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German Pages 178 Year 2020
Nicola Scherer Narrative internationaler Theaterfestivals
Theater | Band 136
Für Ella und Emmit
Nicola Scherer-Henze (Dr.in phil.), geb. 1982, lehrt und forscht am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Ihre Schwerpunkte sind Festival Studies, Philosophie für Kulturmanager*innen, Postheroisches/Partizipatives Kulturmanagement und neue Methoden für Lehre und Forschung.
Nicola Scherer
Narrative internationaler Theaterfestivals Kuratieren als kulturpolitische Strategie
Tag der Disputation: 6. Februar 2020, Universität Hildesheim Gutachter: Prof. Dr. Wolfgang Schneider Prof. Dr. Julius Heinick
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Inhalt
Danksagung ...............................................................9 Zum Geleit Von Professor Dr. Wolfgang Schneider ........................................ 13 Kartografie des Kuratorischen................................................ 14 Zusammenleben, Zusammendenken und Zusammenhalten .................... 15 Theaterfestivals als transkultureller Austausch ............................... 16
Abstract (Deutsch/Englisch) ......................................... 19 Internationale Theaterfestivals als diskursives Moment ........ 21 Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals .................................... 29 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Forschungsfrage: Welche kulturpolitischen Strategien zeigen sich bei internationalen Theaterfestivals? ...................................... 30 Thesen zu Narrativen und kulturpolitischen Strategien internationaler Theaterfestivals......................................... 31 Forschungsgegenstand: internationale Theaterfestivals und Theorierahmung .................................................. 36 Forschungsstand: internationale Theaterfestivals im deutschsprachigen Raum ............................................ 41 Codierung: Theoretisierung der Betrachtungsweise der handelnden Akteure ............................................... 46
Kartografie internationaler Theaterfestivals .................... 53 3.1
Veränderung der Festivals – Verschiebung in der Selbstbestimmung und Erweiterung der Formate .......................................... 56 3.2 Neue Narrative und aktuelle Entwicklungen internationaler Theaterfestivals ....................................... 57 3.3 Das neue Berufsfeld der Kurator*innen in den performativen Künsten .. 62
Narrative und kulturpolitische Strategien internationaler Theaterfestivals .................................... 65 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Postkoloniale Perspektiven als Narrativ beim Festival Theaterformen................................................. 66 Digitalisierung und Datapolitics als Narrativ beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel ......................... 75 Migration als Narrativ beim Festival Zürcher Theater Spektakel ............................................. 86 Transkulturalität als Narrativ beim Festival steirischer herbst ...................................................... 92 Internationaler Austausch von Nachwuchskünstler*innen als Narrativ beim Internationalen Forum des Berliner Theatertreffens ................ 104 Internationale Theaterfestivals als kulturpolitisch relevante Akteure für die internationale Theaterlandschaft ............................... 114
Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft ......................... 115 5.1
Eine kulturpolitische Position zu Aufgaben und Grenzen der Theaterkunst: Holger Bