Bewusstsein über die allgemeine gesellschaftliche respektive rechtliche Bewertung vorhanden ist, zeigen die einleitenden Entschuldigungen und Würdigung der Opfer der eigenen Hochstapelei, die Bestandteil vieler autobiographischer Quellen sind (vgl. exemplarisch Harksen/Mailänder 2006; Manolescu 1987). Zugleich und im Spannungsverhältnis dazu werden jedoch auch Legitimierungen für das eigene, den einleitenden Beteuerungen zuwiderlaufende Verhalten angeführt. So zeigt sich anhand dieser zweiten Beobachtung, dass insbesondere die Kontextgebundenheit kultureller Praktiken, die Prozesse der De- und Rekontextualisierung zu den Merkmalen der Hochstapelei (und auch des Betrugs) gehören. Sie spielen für die gesellschaftlichen Einordnungen eine wichtige Rolle und liefern oftmals Ansatzpunkte für Spott und Kritik, wie eine Karikatur des US-amerikanischen Cartoonisten Gary Varvel über den Fall des 2008 wegen Betrugs verhafteten New Yorker Finanzberaters Bernard Madoff11 verdeutlicht (Abb. 2), die zunächst im Indianapolis Star abgebildet wurde und sich anschließend über das Internet verbreitete und in diversen Blogs aufgegriffen und kommentiert wurde. Madoff wird – offensichtlich als Verdächtiger in der Situation eines Verhörs – von einem Ermittler gefragt, woher er die Idee habe, seine ersten Investoren mit dem Geld der später dazugekommenen auszuzahlen: Madoff verweist auf das amerikanische Sozialversicherungssystem. Ein Vorgehen, das in spezifischen Zusammenhängen legitim ist, wird in einem anderen Kontext illegal. Die Karikatur verweist damit zum einen auf eine öffentliche Relevanz der Thematik, wirft aber gleichzeitig einen kritischen Blick auf die legitimen Formen der Praktik.
11 Zu Madoff als Hochstapler vgl. Stazol (2009); Polt-Heinzl (2011).
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Abbildung 2: Karikatur zum Fall Bernhard Madoff
Quelle: kevinschulke.wordpress.com/2009/01/01/madoff-scheme-gary-varvel-indystar/ vom 20.10.2012.
Täuschen wird so als komplexes Phänomen sichtbar, das auf einem dialektischen sozialen Prozess von Täuschen und Getäuscht-Werden beruht und über eine kategoriale Offenheit hinsichtlich der Deutungen verfügt, die Raum für Ungewissheiten lässt und mit Erwartungen spielt – etwa in dem diese enttäuscht werden. Zum Täuschen und Getäuscht-Werden tritt das Sich-Täuschen hinzu. Da Täuschen auf ein Gegenüber ausgerichtet ist, fasse ich es zum einen als soziale Praxis. Zum anderen ist Täuschen als kulturelle Technik zu verstehen, die als spezifische Verknüpfung von kulturell codierten Materialitäten mit Narrativen und Rollenbildern realisiert wird und dabei immer auch eine zeit- und kontextgebundene Spezifik aufweist. In Jürgen Harksens Autobiographie zeigen sich diese Verknüpfungen der verschiedenen Ebenen, das Eröffnen, Anbieten, Ausreizen von Deutungsspielräumen wiederholt (vgl. beispielsweise die Episode in Anm. 8). Innerhalb seiner Schilderungen und Erläuterungen erweist sich das Täuschen als Form des Tauschens, bei dem immaterielle Werte in Form der dargestellten Figur und ihrer Geschichten gegen Materielles (also im einfachsten Fall: Geld) getauscht werden – was natürlich nicht allen beteiligten Akteuren bewusst sein darf. An diesen Stellen greifen ökonomische Tauschpraktiken und kulturelle Techniken des Täuschens direkt ineinander, indem ein Deutungsspielraum hinsichtlich der erworbenen ›Ware‹ offen
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gelassen wird.12 Genau hier setzt dann auch die Rechtfertigung des eigenen Handelns an: Die Absurdität des Tausches, die offensichtliche Nicht-Äquivalenz – das ins Extreme übersteigerte Verhältnis von Einsatz und Gewinn, wie beispielsweise bei dem ›Faktor 13‹, – wird im Sinn eines ›Die Welt will betrogen werden‹ ausgedeutet: »Wenn meine Kunden bereit waren, mir mehr oder weniger offenkundigen Unsinn zu glauben, dann mussten sie eben dafür büßen.« (Harksen/Mailänder 2006: 109) »Sie bekamen von mir alles, was sie brauchten, und dafür nahm ich ihnen alles ab, was sie offenbar nicht brauchten.« (Ebd.: 16) ›Wirtschaft‹, hier konkret die Finanzwirtschaft, erscheint so als Figuration, die die Täuschung immer schon mit einschließt: »Als Schwindler fiel ich nicht weiter auf unter Menschen, die sich täglich selbst beschwindeln.« (Ebd.: 305) Eine besondere Rolle im Kontext dieses ›Schwindelns‹ spielt die Erzeugung und das Gewinnen von Vertrauen. Vertrauen und dessen Produktion wird hier allerdings weniger im Sinne der Reduktion von sozialer Komplexität (vgl. Luhmann 1989), sondern vielmehr als komplexes soziales Praxissystem sichtbar, das an spezifische soziale Kompetenzen einzelner Akteure rückgebunden wird, denn »Verbrecher und Betrüger sind Experten in Vertrauensfragen« (Magnin 2010: 240). In diesem Feld gelten andere Gesetze, zu deren Beherrschung nicht nur Wissen über ökonomische, sondern vielmehr über soziale und kulturelle Zusammenhänge benötigt wird.13 Ökonomischem (Fach-)Wissen und den daran anschließenden Praktiken wird dann konsequenterweise innerhalb des untersuchten Materials eine geringe Bedeutung zugeschrieben, indem auf alltagsweltliche Dimensionen abgehoben wird: Grundlegende Kenntnisse des Wirtschaftens werden im Kleinkindalter beim Handel mit Spielzeugautos erlernt (Harksen/Mailänder 2006: 25), dessen Prinzipien sich auf die ›große Welt‹ übertragen lassen: »Obwohl ich kein Abitur hatte (oder vielleicht gerade deshalb), begriff ich sehr schnell, das es unter den Reichen dieser Welt nicht anders zugeht als im Sandkasten. Man schließt sich zusammen, um gemeinsam Beute zu machen, gibt sich untereinander Versprechen zur Aufteilung und hält oder bricht sie.« (Ebd.: 112)
Die Schilderungen konkreter wirtschaftlicher Vorgänge oder Zusammenhänge nehmen bei Harksen im Gegensatz zu den Täuschungsszenarien einen nachgeord-
12 Zur Auseinandersetzung mit den Begriffen Tauschen und Täuschen im Hinblick auf den literarischen Umgang mit dem »wahren Sinn« und der »Ware Sinn« vgl. Leupold (2001). 13 Diese Verschiebung werden gerade auch in Krisenzeiten diskutiert, wie beispielsweise spezielle Kurse für Managerinnen und Manager zeigen, die fehlende soziale Kompetenzen über das Lesen der ›richtigen‹ Literatur – unter anderem Shakespeare, Wittgenstein, Saint-Exupéry – vermitteln sollen (vgl. Polt-Heinzl 2010: 143).
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neten Raum ein.14 Das ist wohl zum einen auf die Form der Publikation und die anvisierten Zielgruppen zurückzuführen, zum anderen zeigt sich darin aber auch deutlich die Selbstinszenierung als »Deutschlands bestbezahlter Märchenerzähler« (ebd.: 13 f.).
V ON G LÄUBIGERN
UND
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Als »Märchen« oder »Legenden« bezeichnet Jürgen Harksen seine Geschichten, mit denen er Anlegerinnen und Anleger gewann. Die Fähigkeit zum spontanen phantastischen Erzählen, die Erzeugung von Sympathie und das Herstellen von Vertrauen nehmen in seinen Aufzeichnungen einen großen Raum ein. Die narrativen Täuschungen werden in kürzeren, in sich geschlossenen Episoden geschildert und durch Kapitelüberschriften wie etwa Gustav Schwarz oder: Wie ich zu einem Dispo über 20 Millionen kam, Die Geschichte vom Ölprinzen und Der HundertMillionen-Steuerbescheid gegenüber den Leserinnen und Lesern deutlich als überzeichnet und unglaubwürdig markiert. Das Autorenduo verweist damit ein weiteres Mal auf die (Mit-)Schuld der Geschädigten. Narrationen spielen in der Hochstapelei auf mehreren Ebenen eine Rolle: zum einen auf derjenigen der Täuschungen selbst, da narrative Elemente wichtige Stützen sind. Zum anderen – und in gewisser Weise untrennbar mit dieser ersten Form verbunden – entstehen mit der Aufdeckung und anschließenden (Selbst-)Einordnung des Geschehens Narrative, die die weitere Verbreitung und nicht zuletzt auch Vermarktung vorantreiben. Erzähltheoretisch weist die Biographie von Harksen starke Elemente einer Rechtfertigungsgeschichte auf. Dieser Begriff beschreibt eine spezifische Form des biographischen Erzählens, die sich dort zeigt, wo Spannungen zwischen gesellschaftlichen Normen und subjektiver Normverletzung auftreten, wo also bewusste Grenzgänge und Grenzüberschreitungen vorgenommen werden und das eigene Handeln rückwirkend legitimiert werden muss – sowohl vor sich selbst als auch vor der sozialen Umwelt (vgl. Lehmann 2004: 401). Bei dieser Form der rückwirkenden Legitimierung lassen sich zwei Narrative herausarbeiten: erstens das des sozialen Aufstiegs zum anerkannten, erfolgreichen ›Finanzgenie‹. Dieses Narrativ ist gerade für die Wahrnehmung und Verhandlung des Hochstaplers wichtig, beinhaltet das Etikett doch den illegitimen sozialen Auf-
14 In zwei Sätzen wird jedoch verraten, dass Harksen durch seine Arbeit für einen dänischen Bankier mit Bankgeschäften und dem Börsengeschehen vertraut war (vgl. Harksen/Mailänder 2006: 33). Zudem beschäftigte er in seiner Zeit als ›Anlageberater‹ Mitarbeiter, die ihn in aktuellen Wirtschaftsfragen gezielt informierten und berieten (vgl. ebd.: 79).
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stieg. Eng damit verknüpft wird zweitens die ›Erkenntnis‹ über das von hohem ökonomischen Kapital moralisch verdorbene Milieu seiner Anlegerinnen und Anleger. In Abgrenzung zur eigenen Integrität, die das Handeln rechtfertigt, bietet Harksen den Lesenden darüber Identifikations- und Sympathisierungsmöglichkeiten an: »Aber je tiefer ich auf meinem Weg in ihre Welt [die der Reichen; I.K.] eindrang, desto größer wurde meine Empörung. Welche Verachtung sie für meinesgleichen hatten! Wie abschätzig sie von allen Menschen redeten, die ärmer waren als sie! Als hätten nur Millionäre ein Recht auf Leben [...]. Diesen Söhnen [...] wollte ich es zeigen [...].« (Harksen/Mailänder 2006: 13)
Hier deutet sich bereits zu Beginn der biographischen Aufzeichnungen das Narrativ der ungezügelten, moralisch verwerflichen Wirtschaftswelt und der dazugehörenden Akteure an, das sich durch die gesamte Quelle zieht: »Selbst für hanebüchene Unstimmigkeiten gab es genügend Entschuldigungen. In der Geschäftswelt, die sie [gemeint sind seine Anlegerinnen und Anleger; I.K.] kannten und deren Teil sie waren, konnte es schon mal vorkommen, dass jemand mit der einen oder anderen Lüge hantierte und dennoch ein seriöser Geschäftsmann war.« (ebd.: 99 f.)
Angelegt wird eine – vor dem Hintergrund des späteren Scheiterns natürlich zeitlich nur begrenzt gültige – wirtschaftliche Erfolgsgeschichte quasi entgegen der institutionalisierten Wirtschaft und ihren Akteuren wie Wirtschaftsprüfern, Bankiers, Rechtsanwälten. Ihr Vertrauen und auch die Bereitschaft, sich selbst zu täuschen, werden dabei auf das Motiv der Gier15 zurückgeführt (vgl. ebd.: 13 ff., 101 f., 105), die hier als anthropologische Konstante fundiert wird. Die Kritik am System Wirtschaft wird noch durch ein weiteres Narrativ transportiert: durch die ›mythischen Züge‹ von Geld. Jürgen Harksen führt seinen Erfolg auch auf sein Verstehen des Charakters von Geld zurück: »Geld will sich verausgaben. Je prüder es sich gibt, desto heftiger lodert seine Leidenschaft, sich nutzlos zu verschwenden. Geld will nicht gesund wachsen und schrumpfen wie die Wesen der Natur, Geld will Geld aus sich selbst zeugen, so wie sich die Krebszellen aus sich selbst heraus vermehren. Und wie die Krebszellen den Körper, so frisst die Gier nach Geld die Seele und den Verstand. […]
15 Dieses Motiv zeigt sich in Bezug auf die Wirtschaftswelt sowohl in fiktionalen Bearbeitungen – berühmt hierfür etwa Oliver Stones Film Wall Street von 1987 –, als auch beispielsweise in soziologischen Portraits der Akteure der Finanzkrise (vgl. Honegger/Neckel/Magnin 2010b: 305).
122 | I NGA K LEIN Denn als magische Substanz fliegt es dem zu, der am heftigsten davon träumt, und es zerrinnt in den Händen seiner allzu ängstlichen Liebhaber.« (Ebd.: 14)
Mit religiösen und magischen Bezügen ebenso wie mit der Personifizierung und Dämonisierung erscheinen Harksens Erklärungsmodelle durchaus anpassungsfähig an zeitgenössische gesellschaftliche Wirtschafts- beziehungsweise Geldkritik. Die Analogie von Geld und Religion zieht sich dabei als zentrales Narrativ durch die gesamte Biographie: Gläubiger werden als Gläubige seiner »Gemeinde« dargestellt und er selbst spricht von seiner »Kirche« als dem »Dauert-noch-Haus«, in dessen Mitte er sich als Guru inszeniert (exemplarisch ebd.: 17, 76, 100). Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch hat im Interview mit dem Filmemacher Claus Strigel auf die Analogien von Sprache und Praxisformen zwischen Geld und Religion hingewiesen (an beides muss geglaubt werden, damit es funktioniert, vgl. Hörisch in Strigel 2009: Min. 20:10) und Geld als »ontosemiologisches Leitmedium« theoretisiert, indem er auf die soziale Unvermeidbarkeit der Teilnahme am Geldsystem und die gleichzeitige Negierung seines artifiziellen Charakters verweist (vgl. Hörisch 1996: 26 ff.). Der Soziologe Christoph Deutschmann spricht mit Bezugnahme auf Georg Simmel und Karl Polanyi von Geld als »Religionsersatz« im Sinn eines kollektiven sinn- und gemeinschaftsstiftenden Mediums, das in Form von Kapital ein Versprechen auf die totale Verfügbarkeit der menschlichen Möglichkeiten transportiere. Er rückt damit insbesondere den Symbolcharakter und das soziale Ermächtigungspotential von Geld bzw. Geldvermögen in den Fokus (vgl. Deutschmann 2006: 35). So zeigen sich in den von mir untersuchten populären Quellen Anschlüsse und Rückbindungen an wissenschaftliche Diskurse. Zugleich eröffnen sich damit aber auch stereotypisch angelegte Charaktere, die der Verfestigung der mythenhaften Geschichte Harksens dienen, welche in der Medienberichterstattung über den Fall fortgesetzt wird.
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ODER
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Der Moment des Enttarnens sowie der Prozess der Umdeutung sind konstitutives Element der Hochstapelei. Sie erst ermöglichen die Entstehung der Figur und ihrer Geschichte. Die Aufdeckung bleibt zwar zum einen ein individueller Prozess des Scheiterns, ist aber zum anderen Voraussetzung für die Rezeption auch als Erfolgsgeschichte. Ähnlich wie bei dem Fake, der für seine künstlerischen oder politischen Wirkungsweisen auf eine Entdeckung und Auflösung angewiesen ist (vgl. Doll 2012: 13, 24 f.), kann auch die Hochstapelei erst nach ihrem Scheitern entsprechend benannt, rezipiert und ›gewürdigt‹ werden.
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Harksen scheiterte nach eigenen Angaben an einer Betriebsprüfung des Finanzamtes und einem anschließenden Haftbefehl, der ihn 1993 zur Flucht nach Südafrika bewegte. Nach seiner Auslieferung wurde er 2003 wegen Betrugs vor dem Landgericht Hamburg verurteilt. Die Verhandlung selbst wie auch die Geschichte Harksens erregte in den Medien Aufmerksamkeit (vgl. exemplarisch Freiburg 2003; Rückert 2003; o. A. 2003; Schmidt 2003), denn neben den hohen Summen und der Verwicklung von Banken und Wirtschaftsprüfern gehörten auch Prominente zu den AnlegerInnen (vgl. Schmidt 2003). Die Berichterstattung konzentrierte sich neben der Suche nach den ›harten Fakten‹ hinter der Hochstapelei auch auf die darin verwickelten Akteure und ihre Interpretationen der Hochstaplerfigur, die sich mit der Enttarnung grundlegend veränderten. Dabei handelt es sich bei diesen Umdeutungen um einen Prozess, der auch Spannungen zwischen der Interpretation des eigenen Verhaltens und deren nachträglicher Einschätzung aufzeigt. Ein Beispiel dafür: »Der habe ein immens gutes Gedächtnis, aber von Wirtschaft keine Ahnung.« (o. A. 1995) So zitierte der Spiegel 1995 eine verärgerte Anlegerin – die zuvor jedoch über 600 000 D-Mark bei ihm investierte. Dass sich an solchen Prozessen also nicht nur leichte Korrekturen, sondern das Infragestellen eines kompletten Deutungsmusters ebenso wie das Offenlassen von sich widersprechenden Lesarten zeigt – »Finanzgenie oder Promi-Betrüger«, wie das Manager Magazin 2003 titelte (vgl. Schmidt 2003), macht sie aus kulturwissenschaftlicher Perspektive so ertragreich. Die überwiegend sympathisierende Presseberichterstattung bereitet weitere mediale und ökonomische Vermarktungsprozesse der Hochstaplergeschichte vor. Ein frühes Beispiel für eine solche Vermarktung des Scheiterns findet sich bei dem sogenannten Hauptmann von Köpenick. Die Täuschung des Schusters Wilhelm Voigt ist zwar in dieser Zeit kein Einzelfall, aber in ihrer Rezeption doch außergewöhnlich. Hier zeigen sich die medialen Inszenierungs- wie Vermarktungsstrategien und die technischen Möglichkeiten der 1910er und 1920er Jahre in fast exemplarischer Weise: Die Tageszeitungen reagierten schnell auf das Geschehene und trugen damit maßgeblich zur internationalen Verbreitung und Legendenbildung bei. Die Geschichte des falschen Hauptmanns wurde über Karikaturen und Postkarten verbreitet, Voigt nahm kurz nach seiner Entlassung eine Grammophonplatte auf, gab Autogramme, es folgten szenische Bearbeitungen für die Bühne, Filme und sogar ein Brettspiel (vgl. Porombka 2008: 59) – dagegen erscheinen die heutigen Marketingwege fast einfallslos. Zugleich weist die Presseberichterstattung aber auch auf die der Hochstapelei zugeschriebene Faszinationskraft hin. Aufgegriffen und als Hochstapelei verhandelt werden Fälle, an denen sich zum einen gesellschaftliche Kontroversen eröffnen, beispielsweise die übermächtige Bedeutung des Militärischen in der Kaiserzeit im Fall von Voigt oder die (zugeschriebene) Komplexität der Finanzwirtschaft und die moralische Verdorbenheit ihrer Akteure bei der hier untersuchten Fallstudie (vgl. exemplarisch Rückert 2003). Diese Beobachtung zeigt sich auch an anderen Fel-
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dern: So tauchen bei Presseberichten über falsche Arztinnen und Ärzte regelmäßig Fragen nach den Qualitäts- und Kontrollmechanismen der gegenwärtigen Medizin auf, während bei Heirats- und Beziehungsschwindlern auf die überhöhten Ansprüche der Partnerwahl verwiesen wird. An der Hochstapelei wird so moralische Entrüstung ebenso wie moralische Rechtfertigung verhandelt. Daran anschließend lässt sich fragen, inwieweit der ambivalente Charakter bei Labeling-Prozessen bewusst eingesetzt wird, beispielsweise in Abgrenzung zu der Bezeichnung als Betrüger. So lässt sich etwa die Verwendung des Begriffs in Titeln von Autobiographien erklären (vgl. z.B. Wappler/Gutke 2013; Postel 2001; Manolescu 1987), ebenso wie die Selbstinszenierung auf Buchcovern u.ä., die lächelnde Männer in Anzügen zeigt, versehen mit Insignien des Reichtums wie Sportwagen, Yachten, Königsthron, Edelsteinen (vgl. Abb. 1 und 3). Abbildung 3: Der Hamburger Peter Wappler in der Inszenierung als ›König der Diamanten‹
Quelle: Wappler/Gutke 2013, Umschlagabbildung.
Auch die öffentliche Anteilnahme und Positionierung gegenüber den Geschädigten spielt hierbei eine wichtige Rolle: Gerade Fälle, bei denen die Geschädigten auf wenig öffentliche Sympathie hoffen können, etwa weil sie sich selbst krimineller Methoden bedienen – wenn beispielsweise sogenanntes Schwarzgeld in Schneeballsystemen verschwindet – eröffnen Räume für die Ambivalenz der Deutungen. So lassen sich nicht wenige Hochstaplergeschichten als Überwindung ungerechter
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sozialer Beschränkungen lesen, als kreative Eulenspiegelei oder Aktualisierung einer Robin-Hood-Moral, bei denen doch nur diejenigen betrogen werden, die selbst betrügen oder es aufgrund ihrer ›Gier‹, Leichtgläubigkeit oder Naivität verdient haben. Die Berichterstattung wie die medialen Selbstdarstellungen unterstützen so auch den Prozess der Resozialisierung, der wenig Raum für Empathie gegenüber den Betroffenen schafft.
»B ETRIEBSSYSTEM H OCHSTAPLER «? E IN AUSBLICK Hochstapelei, so haben die vorangegangenen Schlaglichter gezeigt, breitet sich als verdichtetes Netz aus Narrativen und Praktiken aus. Der Finanzhochstapler verknüpft in seiner Rolle materielle, diskursive wie performative Repräsentationen des Ökonomischen, etwa indem soziokulturelle Imaginationen von Reichtum und wirtschaftlichem Erfolg mit Formen der Freigiebigkeit, Großzügigkeit und des Unangepassten verbunden, aber auch mit gefälschten Dokumenten und fiktiven Investitionen zusammengebracht werden. Dabei grundieren, erklären und rechtfertigen in der populärmedialen (Selbst-)Darstellung des Hochstaplers das moralisch-verdorbene Wirtschaftssystem und dessen Akteure seine eigenen Täuschungen. Das Tauschen scheint das Täuschen in dieser Perspektivierung immer schon zu bedingen – und dass hierin deutlich gesellschafts- wie kapitalismuskritische Töne mitschwingen, zeigt sich nicht zuletzt auch unabhängig von konkreten Fällen, beispielsweise in Kommentierungen zur gegenwärtigen Finanzkrise: »Broker, Hedgefondsmanager, Finanzjongleure […]. Sie sind die Fortsetzung des Hochstaplers mit den Mitteln des Marktes und des Marketings. Leitgestalten eines neuen Zeitalters vielleicht, eine neuartige Mixtur auch aus krimineller Angepasstheit und angepasster Kriminalität, ubiquitär vertreten in der Welt, die sich Finanzwelt nennt. In ihr erfährt der Hochstapler seine monströse Parodie, denn die einstmals individuelle Travestie geriet zur allgemeinen Voraussetzung für den erfolgreichen Umgang mit der Welt bei einem zugleich bestürzenden Mangel an Wirklichkeit.« (Pannen 2009: 111)
Insgesamt scheint sich in aktuellen Diskursen das Motiv des Hochstaplers und der Hochstapelei zu eignen, um gesellschafts-, besonders wirtschaftskritische Argumentationen zu stützen. Dass sich dabei Krisenzeiten wie Zeiten entfesselter Wirtschaftsprozesse als besonders ertragreich erweisen (vgl. Polt-Heinzl 2011: 193), deutet meiner Meinung nach jedoch weniger auf eine Zunahme des Phänomens hin – diese wäre erst noch empirisch zu überprüfen –, sondern kann als Zeichen einer erhöhten gesellschaftlichen Sensibilität interpretiert werden. Zugleich verweist diese Beliebtheit auf die dem Deutungsmuster innewohnende Erklärungskraft und deren Wirkmächtigkeit: Die Figur des Hochstaplers – so lässt sich vermuten – ist in
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Krisenzeiten gerade deshalb beliebt, weil an ihr durch die Ausreizung und das zeitweilige Überschreiten normativer und moralischer Grenzen eine exemplarische Kritik nicht nur an dem konkreten Einzelfall, sondern an dem diesen Fall einbettenden System ermöglicht und herausgefordert wird. Dass sich hierfür eben auch Wirtschaftskrisen anbieten, liegt in der Anlage der Figur selbst begründet, die einerseits als Spiegel der Selbstvergewisserung dient, und andererseits – wie unter dem Mikroskop – eine Bündelung, Verdichtung, Überspitzung ermöglicht, indem sie komplexitätsreduzierte und damit nachvollziehbare Narrative und Imaginationen von komplexen Feldern, wie beispielsweise ›der Finanzwirtschaft‹, anbietet.16 Allerdings deutet die aktuelle Wahrnehmung und Verhandlung als gesellschaftliches Grundproblem, als »Betriebssystem Hochstapler« (Saehrendt/Kittl 2011: 8) – in dessen Rahmen dann operativ veränderte Körper, Kleidung oder Statussymbole generell als Elemente und Anzeichen des Hochstapeln gefasst werden – auch darauf hin, dass nicht länger der Figur des Hochstaplers selbst, wohl aber seinen Praktiken und Narrativen ein gesteigertes Interesse zukommt. Zu diesem Befund passt auch das in den 1980er Jahren erstmals titulierte und aktuell medientauglich aufbereitete ›Hochstapler-Syndrom‹, welches das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit für die Anforderungen gerade der Arbeitswelt aufgreift: Betroffene fühlten sich wie Hochstapler, auch wenn sie keine seien. Der dazu passende Therapievorschlag: »Fake it ’til you make it« (Honert 2012)17 – hier zeigt sich noch einmal eindrücklich die Ambivalenz und die Deutungsoffenheit zwischen erwarteter und zugleich problematisierter soziokultureller Praxis, denn in gewisser Weise befolgen Hochstaplerinnen und Hochstapler wie Jürgen Harksen ja genau diesen Ratschlag.
16 Ähnliches konstatieren Markus Metz und Georg Seeßlen für das Stichwort des Kasinokapitalismus, dessen Deutungen zwischen Hyper- und Unterkomplexität schwanken: »Es geht zu wie in einer Maschine, die so kompliziert und selbstreflexiv geworden ist, das sie in Wahrheit keiner mehr versteht. Und: Es geht zu wie im Kindergarten. Wie auf der Ghettostraße. Oder auf dem Affenfelsen […].« (Metz/Seeßlen 2012: 57) 17 Ob also der eingangs erwähnte Elektriker – dessen Unterricht übrigens als unkonventionell, aber durchaus anregend beurteilt wurde (vgl. Lübke-Narberhaus 2012) – also gar nicht als kriminelles Subjekt handelte, sondern eine Art Selbstbehandlung betrieb, bleibt vor diesem Hintergrund allerdings offen.
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»Mehr braucht’s ja nicht.« Kapitalsorten und ihre Konvertierung S ILKE M EYER
Die Schnittstelle von Kultur und Ökonomie ist der handelnde Mensch und insbesondere der Prozess seiner Entscheidungsfindung. Die Ökonomie als – auch – prognostische Wissenschaft entwickelte Modelle der Berechenbarkeit dieser Entscheidungen: Rational choice als handlungstheoretische Prämisse wurde dabei über die Jahrzehnte hinweg modifiziert und um nicht-ökonomische Einflussfaktoren erweitert, beispielsweise innerhalb der Theorien von bounded und truely bounded rationality. Aus dem homo oeconomicus ist somit längst ein homo reciprocans (vgl. u.a. Falk 2001, Axelrod 2005) und aus dem rationalen Optimierer ein rational fool (Sen 1977) geworden. Überwunden ist auch die Vorstellung von Kultur als »Residualkategorie«, welche das ökonomische Verhalten der Menschen erklären kann, wenn alle anderen Faktoren an ihre Grenzen geraten (Berghoff/Vogel 2004: 10).1 Aus Sicht der Kulturwissenschaften wiederum ist nicht nur ein erhöhtes Interesse an ökonomischen Themen festzustellen, sondern auch ein Perspektivenwechsel auf die Ökonomie an sich. Ökonomie wäre demnach nicht mehr ein Forschungsgegenstand der Kulturwissenschaften, sondern eine Forschungsperspektive, ähnlich wie sich dieser Wechsel auch innerhalb der Gender- oder der Migrationsforschung vollzogen hat. Chris Hann und Keith Hart erinnern in ihrer Einführung in die ökonomische Anthropologie an die Etymologie des Wortes Ökonomie, nämlich Haushaltsführung (vgl. Hann/Hart 2011: 18-20). »Das Ökonomische ist in dieser Perspektive
1
So etwa David Landes in seiner Übersicht zur modernen Wirtschaftsgeschichte: »If we learn anything from the history of economic development, it is that culture makes all the difference.« (Landes 1998: 516). Ein Überblick zur Rezeption rationaler ÖkonomieModelle in den Kulturwissenschaften findet sich u.a. bei Berghoff/Vogel 2004; Plumpe 2007; Görlich 1993.
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nicht ein fest umrissener und eingegrenzter Bereich menschlicher Existenz, sondern umfasst prinzipiell alle Formen menschlichen Verhaltens.« (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 16). Ökonomisches Handeln »umfängt und formiert als höchst gegenwärtiges Dispositiv alltägliche Praktiken« (Echterhölter 2013: VIII): Wenn Menschen sich ökonomisch verhalten, dann agieren sie also innerhalb einer Gruppe gleichzeitig auf soziale, symbolische und kulturelle Weise. Die Aufzählung dieser Praxismodalitäten führt direkt zu einem Modell, welches das Kalkül von Nutzen- und Opportunitätskosten ebenfalls ersetzt hat und zwar durch einen breiten Kapitalbegriff als »grundlegendes Prinzip der inneren Regelmäßigkeiten der sozialen Welt« (Bourdieu 1983: 183; Herv. S.M.). Mit seinem Konzept des ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals, zuerst entwickelt aus seinen ethnographischen Arbeiten über die algerischen Kabylen, ermöglicht der Soziologe Pierre Bourdieu eine »Ökonomie der Praxis«, welche zwar inhärent »das ökonomische Kalkül« der Maximierung beibehält, diese aber auf sämtliche Bereiche der sozialen Interaktion erweitert: »Dies bedeutet, daß die Theorie der eigentlich ökonomischen Handlungen nur einen besonderen Fall innerhalb einer allgemeinen Theorie der Ökonomie der Handlungen darstellt. Den ethnozentristischen Naivitäten des Ökonomismus läßt sich, ohne in die volkstümelnde Begeisterung über die edle Einfalt der Ursprünge zu verfallen, nur entgehen, wenn bis zum bitteren Ende vollzogen wird, was jener nur halbherzig tut: das ökonomische Kalkül unterschiedslos auf alle, sowohl materielle wie symbolische Güter auszudehnen, die rar scheinen und wert, innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Formation untersucht zu werden – handle es sich um ›schöne Worte‹ oder ein Lächeln, um einen Händedruck oder ein Achselzucken, um Komplimente oder Aufmerksamkeiten, Herausforderungen oder Beleidigungen, um die Ehre oder um Ehrenämter, um Vollmachten oder Vergnügen, um ›Klatsch‹ oder um wissenschaftliche Informationen, um Distinktion oder um Auszeichnungen« (Bourdieu 1976: 345). Außerhalb dieses Kalküls einer Ökonomie der Praxis gibt es bei Bourdieu kein Handeln, Kapitalien werden parallel kumuliert und in einander umgewandelt (vgl. u.a. Bourdieu 1976: 335-377, systematisch dann ders. 1983; zugleich ders. 1992: 49-79, erweitert und angewandt auf den französischen Häusermarkt Bourdieu 2005: 194-195). Entscheidend ist: Das Regelwerk dieser Konvertierungen folgt keinen ökonomischen, sondern letztlich sozialen und kulturellen Vorgaben: »Reason (or rationality) is ›bounded‹ […] because it is socially structured and determined« (Bourdieu 2005: 211). So kann ökonomisches Kapital andere Kapitalarten erwerben, braucht aber Transformationsarbeit und Investitionen, um seine »wirksame Form der Macht zu produzieren« (Bourdieu 1983: 195). Das bedeutet, dass der Besitz von ökonomischem Kapital zwar den Erwerb von anderen Kapitalien ermöglicht, diese aber nicht auf ökonomisches Kapital zu reduzieren sind. Grund hierfür ist die Logik der Kapitalumwandlungen, nach der die Wirkung einer Kapitalform
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erst dann zur Geltung kommen kann, wenn es gelingt, ihre ökonomistische Grundlage in einem »Asyl von Zweckfreiheit« (Bourdieu 1976: 377) zu verbergen. Kurzum: Freundschaft oder Talent kann man nicht kaufen, so jedenfalls die Annahme, sonst sind die Freunde keine ›wahren‹ Freunde und das künstlerische Werk allenfalls niveauvolles Können, jedoch ohne die Konnotation von ›echter‹ Begabung. Die »Verschleierung des Ökonomischen« bringt jedoch eine »Schwundquote« in der Kapitalumwandlung mit sich (Bourdieu 1983: 197). Wer die Pflicht zu Dankbarkeit und Reziprozität beispielsweise einer Tauschbeziehung herunterspielt, geht das Risiko ein, dass diese ausbleiben und die Anerkennung einer Schuldpflicht verweigert wird. Um dieses Risiko möglichst gering und gleichzeitig die Verschleierung möglichst effektiv zu halten, müssen Konvertierungsstrategien narrativ moderiert werden. Ich möchte im Folgenden eine solche Moderation von Kapitalumwandlungen untersuchen mit dem Ziel, anhand der verwendeten Erzählstrategien Kapitalsorten und ihre Rolle in der Identitätskonstruktion von AkteurInnen in einer besonderen Situation zu beleuchten, nämlich in der der Ver- und Überschuldung. Konkret frage ich nach der narrativen Selbstdarstellung von SchuldnerInnen und der Rolle des ökonomischen Handelns darin.2 Damit enthält die Kapitalkonvertierung eine gewisse Brisanz, denn es geht im Folgenden weniger um ökonomisches Kapital als um den Mangel an demselben. Die Präferenzen, denen die AkteurInnen in ihren Darstellungen folgen, sind nicht (nur) Ergebnis ihrer Wahl, sondern unterliegen bestimmten Zwängen. Gerade aber der Umgang mit diesen Zwängen, genauer gesagt: ihre narrativen Darstellungen, trägt zur Klärung einer Frage bei, die den gesamten Diskurs zu Schulden und Schuld durchzieht: Auf welche Weise wird in der Zwangslage aus einer ökonomischen Transaktion eine Frage der Moral?3 Anders noch: Wie wird aus Schulden Schuld oder auch: Inwieweit empfinden sich SchuldnerInnen als Schuldige?
2
Es handelt sich dabei um mein Habilitationsprojekt zur Ver- und Überschuldung in Deutschland, aus dem auch das hier ausgewertete Interviewmaterial stammt. Insgesamt habe ich für dieses Projekt 45 qualitative Interviews mit SchuldnerInnen und zwölf Interviews mit SchuldnerberaterInnen geführt. Siehe auch Meyer 2011 und Meyer 2007.
3
Moral als analytische Kategorie stellt eine Herausforderung an die Kulturwissenschaften dar, dessen bin ich mir bewusst. Ich benutze den Begriff innerhalb des Konzepts der moralischen Ökonomie in Anlehnung an Lorraine Daston und Ute Tellmann und meine damit im Kontext der Verschuldung eine Handlungs- und Deutungsorientierung zwischen individueller Praxis und kollektiver Norm. Vgl. Daston 22003: 157-160 und Tellmann 2013. Zur Anthropologie der Moral allgemein siehe Zigon 2008 und Howell 1997.
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Als Fallbeispiel habe ich die Münsteraner Familie Martins gewählt, bei denen der Umgang mit Kapitalsorten eine besondere Rolle spielt. Geführt habe ich das Interview mit Irina Martins4; sie ist gelernte Buchhändlerin und Mutter von drei Kindern im Alter von sechs, zehn und vierzehn Jahren, zurzeit steht sie in keinem Erwerbsverhältnis. In der Familie wurde aus der Verschuldung eine relative Überschuldung, als Irina Martins’ Gehalt in der zweiten Schwangerschaft ausfiel. Zuvor konnten sich die Doppelverdiener – Volker Martins arbeitet als IT-Berater – einen vergleichsweise hohen Lebensstandard leisten. Gefragt nach diesem Lebensstandard vor der Verschuldung antwortete sie: »Wir sind oft essen gegangen, also wenn wir Lust hatten, und da ist es dann nicht so drauf angekommen (lacht leise). Eigentlich waren wir bestimmt zwei, drei Mal die Woche essen, also nicht immer im Restaurant, auch mal was geholt und so. Und dann zwei Mal im Jahr Urlaub, wie es eben so ist, ja --. Wir haben uns nicht eingeschränkt und sicher über unsere Verhältnisse gelebt. (…) Und ich habe auch das Haus schön eingerichtet, mit Antiquitäten und so. (…) Als dann der Neuwagen kaputt war, fing es mit den Schulden an. Aber da hat sich nicht viel geändert, wir haben ja viel zurückbezahlt, bestimmt acht neun Hundert Euro im Monat. Aber als dann mein Gehalt weg war, da war das natürlich schwer.«
Ihre Familie, so stellte Irina Martins nachfolgend dar, bewältigt die ökonomische Marginalisierung sportiv. Sie sprach im Interview weniger von Verzicht und Einschnitten, sondern beschrieb das Leben mit Schulden als erkenntnisreich und erzieherisch wertvoll, weil kompetitiv und gleichzeitig gemeinschaftsstiftend. Den wettbewerblichen Umgang mit der Verschuldung nannte sie das »Ohne-Geld-System« und stellte dieses im Interview ausführlich vor: »Natürlich tat mir das vor allem für die Kinder immer leid, wenn man zu denen nein sagen muss. (...) Aber dann sind wir drauf gekommen, nachdem die Frau Mersmann [Schuldnerbe-
4
Um die Anonymität der InterviewpartnerInnen zu wahren, habe ich ihre Namen geändert. Das Interview (2 Stunden, 43 Minuten) habe ich am 11. November 2008 im Haus der Familie in Münster geführt. Die Transkriptionsregeln habe ich möglichst einfach gehalten (ausführlich diskutiert bei Schröder 1992: 91-96), einem ethnologischen Transkriptionssystem folgend habe ich darauf Wert gelegt, eine gute Lesbarkeit der Interviewsequenzen zu erhalten und daher nur diejenigen Merkmale zu transkribieren, die ich gemäß meiner Fragestellung analysieren wollte. Auf die Codierung sämtlicher mündlicher Aussagen habe ich daher verzichtet (Kowal/O’Connell 2003: 443).
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raterin; S.M.] uns davon erzählt hatte, dass es auch erzieherisch sein kann, kein Geld zu haben. Wir nennen das das ›Ohne-Geld-System‹ und belohnen eben mit Vorlesen, Fernsehzeiten oder dass man den Abwasch nicht machen muss, keine Hausarbeit, Rasenmähen und so. Und das klappt mal so, mal so, aber eigentlich ganz gut.«
Sie betonte auch in der Stimmlage ihre Empathie mit ihren Kindern, stellte heraus, dass sie deren Verzicht besonders schmerzt. Gleichzeitig wendete sie – unter Berufung auf eine Expertin in Sachen Konsum, Schulden und Werte, die Schuldnerberaterin Frau Mersmann – diesen Verzicht in eine charakterbildende Maßnahme für ihre Kinder. Die Hervorhebung der Worte »Kinder« und »nein« zeigen das Dilemma der narrativen Darstellung: Mitleid mit den Kindern steht der Hoffnung auf Erkenntnis von Konsumverzicht als positive Erfahrung gegenüber. Ihre eigene, durchaus relativierende Bewertung erfolgt in der Schlusscoda: »eigentlich ganz gut«. Im Interview folgten weitere Beispiele der Belohnung und auch der Bestrafung in der Erziehung der Kinder unter diesen besonderen Umständen. Sparen und Rechnen ist quasi-ritualisiert in das Familienleben integriert: »Wir haben da so eine Tafel, da stehen unsere Schulden und unsere Einnahmen drauf. Und samstags, da setzen wir uns davor und aktualisieren, da wird dann gerechnet und jeder trägt etwas dazu bei. Auch ganz kleine Summen sind wichtig, das ist für die Kinder total wichtig. Und dann wird gefeiert, wenn wir eine Marke überschritten haben, (...) zum Beispiel, als es nur noch dreißigtausend Euro waren [von anfangs 46.000; S.M.]. Da sind wir dann zu McDonalds’ gegangen und wollten es krachen lassen. Ja, und dann hat unser Ältester ausgerechnet, was wir mit dem Sparmenü sparen, und hat es wieder neu eingetragen zu Hause. Wenn ich das jetzt so sage, das ist irgendwie auch toll, zu sehen, wie die Kinder mitziehen. (...) Und ich glaube, die lernen auch was fürs Leben dabei.«
In der Selbstdarstellung kompensiert Irina Martins die ökonomischen Einschnitte durch Lerngewinn und Werteverschiebung beziehungsweise -korrektur. Als sprachliche Mittel dienen ihr hierfür Detaillierungen – die Schilderung des Ausflugs zu McDonald’s – sowie auto-epistemische Elemente (»Wenn ich das jetzt so sage«). Im Prozess der Vergegenwärtigung kann die Erzählerin im Interview das Erlebte neu und anders bewerten. Diese Neubewertung leitet sie mit der Coda oder Quintessenz der Passage ein: »das ist irgendwie auch toll, zu sehen, wie die Kinder mitziehen. (...) Und ich glaube, die lernen auch was fürs Leben dabei.« Die narrativ gestaltete Neubewertung erhält damit die Funktion, die erzwungenen Umstände der Umorientierung in den Hintergrund zu rücken. Das fehlende ökonomische Kapital wird kompensiert durch einen Gewinn an ökonomischer und sozialer Kompetenz, genauer gesagt: Sparen und »mitziehen« lernen. Die Taktik der Verschleierung des ökonomischen Prinzips nach Bourdieu funktioniert damit auch ex negativo. Wo sonst die Existenz und Wirkung von ökonomischem Kapital verborgen werden sol-
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len, geraten der Mangel am selben und die damit verbundenen Zwänge in den Hintergrund. In den neuen Mittelpunkt des Familienlebens stellte Irina Martins bürgerlichfamiliäre Werte: Ihre entwicklungsverzögerte Tochter geht auf eine Privatschule, für die sie und ihr Mann 378 Euro monatlich bezahlen, alle Kinder haben Musikunterricht. Die Ausgaben für die Erziehung und Bildung ihrer Kinder sind an einem nach oben strebenden Habitus ausgerichtet, welcher auch in der Überschuldung handlungsleitend bleibt. Hierzu passt auch die Aufmerksamkeit, die sie bestimmten Einrichtungsgegenständen schenkt; ungefragt führte sie mich durch einen Teil des Hauses und zeigte mir ihre Antiquitäten. Mit diesen ist jedoch eine widersprüchliche Aussage verbunden: So nannte Irina Martins einerseits Antiquitäten als einen Posten ihres konsumintensiven Lebensstils. In ihrem Rundgang durchs Haus betonte sie andererseits, wie günstig sie die Stücke bekommen hatte und welche Rolle ihr Wissen über alte Möbel dabei spielte: »Ja, wenn man sich ein bisschen auskennt, dann kann man schon ein paar Schnäppchen machen. Die Kommode da, zum Beispiel, die habe ich vom Flohmarkt. Die war ganz billig, aber ist trotzdem schön.« Hier wird deutlich, wie sich die Zielparameter der Selbstdarstellung verschoben haben: Galten die Antiquitäten vor der Verschuldung noch in erster Linie als Indiz für einen teuren Geschmack, werden sie jetzt umgedeutet zu Anzeichen für Expertentum und Insiderwissen und damit zu einem Ausdruck von kulturellem Kapital. Der Zwang zur Detaillierung (Schütze 1987) – der Rundgang durchs Haus dauerte fast eine Stunde – zeigt die Bedeutung, die die Gesprächspartnerin den Möbeln innerhalb ihrer Geschichte beimisst. Denn erst Details machen plausibel (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 22004: 36). Als besondere Kapitalform stellt Irina Martins auch den neu erworbenen Gemeinschaftssinn der Familienmitglieder dar: »Wir unternehmen jetzt viel zusammen, als Familie, man kann auch viele schöne Dinge machen, die nichts kosten. (…) Und wir verbringen viel Zeit miteinander, auch mein Mann jetzt, das finde ich so schön. Nicht mehr alle vor dem Fernseher und so.« Die Zeit, die sie und ihr Mann mit ihren Kindern verbringen, erachtet sie als einen persönlichen Gewinn. Der angesprochene Fernseher fehlt im Wohnzimmer. Darauf befragt, antwortet Irina Martins: »Ja, der Fernseher (lacht). Wir gucken ja nur die Nachrichten. Jetzt. Überhaupt braucht man keinen Fernseher. Oben haben wir einen Kleinen. Da sehen wir die Nachrichten. Aber sonst hören wir viel Musik und so. Mehr braucht’s ja nicht.« Im weiteren Gesprächsverlauf wurde deutlich, dass das hochwertige Fernsehgerät gemeinsam mit anderer Unterhaltungselektronik verkauft worden war. Dem kann die Interviewpartnerin mit auto-epistemischen Rahmungen durchaus Positives abgewinnen:
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»Darüber war ich richtig froh. Komisch, nicht? Aber wir hatten immer Theater, wer wann wie viel fernsehen darf und Computer spielen und Wii [eine Videospiel-Konsole mit eingebauten Bewegungssensoren; S.M.]. Und jetzt spielen wir zusammen Spiele.«
Dass eine ihrer früheren Antworten Fernsehzeit als Belohnung für die Kinder enthält, habe ich im Interview nicht weiter kommentiert. Irina Martins kompensiert die Reduzierung ihres Lebensstils durch zwei Strategien. Sie stellt ihre Lebensweise als anspruchslos und asketisch dar und zieht im Interview ostentativ das kulturelle und symbolische Kapital dem ökonomischen Kapital vor. Zentraler Bestandteil dieser Konvertierungsformel ist die Aufwertung von familiärer Gemeinschaftlichkeit. Vor der Überschuldung manifestiert sich ihr sozialer Status durch Konsum und Prestigeobjekte, jetzt durch einen Habitus des familiären Miteinanders. Voraussetzung hierfür ist, dass sie über die notwendigen Strategien verfügt, die ökonomische Marginalisierung als Hinwendung zum kulturellen Kapital zu deuten, wie es ihr für Wertvorstellungen wie Familie, Umweltschutz und Bescheidenheit gelingt: »Das ist manchmal ein bisschen wie im Studium, mit wenig zufrieden sein und es aber sehr genießen, weil man es zusammen macht. Wir haben im Studium auch so Urlaub gemacht, mein Mann und ich, mit dem Fahrrad am Bodensee. Und es war toll, damals.«
Teil dieses neuen Rankings von Kapitalsorten und damit des Gesinnungswandels ist der pädagogische Mehrwert: Die Kinder werden durch Wettbewerbe zum Mithelfen wie zum Sparen angehalten, die Mutter propagiert eine Abkehr von Unterhaltungselektronik und gleicht dies mit Brettspielen, Umweltschutz und Gesundheit aus. Und in diesen Kontext stellt sie auch den unfreiwilligen Konsumverzicht.5 Die zweite Haltung steht in einem gewissen Widerspruch zum pädagogischen Anspruch, impliziert sie doch eine Geheimhaltung der Schuldensituation, auch vor den Kindern. Gefragt danach, wie viele Menschen in ihrem Umfeld von ihrer Überschuldung wüssten, antwortet Irina Martins: »Nein, nee, nee, das weiß keiner. Also meine Mutter, die lebt in Lüneburg. Aber hier, das wollten wir auf keinen Fall. Wir haben es ja ganz lange auch unseren Kindern nicht gesagt. Also natürlich wussten die, dass wir weniger Geld als früher hatten. Aber Schuldnerberatung und so, das brauchen die nicht zu wissen. Deshalb machen wir das ja auch so, ich sag mal, wie ein Wettbewerb. Damit die nicht wissen, dass wir zeitweise ziemlich tief drin saßen.«
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Wie gemeinschaftlich der neue Alltag getragen wird, entzieht sich meinem methodischen Zugriff und kann an dieser Stelle nicht hinterfragt werden.
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Interpretiert man den Tempuswechsel in der Antwort, ist davon auszugehen, dass die Kinder immer noch nicht wissen, dass die Eltern Verbraucherinsolvenz angemeldet haben, wahrscheinlich auch, um die Diskretion in der Nachbarschaft und im Bekanntenkreis zu wahren. Die zweite Haltung zielt damit auch ins Innere der Familie: Die Eltern halten die Verbraucherinsolvenz geheim. Auch hier muss kritisch hinterfragt werden, inwieweit ihnen das gelingt oder ob dies eine Wunschvorstellung ist, die Irina Martins im Interview äußert. Der Unterschied ist jedoch ein gradueller, die Strategie der Verheimlichung verlangt von beiden Elternteilen große Disziplin und bedeutet eine schwere Last: »Das ist mit am schlimmsten, dass ich es keinem sagen kann.« Irina Martins fühlt sich durch die selbst auferlegte Verschwiegenheit zusätzlich isoliert und gibt auch an verschiedenen Stellen des Interviews an, wie groß ihre Verzweiflung war und immer noch ist. Was sie ihren Kindern aber vor allen Dingen vermitteln will, ist der Appell, nicht aufzugeben und auch die hohe Summe an Schulden als zu bewältigende Herausforderung zu sehen. Ihr Schuldverständnis ist in seinem Charakter als Aufgabe geprägt, daher sieht sie es als problematisch an, in der Verbraucherinsolvenz nicht den gesamten Betrag an die Gläubiger zurückzubezahlen: »Äh, ja, das passt natürlich nicht zu dem, wie wir mit den Kindern darüber reden. Da sagen wir immer ‚Wir haben Fehler gemacht, nicht gründlich geprüft, uns verschätzt, und jetzt müssen wir dafür gerade stehen und dann, ja, äh, dann tun wir das eigentlich eben nicht, dafür gerade stehen. Ist ja so. Aber es ist, ich sag mal, es ist wichtig. Ähm, für uns alle.«
Die Analyse der sprachlichen Mittel zeigt bereits, dass sich die Erzählerin hier in einer Suchbewegung befindet: Evaluative Partikel wie »eigentlich« und »eben« schaffen Distanz zum Gesagten, die Syntax wird fragmentarisch. Die wörtliche Rede mit ihrer Einleitung »Da sagen wir immer« verleiht der Passage den dramatischen Charakter einer Re-Inszenierung, gleichzeitig klingt die darauf folgende Aufzählung wie einstudiert beziehungsweise wie oft wiederholt. Die Schlusscoda betont wieder die Gemeinschaftlichkeit »wichtig für uns alle«, obwohl die Aussage den pädagogischen Ansprüchen widerspricht. »Für uns alle« gerinnt damit zur Formel. Aus meinen Fragen griff sie die Bezeichnung ›Verbindlichkeiten‹ auf, die ihre Einstellung zu ihren Schulden gut träfe: »Ich seh das schon so, als verbindlich. Wir wollen nichts geschenkt, wie gesagt, sonst können wir das ja in der Familie schlecht erklären.« Der Antrag auf Verbraucherinsolvenz und damit auf eine Restschuldbefreiung war zu diesem Zeitpunkt bereits gestellt, trotzdem blieb Irina Martins bei ihrer Wahrnehmung der Schuldlast. Aus volkskundlichen Untersuchungen zu Anpassungsstrategien in ökonomischen Krisen ist unter dem Begriff der Kulturfixierung die Praxis bekannt, an neu erworbenen Konsumtechniken und -gütern auch in der materiellen Deprivation
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festzuhalten (Wiegelmann 1991 [1982]). Gefragt nach den Ausgaben, auf die Irina Martins nicht verzichten möchte und die sie als letztes aufgeben würden, nennt sie die Privatschule ihrer Tochter und den Musikunterricht der Kinder. Diese beiden Distinktionsmerkmale sind demnach in ihren Augen unverzichtbar und werden aus Angst vor dem sozialen Abstieg und dem gesellschaftlichen Entzug der »Respektabilität« (Vester u.a. 2001: 26) beibehalten. Interessant wäre die Frage, ob sich die derzeitige Hervorhebung des kulturellen Kapitals bei einer stabilisierten ökonomischen Lage wieder einpendeln würde.6 Gefragt danach, ob sie noch einmal Schulden machen würde, antwortete Irina Martins unentschlossen: »Nein, an sich sind wir froh, wenn wir raus sind. Aber wer weiß, ob man’s noch einmal braucht.«
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Die Darstellungen von Irina Martins entbehren nicht gewisser Ambivalenzen. Antiquitäten als Statussymbole und als Schnäppchen, Schuldbekenntnis vs. Geheimnisse, Spielen statt Fernsehen, aber Fernsehen als Belohnung fürs kindliche Sparbemühen sollen als Beispiele genügen. Die Mehrdeutigkeit dieser Inszenierungsstrategien führte mich dazu, das Reden über die Schulden, die narrativen Leitlinien der Identitätskonstruktion und ihre intersubjektiven Funktionen näher zu betrachten. Voraussetzung für die Erzählanalyse als kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse ist die Erkenntnis, dass mit dem Erzählen die Wiedergabe von subjektiven Erlebnissen und Erfahrungen eine überindividuelle Form erhält (in der Europäischen Ethnologie v.a. Lehmann 2007, 1983; Schröder 2005, 1992; Herlyn 2010). Menschen erinnern sich nicht realitätsgetreu, sondern ihre Wahrnehmungen und Erinnerungen werden im Sinne eines emplotment schon im Entstehungsprozess selektiert und interpretiert. So bezeichnet der Hirnforscher Wolf Singer Wahrnehmungen und Erinnerungen als »datengestützte Erfindungen« (Singer 2002: 86). Damit knüpfen die Menschen in ihrer selektiven Wiedergabe von Vergangenheit an aktuelle kommunikative Konstellationen, in unserem Fall an das Interview, an.
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Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, in investigativer Absicht festzustellen, ob der Gesinnungswandel meiner Interviewpartnerin von Dauer ist. Die narrative Identitätskonstruktion ist situativ und interaktiv. Mir ist bewusst, dass die Gesprächssituation von Übertragungen und Gegenübertragungen gekennzeichnet war, die ihrerseits wichtige Forschungsfragen aufwerfen. Innerhalb des Habilitationsprojektes sind Übertragungsverhältnisse und die Rolle der Forscherin ein zentraler Punkt, den ich hier jedoch nicht vertiefen kann. Eine knappe Auswahl an europäisch-ethnologischer Forschungsliteratur zum Thema umfasst Jeggle 1984; Eisch 1996; Eisch/Hamm 2001; Timm 2001; Meyer/Heimerdinger 2012.
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Der Gegenwartsbezug des Erzählens macht dieses zur Konstruktion, denn damit wird die Struktur des Erzählten primär von narrativen Mustern und nicht von der Abfolge von Ereignissen geformt. Die Zeitperspektive wird eine doppelte, die Rede ist auch vom doppelten Ich, nämlich einem erzählenden gegenwärtigen Ego und einem erzählten vergangenen Ego. Diese doppelte Zeitperspektive, die Konstruktivität des Erinnerungsprozesses und die interaktive Kommunikationssituation machen das Erzählen zur konstruktiven Herausforderung. ErzählerInnen nehmen nicht nur eine Rolle ein, sondern sie verkörpern in einem Prozess der Subjektivierung kulturell geprägte Muster. Dies gilt nicht nur für den »Biografie-Generator Interview« (u.a. Hahn 1987). Aber der Aufführungscharakter der Interviewsituation lässt sich vielleicht besonders auf die individuell verkörperten Realisierungen kollektiver Muster befragen. Und damit entfalten die Erzähl- und Schweigemuster, in die das Reden über Schulden eingespannt wird, eine Erklärungskraft über den konkreten Umgang mit Schulden hinaus, sie werden zur kulturellen wie sozialen Leistung. Von diesen epistemischen und pragmatischen Leistungen des Erzählens macht die Narrativanalyse Gebrauch und nutzt das Erzählen im Interview als »Zugang zu den Erfahrungsbildungen, Sinnstiftungsprozessen und zentralen identitätskonstitutiven Akten« (Lucius-Hoene/Deppermann 22004: 77). Anders gesagt: Mit dem Erzählen als kommunikativem Akt werden Identitätsfragen kulturell objektiviert und damit mit Methoden einer empirischen Kulturwissenschaft erforschbar. Über sprachliche Äußerungen werden Identitäten »entworfen, dargestellt, ausgehandelt, zurückgewiesen […] bestätigt« (ebd.: 49) und, nachgeordnet, auch erforscht. Wir beobachten also Kommunikationszusammenhänge und interpretieren diese – auch und gerade im Interview – als individuelle Sinnstiftung, aber auch als Träger von intersubjektiven Werthaltungen und Handlungsmaximen. Sprache und Kommunikation transzendieren das Verhalten des Einzelnen und geben als kollektiv sinnhafte Geschichtengestaltung Auskunft über gesellschaftliche Dimensionen von Schuldverständnis. Denn: In ihrer Haltung gegenüber den Schulden ist Irina Martins kein Einzelfall. Wenn Scheitern nur eine Momentaufnahme in der eigenen Biografie ausmachen soll, dann müssen Kohärenz und Kontinuität in der Identität aufgegeben oder zumindest moderiert werden. Diese Revision wird zur argumentativen Aufgabe für das Individuum. Anstelle des wirtschaftlichen Wohlstandes mit dem dazugehörigen demonstrativen Konsum treten andere Kriterien für ein erfülltes Leben wie Familie, Freunde oder Selbstverwirklichung im Beruf. Wenn Irina Martins ihr ökonomisches Scheitern als Chance für das Familienleben deutet, dann folgt sie einem Motiv, welches unter dem Stichwort »Glückliche Armut« bereits Eingang in Erzählindizes wie den von Antti Aarne und Stith Thompson sowie in die Enzyklopädie des Mär-
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chens gefunden hat.7 Geschichten von der monetären Armut als Glückserlebnis sind als erzählerisches Motiv seit dem ausgehenden Mittelalter aus Predigtmärlein und Schwankbüchern bekannt. Rudolf Schenda bezeichnet die »Ideologie vom glücklichen Armen«, welche »den Armen bei seiner anerzogenen, nichtreflektierenden Zufriedenheit halten« soll, als das »dümmste aller Oxymora« (Schenda 1977: 347). Bis zum 16. Jahrhundert findet sich das Motiv vor allem in der religiösen Erbauungsliteratur, bevor es mit Schwänken von Bonaventure de Périers (1510-1543), Hans Sachs (1496-1576) und der Fabelsammlung von La Fontaine in die Novellistik übertragen wurde (Nörtersheuser 1987: 1318-1320). Das narrative Minimalgerüst der Glücklichen Armut (ATU 754) umfasst die Figur des Armen, der trotz seiner spärlichen Möglichkeiten zufrieden lebt, dann die Begegnung mit Reichtum bei gleichzeitigem Unglück und abschließend den Verlust des Geldes beziehungsweise den Verzicht darauf, welcher den Armen wieder glücklich macht. Der entsprechende Eintrag in der Enzyklopädie des Märchens arbeitet aus einer Vielzahl von Belegen die Unvereinbarkeit von Glück und Reichtum heraus, während die Ergebenheit der Armut ein erfülltes Leben bedeutet. Oder in den Worten von Irina Martins: »Arm, aber glücklich, sagt man ja immer. Und das kann ich auch bestätigen, ist schon richtig, jedenfalls unterm Strich. -- Wir verzichten auf vieles, das ist schon klar, aber wir sind jetzt irgendwie glücklicher. Und das stimmt schon, man braucht eben keine Markenklamotten oder teuren Urlaub in der Südsee, man kann auch ohne glücklich sein. -- Es kann einem auch so gut gehen. -- Ja. -- Und das tut es auch, sagen wir immer, unsre Bedürfnisse sind voll befriedigt, es sind eben andere geworden. (...) Und es tut gut, so unabhängig vom Geld zu sein. -Ist ja nicht so, dass wir uns gar nichts mehr leisten, aber man wählt halt aus, mal krachen lassen, mal knausern (lacht).«
Das Erzählmotiv des glücklichen Armen lässt sich noch weiter zurückführen, sein Ursprung ist biblischer Natur. Der schnöde Mammon macht eben nicht glücklich, der Verzicht auf denselben unter Gewinn von Freiheit, Gemeinschaftlichkeit und Authentizität schon. Dieses Motiv und seine narrative Struktur, wie sie in Interviewantworten aufscheinen, erinnern an eine religiöse Läuterungsgeschichte, wie sie auch schon in den wiederholt eingesetzten auto-epistemischen Mitteln anklingt.
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Der als international verbindlich anerkannte Erzählindex von Antti Aarne und Stith Thompson, seit seiner Überarbeitung 2004 durch Hans-Jörg Uther als Aarne-ThompsonUther-Index (ATU) bekannt, klassifiziert Märchen- und Schwankgruppen nach ihren Motiven. Vgl. Uther 2004. Die vierzehnbändige Enzyklopädie des Märchens ist ein umfassendes Nachschlagewerk, welches internationale Erzähltraditionen, Gattungs- und Motivgeschichten und die dazugehörigen Forschungsergebnisse versammelt. Vgl. Ranke/Brednich u.a. seit 1975 ff.
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Irina Martins berichtet davon, wie sie zunächst einen materialistisch orientierten Lebenswandel pflegte, nach dem Damaskus-Erlebnis der Bekehrung, sprich: der Erkenntnis ihrer Überschuldung, jedoch zu den anti-konsumistischen, mit Bourdieu nicht-ökonomischen und damit den vermeintlich ›wahren‹ Werten wie Gemeinschaft, Familie und Nachhaltigkeit findet. In Struktur und Aussage greift die Sprecherin damit auf ein kulturell fest etabliertes Erzählmuster zurück. Durch die Erfüllung des generischen Erwartungshorizontes und durch die von ihr selbst und der Zuhörerin geteilte Kenntnis und Akzeptanz des Musters erhöht sie die Kohärenz und damit die Evidenz in ihrer Aussage (vgl. Linde 1993: 12). Die Tatsache, dass der Glücksgewinn durch Verzicht auf Reichtum nicht freiwillig ist, tritt währenddessen hinter den kohärent eingesetzten Erzählmotiven zurück. Irina Martins kompensiert die Zwänge durch eine deutliche Distanzierung von ihrem früheren Verhalten. Konversationsanalytisch erreicht sie diese Distanz durch einen wiederholten und gut markierten Perspektivenwechsel vom erzählten zum erzählenden Ich. Dieser Perspektivenwechsel ist markiert durch evaluative Kommentare (»Und das kann ich auch bestätigen, ist schon richtig, jedenfalls unterm Strich«; »ist schon klar«), kategorisierende Zusammenfassungen (»man kann auch ohne glücklich sein«) und wiederholt durch den Einsatz des verallgemeinernden Pronomens (»man«). Diese Möglichkeiten, Distanz zum erzählten Ich aufzubauen und dadurch einen Erkenntnisprozess abzubilden, verdrängen ihre ökonomischen Fehlentscheidungen zugunsten der neuen Einsicht. Und in der narrativen Struktur ist die Heilung durch das Gnadengeschenk des Familienglücks erst möglich durch das vorherige Leben im vergänglichen und oberflächlichen Konsum mit anschließender Einsicht und Läuterung. Die Darstellung bekommt damit eine affirmative und unterstützende Funktion: Denn indem die Erzählerin Erlebtes korrigieren kann und so zu einer innerlichen Balance findet, kann sie – vorausgesetzt die Zuhörerschaft stimmt zu – »die Szene als Sieger[in]« (Lehmann 1980: 57) verlassen. Das ökonomische Scheitern wird umgedeutet zum Auslöser und Zwischenschritt auf dem Weg zu einem besseren Lebensentwurf.
F AZIT : S CHULDEN -
UND
S CHULDVERHÄLTNISSE
Was kann eine kulturwissenschaftliche Narrativanalyse in der Schuldenforschung leisten? Für die These, dass Menschen mit einer Intention sprechen, die über die geäußerten Worte hinausgeht, ist unschwer Zustimmung zu finden. Liest man aber die Erzählmodi auch als Formen des Umgangs mit Verschuldung, lassen sich mindestens zwei Schlussfolgerungen ziehen: In der ersten Schlussfolgerung lese ich den narrativen Umgang mit Schulden als einen Versuch der Rechtfertigung. Der erfolglose Umgang mit dem ökonomischen Kapital wandelt sich zu einem persönli-
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chen und gesellschaftlichen Misserfolg. Diese Misserfolge werden in der Erzählung zu Stationen einer Erfolgsgeschichte gemacht und damit gerechtfertigt. Denn nicht nur die narrative Selbstdarstellung von Irina Martins hat den Charakter einer Rechtfertigungsgeschichte (vgl. Lehmann 1980). Die meisten Interviews, die ich in diesem Zusammenhang geführt habe, beinhalten Momente der Prüfung und Läuterung. Die Präsenz der Rechtfertigung aber verweist auf normative Vorstellungen und auf Diskrepanzen zu dieser imaginierten Norm im Umgang mit Geld, Schulden und Kapitalsorten. Formulierungen wie »wie sich das gehört«, »wie es eben so ist« und auch die häufige Verwendung des unpersönlichen Pronomens »man« im Gegensatz zum »ich« verweisen darauf, dass es eine durch kollektives Verhalten begründete Norm gebe, an der sich ökonomisch erfolgreiches Handeln messen lassen muss (vgl. Backert 2003: 137; Vodel 2007; Schiek 2012). Praktiken des Konsums wie des Konsumverzichts, »mal krachen lassen, mal knausern«, werden damit als der Versuch interpretierbar, sich dieser ökonomistischen Norm zu entziehen und die Macht über den Machtfaktor Geld zu gewinnen. Wenn Irina Martins also im Konsumverzicht ein neues Selbst entwirft und feststellt, dass es gut tut »so unabhängig vom Geld zu sein«, dann befreit sie sich nicht nur von den Ansprüchen der Gläubiger, sondern auch von den gefühlten Imperativen des Sparens wie des Konsumierens und erlebt dies als Kompetenz, Selbstbestimmung und Freiheitsgefühl (vgl. Schulz-Nieswandt/Kurscheid 2007: 109-118). Denn gerade die Möglichkeit zur Auswahl, »mal krachen lassen, mal knausern« gibt ihr das Gefühl, »das Biest [Geld] zähmen« zu können und damit – wieder – Herrin über ihre Selbstdeutung zu werden (Unterweger 2009: 145). Nur so kann sie den ökonomischen Misserfolg vom Selbstwert entkoppeln: Als Belohnung für das Loslassen von materiellen Werten steht ihr – nach dem eschatologischen Heilsplan – seelische Erfüllung durch Gnadengeschenke wie Familienglück und Authentizität, das Ideal des ›Bei-sichSeins‹, zu. Die Erzählstruktur der Heilsgeschichte bringt jedoch die moralische Bewertung ihres ökonomischen Handelns – quasi durch die narrative Hintertür – wieder mit ein. Denn die Wahl eines solchen narrativen Typus zur Kohärenzstiftung setzt ja auf die von den Interaktanten geteilte Bewertung von richtig und falsch. Mit anderen Worten: Aus der ökonomischen Transaktion wird genau dann moralisch bewertetes Handeln, wenn es in eine Erzählung von Gut und Böse mündet. Schulden werden zu Schuld in der Art und Weise, wie ihre Geschichten erzählt werden. Man mag dies als die emische Perspektive der Frage von Schulden und Schuld sehen. HerrIn über sich selbst zu sein, sich als eigenverantwortlich und handlungsfähig zu erleben, hat jedoch im Zusammenhang der Ver- und Überschuldung noch eine andere, eine etische Seite. Damit komme ich mit meiner zweiten Schlussfolgerung zu einem Forschungszugang, in den ich meine kulturwissenschaftliche Schuldenforschung einordnen möchte. Gemeint sind damit diejenigen Studien, die
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sich – aus dem Kontext der europäisch-ethnologischen Arbeitskulturen- und Prekaritätsforschung kommend8 – mit der Aneignung und Internalisierung diskursiver gesellschaftlicher Strukturen beschäftigen. Mit der These der Subjektivierung tritt in der postfordistischen Gesellschaft die individuelle Anerkennung von Verantwortung in den Vordergrund und verdrängt damit in der Akteursperspektive die Erklärungskraft struktureller Ursachen. Dies gilt auch für die SchuldnerInnen: Denn mit dem angestrebten Ideal der Eigenverantwortung werden die ökonomischen AkteurInnen zum unternehmerischen Selbst, das in den Selbstwert investiert und Rendite wie Verluste verwaltet. Gleichzeitig aber akzeptieren die AkteurInnen auch die Verantwortung für ihr ökonomisches Scheitern. Strukturelle Transformationen wie Arbeitsmarktbedingungen oder ökonomischen Wandel erwähnen die Befragten in den Interviews nur am Rande und nur im Kontext der Rechtfertigung ihrer eigenen Entscheidung.9 Makro-ökonomische Großwetterlagen werden also nicht als Hintergrund oder gar Bedingung für individuelle Erfolge oder Misserfolge gesehen. Vielmehr schreiben sich die Normen der Ökonomie subtil in das Selbstverständnis der AkteurInnen als unternehmerisches Selbst ein. Geld in der Hand zu haben, bedeutet einerseits Autonomie, Kreditwürdigkeit und damit ökonomische Kompetenz. Mit dem geliehenen Geld geht aber andererseits auch die Verantwortung in die Hand des Einzelnen über. Ökonomisches Handeln und Selbstwert sind so eng miteinander verflochten. Mit diesen verinnerlichten Formen der Selbstführung blicken die ökonomischen AkteurInnen nicht mehr über sich hinaus und nehmen den Anteil, den gesellschaftliche Transformationen und mediale Diskurse an ihrer Selbstwahrnehmung haben, weniger wahr. Mit dem Fokus auf der individualisierten Selbstregierung verschwinden Machtstrukturen, ökonomische Transformationen und gesellschaftliche Verantwortung aus dem Blickfeld. Und auch damit erhält die Schuldfrage eine Antwort: Schuld an den Schulden sind – auch in ihren Augen – die AkteurInnen selbst.
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Als Beispiele seien aus europäisch-ethnologischer Perspektive die Tagungsbände der Kommission für Arbeitskulturen genannt, vor allem Herlyn/Müske/Schönberger/Sutter 2009, Götz/Lemberger 2009 und Seifert/Götz/Huber 2007, sowie Malli 2010; Reckinger 2010; Reiners 2010; Sutter 2013; Lehnert 2009.
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Zum Vergleich: In den Interviews, die Albrecht Lehmann Ende der 1970er Jahre führte, galt das Motiv der Rationalisierung als kollektiv gültiges Erklärungs- und Erzählmuster für Arbeitslosigkeit (Lehmann 1983: 195; Herlyn 2007: 167).
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Warum wir handeln M ICHAEL O LIVA C ÓRDOBA UND R OLF W. P USTER
1. Z WEI S INNE
VON
H ANDELN
Handeln ist im Deutschen ein Wort, das mindestens zwei Bedeutungen hat. Es kann zunächst im Sinne von Wirtschaften gebraucht werden, aber auch grundsätzlicher im Sinne eines (absichtlichen) Tuns. Ist dies mehr als ein sprachgeschichtlicher Zufall? Schließlich gibt es nicht in allen Sprachen eine entsprechende Mehrdeutigkeit. Im Lateinischen oder Englischen etwa verwenden wir ganz verschiedene Wörter (mercari/trade beziehungsweise agere/act). Wenn wir uns jedoch wesentliche Zusammenhänge vor Augen führen, kann man finden, dass das Deutsche die Sachlage angemessener wiedergibt. Denn klarerweise gilt, dass jedes Handeln im ersten Sinne, also jedes Wirtschaften, auch eines im zweiten Sinne ist, ein Tun. Es gilt jedoch auch – und dies ist das eigentlich Substanzielle –, dass jedes Handeln im zweiten Sinne auf instruktive Weise beleuchtet wird, wenn man es im ersten Sinne auffasst. Diese letzte Betrachtungsweise, dass alles Handeln ein Wirtschaften ist, hat von jeher das Interesse der Ökonomen gefunden. Sie hätte auch größere Aufmerksamkeit von Seiten der Philosophie verdient, da sie zwei ganz grundlegende Betrachtungsgegenstände vereinigt, von denen einer eben der Philosophie zuzuordnen ist: Handeln einerseits als paradigmatische ökonomische Tätigkeit und andererseits als grundlegende Selbstverwirklichung eines sich selbst wesentlich als Akteur begreifenden Wesens. Auf diese Weise nimmt man zugleich ein Grundphänomen der Sozialwissenschaften und eine grundlegende anthropologische Perspektive in den Blick, was eine Reihe interessanter Fragen im Spannungsfeld von Philosophie und Ökonomie aufwirft. So können wir etwa nach den konzeptuellen Zusammenhängen zwischen diesen Betrachtungsfeldern fragen. Wir können auch zu ermitteln suchen, was uns die Zusammenhänge über den Menschen und seine Stellung in den Sozialwissenschaften sagen. Und wir können die Perspektive verwenden, um scheinbar etablierte Selbstverständlichkeiten im Denken über den Menschen in der Gesell-
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schaft und zur Kultur der Ökonomie kritisch zu hinterfragen. Dies wollen wir exemplarisch an der Betrachtung der Freiheitsforderung verdeutlichen.
2. Z WEI F REIHEITEN ? E IN M ISSVERSTÄNDNIS Politische Debatten über Freiheit sind nicht selten durch eine auffällige Spannung gekennzeichnet. Jeder möchte gerne selbst in dem Sinne frei sein, dass er möglichst wenig bevormundet werden will – weder von seinen Mitbürgern noch vom Staat. Wendet sich jedoch dieser grundsätzlich freiheitsfreundliche Blick von der eigenen Person ab und richtet sich auf Kollektive wie die Gesellschaft oder den Markt, so wird Freiheit meist sehr viel kritischer gesehen. Mitunter verschärft sich die Spannung sogar zu einer scharf verstandenen Abgrenzung zweier Aktionsfelder: der ökonomischen Sphäre einerseits und aller übrigen Lebensbereiche andererseits. Während in letzteren die (hoch geschätzte) persönliche Handlungsfreiheit, sozusagen die ›helle‹ Seite der Freiheit, zuhause ist, ist die erstere der Ort der suspekten, asozialen und mithin ›dunklen‹ Seite der Freiheit, die sich im Ausleben egoistischer Gier und skrupellosen Gewinnstrebens offenbart. Der bekannte Vorwurf des ökonomischen Imperialismus, also der Vorwurf des Ausgreifens des Kosten-NutzenKalküls aus seiner angestammten Domäne in ihm wesensfremde Gebiete, lebt und zehrt von der sachlichen Separierbarkeit wirtschaftlich relevanten und irrelevanten Tuns (vgl. z.B. Butterwege/Lösch/Ptak 2007: 39). Diese Zweigleisigkeit im Umgang mit dem Freiheitsbegriff wäre verständlich und schiene unbedenklich, wenn außer Frage stünde, dass es sich bei der Handlungsfreiheit und der Freiheit von Märkten um unverbundenes Verschiedenes handelte – sozusagen um Freiheiten im Plural beziehungsweise im Dual. Sobald man aber erwägt, ob sich hier nicht ein und dasselbe Phänomen nur aus verschiedenen Perspektiven zeigt, erscheint die Unterschiedlichkeit der Einstellungen gegenüber einer ›guten‹ und einer ›schlechten‹ Freiheit fragwürdig. Da mit diesem Haltungsdualismus häufig die Neigung verbunden ist, soziale Übelstände einem Zuviel an ›ökonomischer Freiheit‹ anzulasten und ihnen durch entsprechende Regulierungen entgegenzutreten (ohne ineins damit die Freiheit des Einzelnen in Frage stellen zu wollen), ist der Punkt nicht nur von akademischem Interesse, sondern auch von weitreichender praktischer Relevanz. Wenn wir uns nun auf die Perspektive einlassen, das Handeln vom Wirtschaften her zu beleuchten, wird dieser Zweifel weiter erhärtet. Bereits im nicht-interaktiven Handeln des isolierten Akteurs (dem Handeln also, das als Niederschlag der ›guten‹ Freiheit gilt) lassen sich Züge des Tausches ausmachen. Ein Akteur tut etwas, um einen gewollten Zustand zu realisieren, den die Welt nicht auf sein bloßes Wünschen hin zur Verfügung stellt. Was er tut, kann man als dasjenige betrachten, was
W ARUM WIR
HANDELN
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er hingibt, um das Gewollte im Tausch von der Welt zu erhalten. Und da sich das Gewollte zu dem, was man dafür tun muss (oder zu müssen glaubt), verhält wie Gewinn zu Kosten, wohnt allem Handeln ein in diesem Sinne ökonomischer, nämlich auf Kostenminimierung zielender Einschlag inne. Dieser Zug des Handelns ist immer bereits vorhanden; er entsteht nicht erst, wenn zwei Akteure untereinander einen direkten Tausch organisieren, also buchstäblich miteinander Handel treiben. Aber natürlich ist er erst recht präsent, wenn wir die zahlreichen kooperativen, reziproken Handlungen betrachten, die oft nicht spektakulärere Tauschhandlungen sind als die, dass Peter auf Pauls Fahrrad aufpasst, damit Paul für beide Brötchen holt. Solche Handlungen, freiwillig vollzogene kooperative reziproke Tauschhandlungen, sind es, die Markthandeln konstituieren (vgl. Puster 2012). Ob Flohmarkt, Krämer, Wochenmarkt, Messe oder Börse: Der Markt ist kein Ort, sondern das Ganze, das sich in freiwillig vollzogenen kooperativen, reziproken Tauschhandlungen niederschlägt. Doch Vorsicht: Nun sind wir ohne Bruch von der ›guten‹ zur ›schlechten‹ Freiheit gelangt – und damit in ein Dilemma: Denn wenn der Markt etwas an sich Schlechtes wäre, wie könnte dann die individuelle Handlungsfreiheit etwas an sich Gutes sein? Anders gesagt: Wer kann, ohne Widerspruch und ohne durch bloße Unkenntnis entschuldigt zu sein, dem Markt Ketten anlegen und doch die des Einzelnen gesprengt sehen wollen? Noch stehen hier Optionen offen: Man kann sich etwa darauf zurückziehen, dass es eben der ungehemmte Markt ist, der als Hort der ›schlechten‹ Freiheit einzuhegen wäre. Doch auch dies schlägt keine echte Kerbe zwischen die Freiheit des Einzelnen und die des Marktes. Auch die ungehemmte Freiheit individuellen Handelns dürfte dieser Überlegung folgend kaum der ›guten‹ Freiheit zuzurechnen sein. Und dies macht augenfällig, dass eine Unterscheidung zweier wesensverschiedenen Freiheitssphären eben nicht vom Gegensatz von individueller Freiheit auf der einen und Marktfreiheit auf der anderen Seite lebt, sondern vom Gegensatz der Qualifikationen »ungehemmt« und »nicht ungehemmt« (was immer genau damit gemeint sein mag). Wir finden also keine Bestätigung für eine Abgrenzung, mit der man Lob und Tadel an den Einzelnen oder den Markt einseitig verteilen könnte, sondern im Gegenteil einen bedeutsamen Zusammenhang. Für diejenigen, die die Freiheit des Einzelnen hochzuhalten gewillt sind, ist dieser Zusammenhang nun nicht in beliebige Richtungen auflösbar. Sie würden Forderungen nach immer umfassenderer Regulierung der Märkte nicht konsequent zur immer stärkeren Einschränkung individueller Handlungsfreiheiten fortschreiben wollen. Anderen wäre eben dies womöglich ein geradezu erwünschter Nebeneffekt. Doch wo immer man sich in dieser Frage selbst verorten möchte, es dient der Klarheit des Diskurses, wenn die so griffige Gegenüberstellung der ›bösen‹ Freiheit des Marktes und der ›guten‹ Freiheit des Einzelnen hinterfragt wird. Und dies hat Weiterungen: Auch die Suche nach dem attraktivsten Tauschpartner, der Wettbewerb, erscheint letztlich als nichts an-
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deres als Ausdruck der individuellen Handlungsfreiheit der beteiligten Akteure. Auch hier gilt, dass man nicht dem einen misstrauen und dem anderen arglos gegenübertreten kann. Anders gewendet: Wer das eine schützen will, kann das andere nicht preisgeben.
3. P RAXEOLOGISCHE F ORSCHUNG DER S OZIALWISSENSCHAFTEN
UND DIE
F UNDIERUNG
Wer also zwei Freiheiten glaubt voneinander scheiden zu müssen, sitzt einem Missverständnis auf, das in wechselnden Gestalten auftritt. Dort etwa, wo wir auf rechtliche, politische oder gesellschaftliche Freiheit abheben und jede von ihnen mit der Freiheit kontrastieren, die der Handelnde als solcher hat. Der Grund hierfür ist einfach: Wir haben es eben nicht mit einer echten Nebenordnung dieser Bereiche zu tun; die Betrachtung des Menschen als Handelnden ist vielmehr für alle diese Bereiche im wahrsten Sinne des Wortes grundlegend. Der homo agens ist der grundlegende Betrachtungsgegenstand aller Sozialwissenschaften, gleichgültig, aus welcher Perspektive sie ihn betrachten. Und so, wie die Gesellschaft in den Individuen fundiert ist, die sie konstituieren, so sind die Sozialwissenschaften in der Wissenschaft vom Menschen als Handelndem zu fundieren. Es ist den Zufällen der Wissenschaftsgeschichte geschuldet, dass dieser Fundierungsgedanke nicht die verdiente Aufmerksamkeit gefunden hat: einerseits der Fixierung der philosophischen Handlungstheorie auf metaphysische und ontologische Fragen, die am Betrachtungsinteresse der Sozialwissenschaften vorbeigingen; andererseits der Fixierung der Sozialwissenschaften auf einen halb reflektierten wissenschaftstheoretischen Positivismus, dem zufolge nur empirische Erkenntnis echte Erkenntnis ist und apriorische Einsichten nur leere Tautologie darstellen. Keine dieser Fixierungen ist notwendig, keine wünschenswert. Es blieb dem Ökonomen und Philosophen Ludwig von Mises und seiner Praxeologie vorbehalten, den handelnden Menschen ins Zentrum zu stellen und so einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu bieten. Mises’ Lehre, die er im Zuge seiner Überlegungen zur Grundlegung der Nationalökonomie in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte und vor allem in seinem Hauptwerk Nationalökonomie: Theorie des Handelns und Wirtschaftens (Mises 1940) niederlegte,1 bietet den frühesten und vollständigsten Rahmen, in dem Handlungstheorie und Sozialwissenschaften in einem angemessenen Verhältnis zueinander finden. Seine Praxeologie ist ein philosophisch wenig erforschter, jedoch umfassender Beitrag zur Handlungstheorie, wenngleich sie auch von Anfang an die
1
Rezipiert wurde vornehmlich die im Exil entstandene Übertragung Human Action (Mises 1963 [1949]).
W ARUM WIR
HANDELN
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Anwendung auf die Sozialwissenschaften, insbesondere die Ökonomie, in den Blick nahm und daher andere Fragestellungen verfolgte als in der etablierten philosophischen Theoriebildung üblich. Was nun tut die Handlungstheorie, und was macht Mises’ Beitrag besonders? Die Handlungstheorie systematisiert die grundlegende Weise des Menschen, mit der Welt in Interaktion zu treten, das Handeln eben, und beleuchtet es begrifflich (vgl. insb. Davidson 1980 [1963]). Der Begriff des Handelns wird dabei auf grundlegendere Begriffe zurückgeführt – die Begriffe des Tuns, des Glaubens und des Wollens. Wir können dann sagen, dass jemand genau dann handelt, wenn er etwas tut, weil er etwas will und etwas glaubt. Peter z.B. läuft los, weil er den Bus noch erwischen will und glaubt, dass er es so noch schafft: Er tut also etwas (er läuft), weil er etwas will (den Bus erwischen) und etwas glaubt (dass er es so noch schafft). Mises’ Praxeologie ist nun in diesem modernen Rahmen ohne Weiteres rekonstruierbar, erhält ihre besondere Bedeutung aber unter anderem durch zwei Aspekte: Einerseits nimmt Mises die Beleuchtungsfunktion, die die ökonomische Perspektive für die Handlungstheorie annehmen kann, schon früh besonders ernst. So schreibt er bereits 1933 in seinen Grundproblemen der Nationalökonomie: »Für die moderne Auffassung der Nationalökonomie ist alles Handeln Wirtschaften« (Mises 1933: 58). Andererseits wendet Mises grundlegende handlungstheoretische Einsichten auf Zusammenhänge an, die bislang als im ureigenen Sinne ökonomisch gegolten hatten, und weist so einer Fundierung der Sozialwissenschaften in der Theorie des Handelns den Weg. So lässt sich aus seinem analytischen Grundsatz, dass alles Handeln (im handlungstheoretischen Sinn eines absichtlichen Tuns) dem Unbefriedigtsein entspringt (Mises 1940: 30), der Satz ableiten, dass nur dort gehandelt wird, wo Knappheit herrscht (Mises 1940: 65). Dieser Knappheitssatz stellt aber spätestens seit Lionel Robbins eine geradezu definierende Grundlage der Ökonomie dar (Robbins 1935 [1932]: 16). Somit ist mit der Rückführung des Knappheitssatzes auf den Satz vom Unbefriedigtsein zum ersten Mal die Fundierung einer Sozialwissenschaft in der Handlungstheorie auch analytisch dargetan.2
4. W ARUM
WIR HANDELN
Die Frage, warum wir handeln, erhält vor dem Hintergrund der ausgebreiteten Überlegungen einen zweifachen Sinn: Warum wirtschaften wir? Warum tun wir überhaupt etwas (absichtlich)? Die Perspektive der analytischen Praxeologie ist mit diesem Spannungsfeld erst eröffnet, und wer auf kurze Antworten hofft, muss in
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Zur analytischen Rekonstruktion dieser Argumentation siehe Oliva Córdoba (im Erscheinen).
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diesem Rahmen notgedrungen enttäuscht zurückbleiben. Was aber deutlich geworden sein mag, ist, dass qualifizierte Antworten von einer handlungstheoretischen Perspektive profitieren können, indem sie etwa Elemente enthalten, die wir von dort her verstehen. Dies ist etwa der Fall, wenn wir uns zum Beispiel den Thesen nähern, dass wir handeln, weil die Welt uns nicht wunschlos glücklich macht und unser Unbefriedigtsein uns dazu nötigt, durch eigenes Tun Abhilfe zu schaffen, oder dass wir wirtschaften, weil die Kooperation mit anderen Akteuren uns weit mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnet, als wir auf uns selbst gestellt vorfänden. Der Rückgang auf die handlungstheoretische Perspektive mit ökonomischer Sensibilität schafft dabei eine verbindende Klammer und weist darauf hin, dass wir eben nicht unverbundene Bereiche haben, sondern dass wir sie praxeologisch von ihrem Zusammenhang her erschließen können. In diesem Sinne ist Praxeologie ein unvermindert fruchtbares Forschungsprogramm auch zu drängenden Fragen der Zeit – und gerade in analytischer Rekonstruktion ein aktuelles Desiderat.
L ITERATUR Butterwege, Christoph/Lösch, Bettina/Ptak, Ralf (2007): Kritik des Neoliberalismus. Wiesbaden. Davidson, Donald (1980 [1963]): Actions, Reasons and Causes. In: ders.: Essays on Actions and Events. Oxford, S. 3-19. Mises, Ludwig von (1933): Grundprobleme der Nationalökonomie. Jena. Mises, Ludwig von (1940): Nationalökonomie: Theorie des Handelns und Wirtschaftens. Genf. Mises, Ludwig von (1963 [1949]): Human Action. 4. Aufl. San Francisco. Oliva Córdoba, Michael (im Erscheinen): Uneasiness and Scarcity: An Analytic Approach Towards Ludwig von Mises’s Praxeology. In: Zuñiga y Postigo, Gloria (Hg.): Austrian Thought at the Turn of the 20th Century. Heusenstamm. Puster, Rolf W. (2012): Warum wir tauschen. In: Schweizer Monat 92, Sp. 56a-59c. Robbins, Lionel (1935 [1932]): An Essay on the Nature and Significance of Economic Science. 2. Aufl. London.
Hafenarbeit im Museum Verflechtungen von Kultur und Ökonomie am Beispiel Hafenmuseum Hamburg J ANINE S CHEMMER
»Die Straßen ›an der Küste‹ tragen unverkennbar das Gepräge der Hafenstadt. Ihre Firmenschilder und Schaufenster erzählen anschaulich, wie viele Handlungen, Gewerbe, Handwerke von Hafen und Schiffahrt leben. […] An der Küste geht auch dem Binnenländer auf, wie viele Menschen in Hamburg mit Hafen und Schiffahrt eng verbunden sind. Der Hafen ist Hamburgs Aufgabe und Schicksal.« (Böer 1956: 16)
In seiner Darstellung aus dem Jahr 1956 schwärmt Friedrich Böer von den zahlreichen und vielfältigen Gewerben, die sich entlang der Elbe aufreihten und mit der Hafenarbeit sowie den Werftbetrieben einhergingen.1 Mit der Ankunft des ersten Containerschiffs 1968, dem damit einhergehenden Wandel des Hafenumschlags sowie dem Schließen der Werften nahm nicht nur das Erscheinungsbild der Straßenzüge in und um den Hamburger Hafen eine andere Gestalt an, auch das gewerbliche Angebot und die Dienstleistungen dort änderten sich. So hat sich ein Teil des alten Hamburger Hafengeländes als Hafencity mittlerweile zusehends zu einem Erlebnisraum gewandelt, anstelle stadtnaher Werften hat sich dort beispielsweise das Theater im Hafen angesiedelt. Für diesen Erlebnisraum, der Besucher lockt, funktioniert der Arbeitsraum Hafen als Kulisse. In diversen Hafenstädten hat neben der technischen auch eine kulturelle Transformation Einzug gehalten, und ehemalige innerstädtische Industrie- und Arbeitsflächen wandelten sich in touristische Destinationen (vgl. Kirshenblatt-Gimblett
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Aufschlussreich an diesem Zitat ist zudem die Assoziation zu den Weltmeeren, die durch die Gleichsetzung der Elbe und der Küste geschaffen wird, und die zur Imagebildung Hamburgs als Hafenstadt beiträgt.
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1998) Mit der strukturellen Umbruchsituation ging außerdem die Historisierung der traditionellen Hafenarbeit einher. In Hamburg wurde letztere von städtischer Seite, Vereinen, der Gewerkschaft ÖTV sowie von ehemaligen Hafenarbeitern vorangebracht. So wurde beispielsweise 1977 ein erster Museumshafen in Övelgönne gegründet, und ehemalige Arbeitsschiffe wurden zu Museumsschiffen umgerüstet. Während die konkrete Hafenarbeit über die Jahrzehnte also immer weniger Beschäftigte zählte, öffneten im Hafengelände neue kulturelle Einrichtungen. So begann ich 2006 als studentische Mitarbeiterin im Hafenmuseum, das sich im Zuge dieser Veränderungen gründete. Der Ausstellungsbereich des städtischen Museums wird größtenteils von einer Gruppe Ehrenamtlicher bespielt, die zum Teil an der Gründung des Museums mitwirkten, Teil meines Interviewsamples sind und an späterer Stelle näher vorgestellt werden. In den Pausen unterhielt ich mich häufig mit meinen ehrenamtlichen Kollegen, von denen die meisten selbst einmal im Hafen gearbeitet hatten. Sie berichteten ausführlich von ihrem alten Arbeitsplatz, über den technischen, aber auch den räumlichen und kulturellen Transformationsprozess, der dort bis heute stattfindet und die Männer bereits während ihres Arbeitslebens begleitete. Des Öfteren tauschten sie sich untereinander zudem über die Stadtpolitik, die Entwicklungen in der Hamburger HafenCity sowie den Platz, den das Museum in diesem strukturellen Wandel einnimmt, aus. Von der städtischen Politik fühlten sich viele in ihrem Engagement nicht ausreichend unterstützt. Auch in den Hamburger Medien wurde die unzureichende finanzielle Situation einiger Hamburger Museen viel diskutiert (vgl. Gretzschel 2011). Die enge Verflechtung von Kultur und Ökonomie2 spiegelt sich also sowohl in der Öffnung des Hafengeländes vom Arbeits- zum Erlebnisraum als auch im Prozess der Musealisierung von Hafenarbeit auf vielfältige Weise wider. Den städtischen Umgang mit der strukturellen Transformation des Hafengeländes, den Entstehungsprozess des Hafenmuseums sowie dessen gegenwärtige Akteure stelle ich in diesem Artikel vor.3 Dafür nehme ich erstens den Hamburger Hafen als Marketinginstrument der städtischen Ökonomie in den Blick. Zweitens zeichne ich die Historisierung der Arbeitswelt Hafen nach, die ebenfalls als ökonomisches Instrument bezeichnet werden kann. Drittens schildere ich, inwiefern ökonomische Re-
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Ökonomie verstehe ich im Sinne einer finanziellen Wirtschaftlichkeit, also als gewinnbringende, profitorientierte Struktur.
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Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf meine Dissertation, in der ich den technischen Wandel in der narrativen Verarbeitung von Arbeitsbiographien untersuche. Insgesamt habe ich 23 berufsbiographische Interviews erhoben. Meine Interviewpartner haben zwischen 1950 und 1970 mit der Arbeit im Hafen begonnen, waren dort das gesamte Arbeitsleben hindurch beschäftigt, und haben die sektoralen Umbrüche im Hafen miterlebt.
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geln, die während der früheren Arbeit galten, teilweise die heutige ehrenamtliche Tätigkeit im Hafenmuseum durchwirken.
M ARKETINGINSTRUMENT H AFEN – F UNKTIONS - UND B EDEUTUNGSWANDEL DES H AFENGELÄNDES Das Selbstverständnis Hamburgs ist bis heute vom Hafen abhängig (vgl. Rodenberg 2008: 299). »Wirtschaftliche und emotionale Aspekte scheinen in dieser Stadt eng miteinander verwoben« (Kienitz 2010: 8), konstatiert Sabine Kienitz, und das lässt sich besonders am Beispiel des Hafens sowohl in der Stadtpolitik als auch in Repräsentationen der Interviewpartner feststellen. Der ökonomische Schwerpunkt der Hafenentwicklung lässt sich anhand zahlreicher Publikationen nachvollziehen (vgl. Witthöft 1977; Driesen 2010). Lars Amenda betont die »herausgehobene[n] Stellung des Hafens für die städtische Wirtschaft, Politik und Gesellschaft« (Amenda 2012: 462). Christoph Strupp stellt fest, dass »in den letzten 60 Jahren die finanzielle Unterstützung der Stadt für den Hafen […] kaum in Frage gestellt wurde[n].« (Strupp 2012: 140) Dies ist u.a. auf die personelle Verflechtung von Politik und Hafenwirtschaft sowie wirtschaftliche Interessen im Bereich des Tourismus zurückzuführen. Der Hamburger Hafen wurde längst als Marketinginstrument entdeckt und seit Beginn des 20. Jahrhunderts gewinnbringend in der Fremdenverkehrswerbung eingesetzt (vgl. Amenda/Grünen 2008: 69). So gewann aus ökonomischer Sicht der Erlebnisraum Hafen in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung (vgl. Kokot 2008: 11). Bereits im Mai 1968 ließ der damalige Wirtschaftssenator Helmuth Kern vor dem Werbefachverband verlauten: »Der Hafen als Werbesymbol steht zweifellos an erster Stelle.« (Kern 1968) Diese Feststellung findet sich auch heute in öffentlichen Statements des Hamburger Senats, wobei der Fokus nun nicht mehr allein auf dem Hafen liegt, sondern stets das Alleinstellungsmerkmal Hamburgs als Stadt am Wasser hervorgehoben und betont wird: »Zahlreiche neue Attraktionen, wie zum Beispiel das Internationale Maritime Museum, die BallinStadt, die Maritime Circle Line oder das Tropen-Aquarium Hagenbeck ziehen sowohl Tagesgäste als auch Touristen aus dem In- und Ausland an. […] Die Tourismuswirtschaft […] hat einen hohen Stellenwert in der Dienstleistungsmetropole Hamburg.« (Drucksache 19/3541 2009: 1)
Mit dem sogenannten »waterfront redevelopment« setzte in den 1970er Jahren die Kulturalisierung zahlreicher Häfen ein (vgl. Berking/Schwenk 2011: 35). In Hamburg wird beispielsweise der ehemalige Hafenbereich um die Speicherstadt mit der
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HafenCity als Erlebnisraum inszeniert, wobei die Strukturen des alten Hafens als Kulisse und »Milieugeber« (Hafencity GmbH 2012) dienen und dieser historische Blick zur Aufwertung des ehemaligen Hafengeländes beitragen soll. Bei all diesen Stadtentwicklungsmaßnahmen nimmt die Konstruktion des Images (vgl. Lindner 2008) häufig eine prominente Rolle ein, eine Tendenz, die in vielen Hafenstädten zu beobachten ist (vgl. Kokot 2008: 20). Anja Schwanhäußer bezeichnet die Hafencity-Universität beispielsweise als »Stadtentwicklungs-Tool. Der Hafenbezirk sollte durch die Ansiedlung von Institutionen wie Universität und Elbphilharmonie symbolisch, sozial und ökonomisch aufgewertet werden.« (Schwanhäußer 2010) Weite Teile des ehemaligen Hafengeländes dienen zudem als Veranstaltungsorte für Großereignisse, die in »maritimer Art oder im maritimen Umfeld wie zum Beispiel der HafenCity« (Drucksache 19/3541 2009: 10) stattfinden, wie etwa das Harbour-Front-Literaturfestival oder der Hafengeburtstag, der entlang der Landungsbrücken gefeiert wird. Dabei werden diese Veranstaltungen oftmals als kommerzielle Events inszeniert und unter dem Stichwort des Kulturtourismus gefasst. Die Stadt hat »Kulturwirtschaft als Standortfaktor« (Köstlin 2003: 13) über Jahrzehnte etabliert. Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel des Hafengeburtstags nachvollziehen. Die Ursprünge des Hafengeburtstags gehen mit der Erweiterung des Überseetages einher, der sich seit 1950 zunächst vorrangig an Vertreter aus Wirtschaftskreisen richtete. 1964 fanden in diesem Rahmen erstmals auch öffentliche Feierlichkeiten statt, die sich an die Bevölkerung und ein breites Publikum wandten. Seit dem Jahr 1977, in dem 800.000 Besucher gezählt wurden, entwickelte sich der Hafengeburtstag zu einem maritimen Großereignis (vgl. Strupp 2013). Die Schwerpunkte der Veranstaltung verlagerten sich über die Jahre mehr und mehr auf die Verpflegung und das Vergnügen der zahlreichen Besucher und damit auf die Imagebildung Hamburgs.
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Abbildung 1: Hafengeburtstag 07.05.1971, Gabelstapler am Rathausmarkt
Foto: H. Zoch, Museum der Arbeit Hamburg.
1989 waren für den 800. Hafengeburtstag zahlreiche Feierlichkeiten vorgesehen, und die Stadt sah die Zahl 800 ausdrücklich als »Vehikel, um den Fremdenverkehr zu steigern.« Diese Eventisierung rief auch kritische Stimmen hervor. DER SPIEGEL schrieb über die »touristische Superfete«: »[…] Es ist zu befürchten, daß die Fete eher eine Lachnummer als das angekündigte Jahrhundertereignis wird.« (N.N. 1989a: 248). Die Veranstaltung fand im Übrigen unter der Leitung der Wirtschaftsbehörde statt. Zudem ist zu beobachten, dass die Entwicklung der Eventisierung zeitgleich mit dem strukturellen Wandel der Hafenarbeit einherging und im Hafen somit sowohl ein Funktions- als auch ein Bedeutungswandel des Geländes stattfanden. Häußermann und Siebel beschreiben die »Politik der großen Ereignisse« (Häußermann/Siebel 1993: 8) als neuen stadtpolitischen Typus und konstatierten, dass bei dieser Art von Veranstaltungen, die häufig ökonomischen Zwecken sowie der Massenwirksamkeit dienen, lokale Besonderheiten in den Hintergrund treten (vgl. ebd.: 15). Ueli Gyr macht darüber hinaus deutlich, dass die Festivalisierung »nicht durchwegs und ausschließlich nur urbane Identitätsleistung« (Gyr 2005: 248) ist. Im Falle des Hafengeburtstags trifft diese Feststellung wohl zu einem großen Teil zu: Dieser spielt nicht nur für die politische Repräsentation und Anerkennung der Stadt, sondern auch für den Fremdenverkehr und die Imagebildung Hamburgs eine bedeutende Rolle. Im Übrigen schlossen sich auch ehemalige Hafenarbeiter im Kontext dieses Jubiläums erstmals in Seniorenvereinen zusammen und begannen,
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öffentlich an ihre traditionellen Berufe zu erinnern, wie beispielsweise bei den Ewerführertreffen, die seit 1989 durchgeführt wurden. Anlässlich des 800. Hafengeburtstages fanden jedoch nicht nur zahlreiche Feierlichkeiten statt. Das Denkmalschutzamt der Hansestadt Hamburg richtete in diesem Rahmen die Internationale Fachtagung zum Denkmalschutz aus. Die Bedeutung und Dringlichkeit, Hamburgs technische Kulturdenkmäler nicht nur durch Festlichkeiten zu würdigen, sondern auch instandzuhalten und zu bewahren, wurde dort mit Nachdruck betont und ausdrücklich als Forderung an die Politik der Stadt gerichtet. Denn neben einigen Hamburger Museen beschäftigten sich vor allem zahlreiche Vereine mit dem Erhalt der Industriekultur (vgl. Plagemann 1989: 64).
M USEALISIERUNG VON ARBEITSWELTEN – Z UR E NTSTEHUNGSGESCHICHTE DES H AFENMUSEUMS Industriemuseen öffneten seit den 1980er Jahren deutschlandweit ihre Türen. Sie machten es sich zur Aufgabe, die Geschichte der Arbeitsorte und -tätigkeiten zu bewahren, die durch den Strukturwandel seit den 1960er Jahren enormen Veränderungen unterzogen wurden (vgl. Kift 2011). Gleichzeitig wurden durch die Musealisierung ehemaliger Arbeitswelten neue Tourismusstandorte in diversen Regionen und Städten kreiert. In Hamburg gingen der Einrichtung zahlreicher Museumsprojekte, die mittlerweile zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt gehören, zum Teil jahrelange Debatten voran. Dies war auch beim Planungsprozess für das Hamburger Museum der Arbeit der Fall.4 1983 sollte ein entsprechendes Museumskonzept im Senat beschlossen werden, verzögerte sich jedoch. In einem Schreiben der Kulturbehörde von Februar 1985 wird das Museum der Arbeit »als Aufgabe für die Stadt« bezeichnet, denn: »Wie kaum eine andere Stadt wurde Hamburg durch seine spezifische Arbeitswelt und die Arbeiterbewegung geprägt. […] Aus ihrer Geschichte ist der Freien und Hansestadt Hamburg die Verpflichtung erwachsen, dieses Museum zu errichten.« (Kulturbehörde 1985: 3). »Wir fühlen uns absolut verschaukelt«, zitierte die TAZ 1986 die enttäuschten Initiatoren (Esrom 1986). Im selben Jahr wurde das Konzept schließlich vom Senat beschlossen. Auch im Umgang mit dem Museumsschiff Cap San Diego wurde das Verhalten der Politik von medialer Seite kritisch beurteilt. Der Stückgutfrachter wurde 1986
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Die Initiative zur Gründung des Museums geht auf den Verein Museum der Arbeit zurück, der sich im Jahr 1980 konstituierte. Ab 1982 konnte dieser erste Räume in der Maurienstraße in Hamburg-Barmbek anmieten, in denen Zeugnisse verschiedener Arbeitswelten gesammelt wurden.
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erworben. Zwei Jahre darauf berichtete DIE ZEIT von der »deprimierende[n] Politik« (Sack 1988: 19) des Senats, der die Cap San Diego als finanzielle Belastung statt als »kulturelle[n] Bereicherung« empfand, und stellte den beteiligten Parteien schließlich die Frage, ob es sich bei dem Schiff um »Museum – oder Schrott?« handele. Der Artikel verdeutlicht den zum Teil schwerfälligen Umgang der Hamburger Politik mit der Musealisierung seiner Industriedenkmäler. Wiederum zum 800. Hafengeburtstag stellte die Stadt die Cap San Diego schließlich als das »Kernstück der Abteilung Hafen« (Staatliche Pressestelle 1986: 9) des Museums der Arbeit vor. Schon während der Planungen für das Museum der Arbeit gehörten der Themenbereich Hafen und die dort verrichtete Arbeit zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Institution, und seit 1986 wurden diverse Hafenobjekte gesammelt. Da jedoch ein Ort fehlte, an dem diese zusammengeführt werden konnten, lagerten die Objekte viele Jahre an unterschiedlichen Plätzen. Schließlich wurde eine passende Räumlichkeit gefunden: Das Hafenmuseum zog in den 50er Schuppen am Hansahafen ein.5 Dabei handelt es sich um die letzten erhaltenen Kaischuppen aus dem Jahr 1912, die 2002 unter Denkmalschutz gestellt wurden. 2005 wurde schließlich die Außenstelle Hafenmuseum gemeinsam mit der Stiftung Hamburg Maritim eröffnet (vgl. Verein Hafenkultur e.V. 2009: 15 ff.). Im Hafenmuseum trafen diverse Akteure mit unterschiedlichen Interessen aufeinander. Eine der treibenden Kräfte war der ehemalige Gewerkschaftssekretär Ewald Rebe der ÖTV. Er setzte sich für das Museum der Arbeit sowie die Außenstelle Hafen ein, und wird in den Interviews mit ehemaligen Hafenarbeitern oft als Gründungsvater und Initiator des Hafenmuseums genannt. Rebe beschreibt in einem Gespräch, dass ihm sehr daran gelegen war, die ehemaligen Arbeitsorte und -umstände darzustellen. Allerdings war er enttäuscht von den politischen Vorgängen sowie den Differenzen in der Konzeption des Museums und schied früh aus dem Planungsteam aus. Für ihn nimmt bei der inhaltlichen Planung vor allem die konkrete ehemalige Arbeitssituation zu wenig Raum ein: »Die wollen einen Erlebnisbereich machen um Leute hinzukriegen und Geld zu verdienen.« (Rebe 2011) Er kritisiert an der städtischen Politik zum einen die ökonomisch motivierte Position, einen Erlebnisbereich für Touristen zu schaffen, an dem seiner Meinung nach die vormaligen Tätigkeiten nicht genug im Fokus stehen, und zum anderen die generell schleppende Entwicklung des Museums: »Der Hafen hat Hamburg groß gemacht, und wenn man an die Geschichte nicht denkt, wenn man nicht die Leistung der
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Mit dem Speicherstadtmuseum wurde eine zweite Außenstelle eingerichtet. Das Museum ging aus einer Ausstellung hervor, die das Museum der Arbeit entwickelte, und wird seit 1995 privat betrieben.
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Menschen in dem Hafen hier [anerkennt; J.S.], dann ist das also wirklich eine ganz schlechte Aussage.«6 (Ebd.) Die Hamburger CDU formulierte 1989 große Ziele und forderte ein Hafenmuseum, das neben dem Museumshafen in Neumühlen von 1977 eröffnet werden sollte: »Das neue Museum soll Hafengeschichte, Hafentechnik und die Zukunft des Hafens in Europa darstellen. Außerdem soll dort ein Forum für Hochschulen und Wirtschaft entstehen, das über Forschung und Produktion im Hafen informiert.« (N.N. 1989b: 5) Die Partei verfolgte das Projekt anschließend allerdings nicht weiter. Die inhaltliche Ausrichtung, Entwicklung und Zukunft des Hafenmuseums, das vor wenigen Jahren auch von der Schließung bedroht war, werden bis heute im Senat diskutiert. Einigkeit scheint jedoch bei der Bedeutung der Einrichtung zu herrschen, wie 2009 festgestellt wurde: »Eine gewichtige Rolle in der Hamburger Museumslandschaft kommt nach den Empfehlungen der Experten der Weiterentwicklung des Hafenmuseums zu. [...] Es wird empfohlen, dieses Kernthema Hamburger Museumsgeschichte mit hoher Priorität weiterzuverfolgen und auszubauen.« (Drucksache 19/5690 2010: 10)
D AS H AFENMUSEUM H AMBURG –
EINE
O RTSERKUNDUNG
Der Weg ins Hafenmuseum führt über das Gelände des ehemaligen Hamburger Freihafens. Der Hafenumschlag, also die vormals körperliche Be- und Entladung der Schiffe, hat sich allerdings räumlich größtenteils auf die Containerterminals am Rande des Hafengeländes und zunehmend auch in das Hamburger Hinterland verlagert, sodass dort kaum noch Personen im Arbeitseinsatz sind und das Gelände verlassen wirkt.7 Im Hansahafen mit dem Ensemble der drei 50er Schuppen ist das Schaudepot untergebracht (Schuppen 50), in dem sich die Sammlung mit zahlreichen Dokumenten und Objekten befindet. Die drei ausgestellten Themenbereiche beschäftigen sich mit Hafenumschlag, Revierschifffahrt und Schiffbau. Auf dem Freigelände des Mu-
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Die Namen der Interviewpartner sind anonymisiert, es werden Pseudonyme verwendet. Der sprachliche Ausdruck der Interviewpartner wird nicht geglättet, für den Lesefluss werden lediglich Füllwörter aus dem Transkript herausgenommen.
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Ein Grund für den Wegzug beziehungsweise die Ansiedelung vieler Unternehmen außerhalb des Freihafens ist, dass diese dort nicht mehr an den Hafentarif gebunden sind.
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seums stehen alte Kaikräne und Van-Carrier8, an der Pontonanlage liegen ein Schwimmdampfkran, ein Dampfsauger sowie eine Kastenschute. Im vorderen Teil des Schuppens stehen Fässer, Teekisten, Säcke, aber auch Arbeitsgeräte wie Waagen, Hebefahrzeuge, verschiedene Werkzeuge sowie Proben unterschiedlicher Getreide- und Kaffeesorten. Der vordere Museumsbereich ist vom hinteren Teil des Schuppens nur durch eine gefüllte Regalwand abgetrennt. In diesem hinteren Bereich ist noch heute ein Unternehmen angesiedelt. Die Nähe zum tatsächlichen Wirtschaftsraum ist demnach auch räumlich vorhanden und spürbar. Häufig werden die Waren dort mit Gabelstaplern bewegt, die die Geräuschkulisse zum Museumsbesuch liefern. Werden Gewürzkisten verladen, so strömt deren Duft durch den Schuppen. Diese sinnlichen Eindrücke wirken auf die Atmosphäre ein, und der Museumsbesucher bewegt sich auf einem Gelände, das die frühere Geschäftigkeit und Warenvielfalt erahnen lässt. An der Kaianlage und dem Hafenbecken im Außenbereich verdichten sich diese Eindrücke durch die dort aufgestellten alten Kaikräne und das Museumsschiff MS Bleichen, die die ehemaligen Arbeitsorte und -schritte nachvollziehen lassen. Das räumliche Erleben der Besucher und die »Qualität der Umgebung« (Kreul 2006: 11) wird an diesem Ort durch mehrere Faktoren beeinflusst: durch die gefühlte Distanz zur Hamburger Innenstadt, die von den musealen Außenanlagen über die Elbe hinweg zu sehen ist; durch das räumliche Erfahren des Geländes sowie des ehemaligen Arbeitsgebäudes; durch die Ausgestaltung des Schuppens und die dort zu betrachtenden Ausstellungsstücke. Die Materialität des Ortes (vgl. Hengartner 2005) ist von großer Bedeutung für die dort tätigen Akteure sowie die Besucher des Museums. Der Schuppen 50 fasziniert schon allein aufgrund seiner Größe. Über den gesamten Museumsbereich verteilt sind lange, hohe Regalreihen aufgestellt. Die darin gestapelten und davor aufgestellten Objekte veranschaulichen den früheren Arbeitsalltag. Dabei lassen sich auch die technischen Veränderungen begreifen und die Entwicklung von der Sackkarre hin zum Container nachvollziehen. Über Jahrzehnte hinweg wurde mit Hafenarbeit Schmutz, Lärm und vor allem Knochenarbeit assoziiert. Das historisch gewachsene, tradierte und häufig stereotypisierte Bild des Hafenarbeiters verbreitete sich auch in vielen Zeitungsberichten, bis es schließlich in den 1980er Jahren vom Bild des qualifizierten, mit Technik hantierenden Arbeiters abgelöst wurde. Das ermöglicht den Akteuren im Museum sowie meinen Interviewpartnern eine positive Bezugnahme, und wurde in vielen Interviews angesprochen. Heute dient das Bild des Hafenarbeiters, ähnlich dem des Seemanns (vgl. Heimerdinger 2005), als Projektionsfläche – einerseits für außen stehende Betrachter und Berichterstatter, andererseits jedoch auch für die ehemali-
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Dabei handelt es sich um Portalhubwagen, die vor den Containerbrücken zum Transport der Container eingesetzt wurden.
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gen Hafenarbeiter, die sich selbstbewusst in der historischen Arbeiterschaft positionieren. Daraus resultiert unter anderem die öffentliche Darstellung im Hafenmuseum. Bei den Akteuren vor Ort handelt es sich, neben wenigen Angestellten, der Museumsleitung und Ehrenamtlichen aus unterschiedlichen beruflichen Richtungen, um die Gruppe der sogenannten Hafensenioren, die sich überwiegend aus ehemaligen Hafenarbeitern, Gewerkschaftern, Angestellten und Führungspersonal verschiedener Hafenbetriebe zusammensetzt. Anhand historischer Bilder, Arbeitsgeräte und Dokumente schildern sie den Besuchern täglich ihren ehemaligen Arbeitsplatz und ihre Berufe, wobei sie in den Ausführungen auch die Brücke zur heutigen Arbeitsorganisation schlagen. Sie sind dort zum Teil seit der Eröffnung ehrenamtlich tätig und vermitteln den Besuchern als Experten, die den Wandel als Fachkräfte selbst erfahren haben und zum Teil maßgeblich daran beteiligt waren (vgl. Jannelli 2012: 281), ihre früheren beruflichen Tätigkeiten.
H AFENMUSEUM
ALS
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DER
R EPRÄSENTATION
Für viele meiner Interviewpartner ist das Hafenmuseum ein wichtiger Teil ihrer Selbstverortung und ein Bezugspunkt, an dem sie Anerkennung erfahren.9 Die Anzahl derer, die heute über den Hafen berichten und Touristen sowie Interessierte über das Hafengelände führen, ist in den vergangenen Jahren rapide angestiegen. Die Aneignung des Hafenraumes geschieht also durch diverse Protagonisten: von Stadtmarketing und Wissenschaftlern über Künstler bis hin zu selbsternannten Stadtführern. Als am Wandel beteiligte Akteure ist es ihnen wichtig, in diesem Prozess ebenfalls eine Stimme zu haben. Gleichzeitig werden sie dadurch wiederum Teil des Kulturtourismus im Hafen. Thomas Hengartner verweist darauf, dass Städte »der Aushandlung von Differenz wie der von Existenz« dienen. (Hengartner 2005: 78). Dies lässt sich auch am ehemaligen Arbeitsort Hafen verfolgen. In den Erzählungen der Hafensenioren werden diese Praktiken thematisiert. Dabei nehmen der Ort, das Wissen über diesen und zudem über die dort ausgeführten Arbeitsschritte Raum ein. Walter Widmann war als Ausbilder tätig und kam durch einen früheren Kollegen ins Hafenmuseum. Seit über zehn Jahren engagiert er sich dort, führt Besucher und Einheimische über das Gelände. Im Interview hebt er seine verschiedenen beruflichen Stationen hervor, die ihm für eine umfangreiche Kenntnis und damit eine gute Vermittlung zugute kommen:
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Als fachliche Experten sind viele bei diversen Seniorenvereinen der Gewerkschaften, aber auch in den ehemaligen Betrieben aktiv. Oftmals stehen sie noch in Kontakt mit den Betriebsräten und unterstützen deren Arbeit auf aktive Weise.
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»Und das Gute daran ist, dass ich mit den Sachen, die hier liegen, alle wie sie da sind, ja noch selbst gearbeitet hab. Und Paul ja auch. Der ist ja auch im Schacht (im Laderaum des Schiffes; J.S.) angefangen. Der hat mit all den Sachen, die hier noch liegen, gearbeitet. Für mich’n Vorteil, dass ich noch zehn Jahre Seefahrt hab, und dass ich, äh, hier auf’m Schuppen angefangen hab zu arbeiten. Daher kenn ich den ganzen Kram. So nun bin ich hier gelandet und ja. Wahrscheinlich so wie unsere andern Kollegen, die irgendwann nicht mehr können oder warum auch immer. (…) Guck dir den andern, der auf’m Schwimmkran war, der jetzt gestorben ist. Irgendwann geht’s nicht mehr, und dann ist man wohl auch froh, wenn man zu Haus ist, aber so lange geh ich mal von aus, bleib ich hier, ne. Wenn nicht geschlossen wird.« (Widmann 2010)
Das selbst Erlebte, die eigene Erfahrung hervorzuheben, ist ein typisches Merkmal vieler Interviews. Außerdem verweist Widmann auch auf die große Bedeutung, die das Museum für ihn persönlich hat, da er auf diese Betätigung nicht verzichten möchte. So sind viele Ehrenamtliche auch anderweitig organisiert. Widmann etwa ist zudem in der Seniorengruppe seines ehemaligen Betriebes engagiert. Den Tatsachen, unterschiedliche Berufe und Strukturen im Hafen und der Seefahrt zu kennen, über einen langen Zeitraum dort tätig gewesen zu sein und diesen Arbeitsalltag in all seinen Facetten selbst erfahren zu haben, wird in allen Äußerungen Wert beigemessen. Dieses Wissen wird auch als Legitimation für die ehrenamtliche Tätigkeit angeführt: »Deshalb möchte ich ja hier mitmachen. Ich kann auch noch Verschiedenen, äh, sagen, wie damit gearbeitet wurde, und, und, was das für eine Bewandtnis hat. Ne. Und wenn ich da heute sag, ›kennst du einen Pansenkarren?‹ wissen viele gar nicht, was das ist.« (Meier 2010)
Durch diese Selbstvergewisserung und die Weitergabe des erworbenen Spezialwissens finden die Männer im Ruhestand weiterhin als Experten für die Arbeit im Hafen Bestätigung und können ihr Wissen praktisch nutzen und den Besuchern vermitteln. Diese Kenntnisse umfassen dabei nicht nur technische Details. Vielfach werden auch Anekdoten preisgegeben: »Ja, und denn bin ich jetzt hier im Hafenmuseum, und bin hier, und erzähl den Leuten alles, von meinen Erfahrungen. Auch viele lustige Sachen, die ich im Leben, die ich im Hafen erlebt hab. Kann ich stundenlang über lustige Sachen erzählen. Was wir alles so erlebt haben.« (Brandes 2010)
Die eigenen Erfahrungen und das praktisch erworbene Arbeitswissen (vgl. Hörning 2004) hebt auch Brandes hervor, und wie seine Kollegen unterstreicht auch er damit die Authentizität des Erlebten.
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Paul Wonner, den ich kurz vor seiner Pensionierung interviewte, versicherte mir, dass das Museum auch unter noch im Hafen tätigen Kollegen bekannt sei: »Also wir als Hafenarbeiter kennen das Hafenmuseum. Weil wir auch wissen, dass dort unsere alten Sachen ausgestellt werden, mit denen wir gearbeitet haben. Und das geben wir auch weiter. Und ansonsten ist das ’ne wichtige Institution. […] Und wenn ich die Leute seh’, die das vorführen, mit Herz und Seele, an den Winschen oder wo auch immer, das muss bleiben, das muss sich sogar noch weiter entwickeln.« (Wonner 2010)
Auch Wonner begleitet Hafenrundfahrten für Gewerkschaftskollegen und erklärte im Interview durchaus Interesse an einer weiteren ehrenamtlichen Tätigkeit. Er weist aber auch auf die Nachwuchsprobleme hin, da sich viele jüngere Kollegen, die einen anderen Arbeitsalltag erfahren haben, nicht mehr mit den Ausstellungsstücken identifizieren und oftmals an einer Mitarbeit nur geringes Interesse haben (vgl. Overdick 2010). Im Museum präsentieren die ehemaligen Arbeiter in erster Linie ihre eigene Arbeitsgeschichte sowie ihren biographischen Aufstieg vom einfachen Arbeiter zum Fachmann, der sich auch anhand der Ausstellungsstücke nachvollziehen lässt. Die Führungen setzen sich aus subjektiven Anekdoten und technisch-historischen Beschreibungen zusammen, wobei die Ausstellung selbst überwiegend aus technischem Gerät besteht, den Wandel von früher angesehenen Traditionsberufen hin zu den technischen Berufen veranschaulicht, und die Akteure selbst dort kaum in den Blick geraten. Angela Jannelli bezeichnet das Amateurmuseum als »symbolischen Handlungsraum« (Jannelli 2012: 357) für die dort tätigen Akteure. Diese Beschreibung als Amateurmuseum trifft zum Teil auch auf das Hafenmuseum zu, da die Ehrenamtlichen durchaus Einfluss auf die Gestaltung und vor allem die Sammlung der Ausstellung nehmen. Das Museum ist zudem durchaus auf seine Ehrenamtlichen angewiesen. Im Abendblatt wurde die Situation des Museums mit seiner »äußerst kargen personellen und finanziellen Ausstattung« (Gretzschel 2012) beschrieben und die Bedeutung der ehrenamtlichen Helfer hervorgehoben. Der ehemalige Leiter des Museums, Achim Quaas, betont: »Diese Ehrenamtlichen tragen das Museum auch mit. Sie sind nicht nur Beiwerk, sondern sind Initiatoren und inhaltliche Träger.« (Quaas 2010) Die Deutungshoheit wird dort nicht in dem Maße an Kuratoren und Ausstellungsmacher abgegeben, wie dies in anderen Museen oftmals üblich ist (vgl. Moser/Graf 1997: 255). Inhaltliche Darstellungen werden von und auch unter den Ehrenamtlichen mitgestaltet und ausgehandelt, was mitunter zu Interessenkonflikten führt. Unter den Besuchern finden sich auch häufig ehemalige Hafenarbeiter, die noch einmal einen Blick auf ihren früheren Einsatzort werfen möchten. So findet an diesem ehemaligen Arbeitsort ein reger Austausch von Erfahrungen statt. Das Museum
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ist ein Ort der Interaktion für ehemalige Hafenarbeiter, an dem ein Teil der ehemaligen Arbeitsgemeinschaft als Erinnerungsgemeinschaft aufeinander trifft. Aufgrund der relativ homogenen Zusammensetzung der Gruppe – die Ehrenamtlichen sind fast ausschließlich qualifizierte und deutsche Arbeiter – ist die Sammlungspraxis durchaus subjektiv (vgl. Welz 1996: 74). So wurden beispielsweise migrantische Stimmen und Blickweisen bislang nicht in die Ausstellung integriert (vgl. Schemmer 2013).
B EGEGNUNGS - UND A USHANDLUNGSPROZESSE – H AFENARBEITER ALS E RZÄHLER Das Museum ist nicht nur nach außen ein repräsentativer Ort. Dort werden auch der ehemals beruflich ausgetragene Wettbewerb und gewachsene Konkurrenzen zwischen ehemaligen Kollegen weitergeführt. In den Erzählungen kommen auch die unterschiedlichen Hierarchien der ehemaligen Berufe der Ehrenamtlichen zum Ausdruck. Die früheren Strukturen wirken sich generell auf die Selbstkonzeptionen meiner Interviewpartner aus. Der Strukturwandel brachte einerseits den beruflichen, finanziellen und sozialen Aufstieg für viele mit sich. Andererseits führte die Technisierung zu Arbeitsplatzverlusten und einem Bruch der tradierten Gewohnheiten und Arbeitsabläufe. Dabei sind, wie bereits erwähnt, praktisch erworbenes Arbeitswissen und Erfahrung sowie Erfindungsgabe zentrale Merkmale in den Erzählungen über die traditionelle Arbeit, werden aber auch als bedeutsam für den Umgang mit technischen Geräten beschrieben. Viele Darstellungen sind vor allem durch persönliche Erfolge geprägt, implizit sind darin zum Teil auch Schilderungen des Scheiterns enthalten. Insgesamt lassen sich wahrgenommene und beschriebene Verluste durch den technischen Wandel weniger auf einer ökonomischen als vielmehr auf emotionaler und persönlicher Ebene ausmachen (vgl. Jeggle 2004). Das kompetitive Moment der früheren Arbeitswelt wird in vielen berufsbiographischen Erzählungen und den Handlungspraktiken im Museum deutlich, denn »Wettbewerbslogiken sind […] in die Selbstdeutungen von Subjekten eingelagert.« (Tauschek 2013: 12). Die Männer verhandeln im Museum ihre eigene Vergangenheit, aber auch ihre Hierarchien untereinander. Neben dem Beruf und den jeweiligen Tätigkeiten ist das Selbstverständnis der Arbeiter vor allem durch die Betriebszugehörigkeit geprägt, wobei berufliche und betriebliche Hierarchien den individuellen Status festigen. Einen persönlichen Erfolg bezüglich einer Firmenübernahme beschreibt beispielsweise der ehemalige Prokurist Anton Ermer, der sich noch heute in der überlegenen Position gegenüber dem ehemaligen Betriebsrat darstellt: »[…] die sind ja damals pleite gegangen, obwohl Herr A. das nicht wahrhaben will […] wir hatten das Sagen, wir waren die Manager.« (Ermer 2010) Der hierarchische
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Blick von oben bestätigt ihn noch heute in seiner Entscheidung einer Firmenübernahme. Mit dem ehemaligen Betriebsrat, den er erwähnt und der wie Ermer im Museum engagiert ist, debattiert er noch heute über Erfolge und Fehler vergangener Geschäftsabwicklungen. Im Berufsleben standen sich die Ehrenamtlichen oftmals als Konkurrenten gegenüber. Auch wenn sie heute für das Museum kooperieren, so sind in ihren Darstellungen dennoch Konkurrenzen um die Deutungshoheit zu erkennen, die vor allem zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen auftreten. Die früheren Tätigkeiten sowie die Repräsentation im Museum machen für die Akteure im Hafenmuseum einen wichtigen Teil des Selbstverständnisses aus.10 Den Wandel der Hafenarbeit verhandeln einige Interviewte bereits seit mehreren Jahren als bewussten Teil der eigenen Lebensgeschichte. Sie sind professionalisierte Interviewpartner und Erzähler, die den Diskurs im Museum und auch die Repräsentation nach außen prägen und wissen, »was von ihnen im Feld ›erwartet‹« (Lindner 2001: 16) wird. Dabei tragen sie somit auch aktiv zur Imagebildung über den Hafen bei. Dieses Selbstbewusstsein zeigt sich auch in der nachfolgenden Äußerung, in der Erzählkompetenzen ausgehandelt werden. Brandes, der als Tallymann in der Ladungskontrolle tätig war, urteilt über die Erzählungen ehemaliger Kollegen: »Viele denken, viele wollen auch gar nicht erzählen, ne. Von den Alten. […] Oder die erzählen das immer so einseitig. Ich hör mir das ja oft an, so, wenn die gerne so, was ich, wie kann man nur so einseitig sein, was die mir so erzählen, dann, ne.« (Brandes 2010)
Hier kommen sowohl Konkurrenzen als auch wiederholt die Deutungshoheit zum Ausdruck, indem Brandes seine Erzählkompetenzen über die anderer Kollegen stellt. Im Museum sowie in den Interviews werden häufig die Entwicklungen derzeitiger politischer, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklungen besprochen und diskutiert. Die aktuellen Interessensgebiete, Standpunkte und Intentionen der Männer werden dabei deutlich. Das Hafenmuseum ist daher weit mehr als ein nostalgischer Erinnerungsort, an dem die Akteure gemeinsam in der Vergangenheit schwelgen. Zum einen ist das Interesse daran auf das oben bereits genannte Bewusstsein für die Bedeutung der eigenen Geschichte zurückzuführen. Zum anderen ist auch die Entwicklung des aktuellen Hafengeschehens allen ein Anliegen. Mit dem Engagement im Museum verfestigen sie ihre Eindrücke, Erfahrungen und Traditionen, geben diese weiter und setzen sich gleichzeitig mit dem technischen Fortschritt auseinander. Dabei offenbart sich häufig eine widersprüchliche Haltung gegenüber dem
10 Viele deutsche ehemalige Hafenarbeiter sind an ein gewisses mediales Interesse gewöhnt und lassen einen beinahe professionellen Umgang damit erkennen. Diese Entwicklung reflektiere ich in meiner Dissertation ausführlich.
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technischen Wandel, die auch in vielen Interviews evident ist. Zurückführen lassen sich diese ambivalenten Selbstbilder und Haltungen auf den Konflikt zwischen individuellen und kollektiven Interessen: Während auf der einen Seite beispielsweise ein persönlicher Verlust ideeller oder finanzieller Art steht, ist auf der anderen Seite der Erhalt der Wirtschaftlichkeit des Hafens zentral. Die Technik zerstört zwar Arbeitsplätze, verdrängt traditionelle Praktiken und ruft Unsicherheit bei den Männern hervor, ist auf der anderen Seite aber notwendig, damit die Konkurrenzfähigkeit und somit der Arbeitsplatz Hafen bestehen bleibt. Der konkrete Bezug zu ökonomischen Entwicklungen und Entscheidungen wird in einigen Erzählungen hergestellt. Oftmals wird dabei ein Konsens mit der aktuellen Hafenpolitik ausgedrückt. So argumentiert etwa Wonner, dass die Lautstärke zum Arbeitsplatz Hafen gehört, viele Anwohner diese Tatsache aber nicht akzeptieren. »Das will ich auch immer deutlich machen. Dass also die Hafenarbeit nicht irgendwas ist, was irgendwie zu laut ist oder so, weil, Övelgönne beschwert sich, weil, weil der Containerdeckel mal zu, zu lange knallt oder Tollerort, äh, die sind sechs-, 76 Dezibel sind die VanCarrier laut, aber für die ist das zu laut nachts, wenn der Wind ’n bisschen anders- […] der Hafen, Europas zweiter, dritter größter Hafen, äh, ist, das ist für die nicht wichtig, ne. Hauptsache ruhig wohnen. Ich seh das anders. Für mich ist der Hafen die Wirtschaft, die Mühle und mein Ernährer.« (Wonner 2010)
So wird in vielen Darstellungen auch die zukünftige Entwicklung und Stellung des Hafens verhandelt. Dabei werden oft auch die Brücke zur Stadtpolitik geschlagen und Themen wie die Elbvertiefung besprochen. Dass die Grenzen zwischen Ökonomie und Kultur auch im Hafenmuseum fließend sind, zeigt sich außerdem an den noch immer bestehenden Verbindungen der Hafenarbeiter zu ihren ehemaligen Unternehmen. Bei den Hafenfirmen ist das Museum mittlerweile bekannt. Dem Museum kommen diese Kontakte zugute. Alte Container oder Arbeitsgeräte, die im täglichen Betrieb nicht mehr gebraucht werden, überlassen die Firmen dem Museum – wenn diese nicht auf dem Firmengelände selbst ausgestellt werden, was wiederum darauf verweist, dass das Bewusstsein für die eigene Geschichtlichkeit auch in den Hafenbetrieben vorhanden ist. Viele Ehrenamtliche stehen in engem Kontakt zu ihren ehemaligen Betrieben und kümmern sich darum, dass ausrangierte Objekte an das Museum übergegeben werden. Sie zeigen ein hohes Engagement für den Erhalt dieser Infrastruktur, indem sie sich im täglichen Museumsbetrieb, bei der Konzeption der Ausstellung sowie der Beschaffung neuer Ausstellungsstücke einsetzen.
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L OKALE R EPRÄSENTATIONEN –
EIN VORLÄUFIGES
F AZIT
Trotz globaler Entwicklungen wie der Containerisierung veränderten sich die Häfen weltweit nicht auf homogene Weise. Die Wandlungen wurden vielmehr durch lokale Organisationsformen und -strukturen beeinflusst (vgl. Dubbeld 2003: 118). Das wird im Vergleich zu anderen Hafenstädten wie Liverpool oder Marseille deutlich, wo verschiedene ökonomische und politische Entwicklungsprozesse auch andersartige Formen der Erinnerung hervorbrachten (vgl. Mah 2011: 158 ff.). Diese unterschiedlichen lokalen Auswirkungen und Effekte drücken sich nicht nur in der Gestalt der jeweiligen Hafenstadt aus (vgl. Berking/Schwenk 2011). Sie sind auch in den Handlungen und Erzählungen der Hafenarbeiter zu finden, die individuell auf die Herausforderungen reagierten. Das Museum der Arbeit hat mit dem Hafenmuseum eine Außenstelle geschaffen, in der die fast verschwundene Arbeitswelt erfahrbar und erhalten werden soll. Das Hafenmuseum stellt für die Gruppe der Ehrenamtlichen einen Ort »von hoher sozialer Relevanz« (Jannelli 2012: 323) dar, und das in der Repräsentation nach außen sowie bezüglich der Interaktionen der Akteure. Als selbstbewusste Erzähler verhandeln die Hafenarbeiter dort ihre berufliche Vergangenheit und geben ihre Kompetenzen an die Besucher weiter. Der Ort bildet gewissermaßen einen Kristallisationspunkt, an dem der Wandel der Hafenarbeit sowie aktuelle Tendenzen verhandelt werden. Ihnen allen ist als Experten und früheren Fachkräften zudem daran gelegen, auch bei der zukünftigen Gestaltung der Ausstellung mitwirken und mitentscheiden zu können. Anlass zu weiteren Diskussionen innerhalb der Gruppe der Ehrenamtlichen gab daher der Masterplan des Architekturbüros Studio Heller, der vom Hamburger Senat finanziert wurde und seit Herbst 2010 vorliegt. Dabei wurde die Deutungshoheit an außenstehende Experten verlagert, die Stimmen der Ehrenamtlichen wurden aber auch berücksichtigt. Auch die Stadt Hamburg forciert also die Weiterentwicklung des Museums auf konzeptioneller Seite, setzte das Projekt jedoch aus finanziellen Gründen bislang nicht um. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Fäden der ehemaligen Arbeitswelt sowie des Erlebnisraumes Hafen im Hafenmuseum zusammenlaufen. Das Spannungsverhältnis zwischen Authentizität und Erlebnis spielt im weiteren Verlauf der Planungen für eine Neuausrichtung des Museums eine bedeutende Rolle. Dabei werden bestehende Blickrichtungen, Positionen und Handlungsspielräume aktuell neu ausgelotet. Für diese Neuausrichtung spielen – bislang noch ungeklärte – ökonomische Bedingungen wiederum eine bedeutende Rolle. Diese bestimmen maßgeblich die Ausgestaltung der Ausstellung sowie der musealen Organisations- und Infrastruktur.
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Standards und die Herstellung des Ökonomischen Am Beispiel geschützter Herkunftsangaben für regionale Lebensmittelprodukte G ISELA W ELZ
Mit der Entwicklung von globalen Wertschöpfungsketten entstehen neue Kontrollprobleme und Steuerungsanforderungen, die durch die Einführung von Produktstandards bewältigt werden. Der folgende Beitrag befasst sich mit regional erzeugten Lebensmitteln, deren eindeutig definierte und räumlich beschränkte geographische Herkunft durch Standards beschrieben, gesichert und kommuniziert wird. Diese Standards machen überprüfbar, dass alle Produktionsschritte, verwendeten Zutaten und beteiligten Akteure territorial eingehegt sind. Grundlage der In-Wert-Setzung ist hier also die Zusicherung, dass es sich um Produkte handelt, die eben nicht in globalen Wertschöpfungsketten entstanden sind. Am Beispiel der von der Europäischen Kommission zertifizierten Geographical Indications für Lebensmittel wird diskutiert, welche für die Neuausrichtung der Ökonomischen Anthropologie interessanten Aspekte dieser Gegenstandsbereich birgt.
W IE
WIRD » DAS Ö KONOMISCHE « KULTURELL HERGESTELLT ? Der amerikanische Kulturanthropologe und Europaforscher Michael Herzfeld plädiert seit längerem dafür, dass die Kulturanthropologie ihre Ignoranz gegenüber ökonomischen Phänomenen in modernen Gesellschaften überwindet:
176 | GISELA W ELZ »In ignoring modern economic systems, traditional anthropological studies have reinforced the belief that culture is relevant to the study of economics only in exotic societies; in the West, economic institutions are merely economic.« (Herzfeld 2001: 97)
Herzfeld fordert, dass die Kulturgebundenheit aller Wirtschaftssysteme – nicht nur derjenigen exotischer Gesellschaften – anerkannt wird. Ein Verständnis, das die Wirtschaft als über den kulturellen Unterschieden zwischen und in Gesellschaften stehend begreift, sei selbst spezifisch für eine Kultur, nämlich für die der spätindustriellen westlichen Gesellschaften, die die Wirtschaftswissenschaft als ihre gesellschaftserklärende Leitdisziplin akzeptiert haben. Die westlich dominierten Wirtschaftswissenschaften hätten es freilich verstanden, ihre Kulturspezifik in einem Normalisierungsdiskurs zu verschleiern. Die ethnologischen Wissenschaften, also die internationale Kultur- und Sozialanthropologie und in Deutschland die Europäische Ethnologie, Volkskunde und ihre Nachfolgefächer sowie die Völkerkunde und Ethnologie, fühlten sich seit ihrer Entstehung vor allem zuständig für »das Andere« der westlichen Wirtschaftsordnung, also für jene Praktiken und Vorstellungen, die sich nicht unter den Wirtschafts- und Wirtschaftlichkeitserwägungen von Ökonomen subsumieren lassen, seien es exotische Arten des Wirtschaftens, wie in der Ethnologie, oder vormoderne oder subkulturelle Wirtschaftsweisen, wie in der Volkskunde. Die frühen Reisenden und Forscher waren zugleich irritiert und fasziniert von irrationalen oder unsinnig erscheinenden Praktiken in traditionalen Gesellschaften, wie den Verschwendungsorgien des Potlatch, bei denen wertvolle Güter rituell zerstört wurden, oder Transaktionen, in denen aus europäischer Sicht oder in moderner Perspektive wertlose Dinge wie Muscheln oder Steine gegen Produkte mit hohem Gebrauchswert wie Nutztiere oder landwirtschaftliche Produkte getauscht wurden. Es war das Verdienst der funktionalistischen Sozialanthropologie Bronislav Malinowskis und der ethnologisch fundierten Sozialtheorie von Marcel Mauss (vgl. Seiser 2009), die vermeintliche »Irrationalität« dieser Praktiken zu widerlegen und stattdessen zu zeigen, dass sich in solchen und anderen Praktiken Sinnstiftung und Formen der Reziprozität manifestieren, die soziale Bindungen herstellen. Herzfeld wandte sich demgegenüber dagegen, die Kulturanthropologie darauf festzulegen, nur für jene Formen ökonomischen Handelns zuständig zu sein, die im strengen Sinne wissenschaftlicher Ökonomik nicht als ökonomisch gelten. Stattdessen sollten alle Formen des Ökonomischen legitimer Gegenstand der Kulturanthropologie sein. In seinem 2001 erschienenen Buch Anthropology. Theoretical Practice in Culture and Society formulierte er einige Leitfragen, deren Beantwortung der Ökonomischen Anthropologie ihre im eigentlichen Sinne des Wortes anthropologische Definitionsmacht zurückzugeben vermögen. Eine dieser Fragen lautet: »How do cultures produce values that make things economic?« Wie werden Dinge zu Waren, wie werden Produkte zu handelbaren Gütern gemacht, auf der Grundlage
S TANDARDS UND
DIE
H ERSTELLUNG
DES
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welcher kulturellen Vorstellungen ist dies möglich? Wie wird »das Ökonomische« – als Attribut von Sachen, als Sphäre des sozialen Handelns, als kulturelle Ordnung – sozial konstruiert? Herzfeld stellt heraus, dass eine wichtige Pionierarbeit in der Kulturanthropologie zu diesen Fragen bereits Mitte der 1980er Jahre geleistet wurde, nämlich in dem von Arjun Appadurai herausgegebenen Sammelband The Social Life of Things (Appadurai 1986). Appadurai, der uns heute eher als Globalisierungstheoretiker und Kulturkritiker bekannt ist, begreift in diesem Buch die Ware (commodity) als eine komplexe soziale Form, deren Herstellung durch symbolische Operationen, soziale Praktiken und Institutionen von den Mitautoren des Sammelbandes in verschiedensten Gesellschaften und historischen Epochen nachgezeichnet wird. Commodities sind als kulturelle Phänomene dabei keineswegs auf Gesellschaften mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung oder auf die Moderne insgesamt beschränkt. Der den Ansatz der Dingbiographie entwickelnde Afrikanist Igor Kopytoff, der einen der zentralen Beiträge dieses Bandes beisteuerte, schrieb: »For the economist, commodities simply are. That is, certain things and rights to things are produced, exist, and can be seen to circulate through the economic system as they are being exchanged for other things, usually in exchange for money. [...] From a cultural perspective, the production of commodities is also a cultural and cognitive process: commodities must be not only produced materially as things, but also culturally marked as being a certain kind of thing.« (Kopytoff 1986: 64)
Besonders interessant findet Kopytoff die im diachronen und im synchronen Vergleich aufscheinenden großen Differenzen zwischen Gesellschaften hinsichtlich ihrer Bereitschaft, nicht nur physische Objekte, sondern Teile der natürlichen Umwelt oder Lebewesen, tot oder lebendig, als Konsumgüter zu konzeptualisieren und zu behandeln: »Out of the total range of things available in a society, only some of them are considered appropriate for marking as commodities. Moreover, the same thing may be treated as a commodity at one time and not at another.« (Kopytoff 1986: 64) Kopytoff und Appadurai beschreiben also die sozialen Konstruktionsprozesse und kulturellen Zuschreibungen, die eine In-Wert-Setzung als Konsumartikel ermöglichen und die Einpreisung für kommerzielle Transaktionen ermöglichen. Artikel wandern aus der Sphäre der Handelbarkeit in die des singulären und singularisierenden Konsums durch den Käufer und mögen später wieder in neue Zirkulationsschleifen eingespeist oder aber dauerhaft dem Zyklus entzogen bleiben. Die Operationen, um die es geht, sind wissensbasiert, kulturell kodiert und an kulturspezifische regimes of value, an Wertordnungen, gebunden. Sie funktionieren kognitiv und symbolisch, lassen sich in Diskursen, Narrativen, Imaginationen kulturanalytisch dingfest machen. Die Antwort auf die Frage »how do cultures produce values that make things economic« verweist bei Appadurai und Kopytoff primär
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auf symbolische Prozesse. Die Materialität der gehandelten Güter war für Appadurai und Kopytoff demgegenüber weniger von Interesse, genauso wenig wie die Rolle von Technologien und Infrastrukturen. Beides wird jedoch heute von der Wirtschaftsanthropologie mit wachsender Aufmerksamkeit betrachtet.
R ÄUMLICH VERTEILTE P RODUKTIONSNETZWERKE : N EUE R AHMENBEDINGUNGEN DURCH G LOBALISIERUNG Die Autoren des Bandes The social life of things hatten zwar Anfang der 1980er Jahre auch moderne massenproduzierte Industriegüter im Blick gehabt, die weltweit gehandelt wurden. Die Produktion und die damit verbundene Wertschöpfung waren damals noch in erheblichem Maße in einzelnen Unternehmen im jeweiligen nationalen Rahmen lokalisiert. Zunehmender Wettbewerb durch in anderen Ländern kostengünstiger hergestellte Produkte brachte aber seitdem insbesondere die großen Industrieunternehmen der führenden westlichen Ökonomien dazu, Teile ihrer Produktion, später auch der Produktion vor- und nachgeordnete Unternehmensteile, in Niedriglohnländer auszulagern. Wir kennen dies als einen der Indikatoren des tiefgreifenden Umgestaltungsprozesses von Ökonomien, Gesellschaften und Kulturen, den wir Globalisierung nennen. Dadurch entwickelten sich sogenannte global value chains beziehungsweise globale Produktionsnetzwerke. Rohstoffe, Bauteile, Arbeitskraft, technische Ausrüstung und die Maschinen, mit denen Produkte fabriziert werden, kommen aus verschiedenen Regionen der Welt – überall dorther, wo sie preiswert sind, solange sie auch den Qualitätsanforderungen genügen, die erfüllt werden müssen, um ein marktgängiges Produkt herstellen zu können. Der Produktionsprozess selbst wird in viele Einzelschritte zergliedert, die an verschiedenen Orten, oft in voneinander vollkommen unabhängigen Firmen, angesiedelt sind. Eine elektrische Zahnbürste eines deutschen Herstellers, made in Germany, ist um die halbe Welt gereist, bevor wir sie im Elektronikdiscounter kaufen. Das Gleiche gilt heute nicht nur für fast alle Konsumartikel, die wir als Endverbraucher kaufen und nutzen, also nicht nur für komplexe elektronische Geräte, sondern beispielsweise auch für den größten Teil der Textilien, die wir tragen oder die unsere Wohnungen und Büros ausstatten. Die Baumwolle wird in einem Land angebaut (vgl. Caliskan 2010), im nächsten wird der Stoff gewirkt, der dann in einem anderen Land zugeschnitten und zu T-Shirts genäht wird – allerdings mit Garn, das woanders her kommt, durch Arbeiterinnen, die als Arbeitsmigrantinnen zu den Fabriken wandern, um auf Nähmaschinen zu arbeiten, die wiederum woanders hergestellt werden –
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diese nach wie vor häufig in Deutschland.1 Bestenfalls die Designs der T-Shirts entstehen noch auf Computern, die tatsächlich in den Büros der Markeninhaber stehen. Die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Pietra Rivoli schreibt, »im Großen und Ganzen entspricht es der Logik der globalen Wertschöpfung, dass sich die führenden Textilunternehmen der Welt darauf konzentrieren, ihre Marke zu schützen und aufzuwerten.« Sie fügt hinzu, es gäbe kein »vernünftiges wirtschaftliches Argument dafür, warum Adidas oder Hugo Boss Baumwollplantagen betreiben sollten.« (Rivoli 2005: 216) Mit den geographisch gestreckten global value chains entstehen neue Kontrollprobleme und Steuerungsanforderungen, die sich aber nicht in der Beherrschbarkeit von Logistik und Transportkosten erschöpfen (vgl. Ouma 2010). Längst sind spezialisierte Unternehmensdienstleistungen entstanden, die gleichbleibende Produktqualität und problemlose Koordination zwischen Produktionsorten auch in einer Situation gewährleisten, in der potentiell in jeder Saison andere Fabriken in wieder anderen Ländern bestimmte Artikel für die auftraggebende Firma herstellen. Für die Konsumenten wiederum geht es darum, die begehrtesten Produkte zu einem möglichst niedrigen Preis zu bekommen. Zunehmend wird aber auch diskutiert, inwiefern westliche Industrieländer durch diese globalen Produktionsnetzwerke die Risiken und Nachteile der Produktion – massive Umweltbelastungen, hohe Gesundheitsrisiken für Beschäftigte, unakzeptable Arbeitsbedingungen und ausbeuterische Löhne – exportieren beziehungsweise an den weltweit gestreuten Produktionsorten überhaupt erst entstehen lassen.
G LOBAL V ALUE C HAINS : K OORDINIERUNG DURCH S TANDARDISIERUNG Um all diesen sehr unterschiedlichen interessegeleiteten Kontrollproblemen und Steuerungsanforderungen zu begegnen, wird ein und dieselbe Kulturtechnik angewandt, nämlich Standardisierung. Standards regeln sowohl die Einhaltung der Produktqualität zwischen verschiedenen Herstellungsstandorten als auch – im Zeitalter von corporate social responsibility und Nachhaltigkeitszertifikaten – eine sozialoder umweltverträgliche Herstellung, wenn diese von der sogenannten lead firm einer globalen Wertkette gewünscht wird, weil sie sich daraus wiederum Konkurrenzvorteile erhofft. Standardisierung ist eine Kulturtechnik, die gemeinhin mit
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Diese Beispiele wurden in der Ausstellung »Globalisierung 2.0« des Museums für Kommunikation Frankfurt am Main sehr erfolgreich eingesetzt, um den Besuchern den hohen Grad der Abhängigkeit ihres Alltagslebens von global vernetzt hergestellten Gegenständen zu verdeutlichen (vgl. Gold/Bavendamm/Burkard 2007).
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Modernisierung und Industrialisierung verbunden wird. Sonja Windmüller schreibt über Standardisierung als ein Prinzip der industriellen Moderne, das seit dem 19. Jahrhundert nicht nur die ökonomische Produktion vereinheitlichte, sondern sich gesamtgesellschaftlich in vielfachen Rationalisierungs- und Taktungsmechanismen niederschlug (vgl. Frank/Windmüller 2006). Die Einführung von Maßen, wie z.B. Gewichten, und deren geographische Abstände überschreitende Vereinheitlichung in Maßeinheiten geht historisch noch viel weiter zurück, wie der am MIT in Cambridge lehrende Agrarökonom Lawrence Busch an Beispielen etwa aus dem Römischen Reich exemplifiziert (vgl. Busch 2011). Heute reicht Standardisierung weit über die in der schwer-industriellen Moderne zentrale Vereinheitlichung von Produkten, die sich etwa in den DIN-Normen niederschlug, und die damit eng verknüpfte Rationalisierung der Produktionsabläufe im engeren Sinne hinaus. Es geht jetzt darum, nicht nur Produkte, sondern Prozesse so zu stabilisieren, dass sie über geographische Abstände und längere zeitliche Dauer hinweg verlässlich gleichartig bleiben oder überhaupt erst werden, und es geht darum, diese zu steuern und die Ergebnisse zu überprüfen. Der in Manchester lehrende Wirtschaftsgeograph Khaled Nadvi ist einer der weltweit führenden Forscher zu globalen Wertketten, als weitere Protagonisten der Forschung gelten Gary Gereffi (2005) und der leider viel zu früh verstorbene Michael Korzeniewicz (2004 [1994]). Khalid Nadvi definiert Standards wie folgt: »Standards are commonly accepted benchmarks that transmit information to customers and end-users about a product’s technical specifications, its compliance with health and safety criteria or the processes by which it has been produced and sourced.« (Nadvi 2008: 325)
Nadvi bezeichnet Standards als entscheidend für die Herstellung der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von Produkten und Diensten, indem »consumers can accept on face value the information supplied by a standard or a label (say, for example, on organic food product) as the basis for making consumption decisions without needing to directly acquire this information through the supply chain.« (Ebd.)
Wichtig ist zu betonen, dass eine immer größere Anzahl derjenigen Eigenschaften, die heute durch Standards geregelt beziehungsweise verlässlich kommuniziert werden sollen, keine Produkteigenschaften im engeren Sinne sind, sondern mit Rahmenbedingungen der Herstellung oder des Bezugs von Rohstoffen (»sourcing«) zu tun haben. Dabei werden zusätzliche materielle Effekte, z.B. die Rückstandsfreiheit bei »ökologisch produzierten« Nahrungsmitteln, ideelle Attribute, wie die Zusicherung, dass das Produkt »der Umwelt« nicht schadet, oder materiell-ideelle Wirkungen – Zulieferer erhalten beispielsweise »faire Preise« für ihre Produkte – erzielt und kommuniziert. Alle diese Formen der Standardisierung dienen letztlich dazu,
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Risiken zu minimieren und Vertrauen zwischen Marktteilnehmern zu stiften in einer Situation, in der die Akteure sich nicht vor Ort von der Richtigkeit von Qualitätsbehauptungen überzeugen können. In einem solchen Fall ist ein Standard – wie z.B. ein Gütesiegel – ein Mittel der Zuverlässigkeitsherstellung sowohl für Produzenten als auch für Konsumenten. Die Entwicklung und Kontrolle von Zulieferketten, das sogenannte supply chain management, ist weltweit einer der Bereiche, in denen neuartige Formen der Regulation der Märkte zu beobachten sind. Im Unterschied zum ersten Schub der global verteilten Produktionsnetze, den global commodity chains, bei dem es darum ging, die Produktionskosten zu senken, um billigere Produkte auf den Markt zu bringen, geht es jetzt darum, Netzwerke beziehungsweise Ketten zur Wertsteigerung der Produkte einzusetzen, daher die Bezeichnung global value chains. Standardisierungsprozesse sind also heute zu einem wichtigen Mechanismus der Erzeugung von Werten und Bewertungen geworden. Durch sie werden Dinge und auch nichtmaterielle Dienstleistungen oder Wissensbestände zu ökonomisch interessanten Gütern. Dies bedeutet, dass sie zu Objekten von Preiskalkulation, Handel und Konsum gemacht werden. Herzfelds Frage, »how do cultures produce values that make things economic«, kann man heute auch so beantworten: Standardization is how we implement values that make things economic. Damit wird nicht nur der zunehmend wichtige Status von Standards betont, sondern die Tatsache, dass diese dazu dienen, Werte um- und durchsetzen, die in anderen gesellschaftlichen Domänen generiert werden.
E XEMPLARISCHER G EGENSTAND : G ESCHÜTZTE H ERKUNFTSBEZEICHNUNGEN FÜR REGIONALSPEZIFISCHE L EBENSMITTELPRODUKTE Auch bei regional erzeugten Lebensmitteln wird heute deren geographische Herkunft oft durch Standards beschrieben, gesichert und kommuniziert. Es handelt sich hier um Produkte, die das Gegenteil der in den globalen Wertketten hergestellten Güter sind. Die lokale Herkunft wird zunehmend durch Zertifizierungsagenturen überprüft und dem Konsumenten durch Qualitätssiegel versichert, die garantieren, dass alle Produktionsschritte, verwendeten Zutaten und beteiligten Akteure territorial eingehegt sind. Die steigende Wertschätzung und damit auch eine verstärkte InWert-Setzung von Produkten, von denen behauptet wird, dass sie eben nicht in einer globalen Wertkette entstanden sind, steht freilich in engem Zusammenhang mit der Proliferation global hergestellter Konsumgüter (vgl. Welz 2012). So gibt es heute neben den älteren nationalen Schutzbestimmungen wie der Appellation d’Origine Controlée, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechtlich festge-
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legt wurde, seit 1992 die geschützten Herkunftsbezeichnungen der EU. Seit 1996 hat die Europäische Kommission für mehr als eintausend Lebensmittelprodukte europäischer Mitgliedsstaaten sogenannte geschützte geographische Herkunftsbezeichnungen verliehen. Abgestuft wird zwischen der besonders strengen Auflagen unterliegenden Geschützten Ursprungsbezeichnung (g.U. oder PDO) und der Geschützten geographischen Angabe (g.g.A. oder PGI). Jedes Jahr werden Hunderte weitere Anträge eingereicht, sind in Landwirtschaftsministerien in Vorbereitung oder beim Generaldirektorat Landwirtschaft (DG AGRI) in Brüssel in Bearbeitung beziehungsweise in Vorbereitung. Der von der Kommission registrierte, in einem Rechtsakt festgelegte und durch eine Kennzeichnung – in der Regel ein gedrucktes Siegel auf der Verpackung – markierte Schutz bezieht sich auf den Namen des Produktes, der nur für Produkte verwendet werden darf, die von dafür berechtigten Produzenten im festgelegten Raum hergestellt werden. Weil die Verleihung des Titels aber auch mit der Festlegung von spezifizierten Zutaten und festgelegtem Rezept einhergeht, deren Einhaltung regelmäßig überprüft wird, ist der Schutz in diesem Fall deutlich umfassender als etwa derjenige für Markennamen. Die Funktionsweise dieser Zertifizierung eröffnet weitere Möglichkeiten, die Eingangsfrage von Michael Herzfeld danach zu beantworten, wie Qualitäten generiert werden, die es erlauben, »Dinge ökonomisch zu machen«, also auf den Markt zu bringen. Ich werde dafür drei verschiedene Theorieprogramme, die sich in den letzten Jahren herausgebildet haben, heranziehen. Die damit jeweils möglichen Perspektivierungen bieten unterschiedliche Lesarten an, die teilweise komplementär sind, sich teilweise auch wechselseitig ausschließen. Damit können auch neue Analyseansätze in die Erforschung von Lebensmitteltraditionen und deren In-WertSetzung eingeführt werden, die sich von den bislang beliebten Interpretamenten wie Regionalismus, Identitätssuche und Authentizitätsproduktion unterscheiden. In der Volkskunde und Europäischen Ethnologie gibt es einen ausgebauten Forschungsstand zu gruppenspezifischen und lokalen Nahrungskulturen und deren Revitalisierung im Rahmen von Tourismus, regionalem Standortmarketing und staatlichen Interventionen. Kritik an der Ausgrenzung und Enteignung der eigentlichen »Traditionsträger« durch Prozesse der Kommodifizierung von Traditionen wird gerade aus unserem Fach besonders häufig geäußert (vgl. z.B. Welz 2006). Die Prozesse jedoch, die lokal erzeugte Lebensmittel »ökonomisch« machen, also zum auf dem Markt handelbaren Gut transformieren, sind bisher in diesem Zusammenhang selten untersucht worden. Die folgende Diskussion von drei aktuellen Analyseansätzen kann also auch die Untersuchung der In-Wert-Setzung von »traditionalen« Artefakten in spätmodernen, globalisierten Märkten und die dafür aktivierten soziotechnischen Infrastrukturen neu perspektivieren.
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1. Wirtschaftsgeographie: Standards als Governance In den global verknüpften Märkten, die Zulieferer, Hersteller, Transport, Handel, Qualitätssicherung, Arbeitskräfte und Verbraucher zueinander in komplexer Weise in Beziehung setzen, entstehen, wie bereits angesprochen, hohe Anforderungen an die Koordinierung der Produktionsnetzwerke. Hier geht es nicht mehr nur darum, dass Produkte technisch mit Anforderungen kompatibel sind beziehungsweise gleichbleibende Qualität haben, sondern es werden »zunehmend immaterielle prozessorientierte Qualitätsattribute« (Ouma 2010: 66) eingefordert. Wirtschaftsgeographen, die sich mit den dadurch erzeugten Qualitätskontrollverfahren inklusive Zertifizierungen, Standards, Gütesiegeln befassen, betrachten diese Kontrollregimes als eine Form der Machtausübung. Die betriebswirtschaftliche Technologie des supply chain managements ist aus ihrer Sicht eine Form von Governance, also eine Regierungstechnik. Einfache Standardisierung – im Sinne einer Festlegung und Durchsetzung »technische[r] Produktkompatibilität bei marktkoordinierten Austauschprozessen« – reicht heute nicht mehr aus, um die hochkomplexen Vernetzungen der globalen Ökonomie verlässlich zu stabilisieren. Es geht jetzt um die Implementierung und Überprüfung von Verfahrensweisen, die eine »Konformierung bestehender landwirtschaftlicher Routinen, Praktiken und Wissensbestände« (Ouma 2010: 71) erreichen sollen, wie der Wirtschaftsgeograph Stefan Ouma, der weltweit operierende privatwirtschaftliche Lebensmittelzertifizierungen in ihren Auswirkungen für kleinbäuerliche Produzenten in Kenia und Ghana untersucht hat, schreibt. Wie wird durch Zertifizierungsverfahren, verbunden mit Qualitätskontrollmechanismen, eine flexiblere Formen der Regulation erreicht, welche Auswirkungen hat diese umgekehrt auf die materiellen Produktqualitäten und technischen Abläufe? Das sind Fragen, die ihn und andere interessieren. Im Falle der Qualitätssiegel der Europäischen Union für regionalspezifische Produkte ist die Umsetzung und Überprüfung der prädikatkonformen Produktionsprozesse eine durch Expertenwissen gestützte Dienstleistung, die die Produzenten einkaufen müssen. Die finanziellen Belastungen, aber auch der organisatorische und technische Mehraufwand von Zertifizierungen und zertifizierungskonformer Produktion überfordern insbesondere kleinere Betriebe und wirken oft als Barrieren für deren Marktzugang. Die Qualitätslabels spielen aber, oder vielleicht gerade deswegen, eine wichtige Treiberrolle für die Modernisierung und »Professionalisierung« von Betrieben in der Lebensmittelproduktion. Die Antragstellung durch die Produzentengruppen erfolgt immer freiwillig; diese werden in aller Regel an der Formulierung der Produktspezifikationen beteiligt, nicht selten sind die Produzenten ja auch diejenigen, die allein über das – oft nicht formalisierte – Wissen über das Produkt und seine Herstellung verfügen. Wenn das Produkt prädikatisiert ist, ist
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die Spezifikation bindend und die Produzenten müssen oft erhebliche Anstrengungen darauf verwenden, diesen zu entsprechen. Anstelle einer obrigkeitsstaatlich, top-down funktionierenden Implementierung werden hier die Akteure als Mitwirkende in die Entwicklung und Umsetzung der Kontrollinstrumente eingebunden, die ihr Handeln – in diesem Fall die Herstellung von Lebensmittelprodukten – regulieren. Solche freiwilligen Zwangsapparaturen, die die sozialen Akteure einbinden und dazu auffordern, ihre eigene Regelkonformität selbst zu überprüfen und diese zu dokumentieren, sind ein wichtiger Bestandteil der EU-Regulation in fast allen Politikfeldern geworden. 2. Konventionssoziologie: Standards und moralische Ökonomien Produkte, die transnational gehandelt werden, können also im Wert gesteigert werden, indem ihre spezifische geographische Herkunft als Qualitätsattribut konstruiert wird. Die Qualitätsattribute, die mit den EU-Siegeln produziert werden, verbinden historisch generierte Annahmen über die Orts- und Gruppengebundenheit von Produktionswissen (»Tradition«, »regionale Kultur«) mit Aussagen über genetische Ausstattung von Tier- und Pflanzenspezies, über Bodenqualitäten, Klima und biochemische Prozesse in der Produktion. Im Unterschied zu anderen die moralische Unbedenklichkeit von global gehandelten Produkten versichernden Gütesiegeln – z.B. ökologisch verantwortliche Produktionsweise, soziale Mindeststandards für die Beschäftigten, angemessene Preise für die landwirtschaftlichen Produkte vor Ort –, nehmen die geo labels der EU für sich in Anspruch, orts- und regionsgebundene, in dieser Form einzigartige Routinen, Praktiken und Wissensbestände zu »schützen«, indem diese in fixierter Form kodifiziert werden und die Einhaltung sanktioniert wird (vgl. Jackson/Ward/Russell 2009). Dass Konsumenten die Herkunft eines Nahrungsmittels so genau kennen wollen, dass sie es auf den einzelnen Bauernhof zurückverfolgen können (»traceability«), ist eine relativ neue Form der Qualitätssicherung. Der Humangeograph Robert Feagan, der einen hilfreichen Überblick über die verschiedenen Formen der neuen Verräumlichung von Ernährungssystemen gibt, spricht davon, dass Lebensmittel durch bewiesene Raumbezüge aufgewertet werden, das heißt konkret höhere Preise erzielen: Der Schlüssel dazu seien gesicherte Information über das Produkt und den Herkunftsort (Feagan 2007). Ein wichtiger Impetus für diese Prozesse, die sich in Erzeugerwochenmärkten, in Diskussionen über den CO2-Fußabdruck von Produkten und in Ansätzen zur Verkürzung von Lieferketten zeigen, ist die Unzufriedenheit damit, dass die Herkunft bei konventionell gehandelten Lebensmitteln austauschbar und die Produktionsbedingungen undurchsichtig sind, ja diese sogar gezielt verschleiert werden (vgl. Cook/Crang 1996). Die Marktführer in vielen Branchen sind heute nicht mehr nur diejenigen, die ihre Marken erfolgreich platzie-
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ren, sondern auch diejenigen, die neue normative Paradigmen entwickeln und verbreiten – sei es nun gesunde, rückstandsfreie, nicht-dickmachende Ernährung, fair gehandelte Ware, ökologische Unbedenklichkeit, angemessene Entlohnung oder einfach eine wahrnehmbare Authentizität und Lokalspezifik eines Produkts (vgl. Nützenadel/Trentmann 2008). Standards werden meist begriffen als universell einsetzbare, oft technisch messbare, in jedem Fall also überkulturelle und objektive Entitäten. Aus einer kulturanalytischen Perspektive jedoch erscheinen Standards als in hohem Maße durch kulturelle Bedeutungen und Wertungen angereicherte, ja sogar durch sie geschaffene Instrumente der Regulation. Standards und die Prozesse der Standardisierung sind genauso wenig überkulturell wie es die Warenwirtschaft oder die wirtschaftswissenschaftliche Theorie sind. Auch Lawrence Busch, der bereits erwähnte Agrarökonom betont, dass »while standards [...] tend to be viewed as grounded in objective and value-neutral science and technological practices [...] standards need also to be understood as socially mediated. [They] reflect particular social relations of power, interests and values.« (Hatanaka/Bain/Busch 2006: 42)
Für die Analyse dieser Zusammenhänge erscheint die Konventionssoziologie, die die französischen Soziologen Thévenot und Boltanski vorlegen, hilfreich (vgl. Boltanski/Thévenot 2006 [1991]). Insbesondere Laurent Thévenot (2009) entwickelte eine – wie er sie nennt – »pragmatische« Soziologie, die den Zusammenhang von Information, Koordinierung und Werturteil beleuchtet. Die Wirtschaftsgeographen Christian Berndt und Marc Boeckler (2007) nehmen den Ansatz von Boltanski auf und betonen, dass Märkte keinesfalls nur durch die Mechanismen von Angebot und Nachfrage beziehungsweise durch eine rein instrumentelle Rationalität hervorgebracht werden. Die französische Konventionssoziologie ermögliche es vielmehr herauszuarbeiten, inwiefern Produktqualitäten, die sich weder in Kosten oder Preisen ausdrücken noch technisch messbar sind, – wie klassische Produktstandards – heute in erheblichem Maße genutzt werden, um Wertschöpfungsketten aufzubauen und zu koordinieren. Diese funktionieren als »formula for control in a network world« (Berndt/Boeckler 2009). Nicht zuletzt sind Standards, beziehungsweise die Zertifizierungsprozesse, in denen sie erlangt, bestätigt und aufrechterhalten werden, selbst zu einer Ware geworden. 3. Technikforschung: Standards als sozio-technische Instrumente Der Techniksoziologe Michel Callon und andere Autoren konzeptualisieren Märkte dagegen als heterogene Arrangements von Akteuren, Sachen, Instrumenten (»mar-
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ket devices«) und Verfahrensweisen, durch deren Zusammenwirken überhaupt erst konsumierbare Güter, Preise, Wettbewerb, Handelsunternehmen hervorgebracht werden. Märkte selbst sind für diese Theoretiker und empirischen Forscher keine aus der Logik des Wechselspiels von Nachfrage und Angebot entstehenden Institutionen, sondern entstehen durch die Handlungsträgerschaft (»agency«) von Akteuren, Technologien und Wissen (vgl. Caliskan/Callon 2010). Callon, der auch als einer der Pioniere der Akteur-Netzwerk-Theorie gilt, vermeidet den Begriff Ökonomie. Vielmehr spricht er von »dem Ökonomischen«, als einem Attribut, das in Prozessen der Ökonomisierung entsteht. Die Herstellung und Etablierung von Märkten sei eine spezifische Modalität dieser Ökonomisierung. Callon und seine Mitautoren nennen diese Modalität marketization, also Vermarktlichung. Diese Anthropologie der Herstellung von Märkten, wie sie Michel Callon vor dem Hintergrund der ANT-informierten Technik- und Wissensforschung entwickelt, identifiziert market devices als entscheidende Werkzeuge in der Herstellung von Märkten: Dies sind beispielsweise Messinstrumente wie Waagen oder Prozessierungstechnologien wie etwa computerisierte Supermarktkassen. Auch Etiketten, die Produktinformationen enthalten, können als derartige Instrumente funktionieren. Ist die geschützte Herkunftsangabe der EU ebenfalls so zu verstehen? Die Registrierung des geschützten Produkts erfolgt in einer im Internet einsehbaren Datenbank, der entscheidende Rechtsakt ist die Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, sowohl gedruckt als auch online. Weil die betreffenden Qualitätsattribute dem Produkt nicht angesehen, zumindest vom konsumierenden Laien nicht per Augenschein überprüft werden können, spricht man in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsliteratur von credence quality attributes: Die Qualität des Produkts muss durch eine Glaubwürdigkeitsdokumentation belegt werden. Die Gütesiegel funktionieren im Zusammenspiel mit online-Register und offiziellen Verlautbarungen und autorisieren die truth claims der Produktinformation. Folgt man Callon, dann entstehen Märkte aus Arrangements von Informationstechnologien, menschlichen Akteuren und oft räumlich weit verteilten Infrastrukturen.
B ILANZ : D IE Z UNAHME D IFFERENZIERUNG
VON STANDARDISIERTER
Standardisierung diente ursprünglich dazu, Produkte gleichförmig zu machen und Differenzen zum Verschwinden zu bringen. Nun haben wir im Zuge der Weiterentwicklung des globalen Kapitalismus, so die bereits erwähnten Wirtschaftsgeographen Berndt und Boeckler, eine Situation erreicht, in der Diversität und Differenz gewinnbringend mobilisiert werden und gleichzeitig zu einem neuen Regulationsmodus mutieren. Während die sozioökonomischen Unterschiede zwischen
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einzelnen Ländern, also z.B. unterschiedliche Lohnniveaus, Bildungssituation und Transportinfrastruktur, von den global agierenden Unternehmen genutzt werden, um möglichst preiswert zu produzieren, werden gleichzeitig die mit dieser ausnutzbaren Heterogenität einhergehenden kulturellen Markierungen und identitären Codes, die Differenz sichtbar machen, zum integralen Bestandteil von Kontrolle und Vermarktung. Berndt und Boeckler (2009) beziehen sich hier auf Arbeiten der amerikanischen Kulturanthropologin Anna Tsing. Sie schreibt: »Labor, nature, and capital are mobilized in fragmented but linked economic niches; thus, supply chain capitalism focuses our attention on questions of diversity within systems of power.« (Tsing 2009: 148)
Kultur beziehungsweise kulturelle Differenz wird nun integriert, sowohl als Konkurrenzvorteil eines Produkts am Markt als auch als Bestandteil von Disziplinierungs- und Kontrollmechanismen. Diese Interpretation lässt sich durchaus auch auf die EU und ihre Qualitätssiegel für regional erzeugte Lebensmittel beziehen. Lawrence Busch unterscheidet zwischen zwei Sorten von Standards, nämlich solchen, die gleichmachen beziehungsweise konformieren, und anderen, die Differenzierungsleistungen erbringen. Wenn beides in eins fällt, spricht er von »standardized differentiation«, also einer einheitlichen und kontrollierten Form, in der eben solche Vielfalt vorkommen darf, die marktgängig ist. »[These products] are produced simultaneously to be standard (when compared to each other) and differentiated in space or time (when compared to other products or services), to create a niche targeted at some (larger or smaller) group of persons.« (Busch 2011: 165)
AUSBLICK : N EUE F ELDER DER Ö KONOMISCHEN ANTHROPOLOGIE Seitdem Herzfeld 2001 die Kulturalität der wirtschaftlichen Praktiken, Institutionen, Wissensformen und Ideologien als einen blinden Fleck der Anthropologie anprangerte, ist mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Seitdem ist eine nicht unbeträchtliche Zahl von neuen Forschungen entstanden, zumal in der englischsprachigen Kulturund Sozialanthropologie. Aber auch in unserer Disziplin, den deutschsprachigen Nachfolgefächern der Volkskunde, zeigt sich ein neues Interesse an Fragestellungen und Theorieproblemen, die eng mit den Folgen der neoliberalen Restrukturierung von Staat und Wirtschaft und den Finanz- und Staatsverschuldungskrisen der letzten Jahre verbunden sind. Globale Wertschöpfungsketten, die transnationale Zirkulation von Konsumgütern und ganzen Unternehmensmodellen, Franchising, Out-
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sourcing und Offshoring sind in der internationalen Kultur- und Sozialanthropologie noch selten erforscht worden. Aber ethnographische Mikrostudien über Wirtschaftsentscheider, Börsenmakler und Software-Entwickler gehören ebenso dazu wie Innensichten internationaler Regulationsbehörden, Handelsorganisationen, nationaler Zentralbanken und Börsen, die in den letzten Jahren u.a. von Forschern wie Douglas Holmes (2013), Bill Maurer (2006), Caitlin Zaloom (2005) und Karen Ho (2009) vorgelegt wurden. Informelle Praktiken und illegalisierte Akteursgruppen etwa in der Schwarzarbeit oder im Schmuggel sind außerdem im Zusammenhang mit dem neuen Mobilitätsparadigma zum Thema geworden. Aktuelle kulturanthropologische Studien entstehen vor dem Hintergrund einer trotz mobiler Forschungsdesigns und multi-lokalen Feldkonstruktionen begrenzten Reichweite des ethnographischen Beobachtungsfokus. Autoren wie der britische Wirtschaftsanthropologe Keith Hart (Hart/Laville/Cattani 2010) ermahnen Kulturanthropologen, auch Zeiträume größerer Dauer und Prozesse von globaler Reichweite umfassend zu analysieren und zu theoretisieren. Dies, so auch das Anliegen dieses Beitrags, sollte Ziel einer zukünftigen Neuausrichtung der ökonomischen Anthropologie sein.
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Zwischen Glasperlenspielund Ingenieurssemantiken Diskursanalytische Untersuchungen zur Hegemonie neoklassischer Wissenschaftskultur nach 1945 H ANNO P AHL
1. E INLEITUNG Bezugnahmen auf ästhetische Werte durch Mathematiker und Naturwissenschaftler sind gut dokumentiert. Von dieser Seite wurde immer wieder auf Faktoren von Schönheit, Einfachheit, Symmetrie oder Harmonie als offensichtlich nicht immer unwichtigen Momenten von Theoriekonstruktion hingewiesen. So zum Beispiel bei dem Mathematiker Godfrey Harold Hardy: »The mathematician’s patterns, like the painter’s or the poet’s, must be beautiful; the ideas, like the colours or words, must fit together in a harmonious way. Beauty is the first test: there is no permanent place in the world for ugly mathematics« (Hardy 1940: 85). Oder wenn es in einem Brief Heisenbergs an Einstein (aus dem Jahr 1926) heißt: »If nature leads us to mathematical forms of great simplicity and beauty – by forms I am referring to coherent systems of hypotheses, axioms, etc. – [...] we cannot help thinking that they are ›true‹, that they reveal a genuine feature of nature« (Heisenberg 1971: 68). Es gibt nur wenige Arbeiten, die Fragen von Ästhetik mit Bezug auf die Wirtschaftswissenschaften abgehandelt haben. Eine der vorliegenden Studien kommt zu einer eher skeptischen Einschätzung und stellt hierzu auf die spezifische Beschaffenheit des ökonomischen Gegenstandsbereichs und damit verbundene Limitierungen an ästhetische Stringenz ab: »The primary explanation lies in the nature of the subject of economics. As economics attempts to model the behaviour of real world agents in real world markets, the subject matter of the discipline is constantly changing as the markets, regulations and institutions of the real
192 | HANNO PAHL world constantly change. In the language of those who have sought beauty in other disciplines, economic models and theories lack generality. They have a high degree of time specificity and sometimes location specificity. Consequently, they are extended or replaced as market circumstances change. The predictions of the models are subject to empirical verification or rejection. This conditional nature of economic models and the other objects derived from them restricts our appreciation of their worth and their beauty« (Lee/Lloyd 2005: 83).
Dieses Urteil kollidiert allerdings gerade mit Befunden in einem Bereich ökonomischen Wissens, der eine Zentralstellung in der Ökonomik des 20. Jahrhunderts besitzt, der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie. Diese wurde und wird bis heute stetig mit Attributen wie Schönheit, Eleganz und Einfachheit in engen Zusammenhang gebracht (vgl. Köllmann 2006), so erstmals in einer bekannten Charakterisierung ihres Schöpfers Walras aus den 1870er Jahren: »Thus the system of the economic universe reveals itself, at last, in all its grandeur and complexity: a system once vast and simple, which, for sheer beauty, resembles the astronomic universe« (Walras 1954 [1874]: 374). Hier erscheint die (ökonomische) Wirklichkeit nicht als diffuses und kontingentes »Gewimmel von Willkür«, sondern als gerichteter Ordnungszusammenhang, dessen »ontologische« Struktur vermittelst eines äußerst elegant anmutenden Theorietypus konzise abgebildet werden kann. Wie gehen diese divergierenden Befunde zusammen? Ich möchte zunächst (Teil 2) nachzeichnen, dass die Zuschreibung ästhetischer Werte im Fall der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie zu einem großen Teil theoriepolitisch motiviert war und ist.1 Da die Wirtschaftswissenschaft zwar – anders als alle anderen Sozial- und Kulturwissenschaften – im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine recht rigide Form disziplinärer Identität ausgeprägt hat, aber hieraus gerade kein fachweiter Konsens hervorgegangen ist,2 gehören andauernde Kämpfe rivalisierender Ökonomengruppen um disziplinäre Hegemonie bis heute zum Normalfall (dies mag damit zu tun haben, dass die Wirtschaftswissenschaft die »most important academic discipline for the ideological legitimization of capitalism« (Elsner/Lee 2010: 1333) sein dürfte). Es
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Diese Schwerpunktsetzung impliziert zugleich, dass der bis heute kontrovers diskutierten Frage der kognitiven Bedeutung ästhetischer Faktoren (vgl. dazu McAllister 1999) nicht im Detail nachgegangen wird. Von Interesse ist allein der Einsatz ästhetischer Attribuierungen als Ressource im Kampf um disziplinäre Hegemonie.
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Siehe hierzu die Einschätzung bei Backhouse (2010: 4): »The field has a much stronger disciplinary identity than most other social sciences, with greater agreement on what the core of the subject comprises. […] But economic’s strong disciplinary identity does not translate into agreement like that found in the natural sciences, for there remain economists who dissent from what, in the eyes of most of their colleagues, are basic presuppositions that all economists should accept«.
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sollen jene auf Ästhetik referierenden diskursiven Strategien ausfindig gemacht werden, die jeweils von Befürwortern wie Kritikern der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie zum Einsatz gebracht werden. Im anschließenden dritten Teil wende ich mich einem anderen semantischen Register zu. Die (mit zu erläuternden Einschränkungen) bis heute als Kern ökonomischen Mainstreams geltende Allgemeine Gleichgewichtstheorie war bis mindestens in die Zwischenkriegszeit hinein nur eine von vielen äußerst disparaten Richtungen ökonomischer Forschung.3 Als harter Kern einer nahezu zu fachuniversaler Geltung gelangten Wissenschaftskultur konn-te sie sich erst etablieren, als ihr Programm einer hochgradig stilisierten mikroöko-nomischen Totalanalyse durch eine Verkopplung mit ökonometrischen Modellie-rungstechniken und Systemen volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung (VGR) neuar-tig situiert und »geerdet« wurde (ich bezeichne dieses Amalgam im Folgenden als »neoklassische Wissenschaftskultur« und komme detaillierter darauf zu sprechen). Es wird stichprobenartig aus den Selbstbeschreibungen früher ökonometrischer Texte die dort vorherrschende Semantik herauspräpariert, wobei ich der Vermutung nachgehe, dass es sich hierbei – im Verhältnis zur künstlerischästhetischen Semantik der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie – um eine Komplementärsemantik handelt, die starke Anleihen bei Aussagen und Begrifflichkeiten macht, die einem ingenieurwissenschaftlichen Register oder Archiv entstammen. Diese haben mit dazu beigetragen, so die Vermutung, der Gleichgewichtstheorie qua wissenschaftlicher Arbeitsteilung jene Bodenhaftung zu verleihen, die ihren Aufstieg zu einem disziplinbeherrschenden Paradigma erst ermöglicht hat. Das Ziel dieser Fallstudien besteht darin, einen Beitrag zur Genese jener kognitiven Autorität zu leisten, die die Wirtschaftswissenschaften in der Mitte des 20. Jahrhunderts erlangt haben und von der die Disziplin – trotz einer erneuten Vielzahl kritischer Stimmen besonders seit der Krise 2007ff. – bis heute zehrt. Dies wird in Teil 4 unter Rückgriff auf Ludwik Flecks Konzepte des Denkstils und Denkkollektivs theoretisch unterfüttert. Das Begriffspaar Denkstil/Denkkollektiv referiert auf die Genese und Konsolidierung distinkter Wissenschaftskulturen, denen es – zu einer bestimmten Zeit – gelingt, Objektbereich, Fragestellungen und als legitim erachtete wissenschaftliche Verfahrensweisen hegemonial zu besetzen und andere Strömungen an den Rand zu drängen, bis hin zu deren Degradierung zu einer »Pseudowissenschaft«. Dieser Abschnitt endet – auch um aktuelle Anschlussfähigkeit und Relevanz zu untermauern – mit einem kurzen Ausblick auf den Wandel der ökonomischen Forschungslandschaft in den letzten ca. drei Jahrzehnten. Die im
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Konkurrierende Forschungsrichtungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren zum Beispiel der ältere US-amerikanische Institutionalismus, die deutsche Historische Schule, der Marginalismus österreichischer Prägung oder Fortschreibungen der Klassischen Politischen Ökonomie von Smith und Ricardo.
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Text verhandelte neoklassische Wissenschaftskultur zeichnet sich als epistemisches Format vor allem durch eine Anlehnung an physikalische Wissenschaftsstandards und Methodenideale aus, was sich in einem epistemologischen und ontologischen Reduktionismus manifestiert. Neuere Forschungsansätze hingegen machen oftmals stärkere Anleihen bei Biologie, Evolutionstheorie und Komplexitätstheorien, was epistemologisch wie ontologisch auf Emergenz(konzepte) verweist. Wenn sich letztere Trends durchsetzen sollten – ich diskutiere dies kurz am Beispiel agentenbasierter Modellierung – stellen sie auch die sich bis heute als Alternative zur Mainstream-Ökonomik positionierenden anderen Abteilungen von Sozial- und Kulturwissenschaft (etwa die Wirtschaftssoziologie oder die Wirtschaftsanthropologie) vor neue Herausforderungen. Der abschließende fünfte Teil reflektiert die Befunde der Fallstudie kurz vor dem Hintergrund einer bisher erst in Ansätzen bestehenden Wissenschaftssoziologie der Wirtschaftswissenschaften. Es wird diskutiert, inwieweit und warum auch ein hochgradig formalisierter und im Medium von Mathematik und Modellbildung prozessierender Wissenschaftstyp wie die moderne Mainstream-Ökonomik grundsätzlich diskursanalytisch durchleuchtet werden kann (aber zugleich markiert, dass solche Zugriffe einer Ergänzung durch eine an Praxen orientierte Wissenschaftsforschung bedürfen). Bezüglich der in diesem Text zur Anwendung gebrachten hochselektiven Verfahrensweise und Materialauswahl möchte ich vorab auf Mary Morgans (2012: XV) Buch The World in the Model. How Economists Work and Think verweisen, das sicherlich zu den gewichtigeren Beiträgen zur Erforschung moderner Wirtschaftswissenschaft zu zählen ist. Sie hat diese Monographie als eine Art »detective’s casebook« gekennzeichnet. Die Autorin folgt minutiös einzelnen Episoden der Konstruktion ökonomischer Modelle, die in den späteren Bestand ökonomischen Wissens als Kompakteinheiten aufgenommen wurden ohne ihre Entstehungskontexte adäquat zu berücksichtigen, um herauszufinden, »what economic modelling is all about«. Das Genre von Fallstudien scheint – auch über den bei Morgan bearbeiteten (gewichtigen) Spezialfall ökonomischer Modellierung hinaus – besonders geeignet, um sich schrittweise in die opaken Welten einer überaus formalen wie komplexen sozialwissenschaftlichen Disziplin hineinzuarbeiten.
2. ÄSTHETISCHE Z USCHREIBUNGEN ALS F AKTOR EINES K AMPFES UM H EGEMONIE INNERHALB DER W IRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN Bei der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, wie sie erstmalig in den 1870er Jahren von Walras (1954 [1874]) ausgearbeitet und dann in den 1950er Jahren von Arrow und Debreu (1954) in der noch heute akzeptierten Form weiterentwickelt wurde,
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handelt es sich um eine Art mathematisierte mikroökonomische Totalanalyse der gesamten Wirtschaft. Schumpeter (2009: 1177) hat sie in seiner Dogmengeschichte in den Rang einer »Magna Charta der exakten Volkswirtschaftslehre« gehoben. »In der Werkstatt von Walras«, so referiert Schumpeter das dort Geleistete, »entstand die statische Theorie des ökonomischen Universums in der Form einer großen Anzahl quantitativer Beziehungen (Gleichungen) zwischen ökonomischen Elementen oder Variablen (Preisen und Mengen von Konsum- und Produktionsgütern oder Leistungen), die als sich gegenseitig simultan determinierend aufgefaßt wurden« (ebd.).
Düppe betont insbesondere die Bedeutung der Gleichgewichtstheorie für die Konsolidierung und weitere Ausdifferenzierung der Wirtschaftswissenschaften als eigenständiger, von anderen Sozialwissenschaften abgesonderter Disziplin: »Without general equilibrium theory, economics would have remained one among myriad other social and political fields of inquiry. [...] It establishes the economy as a closed system and thus economics as a separate discipline. It differs from anything else social scientists could study in that in markets there is social order independent of the nature of that which is ordered – the individual, its needs, culture, morals, and so forth« (Düppe 2011: 72).
Mit anderen Worten: Die Allgemeine Gleichgewichtstheorie hat dazu beigetragen (zu welchen Kosten auch immer), »Wirtschaft« als intelligibles Erkenntnisobjekt zu konstruieren, indem der Mannigfaltigkeit und Heterogenität empirischer Erscheinungen eine eindeutige mathematische Struktur gegeben wurde. »Wirtschaft«, das bedeutet nun ein System universaler Interdependenz aller Kaufs- und Verkaufsakte auf allen Märkten, eine Begriffsstrategie, die – nicht nur in popularisierenden Verdolmetschungen – oftmals als exakte und rigorose mathematische Einlösung jener vagen und interpretationsoffenen Smithschen Metapher der unsichtbaren Hand ausgegeben wurde (vgl. dazu Pahl 2013). Wie eingangs anhand eines Zitates von Walras demonstriert, finden sich bei Protagonisten und Befürwortern der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie zahlreiche ästhetische Attribuierungen des Theorieunternehmens, die zu den ebenfalls oben genannten Beispielen aus Mathematik und Physik eine große Nähe aufweisen. Der Walras-Experte und Übersetzer von dessen Hauptwerk, Jaffé, formulierte in dieser Linie: »I shall devote myself almost entirely to pure economic theory, for that is the part of Walras’s work that has had the greatest impact and is most relevant in the present. It is also the most aesthetically pleasing part. Any great scholar, whether it be a Newton, or a Henri Poincaré, or an Einstein, is a poet who creates beauty. For me, the principal attraction of Walras’s theory of general equilibrium is its aesthetic aspect« (zit. n. Walker 2006: 129).
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Dies unterstreicht Jaffé weiter durch einen Vergleich mit den Arbeiten Marshalls, der als wichtiger Vertreter von Theorien partiellen Gleichgewichts prototypisch für eine pragmatischere beziehungsweise eklektizistischere Theorietradition steht: »Since I was then in charge of a graduate course on the economics of Alfred Marshall, I was struck by the contrast between the sheer formal architectonic beauty of Walras’s pure theory and Marshall’s muddling blend of theory and miscellaneous reflections and opinions« (zit. n. Walker 2006: 270).
Auch noch aus größerer historischer Distanz heraus geschrieben finden sich analoge Befunde zur ursprünglichen Version der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, beispielsweise in Shackles The Years of High Theory: »The forty years from 1870 saw the creation of a Great Theory or Grand System of Economics, in one sense complete and self-sufficient, able, on its own terms, to answer all questions which those terms allowed. [...] In its arresting beauty and completeness this theory seemed to need no corroborative evidence from observation. It seemed to derive from these aesthetic qualities its own stamp of authentication and an independent ascendancy over men’s minds« (Shackles 1967: 4 f.).
Auch bei Debreu, der gemeinsam mit Arrow den als am gewichtigsten bewerteten Beitrag zur Fortschreibung der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie geleistet hat, finden sich das eigene Schaffen kommentierende Stellungnahmen, die prominent auf ästhetische Werte abstellen: »Akin in motivation, execution, and consequences is the pursuit of simplicity. One of its expressions is the quest for the most direct link between the assumptions and the conclusions of a theorem. Strongly motivated by aesthetic appeal, this quest is responsible for more transparent proofs in which logical flaws cannot remain hidden, and which are more easily communicated. In extreme cases the proof of an economic proposition becomes so simple that it can dispense with mathematical symbols. The first main theorem of welfare economics, according to which an equilibrium relative to a price system is a Pareto optimum, is such a case« (Debreu 1986: 1267).
Debreus Leistungen im Bereich der mathematischen Ökonomie wurden von anderen Fachvertretern mit »the great gothic cathedrals« verglichen, der Autor selbst als »great master builder« (Hildenbrand 1983: 29) angepriesen. Und noch in einer Kursbeschreibung aus der Gegenwart finden sich entsprechende Referenzen auf ästhetische Qualitäten der Gleichgewichtstheorie:
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»One of the complaints that students sometimes make about their experience in microeconomics courses is that microeconomics ›appears to be a disjointed collection of topics‹ and that it lacks ›a unifying context and narrative‹. From the title page on, this course makes an implicit claim that the presentation and student experience of microeconomics needn’t be like that. This is so because there exists a deep, unifying and beautiful context for the field of microeconomics in the form of the Arrow-Debreu model of general equilibrium« (Bryant 2012: 2).
Das ist allerdings nur die eine Seite der Medaille, zugleich lassen sich ebenso zahlreiche Aussagen auffinden, wo die gesamte Theorietradition in kritisch motivierter Weise als ästhetisch (fehl)geleitetes Unterfangen qualifiziert wird. Flasbeck, ein Kritiker der Mainstream-Ökonomik, klassifiziert die Allgemeine Gleichgewichtstheorie als »das Glasperlenspiel, das die moderne Ökonomie ausmacht« (Flasbeck 2004: 1074), Davidson, ein Postkeynesianer, versieht das dortige Theorieprogramm mit der Bemerkung, man habe zwar »a magnificently polished analytical structure« ausgearbeitet, diese sei aber »hopelessly flawed and arid« (Davidson 1990: 299). Solche Einschätzungen finden sich nicht nur in den Reihen dezidiert heterodoxer Ökonomen, sondern auch bei Vertretern die – in einem weiteren Sinne – dem Mainstream des Fachs zugerechnet werden können, so in Friedmans Besprechung Leon Walras and his Economic System: »His problem is the problem of form, not of content: of displaying an idealized picture of the economic system, not of constructing an engine for analyzing concrete problems. His achievement cannot but impress the reader with its beauty, its grandeur, its architectonic structure; it would verge on the ludicrous to describe it as a demonstration how to calculate the numerical solution to a numerically specified set of equations« (Friedman 1955: 904 f.).
Walras’ Leistungen werden dort anerkannt, aber zugleich – sieht man in ihnen nicht nur »an essential part of a full-blown economic theory, but that economic theory itself« (ebd.: 908 f.) – als geradezu gefährlicher Irrweg gekennzeichnet. Die ausgewählten Textstellen mit positiven Bezügen auf ästhetische Qualitäten referieren auf selbige nur selten im Sinne eines Selbstzwecks, am ehesten noch wenn der Vergleich mit gotischen Kathedralen angestellt wird (deren Architektur erfüllt zwar auch funktionale Zwecke, ihre Spezifik dürfte aber gerade nicht in ihrer Funktionalität aufzufinden sein beziehungsweise darin aufgehen). Dominant sind hingegen Narrative, die eine Verbindung zwischen ästhetischen Werten und kognitiven Leistungen herstellen (etwa: Vereinheitlichung von Forschungsgebieten, Transparenz von Beweisen, rein deduktiv zu erreichende Wissensvermehrung, heuristische Funktionen in der Wissensvermittlung), obgleich – auch in den nicht wiedergegebenen Kontexten, in denen die referierten Textstellen situiert sind – kaum präzisiert wird, wie diese Verknüpfungen im Detail zu denken sind. Kritiker gleichge-
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wichtstheoretischen Denkens lassen solche Verkopplungen von Ästhetik und Kognition nicht gelten, ihre negativen Bezugnahmen können mit Köllmann in dem Vorwurf zusammenfasst werden, die Allgemeine Gleichgewichtstheorie »kultiviere ihre ästhetischen Qualitäten um den Preis der empirischen Irrelevanz und prämiere mathematische Virtuosität statt ökonomischen Sachverstand. [...] Hier wird offenbar Ästhetik gegen empirische Relevanz ausgespielt« (Köllmann 2006: 81; Herv. H.P.).
3. D IE K OMPLEMENTÄRSEMANTIKEN
DER
Ö KONOMETRIE
Wie einleitend vermerkt war die Allgemeine Gleichgewichtstheorie zunächst nur eines von vielen konkurrierenden Theorieunternehmen, während sie ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer Art hartem Kern eines nun tendenziell monoparadigmatischen ökonomischen Mainstreams avancierte. Blickt man auf die Genese dieses Mainstreams, eine Entwicklung, die in der Literatur auch als Übergang From Interwar Pluralism to Postwar Neoclassicism (Morgan/Rutherford 1998) beschrieben wird, so werden vor allem die Herausbildung und Durchsetzung ökonometrischer Modellierungstechniken sowie Praktiken volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung als weitere entscheidende Komponenten genannt (vgl. dazu Backhouse 2002: 237 ff.). Vereinfacht ausgedrückt kann formuliert werden, dass durch die Konstruktion von Kategorien Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung ein Bezug zu statistischen Daten hergestellt wurde, wobei die Ökonometrie als eine Art Scharnier zwischen (Gleichgewichts-)Theorie und (volkswirtschaftlichen) Daten fungierte.4 Boumans charakte-
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Ich kann die epistemische Dimension ökonometrischer Modelle hier nur ganz knapp umreißen: Bei mathematischen Modellen handelt es sich im Kern um Systeme von Gleichungen, die eine bestimmte Anzahl endogener (durch das Modell determinierter) sowie exogener (nicht durch das Modell determinierter, aber auf das Modell einwirkender) Variablen enthalten. Ökonometrische Modelle liegen dann vor, wenn zumindest die Werte einiger Variablen auf empirischen Daten fußen. Boumans bezeichnet Modelle als »economist’s instruments of investigation, just as the microscope and the telescope are tools of the biologist and the astronomer« (Boumans 2005: 2). Als solche erlauben sie einen bestimmten Typus von Beobachtung, nämlich Messung, eine nummerische Repräsentation des jeweils untersuchten Phänomenbereichs. Morgan (1990: 9 f.) erblickt die Bedeutung von formalen Modellen in den Wirtschaftswissenschaften primär in ihrer Rolle als Substitut für experimentelle Methoden, wie sie in den modernen Naturwissenschaften praktiziert werden: Weil Messungen in den Wirtschaftswissenschaften in der Regel nicht unter kontrollierten (reproduzierbaren) (Umwelt-)Bedingungen durchgeführt werden können – der Wissenschaftler hat es mit einem sich permanent wandelnden Objekt zu tun – bleibe
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risiert das Forschungsprogramm der Cowles Commission (ab 1943), die zur wichtigsten institutionellen Geburtsstätte des neuen Wissenschaftstypus zu zählen ist, als »a combination of the Walrasian method, which attempts to construct a mathematical skeleton of system, and econometrics, to put empirical flesh on the bones of the system« (Boumans 2005: 75). Hierin zeigt sich sehr gut das neuartige Arrangement oder auch die Allianz beider Forschungslinien: Wurden mathematische Theorie (zum Beispiel die Allgemeine Gleichgewichtstheorie) und Wirtschaftsstatistik im 19. Jahrhundert in zahlreichen Selbstbeschreibungen von Ökonomen noch als einander diametral entgegengesetzte Zugriffsweisen interpretiert – hier eine deduktiv verfahrende Nutzenmechanik, dort ein induktives Sammeln und Klassifizieren empirischer Daten (vgl. Morgan 1990: 4 f.) –, so wurden sie nun als komplementäre Unternehmungen rekonfiguriert. Diese Konstellation war für die weitere Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften hin zu einer tendenziell monoparadigmatischen Disziplin überaus entscheidend. Es wurden Forschungsraster kodifiziert, die eine solche Synthesekraft entfalten konnten, dass konkurrierende Theorieunternehmen entweder als Spezialfall integriert werden konnten. Hierfür wäre das bekannteste Beispiel die unter dem Namen der neoklassischen Synthese bekannt gewordene Formalisierung und mikroökonomische Fundierung der Keynes’schen Theorie (vgl. Fourcade 2009: 160). Oder sie wurden an den Rand der Disziplin gedrängt und mussten fortan eine institutionell prekäre Existenz als sogenannte heterodoxe Schulen fristen (Beispiele hierfür wären die österreichische Ökonomik oder der amerikanische Institutionalismus).5 Wenn nun in exemplarischer Weise Selbstbeschreibungen aus dem Korpus früher ökonometrischer Texte als eine zu den Attribuierungen der Gleichgewichtstheorie passförmige Komplementärsemantik diskutiert werden sollen, dann geht es darum, Aspekte der Suggestivkraft der neoklassischen Wissenschaftskultur als neuartige Verbindung von Theorie und empirischer Forschung zu rekonstruieren.6 Ludwik Fleck prägte für solche Phänomene des blackboxing im Kontext seiner
das Verhältnis zwischen Daten und theoretischen Gesetzmäßigkeiten prekär. Modelle erlauben eine Stabilisierung des Objektbereichs, indem die zur Messung notwendige Invarianz der Umwelt in das Modell selbst eingebaut wird. 5
Bei Yonay (1998: 188 ff.) wird detaillierter erläutert, wie durch die neuartigen, zur Gleichgewichtstheorie passenden Formen ökonometrischer Modellbildung statistische und empirische Kompetenz zu einem Markenzeichen neoklassischer Ökonomik wurde, während diese zuvor als Domäne des ökonomischen Institutionalismus galt.
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Den Bereich der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) klammere ich aus Platzgründen aus. Deren Wirkungsmächtigkeit entfaltete sich – nachdem die VGR zunächst vor allem im Zuge der Great Depression als nationalstaatliches Analyseinstrumentarium in wenigen westlichen Ländern entwickelt wurde – nach dem Zweiten Weltkrieg insbe-
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wissenschaftssoziologischen Arbeiten zu Denkstilen und Denkkollektiven den Begriff der »Harmonie der Täuschungen« um zu beschreiben, wie »verschiedene Elemente derart ineinander greifen, dass sie in ihrer Gesamtheit nicht mehr als kontingentes Phänomen erscheinen. Sie verlieren scheinbar ihre ontologische Verhandelbarkeit und täuschen in ihrem harmonischen Zusammenwirken vor, dass die Welt – und das Wissen und Beforschen von Welt – immer nur so sein kann, wie es gerade ist« (Niewöhner 2012: 71).
Im Unterschied zu den oben genannten Attribuierungen der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie rekurrieren die Selbstbeschreibungen der Ökonometriker nicht auf Faktoren wie Einfachheit, Eleganz, Geschlossenheit oder Schönheit, also vielfach kunstaffine Semantiken, sondern schöpfen eher aus einem ingenieurswissenschaftlichen beziehungsweise technokratischen Reservoir. Neben der operativen Ebene der Verknüpfung von Allgemeiner Gleichgewichtstheorie und Wirtschaftsstatistik scheint mir auch diese Tatsache semantischer Komplementarität – gerade mit Blick auf die Außendarstellung der Wirtschaftswissenschaften – eine wichtige Erfolgskomponente neoklassischer Wissenschaftskultur gewesen zu sein. Ein wiederkehrendes Motiv besteht in der Betonung eines neutralen, objektiven und politisch indifferenten Status ökonometrischen Wissens, wozu auf die Rigorosität der Naturwissenschaften als Vorbild Bezug genommen wird. Gleich zu Beginn der Constitution der Econometric Society wurde herausgestellt: »The Society shall operate as a completely disinterested, scientific organization without political, social, financial, or nationalistic bias. Its main object shall be to promote studies that aim at a unification of the theoretical-quantitative and the empirical-quantitative approach to economic problems and that are penetrated by constructive and rigorous thinking similar to that which has come to dominate in the natural sciences«. (Roos 1933: 106)
sondere über das Lancieren von Standards beziehungsweise Leitfäden für möglichst einheitliche Berichterstattung. Bos veranschlagt die Bedeutung dieser Leitfäden als »empirical frame of reference for thinking and communicating about national economies« (Bos 2007: 20). Auf Grund der »monopolistic position of national accounts statistics and their world-wide use and acceptance« spricht er von ihnen auch als »universal facts and language«. Speich zu Folge konstituierten diese Leitfäden nationalökonomischer Berichterstattung einen »homogenous space in which it became possible to acquire comparative knowledge about global economic issues. One might call this an epistemic space in which the discipline of development economics found its well-suited niche. [...] The new tool presented an inscription device that increasingly stabilized itself by virtue of its connectivity« (Speich 2011: 19).
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In der ersten Ausgabe der neu gegründeten Zeitschrift Econometrica betont Schumpeter den schulenübergreifenden Charakter der Ökonometrie: »We do not impose any credo – scientific or otherwise –, and we have no common credo beyond holding: first, that economics is a science, and secondly, that this science has one very important quantitative aspect. We are no sect. Nor are we a ›school‹. For all possible differences of opinion on individual problems, which can at all exist among economists, do, and I hope always will, exist among us« (Schumpeter 1933: 5; Herv. i. Orig.).
Die Ökonometrie wird hier ausdrücklich nicht als weitere Variante konkurrierender und möglicher Weise zueinander inkompatibler Forschungsrichtungen ausgeben, sondern als formale Technik, die an den kleinsten gemeinsamen Nennern aller Spielarten von Ökonomik ansetzt: dass die Analyse der Wirtschaft eine wichtige quantitative Komponente besitzt. Gleichwohl bemüht sich Schumpeter, die Ökonometrie innerhalb der ökonomischen Tradition zu verankern und als konsequente Fortschreibung oder Kulmination von Bemühungen auszuweisen, die im Fach bereits seit Langem verfolgt wurden. So wird Walras – als »the greatest of all economists« – bereits zugestanden, einen »decisive step in the quantitative« gemacht zu haben, aber noch dabei gescheitert zu sein, »to move in the numerical line, the junction of which two is characteristic of econometrics« (Schumpeter 1933: 9, Herv. i. Orig.). Noch stärker eingemeindet wird Cournot, dem Schumpeter bereits die Konstruktion eines analytischen Apparates »with a clear perception of the ultimate econometric goal« bescheinigt: »every part of it being thought out so as to fit it to grip statistical fact when the time should come« (ebd.: 8). Hier wird den Wirtschaftswissenschaften ein linearer beziehungsweise inkrementeller Modus von Wissensakkumulation zugesprochen: Was besonders talentierte frühe Fachvertreter bereits antizipiert hätten, aber noch nicht durchzuführen in der Lage waren, wird nun in der Gegenwart praktisch wahr. Diesen frühen Dokumenten aus den 1930er Jahren merkt man noch deutlich die äußerste Vorsicht beim Promoten der neuen Analysetechniken an, keine der existierenden Ökonomengruppierungen sollen sich angegriffen oder in ihrer Existenz bedroht fühlen, ökonometrische Verfahren können ihnen allen gleichermaßen zu Gute kommen. Aus den Texten der unmittelbaren Nachkriegszeit spricht hingegen bereits das Selbstbewusstsein eines Forschungszweiges, der gleichermaßen innerhalb der Disziplin eine erfolgreiche Reputation und Position erworben hat wie auch im Feld der Politikberatung zunehmend nachgefragt wird. So macht Ragnar Frisch die Ökonometrie insbesondere als Instrument von Wirtschaftsplanung stark, als »important factor in eliminating maladjustments between fundamental economic sectors and assure a smooth and progressive utilization of resources« (Frisch 1946: 1). Die Ökonometriker stellt er als »humble and devoted servants« der Gesamtgesellschaft dar (ebd.). Am Beispiel der norwegischen Gewerkschaften wird ökonometrisch an-
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geleitete Wirtschaftspolitik als klassen- und verteilungstheoretisch neutraler Modus von Entscheidungsfindung präsentiert. Die Gewerkschaften hätten »adopted a policy of solving the labor problem without strikes during the period of reconstruction. [...] the fact that they want to use enlarged and improved computations as a means of avoiding strikes, one could almost say as an alternative to strikes, is indeed significant. It seems to open a new era. Also in the part of the employers there is a considerable willingness to let decisions be influenced by objective computations that indicate the underlying facts and relations« (ebd.: 2; Herv. i. Orig.).7
Die Welt sei jetzt »ready and willing to listen to economists and statisticians whose thinking is constructive and disciplined by the rigor of the natural and physical sciences« (Roos 1948: 130), Ökonometriker – »adequately armed with facts« – seien nun in die Lage versetzt, »to affect profoundly the course of economic history« (ebd.: 133). Erstmals sei es möglich, »to forecast with considerable accuracy the […] level of production, income, and employment, months and even years ahead« (ebd.). Hier manifestiert sich ein deutlicher Planungsoptimismus. Die Sphäre der Wirtschaft prozessiert zwar eigenlogisch, ist aber durch wissenschaftliche Durchdringung nahezu vollständig intelligibel gemacht worden, so dass sie zum Objekt steuernder politischer Eingriffe avanciert.
4. N EOKLASSISCHE Ö KONOMIK ALS H ERAUSBILDUNG EINES NEUEN D ENKSTILS UND HEUTIGE T RANSFORMATIONEN Auch wenn die Mainstream-Wirtschaftswissenschaften im Zuge der Krise 2007ff. vielfach kritisiert wurden und werden, dürfte es als weithin offene Frage gelten, inwieweit dies eine nachhaltige Beschädigung ihrer kognitiven Autorität impliziert. Und es dürfte zum gegenwärtigen Zeitpunkt ebenfalls unklar sein, ob mögliche Im-
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Auch Halsmayer/Huber diagnostizieren ein ähnlich gelagertes Selbstverständnis, hier im Fall des ersten neoklassischen Wachstumsmodells: »Solow [sieht] ökonomisches Modellieren als eine Art Handwerk, das sich am besten mit Ingenieursarbeit vergleichen lässt. Wie BauingenieurInnen eine Brücke modellieren, um sie erdbebenstabil zu machen, konstruieren ÖkonomInnen ein Modell der Ökonomie. [...] Im Gegensatz zu social engineers, die konkrete politische Ziele umsetzen, sei es die Rolle von ÖkonomInnen, diese Umsetzung im Vornhinein zu designen. Solow nimmt jedenfalls keine Position in Bezug auf konkrete wirtschaftspolitische Eingriffe ein: Nicht um Wirtschaftspolitik anzuleiten, kreiert Solow ein möglichst einfaches Modell, sondern um zu zeigen, what happens if.« (Halsmayer/Huber 2013: 40; Herv. i. Orig.).
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pulse der Reformation eher von innerhalb oder außerhalb der Disziplin ausgehen. Die obigen Fallstudien sind gegenüber der Situation der Gegenwart historisch ein ganzes Stück zurückgegangen und haben sich der genuinen Konstitution der kognitiven Autorität ökonomischer Expertise gewidmet. Es ging um »Vorstadien« jenes Selbstbewusstseins, das die neoklassische Ökonomik dann vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ausgezeichnet hat. Nützenadel (2005) charakterisiert diese Periode als Zeitalter der Ökonomen, wobei er vor allem auf den flächendeckenden Einbezug ökonomischer Expertise im Feld der Politikberatung abstellt. Aus dieser Zeit stammt zugleich Samuelsons (2005 [1948]: 5) Diktum der Wirtschaftswissenschaft als Queen of the Social Sciences, das auch von führenden Wissenschaftstheoretikern dieser Zeit sekundiert wurde. Popper (1987 [1957]: 48; siehe dazu auch Grabas 2002) beispielsweise hat die Wirtschaftswissenschaft als am weitesten fortgeschrittene Sozialwissenschaft gepriesen, weil diese »ihre Newtonsche Revolution durchgemacht« habe, während die anderen Sozialwissenschaften noch auf ihren Galilei warten würden. Wir haben es offensichtlich mit einer Doppelbewegung zu tun, einer wechselseitigen Verstärkung eines spezifischen Modus interner Differenzierung mit einem Geländegewinn bezüglich gesellschaftsweiter Ausstrahlung. Innerhalb des Fachs ist es zur Herausbildung eines tendenziell homogenen und theoretisch-methodisch integrierten Mainstreams gekommen, der an die Stelle vormaligen Theorienpluralismus getreten ist. Dies hat dazu beigetragen, den gesellschaftlichen Status der Ökonomik zu stärken, eine Entwicklung, die dann ihrerseits die innerdisziplinären Zentralisierungsprozesse weiter gestärkt haben dürfte. Vergegenwärtigt man sich zudem den sozialstrukturell-politischen Kontext der Nachkriegsjahrzehnte mit seinen stetigen Wachstumsraten und egalitärer werdenden Reichtumsverteilungen in allen westlichen Industrienationen, dann erscheint die Transformation der Ökonomik auch von dieser Seite unterfüttert worden zu sein. Was ich mit dem provisorischen Term der »neoklassischen Wissenschaftskultur« gefasst habe, lässt sich durch Bezug auf das Begriffspaar Denkstil/Denkkollektiv verdeutlichen, wie es bei Fleck definiert und oben bereits kurz angesprochen wurde: »Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren. Ihn charakterisieren gemeinsame Merkmale der Probleme, die ein Denkkollektiv interessieren; der Urteile, die es als evident betrachtet; der Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet. Ihn begleitet eventuell ein technischer und literarischer Stil des Wissenssystems« (Fleck 1994 [1935]: 130; Herv. i. Orig.).
War es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch abhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Richtung ökonomischer Forschung, was überhaupt als ökonomischer Sachverhalt und als ökonomisches Problem zu klassifizieren ist, und
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worin eine wissenschaftliche Fragestellung und Herangehensweise zu bestehen hat, wurden diese Kriterien im Fortgang deutlich homogenisiert. Mit Blick auf die globale Diffusion der neoklassischen Wissenschaftskultur nach dem Zweiten Weltkrieg (über Medien wie einführende Lehrbuchliteratur und Curricula, vgl. Pahl 2011) und die parallel verlaufende Marginalisierung vormals gleichrangig konkurrierender Ansätze zu sogenannten heterodoxen Schulen8 kann mit Fleck formuliert werden, dass der »kollektive Denkstil« eine »soziale Verstärkung« erhalten hat: »Er wird zum Zwange für Individuen, er bestimmt ›was nicht anders gedacht werden kann‹. Ganze Epochen leben dann unter dem bestimmten Denkzwange, verbrennen Andersdenkende, die an der kollektiven Stimmung nicht teilnehmen und den Kollektiv-Wert eines Verbrechers haben, solange als nicht andere Stimmung anderen Denkstil und andere Wertung schafft« (Fleck 1994 [1935]: 130).
Damit möchte ich nicht suggerieren, dass die neoklassische Wissenschaftskultur ein gänzlich statischer Block war/ist, wo bereits die anfänglich hinzugegebenen Ingredienzien den Fortgang des Denkstils oder Paradigmas eindeutig determiniert haben. Aber sie hat »Spielregeln« vorgegeben, die den Variationsgrad von als wissenschaftlich valide und solide betrachteten Zugriffsweisen eingegrenzt haben. Auseinandersetzungen wie solche zwischen Monetarismus und Keynesianismus, die ganz bestimmten Interessenkonstellationen innerhalb der Gesellschaft entsprachen/entsprechen (siehe Blyth 2009; Janssen 2006), wurden auf einem vorformatierten analytischen Terrain ausgetragen.9 Und auch noch die innerhalb der MainstreamÖkonomik als Zäsur gehandelte Lucas-Kritik (vgl. Lucas 1972), wonach die großen makroökonomischen Modelle der 1970er Jahre allesamt und kategorisch defizitär seien, weil sie die Antizipationen der Marktakteure auf staatliche Maßnahmen nicht berücksichtigen würden, war kein Ausscheren, sondern vielmehr eine Umstrukturierung innerhalb des Sets kodifizierter Spielregeln neoklassischer Wissenschaftskultur. Die Erblast der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie in der Formatierung der Gesamtdisziplin besteht zum Beispiel in der Omnipräsenz von Optimierungshan-
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Mehr noch: Heterodoxien galten fortan, wie Backhouse dies referiert, oftmals als »(o)rganized groups of economists who hold views that are regarded as beyond the pale – in much the same way that orthodox scientists have no time for parapsychology, homeopathy, phrenology, etc« (Backhouse 2004: 265).
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Dazu führt Yonay aus: »Milton Friedman, the monetarist, and Paul Samuelson, the Keynesian, share the acceptance of mathematical economics, to which both have made numerous contributions, and of econometrics as the methodological armory for deciding between their models. The differences between them are about the coefficients of certain equations, not about the methodology or the general approach« (Yonay 1998: 193).
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deln als fixem Orientierungspunkt von Akteuren und im Rekurs auf sogenannte repräsentative (untereinander gleichartige) Akteure. Die Gesamtwirtschaft wird als Aggregat aller stilisierten Einzelhandlungen konzipiert und weist diesen gegenüber keine emergenten Eigenschaften auf. Es bilden sich über den Gleichgewichtsmechanismus stets markträumende Preise; Dynamik und Neuheit können nur über externe Schocks in die Modellwelten eingeführt werden. Insofern bleibt es nicht nur aus wissenschaftshistorischem Experteninteresse wichtig, die Genese ihres Aufstiegs zu einem disziplinbeherrschenden Standard von so vielen Seiten wie möglich auszuloten, sondern auch, wie Kocyba mit Blick auf die Foucault’schen Forschungen zu einer Geschichte der Wahrheit formuliert, um »das Apriori unserer Gegenwart sichtbar zu machen« (Kocyba 2010: 105). Ein ganz kurzer Blick in diese Gegenwart zeigt einerseits zahlreiche aktuelle Forschungen, die deutlich in der Tradition neoklassischer Wissenschaftskultur stehen. Dies betrifft nicht nur dominante Vermittlungsformen des Fachs in der Lehre, wo es vergleichsweise evident sein mag, dass Curricula und Lehrmittel Veränderungstendenzen nur mit einiger Verspätung abbilden – »Most new textbooks are, generally speaking, clones of existing ones« (Hill/Myatt 2007: 58). Und es betrifft auch nicht nur die Omnipräsenz neoklassischer Deutungsmuster im Wirtschaftsjournalismus oder in massenmedialen Verlautbarungen prominenter ökonomischer Fachvertreter (vgl. Maeße 2012). Sondern es bezieht sich auch auf Expertise und Beratung in den zentralen Organisationen der Weltverwaltung: Im Verlauf der Krise sind insbesondere die sogenannten DSGE-Modelle (Dynamic Stochastic General Equilibrium-Modelle) in Kritik geraten, die seit wenigen Jahren in vielen Zentralund Notenbanken für Prognosezwecke (und insofern mittelbar auch als Determinanten von Geldpolitik) zum Einsatz kommen. Dogmenhistorisch betrachtet gelten sie als modelltheoretische Manifestation beziehungsweise Operationalisierung einer »zweiten neoklassische Synthese« (Goodfriend 2007; Woodford 2009), weil sie erneut, wie bereits bei Hicks und Samuelson ab den späten 1930er Jahren praktiziert, eine Verknüpfung von mikroökonomischer Totalanalyse à la Gleichgewichtstheorie und Keynesianischer Makroökonomik beanspruchen. Andererseits gibt es mehr oder minder deutliche Anzeichen für einen Wandel der Wirtschaftswissenschaften. Colander, Holt und Rosser (2004) sehen innerhalb des Mainstreams eine Reihe wichtiger Entwicklungen, die eine pauschale Klassifikation als »neoklassisch« korrekturbedürftig erscheinen lassen. Ihre Argumente sind um das Auftreten von Forschungsrichtungen zentriert, die mit einem oder mehreren der tradierten neoklassischen Axiome brechen: »We argue that economics is moving away from a strict adherence to the holy trinity – rationality, selfishness, and equilibrium – to a more eclectic position of purposeful behavior, enlightened self-interest and sustainability« (ebd.: 485). Ansätzen wie den Behavioral Economics, den Experimental Economics oder dem Bereich der Komplexitätsökonomik wird das bereits teilweise realisierte Potential zugesprochen, den Mainstream
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gleichsam von innen aufzusprengen und damit eine Transformation herbeizuführen, wie sie seitens der klassischen heterodoxen Schulen im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stets vergeblich angestrengt wurde.10 Wird in Rechnung gestellt, dass maßgebliche Wandlungsprozesse in der modernen Ökonomik über die Ausarbeitung neuartiger Modellierungstechniken stattfinden, dann rückt hier insbesondere der Bereich des Agent-Based Modeling in den Fokus. Originär aus dem interdisziplinären Bereich der Komplexitätsforschung herkommend werden diese Modellierungstypen – verstärkt seit der Krise 2007ff. – nun auch innerhalb der Ökonomik als vielversprechende Erkenntnismedien verhandelt. Sie werden mitunter beschrieben als »only game in town capable to transform the prosaic descriptions of large scale evolution in human societies into somewhat more formal descriptions« (Hanappi u.a. 2009: 1), als »balance between the two methodological poles of formal mathematical modeling and verbal reasoning« (ebd.: 6). Agentenbasierte Modellierungen sind kaum denkbar ohne den Einsatz von Software, sie werden vor allem als Simulationen durchgeführt. Im Unterschied zu traditionellen Varianten mathematischer Modellierung ermöglichen sie einen gänzlich neuartigen Umgang mit Komplexität, an die Stelle linear zu aggregierender repräsentativer (homogener) Akteure rücken lernfähige Agenten (teilautonome Programmbestandteile). Auf der Ebene der Gesamtwirtschaft lassen sich auf diesem Weg Ordnungskonfigurationen abbilden, die aus dem emergente Zustände generierenden Zusammenspiel einer Vielzahl heterogener Akteure resultieren, ohne immer schon – wie in der gleichgewichtstheoretischen Tradition – auf analytisch vordefinierte Synthesemechanismen zu rekurrieren. Gleichgewichtszustände werden in dieser Modell-
10 Auch bei vormaligen Big Shots neoklassischer Ökonomik finden sich Indizien für grundlegende Wandlungsprozesse, so besonders pointiert bei Arrow, der anlässlich einer Befragung von bekannten Fachvertretern zur Zukunft ihrer jeweiligen Disziplin seitens der Zeitschrift Science ausgeführt hat: »The foundations of economic analysis since the 1870s have been the rationality of individual behavior and the coordination of individual decisions through prices and the markets. There has already been a steady erosion of these viewpoints, particularly with regard to the coordination function. Now the rationality of individual behavior is also coming under attack. What is still lacking is an overall coherent point of view in which individual analysis can be embedded and which can serve as a basis for new studies. What I foresee is a gradual systematization of dynamic adjustment patterns both at the level of individual behavior and at the level of interactions and transactions among economic agents. [...] In the course of this development, the very notion of what constitutes an economic theory may well change. For a century, some economists have maintained that biological evolution is a more appropriate paradigm for economics than equilibrium models analogous to mechanics« (Arrow 1995: 1617 f.).
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klasse nicht pauschal negiert, sondern als hochgradig voraussetzungsvolle Spezialfälle rekonstruierbar (vgl. Axtell 2006). Inwieweit sich die erwähnten Alternativen weiter durchsetzen, dürfte zwar unklar sein, es lässt sich aber vermuten, dass die Krise 2007ff. ein eher günstiges Umfeld bereitstellt. Schon Fleck hat festgestellt, dass »große Denkstilumwandlungen [...] sehr oft in Epochen allgemeiner sozialer Wirrnis entstehen. Solche ›unruhigen Zeiten‹ zeigen den Streit der Meinungen, Differenzen der Standpunkte, Widersprüche, Unklarheit, Unmöglichkeit eine Gestalt, einen Sinn unmittelbar wahrzunehmen – und aus diesem Zustande entsteht ein neuer Denkstil« (1994: 124 f.).
Krisen können zu einer schnelleren Entwertung von in ruhigen Zeiten akkumulierten wissenschaftlichen Kapitalien beitragen und so alternativem Wissen zum Durchbruch verhelfen. Eine solche Denkstilumwandlung, ob eruptiv à la Thomas Kuhn ausbrechend oder eher langsam fortschreitend, würde aber auch die nicht primär auf Wirtschaft geeichten Stränge der Sozial- und Kulturwissenschaften dazu veranlassen müssen, ihre Rolle gegenüber der Mainstream-Ökonomik zu überdenken. Forschungsrichtungen wie die New Economic Sociology oder die Wirtschaftsanthropologie konnten bis dato vor allem »parasitär« prosperieren, als Korrektiv gegenüber einer Ökonomik, die sich allzu stark auf Rationalität und Gleichgewicht »eingeschossen« hat. Kieserling erklärt den Erfolg solcherlei häretischer Zweitbeschreibungen nicht zuletzt dadurch, dass sie den latenten Funktionen einzelner gesellschaftlicher Sphären nachspüren, wohingegen die – systemtheoretisch formuliert – offiziellen Reflexionstheorien dieser Bereiche nur auf deren manifeste Funktionen reflektieren: »Man denke hier etwa an Religionssoziologie: der Protestantismus als Vorschule des Kapitalismus; das Gottessymbol als Selbstbeschreibung der Gesellschaft; die eigentliche Religion als unsichtbar in den Kirchen, die sie zu repräsentieren beanspruchen. Oder an Rechtssoziologie: Gesetzgebung als symbolische Politik; Strafverfolgung als kontingente Kriminalisierung; Interaktion im Gerichtsverfahren als symbolischer Beitrag zur Auskühlung und sozialen Isolierung derjenigen, die das Verfahren verlieren. Oder an die Erziehungssoziologie: Schule als Agentur der Reproduktion von Schichtung; Primat des heimlichen Lehrplans vor dem offiziellen Curriculum; Reformprogramme als Selbstbefriedigung eines pädagogischen Establishments, das andernfalls wenig zu tun hätte« (Kieserling 2004: 27).
Eine mögliche neue Mainstream-Ökonomik, die sich – wie für den Fall agentenbasierter Modellierung skizziert – aus dem doppelten kognitiven Gehäuse der Hörigkeit von Homo Oeconomicus und Gleichgewichtstheorie zu befreien in der Lage ist, zugleich aber einen relativ rigiden methodischen Stil beibehalten kann, würde dann
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auch soziologische und anthropologische »Zweitbeschreibungen« der Wirtschaft unter deutlichen Anpassungsdruck setzen.
5. Z UR M ÖGLICHKEIT EINES DISKURSANALYTISCHEN Z UGRIFFS AUF DIE W IRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN Zum einen sollte deutlich geworden sein, dass eine Besonderheit moderner (Mainstream-)Wirtschaftswissenschaft, wie sie uns heute selbstverständlich ist, in ihrem hochgradig formalen Charakter liegt, in der Verwendung von Mathematik als genuinem Medium von Theoriekonstruktion (vgl. Weintraub 2002) sowie von Modellbildung als ubiquitärer epistemischer Praxis (vgl. Morgan 2012). Schumpeter hat die Eigenlogik oder den »Mehrwert« der Mathematik pauschal in den Worten festgehalten: »[M]athematische Theorie bedeutet mehr als eine Übersetzung von nichtmathematischer Theorie in die Sprache von Symbolen« (Schumpeter 2009 [1954]: 1163), um dieser Einschätzung aber noch hinzuzusetzen: »aber ihre Ergebnisse lassen sich im allgemeinen in die nichtmathematische Sprache übersetzen«. Wer nicht über das entsprechende Rüstzeug beziehungsweise die formale mathematische Ausbildung verfügt, kann sich zwar weiterhin über Resultate wirtschaftswissenschaftlicher Forschung informieren, ist aber zunächst einmal von der Überprüfung ihrer Herleitung ausgeschlossen. Morgan spricht bezogen auf den Aufstieg von Modellbildung als dominantem »Betriebsmodus« moderner Ökonomik von einer »introduction of a new way of reasoning to economics« (Morgan 2012: 2 f.; Herv. H.P.), akzentuiert also ebenfalls die Abhängigkeit der Kognition vom jeweils eingesetzten Erkenntnismedium. Dieser Text sollte aber zum anderen aufzeigen, dass es die Möglichkeit gibt, diesen für Außenstehende opak anmutenden Wissenschaftsbereich mit diskursanalytischen Mitteln ein Stück weit aufzuschließen. Gerade weil die Mathematisierung und Formalisierung der Ökonomik auf Kosten andersgelagerter Kompetenzen und Reflexionsformen ging – »[t]he result has been that economists have been able to sustain an uncritical positivist self-image longer than has been possible in other social sciences. The role of language has, generally, not been seen by economists as raising any significant issues« (Backhouse u.a. 1993: 2) – ermöglicht ein diskursanalytischer Zugriff das Ausloten von weithin unbeobachtet gebliebenem Terrain. So verweisen auch die Arbeiten McCloskeys (1998) zu den Rhetorics of Economics darauf, dass Ökonomik keinesfalls als sprachfreie Sphäre rein mathematischer Symbolmanipulation prozessiert, sondern immer auch Vehikel der Überzeugung und Überredung enthält. Weil die Wirtschaftswissenschaften trotz allem Ausmaß an Formalisierung eine empirische Disziplin darstellen, bleiben die dortigen mathematischen Symbolzusammenhänge kategorisch auf Referenzierungen in narrativer Form verwiesen. Düppe spricht von der »interpretive labor of the economics instructors. They literally invent narratives
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for mathematical objects, producing the impression of actual reference« (Düppe 2010: 13). Modelle und Formeln bedürfen, genau wie literarische Texte, der stetigen Deutung und Interpretation (vgl. Horvath 2011: 59). Mit dem Fallbeispiel ästhetischer Attribuierungen der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie und Selbstbeschreibungen aus dem Korpus früher ökonometrischer Texte wurde von mir freilich eine recht »oberflächliche« Schicht ökonomischer Diskursivität analysiert. Damit sind die Grenzen einer im weitesten Sinne diskursanalytischen wissenschaftssoziologischen Strategie keineswegs erschöpft. Mirowski hat beispielsweise in More Heat than Light (1999) herausstellen können, in welcher Weise bereits das originäre »mathematische Skelett« der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie metaphorisch »kontaminiert« ist, weil es sich massiven Konzeptübernahmen aus der Physik des 19. Jahrhunderts verdankt. Es kam zu einer Übernahme dortiger Mathematik durch Austausch dessen, wofür die einzelnen Variablen innerhalb der mathematischen Symbolzusammenhänge standen, zu einer Ersetzung physikalischer durch ökonomische Referenzen: »the core of the neoclassical research program is a mathematical metaphor appropriated from physics in the 1870s which equates potential energy to ›utility‹, forces to ›prices‹, commodities to spatial coordinates, and kinetic energy to the budget contraint« (Mirowski 1989: 176). Dies wirft Fragen danach auf, inwieweit es wissenschaftlich sinnvoll ist, ökonomische Strukturzusammenhänge entlang der Vorgaben einer anderen Disziplin zu modellieren und welche Probleme an einen solchen Import geknüpft sein können. Eine intermediäre Ebene habe ich andernorts analysiert (vgl. Pahl 2013), wo gezeigt werden konnte, dass der Wandel der mathematischen Theoriebestandteile einerseits und der narrativen Ausdeutungen/Referenzierungen dieser abstrakten Symbolzusammenhänge andererseits zwar nicht gänzlich unabhängig voneinander prozessiert, dass aber die Dimension der Erzählungen ganz eigenen Imperativen der Anschlussfähigkeit und Aufmerksamkeit gehorcht als die Weiterentwicklung mathematischer Nachweisverfahren. Weil die mathematischen Strukturen – bei Walras ein System einander simultan determinierender Differentialgleichungen – mit Blick auf das, wofür sie stehen (sollen/können), notorisch unterbestimmt sind, eröffnen sie ganz verschiedenartige narrative Horizonte. So wurde Walras’ Theorie als strenger mathematischer Beweis der Überlegenheit freier Marktwirtschaften interpretiert, aber gleichzeitig von Marktsozialisten verschiedener Couleur als Nachweis der Möglichkeit effizienter Ressourcenallokation ohne Privateigentum an Produktionsmitteln. Diskursanalytische Interventionen ermöglichen es, solchen Deutungskämpfen auf die Spur zu kommen und sie als genuinen Bestandteil der Fachentwicklung ernst zu nehmen. Damit ermöglichen sie es zugleich, den stromlinienförmig gebauten Fortschrittsnarrativen der offiziellen dogmenhistorischen Selbstbeschreibungen der Mainstream-Ökonomik mit Skepsis zu begegnen, ohne sich automatisch den Verfallsgeschichten heterodoxer Kritiker anzuschließen. Während das erste Seg-
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ment vergangene Theoriegestalten über Verfahren rationaler Rekonstruktion unmittelbar in aktuellstes Theoriedesign übersetzt – »by dressing up past ideas in modern garb, often in the form of mathematical models that look just like something that might have appeared in the latest issue of the American Economic Review or the Journal of Political Economy« (Blaug 2001: 150, Herv. i. Orig.) – präsentieren mainstream-kritische Dogmengeschichten oftmals bloße Negativfolien, die spiegelbildlich zu den Selbstbeschreibungen des Mainstreams gearbeitet sind. Die vorgestellten diskursanalytischen Zugriffsweisen machen hingegen ein genealogisches Moment stark, indem sie die Konstitution eines ökonomischen Mainstreams zwar als faktischen Prozess diskutieren, aber auf die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Vorgangs abstellen, auf Kontingenz, Fissuren und den Einfluss sozialer Faktoren. Mit Latour (1987: 15) ließe sich formulieren, dass die neoklassische Wissenschaftskultur nicht als Ready Made Science adressiert wird, sondern Einblicke in den Prozess von Science in the Making gegeben werden.11
L ITERATUR Arrow, Kenneth (1995): Viewpoint: The Future. In: Science. New Series 267, H. 5204, S. 1617 f. Arrow, Kenneth/Debreu, Gerard (1954): Existence of an Equilibrium for a Competitive Economy. In: Econometrica 22, H. 7, S. 265-290. Axtell, Robert L. (2006): Multi-agent Systems Macro: A Prospectus. In: David C. Colander (Hg.): Post Walrasian Macroeconomics. Beyond the Dynamic Stochastic General Equilibrium Model. Cambridge/New York, S. 203-220.
11 Der Stichwortgeber Latour verweist dabei zugleich auf einige Grenzen diskursanalytischer Beobachtungen moderner Ökonomik. In einem Kommentar zu Vogls (2010) Das Gespenst des Kapitals, das die Entwicklung moderner Ökonomik konzise von kulturwissenschaftlicher Warte analysiert, wurde bei Halsmayer und Huber (2013: 49) der Einwand erhoben, wonach die Welt der Wirtschaftswissenschaften bei Vogl – entgegen dessen eigenen Intentionen – wesentlich textuell verfasst erscheint, »sodass die Praxis in Gestalt von Produktionsweisen und Darstellungstechniken, die ihrerseits ökonomische Diskurse formatieren, reduzieren und normieren, in den Hintergrund tritt«. Die dort genannte Limitierung trifft zweifelsohne auch auf den hier verfolgten Zugriff zu. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, wo seitens der Social Studies of Science recht früh auf die konkrete Forschungspraxis reflektiert wurde (vgl. Pickerings (1995) Arbeiten oder die Laborstudien), hat es der dominante Eindruck von Ökonomik als Pen-and-Paper-Science lange Zeit verhindert, der Materialität beziehungsweise Medialität ihrer epistemischen Genres Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
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Die ›(Wirtschafts-)Krisen‹ von 1966/67 und 1973-75 Annäherungen aus historisch-semantischer Perspektive K RISTOFFER K LAMMER
1. E INLEITUNG Wer versucht, den Ursachen jener Weltfinanzkrise nachzuspüren, die in den vergangenen Jahren die Welt in Atem hielt, stößt auf sehr unterschiedliche Antworten. Abhängig vom Ort der Recherche – sei es in Fachliteratur, Politikerverlautbarungen oder der allgemeinen Tagespresse – werden nicht bloß divergierende Gründe und Verantwortliche benannt. Ebenso herrscht Uneinigkeit über den Zeitpunkt, zu dem die ›Krise‹1 scheinbar begann. Wer die Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten fokussiert, datiert den Krisenursprung eher auf das Jahr 2007; wer deren Hintergründe, etwa die Vergabepraxis der sogenannten subprime-Kredite in den USA, thematisiert, geht zeitlich noch weiter zurück. Wer hingegen konkrete Ereignisse wie den Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers ins Zentrum rückt, sieht den Krisenbeginn im Spätsommer 2008. Und zweifellos begann die ›Krise‹ zu diesem Zeitpunkt die politische Kommunikation zu bestimmen – oder aber: aus ihr hervorzugehen. Letzteres verweist auf ein wichtiges Merkmal von Wirtschaftskrisen: Strukturelle Verschiebungen, signifikante Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen münden bisweilen in breitenwirksam vermittelte Deutungen krisenhafter Zuspitzung oder gar anhaltender ›Krisen‹. Mithin sind Krisen nicht allein auf Basis ökonomischer Indikatoren zu beschreiben, obgleich ein – engerer oder weiterer –
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Einfache Anführungszeichen sollen den Konstruktionscharakter der bezeichneten Entität betonen, einen bestimmten Begriff thematisieren oder einen Ausdruck relativieren.
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Konnex zu konjunkturellen Wechsellagen fraglos besteht (vgl. generell Grabas 2012: 263-267). Sie sind gleichfalls ein Phänomen politischer Kommunikation. So stellen ›Wirtschaftskrisen‹ eine spezifische Form der Zeitdeutung dar, die auf wiederkehrenden Aussagemustern basiert. Diese können sich in sprachlicher, sprachbildlicher oder bildlicher Form zeigen. Obgleich ein Blickwinkel, der diese Faktoren untersucht, vielversprechend erscheint, um zu einem erweiterten KrisenVerständnis zu gelangen, hat zumindest die geschichtswissenschaftliche Forschung diese Aspekte bislang ausgeklammert. Dabei erstreckt sich der zusätzliche Erkenntnisgewinn weniger auf die ohnehin oft untersuchten strukturellen Gegebenheiten und einzelnen Ereignisse, die einer Krise den Weg ebnen und Krisendeutungen erst einleuchtend erscheinen lassen. Stattdessen stehen die sprachlichen Modi im Vordergrund, mit denen es verschiedenen Akteuren gelang, ›Krise‹ als Deutungsmuster im Sinne eines »sprachliche[n] Paradigma[s] der Wirklichkeitswahrnehmung und -interpretation« breitenwirksam zu verankern und zu aktualisieren (Leonhard 2001: 21). Wer konnte zu welchen Zeitpunkten eine ›Krise‹ behaupten? Mithilfe welcher sprachlichen Mittel geschah dies? Welche Topoi brachte der Krisendiskurs hervor? Wie konnte ›Krise‹ (sprach-)pragmatisch eingesetzt werden, um politische Argumente und Entscheidungen zu plausibilisieren? Inwieweit lässt der Vergleich zweier Krisen Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen – hinsichtlich der Aussagemuster, Sprachbilder sowie struktureller Merkmale politischer Kommunikation? Der Aufsatz unternimmt den Versuch, sich diesen Fragen anzunähern. Dies geschieht indes nicht am eingangs angeführten Beispiel der aktuellen Krise, die selbst aus zeithistorischer Perspektive für eine historisch-semantische Analyse noch zu sehr ›dampft‹. Stattdessen werden exemplarisch einzelne Merkmale der beiden – auf den ersten Blick höchst unterschiedlichen – ökonomischen Krisen behandelt, die für die Geschichte der Bonner Republik prägend waren: die kurzzeitige Rezession 1966/67 sowie jenes Krisen-Konglomerat, das mitunter als ›kleine Weltwirtschaftskrise‹ (z.B. Abelshauser 2009: 468) bezeichnet wird und ab dem Spätherbst 1973 das Ende einer Epoche markierte, in der zuvor fast alles ›machbar‹ erschienen war. Den empirischen Betrachtungen vorangestellt werden einige generelle Überlegungen zur Anlage eines historisch-semantischen Zugriffs auf Wirtschaftskrisen (2.). Zunächst für beide Krisen differenziert, werden sodann tragende Elemente des jeweiligen semantischen Settings vorgestellt (3. beziehungsweise 4.). Sie leiten zu abschließenden Hypothesen zu Merkmalen politischer Kommunikation in Zeiten von Wirtschaftskrisen über (5.).
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2. ›W IRTSCHAFTSKRISEN ‹ – HISTORISCH - SEMANTISCHE Z UGÄNGE Wer ›Wirtschaftskrisen‹ als Deutungsmuster betrachtet, kann aus vielfältigen Möglichkeiten wählen, einen solchen Ansatz zu operationalisieren. Dies betrifft sowohl Fragen der Quellenauswahl (und damit der berücksichtigten Akteure) als auch des methodischen Vorgehens. Ein klassisch begriffsgeschichtliches, semasiologisch ausgerichtetes Verfahren würde den Krisenbegriff ins Zentrum rücken und auf dieser Basis dessen jeweilige Semantik und pragmatische Verwendungsweisen untersuchen (noch immer grundlegend Koselleck 1982; ferner Koselleck 2006). Dies implizierte, dass ein Deutungsmuster maßgeblich oder gar ausschließlich von einem einzigen Terminus getragen würde, was in Einzelfällen nicht ausgeschlossen ist, im Falle von Wirtschaftskrisen jedoch sehr unwahrscheinlich erscheint. Zwar entstünde eine erweiterte Begriffsgeschichte von ›Krise‹, insgesamt würde eine derartige Begriffsfixierung aber zu kurz greifen, um ein weitgefasstes und komplexes Bedeutungsgeflecht wie ›Wirtschaftskrise‹ zu erfassen. Eine andere Option besteht darin, ›Krise‹ als Kriterium zur Auswahl von Texten, etwa aus der Tagespresse, der Fachliteratur oder Politikerreden, zugrunde zu legen, um ein Korpus zusammenzustellen, das beispielsweise auf Sprachbilder untersucht wird. Solche Ansätze mit sehr aufschlussreichen Ergebnissen erfreuen sich in letzter Zeit zunehmender Konjunktur, vor allem in Nachbardisziplinen wie der Kommunikations- und Literaturwissenschaft (Cetin 2012; Peter u.a. 2012) oder der Diskurslinguistik (Wengeler/Ziem 2010). Gerade letztere erschließt auf Basis eines weiter gefassten Arsenals an Leittermini, darunter ›Krise‹, ›Rezession‹ usw., größere Mengen an (Presse-)Texten und untersucht die so ermittelten Korpora auf Argumentationstopoi, spezifische Krisenvokabulare und konzeptuelle Metaphern. Dieser Ansatz bietet den Vorteil, sehr große Textmengen erfassen und überdies zu belastbaren quantifizierenden Resultaten gelangen zu können (Ziem/Scholz/Römer 2012). Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive nachteilig erweist sich hingegen, dass die Ergebnisse zum einen oft auf einer relativ abstrakten Ebene verbleiben, ihnen zum anderen nur eine Quellenart zugrunde liegt. Gleichwohl sind sie für Studien im Spektrum der historischen Semantik ausgesprochen anregend und informativ. Partiell unbefriedigende Leerstellen ergeben sich bei der Berücksichtigung ökonomischer und politischer Konstellationen sowie unterschiedlicher Akteursgruppen. Anders formuliert: Die Arbeiten erlauben nur bedingt, den Einsatz von Aussagemustern und einzelnen Begriffen in konkreten Situationen des Sprachgebrauchs nachzuverfolgen. Aus diesen Gründen plädiert das Projekt, dem dieser Aufsatz entstammt, für einen dritten Weg. Es bezieht neben Texten der Tagespresse, für die nachfolgenden Fallbeispiele BILD und Süddeutsche Zeitung (SZ), Parlamentsprotokolle ein. So
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lässt sich der öffentliche Sprachgebrauch von Journalisten und Politikern – teils in konkreten (wirtschafts-)politischen Entscheidungssituationen – erfassen. Der beobachtete Wandel in Rede- und Argumentationsweisen wird in Beziehung gesetzt sowohl zu einzelnen Ereignissen als auch zur Entwicklung gängiger wirtschaftlicher Indikatoren. Dies ermöglicht, Hypothesen zum Konnex zwischen wirtschaftlichen und politischen Konstellationen einerseits, semantischen Veränderungen im politischen Kommunikationsraum andererseits aufzustellen. Letzterer sei hier verstanden als kommunikativ verfasster Raum, in dem unter Anstreben breitenwirksamer Gültigkeit Grenzen des Sag- und Machbaren ausgehandelt werden (Definition angelehnt an Steinmetz 2007: 15, Anm. 34). Der Zugang trägt damit Trends Rechnung, die seit geraumer Zeit im Feld der historischen Semantik kursieren und auf die »Erforschung von größeren semantischen Feldern, Satzmustern, Diskursen« abzielen (Steinmetz 2008: 183). Für die eigentliche Zusammenstellung des Korpus verknüpft der Ansatz semasiologische und onomasiologische Zugänge. Der Begriff ›Krise‹ wird als Aufmerksamkeitskriterium herangezogen, um zunächst jene Themenfelder und Debattenstränge zu identifizieren, die den Krisendiskurs konstituierten. Diese Debatten werden weiterverfolgt, auch unabhängig von der expliziten Verwendung des ›Krisen‹-Terminus. Sodann werden die letztlich zu analysierenden Zitate mittels eines satzsemantischen Indikatorenrasters eingegrenzt. Vereinfacht bedeutet dies, dass sich die Analyse allein auf jene Äußerungen konzentriert, die behaupten, dass eine Krise droht oder eingetreten ist, erklären, worin sie besteht und worauf sie sich – thematisch und räumlich – erstreckt, sowie Gründe und mögliche Konsequenzen benennen. Aus größerer Flughöhe betrachtet, kreist der Analysezugang um Zeitkonstruktionen im Spannungsfeld von Gegenwartsdiagnosen, Prognosen und Vergangenheitsbildern. Auf Grundlage eines so erschlossenen Quellenmaterials ist die sprachliche Konstruktion der Krisen auf mehreren Ebenen nachzuvollziehen. Erstens sind wiederkehrende Sprachmuster (Topoi) auszumachen, zweitens im engeren Sinn sprachliche Merkmale wie tragende Begriffe sowie eingesetzte rhetorische Figuren, zum Beispiel Metaphern, zu identifizieren. Drittens werden grundlegendere Beobachtungen zu Merkmalen politischer Kommunikation in Krisen möglich; dies betrifft die Wirkmächtigkeit unterschiedlicher Akteursgruppen, das Verhältnis und die Art von Prognosen und Erklärungen, die verwendeten Beurteilungs- und damit Wissenskategorien sowie die Frage nach verschiedenen kommunikativen Krisenphasen. Gerade auf dieser dritten Ebene weisen ›Wirtschaftskrisen‹ bemerkenswerte Gemeinsamkeiten auf, selbst dann, wenn es sich – wie bei den nachfolgenden Beispielen – um ansonsten sehr differente Erscheinungen handelt.
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3. 1966/67 In Relation zu den Krisenausmaßen der Gegenwart oder jenen, mit denen sich die Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren konfrontiert sah, war die Krise 1966/67 ein überschaubares Phänomen – von Vergleichen mit Weimarer Erfahrungen ganz zu schweigen. Ebenso lassen sich die sprachlichen Mittel und Merkmale, auf denen die Krise fußte, auf einen überschaubaren Nenner bringen; gleiches gilt für die Unterscheidung von Krisenphasen. Während die Historiografie recht pauschal von der Wirtschafts- oder Konjunkturkrise 1966/67 spricht, treten bei einer Untersuchung der zeitgenössischen Semantiken drei jeweils kurze Krisenphasen hervor. Anders als bisweilen unterstellt (vgl. z.B. Görtemaker 1999: 431), verbreiteten sich explizite Krisensemantiken im Sommer 1966 kaum. Die zunehmende Unzufriedenheit mit der Regierung Erhard, die dramatischen Verluste der CDU bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Juli 1966 und die seit August 1966 öffentlich diskutierten Deckungslücken im Bundeshaushalt wurden ex-post zuweilen als erste Krisenphase gedeutet, zeitgenössisch aber nicht so bezeichnet. Vielmehr ist eine Konjunktur von Krisensemantiken erst ab Mitte Oktober auszumachen. Zu diesem Zeitpunkt eskalierte der Streit zwischen Union und FDP über die Frage, wie das mit 4 Milliarden D-Mark taxierte Haushaltsloch zu schließen sei. Das kategorische Nein der Liberalen zu Steuererhöhungen machte ein gemeinsames Konzept unmöglich und führte am 27. Oktober schließlich zum Zerbrechen des Regierungsbündnisses (vgl. Wolfrum 2006: 226). Zentral für diese Phase waren die Topoi von der ›zerstrittenen Koalition‹ und der ›führungslosen Regierung‹. Sie prägten die mediale Kommentierung; schnell aber fanden sie ebenso Eingang in den Sprachgebrauch der Politiker. Vor allem die SPD griff diese Muster auf und setzte sie pragmatisch ein, um auf eine Neubildung der Bundesregierung zu drängen und ihre eigene Regierungsbeteiligung einzufordern. Parallel zum Aufkommen dieser Sprachmuster traten verschiedene ›Krisen‹-Komposita auf, wobei Termini wie ›Koalitionskrise‹ oder ›Regierungskrise‹ dominierten. Als die Sozialdemokraten am 8. November im Bundestag versuchten, Kanzler Erhard zum Stellen der Vertrauensfrage zu zwingen, begründete Herbert Wehner dies mit der »Koalitionskrise [und] der politischen Krise« (Wehner 1966: 3296 D). Er sah die Bundesrepublik in eine »permanente Krise« (ebd.: 3297 D) abgleiten, falls die Union nicht schnell dazu beitrage, eine neue »handlungsfähige Bundesregierung« (ebd.: 3297 C) zu bilden. Das Reden von einer ›Wirtschaftskrise‹ blieb dagegen zunächst ein randständiges Phänomen. Zuvorderst bezogen sich die Krisendiagnosen auf die Zerstrittenheit der Koalition und die den Regierungsparteien unterstellte Unfähigkeit, die finanzpolitischen und sich abzeichnenden wirtschaftlichen Herausforderungen adäquat zu beantworten. Weit weniger bezogen sie sich auf diese Herausforderungen selbst.
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Gleichwohl zeichnete sich im Verlauf des Novembers eine Akzentverschiebung ab, mit der eine stärkere Bezugnahme auf die ökonomischen Probleme – die Deckungslücke im Haushalt und Anzeichen einer beginnenden Rezession – einherging. Sie stand in engem Zusammenhang zu den NPD-Erfolgen bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Am Tag nach der Wahl in Hessen sprach BILD von einem »Alarmsignal« und warnte: »Die deutsche Geschichte lehrt immer wieder: Wenn die Wirtschaft kriselt, wenn Arbeitsplätze wackelig werden, dann gibt der Wähler gerne Radikalen seine Stimme« (BILD vom 08.11.1966: 1). Zwei Wochen später, nach der Bayern-Wahl, appellierte das Blatt: »Packt die Krise in den Schrank! […] Wenn Bonn jetzt handelt, wird es weder eine Wirtschaftskrise noch eine Staatskrise geben!« (BILD vom 22.11.1966: 1). In diesem Kontext – und nur in einem engen zeitlichen Rahmen, der bis Dezember dauerte – traten die in der Historiografie oft angeführten zeitgenössischen Weimar-Vergleiche verstärkt auf. Allerdings dominierten sie die Debatten nicht in dem gelegentlich unterstellten Maße. Die zweite, aus einer semantischen Perspektive spannendste Phase setzte Anfang Dezember 1966 ein. Nachdem der November vom zähen Ringen um eine neue Regierungsmehrheit geprägt war, kam es nach dem Rücktritt Ludwig Erhards am 30. November und der Entscheidung der Unions-Bundestagsfraktion für den badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger als Kanzlerkandidaten zu zügig vorangebrachten Verhandlungen mit der SPD. Als an deren Ende die Bildung der Großen Koalition stand, war dem Sprachmuster von der ›führungslosen Regierung‹ genauso die Basis entzogen wie den Diagnosen einer ›Regierungs-‹ oder ›Staatskrise‹. Statt abzuebben, wie wohl auch Kiesinger annahm, als er in seiner ersten Regierungserklärung von der »lange schwelende[n] Krise« sprach (Kiesinger 1966: 3656 C), die der Regierungsbildung vorangegangen – und ergo nun zu Ende – sei, änderte sich lediglich der Objektbereich der ›Krisen‹-Aussagen. Sie bezogen sich jetzt ausschließlich auf die sich verschärfende ökonomische Situation und wurden getragen von den Topoi der ›unklaren wirtschaftlichen Lage‹ sowie der ›notwendigen Opfer‹. BILD sprach nun von der »Einsicht, daß wir alle Opfer bringen müssen« (BILD vom 14.12.1966: 1), und die SZ nahm die Formulierung Kiesingers auf, nach der die finanzielle und wirtschaftliche Situation unabdingbar »Opfer von allen Schichten« erfordere (SZ vom 24.12.1966: 1) Anders ausgedrückt: Jetzt (erst) begann die ›Wirtschaftskrise‹ die Gegenwartsinterpretationen zu dominieren. Zwar stritten einzelne Akteure munter über die Frage, ob die ›Krise‹ bevorstehe, begonnen habe oder es sich – wie an prominenter Stelle vor allem der Chef der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Anton Sabel, behauptete – um eine Normalisierung handele, weshalb von einer »Krise keine Rede« sein könne (SZ vom 02.01.1967: 7). Doch auch solche Äußerungen ließen den Krisenbegriff zirkulieren, wobei seine Verwendungsfrequenz in der Presse höher als in den Äußerungen der Politiker war.
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Grundsätzlich aber kennzeichnete die Lagebeurteilung eine weitgehende Übereinstimmung; insbesondere prägten die erwähnten Topoi gleichermaßen die Pressetexte wie die Aussagen der Politiker – über Parteigrenzen hinweg. Dies ließ sich besonders augenscheinlich im Januar 1967 verfolgen. Die zu Jahresbeginn von der Nürnberger Bundesanstalt vorgebrachte Warnungsprognose, Anfang Februar sei mit mehr als einer halben Million Arbeitsloser zu rechnen (vgl. ebd.), wurde schon Mitte Januar übertroffen. Entsprechend dramatisch titelte die SZ am 17. Januar »Über eine halbe Million Arbeitslose« (SZ vom 17.01.1967: 1). Zugleich verschlechterten sich im Laufe weniger Tage die Annahmen über eine neuerliche Deckungslücke im Bundeshaushalt 1967; das vom Finanzministerium erwartete Haushaltsloch stieg zwischen dem 7. und dem 18. Januar von 3,6 auf 4,5 Milliarden D-Mark (vgl. SZ vom 07./08.01.1967: 1 f.; SZ vom 18.01.1967: 1). Die Veröffentlichungen immer neuer Warnungs- und bisweilen Angstprognosen schrieben sich als performative Akte in die Debatten ein und wandelten das Muster von der ›unklaren wirtschaftlichen Lage‹ zu dem einer ›zugespitzten wirtschaftlichen Lage‹, das einen nochmals verstärkten politischen Handlungsdruck hervorrief. Diesen Handlungsdruck wiederum konnten die Politiker der Regierungsparteien pragmatisch einsetzen, um ihre finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu plausibilisieren. Vor allem galt dies für jenes Maßnahmenpaket, das unter dem Label der keynesianischen Wende in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte firmiert und begrifflich um die Fixpunkte ›Eventualhaushalt‹, ›Globalsteuerung‹, ›mittelfristige Finanzplanung‹, ›Konzertierte Aktion‹ sowie ›kontrollierte Expansion‹ kreiste (vgl. konzise: Metzler 2005: 315-317; Lütjen 2008: 225-235). Die damit verbundenen Ideen und Konzepte waren nicht neu; sie resultierten aus Diskussionen, die sich mindestens bis Anfang der 1960er Jahre zurückverfolgen lassen (vgl. z.B. Nützenadel 2005: 306; Ullmann 2006: 255 f.). Neu war hingegen, dass die Maßnahmen jetzt weithin als der richtige, erfolgversprechende Weg bezeichnet wurden. Besonders eindrücklich unterstreichen dies die Bundestagsdebatten vom 20. und 26. Januar 1967. Die dort vorgebrachten Handlungsvorschläge ließen kaum nennenswerte Unterschiede zwischen den Rednern erkennen (Beispiele: Kiesinger (CDU) 1967; Emde (FDP) 1967; Möller (SPD) 1967; vgl. zudem SZ vom 27.01.1967: 1 f.). Sowohl die Union, für die eine keynesianisch geprägte Wirtschaftspolitik einen drastischen Umschwung im Vergleich zur Ära Erhard bedeutete, als auch die FDP, die sich als Opposition schon aus strategischen Gründen anders hätte positionieren können, eigneten sich tragende Elemente jenes konzeptionellen Setzkastens an, der zuvor primär Expertenpapiere und SPD-Vorschläge gekennzeichnet hatte. Die dort – über mehrere Jahre – als programmatische und semantische Innovationen aufgetauchten wirtschaftspolitischen Vorschläge setzten sich im politischen Kommunikationsraum nun in kürzester Zeit durch. Dies verdeutlichen nicht nur Positionen der Politiker, sondern auch die wirtschaftspolitischen Kommentare in den Zeitungen. Zügig verbreitete sich die Erwartung, der Staat könne durch die geplanten antizykli-
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schen (Investitions-)Maßnahmen der Krisenerscheinungen Herr werden. Auch die Re-Konzeptualisierung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft, prägnant im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vom Juni 1967 zum Ausdruck gebracht, stieß auf ein verbreitet positives Echo. Dies bedeutete zugleich, dass mit den um den 20. Januar angekündigten Maßnahmen die dritte und längste Krisenphase einsetzte. Sie dauerte bis zum Spätsommer und beruhte maßgeblich auf den Topoi der ›sich bald bessernden Lage‹ sowie der ›eigentlich intakten Wirtschaft‹ – folglich auf Hoffnungsprognosen. Trotz einer unveränderten, sich bis ins Frühjahr 1967 sogar verschlechternden Situation ging die Konjunktur des Krisenbegriffs schlagartig zurück. Meldungen über den zunächst ausbleibenden Aufschwung und eine fortgesetzte Erhöhung der Arbeitslosenzahlen, die im Februar 1967 auf den Rekordwert von fast 700.000 stiegen, führten zwar zu einem partiellen, keineswegs aber zu einem verbreiteten Hinterfragen der optimistischen Erwartungen. BILD beruhigte schon am 14. Februar 1967 mit der These »Unsere Wirtschaft ist gesund« (BILD vom 14.02.1967: 6), verkündete am 16. März »Jetzt geht es aufwärts. 50.000 Arbeitslose weniger« und versicherte, dass die »gegenwärtige Entwicklung […] – nach den oft pessimistischen Prognosen Ende des letzten Jahres – zu den größten Hoffnungen Anlaß« gebe (BILD vom 16.03.1967: 1). Scheinbar bestätigt wurden die Prognosen und konzeptionellen Entscheidungen, als ab dem Spätsommer die erwartete konjunkturelle Erholung tatsächlich einsetzte. (Später zeigte die wirtschaftsgeschichtliche Forschung, dass dafür jedoch vor allem außenwirtschaftliche Impulse verantwortlich waren; vgl. Nützenadel 2005: 327; Ullmann 2009: 151.) Stellt man die Frage, warum die zunächst fortdauernden ökonomischen Probleme den dennoch verbreiteten Optimismus kaum zu irritieren vermochten, hilft ein Blick auf die artikulierten Vorstellungen von der Ökonomie und der Art des Problems, mithin tiefer liegende Semantiken – kurzum: ein Blick auf die verbreiteten Metaphern. Sie entsprangen zwei Gruppen von Sprachbildern: einerseits (indirekten) Krankheits- und Medizinmetaphern, wenn etwa vom »Konzept zur Gesundung unserer Wirtschaft« (BILD vom 07.01.1967: 1), einem notwendigen »scharfen chirurgischen Eingriff« (Kiesinger 1967: 3995 D) oder »Milliardenspritze[n]« (BILD vom 07.07.1967: 1) die Rede war; andererseits Maschinenmetaphern, die in Formulierungen wie der »Konjunktur-Motor bockt« (Thoma 1967: 4) oder der »Geldhahn [wurde] aufgedreht« (Slotosch 1967: 4) zutage traten. Beide waren sowohl mit Diagnosen als auch Handlungsanleitungen und Prognosen kombinierbar. Sie rekurrierten auf die Vorstellung, durch das Stellen an den ›richtigen Hebeln‹ sei die vorübergehende – ›krankheitsbedingte‹ – Schwächung rasch zu überwinden, die sie durch wiederholten Gebrauch zugleich permanent aktualisierten und stabilisierten. Löst man die Perspektive von der Fokussierung auf den Debattenverlauf und einzelne sprachliche Aspekte, treten vier übergreifende Beobachtungen hervor. Erstens das Umschlagen der Krisenphasen zu Zeitpunkten, die aus einer rein wirtschaftsge-
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schichtlichen Perspektive unspektakulär erscheinen. Zu Beginn der zweiten Krisenphase, Mitte Dezember 1966, blieb dem bereits etablierten Krisendiskurs als Objekt nur mehr die wirtschaftlich unklare Lage sowie eine befürchtete Verschlechterung. Beim Übergang zur dritten Krisenphase, gegen Ende Januar 1967, waren es die auf den Weg gebrachten wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die optimistische Erwartungen auslösten. Grundsätzlich könnte man die Krisendebatten damit als Elemente des übergreifenden politischen Zukunftsdiskurses interpretieren. Dann erschiene die ›Krise‹ weniger als wirtschaftliches Problem denn als Herausforderung politischer Steuerung. Dies würde auch erklären, weshalb die Verwendung des Krisenbegriffs signifikant zurückging, als das Steuerungsproblem gelöst schien, obgleich sich die ökonomische Lage noch nicht besserte. Ungeachtet dieser Interpretation zeigt sich – zweitens – eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Situation, wie sie Wachstumsraten und Arbeitslosenzahlen ausdrücken, und Krisendebatten. Letztere gingen den materiell spürbaren Entwicklungen vielfach voraus. Ausschließlich an gängigen Indikatoren gemessen, hätte die Krise ihren Höhepunkt nicht um den Jahreswechsel 1966/67, sondern im ersten Halbjahr 1967 erreicht, denn zu dieser Zeit brach das Wachstum endgültig ein, und die Arbeitslosenzahlen erreichten im März ihren Höchststand. Mit einem Rückgang um 0,2 Prozent wies das BIP erst und nur 1967 eine negative Entwicklung auf (vgl. Holtfrerich 1998: 350, Tabelle I). Drittens fällt nicht nur auf, wie wichtig Erwartungshaltungen als konstitutives Element der Krisendiskussionen waren. Ebenso ist frappant, wie schnell und deutlich die zeitliche Tiefe der Prognosen zurückging. Äußerungen zur Zukunft behandelten überwiegend nur wenige Wochen, allenfalls Monate. Selbst ausdrücklich weiter gefasste Prognosen gingen selten über das Jahr 1970 hinaus. Dies bedeutete einen bemerkenswerten Kontrast zu den auch zeitlich großspurigen Zukunftsplanungen, wie sie die 1960er Jahre kennzeichneten. Die Entwicklung des politischen Handlungsspielraums lässt sich – viertens – auf die Formel des Gewinns durch Verlust bringen. Die finanzpolitischen und ökonomischen Herausforderungen, die Spielräume grundsätzlich beschnitten, ließen sich pragmatisch hervorragend einsetzen, um weitreichende Maßnahmepakete zu begründen. Die Debatten vom Januar 1967 veranschaulichen dies in besonderer Weise. Zugleich führen sie vor Augen, wie die breitenwirksam etablierten Diagnose- und Handlungstopoi zu einer kurzfristig übereinstimmenden Lagebeurteilung führten.
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4. 1973-75 In ökonomischer Hinsicht identifiziert die Historiografie im Jahr 1973 oftmals Anfänge der Gegenwart (vgl. Jarausch 2008) – oder, anders gewendet, das Ende einer Epoche: der 20 Jahre anhaltenden Hochkonjunkturphase des ›großen Booms‹ oder ›goldenen Zeitalters‹ (vgl. Hobsbawm 2007: 503 ff.). Es begann mit einem Konglomerat verschiedener Krisen und stellte die westlich-industrialisierte Welt insgesamt vor neue wirtschaftliche Herausforderungen. Die Bundesrepublik sah sich zwischen dem ›Ölpreisschock‹ 1973 (vgl. dazu Hohensee 1996; Venn 2002; Merrill 2007) und dem Aufschwung 1976 mit einer Problemkonstellation aus Folgen einer Währungskrise nach dem Ende des Systems von Bretton Woods, anhaltenden Inflationstendenzen, ökonomischen Strukturanpassungen, Rezession und zunehmender Arbeitslosigkeit konfrontiert. Allein aufgrund ihrer Dauer, der ungleich größeren Problemkomplexität sowie der räumlichen Ausstreckung erscheint ein Vergleich der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ mit der Krise 1966/67 abwegig (zur Problemkonstellation siehe Abelshauser 2004: 420-426). Betrachtet man aber die Konstitution des Krisendiskurses, treten überraschende Analogien zutage. So finden sich die vier am Ende des letzten Kapitels aufgeführten Charakteristika in sehr ähnlicher Weise. Dies betrifft zuerst die Krisenphasen. Für die Deutung, sich in einem energieoder wirtschaftspolitischen Sinne in einer ›Krise‹ zu befinden, waren weder (bereits) der Ausbruch des Jom Kippur-Kriegs am 06. Oktober 1973 noch (erst) die autofreien Sonntage ab dem 25. November ausschlaggebend. Vielmehr resultierte die Interpretation der Lage als Ölkrise aus medialen Dynamiken um den Monatswechsel Oktober/November. Noch am 26. Oktober hatte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) in einer Regierungserklärung den Fokus auf die sicherheitspolitischen Gefahren des Nahostkriegs gerichtet, die »strategische Bedeutung [des] Gebiets, zu der noch die Erdölversorgung von dort kommt« hingegen nur am Rande angesprochen (Brandt 1973: 3630 C). Zu diesem Zeitpunkt spürten die Niederlande die ersten Auswirkungen der an sie gedrosselten Öllieferungen, und die arabischen Ölförderländer drohten mit einem vollständigen Boykott. Die Presse griff diese Drohungen auf, spielte Szenarien für den Fall eines auch gegen die Bundesrepublik verhängten Boykotts durch und erging sich in vielfältigen Angst- und Warnungsprognosen (vgl. z.B. SZ vom 31.10./01.11.1973: 31). Tragend waren die Muster von der ›womöglich gefährdeten Versorgungslage‹ respektive ›drohenden energiepolitischen Gefahr‹ und damit verbundenen Einschränkungen. Es handelte sich um Analogieschluss-Argumente der Art ›Mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen, sofern auch bei uns Lieferrestriktionen wirken?‹ Die Gedankenspiele verbanden sich mit den zeitgleich auftretenden und synonym verwendeten Begriffen ›Energie-‹ und ›Ölkrise‹. Gerhard Hennemann schrieb in der SZ, hinsichtlich der
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Folgen einer möglichen Ölknappheit seien »der Phantasie […] keine Grenzen gesetzt« (Hennemann 1973: 3), und BILD ließ dieser Phantasie freien Lauf. Freimütig spekulierte das Blatt über die Inhalte eines »›Krisengesetz[es]‹«, das festlege, wer bei Ölknappheit mit drastischen Einbußen zu rechnen habe (Privathaushalte) und wessen Versorgung am dringlichsten sicherzustellen sei (z.B. Bäckereien, Krankenhäuser, Schulen) (vgl. BILD vom 05.11.1973: 1). Wohlgemerkt: Es ging nicht um eingetretene Drosselungen oder aufgetretene Probleme, lediglich um Szenarien. Dennoch verbreiteten sich die Krisensemantiken nicht nur in den Zeitungen, in denen sie die Hauptseiten dominierten, sondern binnen kürzester Zeit auch in den Äußerungen der Politiker. Diese gerieten durch den aufkommenden Krisendiskurs unter einen beträchtlichen Handlungsdruck. Hans Friderichs, der liberale Bundeswirtschaftsminister, warnte vor der nicht unabdingbar eintretenden, aber möglichen Gefahr einer »Versorgungskrise« in der Bundesrepublik (SZ vom 05.11.1973a: 1). In der Bundestagssitzung vom 9. November 1973, in der das Energiesicherungsgesetz verabschiedet wurde, dessen bekanntestes Element die Möglichkeit zur Verhängung von Fahrverboten war, formulierte der CDU-Abgeordnete Hermann-Josef Russe es drastischer. Er sprach von einer »besonderen Notlage«, einem »Krisenfall«, der dieses »›Notstandsgesetz‹« erfordere (Russe 1973: 3833 C - 3833 D). Otto Graf Lambsdorff (FDP) bezeichnete das Gesetz als »Geburt einer Notsituation, die niemand von uns […] verschuldet hat, mit der wir aber fertig werden müssen« (Lambsdorff 1973: 3847 A). Zur Monatsmitte weiteten die Zeitungen das Szenarienspektrum. Nun ging es nicht länger nur um Energieunwägbarkeiten; vielmehr fragte BILD am 15. November: »Rollt auf uns die große Wirtschaftskrise zu?« (BILD vom 15.11.1973: 2) Zunehmend spekulierten Qualitäts- und Boulevardpresse, sich nur in der Wortwahl unterscheidend, über potenzielle volkswirtschaftliche Konsequenzen der Krise. Neben der weiterhin hohen Inflation stand besonders die Gefahr zunehmender Arbeitslosigkeit im Raum. Diese Überlegungen und Befürchtungen prägten die Zeit zwischen Mitte November und Ende Dezember 1973. So warnte auch Bundesfinanzminister Helmut Schmidt (SPD) vor »›erhebliche[n], bisher nicht vorhergesehene[n]‹ wirtschaftliche[n] Auswirkungen für die Bundesrepublik«, die sich »in den nächsten Monaten« aus der Energieknappheit ergeben könnten (SZ vom 21.11.1973: 1). Genau wie Kanzler Brandt kündigte er an, gegebenenfalls mit staatlichen Investitionen kurzfristig gegen Arbeitslosigkeit vorgehen zu wollen (vgl. BILD vom 10.12.1973: 3; SZ vom 31.12.1973: 2). Gleichzeitig nutzte der Finanzminister die ›Krise‹ als Argument, um Anspruchshaltungen zu dämpfen, vor allem im Vorgriff auf anstehende Tarifverhandlungen (vgl. BILD vom 10.12.1973: 3). Am 23. Dezember gaben die Ölförderländer bekannt, dass der Ölpreis bei zwölf US-Dollar pro Barrel – eine Steigerung um den Faktor 4 gegenüber Anfang Oktober – bleiben, es aber keine Lieferreduktionen mehr geben werde. Im Januar 1974 zeigte sich schließlich, dass die Öleinfuhren in die Bundesrepublik 1973 nur mini-
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mal zurückgegangen waren. Die ›Öl-Krise‹ war also eher ein ›herbeigeredetes‹ Phänomen, denn ein Problem, das auf einem tatsächlichen Versorgungsengpass beruht hätte (vgl. Hohensee 1996: 92). In dieser – auf den ersten Blick – (Schluss-) Phase der Krise endete diese indes nicht; stattdessen vollzog sich der Übergang zum nächsten Krisenabschnitt. Dabei ging einerseits die explizite Verwendung des Krisenbegriffs signifikant zurück. Andererseits etablierten sich die Muster, die für das Phänomen der ›kleinen Weltwirtschaftskrise‹ bis Ende 1975 bestimmend sein sollten. Diese gründeten keineswegs ausschließlich, aber maßgeblich auf den Topoi der ›grundlegend gewandelten ökonomischen Rahmenbedingungen‹ und ›neuartigen weltwirtschaftlichen Lage‹. Mit Blick auf die kommenden Jahre, speziell das Rezessionsjahr 1975, überrascht dies kaum. Es überrascht aber, wenn man sich die Situation zu Beginn des Jahres 1974 vergegenwärtigt. Zwar war das Wirtschaftswachstum zurückgegangen und die Arbeitslosigkeit gestiegen. Doch noch immer wuchs das BIP um 2,7 beziehungsweise 2,2 Prozent (4. Quartal 1973/1. Quartal 1974 im Vorjahresvergleich) (vgl. Bundesbank o.J. a), und die Arbeitslosenquote lag bei 1,6 Prozent (vgl. Bundesbank o.J. b). Verglichen mit 1975, als die Wirtschaftsleistung real zurückging und die Arbeitslosenquote einen Rekordwert von 4,4 Prozent erreichte, waren die Zahlen wenig alarmierend (vgl. ebd.). Trotzdem änderte sich bereits jetzt der diskursive Rahmen, in dem Interpretationen der ökonomischen Situation und Begründungen für finanz- und wirtschaftspolitische Entscheidungen vorgebracht werden konnten. Bundespräsident Gustav Heinemann plädierte in seiner Weihnachtsansprache 1973 dafür, Abschied zu nehmen von »einer Bewußtseinshaltung, die überall auf Vermehrung, auf Vergrößerung, auf Beschleunigung gerichtet« sei, und prognostizierte, eine »tiefgreifende Änderung [der] Lebensweise wie auch der Weltwirtschaft und Politik« werde notwendig werden (Heinemann 1979: 187). Willy Brandt warnte in seiner Neujahrsansprache, die »Ölkrise [rufe] einen unerwarteten Konjunktureinbruch« hervor und »das ökonomische Wachstum in allen Industrienationen [trete] in eine Krise, die fortdauern« werde (SZ vom 31.12.1973: 2). Ende Januar sprach er vom »Beginn eines Abschnitts«, dessen Implikationen »weltweit, europäisch und innenpolitisch noch nicht zu übersehen« seien (Brandt 1974: 4769 D - 4770 A). Als besonders markant erwies sich die erste Regierungserklärung Helmut Schmidts als Bundeskanzler im Mai 1974. Sie stand unter den Leitbegriffen ›Kontinuität‹ und ›Konzentration‹ und zielte darauf ab, Erreichtes zu bewahren, nicht länger kostspielige, auf beständig hohe Wachstumsraten und finanzielle Spielräume angewiesene Reformideen zu verfolgen (vgl. Schmidt 1974). Wie in der Krise 1966/67 trat erneut eine zeitliche Ungleichmäßigkeit zwischen Krisendeutungen und der Neuausrichtung grundlegender politischer Rede- und Argumentationsweisen einerseits, den spürbaren wirtschaftlichen Problemen andererseits zutage. Der Krisendiskurs basierte, wenigstens in seinen hier betrachteten Phasen, primär auf Erwartungshaltungen – Szenarien, Warnungen, Ängsten – und lässt
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sich einmal mehr als Element des Zukunftsdiskurses lesen. Auch kennzeichnete die Äußerungen über Krisenursachen und Handlungsmöglichkeiten weitgehende Übereinstimmung. Im November und Dezember 1973 herrschte parteipolitisch und medial grundsätzlich Einigkeit darüber, worin die Krise bestünde und wer sie ausgelöst hätte: die arabischen Staaten, die das ›Öl als Waffe‹ einsetzend die Energiesicherheit der westlichen Staaten gefährdeten. Die Situation wurde als Konfrontation von ›Täter‹ und ›Opfer‹ konstruiert. Der SZ-Journalist Dieter Schröder argumentierte in einem »Die arabische Erpressung« betitelten Artikel offensiv: »Der Kampf ums Öl ist der erste Versuch der Roh- und Kraftstoffproduzenten, die reichen Nationen gefügig zu machen. Die Krise geht in den Wirtschaftskrieg über« (Schröder 1973: 4). Diese Sichtweise führte dazu, dass sich die – de facto beschnittenen – Handlungsspielräume der Regierung kurzfristig erweiterten. Sehr zügig und nahezu widerstandslos konnte sie das Energiesicherungsgesetz inklusive der einschneidenden Möglichkeiten zum Energiesparen durchsetzen. Die Politiker erschienen für die Problemlage nicht unmittelbar verantwortlich, zugleich standen ihren Entscheidungen keine dezidierten Alternativvorschläge gegenüber. Die Sicht- und Argumentationsweisen waren beschränkt. Sprachbildlich unterstrichen wurde dieser aufgezwungene Handlungsmodus durch Metaphern, die eine unvermeidbare Passivität ausdrückten, wenn beispielsweise von einer »Preiserhöhungswelle« die Rede war, der die Bundesrepublik nicht entkommen könne (SZ vom 05.11.1973b: 10). Dies änderte sich im Verlauf der nachfolgenden Krisenmonate und Krisenjahre deutlich; für den weiteren Verlauf der Krisen lassen sich somit sehr wohl gravierende Unterschiede zwischen der Krise 1966/67 und jener ab 1973 ausmachen. Besonders die parteipolitischen Debatten zwischen Mitte 1974 und dem beginnenden Aufschwung 1976 verdeutlichen das Wiederaufkommen von differenzierten Positionen und kontroversen Diskussionen. Zusätzlich zu den Mustern der ›grundlegend gewandelten ökonomischen Rahmenbedingungen‹ und ›neuartigen weltwirtschaftlichen Lage‹ bemühten speziell Politiker von CDU und CSU den Topos von der ›Regierungsverantwortung für die Probleme‹. Während SPD, FDP und die Mehrheit der Journalisten synchron verglichen und die Bundesrepublik in Relation zu anderen Industriestaaten als wenig krisenhaft darstellten, rekurrierten Unionspolitiker auf die eigene Regierungszeit bis 1969 als Referenz (vgl. exemplarisch Carstens 1974: 7852 B - 7852 C). Unter dieser diachron vergleichenden Perspektive erschien der Zeitraum seit Amtsantritt der sozialliberalen Koalition, speziell seit 1973, als Periode unaufhörlich neu auftretender ökonomischer Unwägbarkeiten und Probleme. Die Unionspolitiker prangerten insbesondere den Verlust dauerhaft hoher Wachstumsraten und die anhaltende Inflation an, für die sie eine mangelnde Stabilitätsorientierung der Regierung verantwortlich machten (vgl. exemplarisch Strauß 1974: 6707 C - 6707 D). Die Regierung dagegen brachte wiederholt die »Abhängigkeit von der Weltwirtschaft« (exemplarisch Lambsdorff 1975: 10343 C) als Erklärung in Anschlag.
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Angesichts dieser Erweiterung des Spektrums möglicher Argumentationsweisen unterscheiden sich die späteren Krisenphasen offensichtlich von der kurzen Krise 1966/67. Anders als bei der Kurzzeitrezession sind auch die verwendeten Sprachbilder nicht eindeutig kategorial zuzuordnen. Dies zeugt von der ungleich größeren Problemkomplexität und unterstreicht, dass ab 1973 eine Krisenvielfalt herrschte – eine Verschränkung von Währungs-, Energie-, Struktur- und Konjunkturproblemen. Damit geht einher, dass die zur Krisenbekämpfung angewandten wirtschaftspolitischen Rezepte in den 1970er Jahren nicht auf einen kompakten Katalog reduziert werden können. Es handelte sich um eine Kombination aus Globalsteuerung und erst langsam an Relevanz gewinnenden angebotsorientierten Maßnahmen, nicht um eine rasante Wende von keynesianischen zu monetaristischen Ansätzen (vgl. Schanetzky 2007: 162).
5. F AZIT : M ERKMALE POLITISCHER K OMMUNIKATION IN ÖKONOMISCHEN K RISENZEITEN Trotz aller strukturellen Unterschiede beider Krisen lassen die Diskussionen, aus denen die Deutung entsprang, sich in einer ›Krise‹ zu befinden, Parallelen erkennen. Diese erstrecken sich nicht auf die thematischen Inhalte der Krisendebatten und ebenso kaum auf die semantischen Muster im engeren Sinne. Vom Terminus ›Krise‹ abgesehen, sind es weniger die tragenden Begriffe, Topoi und Sprachbilder, die Analogien zutage fördern. Vielmehr verweist die historisch-semantische Analyse auf prinzipiellere Merkmale politischer Kommunikation in Phasen ökonomischer Krisen. Dies betrifft zuvorderst die relevanten Zeitebenen. In beiden Fällen beruhten die Krisendeutungen zum einen auf Gegenwartsdiagnosen, zum anderen – und primär – auf Erwartungen. Akut eingetretene Probleme waren weniger entscheidend als Szenarien potenzieller Herausforderungen. Die Warnungs- und Angstprognosen zeugen vom Umgang mit aufkommender Unsicherheit über die nur schwer zu antizipierende Entwicklung. Freilich ist es keine neue Sicht, Krisen als Elemente von Zukunftsdiskursen zu interpretieren (siehe – in anderem Kontext – Graf 2008: 369-378). Doch verdeutlichen die angeführten Beispiele, auf welche Weise veränderte Zukunftserwartungen Krisendebatten auslösten: zum einen durch das Artikulieren von Befürchtungen und Warnungen, zum anderen, indem die Zukunftshorizonte drastisch schrumpften. Die zeitliche Tiefe der Zukunftsvorstellungen ging bei beiden Krisen sofort signifikant zurück. Im Winter 1966/67 bezogen sich Prognosen auf die kommenden Monate, das Etatjahr 1967 und in manchen Ausblicken bis auf das Jahr 1970. Im Spätherbst 1973 ging es zunächst um die Frage, mit welchen Einschränkungen im beginnenden Winter zu rechnen sei, folglich nur um wenige Wo-
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chen. In der anschließenden Krisenphase erstreckten sich die Erwartungen zwar wieder auf größere Zeitabschnitte, blieben aber unbestimmt. Bei beiden Krisen stellt die schlagartige zeitliche Kontraktion der Zukunftsvorstellungen einen drastischen Kontrast zur allgemeinen Planungs- und Machbarkeitseuphorie der 1960er und frühen 1970er Jahre dar. Dies verdeutlicht, wie schnell die inhaltlich wie zeitlich weitgehenden Visionen – Ende der 1960er Jahre angereichert um die Hoffnung, sich »am Ende aller Krisen« zu befinden (Metzler 2002) – zu irritieren waren. Umgekehrt auffallend ist die geringe Bedeutung der Vergangenheit als Erklärungsinstanz. Ihre Rolle in den ersten Krisenphasen war marginal. Erst im Zuge größer angelegter Ursachendebatten spielte sie in späteren Krisenphasen eine Rolle, speziell dann, wenn sie als politisches Argument instrumentalisierbar schien, wie in den 1970er Jahren für die CDU/CSU. Kontraktiv wirkten Krisendeutungen nicht nur auf die zeitliche Tiefe von Zukunftsvorstellungen. Ebenso verengte sich das Spektrum möglicher Äußerungen zur Problemlage und den unmittelbar notwendigen (wirtschafts-)politischen Entscheidungen. Die erwähnten Debatten vom Januar 1967 und November 1973 zeugen davon. Anschließend erweiterte sich das Spektrum politischer Positionen wieder; kurzfristig hingegen bestand jeweils ein weitgehender Konsens. (Parallelen zum heutigen Reden von ›Alternativlosigkeit‹ liegen nahe.) Insofern erwiesen sich die ersten Krisenabschnitte in doppelter Hinsicht als Phasen kommunikativer Vorteile für die Regierung. Zum einen fiel der Widerspruch seitens des politischen Gegners und medialer Kommentatoren geringer aus. Der Großen Koalition war es auf diese Weise 1967 möglich, in kurzer Zeit eine wirtschaftspolitische Programmatik zu etablieren, deren theoretische Bezüge und Leitsemantiken einen drastischen Bruch zur bisherigen (Regierungs-)Politik bedeuteten. Dies unterstreicht die Thesen, denen zufolge Krisen institutionellen Wandel gleichermaßen erfordern wie ermöglichen (vgl. Siegenthaler 1993). Zum anderen generierten sich Vorteile für Regierungspolitiker daraus, dass sie ihre Äußerungen prominent platzieren konnten. Berichte über Regierungspläne und Interviews mit Regierungsvertretern dominierten die ersten Seiten der Zeitungen. Erst im längeren Krisenverlauf machten ihnen Kommentare, kritische Reflexionen oder Meinungen von Oppositionspolitikern diesen aufmerksamkeitsfördernden Platz streitig. Auch unter einem anderen Gesichtspunkt spielte die Presse eine einflussreiche Rolle. Zwar unterschieden sich die in der Berichterstattung auftretenden Topoi grundsätzlich nicht von denen im Sprachgebrauch der Politiker. Sie traten dort aber zumeist früher auf. Mithin sind für die konstituierenden Abschnitte und Umschlagphasen der Krisendebatten mediale Dynamiken zu erkennen, die den Wandel der Sicht- und Redeweisen nicht alleine auslösten, aber deutlich beschleunigten. Mehrfach angeklungen ist schließlich die zeitliche Diskrepanz zwischen den Hochphasen der Krisendiskussionen und den Krisenhöhepunkten, wie sie etwa Wachstumskurven und Arbeitslosenzahlen nahe legen. Veränderungen im öffentli-
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chen Sprachgebrauch gingen den materiell fühl- und quantifizierbaren Krisenerscheinungen voraus. Diese Beobachtung gilt auch für den Krisenbegriff selbst. Seine Verwendungsfrequenz war in den Konstitutionsphasen der Krisendebatten höher als in den nachfolgenden Phasen anhaltender ökonomischer Problemlagen. Dies kommt der ursprünglichen Semantik von ›Krise‹ als zugespitzter Situation von zeitlich begrenzter Dauer nahe (vgl. Koselleck 2006: 203 f.). Zugleich bedeutet es einen großen Unterschied zur anhaltend hohen Gebrauchsintensität und nahezu ubiquitären Verbreitung des Krisenbegriffs, die in den nun seit Jahren anhaltenden ›Krisen‹ auszumachen sind.
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Abschaffung von Steuervergünstigungen, 13. Zahlungstermin im Jahr und höhere Rentenversicherungsbeiträge erwogen, S. 1 f. SZ vom 17.01.1967: Über eine halbe Million Arbeitslose, S. 1. SZ vom 18.01.1967: Deckungslücke im Etat beträgt 4,5 Milliarden. Der starke Rückgang beim Steueraufkommen führt zu einer dramatischen Zuspitzung der Finanzlage des Bundes/Strauß um die Zustimmung zu weiteren Ausgabenkürzungen bei anderen Ministern bemüht, S. 1. SZ vom 27.01.1967: Bundestag dringt auf rasche Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft. Alle Parteien unterstützen Etatpläne der Regierung/FDP und SPD für Einsparungen beim Wehretat, S. 1 f. SZ vom 31.10./01.11.1973: Ein Zehntel der Welt-Ölproduktion fällt aus. Die Blockade der Niederlande wirkt vor allem auf die Nachbarländer, S. 31. SZ vom 05.11.1973a: Energie-Krisenplan in der Schublade. Das Bundeskabinett befaßt sich in Kürze mit Entwürfen des Wirtschaftsministers, S. 1. SZ vom 05.11.1973b: Neue Preiswelle bei Heizöl und Benzin rollt. Verteuerung um drei Pfennig je Liter bis Mitte November/Arabische Preiserhöhungen schlagen durch, S. 10. SZ vom 21.11.1973: Folgen der Energieknappheit. Schmidt rechnet mit Gefahr für Arbeitsplätze und nachlassendem Wirtschaftswachstum. Der Finanzminister erwartet »erhebliche, bisher nicht vorhergesehene Auswirkungen« der Krise, SPD-Präsidium fordert von der Bundesregierung vollständige Unterrichtung der Öffentlichkeit, S. 1 f. SZ vom 31.12.1973: Die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers. Brandts Wunsch für das Jahr 1974: Mehr Solidarität und Rücksichtnahme. »Wir haben bisher die Ölverknappung ohne großen Schaden gemeistert«/Aufforderung zum Nachdenken, wie die Wirtschaftsordnung verbessert werden könnte/Für neuen »Schwung in der Ostpolitik«, S. 1 f. Thoma, Franz (1967): Der Konjunktur-Motor bockt. In: SZ vom 23./24.03.1967, S. 4. Wehner, Herbert (1966): Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, 5. LP, 70. Sitzung, 08.11.1966, S. 3296 D - 3299 D.
Das Politische als ›konstitutives Außen‹ des Ökonomischen Grenzziehungen zwischen ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ in historischer Perspektive S TEFAN S CHOLL
1. E INLEITUNG Die Wirtschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum bemüht sich seit längerer Zeit programmatisch um die Aufnahme kulturgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen (Siegenthaler 1999; Berghoff/Vogel 2004; Hilger/Landwehr 2011). ›Kultur‹ als Erklärungsfaktor wirtschaftlicher Phänomene wird seit der Etablierung der Neuen Institutionenökonomie (wieder) anerkannt, als ›kulturell‹ bezeichnete Einflüsse werden in die Analyse der Motive und Folgen wirtschaftlichen Handelns einbezogen. Wichtige neuere Arbeiten haben zudem die Wirkmächtigkeit ökonomischer Wissensproduktion, deren Akteure sowie diskursiven Möglichkeitsbedingungen thematisiert (Tooze 2001; Grimmer-Solem 2003; Nützenadel 2005; Schanetzky 2007; Hesse 2010; Köster 2011). Dennoch ist ein Teil der Debatte nach wie vor von Skepsis und Ablehnung geprägt. Erhebliche Vorbehalte existieren vor allem gegen eine Hinterfragung beziehungsweise Dekonstruktion des eigenen Erkenntnisgegenstandes selbst – nämlich ›der Ökonomie‹ oder des Ökonomischen.1 In einer jüngeren Ausgabe der Zeitschrift WerkstattGe-
1
Vgl. die diesbezüglich skeptischen bis abwehrenden Beiträge einer Podiumsdiskussion zum Thema »Kultur in der Wirtschaftsgeschichte«, die im März 2007 vom Wirtschaftshistorischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik abgehalten wurde. Während Grabas (2007) den Erkenntnisgewinn kulturgeschichtlicher Perspektiven, welche »Wirklichkeit – auch die ökonomische – immer nur als Ergebnis von internalisierten, in adäqua-
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schichte wird dazu im Vorwort bemerkt, der cultural turn habe »die Wirtschaftsgeschichte bisher erst peripher erfasst.« Man verharre zusehends in »eine[r] Art Frontstellung unvereinbar scheinender epistemischer Grundhaltungen […], in welcher man die gegnerischen Positionen karikaturenhaft verkürzte: Hier die positivistisch verblendeten Ökonomen […]; dort die relativistischen Kulturwissenschaftler, die sich in einem postmodernen Gestus ihrer analytischen Instrumente berauben, der Beliebigkeit verfallen und lediglich ›impressionistisch-kontextfreie Nacherzählungen der ›Diskurse‹‹ zu Stande bringen würden« (Dejung/Domann/Speich Chassé 2011: 3; inneres Zitat: Boyer 2007: 188).
Zu dieser Diagnose passt der Eindruck, dass insbesondere sprachgeschichtliche Studien in der Wirtschaftsgeschichte ein Forschungsdesiderat darstellen (vgl. aber beispielsweise Wengeler 1995; Hesse 2004; Hesse 2006; Nonhoff 2006; Stäheli 2007a; Eitz/Wengeler 2013). Weitgehend gleicht die Bedeutung kulturgeschichtlicher Fragestellungen in der Wirtschaftsgeschichte immer noch jener »Stuckfassade an einem Stahlbetonbau« (Conrad 2004: 62), in der man die ›weichen‹ kulturellen Phänomene des Wirtschaftens ausschmückt, den harten Kern des Baus jedoch unbearbeitet lässt. Nimmt man jedoch das Credo ernst, dass es kulturgeschichtlichen Ansätzen nicht um bestimmte ›kulturelle‹ Objekte oder Phänomene neben ›politischen‹, ›ökonomischen‹ etc. geht, sondern um die Frage nach zeitgenössischen »Bedeutungen, Wahrnehmungsweisen und Sinnstiftungen« dieser Phänomene insgesamt (Daniel 2006: 17), dann stehen Historisierungen des Gegenstandes der Wirtschaftsgeschichte selbst noch weitgehend aus (Dejung/Domann/Speich Chassé 2011: 4 f.). Die hier vorgestellte Arbeit, die sich als Teil einer Diskursgeschichte des Ökonomischen versteht, ist in ihrer Ausgangsposition daher notwendigerweise radikal: »Was ansonsten als selbstverständlich gilt, wird nun erst einmal eingeklammert: Es gibt das Ökonomische nicht – sondern diese ontologische Gewissheit muss verfertigt werden. Auf dem Spiel stehen damit also auch die Bestimmung dessen, was überhaupt als ›ökonomisch‹ gelten kann, das heißt, wo die Grenzen des Ökonomischen verlaufen, sowie die kulturellen und politischen Formen, die zur Wirkmächtigkeit dieser Grenzen führen« (Stäheli 2008: 299, Herv. i. Orig.; vgl. Daly 1991; Walters 1999; Diaz-Bone/Krell 2009).
ten Entscheidungen und Praktiken sich niederschlagenden Sinn- und Deutungskonstruktionen der jeweiligen Akteure« erfassen, durchaus hervorhebt, beschränken sich die Beiträge von Boyer (2007), Berghoff (2007) und Spoerer (2007) weitgehend auf (zum Teil polemische) Abgrenzung.
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Eine solche Perspektivierung kann mithin zu der empirischen Vertiefung der Überlegung Werner Plumpes beitragen, dass »die ›moderne Wirtschaft‹ […] keineswegs nur die Summe preisbewerteter Transaktionen [ist], die sich der eigennutzorientierten Rationalität preissensibler Akteure verdankt, sondern ein koevolutiver Komplex aus Semantiken, Institutionen und Praktiken, die erst gemeinsam das ermöglichen, was wir abstrahierend als Wirtschaft ansehen« (Plumpe 2009: 29, Herv. i. Orig.). Im Folgenden steht von diesen verschiedenen Elementen vor allem die »strukturierende Kraft des Sprechens über Ökonomie« (Pahl 2010: 254) im Mittelpunkt. Das Ziel besteht dabei weniger in der Ersetzung von Fragen nach der historischen Wirkungsweise wirtschaftlicher Zusammenhänge als in der Sensibilisierung für eine Perspektive, die annimmt, dass ebenjene Zusammenhänge nicht unabhängig von Sinngebungs- und Deutungsprozessen zu betrachten sind. Damit ist gleichzeitig ein Unterschied zu Formen der ökonomischen Dogmen- beziehungsweise Ideengeschichte benannt: Es wird davon ausgegangen, dass zwischen Ideen von der Ökonomie und ›der Ökonomie‹ selbst keine Trennung besteht, sondern dass Vorstellungen von der Ökonomie, verdichtet in Diskursen und sozialen Praktiken, das Ökonomische in Abgrenzung zu einem ›Äußeren‹ erst konstituieren und seine Wirkmächtigkeit mitbestimmen.
2. D ISKURSIVE G RENZZIEHUNGEN ZWISCHEN ›W IRTSCHAFT ‹ UND ›P OLITIK ‹ Wirtschaft und Politik gelten gemeinhin als unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche oder ›Systeme‹ mit je eigenen Akteuren, Funktionslogiken und Gesetzmäßigkeiten, deren mannigfaltige Wechselwirkungen man untersuchen kann (kritisch: Caporaso/Levine 1992; Kurz 1994; Demirović 2010). Hier wird demgegenüber ein Blickwinkel eingenommen, der in der Problematisierung des Gegenstandes von diskurstheoretischen Ansätzen im Anschluss an Michel Foucault, Chantal Mouffe und Ernesto Lauclau beeinflusst ist. Zentral für diese ist die Überlegung, dass die ›Trennung‹ von Politik und Wirtschaft keiner inneren Grundlage oder Grenze entspringt, sondern selbst als Effekt und Element von Diskursen, sozialen Praktiken und (vor allem im Fall Foucaults) Regierungstechniken, das heißt als eminent »politischer Prozess« (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000: 25) hervorgebracht wird: »Die Autonomisierung gewisser Sphären ist nicht der notwendige strukturelle Effekt von irgend etwas, sondern vielmehr das Resultat präziser artikulatorischer Praxen, die diese Autonomie konstruieren« (Laclau/Mouffe 2006: 182). Mithin geht es nicht darum, klar voneinander abgrenzbare gesellschaftliche Bereiche in ihrer Beziehung und Wechselwirkung zu analysieren. Vielmehr soll herausgearbeitet werden, wie diese Bereiche als ›Einheiten‹ in Abgrenzung voneinander erst hervorgebracht
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werden und »wie umstritten, umkämpft und kontingent gerade diejenigen gesellschaftlichen Bereiche sind, die auch in der soziologischen Analyse üblicherweise mit ehernen Strukturlogiken und harten Gesetzmäßigkeiten gleichgesetzt werden« (Gertenbach 2010: 326 f.). Der politische Charakter der Trennung von ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ ist in analytischer Hinsicht darin zu sehen, dass mit ihr eine grundlegende gesellschaftliche Strukturierung vorgenommen wird. Dies geschieht jedoch nicht ›von selbst‹, sondern mitunter vermittelt über die hier untersuchten Grenzziehungskämpfe, was nicht ausschließt, dass die diskursiv etablierte Trennung extrem dauerhaft und strukturell wirkmächtig ist (vgl. Mouzelis 1990: 34; Jessop 2004). Denn wie Jacinda Swanson betont, sind konzeptuelle und ›praktische‹ Depolitisierung des Ökonomischen untrennbar miteinander verbunden: »Once issues or phenomena are portrayed as ›economic‹ […], political control or regulation is deemed more or less inappropriate. The ways in which the boundary between ›the economic‹ and ›the political‹ is drawn therefore have enormous implications for politics, democracy, and justice“ (Swanson 2008: 57; vgl. auch Teivainen 2002: 1-17; Plumpe 2009: 31 f.).
Richtet man den Fokus auf die Geschichte diskursiver Grenzziehungen zwischen ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ in (deutschen) liberal-ökonomischen Diskursen des 20. Jahrhunderts2, so lässt sich als These formulieren: Das Politische, das heißt, die zeitgenössischen Semantiken, Konnotationen, Begriffe von ›Politik‹, fungiert als ›konstitutives Außen‹ des Ökonomischen. Dies beinhaltet zweierlei: Zum einen entsteht erst über die Abgrenzung von einem Außen, dem Politischen, die Evidenz eines Bereiches ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, Strukturlogiken und Handlungsmuster. Das Außen ist in diesem Sinne also konstitutiv für das Innen, für die ›Evidenz‹ und ›Eigenmächtigkeit‹ des Ökonomischen. Diese Perspektive lehnt sich an poststrukturalistische Überlegungen Derridas, Laclaus und Mouffes an, für die jegliche Bedeutung und Identität eines Diskurses über die Abgrenzung von einem ›Außen‹ konstituiert wird, dabei aber instabil und unabschließbar bleibt, weil die bloße Existenz des Außen eine endgültige Fixierung verhindert (Laclau 1990: 16-32; Laclau/Mouffe 2006: 147-167; vgl. auch Moebius 2005: 131-134; Reckwitz 2006: 345). Auf den hier betrachteten Gegenstand bezogen: Die Gewissheit der Trennung von ›Ökonomie‹ und ›Politik‹ setzt zugleich die Möglichkeit der Grenzüberschreitung ein und muss daher über Zuschreibungen an ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ fortlaufend vergewissert werden. Das ständige sprachli-
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Die hier präsentierten Thesen und Ergebnisse stellen einen Ausschnitt meines Dissertationsprojektes mit dem Arbeitstitel »Trennungsgründe. ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ im 20. Jahrhundert« dar.
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che Arbeiten an der Grenzziehung lässt sich insofern als Stabilisierung des ökonomischen Diskurses lesen. Zum anderen kann dieses Außen, also das Politische, aber auch als konstitutiv für das Ökonomische begriffen werden, wenn man den empirischen Inhalt wirtschaftsliberaler Diskurse auf der Ebene der Äußerungen betrachtet. Es geht dort selten um eine totale Negierung von ›Politik‹. Vielmehr werden an ›die Politik‹ diverse Forderungen herangetragen, die sie gegenüber ›der Wirtschaft‹ erfüllen soll – in einer bestimmten Art und Weise. Sehr populär im Deutschen ist beispielsweise der Begriff der ›Ordnungspolitik‹, der ein genaues Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik etabliert, nämlich die notwendige Rahmensicherung des wettbewerblichen Marktprozesses, jedoch keine ›politischen Eingriffe‹ in das Marktgeschehen (Foucault 2006: 235-252; Ptak 2004: 134 ff.; Eucken 1949: 92 f.). Es wird hier gewissermaßen immer wieder jenes Dilemma verhandelt, das neomarxistische Theorien des Verhältnisses von Politik und Wirtschaft als Spannungsverhältnis von »Einheit und Widerspruch« (Hirsch/Kannankulam 2008: 77) strukturell beschrieben haben: Demzufolge wurde das Auseinandertreten von Politik und Wirtschaft notwendig, weil es nach der Auflösung personaler Herrschaftsverhältnisse eines Bereichs der politischen Herrschaft bedurfte, der den Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaftsformation sichern konnte (Hirsch 1994; Wood 1981; Blanke/Jürgens/Kastendiek 1975). Andererseits ist dem Politischen, speziell im Zusammenhang der erfolgenden Demokratisierung, stets ein Moment der Kontingenz und der »relativen Autonomie« eigen (Poulantzas 1974: 26 f.), das es aus Perspektive des ökonomischen Diskurses unbedingt zu begrenzen gilt.3 An drei Beispielen soll die These in groben Zügen verdeutlicht werden: Erstens möchte ich zwei zentrale Sprechergruppen beleuchten, die ihre hervorgehobene Diskursposition über das Ökonomische maßgeblich aus der Abgrenzung zu ›politischen‹ Argumentationsweisen bezogen (und beziehen), nämlich ›wissenschaftliche‹ Ökonomen und Unternehmer (3). Zweitens beschreibe ich anhand einiger Beispiele, wie negative und positive Ausformungen des Politikbegriffs im liberalökonomischen Diskurs beschaffen waren (4). Zuletzt lässt sich am Beispiel der De-
3
Stellvertretend sei hier Claus Offe länger zitiert, da er diese Problematik treffend umreißt: »Insofern ist die Politisierung von Ordnungsfunktionen, die die marktgesteuerte Ökonomie nicht mehr aus sich selbst erzeugt, eine zwar unumgängliche, aber zweischneidige und selbst widersprüchliche Problemlösung; sie konfrontiert den Staatsapparat mit der Aufgabe, nicht nur empirisches Interesse der Einzelkapitale und Funktionsvoraussetzungen des Gesamtkapitals in Einklang zu bringen, sondern auch die politischen Prozesse, mit deren Hilfe dies allein gelingen kann, so zu kanalisieren, dass ihr relatives Eigengewicht die Grenzen einer kapitalistischen Produktionsweise nicht verletzt« (Offe 2006: 73; Herv. i. Orig.).
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batten um Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie zeigen, wie Differenzbehauptungen von ›politischen‹ und ›ökonomischen‹ Bereichen in konkreten Argumentationen verwendet wurden (5).
3. Ö KONOMEN UND U NTERNEHMER DES Ö KONOMISCHEN
ALS
›F ÜRSPRECHER ‹
Die Ziehung der ›richtigen‹ Grenze zwischen Wirtschaft und Politik wurde und wird von unterschiedlichen Sprechern in verschiedensten Kontexten vorgenommen. Dabei ist gerade das Zusammenspiel von einer »Spezialisierung wirtschaftswissenschaftlichen [und -praktischen; S.Sch.] Wissens […] und seiner alltagssprachlichen Plausibilisierung […] zentral« (Hesse 2004: 72; vgl. Callon 1998: 2). Die Sprechergruppe, der hierbei hervorgehobene Bedeutung zukommt, besteht aus den ›Fachleuten‹ des Ökonomischen, das heißt Ökonomen, Unternehmern sowie Wirtschaftsjournalisten und -politikern. Gemeinsam ist ihnen die Berufung auf ein berechtigtes Sprechen im Namen der Ökonomie, sei es qua gesichertem ›wissenschaftlichen‹ Wissen oder qua fachlich-praktischer Erfahrung. Die Abgrenzung eines Bereichs ökonomischer Gesetzmäßigkeiten von ›Politik‹ und ›politischen Argumenten‹ war dabei Teil ebenjener Berechtigungsargumentation und konstitutiv für ihre herausgehobene Sprecherposition (Gibson-Graham 1996: 96). Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts bildete sich sukzessive die Vorstellung des Ökonomischen als eines autonom nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ablaufenden Bereichs heraus. Nun erst konnte und musste dieser Bereich in Beziehung zu den ihm äußerlichen Handlungen des Staates und der Politik gesetzt werden (vgl. Foucault 2006: 39 f.; Gertenbach 2007: 27; Tellmann 2007; Plumpe 2009: 45 f.; Plumpe/Köster 2009). In diesem Zuge kam es auch zu ersten ›wissenschaftlichen‹ Abgrenzungsversuchen von Political Economy als Wissenschaft und der Wissenschaft der Politik (vgl. Rothschild 2001; Collini/Winch/Burrow 1983). In Frankreich wandte sich etwa Jean-Baptiste Say gegen die Vermischung von »Economie Politique« und »Politique Seul«: Erstere solle seit Adam Smith nur noch für die Wissenschaft von den Reichtümern verwendet werden, letztere zur Bezeichnung der Beziehungen zwischen der Regierung und dem Volk und den Regierungen untereinander (Say 1841 [1803]: 3). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde dann das Wort ›Political‹ in der Wissenschaftsbezeichnung ›Political Economy‹ problematisch und sukzessive durch ›Economics‹ ersetzt (vgl. Bürgin/Maissen 1999). Laut dem britischen Ökonom Henry MacLeod war die Bezeichnung ›Economics‹ nunmehr vorzuziehen, da sie zeige, dass diese Wissenschaft »aber auch gar
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Ö KONOMISCHEN
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nichts mit Politik, sondern ausschließlich mit Eigentum zu tun habe« (MacLeod 1874: 893; Übersetzung S.Sch.).4 Selbst wenn diese Begriffsmodifikationen im deutschen Sprachraum größtenteils skeptisch beurteilt wurden, da die Historische Schule der Nationalökonomie die moralisch-politische Dimension ihrer Wissenschaft stets betonte: Um die Jahrhundertwende entbrannte auch hier ein Streit um die »Politisierung« der ökonomischen Wissenschaft und Forderungen wurden laut, »das spezifisch ›Ökonomische‹ zum Mittel- und Angelpunkt« wissenschaftlicher Betrachtungen zu machen (Pohle 1911: VI; vgl. hierzu Nau 1996). In langen Debatten etablierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Trennung einer primären ›rein-ökonomischen‹ Theorie von einer ›politisch-ökonomischen‹, die in einem zweiten Schritt die ›politischen‹ Irritationen umso klarer offenzulegen gedachte. So meinte der Nationalökonom Andreas Voigt, »[d]a ja Volkswirtschaft ohne Politik an sich möglich [sei], [lasse] sich eine vollständige Trennung einer unpolitischen oder ›reinen Ökonomie‹ von der ›politischen Ökonomie‹ durchführen«. Dadurch könne man eine »politikfreie Wirtschaft vor der politisch beeinflussten« darstellen (Voigt 1928: 851). Zurück ging diese Unterscheidung maßgeblich auf Franz Oppenheimer, der schon 1907 zwischen dem »ökonomischen Mittel« (äquivalenter Tausch der eigenen gegen fremde Arbeit) und dem »politischen Mittel« (unentgoltene Aneignung fremder Arbeit) unterschieden hatte und dies 1922 in seine »Theorie der reinen und politischen Oekonomie« überführte (Oppenheimer 1923 [1907]: 16 f.; Oppenheimer 1964 [1922]). Die Aufteilung in eine ›reine‹ und eine ›politische‹ Ökonomie – wenn auch nicht unumstritten – wies der Nationalökonomie ein privilegiertes Erkenntnisobjekt zu, dem spezifische Gesetzmäßigkeiten zuerkannt wurden. Gerade die Vorstellung von der Absonderung eines von allem ›Politischen‹ abstrahierenden Bereiches des Ökonomischen konnte den seit jener Zeit allseits erhobenen Vorwürfen von ›politischen‹ Beeinflussungen der Wirtschaft als wissenschaftlich bezeugtes Fundament dienen. Zudem unterliegt diese Vorstellung auch dem ›unpolitischen‹ Expertenstatus der Ökonomen und den zahlreichen späteren wirtschaftswissenschaftlichen Beratungsgremien wie etwa dem Sachverständigenrat, besser bekannt als ›Wirtschaftsweise‹ (vgl. Nützenadel 2005: 152-174; Metzler 2005: 170-180). Während die akademische Nationalökonomie ihre Deutungsmacht aus ihrem Status als ›Wissenschaft‹ bezog, präsentierten sich führende Unternehmer und Arbeitgeberverbände immer wieder als praktische Sachverwalter ›der Wirtschaft‹ gegenüber den sachfremden Ansprüchen ›der Politik‹ und ›der Politiker‹. Seit der Weimarer Republik bis in jüngste Zeit finden sich in der Unternehmerpublizistik
4
Orig.: »Hence Economics is the very best term that could be selected to denote the science which treats of the exchanges of property. It is also preferable to Political Economy, because it shows that it has nothing whatever to do with politics, but only with property.«
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unzählige Aufrufe zur Beschäftigung mit der und Einmischung in die Politik. Meist gingen sie von der Beobachtung aus, dass das Schicksal der Wirtschaft zunehmend durch politische Maßnahmen beeinflusst würde. Dies erschien den meisten zeitgenössischen Beobachtern als gefährliche Entwicklung. Mit der Etablierung der parlamentarischen Demokratie nach 1918/19 tauchten erstmals die Begriffe der ›Ökonomisierung der Politik‹ und, umgekehrt, der ›Politisierung der Wirtschaft‹ auf. Sie markierten Eindrücke der schädlichen Grenzüberschreitung, speziell der unsachgemäßen, ›politischen‹, ›parteilichen‹ Behandlung ›ökonomischer‹, eigentlich objektiv lösbarer, Probleme. Um zu erreichen, »dass auch in der Politik wirtschaftliche Angelegenheiten von wirtschaftlichen Sachverständigen maßgeblich beeinflusst werden«, so eine typische Forderung, sollten sich alle Unternehmer in die Politik einschalten (Duisberg 1933: 105). Den Vertretern ›der Wirtschaft‹ als Verkörperung ökonomischer Vernunft und wirtschaftlichen Sachverstandes musste aus dieser Argumentation heraus eine prominente Rolle zukommen. Zum einen setzten sie sich allgemein für eine Verbreitung des Problembewusstseins für ›wirtschaftliche‹ Anliegen ein. Da »Sachkenntnis eine wichtige Barriere gegen politische Demagogie« sei, plädierte man beispielsweise dafür, »in der politischen Bildungsarbeit und dem Gemeinschaftskundeunterricht der Schule die Kenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge zu pflegen« (Stein 1968: 61). Zum anderen sollte sich die Stimme ›der Wirtschaft‹ aber besonders gegenüber ›der Politik‹ bemerkbar machen. Denn »wenn sich nicht rechtzeitig diejenigen zu Wort melden, die wirtschaftliche Sachkenntnisse und Erfahrungen mitbringen«, so die Befürchtung, würde »die Politik der kommenden Jahre auf Kosten der Wirtschaft gemacht« (Triesch 1961: 256). Speziell die Unternehmer müssten dafür sorgen, »dass wirtschaftliche Fakten und wirtschaftliche Vernunft bei den politischen Entschlüssen Pate [stünden]«, da ansonsten »sozialpolitische Schwärmerei zu Entschlüssen [führe], die die Wirtschaft gefährdeten« (Krauss 1968: 203). Wie diese wenigen, aber charakteristischen Beispiele deutlich machen, bezogen und beziehen beide Sprechergruppen ihre herausgehobene Diskursposition aus der Abgrenzung von ›Ökonomie‹/›Wirtschaft‹ und ›Politik‹: im ersten Fall aus der erkenntnistheoretischen Privilegierung ›rein-ökonomischer‹ Theorie gegenüber ›politischen‹ Betrachtungsweisen und Beeinflussungen, im zweiten Fall in der Repräsentation als fachlich berechtigte und personalisierte Stimme ›der Wirtschaft‹ gegenüber tendenziell unwirtschaftlicher ›Politik‹.
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4. P OLITIKBEGRIFFE IN LIBERAL - ÖKONOMISCHEN D ISKURSEN Die Verwendung des Politikbegriffs in wirtschaftsliberalen Diskursen lässt sich grob aufspalten in a) die Thematisierung des Politischen als Problem, tendenzielle Gefahr und Störer des Ökonomischen und b) positive Politikbegriffe und Anforderungen an eine gute ›Politik‹ gegenüber dem Ökonomischen. a) Speziell infolge der Einrichtung der parlamentarischen Demokratie 1918/19 erschien das Politische verstärkt als Problem für das Prozessieren des Ökonomischen. Zum einen wurde nun beklagt, dass das Politische selbst seine einheitliche Gestalt verändert habe, Politik sich mit dem Eintritt der ›Massen‹ auf das Austragen von ökonomischen Interessenkämpfen reduziere, repräsentiert durch die Parteien, und nicht mehr für das große Ganze stehe: So wurde innerhalb des Deutungsmusters der ›Verwirtschaftlichung‹ oder ›Ökonomisierung der Politik‹ argumentiert: Das »Vordringen wirtschaftlicher Fragen [habe] vielerorts eine Zersplitterung der politischen Parteien in ökonomische Gruppen zur Folge« (Bonn 1925: 130). Durch die »Ökonomisierung der politischen Parteien«, die »›Ingerenz‹ der Wirtschaft in die Politik«, würden die »großen Gesichtspunkte«, das heißt die »rein politischen und staatlichen Fragen« im Bewusstsein der Bevölkerung zunehmend in den Hintergrund gedrängt (Hurwicz 1917: 1309 u. 1312). Sowohl der rechtskonservative und ordoliberale Begriff des ›starken Staates‹ als auch der spezifisch nationalsozialistische Diskurs des ›Primates der Politik‹ in den 1930er Jahren fügten sich genau in solche Zeitdiagnosen ein. Diese Lage, das ›Verkommen‹ von Politik zur wirtschaftlichen Interessenvertretung, wurde oftmals als ursächlich für die andere Seite der Grenzüberschreitung abgeleitet, nämlich die verstärkte ›Politisierung der Ökonomie‹. Dieses Argumentationsmuster bezeichnete die Unsachlichkeit und Schädlichkeit der als vermehrt wahrgenommenen, nationalen wie internationalen ›politischen‹ Eingriffe in den Wirtschaftsablauf. ›Politik‹ wurde in diesem Bedeutungsstrang gleichgesetzt mit Unsachlichkeit, Irrationalität, Parteilichkeit und Schwerfälligkeit, gerade im Unterschied zum ›eigentlich‹ sachlich-vernünftigen und optimalen Prozessieren des Ökonomischen. Wie Owen D. Young, Präsident des General Electric-Konzerns und Namensgeber des Young-Plans, 1928 vortrug: »Politics and particularly democracies, are not well adapted to deal with economic situations« (Young 1930: 240). Der Ökonom Herbert von Beckerath kam seinerseits zu dem Schluss, dass die »Gefährdung der Wirtschaft aus der politischen Sphäre heraus […] in keinem großkapitalistischen Lande zur Zeit so stark wie in Deutschland« sei. »Die ständige politische Beunruhigung« bedrohe die Existenzbedingungen der modernen Industriewirtschaft (Beckerath 1928: 613 f.). Von »den politischen Parteien«, so eine weitere Einschätzung, sei »eine sachliche Prüfung der wirtschaftlichen Notwendigkeiten
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nicht zu erwarten« (Reusch 1926: 1066). Angesichts der »Vergewaltigungen der Wirtschaft« gelte es aufzuhören, die »großen wirtschaftlichen Fragen […] durch das politische Nadelöhr zu treiben« (Niethammer 1924: 78). Die »Atmosphäre der Wirtschaft« müsse »freier [werden] von bürokratischen und politischen Einflüssen des Staates und der parteipolitischen Organisation« (Goldschmidt 1928: 32 f.). Auch in der Bundesrepublik wurde an diese weithin etablierten Deutungsmuster der drohenden Unsachlichkeit, Schädlichkeit und Willkür von ›Politik‹ in Gestalt von ›Parteipolitik‹ in der parlamentarischen Demokratie angeschlossen. Das »›Politik-Spielen‹«, kritisierte der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer Alfred Flender 1956, finde in der Bundesrepublik oftmals wie »in irgendeinem ›Ghetto‹« statt, in dem »alles, was von der Wirtschaft und von unserer hervorragenden Wirtschaftspresse gesagt und geschrieben wird, […] völlig wirkungslos [bleibe]« (Flender 1956: 149). Stattdessen gebe man aus ›politischen‹ Gründen der Wiederwahl materielle Versprechungen ab, die der Wirtschaft den Boden entzögen. Durch »Polemik und Unsachlichkeit« versuchten die Parteien Wähler zu gewinnen, »wo doch echte Aussage und klare Formulierung notwendig wäre« (Lauff 1969: 199). Den gesamten »gegenwärtigen politischen Stil« kennzeichne die Vorrangigkeit »politische[r] Zweckmäßigkeit« vor »nationalökonomische[r] Richtigkeit« (Zeidler 1956: 433). In diesem Zuge werde die »Staatspolitik« sowohl den persönlichen Interessen der Politiker wie auch »dem Parteiinteresse« untergeordnet (Schröder 1957: 1). Wissenschaftlich gekleidet wurden solche Zuschreibungen beispielsweise in der Public Choice Theorie oder der Neuen Politischen Ökonomie, die den politisch-demokratischen Prozess als Wettbewerb beschrieben, in dem Politiker als Anbieter um die Stimmen der Wähler-Konsumenten konkurrierten. In Folge »zunehmende[r] Demokratisierung« würden »sowohl die größeren wie die kleineren Entscheidungen der Wirtschaftspolitik […] in immer stärkerem Maße in der Öffentlichkeit diskutiert«, so der Schweizer Nationalökonom Walter Jöhr. Den politischen Parteien komme es vor allem darauf an, »die bisherigen Wähler weiter an sich zu ketten und neue zu gewinnen.« Im Resultat gerate »die Wirtschaftspolitik fast ausschließlich zur schwankenden Resultante wahlstrategischer Überlegungen« (Jöhr 1949: 623). Die Demokratie zeitigte in diesen Lesarten ihr inhärente »institutionelle Probleme«, die sich in »Spannungen zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Sicht« entluden: auf der einen Seite die »auf Stichtage der Wahl« fokussierte »politische Betrachtung«, auf der anderen Seite die »ökonomische[…] Logik« als »reine[…] Zweckmäßigkeitsüberlegung« (Hellwig 1957: 5). Gemeinhin erschien ›die Wirtschaft‹ als Objekt und Opfer der dem politisch-demokratischen Prozess inhärenten Schwächen (vgl. Scholl 2011). Dabei, so die Argumentationskette, müsse ›die Politik‹ selbst im Sinne der Stabilität doch an der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft interessiert sein. b) Um ebendiese Leistungsfähigkeit zu erhalten, bedurfte es spezifischer Formen von ›Politik‹, nämlich einer ›rationalen‹, ›sachgerechten‹ Politik, einer Politik,
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die den Erfordernissen und vor allem den Belastbarkeitsgrenzen des Ökonomischen Rechnung tragen musste, einer »Politik der wirtschaftlichen Notwendigkeiten« (Vögler 1924: 225) anstelle von »Illusionspolitik« (ebd.: 223). Als negativ galt demnach »[j]ede Politik auf Kosten und zu Lasten der Wirtschaft«, die »im Endergebnis eine Politik auf Kosten und zu Lasten aller Bürger und des Staates« sei (Dietz 1974: 87). Gebündelt wurde diese Art der Politik in der Bundesrepublik beispielsweise in den stigmatisierenden Begriffen der »Geschenkpolitik und Verteilungspolitik« (Berg 1966: 240) oder der »Gefälligkeitspolitik« (Reusch 1965: 5). Positiv davon abgehoben wurde eine »Politik, die unter Beachtung der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten für die Erhaltung und Förderung aller produktiven Kräfte sorg[e]« (ebd.), denn »[w]ahrhaft fortschrittliche Politik [nehme] immer auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten Rücksicht« (Berg 1966: 240). Die Verantwortlichkeit solch positiv projektierter ›Politik‹ für ›die Wirtschaft‹ konnte unterschiedliche Bereiche betreffen, deren oberstes Aggregat im Begriff der ›Globalsteuerung‹ erreicht war. Zentral wurde klassischer Weise auf die »Sorge um das Geld, die Sorge um die Währung« als »eine Sorge der Politik« mit äußerst »hohe[m] Rang im Raum des Politischen« hingewiesen (Bethmann 1962: 181). Am Beispiel ›schwacher‹ Währungen sah man den allgemeinen Beweis erbracht, »dass die zentrale Verantwortung für Geldwertstabilität und Konjunkturverlauf bei den politischen Instanzen lieg[e]«, denen es aber zu oft an der »richtigen Courage mangel[e], dem als richtig erkannten Ziel durch harte Politik zum Erfolg zu verhelfen« (Wolf 1964: 181 f.). Zusammen mit der Preis- und Geldwertstabilität konnte aber auch der Konjunkturverlauf insgesamt im Verantwortungsbereich ›der Politik‹ liegen. »Die Konjunktur von morgen«, so das Handelsblatt, erwachse »aus dem Mut zu neuen Strukturen«, die »zunächst in der Politik zu bauen und somit Sache der berufenen Politiker [seien]« (N.N. 1958). Diese Sichtweise wurde besonders Ende der 1960er Jahre mit der nun auch institutionalisierten staatlichen Gesamtverantwortlichkeit für die Konjunktur untermauert. »Der weitere Konjunkturverlauf häng[e] primär von politischen Entschlüssen ab« und davon, wie schnell die »rasche Neugestaltung der Wirtschaftspolitik« wirksam werden könne, so eine damalige Einschätzung im Volkswirt (Die Redaktion 1966: 12). Charakteristischer Weise operierte ein Großteil des Planungsdiskurses aber zugleich gerade mit der Trennung von ›irrationaler Politik‹ und ›wissenschaftlich-sachlicher Planung‹ (siehe etwa Liefmann-Keil 1949; Wissler 1954). Auch der in den 1960er Jahren aufkommende Begriff der ›Strukturpolitik‹ bündelte weitere Bedeutungsdimensionen der politischen Verantwortlichkeit für die ökonomische Entwicklung. So zählte es Hans Freiherr von Tucher von der Bayerischen Vereinsbank auf dem Wirtschaftstag der CDU/CSU 1967 zu den »politischen Voraussetzungen einer gesunden Wirtschaft«, dass der Staat »beständig auf die Verbesserung und Anpassung der Wirtschaftsstruktur hinarbeiten [solle], um ihre Leistungsfähigkeit zu fördern und auf der Höhe der Zeit zu halten« (Tucher 1967: 77).
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Den Anspruch auf Gültigkeit bezogen derartige ›ökonomische‹ Ansprüche an ›die Politik‹ aus dem Beharren auf der eigenen Gesetzmäßigkeit, Evidenz und Empfindlichkeit des Ökonomischen, die eine vorsichtige, sachverständig beratene ›Politik‹ nötig machte, keinesfalls aber eine ›politische‹, von irrationalen Wählermassen gesteuerte ›Parteipolitik‹. Der Politikbegriff, der in solchen Proklamationen breite Verwendung fand, war demnach spezifisch umgrenzt: Da Wirtschaft und Politik oftmals als ›schicksalhaft‹ aufeinander angewiesen betrachtet wurden, hatte jegliche ›Politik‹ die konkreten Bedürfnisse ›der Wirtschaft‹ zu beachten. Unter diesen Vorzeichen konnte ›der Politik‹ mitunter doch wieder der Primat zugesprochen werden, der dann in erster Linie ihre Verantwortlichkeit gegenüber wirtschaftlichem Wohlergehen, Stabilität und Wachstum bezeichnete, weniger eine eigene, autonome Gestaltungsfähigkeit (vgl. Abromeit 1981: 99 f.).
5. D IE U NÜBERTRAGBARKEIT › POLITISCHER ‹ K ONZEPTE AUF › DIE Ö KONOMIE ‹ AM B EISPIEL M ITBESTIMMUNG Die etablierten Trennungen und damit einhergehenden Semantiken von ›ökonomischem‹ und ›politischem‹ Bereich konnten ebenso dazu dienen, Demokratisierungsforderungen des Ökonomischen abzuwehren. Dies wird besonders deutlich in den Mitbestimmungsdebatten, die sich sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik in ähnlichen Diskursmustern entspannten. Als sich der Reichsverband der Deutschen Industrie 1929 auf einer Tagung eigens mit dem gewerkschaftlichen Konzept der ›Wirtschaftsdemokratie‹ auseinandersetzte, bildete das bekannte Argument der wesensartigen institutionellen Verschiedenheit von Wirtschaft und Politik das Fundament, auf das die These aufbaute, »die Regeln politischer Demokratie [seien] auf die Wirtschaft schlechterdings nicht übertragbar« (Winkler 1971: 312; vgl. auch Schneider 1975: 165). So war der Industrielle Jakob Herle der Meinung, die Arbeiterbewegung erstrebe »die Anwendung der politischen Demokratie auch auf einem Gebiet, für das ein Hineintragen der Politik überhaupt das Ende der Entwicklung bedeuten würde.« Durch die Einsetzung eines »Kollektivwillens« würden »individuelle Initiative« und »Verantwortung« vertrieben (Herle 1929: 7). Laut Abraham Frowein war »Demokratie in der Politik […] nicht zu vergleichen mit Demokratie in der Wirtschaft, denn Wirtschaft produziert, Politik aber korrigiert. Was auf dem einem Gebiet Idealnorm sein kann, ist auf dem anderen Gebiete Hemmschuh« (zit. n. Schneider 1975: 165). Als Konsequenz der Einführung von wirtschaftsdemokratischen Elementen wurde vor allem die »Politisierung der Betriebswirtschaft« heraufbeschworen, welche »mit der Führung der Geschäfte nach den Gesichtspunkten der Rentabilität und des Unternehmungsinteresses« in Konflikt geraten müsse (Muhs 1929: 85). Zu den »natürlichen Mühseligkeiten der ei-
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gentlichen Arbeitsverrichtung« werde zwangsläufig »das scharfe brennende Gewürz der politischen Leidenschaft« treten (Holthöfer 1929: 159). Eine ähnliche Argumentation der unzulässigen Übertragung ›politisch‹ gültiger Ideale und Mechanismen auf einen ›ökonomischen‹ Zentralbereich verfolgten die Kritiker der Mitbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Schneider 1998; Schneider 1973). Es kennzeichne geradezu eine »Begriffsverwirrung«, wenn man glaube, »das Prinzip der politischen Demokratie ließe sich auf die Wirtschaft einfach übertragen. Als ob die beiden Bereichen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten dieselben und untereinander austauschbar wären!« (Schwarz-Schilling 1965: 447). Das »fragwürdige Wort […], dass die Demokratie nicht am Fabriktor haltmachen dürfe«, beinhalte »eine völlige Verkennung der Unterschiede des politischen und des wirtschaftlichen Bereichs« (Frickhöffer 1970: 84). Während es in der ›Politik‹ um Machtentscheidungen gehe, wurde dem Ökonomischen eine davon absehende Sachlichkeit zugeschrieben, die durch die Übertragung ›politischer‹ Begriffe gefährdet werde: Die »pauschale Übertragung demokratischer Kontrolle auf gesellschaftliche Institutionen mit vornehmlich unpolitischen und unterschiedlichen Sachzwecken muss zur Politisierung nicht politischer Sachverhalte und damit auch zu einer geistigen Entleerung führen« (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 1975: 21 f.) Im Aufzeigen der Konsequenzen einer Übertragung ›politischer‹ Prinzipien auf den ›ökonomischen‹ Bereich der Betriebsführung lässt sich wiederum zwischen ›wirtschaftlichen‹ und ›politischen‹ Konsequenzen unterscheiden. Denn wie IHKPräsident Ernst Schneider betonte, bedeutete die Umsetzung umfassender Mitbestimmungsforderungen »nicht allein nur eine höchst gefährliche Deformation unserer Demokratie, sondern auch eine Gefährdung der Funktionsfähigkeit unserer gesamten Wirtschaft« (Schneider 1969: 285). Auf der ›wirtschaftlich‹ negativen Seite wurde die drohende Unsachlichkeit der Entscheidungen, vor allem der personellen, verbucht. So trete an die Stelle eines »in erster Linie von der persönlichen Qualifikation seiner Mitglieder getragenen Vorstandes […] ein schwerfälliger, dem politischen Leben nachgebildeter Apparat« (Osthold 1950: 4). Wichtige Posten würden »nicht nach ökonomischen, sondern nach politischen Kategorien besetzt« und somit »politischen Manipulationen im Aufsichtsrat Tür und Tor geöffnet« werden. Doch auch über Personalentscheidungen hinaus sei eine durchdringende Politisierung unternehmerischer Entscheidungen zu erwarten, eine Steuerung nach dem »politische[n] Proporz, gemessen an dem Kompromiss zwischen Ökonomie und politischer Opportunität« (Balke 1968: 667). Speziell die Einbeziehung ›betriebsfremder‹ Gewerkschaftsangehöriger wurde als Wurzel der Politisierung kritisiert, denn damit werde »die sachliche und private Sphäre in den Betrieben gestört, d.h. die Betriebe würden wieder zu einer politischen Zelle umgestaltet oder wenn man will: gleichgeschaltet« (Eymüller 1951: 11). Die pejorative Semantik des ›Funktionärstums‹ traf sich hier mit der ›Betriebsfremdheit‹ der ›von Außen‹ kommenden Gewerk-
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schaftsvertreter, die sich »als politische Heilsbringer« verstehen würden (Irgel 1974: 827). Die zweite Gruppe negativ prospektierter Auswirkungen war im Vergleich zu den bis hierhin vorgestellten eher auf der ›politischen‹ Ebene angesiedelt. Neben Grenzen prinzipieller Art, die dem politischen Zugriff auf die Wirtschaft durch deren Eigengesetzlichkeit gesetzt seien, dürfe »[i]m Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft […] keine Demokratisierung Unternehmerverantwortung und Eigentumsrecht aufheben« (Böhm 1967: 18). Größer noch als die »wirtschaftliche Machtzunahme der Betriebe auf Kosten der Konsumenten würde die politische Autoritätszunahme der vom Mitbestimmungsrecht charakterisierten Betriebe gegenüber Regierung und Volk sein«, so der Ordoliberale Franz Böhm (Böhm 1951: 244, Herv. i. Orig.). Während in der marktwirtschaftlichen Ordnung die wirtschaftliche Macht der Unternehmen »geteilt, systemgebunden und in sich ausbalanciert [sei], so dass sie als solche bereits vom Wirtschaftssystem her auch in ihrer politischen Effizienz weitgehend neutralisiert [sei]« (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 1966: 28), führe die paritätische Mitbestimmung zu einer »einzigartige[n] Zusammenballung wirtschaftlicher und politischer Macht, die alle bekannten Trusts, Konzerne und Kartelle in den Schatten stell[e]«. Somit würde »[d]as Ende der sachlichen, d.h. gegenüber dem Politischen streng abgegrenzten Betriebssphäre […] auch das Ende der ökonomischen und auf die Dauer auch der persönlichen Freiheit bedeuten« (Eymüller 1951: 10 f.).
6. S CHLUSSBETRACHTUNG Die Frage nach dem ›richtigen‹ Verhältnis von ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ war (und ist) Bestandteil heftiger Deutungskämpfe und Auseinandersetzungen. Über sprachliche Abgrenzungen, Bedeutungszuschreibungen und Hierarchisierungen wurde (und wird) von verschiedenen Sprechern versucht, die Grenzen zwischen Ökonomischem und Politischem zu fixieren, zu plausibilisieren und zu vergewissern. Indem man vorgefertigte Verständnisse dessen, was die Untersuchungsgegenstände Ökonomie und Politik ›eigentlich‹ sind, zurückstellt und stattdessen die diskursiven Muster und Semantiken ihrer Abgrenzung selbst fokussiert, gerät ein wichtiger Teil jener »diskursiven Strategien in den Blick, mit Hilfe derer erst die ›Reinheit‹ des Ökonomischen angestrebt wird« (Stäheli 2007: 506). Wie hier anhand mehrerer elementarer Debattenzusammenhänge gezeigt werden sollte, kann das Politische als ›konstitutives Außen‹ des Ökonomischen betrachtet werden. Das von Ernesto Laclau in Anlehnung an Derrida entwickelte Theorem des ›konstitutiven Außen‹ beschreibt die widersprüchliche Situation, dass das Außen (das Politische) zum einen die Möglichkeitsbedingung der Identität des Inneren (des Ökonomischen) be-
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reitstellt, dessen volle Identität durch seine (notwendige) Präsenz jedoch zugleich blockiert und ›bedroht‹ (Laclau 1990: 21, 31 f.). Das Abgrenzen des Ökonomischen von ›Politik‹ sowie ihre In-Beziehung-Setzung wirken somit »stabilisierend und destabilisierend zugleich« (Reckwitz 2006: 345), denn im Moment der Abgrenzung ist auch die Möglichkeit der Grenzüberschreitung eingeschlossen, was eine ständige Vergegenwärtigung der Grenzen notwendig macht: Gerade weil ›Ökonomie‹ und ›Politik‹ als getrennt beschrieben werden, oder, um nochmals Poulantzas aufzugreifen, dem Politischen eine relative Autonomie zu eigen sein scheint, muss eine ›gute‹, ›begrenzte‹ Politik gegenüber dem Ökonomischen von ihren negativen Bedeutungen unterschieden werden. Sowohl auf der empirischen Ebene der getätigten Äußerungen als auch auf einer abstrakteren Ebene erscheint das Theorem des ›konstitutiven Außen‹ somit plausibel für die Analyse des Grenzziehungsdiskurses. Die temporär etablierten Grenzziehungen zeitigen zudem äußerst wirkmächtige und machtvolle Effekte. In den hier nur grob angerissenen Beispielen lassen sich diese in den legitimierten Sprecherpositionen (Ökonomen und Unternehmer), der Einhegung politischer Handlungsspielräume gegenüber dem Ökonomischen (liberal-ökonomische Politikbegriffe) sowie der Abwehr ›grenzüberschreitender‹ Maßnahmen (Mitbestimmungsdebatten) ausweisen. Die Abgrenzung von ›Parteipolitik‹ und ›politischen Argumentationen‹, die Kritik unzulässiger ›Politisierung‹ und Übertragung ›politischer Methoden‹ auf ›die Wirtschaft‹, die Forderung einer sachlich angemessenen, ökonomische Sachzwänge respektierenden ›Politik‹: All das sind zentrale Elemente des hier untersuchten Grenzziehungsdiskurses, der historische Wurzeln hat, dessen Dekonstruktion aber auch aktuell eminent wichtig scheint.
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Bestätigende und herausfordernde Impulse in der kokreativen Interaktion Kokreative Wertschöpfung unter den Bedingungen von Koopetition am Beispiel der Ideenplattform jovoto1 N ADJA M ARLENE A NTOINE UND H OLGER G ERHARDT
1. E INLEITUNG Zahlreiche Kreative – Grafiker, Texter und freie Medienkünstler – nutzen webbasierte Plattformen als Marktplatz für ihre Fähigkeiten. Die erwarteten Vorzüge der Interaktion mit anderen Kreativen im Netzwerk motivieren sie dazu, ihre Ideen in einen gemeinsamen Entwicklungsprozess einzubringen. Die Kommunikationsformen und -bedingungen in sogenannten Kokreationsnetzwerken sind häufig von einer Gleichzeitigkeit des Wettbewerbs um die besten Ideen und der Zusammenarbeit mit anderen in einer Community geprägt. Für diese Form der Interaktion hat sich der Begriff »Koopetition« – englisch co-opetition, als Zusammenziehung von cooperation und competition (vgl. Brandenburger/Nalebuff 1998) – etabliert. Koopetition erzeugt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Motiv, als wertvoll betrachtete Ideenbeiträge anderer zu unterstützen, und dem Motiv, die eigenen Gewinnchancen zu erhöhen. Mancher Ökonom hält es für ausgeschlossen, dass diese Motive nebeneinander bestehen könnten – und für ausgemacht, welches die Oberhand gewinnen wird: »[...] individuals who need to cooperate with one another should not be grouped into the same tournament« (Lazear 1992). Trotz dieser denkbar ungünstigen theoretischen Voraussetzungen hat sich die auf Koopetition basierende kokreative Wertschöpfung in den letzten zehn Jahren
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Dieser Beitrag beruht auf konzeptionellen Überlegungen, erhobenen Daten und empirischen Analysen aus der Dissertation von Nadja Marlene Antoine.
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behauptet und diverse Organisationsformen hervorgebracht. Die von uns untersuchte Internetplattform jovoto (Abbildung 1), die kreative Dienstleistungen zwischen Produzenten und Abnehmern vermittelt (Intermediär), stellt davon lediglich eine dar. Abbildung 1: Startseite von jovoto
Quelle: www.jovoto.com vom 21.08.2012.
Abhängig vom Kontext, dem Ursprung und der Zielsetzung der Kreativität, werden kokreative Netzwerkaktivitäten u.a. unter den Bezeichnungen collective consumer creativity beziehungsweise innovation-oriented online consumer communities (Kozinets/Hemetsberger/Schau 2008), commons-based peer production (Benkler 2006), crowdsourcing (Howe 2008), distributed cocreation (Bughin/Chui/Johnson 2008) und interaktive Wertschöpfung (Piller/Reichwald/Ihl 2007) erforscht. Mit der Erforschung kokreativer Wertschöpfungsmodelle wird an den Paradigmenwechsel in der Industrie von geschlossenen zu offenen Innovationssystemen (vgl. Chesbrough 2003) und an das erstaunliche Innovationspotential von Nutzergemeinschaften in der Open-Source-Softwareentwicklung angeknüpft (vgl. von Hippel/von Krogh 2003; von Hippel 2002, 2005, 2007). Eine Fragestellung betrifft die Motivation für die – oft unentgeltliche – Teilnahme an diesen wertschöpferischen Aktivitäten (vgl.
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Brabham 2008; Jeppesen/Frederiksen 2006; Lakhani/Wolf 2005; Lerner/Tirole 2001). Ein weiterer Bezugspunkt der Forschung ist die Schaffung von Innovation, die aus der Überschneidung von Unternehmens- mit Kunden- beziehungsweise Nutzerinteressen erwächst (vgl. Bughin/Chui/Johnson 2008; Füller/Jawecki/Bartl 2006; Lakhani/Panetta 2007; Sawhney/Verona/Prandelli 2005). Hingegen wurde die koopetitive Interaktionsform als Faktor für Innovation im Netzwerk bisher kaum untersucht. Ausnahmen bilden Studien, in denen die Interdependenz von kooperativen und kompetitiven Handlungsmotiven und ihre Wirkung auf Innovation am Beispiel von Special-Interest-Communities (Franke/Shah 2003) beziehungsweise von Firmen beauftragten Ideenwebsites (Hutter u.a. 2011) untersucht wurden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen deuten auf die Fruchtbarkeit eines koopetitiven Handlungskontextes für die Ideenentwicklung hin. Nicht berücksichtigt wurden allerdings die mit der auf Kreativität gerichteten Koopetition unmittelbar einhergehenden kommunikativen Mechanismen. Unbeantwortet ist daher noch die Frage, ob das aus Koopetition erwachsende wertschöpferische und innovative Potential in der Kommunikation der Teilnehmer selbst nachzuweisen ist. Im vorliegenden Text untersuchen wir eben dies: die auf Kommunikation basierende kokreative Wertschöpfung unter den Bedingungen von Koopetition am Beispiel der Ideenplattform jovoto. jovoto ist ein Berliner Internetunternehmen, das seit 2008 am Markt agiert. Es vermittelt konzeptionelle und gestalterische Leistungen von selbstständigen Akteuren der Kreativwirtschaft auf Basis offener Kollaboration an Unternehmen und Organisationen. Für die Bearbeitung der Projekte rekrutieren sich bei jovoto registrierte Teilnehmer (Crowdsourcing), die sich während eines in der Regel etwa zweimonatigen Zeitraums der Einreichung und Entwicklung ihrer Ideen gegenseitig kommentieren und bewerten. Aus den Bewertungen der »Community« – so werden die bei jovoto Registrierten genannt – ergibt sich das Ranking der Ideen: In der Regel wird der »Community Prize« unter den ersten zwölf Plätzen aufgeteilt (Abbildung 2). Der Community Prize stellt dabei keine bloße Auszeichnung durch die Community dar, sondern ist in der Regel mit einem Preisgeld dotiert. Die Höhe des Preisgeldes je Wettbewerb wird vom jeweiligen Kunden, der den Wettbewerb in Auftrag gibt, bestimmt. Nach Abschluss der Einreichungs- und Bewertungsphase entscheidet der Kunde – möglicherweise die Community-Wertungen berücksichtigend –, ob er die Rechte für die Verwendung eines Ideenansatzes kaufen möchte. Von den entwickelten Ergebnissen wird somit nur ein Teil praktisch umgesetzt. Ideen auf jovoto werden also unter den Bedingungen der Koopetition entwickelt. Die Ausarbeitung der Ideen erfolgt kokreativ, insofern sie durch eine auf sie gerichtete Kommunikation im Netzwerk (Diskussions-Threads) begleitet wird. Geleitet ist die Falluntersuchung daher von der Frage, wie das Verhältnis zwischen Kooperation und Wettbewerb im Kokreationsnetzwerk bestimmt ist und wie dieses Spannungsverhältnis auf Kreativität wirkt.
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Abbildung 2: Beispiel für einen Ideenwettbewerb (Ranking und Preise) auf jovoto
Quelle: www.jovoto.com vom 21.08.2012.
Kreativität ist hier in zweierlei Hinsicht angesprochen: Zum einen sagt die Platzierung einer Idee im Wettbewerb etwas über die kreative Qualität des Ideenansatzes aus. Die Platzierung kann als Maß für die Kreativität einer Idee herangezogen werden. Zum anderen bildet Kreativität aber auch einen gemeinsamen kommunikativen Bezugspunkt des Netzwerks. Sie gibt den Impuls in der kommunikativen Interaktion, durch den zur Weiterentwicklung eines Ansatzes angeregt wird. Entschieden wird jeweils: Ist der Ansatz – zumindest in einigen Aspekten – zu befürworten, und wie ist er weiterzuentwickeln? Beide Ebenen der auf jovoto zu beobachtenden Kreativität berücksichtigen wir in unserer Analyse: Wir betrachten sowohl den Grad der Beteiligung an den einreichungsbegleitenden Konversationen als auch die Struktur, nach der die Interaktionen verlaufen. Beides untersuchen wir daraufhin, in welchem Verhältnis es zum Ergebnis – zur Platzierung der Idee – steht. Die Basis dieser Untersuchung bilden die Daten zur Beteiligung an den Interaktionen zu den Gewinnerbeiträgen in zehn ausgewählten Ideenwettbewerben auf jovoto. Unter Beteiligung verstehen wir die Häufigkeit, mit der Ideen angesehen und bewertet werden, die Anzahl der Teilnehmer an einer Konversation im Thread zur jeweiligen Einreichung sowie die Anzahl der Kommentare in diesem Thread. Innerhalb der Thread-Konversationen analysieren wir insbesondere das Verhältnis zwischen Kommentaren, die einen Vorschlag bestätigen, und solchen, die ihn her-
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ausfordern. Wir stellen fest, dass in fast allen die Ideation begleitenden Interaktionen ein Wechselspiel aus Bestätigungen und Herausforderungen als charakteristisches Merkmal zu beobachten ist. Wir beobachten zudem, dass das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Bestätigungen und Herausforderungen den Erfolg einer Idee im Wettbewerb beeinflusst. Wir begreifen dieses Verhältnis als einen Indikator für die Intensität der Diskussion einer Idee. Es zeigt sich, dass im Schnitt nicht etwa diejenige Idee mit der höchsten Zahl von Bestätigungen je Herausforderung die höchste Punktzahl von der Community erhält, sondern dass rund eine Herausforderung je sechs Bestätigungen mit der durchschnittlich höchsten Punktzahl in der Community-Bewertung einhergeht. Im folgenden Abschnitt (2) stellen wir einen Ausschnitt aus der Analyse der wettbewerbsbegleitenden Interaktionen auf jovoto vor. Zunächst präsentieren wir die Ergebnisse der qualitativen Analyse der Interaktionen im Hinblick auf die Beteiligung und das Wechselspiel zwischen Bestätigungen und Herausforderungen (Abschnitt 2.1). Anschließend beschreiben wir unsere quantitative Analyse zur Beteiligung und zum Verhältnis zwischen Bestätigungen und Herausforderungen in den Konversationen (2.2). In Abschnitt 3 diskutieren wir die Ergebnisse der Analysen im Hinblick auf das beobachtete Wechselspiel zwischen Bestätigungen und Herausforderungen (3.1) und zeigen einige Grenzen dieser Untersuchung auf (3.2). Zum Schluss (Abschnitt 4) formulieren wir einen Ausblick.
2. ANALYSE DER WETTBEWERBSBEGLEITENDEN I NTERAKTION AUF JOVOTO 2.1 jovoto-Ideenwettbewerbe und diese begleitende Interaktion Die jovoto-Ideenwettbewerbe dauern jeweils zwischen vier und sechs Wochen und verlaufen in drei Phasen: Auf eine Ankündigungsphase – von etwa einer Woche Dauer –, in der die Aufgabenstellung veröffentlicht wird, folgt die Einreichungsphase. Während der Einreichungsphase – die etwa drei bis vier Wochen dauert – werden die Ideen hochgeladen, kommentiert und bewertet. Der Wettbewerb geht dann in die letzte Phase – von etwa einer Woche Dauer – über: die Abschlussphase, in der keine neuen Ideen mehr eingereicht, sondern ausschließlich die vorhandenen Einreichungen bewertet werden können. Daraus geht schließlich die finale Platzierung der Ideen hervor, auf deren Basis die ausgeschriebenen Preisgelder vergeben werden. Im letzten Schritt entscheidet der Kunde, ob er die Rechte an einer oder an mehreren der eingereichten Ideen erwerben möchte; hierbei kann er selbstverständlich die Community-Bewertung berücksichtigen, muss dies aber nicht. Bewertet werden können Ideen stets von Beginn des Wettbewerbs an; so kann rasch eine den
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derzeitigen Erfolg der Einreichungen widerspiegelnde Abfolge der Ideen als »Ranking« auf der Seite dargestellt werden. 2.1.1 Datenbasis Grundlage der nachfolgenden Analyse sind die Interaktionsdaten zu den Gewinnerplatzierungen aus zehn Ideenwettbewerben in der Kategorie der privaten Contests. An diesen können ausschließlich in der jovoto-Community angemeldete Teilnehmer mitwirken.2 Ausgewählt wurden Wettbewerbe, die während des Zeitraums der Datenerhebung zwischen April 2010 und Februar 2011 ausgetragen wurden. In das Untersuchungssample aufgenommen wurden fünf Wettbewerbe, aus denen keine Ideenverkäufe hervorgingen, und fünf Vergleichsfälle, in denen ein Ideenverkauf stattfand.3 Die Auswahl des jeweils konkreten Wettbewerbs erfolgte nach dem Zufallsprinzip. 2.1.2 Kommentaranalyse Die Bewertungen, die eine Idee erhält, hängen u.a. mit den kommunikativen Interaktionen, zu denen eine Idee im Netzwerk veranlasst, zusammen: Reicht ein Ideenautor in einem Wettbewerb auf jovoto einen Vorschlag ein, so wird dieser von anderen Teilnehmern und mitunter auch vom Community-Management der Plattform kommentiert. Diese Kommentare formen eine Konversation, die als Thread zum jeweiligen Ideenbeitrag auf der Seite abgebildet wird. In den Diskussionen wechseln sich Beiträge der verschiedenen, die Idee begutachtenden Kommentatoren mit denjenigen des Ideenautors, der auf Kommentare antwortet beziehungsweise weitere Kommentare anregt, ab. Jede Idee wird also mit ihrem Hochladen bis zum Ende des Wettbewerbs von einer Diskussion mit unterschiedlich vielen Teilnehmern begleitet. Sie generiert je nach Zeitpunkt ihrer Einreichung und je nach Intensität der Auseinandersetzung, die sie anregt, unterschiedlich viele kommunikative Beiträge.
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Die zweite Kategorie ist die der »Public Contests«, an denen jeder Internetnutzer nach einem Login auf der Plattform teilnehmen kann.
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Die Wettbewerbe ohne Ideenverkauf wurden im Auftrag der Unternehmen beziehungsweise Produktmarken GROHE (29.10.-10.0 6.2010), Puraleza (14.07.-18.08.2010), Targo Bank (22.07.-02.09.2010), Coke Zero (30.07.-09.09.2010) und After Eight (18.10.05.11.2010) ausgetragen. Die Wettbewerbe mit Ideenverkäufen wurden von IFA TechWatch (09.04.-06.05.2010), UNIMALL (17.06.-15.07.2010), Spreequell (05.08.09.09.2010), Fleurop (08.11.-07.12.2010) und Bryton Pick (11.01.-08.02.2011) beauftragt.
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Aus der hier vorgenommenen Analyse der Kommentarereignisse4 ergeben sich drei Kategorien: Im Wesentlichen geht es in den Konversationen darum, einen Ideenbeitrag zu bestätigen oder den Ideenautor zur Weiterentwicklung seines Beitrags herauszufordern. Demnach können die beiden Kategorien der Bestätigung und der Herausforderung der Idee als Leitkategorien unterschieden werden, in welche sich die überwiegende Zahl der auf die Idee bezogenen Kommentare einordnen lässt.5 2.1.3 Hohe kommunikative Beteiligung der Community an erfolgreichen Ideen Höher platzierte Ideen werden häufiger angeschaut und bewertet (siehe Abbildung 3, Graphen A und B) als niedrigere Platzierungen. Sie regen auch mehr Kommunikation im Netzwerk an: Im Vergleich zu hinteren Platzierungen generieren sie mehr Kommentare (C), und es nehmen mehr Mitglieder der Community an der Diskussion der Idee teil (D). Erfolgreiche Ideen erhalten zudem – wie man erwarten würde – mehr bestätigende Kommentare als weniger erfolgreiche (E). Zugleich erhalten sie aber auch mehr Herausforderungen (F) – was einen ersten Hinweis auf die Relevanz des Inputs anderer für ein erfolgreiches Abschneiden liefert.
4
Insgesamt wurden für diese Untersuchung mehr als 2.400 Kommentare von Diskussionsteilnehmern aus der jovoto-Community sowie von Community-Managern gesichtet und nach ihrem inhaltlichen Schwerpunkt Kategorien zugeordnet. In das Datenmaterial flossen an dieser Stelle nur die Kommentare der Diskussionsteilnehmer und nicht die Äußerungen des Ideenautors ein. Um einen Kommentar zu kategorisieren, wurde jedoch der Kontext der Konversation als zusammenhängende Interaktion zwischen Teilnehmern, Managern und Ideenautor im Kommentar-Thread berücksichtigt.
5
Die übrigen Kommentare werden der Kategorie »Sonstiges« zugeordnet. In diese Kategorie fallen Beiträge zur Diskussion, die sich nicht auf die Entwicklung der Idee beziehen – also beispielsweise persönlicher Austausch, Lob, Schmeicheleien und Neckereien zwischen den Teilnehmern oder Gespräche über Ereignisse in anderen Wettbewerben sowie generelle Diskussionen über Verhaltenskonventionen oder Bewertungsmaßstäbe.
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Abbildung 3: Graphische Darstellung verschiedener Maße der Beteiligung an den zur Ideendiskussion dienenden Threads. Abgetragen sind (A) die Zahl der Betrachtungen eines Threads, (B) die Zahl der abgegebenen Bewertungen, (C) die Zahl der abgegebenen Kommentare, (D) die Zahl der an der Diskussion Teilnehmenden, (E) die Zahl der bestätigenden Kommentare und (F) die Zahl der herausfordernden Kommentare, jeweils in Abhängigkeit vom erreichten finalen Rang der zugehörigen Idee.
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2.1.4 Das Wechselspiel zwischen Bestätigungen und Herausforderungen prägt die kokreative Interaktion Erfolgreiche Ideen zeichnen sich durch eine intensive kommunikative Beteiligung der Community – und innerhalb dieser durch den Wechsel zwischen bestätigenden und herausfordernden Kommentaren – aus. Somit erhalten gerade Einreichungen auf stark umkämpften Rängen die – aufmerksamkeitssteigernde – Unterstützung anderer Nutzer zur Verbesserung der Idee. Die untersuchten Interaktionen zu Gewinnerplatzierungen verbindet, dass sie in drei Phasen verlaufen: einer Eröffnung, einer Exploration und einer Schließungsphase. Als Grundmuster ist zu beobachten: Die Idee wird eröffnend diskutiert, was einen bestätigenden oder herausfordernden Tenor annehmen kann. Sie wird in unterschiedlich vielen Beiträgen von Diskutanten und vom Ideenautor in Form eines unterschiedlich intensiven Wechselspiels zwischen herausfordernden und bestätigenden Kommunikationsbeiträgen exploriert. Abschließend wird sie einhellig positiv oder mit einem mehrstimmigen Meinungsbild beurteilt. Insgesamt dominieren Bestätigungen in der Interaktion: Sie scheinen die Basis der koopetitiven und kokreativen Kommunikationsgeschehens zu bilden, das von Herausforderungen unterbrochen und gegebenenfalls neu orientiert wird. 2.2 Quantitative Analyse des Verhältnisses zwischen Bestätigungen und Herausforderungen Das insbesondere bei gut platzierten Ideen ausgeprägte Wechselspiel zwischen bestätigenden und herausfordernden Kommentaren veranlasste uns zu der Vermutung, dass der Erfolg einer Idee mit einem »optimalen Mischungsverhältnis« der Kommentare aus den beiden Kategorien einhergehen könnte. Um dies zu überprüfen, führen wir Regressionsanalysen durch. Dabei betrachten wir zu den genannten gewinnerplatzierten Einreichungen in zehn Wettbewerben die Faktoren der Platzierung, der Bewertung, der Anzahl der Teilnehmer an der Diskussion sowie die Anzahl der Bestätigungen und Herausforderungen. Die Bewertung der Beiträge (auf einer Skala von 1 bis 10) ziehen wir als einen Maßstab für den Erfolg der Idee im Netzwerk heran. Diesen setzen wir in ein Verhältnis zu den ermittelten Anzahlen der Teilnehmer, der Kommentare sowie der in der Diskussion des Beitrags erfolgten Bestätigungen und Herausforderungen. 2.2.1 Beschreibung des Datensatzes Abbildung 4 zeigt, dass die Punktzahlen, die in den hier analysierten Wettbewerben vergeben werden, nicht über die Wettbewerbe hinweg homogen sind: Es gibt Wettbewerbe, in denen – zumindest auf den hinteren Plätzen – systematisch höhere Punktzahlen als in anderen vergeben wurden. Diese Art von Heterogenität zwischen
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den Wettbewerben erfassen wir in den unten beschriebenen Regressionen mit Hilfe fixer Effekte je Wettbewerb. Diese Maßnahme verhindert, dass Unterschiede im Punktniveau zwischen den Wettbewerben (between-group variation) fälschlicherweise dem uns eigentlich interessierenden Einfluss von Bestätigungen und Herausforderungen auf die erreichte Punktzahl innerhalb der Wettbewerbe (within-group variation) zugeschlagen werden. Der genaue Grund für die Unterschiede zwischen den Wettbewerben ist dabei für die statistische Analyse irrelevant. Er könnte darin bestehen, dass die Bewertenden in manchen Wettbewerben einfach wohlwollender waren; er könnte aber auch darin bestehen, dass die Zahl und die Qualität der Beiträge über die Wettbewerbe variierten. Abbildung 4: Rang und zugehörige Punktzahlen in zehn ausgewählten Wettbewerben 10
GROHE Puraleza TargoBank Coke Zero After Eight IFA TecWatch UNIMALL Spreequell Fleurop BrytonPick
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Punkte
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0
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30
40
50
Rang
Wie aus Abbildung 4 ersichtlich, umfasst unser Datensatz zehn Wettbewerbe. Je Wettbewerb haben wir sämtliche Ideenbeiträge auf den Rängen 1 bis 12 sowie auf den Rängen 15, 20, 25, 30, 35, 40, 45 und 50 (sofern die Anzahl der Beiträge groß genug war) erfasst.
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Abbildung 5 zeigt, dass sich zu den besser bewerteten Beiträgen auch eine größere Anzahl von Teilnehmern in der Diskussion zu Wort meldet. Das deutet darauf hin, dass als qualitativ besser eingeschätzte Beiträge einen höheren Grad an Aufmerksamkeit erreichen. Oder umgekehrt: Eine erhöhte Aufmerksamkeit durch viele teilnehmende Diskutanten bewegt zu einer besseren Bewertung der Idee. Abbildung 5: Teilnehmer und Punkte Teilnehmer und Punkte
10
GROHE Puraleza TargoBank Coke Zero After Eight IFA TecWatch UNIMALL Spreequell Fleurop BrytonPick
9
Punkte
8
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6
5
4
0
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20 30 Anzahl Teilnehmer
40
50
Eine hohe Anzahl von Kommentaren geht tendenziell mit einer guten Bewertung einher, wie Abbildung 6 zeigt. Diese Beobachtung kann verschiedene Gründe haben: Sie könnte eine Folge des wechselseitigen Zusammenhangs zwischen Kommentaren und Bewertungen sein, zu dem das Bewertungssystem und die kommunizierten Verhaltensstandards der Plattform jovoto beitragen. Der Zusammenhang kann auch, wie bereits erwähnt, darin gründen, dass eine intensive Diskussion durch die Community die Aufmerksamkeit für einen Beitrag bei den bewertenden Teilnehmern in positiver Weise erhöht. Nicht zuletzt könnte der beobachtete Zusammenhang aber auch ein Hinweis darauf sein, dass eine angeregte Diskussion tatsächlich zur Steigerung der – wahrgenommenen – Qualität der Einreichung beiträgt.
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Abbildung 6: Kommentare und Punkte
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GROHE Puraleza TargoBank Coke Zero After Eight IFA TecWatch UNIMALL Spreequell Fleurop BrytonPick
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Punkte
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0
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100 Anzahl Kommentare
150
200
Abbildung 7 zeigt, dass die Bewertung stark positiv mit der Anzahl der Bestätigungen in der Diskussion durch die Community korreliert (Korrelationskoeffizient r = 0,8282; p < 0,001). Dies ist zwar zu erwarten, aber nicht notwendigerweise der Fall, denn die Bewertenden sind nicht identisch mit denen, die sich an der Diskussion beteiligen: Die Zahl der Bewertenden ist in der Regel deutlich größer als die Zahl derer, die sich aktiv an der Diskussion beteiligen (siehe Abbildung 3 B und D). Die Maßstäbe der beiden Gruppen müssten also nicht identisch sein. Abbildung 7 liefert somit einen Hinweis darauf, dass die Kriterien für eine gute Bewertung und für das Äußern einer Bestätigung sehr ähnlich zu sein scheinen. Dies könnte wiederum mit den bereits erwähnten Effekten der Kopplung zwischen Kommentaren und Bewertungen zusammenhängen.
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Abbildung 7: Bestätigungen und Punkte 10
GROHE Puraleza TargoBank Coke Zero After Eight IFA TecWatch UNIMALL Spreequell Fleurop BrytonPick
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Punkte
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20 30 Anzahl Bestätigungen
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50
Während der in Abbildung 7 gezeigte Zusammenhang wenig überraschend war, ist der aus Abbildung 8 ersichtliche durchaus bemerkenswert: Es besteht ein positiver Zusammenhang auch zwischen der Anzahl der Herausforderungen und den vergebenen Punkten (r = 0,5174). Auch dieser ist signifikant (p = 0,0195).
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Abbildung 8: Herausforderungen und Punkte 10
GROHE Puraleza TargoBank Coke Zero After Eight IFA TecWatch UNIMALL Spreequell Fleurop BrytonPick
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Punkte
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0
5
10 15 Anzahl Herausforderungen
20
25
2.2.2 Multiple linear-quadratische Regression Beides zusammen legt nahe, dass es ein optimales »Mischungsverhältnis« von Bestätigungen und Herausforderungen geben könnte. Da die Zahl der Herausforderungen und Bestätigungen positiv korreliert ist (r = 0,5056; p < 0,001), führen wir eine Regression durch, die beide Maße als erklärende Variablen nutzt. Mit yi,j werden die Punkte bezeichnet, die der Beitrag mit Rang i aus Wettbewerb j erhielt. Betrachtet werden zehn Wettbewerbe (j = 1, …, 10). Mit Bi,j wird die Zahl der Bestätigungen, die der Beitrag mit Rang i aus Wettbewerb j erhielt, bezeichnet; Hi,j ist die entsprechende Zahl der Herausforderungen. δj ist, wie weiter oben bereits angekündigt, ein fixer Effekt für Wettbewerb j = 1, …, 10. Somit ergibt sich als Regressionsgleichung: yi,j = β1 Bi,j + β2 Bi,j2 + β3 Hi,j + β4 Hi,j2 + δj + εi,j. εi,j ist der Fehlerterm mit E[εi,j] = 0. Die quadrierten Regressoren werden aufgenommen, da die Skala der zu vergebenden Punkte nicht nach oben offen ist – es können auf jovoto maximal zehn Punkte vergeben werden. Bei einer rein linearen Regression wären daher Decken-
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effekte (ceiling effects) zu erwarten. Diesen kann durch Aufnahme des nichtlinearen Terms in die Regression begegnet werden. Eine Kleinste-Quadrate-Schätzung dieser Gleichung liefert: β^1 β^2 β^3 β^4
= = = =
0,1690 −0,0023 0,0363 −0,0018
(p < 0,001); (p < 0,001); (p = 0,200); (p = 0,240).
Hier finden sich also erste Hinweise darauf, dass selbst bei Kontrolle für die positive Wirkung von Bestätigungen auf die erreichte Punktzahl (β^1 > 0) eine positive Wirkung von Herausforderungen (β^3 > 0) Bestand hat. Letzterer Effekt ist in dieser Regression statistisch jedoch nicht signifikant. Dies könnte dadurch zu erklären sein, dass der Koeffizient (β^3) auf die Herausforderungen Hi,j recht klein ist. Die Tatsache, dass Bi,j und Hi,j hoch korreliert sind (r = 0,5056, s.o.), führt zu einem recht weiten Konfidenzintervall für den Schätzer von β3. Beides zusammen bewirkt, dass β^3 nicht signifikant verschieden von null ist. Abbildung 9: Zusammenhang zwischen B-H-Quote und vergebenen Punkten sowie Regressionskurven. Durchgezogene Linie: quadratische Regression ohne fixe Effekte, gestrichelte Linie: quadratische Regression mit fixen Effekten je Wettbewerb. Bestätigungsquote (= Bestätigungen / Herausforderungen) und Punkte
10
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4 6 8 Bestätigungen / Herausforderungen
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2.2.3 Linear-quadratische Regression der Punkte auf das »Mischungsverhältnis« Um die Hypothese, dass ein ausgewogenes »Mischungsverhältnis« tendenziell zur höchsten Punktzahl führt, zu überprüfen, berechnen wir nun eine zweite Analyse. In dieser werden die vergebenen Punkte auf das Verhältnis aus Bestätigungen und Herausforderungen regressiert. Diesen Quotienten bezeichnen wir mit Qi,j: Qi,j ≡ Bi,j / Hi,j. Qi,j ist also die Bestätigungs-Herausforderungs-Quote des Beitrags mit Rang i aus Wettbewerb j. In den Fällen, in denen Hi,j = 0 – sodass die Division unmöglich ist –, wurde Qi,j = 11,5 gesetzt.6 Als Regressionsgleichung ergibt sich: yi,j = γ1 Qi,j + γ2 Qi,j2 + φj + ηi,j. yi,j bezeichnet dabei, wie oben, die Punkte, die der Beitrag mit Rang i aus Wettbewerb j erhielt. φj ist wiederum ein fixer Effekt für Wettbewerb j = 1, …, 10, und ηi,j ist wiederum ein Fehlerterm mit E[ηi,j] = 0. Eine Kleinste-Quadrate-Schätzung dieser Gleichung liefert: γ^1 γ^2
= 0,6894 = −0,0547
(p < 0,001); (p < 0,001).
Es gibt demnach einen signifikanten Anstieg (γ^1 > 0) der Punktzahl mit steigender Bestätigungs-Herausforderungs-Quote, der jedoch abflacht und sich ins Negative verkehrt (da γ^2 < 0). Das Maximum liegt somit bei einem optimalen »Mischungsverhältnis« von Q* = 6,3012. Das heißt, im Optimalfall lassen sich im Schnitt über die Wettbewerbe hinweg y* = 8,3103 Punkte erreichen, einhergehend mit einer Quote von knapp einer Herausforderung je sechs Bestätigungen. Dies wird in Abbildung 9 graphisch veranschaulicht. Tatsächlich zeigt Abbildung 9 auch, dass die jeweils Erstplatzierten in acht der betrachteten zehn Wettbewerbe sogar noch deutlich weniger Bestätigungen je Herausforderung erhalten haben – so nämlich in den Wettbewerben BrytonPick, Coke Zero, Fleurop, GROHE, IFA TechWatch, Puraleza, Spreequell und UNIMALL. Die Hypothese, dass ein ausgewogenes Mischungsverhältnis eine erfolgreiche kokreative Arbeit bewirkt, wird durch die empirische Analyse also bestätigt: In-
6
Bei dem Wert 11,5 handelt es sich um die höchste beobachtete Bestätigungs-Herausforderungs-Quote für alle Fälle, in denen Qi,j berechnet werden kann. Die Ergebnisse unten und Abbildung 7 zeigen, dass die Nutzung des Wertes 11,5 ein konservativer Ansatz ist, der eher entgegen der von uns formulierten Hypothese arbeitet.
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mitten vorwiegend positiven Feedbacks muss es zuweilen auch kritische Zwischenrufe geben, damit die Kreativen ihr volles Potential abrufen.
3. D ISKUSSION
DER
E RGEBNISSE
Die Netzwerkteilnehmer jovotos werden durch Wettbewerbe zur Ideenproduktion animiert, während sie gleichzeitig zur Kooperation innerhalb der Gemeinschaft der Teilnehmer dieser Wettbewerbe angehalten werden. Die kokreative Interaktion lässt sich hinsichtlich drei Dimensionen analysieren: dem Wettbewerb, der Kooperation und der Kreativität. Auf der empirischen Ebene werden diese Dimensionen in der rhythmischen Aufeinanderfolge bestätigender und herausfordernder Kommunikationsbeiträge zur Steigerung der Kreativität sichtbar. Das Zusammenwirken dieser drei Orientierungen in der Interaktion verstehen wir als ein Spiel. Dabei beziehen wir uns auf die von Johan Huizinga (2006 [1938]) und Roger Caillois (2001 [1958]) vorgeschlagenen kultursoziologischen Konzeptionen des Spiels und erweitern diese um den Aspekt der Zweckgebundenheit im kokreativen Spiel: Teilnehmer bringen sich in dieses Spiel mit ihren ökonomischen, sozialen und kreativen Zielen ein; sie orientieren sich – neben ihrer Freude am Spiel als solchem – an von ihnen selbst definierten Zwecken. Das – von uns als solches bezeichnete – Spiel umfasst nicht nur den Wettbewerb, in dem originelle Ideen kollaborativ entwickelt werden. Es erstreckt sich auch auf den Prozess der Kommunikation über diese Ideen: Hier findet das »eigentliche« Spiel unter den Teilnehmern statt, das die Bewertungsaktivitäten steuert und über die Platzierung der Ideen im Wettbewerb entscheidet. Entsprechend eng scheinen Bewertungen mit Kommentaraktivitäten zusammenzuhängen, was sich darin zeigt, dass besser bewertete Ideen mit mehr Diskussionsteilnehmern und einer größeren Anzahl – sowohl bestätigender als auch kritisch-herausfordernder – Kommentare einhergehen. Mit unserer Untersuchung konnten wir zeigen, dass der Ideenwettbewerb wesentlich auf der Ebene von Kommunikation ausgetragen und entschieden wird: So geht eine hohe Kommunikationsaktivität im Netzwerk mit einer besseren Platzierung der Idee einher. Dies lässt vermuten, dass die Ideen tatsächlich auf Basis der Kommentarbeiträge weiterentwickelt und verbessert werden. Strikt betrachtet ist mit dem hier gewählten Forschungsansatz allerdings nur nachweisbar: Kommu-
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nikation ermöglicht überhaupt erst die Sichtbarkeit einer Idee, indem sie Kommentar- und Bewertungsaktivitäten unter den Teilnehmern anregt.7 3.1 Überprüfung und Diskussion der Hypothese zum Wechselspiel aus bestätigenden und herausfordernden Kommunikationsbeiträgen Der Wechsel zwischen Bestätigungen und Herausforderungen ist über alle Konversationen hinweg anzutreffen. Er erscheint demnach als ein aus dem Material hervorgehendes strukturelles Merkmal ideenzentrierter Netzwerkkommunikation. Die bestätigende und die herausfordernde Form der Interaktion stellen Möglichkeiten dar, aus denen sämtliche Teilnehmer – die Ideenautoren eingeschlossen – jeweils diejenige, die sie in ihrem Ansatz voranbringen, auswählen. Sie bejahen und verstärken eine Bestätigung beziehungsweise antworten auf eine Herausforderung mit deren Bestätigung oder Ablehnung. Der Ideenautor wählt, indem er entweder ein Nein annimmt und einen neuen Vorschlag macht oder das Nein ablehnt und bei seinem Ansatz bleibt. Darin wird die Aktivität der Teilnehmer innerhalb des Spiels um die kreativsten Ideen auf kommunikativer Ebene beobachtbar. Vor diesem Hintergrund nahmen wir an, dass erfolgreiche Ideenbeiträge und weniger erfolgreiche Einreichungen ein unterschiedliches Verhältnis zwischen bestätigenden und herausfordernden Kommentaren aufweisen. Die statistische Überprüfung dieser Hypothese bestätigt dies. Es zeigt sich, dass in den von uns untersuchten Fällen die durchschnittlich höchste Bewertung mit einem Verhältnis von sechs Bestätigungen je Herausforderung einhergeht. Dies bedeutet, dass eine höhere Anzahl von positiven Kommentaren pro Herausforderung tendenziell zu einer schlechteren Bewertung führt. Im Fall von besonders erfolgreichen Ideen ist also eine Neigung zu einigen – gezielten – herausfordernden Impulsen innerhalb eines Grundtenors aus Bestätigungen ablesbar. Wie dies zu interpretieren ist, diskutieren wir im nächsten Abschnitt. 3.1.1 Zusammenhang zwischen Beteiligung, Wechselspiel (zwischen Bestätigungen und Herausforderungen) und Erfolg In den wettbewerbsbegleitenden Konversationen entfaltet sich ein Wechselspiel aus kooperativen und wetteifernden Kommunikationsbeiträgen mit unterschiedlicher Intensität. Dieser Wechsel kann durch die Initiative des Ideenautors ausgelöst werden, indem er einen neuen oder veränderten Beitrag einreicht. Oft geschieht der
7
Dies geschieht häufig in gegenseitiger (reziproker) Weise. Diese reziproken Mechanismen werden durch das Bewertungssystem der Plattform und die von den Betreibern jovotos kommunizierten Verhaltenskonventionen zusätzlich unterstützt.
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Wechsel jedoch auf Initiative der Diskutanten selbst, die neue Aspekte, die bisher nicht berücksichtigt wurden, in die Diskussion einbringen. In diesem Fall bewirken das Interesse und die Neugier der Diskutanten die Fortsetzung der Kommunikation (und ggf. auch die Weiterentwicklung des Ideenansatzes). Das Wechselspiel entwickelt sich erst im Rahmen längerer KommunikationsThreads. Diskussionen mit hoher Beteiligung veranschaulichen somit insbesondere die Dynamik kreativer Unterbrechungen eines überwiegend bestätigenden Konversationsflusses. Dies lässt sich in der Hinsicht interpretieren, dass Unterbrechungen des konsensualen Kommunikationsgeschehens die Kommunikation aufs Neue anregen und zu ihrer Fortsetzung – auch durch neu hinzukommende Teilnehmer – veranlassen. Eine starke kommunikative Resonanz auf eine Idee signalisiert Erfolgspotential: In dieser Resonanz herrschen Bestätigungen vor, der Vorschlag wird also grundsätzlich befürwortet. Die Herausforderungen, die nun zusätzlich laut werden, weisen auf die hohe Qualität der Idee in folgendem Sinne hin: Ihr Potential ist groß, und sie ist hinreichend kontrovers (also kreativ, überraschend). Ein anderes Merkmal der Diskutierbarkeit einer Idee ist, dass sie entwicklungsfähig ist. Die Teilnehmer setzen sich für die Optimierung der Idee ein, was wiederum zugunsten eines überlegenen Ergebnisses gedeutet werden kann und die guten Bewertungen erklärt. Tendenziell schlechtere Bewertungen erhalten hingegen Ideen, die weniger Diskussion, also auch weniger Wechselspiel zwischen Bestätigung und Herausforderung generieren. Hier überwiegen entweder die Bestätigungen zu stark – es gibt wenig kreatives Involvement, was signalisieren könnte, dass die Idee nicht kontrovers genug ist. Im anderen Fall dominieren die Herausforderungen – das heißt, die Idee hat aus Sicht der Community zu wenig Potential. In beiden Fällen erhält die Idee nicht die Chance auf Entwicklung durch die Community. 3.1.2 Hohe Beteiligung, Wechselspiel und Erfolg – Maß der kulturellen Produktivität einer Idee Insbesondere an den angeregten Diskussionen kann abgelesen werden, dass in ihnen kulturell produktives Ideenmaterial8 generiert wird. Diese Produktivität be-
8
Bei Verwendung des Begriffs wird hier an die von Vertretern der Cultural Studies vorgelegten Beiträge zu einem Verständnis der Produktivität von Mediennutzern (Fiske 2000 [1989]) sowie neuere Ansätzen zur Erforschung medienbasierter Kokreativität (vgl. z.B. Andrejevic 2002, 2008) angeschlossen. Allgemeiner gefasst wird davon ausgegangen, dass Handeln in der Kultur Bedeutungen als Ausgangspunkte für weiteres Handeln hervorbringt: Im kulturellen Raum der Kommunikation, der Interaktion und der Ideenentwicklung wird symbolisches Material produziert. Ebenso werden Orientierungen angeboten und Dispositionen dafür geformt, dieses Material anzunehmen, es weiterzugeben (zu
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steht zunächst im kommunikativen Output, d.h. im kommunikativen Material, das anlässlich einer Idee produziert wird. Die erfolgreichsten Einreichungen sind dabei, wie gezeigt, durch ein bestimmtes Verhältnis zwischen Bestätigungen und Herausforderungen gekennzeichnet. Dieses Verhältnis zwischen bestätigenden und herausfordernden Impulsgebungen kann demnach als das Maß der kulturellen Produktivität einer Idee auf jovoto gedeutet werden. Dieses Maß reflektiert nur zu einem Teil die Fruchtbarkeit des Ideenansatzes. Denn zu einem anderen Teil entwickelt sich die Kommunikation nicht auf die Idee bezogen, sondern eigenständig; mit ihr werden u.a. soziale Ziele, wie die Markierung von Gruppenzugehörigkeiten, verfolgt. Nicht zuletzt stellt sie darüber hinaus ein Spiel dar, das an sich Freude bereitet und in dem Kreativität – in der Form der Wahrnehmung neuer Handlungsmöglichkeiten im Kommunikationsprozess – ein besonderer Stellenwert zukommt. In ihrer Eigenständigkeit bauen die wettbewerbsbegleitenden Konversationen nun Popularität für eine Idee auf, indem sie zu Bewertungsaktivitäten in der Community veranlassen. Damit verweist das Ergebnis des Wettbewerbs auf die verhandelte Qualität des Ideenansatzes und zugleich auf die Attraktivität des durch den Ansatz veranlassten Kommunikationsspiels im Netzwerk. Das Maß der kulturellen Produktivität einer Idee auf jovoto zeigt nicht notwendigerweise an, dass die Idee ökonomisch produktiv wird. Bedeutung und Wert, welche diese Idee auf dem kokreativen Spielfeld entfaltet – ist zwar zuweilen, aber nicht unbedingt maßgeblich für die Entscheidung des Kunden, die Rechte an einer Idee zu kaufen. 3.2 Grenzen der vorliegenden Untersuchung Die Beobachtungen beziehen sich auf einen recht begrenzten Zeitraum. Es könnten sich daher über diesen Zeitraum hinaus Dynamiken entwickelt haben, deren Kenntnis die mit dieser Studie vorliegenden Ergebnisse in ein anderes Licht rücken könnten. Wir befinden uns derzeit noch am Anfang der kokreativen Entwicklung. Daher würde es sich lohnen, zu untersuchen, ob die von uns gemachten Beobachtungen auch in Zukunft – nachdem sich die hier vorgestellten kreativen Praktiken weiter etabliert haben – noch gültig sind. Zusätzliche Erkenntnisse über individuelle Interaktionsverläufe wären wertvoll, um eine Kausalität der Interaktion auf die erreichte Punktzahl nachweisen zu können; diese Daten könnte eine Studie liefern, die das Kommentargeschehen in Echtzeit beobachtet. Es wäre zudem aufschlussreich, die Interaktionsereignisse über die verschiedenen Einreichungen eines Wettbewerbs hinweg sowie daraufhin zu be-
distribuieren) sowie es weiterzuentwickeln. Dabei wird gleichzeitig der Wert dieses Materials geschaffen und bestimmt, sodass es im ökonomischen Sinne verwertbar wird.
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obachten, in welchem Maße Wettbewerbsteilnehmer aufeinander im Rahmen von Kommentaren und Bewertungen Bezug nehmen.
4. S CHLUSS
UND
AUSBLICK
Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen, dass mediales Handeln auf jovoto wetteifernde und auf ökonomische Erfolge zielende Dimensionen ebenso wie kooperative – auf die Erweiterung von Netzwerken und auf Feedback beziehungsweise reziproke Bewertungen ausgerichtete – und kreative – auf den Erhalt neuer Informationen und die Generierung neuen Wissens abzielende – Motive umfasst. Die Erträge aus diesen kreativen Produktionsprozessen sind sowohl für die Ideenautoren als auch für die auf jovoto als Nachfrager agierenden Unternehmen unsicher. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ideenautor in einem Wettbewerb einen Preis gewinnt, ist vergleichsweise gering und steht auf den ersten Blick nicht im Verhältnis zum Aufwand, den eine Wettbewerbsteilnahme verursacht. Unternehmen ihrerseits tragen das Kostenrisiko eines jovoto-Ideenwettbewerbes mit ungewissem und für sie nur bedingt steuerbarem Ergebnis. Sie müssen letztlich entscheiden, ob sie einen aus der kokreativen Interaktion hervorgegangenen Vorschlag aufgreifen oder nicht. Im Idealfall wird der Nutzen, den ein Kunde aus der Zusammenarbeit mit jovoto zieht, die reine Entwicklung einer in Auftrag gegebenen Kommunikationsmaßnahme allerdings weit übersteigen. Solchen zusätzlichen Nutzen generiert die kokreative Interaktion, indem sie den Kunden beispielsweise Einblicke in Einstellungen und Assoziationen zu ihrem Angebot gewährt, die diese auf dem herkömmlichen Weg der Vergabe eines Kommunikationsauftrags nicht erhielten. Die Ideenautoren ihrerseits können im Netzwerk wertvolle Informationen über ihre Fähigkeiten sowie Kontakte, Anregungen und Lernerfahrungen sammeln. In dieser Hinsicht trifft auch auf die Plattform jovoto das in der Internetökonomie gängige Prinzip »Das Produkt ist nicht das Produkt« zu. Der Autor Mark Andrejevic bemerkt hierzu treffend: »It’s not the content itself, but the attitude, taken by the viewers, the way in which they watch – or, more precisely, the way in which they are seen to watch (or see themselves watching) – that makes the difference« (Andrejevic 2008: 36). Es geht im Zeitalter des Web 2.0 nicht mehr nur um den »ins Netz gestellten« Inhalt, sondern um die Art, wie zugeschaut wird. Es geht um die sich in der Mitwirkung offenbarenden Haltungen und Gewohnheiten der nicht mehr nur Zuschauenden. Ihre Reaktionen und Interaktionen liefern Informationen, die ebenso wertvoll sein können wie das eigentliche Angebot. Das Verhältnis zwischen dem, was ein Internetangebot zu sein vorgibt, und dem, was es ist, muss dynamisch, von den
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Nutzern für ihre eigenen Ziele gestaltbar und damit in Teilen unvorhersehbar sein. Zwar muss das Angebot in sich anregend genug sein, um den Kern der Kommunikation bilden zu können. Doch erst die Re- und Interaktionen, zu denen es veranlasst, bestimmen letzten Endes seinen Wert. Eine Plattform muss also allen Beteiligten einen – im wahrsten Sinne des Wortes – Spielraum bieten, den diese (wert)schöpferisch und gewinnbringend füllen können.
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HERAUSFORDERNDE I MPULSE IN DER KOKREATIVEN I NTERAKTION
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Hoffnung als ökonomischer Affekt U RS S TÄHELI
Ökonomisches Handeln ist zukunftsbezogenes Handeln. Diese Orientierung an Zukunft, ja sogar Schaffung von Zukünften, strukturiert nicht nur die Finanzökonomie, sondern nahezu jeden Bereich der Ökonomie: Keine moderne ökonomische Praktik wäre ohne ein Moment des Aufschubs zu denken, ohne die Fähigkeit, das eigene Genießen in die Zukunft aufzuschieben, um später erst das Ersparte genießen zu können – oder mit Gewinn weiter zu investieren. Eindrucksvoll hat Max Weber in der protestantischen Ethik dieses Problem des Aufschubs geschildert: Wie kann man Arbeiter dazu bringen, auch dann noch diszipliniert weiterzuarbeiten, wenn eigentlich bereits genügend Geld fürs nächste Bier verdient worden ist? Die Schaffung eines zum Aufschub fähigen, zukunftsorientierten ökonomischen Subjekts ist damit eine der primären Aufgaben der modernen Ökonomie: »Der Mensch will ›von Natur‹ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.« (Weber 2010 [1939]: 44) Das Ökonomische besteht also nicht zuletzt darin, entsprechende zukunftsbezogene Subjektivierungsweisen herzustellen – oder anders: ein Subjekt zu schaffen, das gegen die Verlockungen unmittelbaren Genusses oder unmittelbaren Konsums gefeit ist; das Zukunft ›aushalten‹ kann. Der zunächst fiktive zukünftige Genuss muss höher gewertet werden als die Möglichkeit, bereits im »Jetzt« genießen zu können. Damit orientiert sich gegenwärtiges Handeln immer schon an der erwarteten und imaginierten Zukunft.1 Dieser notwendige Zukunftsbezug hat sich tief in
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Die Kritik der Ökonomie hat immer wieder solche Unmittelbarkeitsutopien entworfen; eine der erfolgreichsten ist sicherlich das Schlaraffenland: Hier wird eine träge ÜberflussÖkonomie ohne Knappheit, aber auch ohne Begehren entworfen. Diese Utopie ist letztlich anti-ökonomisch, nicht nur weil sie den Bezug zur Knappheit aufgegeben hat, sondern weil diese Ökonomie ihre Zukunft verloren hat: Unmittelbarer Genuss ersetzt den
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grundlegende ökonomische Semantiken und Techniken eingelagert. Man denke z.B. an das Vertrauen auf zukünftige Zahlungsfähigkeit im Begriff des Kredits oder an ökonomische Produkte wie die Futures, die mit zukünftigen Preisdifferenzen in der Gegenwart handeln und damit in die Gegenwart bereits eine Zukunft einschreiben. Die Rolle der Zukunftsorientierung ist für die Ökonomie allerdings keineswegs unproblematisch: Wie kann eine rationalistische Wissenschaft Begriffe und Modelle schaffen, die fähig wären, Zukunft nicht nur ›spekulativ‹ zu erfassen? Die Herausforderung der Zukunft hat in der neoklassischen Ökonomie zu ausgefeilten Theorien rationaler Erwartung geführt, welche Zukunft kalkulierbar machen soll. Was mit solchen Erwartungsbegriffen aber lange Zeit ausgeschlossen worden ist, sind ›Zukunftsaffekte‹ wie Furcht und Hoffnung. Diese Affekte richten sich ebenfalls auf zukünftige Ereignisse, laden Vorstellungen der Zukunft mit positiven oder negativen Gefühlen auf. Die Zukunft ist hier kein ausschließlich kognitiv zu erfassender Gegenstand, sie kann erspürt und gefühlt werden. Sobald man sich ökonomische Praktiken anschaut, fällt schnell auf, dass ökonomisches Handeln wesentlich durch zukunftsgerichtete Affekte wie Furcht und Hoffnung strukturiert ist: sei es die Furcht vor dem Zusammenbruch des Marktes, sei es die Hoffnung auf ökonomische Beständigkeit oder gar die Hoffnung auf tiefgreifende ökonomische Umwälzungen. Wie aber lässt sich die affektive Herstellung ökonomischer Zukünfte denken? Während der Erwartungsbegriff fest zum begrifflichen und praktischen Kanon der Ökonomie gehört, ist die Hoffnung erst in den letzten Jahren v.a. von Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen als ökonomisch relevante Kategorie entdeckt worden (sogar noch nach der Angst, die in der Neuroökonomie eine wichtige Stellung einnimmt). Die jüngere Wirtschaftssoziologie und -anthropologie interessieren sich für diese alternative Weise der Zukunftserzeugung durch Hoffnung. Hoffnung wird nun als kulturelle Praktik gedacht. Wegweisend sind hier die Arbeiten des Kulturanthropologen Hirokazu Miyazaki (2004). Miyazaki hat sich u.a. mit japanischen Börsenhändlern beschäftigt und deren Hoffnungen und ihre Effekte auf ihr ökonomisches Handeln untersucht. So erzählt er von der Hoffnung des Börsenhändlers Tada, der den Traum hat, eines Tages eine automatische Handelsmaschine zu entwerfen. Oder die Anthropologin Galina Lindquist (2006) untersucht, wie in Russland kleine Geschäftsleute mit Hilfe von Magie und Hoffnung versuchen, das Marktgeschehen als sinnhaft zu verstehen. In der Wirtschaftssoziologie hat Richard Swedberg (2005; 2007) Hoffnung als eigenständige ökonomische Kategorie eingeführt. Ökonomische (Tag-)Träume, Utopien, Atmosphären und Stimmungen prägen für diese Autoren das ökonomische Leben.
Aufschub, ersetzt die Erwartung, dass mein gegenwärtiges Tun zukünftigen Erfolg erzeugen wird, und lässt die Subjekte buchstäblich erschlaffen.
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Wenn wir die ökonomische Rolle von Hoffnung verstehen wollen, ist deren Beziehung zu Erwartungen zentral. Denn auf Hoffnung alleine lässt sich kein ökonomisches Handeln bauen. Ich werde argumentieren, dass sowohl Erwarten wie auch Hoffen unentbehrlich für den Fortbestand ökonomischer Systeme sind, obwohl – oder besser: gerade weil – sie ganz unterschiedliche, teils geradezu widersprüchliche Formen des Zukunftsbezugs entwerfen. Kurz: Die ›hoffnungslose‹ Ökonomie der Wirtschaftswissenschaften bedarf eines kulturwissenschaftlichen ›updates‹, einer Hoffnungs-Injektion. Allerdings bedeutet die Einführung von Hoffnung keineswegs, dass unsere Vorstellung des Ökonomischen dadurch menschlicher würde oder dass der kalten Ökonomie eine wohlige kulturwissenschaftliche Ökonomie entgegengestellt würde, welche die Stütze für eine neue moralische Ökonomie sein könnte. Denn die Hoffnung ist selbst höchst ambivalent. Sie oszilliert zwischen einem utopischen Moment, in dem das Nicht-Ökonomische innerhalb der Ökonomie aufblitzt, und einer affirmativen Funktion: Sie kann Stütze für das Funktionieren ökonomischer Systeme sein; ja, sie mag ökonomische Systeme auch dann noch perpetuieren, nachdem deren Funktionieren eigentlich nicht mehr erwartbar ist. Ich möchte in einem ersten Schritt ganz knapp den Erwartungsbegriff skizzieren (1), um dann auf zwei unterschiedliche Konzepte der (ökonomischen) Hoffnung zu sprechen zu kommen (2). In einem Gedankenexperiment – das ich als Permutationsprobe gestalte – frage ich mich, wie eine Ökonomie ohne (beziehungsweise mit bloß minimalen Hoffnungsresten) aussehen würde. Damit möchte ich die Unentbehrlichkeit von Hoffnung für ökonomische Praktiken begründen (3). Dies führt mich schließlich zur These, dass die Einführung von Affekten in die Ökonomie diese zum Schauplatz politischer Kämpfe macht – ja, dass eine Affektanalyse ökonomischer Prozesse gleichzeitig auch mit Politiken der Angst und Hoffnung verbunden ist (4).
1. E RWARTUNGEN : D IE
GESCHRUMPFTE
Z UKUNFT
Jede ökonomische Praktik ist mit Erwartungen verbunden: Wenn ich jetzt ein DAX-Discount-Zertifikat kaufe, mag ich erwarten, dass dieses in zwei Jahren einen überdurchschnittlichen Gewinn abwerfen wird; oder ich erwerbe jetzt eine Wohnung, weil ich davon ausgehe, dass ich so am ehesten den Wert meines Vermögens langfristig erhalten kann. All diese Erwartungen mögen sich als falsch erweisen – und doch haben diese Erwartungen mein gegenwärtiges ökonomisches Handeln geprägt, indem ich ein entsprechendes Risikokalkül entworfen habe. Ich handle jetzt auf Grundlage einer bestimmten Zukunftsvorstellung. Ich erstelle subjektive Erwartungen, indem ich mit Wahrscheinlichkeitskalkülen mögliche Zukünfte modelliere,
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wodurch ich den Nutzen meines aktualen Handelns errechnen kann. Es geht um den »best guess of future« – und diese Erwartung wird Grundlage für meine Entscheidungen.2 In diesem zukunftsgerichteten, auf Erwartungen basierenden Handeln sehen einige Ökonomen sogar das Spezifikum des Ökonomischen. In Abgrenzung zu den Naturwissenschaften sei die Wirtschaft durch »forward-looking decisions« geprägt, die als »rational expectations« von ökonomischen Akteuren getroffen werden (Evans/Honkapohja 2001: 5060). Erwartungen werden bestimmt als »forecasts or views […] of […] future prices, sales, incomes, taxes, or other key variables« (ebd.).3 Ökonomische Praktiken – und zwar nicht nur jene der Finanzökonomie – beruhen also ganz wesentlich auf einem prognostischen Wissen (z.B. Erwartung zukünftiger Kurse und Marktsituationen), das performativ wirksam ist und diese Zukunft mitstrukturiert. Diese Zukünfte werden allerdings nicht auf beliebige Weise geschaffen, sondern zehren – in der ökonomischen Theorie – von der Vorstellung, dass sie sich kalkulieren lassen, dass Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Gewinne oder gar übergreifende ökonomische Trends berechenbar sind. Die Schaffung von Zukunft durch rationale Erwartungen ist allerdings höchst voraussetzungsvoll – und auch häufig kritisiert worden: Sie setzt im Idealfall vollständige Information voraus. Dass bereits dies – auch empirisch – kaum möglich ist, haben die Diskussionen über »bounded rationality« gezeigt. Neben dieser Kontinuität setzt die ökonomische Erwartungstheorie robuste ökonomische Subjekte mit verlässlichen Präferenzen voraus: Der Erwartungsbegriff macht nur dann Sinn, wenn die Interessen der Akteure sich nicht ständig verändern. Wichtiger noch in unserem Zusammenhang ist aber ein weiterer Faktor: Dieser Erwartungsbegriff geht von einer Kontinuität zwischen Gegenwart und Zukunft aus. Die Zukunft wird zu einer kalkulierbaren Zukunft, die auf Grundlage gegenwärtiger Daten geschaffen werden kann – sie ist gleichsam eine Verlängerung der Gegenwart, und diese Fortschreibung der Gegenwart fließt selbst wieder in die Gegenwart ein. Besonders deutlich wird dies z.B. am Einpreisen von erwarteten Entwicklungen eines Unternehmens in die aktuellen Börsenkurse, die eine zukünftige Bilanz bereits vorwegnehmen. Eine auf diese Weise erzeugte ökonomische Zukunft ist damit immer schon in Kontinuitäten ein-
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Die neuere ökonomische Diskussion hat das Erwartungskalkül weitgehend von subjektiven Erwartungen losgelöst und versucht so den auch zunehmend in der Ökonomie als problematisch gesehenen Implikationen des methodologischen Individualismus zu entgehen.
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Obgleich also einige Ökonomen in der Erwartung ein Spezifikum der Ökonomie sehen, wurden Erwartungen erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts explizit von Ökonomen theoretisiert. Hier ist insbesondere John M. Keynes’ ([1936] 2007) Einführung des Erwartungsbegriffs in die Ökonomie zu nennen.
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gereiht, sie ist durch eine »narrative fallacy« (Taleb 2007) geprägt: durch die Vorstellung also, dass sich die Zukunft nicht grundlegend von der Gegenwart unterscheiden wird, sondern deren Fortsetzung ist. Diese Zukunft ist bereits in die Gegenwart eingeschrieben – und auf diese Weise auch im Rahmen von Risikokalkülen berechenbar. Im Erwartungsmodell der Ökonomie fallen damit Zukunft und Gegenwart nahezu ineinander. Die Zukunft wird mit Hilfe von Risikokategorien modelliert und droht so ihre Zukünftigkeit zu verlieren. Denn die erwartbare Zukunft bricht nicht mit der Gegenwart, sie verbietet die Idee, dass die Zukunft ganz anders sein könnte. Der amerikanische Soziologe Randy Martin beklagt genau dieses Schrumpfen der Zukunft im Zuge von ökonomischen und politischen Risikokalkülen: »Risk […] is a rhetoric of the future that is really about the present.« (Martin 2002: 105). Kurz: Die Zukunft der Ökonomie, die mit Hilfe von Erwartungssemantiken und -kalkülen geschaffen wird, ist eine präsentistische Zukunftskonzeption; eine Form der Zukunft, die als Verlängerung der Gegenwart gedacht wird.
2. H OFFNUNG : D IE Z UKUNFT
ALS
M ÖGLICHKEIT
Während der Erwartungsbegriff die ökonomische Theorie wie auch ökonomische Praktiken prägt, wurde die Hoffnung erst in den letzten Jahren als ökonomischer Begriff entdeckt. Lange Zeit wurde die Hoffnung als ökonomische Kategorie ignoriert. Für die neoklassischen Ökonomen war die Hoffnung gerade wegen ihrer Nicht-Berechenbarkeit uninteressant oder sogar gefährlich: Solange Hoffnungen sich nicht in Erwartungen übersetzen lassen, scheiden diese aus dem Blick der Ökonomie aus.4 Da waren frühe Überlegungen zur Spekulation – und auch die alltäglichen ökonomischen Praktiken – aufschlussreicher: So wurde z.B. Ende des 19. Jahrhunderts Spekulation nicht nur als zukünftige Profiterwartung definiert,
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Nicht nur die Ökonomie zeigte sich kaum an Hoffnung interessiert, auch für die Soziologie galt diese lange als irrelevantes Konzept. Niklas Luhmann (1973) streift z.B. in seinem Buch über Vertrauen das Problem der Hoffnung, nur aber, um es sogleich wieder von seinen Betrachtungen auszuschließen: Die Hoffnung wird soziologisch uninteressant, weil sie sich in kein Ego-Alter-Modell einsperren lässt. Für Luhmann ist Hoffnung nur eine Vernichtung von Kontingenz: Wenn ich hoffe, mache ich meine Hoffnungen nicht von den Hoffnungen eines Anderen abhängig, wodurch diese ihren sozialen Charakter (d.h. die Einbettung in ein Alter/Ego-Kalkül) verliert. Auch wenn Luhmann gewiss keinen ökonomischen Erwartungsbegriff nutzt, so wird hier deutlich, dass Hoffnung aus einer erwartungstheoretischen Perspektive defizient erscheinen muss. Man verpasst dann notgedrungen auch jene Ambivalenz der Hoffnung, die nicht auf doppelte Kontingenz zurückgeht, sondern sich in der affektiven Einfärbung von Freude durch Bedauern zeigt.
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sondern als »hope for future profit« (z.B. Emery 1969 [1896]: 96). Immer wieder betonen besonders Spekulationsratgeber, dass Hoffnung, Furcht und Gier die Grundelemente der Spekulation seien. Es mag kein Zufall sein, dass sich gerade im Bereich der Börsenspekulation die Begriffe vermehren, mit denen ökonomische Zukünfte erfasst werden sollen. Zumindest in den populären Semantiken treten die Zukunftsaffekte Hoffnung und Furcht gleichberechtigt (wenn auch nicht ohne Spannung) neben die klassischen Erwartungsmodelle. Wie aber gestaltet Hoffnung ihre Beziehung zur Zukunft? Eine Minimalbestimmung von Hoffnung betont vier Aspekte:5 (1) Die Hoffnung richtet sich (wie die Erwartung) auf ein zukünftiges Ereignis, dessen Ausgang ungewiss ist. Sie ist damit ein Kontingenzbegriff: Wir hoffen nicht auf etwas, das mit Gewissheit eintreten wird. Ich mag auf einen Lotto-Gewinn hoffen; darauf hoffen, dass Griechenland wieder schuldenfrei wird; oder möglicherweise sogar darauf hoffen, dass der Kapitalismus abgeschafft wird. In all diesen Hoffnungen werden ökonomische Zukünfte ausgemalt – diese Zukünfte sind aber nicht berechenbar und nicht bruchlos aus der Gegenwart ableitbar. (2) Das zukünftige Ereignis, auch wenn es ein ökonomisches ist (z.B. Gewinne), lässt sich nicht berechnen. Hoffnung folgt keinem Wahrscheinlichkeitskalkül. Sie beschäftigt sich also nicht mit Wahrscheinlichkeiten, sondern mit Möglichkeiten, mit Fiktionen und imaginären Zukunftsbildern. Ein Kranker mag auf Besserung hoffen, selbst wenn er weiß, dass seine Genesungschancen statistisch gering sind. Und ein Investor mag darauf hoffen, dass sein Investmentfonds ›outperformen‹ wird, auch wenn er weiß, dass nur zehn Prozent aller Investmentfonds bloße Index-Fonds schlagen. Die Branche der Finanzberatung hat die wichtige Rolle der Hoffnung für ihr Geschäft schneller verstanden als die Ökonomen und spricht von »selling hope«. (3) Schließlich besetzt der Hoffende das zukünftige Ereignis und den Prozess des Hoffens affektiv: Ich hoffe auf Dinge oder Ereignisse, die ich ersehne (ansonsten hätten wir es mit Furcht zu tun); das Hoffen ist ein Sehnen nach einem guten und glücklichen Ereignis, wobei ich das Hoffen selbst ebenfalls bereits genießen kann. (4) Gerade diese affektive Besetzung des zukünftigen Ereignisses schafft eine seltsame Spaltung des hoffenden Subjekts. Sie verweist darauf, dass mir jetzt etwas fehlt. Indem ich hoffe, bin ich an der imaginären Beseitigung dieses Mangels beteiligt. In diesem Sinne ist der Hoffende aktiv (Miyazaki 2004). Der Hoffende ist ein aktiver Erspäher von Zeichen für eine bessere Zukunft. Gleichzeitig erfordert die Hoffnung aber nicht, dass das Subjekt aktiv an der Ver-
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Swedberg unterscheidet drei zentrale Elemente des ökonomischen Hoffnungsbegriffs: »There are three distinct elements to the description of hope that has just been presented, and each of them deserves attention: (1) the wish (2) for something (3) to become true.« (2007: 21)
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wirklichung der Hoffnung beteiligt ist. Das Erhoffte wird durch eine höhere Macht oder das Schicksal gewährt, nicht durch das eigene Zutun. Die Theoriegeschichte der Hoffnung verweist auf eine eigentümliche Ambivalenz, die auch für ein ökonomisches Hoffnungskonzept wichtig wird. Sehr grob lassen sich eine kapitalismuskritische Konzeption von Hoffnung (im Gefolge von Ernst Bloch) und eine religionskritische Konzeption von Hoffnung, die an Spinoza anschließt, unterscheiden. a) Hoffnung als Utopie: Im Zuge dieses Interesses am Hoffnungsbegriff erlebt Ernst Blochs (1982 [1959]) »Prinzip Hoffnung« eine ungeahnte Renaissance (z.B. Anderson 2006a; 2006b), die wohl Bloch selbst am stärksten verblüffen würde, war für ihn doch die kapitalistische Ökonomie geradezu Ausdruck der Hoffnungslosigkeit. Bloch interessiert in diesen Debatten als dezidierter Philosoph der Zukunft. Die Philosophie kritisiert er als kontemplative Vergangenheitswissenschaft, die Psychoanalyse als Wissenschaft, die sich ebenfalls durch Vergangenes, das verdrängt und unterdrückt wird, beherrschen lässt und so blind für die Zukunft wird. Das »Prinzip Hoffnung« ist der enzyklopädisch angelegte Versuch (der die Analyse von Märchen, Tagträumen, Alltagssituationen, Weltliteratur und Philosophie umfasst), in der Gegenwart Möglichkeiten des »Noch-Nicht« sichtbar zu machen, in der Gegenwart Zukünfte zu erblicken. Dieses Noch-Nicht unterscheidet sich grundsätzlich von der ökonomischen Erwartungszukunft: Hoffnung, so Bloch, findet ihre Triebintentionen nicht in der »zurhandenen Welt« (Bloch 1982: 82); erhofft wird nicht das, was sich im Rahmen »individuelle[r] Erreichbarkeit« befindet (ebd.: 83). Vielmehr geht es in der Hoffnung um eine »echte Zukunft; eben die des NochNicht, des objektiv so noch nicht Dagewesenen.« (ebd.) Die Zukunft der Hoffnung lässt sich nicht berechnen. Aus diesem Grunde betont Bloch, dass die Hoffnung zwar auch über kognitive Aspekte verfügt, aber im Wesentlichen ein Affekt ist – ja geradezu die »menschlichste aller Gemütsbewegungen« (ebd.) sei. Dieser Affekt äußert sich in Intuitionen, in Vorahnungen, im Gespür für das Noch-Nicht. Was Bloch in seiner Enzyklopädie der Hoffnungen entwirft, ist nicht nur ein Sammelsurium von Momenten der Hoffnung in der Weltkultur, sondern eine Methode, mit deren Hilfe sich Momente des Noch-Nicht in der Gegenwart entziffern lassen. Hoffnung erweist sich damit also als eine Methode, die Zukunft in der Gegenwart zu lesen (Miazaky 2004). b) Versklavung durch Hoffnung: Für Bloch war Hoffnung ein utopischer Begriff, der immer schon kapitalismuskritisch ist. Die zweite kritische Denktradition, die sich mit Hoffnung beschäftigt, schließt an Baruch Spinoza an. Dabei wird die affektive Struktur von Hoffnung hervorgehoben, gleichzeitig erscheint Hoffnung aber auch als Mittel der Priesterherrschaft. Schauen wir uns zuerst die Bestimmung von Hoffnung an:
290 | URS STÄHELI »Hoffnung ist nämlich nichts anderes als unbeständige Freude, entsprungen aus dem Vorstellungsbilde eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, über dessen Ausgang wir im Zweifel sind. Furcht hingegen eine unbeständige Traurigkeit, gleichfalls entsprungen aus dem Vorstellungsbilde eines zweifelhaften Dinges. Wenn dann der Zweifel aus diesen Affekten schwindet, so wird aus der Hoffnung Sicherheit und aus der Furcht Verzweiflung: nämlich Freude oder Traurigkeit, entsprungen aus dem Vorstellungsbilde eines Dinges, das wir gefürchtet oder gehofft haben.« (Spinoza 2007 [1677]: 132)
Spinoza verweist darauf, dass Hoffnung immer auch mit Furcht gepaart ist. Stets wird im Akt des Hoffens auch mitbedacht oder gefühlt, dass das Erhoffte gerade nicht eintreten könnte. Furcht und Hoffnung sind eng miteinander verwandte Zukunftsaffekte, die sich nur in ihrem Ziel unterscheiden: Was in der Hoffnung mit Vorfreude aufgeladen ist, ist in der Furcht mit Trauer besetzt. Hoffnung verringert die Freude nicht nur durch diese beständige Beimischung der Furcht. Vielmehr ist die Hoffnung (wie auch die Furcht) ein Machtmittel. Priester mögen den Glauben an das Erhoffte so sehr schüren, dass nahezu alles dafür getan wird, dass größter Verzicht oder Gewalt dafür in Kauf genommen wird. An einer solchen herrschaftskritischen Konzeption der Hoffnung ist für unser Thema wichtig, dass die Hoffnung – so unberechenbar sie ist – zum Gegenstand von politischen Techniken wird, von affektiven Techniken zur Manipulation und Gestaltung von Hoffnung. Hoffnung kann dann zur ökonomischen Ressource werden, die etwa im Marketing eingesetzt wird (MacInnis/de Mello 2005); oder sie erklärt, warum sich Unternehmer auf größte Widrigkeiten einlassen. Diese beiden Hoffnungsbegriffe scheinen sich gegenüberzustehen: einerseits die utopische Hoffnung auf ein radikales Noch-Nicht, andererseits die Instrumentalisierung von Hoffnung als politische Technologie und als ökonomische Ressource. Freilich scheint mir, dass dies nicht unbedingt zwei alternative Sichtweisen sein müssen, sondern dass dadurch das Spektrum der Hoffnung angegeben wird. Die Hoffnung richtet sich auf eine Zukunft, für welche jedes Erwartungskalkül blind bleiben muss. Dieses Zukunftswissen (Possibilismus) ist aber nicht automatisch subversiv, sondern kann zur affektiven Stütze von ökonomischen Verhältnissen werden, indem z.B. auf die ökonomische Verbesserung bestehender Verhältnisse bloß gehofft wird. Diese Ambivalenz der Hoffnung verdankt sie ihrer affektiven Struktur. Als Affekt kann sie nicht ohne weiteres vereinnahmt werden, sie lebt gleichsam ein Eigenleben. Bereits die deutsche Etymologie von Hoffnung verweist auf das mittelhochdeutsche »hopen« – ein ungeduldiges und auch unberechenbares Hüpfen, das der stabilen Erwartung entgegensteht. Die Hoffnung muss ohne stabile Grundlage auskommen; es gibt keine Regeln zur Berechnung von Hoffnungen. Gleichzeitig verweist die Hoffnung auf eine imaginäre Welt, auf kulturelle Narrative, welche die Hoffnung greifbar machen, und sie bedarf Rituale, welche die Hoffnung wiederhol-
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bar machen. Die Aufgabe einer kulturwissenschaftlichen Analyse von Hoffnung bestünde denn auch gerade darin, das ›Hüpfen‹ dieser Imaginationen greifbar zu machen.
3. I MAGINATIONEN
HOFFNUNGSLOSER
Ö KONOMIEN : P ANIK
In den Spekulationsratgebern des 20. Jahrhunderts wird die Hoffnung zwar immer wieder als fester Teil des Marktes genannt. Sie gehört mit der Furcht zu den von Keynes (2007 [1936]) beschworenen »animal spirits«, mit denen die Irrationalität von Spekulation erklärt werden soll. Gleichzeitig verstehen sich diese Ratgeber aber auch als Hilfestellungen zur Austreibung der Hoffnung und Furcht, zur Disziplinierung eines kühl rechnenden und leidenschaftslosen Spekulanten. Ist also – so mag man aus der Perspektive des Erwartungskalküls fragen – Hoffnung für die Schaffung ökonomischer Zukünfte verzichtbar? Oder ist sie bloß ein bedauerliches Störelement, das Finanzmärkte zwar immer noch heimsucht, aber das eigentlich verzichtbar wäre? Welche Rolle spielt die Hoffnung für die Ökonomie, wenn sie doch als instabiler Affekt jeder Form ökonomischer Berechenbarkeit zu widersprechen scheint? Glücklicherweise treffen wir in den Börsensemantiken auf Imaginationen einer Ökonomie ohne Hoffnung: nämlich in den Paniksemantiken. In den Paniksemantiken wird ein Krisenexperiment durchgeführt, das uns bei der Beantwortung unserer Frage unterstützen mag, denn diese entwerfen Bilder dafür, wie eine Ökonomie ohne Hoffnung aussehen könnte. Paniken werden seit dem 19. Jahrhundert als eine radikale Form einer ökonomischen Ausnahmesituation gelesen. Paniken brechen plötzlich aus – und sind nicht erwartbar. Ich kann mich vor einer Panik fürchten, aber kann diese per definitionem nicht erwarten. Aus diesem Grunde steht denn auch die Wirtschaftswissenschaft dem Panikbegriff kritisch gegenüber. Bestimmt man Paniken durch ihr überraschendes Auftreten, dann muss es den Paniktheorien an »predictive power« mangeln, was als konzeptuelle Defizienz gesehen wird (Tisole 2002: 45). Die Theorie effizienter Märkte immunisiert sich gegen ihre Unfähigkeit, eine Panik vorauszusagen. John Kay (2011) formuliert dies pointiert mit Bezug auf Robert Lucas: »The crisis was not predicted, he explained, because economic theory predicts that such events cannot be predicted.« Ganz im Sinne der »black swan«-Hypothese ist das Unerwartete per definitionem nicht vorhersagbar. Vielmehr befindet sich hier der Einsatzpunkte für eine Theorie ökonomischer Affekte: Das Unerwartete kann nicht gewusst, aber gefürchtet oder erhofft werden. Die Panik ist nicht nur die Semantik eines temporalen Einschnitts, der das Erwartbare vom unerwarteten Ausnahmezustand abtrennt. Vielmehr versuchen Panik-
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vorstellungen auch auszumalen, was nach diesem plötzlichen Beginn stattfindet – und gerade dieses Experiment wird uns einen Hinweis auf die Rolle von Hoffnung als ökonomischem Affekt geben. Das typische Beispiel für eine Panik ist der »bank run«: Anleger verlieren ihr Vertrauen in die zukünftige Zahlungsfähigkeit einer Bank und versuchen, so schnell wie möglich an ihr Vermögen zu gelangen. Die Panik kommt dadurch zustande, dass dieser Vertrauensverlust ansteckend ist und zum gleichzeitigen Flucht-Handeln der Beteiligten führt. Und es ist genau diese Gleichzeitigkeit zahlreicher Ansteckungsprozesse, die zum ökonomischen Problem wird. Denn was hier aufgegeben wird, ist die konstitutive Differenz ökonomischen Handelns: Der Aufschub des Genießens verliert sein Ziel, weil das Vertrauen in die Zukunft erschüttert ist. Eine Panik konfrontiert uns mit einem »Mangel an Zeit« (Ciborra 2004: 165). In der Panik wird eine Ökonomie der Gegenwart entworfen – eine Ökonomie ohne Zukunft und Vergangenheit. Was in der Panik zerbricht, sind zunächst die mittel- oder langfristigen Zukunftserwartungen, mit deren Hilfe die Erwartung auf Gewinn aufrechterhalten wird: Sei es die Vorstellung auf den ökonomischen Erfolg technologischer Innovation, sei es die Annahme der Kontrollierbarkeit von Risiken, sei es die Extrapolation eines Wachstumstrends wie z.B., dass die »emerging markets« sich überdurchschnittlich gut entwickeln werden. Noch grundlegender ist jedoch, dass in der Panik die Vorstellung einer grundlegenden ökonomischen Kontinuität, welche all die spezifischen Erwartungen erst möglich macht, suspendiert wird. Genau hier befindet sich der Einsatzpunkt von Furcht und Hoffnung, welche Voraussetzung für die selbstreferentielle Verweisungsstruktur von Erwartungen sind. In der Panik verschwindet die Hoffnung auf die Kontinuität des ökonomischen Lebens. Die Hoffnung darauf, dass das ökonomische Spiel (und nicht nur einzelne Spielzüge) wie gewohnt weiterläuft, versiegt. Es ist gewiss kein Zufall, dass Barack Obama – der Meister einer Politik der Hoffnung – sehr schnell diesen Verlust der Hoffnung bemerkt hat und in der Finanzkrise den »American Dream in reverse« gesehen hat (Debusman 2010). Dieser Zusammenbruch einer grundlegenden Hoffnung in ökonomische Kontinuität, die sich nicht selbst wieder von dieser Kontinuität ableiten lässt, setzt eine sich beschleunigende Fluchtdynamik frei, die häufig als ansteckend beschrieben wird. An die Stelle der Hoffnung, welche zu einer Blase geführt hat, tritt nun die schnelle Furcht. Während populäre Semantiken die Panik als irrationales Phänomen schildern, verweisen Ökonomen, aber auch die Katastrophensoziologie darauf, dass Paniken keineswegs derart irrational verlaufen (Quarantelli 2001). Die Panik mag zwar furchtgetrieben sein, aber dennoch finden in eingeschränkter Form Kalkulationen statt: Indem ich den Verkaufsbewegungen der anderen Marktteilnehmer folge, gehe ich implizit davon aus, dass der Andere die Lage besser einschätzen kann als ich, und betrachte daher die Flucht als notwendig. An diesem Restvertrauen in die Rationalität des Anderen heften ökonomische Rationalisierungen der Panik gleich-
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sam ihre Hoffnung, indem sie die Flucht als rationalen Erwartungs- und Entscheidungsprozess modellieren und auf diese Weise die Panik zu normalisieren versuchen. Gerade diese ›realistische‹ Kritik der Panik-Vorstellungen macht uns darauf aufmerksam, dass wir in den Panik-Semantiken zwischen Erwartung und Hoffnung zu unterscheiden haben. Wenn wir also die Panik als Test verstehen – als Test auf eine Zukunftsvorstellung, welche sich den Zusammenbruch ökonomischen Verhaltens ausmalt – dann fällt auf, dass dies eine weitgehend hoffnungslose Ökonomie ist. Der letzte Rest der Hoffnung befindet sich hier, mit Spinoza gesprochen, in der Furcht: Denn die Furcht unterscheidet sich von der Apathie und Resignation nur dadurch, dass ein letzter Funken Hoffnung in ihr enthalten ist: die Hoffnung, dass durch ein »exit« aus dem Markt das eigene Überleben gesichert werden könnte. Was aber passiert, wenn Erwartungskalküle nur noch auf diese minimale Hoffnung bauen können? Es kommt ihnen jede Vorstellung einer besseren Zukunft, die mit der neuen Kontinuität des Überlebenskampfes brechen würde, abhanden. So ist es typisch für Paniksemantiken, dass diese das Erleben einer Panik als ausweglos beschreiben, gerade weil nicht vorstellbar ist, wie der Sprung aus der PanikÖkonomie gelingen könnte. Die ›überlebenden‹ Erwartungskalküle profitieren in der Panik geradezu von der ihnen zu Grunde liegenden präsentistischen Struktur: Zwar verkürzt sich der Berechnungshorizont radikal (mittel- und langfristige Zukunftshorizonte schwinden), dennoch scheinen Erwartungsinseln zu überleben. Abgestorben aber ist die Hoffnung auf eine ökonomische Zukunft, die über die bloße geglückte Flucht und das Überleben hinausgeht und die mehr als eine exit-Option wäre – eine Zukunft aber auch, die sich nicht berechnen lässt, die sich in kein EgoAlter-Modell sperren lässt (sondern möglicherweise eher als Atmosphäre der Hoffnung funktioniert). Die Panik, so könnte man zusammenfassen, führt uns den Zusammenbruch des Ökonomischen primär als Problem der Hoffnungslosigkeit vor – und nur sekundär als das Abhandenkommen von Erwartungen. Nur die Wiedereinführung der Hoffnung würde das Überwinden der Panik ermöglichen; nur durch die Hoffnung ließe sich der ökonomische Ausnahmezustand der Panik wieder in den ökonomischen Normalzustand überführen. Es scheint fast, dass die Hoffnung zur Garantin des Ökonomischen wird: dass jener instabile, nicht-kalkulierbare und passive Affekt der Hoffnung zur Voraussetzung ökonomischer Kalkulationsräume wird. Umgekehrt würde eine Ökonomie, die nur mit Erwartungskalkülen rechnet, weit davon entfernt sein, eine Marktwirtschaft im Gleichgewicht zu beschreiben: Ihr Feld wäre die Panik als Ausnahmezustand des Ökonomischen.
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4. P OLITIK
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Meine Analyse der Panik-Semantik behauptet also, dass Erwartungskalküle einer Hoffnungsstruktur bedürfen und dass erst mit Praktiken und Imaginationen der Hoffnung ein ökonomischer Normalzustand geschaffen werden kann. Damit muss sich das Ökonomische (im Sinne eines formalen Ökonomiebegriffs) auf nichtökonomische Elemente beziehen, ja diese sind notwendig, um überhaupt den Horizont des Ökonomischen aufzuspannen (Stäheli 2008). Diese affektive Grundlage der Ökonomie (zusammen mit anderen Affekten) ist nicht einfach gegeben, kann nicht einfach in die Ökonomie injiziert werden, sondern wird selbst zum Gegenstand von politischen Praktiken. Kurz: Eine Affekt-Analyse der Ökonomie geht einher mit einer Analyse der Politiken von Affekten. Diese Politisierung der Ökonomie kommt dadurch zustande, dass Affekte nicht automatisch in Einklang mit ökonomischen Handlungsmustern liegen; dass diese geformt werden, zum Kontrollgegenstand werden – oder gar zur ökonomischen Ressource umgewandelt werden (»selling hope«). Eine solche Politisierung der Hoffnung konnten wir während der Finanzkrise 2008/2009 beobachten. In den USA wurde die Hoffnung zum Gegenstand einer breiten politischen Debatte. Ich möchte mich in diesem letzten Teil kurz dieser »Politik der Hoffnung« zuwenden. Interessanterweise ist diese Prominenz der Hoffnung sowohl auf der linken wie auch auf der rechten Seite anzutreffen. Die außerparlamentarische Linke hat in den USA besonders schnell die Rolle der Hoffnung nicht zuletzt auch für die Finanzökonomie erkannt. Bei zahlreichen Protesten waren immer wieder Transparente mit dem gleichen Slogan zu sehen: »No hope in capitalism«.
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Abbildung 1: Studierendenproteste G20, Pittsburgh
Quelle: iamtheantidebutante.deviantart.com/art/No-Hope-In-Capitalism-140420945 vom 25.07.2013.
Dieser Slogan ist doppeldeutig: Einerseits bedeutet die englische Wendung »no hope in«, nicht an die Zukunft zu glauben. Gleichzeitig möchte ich aber auch eine buchstäbliche Lektüre vorschlagen: Es gibt keine Hoffnung im Kapitalismus. In der Finanzkrise hat sich der Kapitalismus der Hoffnung entledigt. Ein Kapitalismus ohne Hoffnung gilt als hoffnungsloser und ganz im Sinne des Panik-Imaginären als nicht überlebensfähiger Kapitalismus. Dieser ersten Wiederentdeckung der Hoffnung als unverzichtbar für das Funktionieren der Finanzökonomie (oder eben sogar des Kapitalismus) folgte aber schnell eine große Enttäuschung. Gerade die apokalyptischen Semantiken, die Ausrufung eines Panik-Kapitalismus haben gleichsam falsche Hoffnungen geweckt. Sie haben die Hoffnung genährt, dass der Kapitalismus ohne Hoffnung sich verabschieden würde. Und erstaunt wird nach der Finanzkrise festgestellt, wie schnell sich die Finanzökonomie regeneriert hat, wie schnell die Krise überwunden worden ist – und im Rückblick nur noch als Störung erscheint. Treffend wird dies von Emily Horne und Joey Comeau, zwei amerikanischen Comic-KünstlerInnen, formuliert:
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Abbildung 2: Apocalypse
Quelle: A softer world 404. Asofterworld.com vom 25.07.2013.
Hierbei handelt es sich um mehr als um ein bloßes Apercu. Die Hoffnung wird selbst zu einer umkämpften Kategorie mit Konsequenzen für die politische Strategie der Linken. Eine Kritik des Kapitalismus muss über eine Kritik des Erwartungskalküls hinausgehen, kann sich nicht mit der Entlarvung der Beschränktheit ökonomischer Zukunftskalkulationen begnügen. Auch eine marxistische Krisentheorie bewegt sich immer noch im Horizont der Kalkulierbarkeit von Krisen. Was nun interessant wird, sind jene politischen Taktiken, welche die Hoffnung in ihrer ökonomischen Bedeutung erkennen, sie aber gleichzeitig als ökonomische Ressource zu schwächen versuchen. So hat etwa der amerikanische Finanzsoziologe und politische Aktivist Randy Martin vorgeschlagen, präsentistische Strategien zu entwickeln (etwa des unmittelbaren Konsums, Taktiken der Unmittelbarkeit, der sofortigen, kleinen Veränderung) – Strategien, die sich weder als Hoffnung für den Kapitalismus umwandeln lassen, noch als ein primär Hoffnung basiertes alternatives politisches Projekt funktionieren. Mit Brian Massumi könnte man hier von einem anderen Typus von Hoffnung sprechen: eine Hoffnung, welche das Sehnen nach einem zukünftigen Ding aufgegeben hat, nicht aber die spielerische Entdeckung von hoffnungsvollen Möglichkeiten in der Gegenwart als Experiment: »[A] concept like hope can be made useful [...] when it is not connected to an expected success – when it starts to be something different from optimism [...] if hope is separated from concepts of optimism and pessimism, from a wishful projection of success or even some kind of rational calculation of outcomes, then I think it starts to be interesting – because it places it in the present.« (zit. n. Zournazi 2002: 211). Diese Kritiken einer unreflektierten Politik der Hoffnung schließen sich laut Martin damit einer Strategie an, die zurzeit gerade von Katastrophendenkern formuliert wird: So ruft etwa Bruno Latour (2012) in einem polemischen Aufsatz zur Klimakatastrophe (»Waiting for Gaya«) zum Verzicht auf eine Politik der Hoffnung auf.
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Die Hoffnung führe dazu, dass das Ausmaß der drohenden Katastrophe verharmlost werde (siehe z.B. Dupuy 2002). Diese Bedeutung einer Hoffnungspolitik des Kapitalismus zeigt sich auch – schon fast spiegelbildlich – in ›kapitalismusfreundlichen‹ gegenwärtigen Debatten. Die Financial Times hatte noch während der Finanzkrise eine große Debatte zur »Zukunft des Kapitalismus« ausgerufen, erwartungsgemäß mit optimistischem Ergebnis – aber auch mit dem Hinweis auf die Grenzen von klassischen ökonomischen Zukunftsmodellen. Das Wall Street Journal veröffentlicht ein neues »Kapitalistisches Manifest« zur Erneuerung, ja zur Rettung der Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus. Dieses Manifest entdeckt zu seiner eigenen Überraschung mit Hilfe eines Franzosen, was den amerikanischen Kapitalismus nährt und was zu sehr verdrängt worden ist: die Hoffnung als Zivilreligion! »Who would have guessed that it would take a Frenchman to remind us that hope is the limitless source of power that drives the human spirit to create, to improve, to achieve its dreams; it is the greatest civilizing influence in our culture. Yet it was Mr. Sarkozy, speaking before Congress last November, who offered the most profound assessment of our nation's gift to the world. ›What made America great was her ability to transform her own dream into hope for all mankind,‹ he said.« (Shelton 2008)
Ganz ähnlich erblickt auch die amerikanische Marketing- und Lifestyle-Journalistin Steph Thompson in der Krise des Kapitalismus die Hoffnung als dessen zentrales Element: »Hope is what got our president elected, it is what makes the stock market surge, draws new immigrants to our shores every day to work toward their dreams. Hope is what we cannot lose and what will make us great, again, still. […] We are free.« (Thompson 2011)
Was nach der Finanzkrise sowohl von der Linken wie auch der Rechten entdeckt wurde, ist die Hoffnung als zentraler ökonomischer Affekt – als ein Affekt, der gar über die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus entscheiden mag. Wie sehr hat sich hier das Bild im Vergleich zu Blochs Zeitdiagnose verändert: Hatte Bloch noch den Kapitalismus als Gefährdung der Hoffnung durch seine nihilistische Struktur gesehen, so wird in der gegenwärtigen amerikanischen Diskussion die ökonomische Hoffnung gerade von den Kapitalismuskritikern angegriffen. Die Hoffnung scheint zumindest in den USA zu einem zentralen Schauplatz von ökonomischen Kämpfen geworden zu sein. Der instabile Affekt der Hoffnung hat die Aufgabe, eine Zukunftsfähigkeit zu schaffen, die den Kurzzeit-Zukünften der finanzökonomischen Erwartungsmodelle abgeht – eine Zukunft, welche diese selbst nicht generieren können, doch aber benötigen. Während sich die ›kalten‹ Erwartungskalküle nur mit Mühe politisieren
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lassen (etwa mit der Wendung, dass diese einen Angriff auf die Zukunft verkörpern würden), scheint Hoffnung in höchstem Maße politikaffin: Dort, wo über ökonomische Träume, über eine Vision, über das Jenseits der Kalküle nachgedacht wird, dort finden auch die Auseinandersetzungen um ökonomische Zukunftsentwürfe statt. Gleichzeitig entzieht sich die Hoffnung als Affekt aber auch ihrer vollständigen diskursiven und politischen Vereinnahmung – sie führt ein Eigenleben und gerade darin mag die Hoffnung auf Hoffnung ihren Nährboden finden.
L ITERATUR Anderson, Ben (2006a): Transcending without Transcendence: Utopianism and an Ethos of Hope. In: Antipode 38, H. 4, S. 691-710. Ders. (2006b): Becoming and Being Hopeful: Towards a Theory of Affect. In: Environment and Planning D: Society and Space 24, H. 5, S. 733-752. Bloch, Ernst (1982 [1959]): Das Prinzip Hoffnung. Bd.3. Frankfurt a.M. Ciborra, Claudio (2004): Digital Technologies and the duality of risk. London (= ESRC Centre for Analysis of Risk & Regulation, Discussion Paper 27). Debusmann, Bernd (2010): Obama and the American Dream in reverse. blogs.reuters.com/great-debate/2010/09/24/obama-and-the-american-dream-inreverse/ vom 23.07.2013. Dupuy, Jean-Pierre (2002): Pour un catastrophisme éclairé. Paris. Emery, Henry C. (1969 [1896]): Speculation on the Stock and Product Exchanges in the United States. New York. Evans, George W./Honkapohja, Sonia (2001): Expectations, Economics of. In: Neil J. Smelser/Paul B. Baltes (Hg.): International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences. Bd. 8. Elsevier, S. 5060-5067. Kay, John (2011): The Map Is Not the Territory: An Essay on the State of Economics. Institute for New Economic Thinking. ineteconomics.org/blog/inet/johnkay-map-not-territory-essay-state-economics vom 23.07.2013. Keynes, John M. (2007 [1936]): The General Theory of Employment, Interest and Money. Basingstoke. Latour Bruno (2012): Waiting for Gaya. www.bruno-latour.fr/node/446 vom 23.07.2013. Lindquist, Galina (2006): Conjuring Hope. Healing and Magic in Contemporary Russia. New York. Luhmann, Niklas (1973): Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart. MacInnis, Deborah/Mello, Gustavo de (2005): The Concept of Hope and its Relevance to Product Evaluation and Choice. In: Journal of Marketing 69, S. 1-14. Martin, Randy (2002): Financialization of Daily Life. Philadelphia.
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Autorinnen und Autoren
Antoine, Nadja Marlene, promoviert am Institut für Film- und Theaterwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie arbeitet als Studienreferentin und Programmkoordinatorin am Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik in Potsdam. Booz, Sophia, M.A., seit 2013 wiss. Mitarbeiterin am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, davor Studium der Volkskunde/Kulturanthropologie und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, laufendes Promotionsprojekt: »Der Aktenvernichter. Die Zerstörung ›sensibler‹ Daten als Kulturtechnik«. Echterhölter, Anna, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören ökonomische Praktiken, literarische Gebrauchsformate und die Geschichte der Hilfswissenschaften (Metrologie, Chronologie). Sie war u.a. Stipendiatin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte sowie Mitglied im Exzellenzcluster TOPOI, Berlin. Veröffentlichungen: Mitgründerin von ilinx – Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft, darin: Auftakt: Ökonomische Praktiken. In: ilinx 3 (2012), S. VII–XXXI; Im Zweistromland der Geldentstehungstheorie. Neutralität und quantifizierte Schuld bei Karl Polanyi und David Graeber. In: Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten. Hg. von Thomas Macho. München: Fink (im Druck); hg. mit Iris Därmann: Konfigurationen. Gebrauchsweisen des Raumes. Berlin: Diaphanes 2013; Schattengefechte. Genealogische Praktiken in Nachrufen auf Naturwissenschaftler 1710–1860. Göttingen: Wallstein 2012. Gerhardt, Holger, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Economics and Neuroscience und Leiter des Laboratoriums für experimentelle Wirtschaftsforschung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
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Hahn, Hans Peter, Prof. Dr., ist Professor für Ethnologie mit regionalem Schwerpunkt Westafrika an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seine Forschungsthemen sind materielle Kultur, Handwerk, Konsum und der Einfluss der Globalisierung auf Gesellschaften weltweit. Neben verschiedenen Projekten der Museumskooperation hat er Forschungsprojekte zu Konsum verschiedener Güter sowie zum Gebrauch von Mobiltelefonen in Westafrika durchgeführt. Seine Publikationen umfassen unter anderem auch Beiträge über Fahrräder, Plastiksandalen und andere Alltagsgüter in Afrika, sowie zu wirtschaftsethnologischen Themen. Er ist stellvertretender Sprecher des Graduiertenkollegs »Wert und Äquivalent« (GRK 1576) an der Goethe-Universität. Klammer, Kristoffer, M.A., Studium der Geschichts- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bielefeld, Promotionsstipendiat der Bielefeld Graduate School in History and Sociology. Interessen: Historische Semantik, Fragen und Methoden der ›neuen‹ Politikgeschichte, Wirtschafts(-kultur-)geschichte. Klein, Inga, M.A., Studium der Volkskunde/Kulturanthropologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Neueren deutschen Literatur in Kiel und Hamburg. Seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Diskurs- und Medienanalyse, kulturwissenschaftliche Technikforschung, Kultur der Ökonomie, Täuschen und Hochstapelei im 20. Jahrhundert (Dissertationsprojekt). Lim, Il-Tschung, Dr. phil., ist Postdoc am NFS Bildkritik Eikones in Basel und Forschungsmitarbeiter am Soziologischen Seminar der Universität Luzern. Forschungsinteressen: Kulturen der Katastrophe/Disaster Studies, Krisen/Katastrophen-/Störungssoziologie. Aktuelle Publikationen: Die Spionage, der Krieg und das Virus – Populäres Globalisierungswissen im zeitgenössischen Hollywood-Kino, München/Paderborn 2012; Geld Bewegt Bild. Studien zur visuellen Repräsentation eines modernen Versprechens (Themenheft), Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik, Heft 5, März 2013 (Hg.). Meyer, Silke, Ass.-Prof. Dr., studierte Volkskunde/Europäische Ethnologie, Kunstgeschichte und Anglistik an den Universitäten Tübingen, Münster und Sheffield. Nach ihrer Promotion an der Universität Münster war sie als DAADHochschullektorin an der University of Nottingham und als Universitäts-Assistentin am Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie in Münster tätig. Seit 2010 ist sie Assistenzprofessorin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die ökonomische Anthropologie und kulturwissenschaftliche Schuldenforschung (Habilitation), Stereotypenbildung und nationale Identitätsformation sowie Bildwissen-
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schaft. Für ihr Studienprojekt »Money Matters. Umgang mit Geld als soziale und kulturelle Praxis« erhielt sie den Preis für exzellente Lehre (Lehreplus! 2012) der Universität Innsbruck sowie den österreichischen Staatspreis Ars Docendi 2013 in der Kategorie »Innovative Lehrkonzepte«. Oliva Córdoba, Michael, Dr., studierte Philosophie, Englische Sprache und Ethnologie. Er ist seit 2007 Wissenschaftlicher Koordinator des Fachbereichs Philosophie an der Universität Hamburg und forscht und lehrt im Arbeitsbereich Geschichte der Philosophie. Seine Spezialgebiete sind Grundlagen der Analytischen Philosophie und Handlungstheorie. Pahl, Hanno, Dr., Forschungsmitarbeiter am Soziologischen Seminar der Universität Luzern sowie assoziiertes Mitglied der KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften an der Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie, Soziologie der Wirtschaft und des Geldes, Wissenschaftssoziologie. Puster, Rolf W., Prof. Dr., studierte Philosophie und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft. Seit 2003 ist er am Fachbereich Philosophie der Universität Hamburg Professor für Geschichte der Philosophie mit dem Schwerpunkt Philosophie der Neuzeit. Sein Interesse an zentralen Fragestellungen der Theoretischen und Praktischen Philosophie ist jedoch nicht nur rein historisch, sondern es führt regelmäßig zu systematisch orientierten Brückenschlägen in die Philosophie des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Schemmer, Janine, M.A., 2000-2007 Studium der Volkskunde/Kulturanthropologie, Anglistik und Museumsmanagement an den Universitäten München, Murcia und Hamburg. 2009-2012 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Werkstatt der Erinnerung, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. In ihrer Dissertation untersucht sie berufsbiographische Erzählungen über den Wandel der Arbeitswelt Hafen Hamburg. Scholl, Stefan, M.A., Geschichtsstudium in Bielefeld und Paris. 2008-2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« an der Universität Bielefeld. Dissertationsprojekt »Trennungsgründe. ›Wirtschaft‹ und ›Politik‹ im 20. Jahrhundert«. Zurzeit Lehrkraft an der Universität Siegen. Stäheli, Urs, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, insbesondere Poststrukturalismus und Neomaterialismus; Kulturen der Ökonomie; Kultursoziologie.
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Wichtige Buchveröffentlichungen: Spektakuläre Spekulation (Suhrkamp 2007); Sinnzusammenbrüche (Velbrück 2000). Welz, Gisela, Prof. Dr., Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Die Inwertsetzung von kulturellen Traditionen in der Tourismusökonomie, in der Kulturpolitik und im Stadtmarketing ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Außerdem hat sie Forschungen zur Implementierung der EU-Politik im Umweltschutz und in der Regionalentwicklung durchgeführt. Windmüller, Sonja, Dr., Studium der Europäischen Ethnologie/Volkskunde und Germanistik in Marburg und Wien. 1997 M.A., 2002 Promotion. 2006-2012 Juniorprofessorin für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg, WS 2011/12 Vertretung der W3-Professur Volkskunde/Kulturanthropologie in Hamburg, 2013 f. Forschungsstipendium der Isa Lohmann-Siems Stiftung. Forschungsschwerpunkte: Materielle Kultur und Moderne, Abfallforschung, Ordnungssysteme und Normierungsprozesse, Bewegungs- und Rhythmusforschung, Kultur(en) der Ökonomie. Aktuelles Forschungsprojekt zu »Rhythmen (in) der Ökonomie«.
Edition Kulturwissenschaft Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Dezember 2014, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington, Gesa Ziemer (Hg.) Versammlung und Teilhabe Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste Mai 2014, 344 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2681-0
Rainer Guldin Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität Oktober 2014, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2818-0
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Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Dezember 2014, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
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Yuichi Kimura, Thomas Pekar (Hg.) Kulturkontakte Szenen und Modelle in japanisch-deutschen Kontexten Dezember 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2739-8
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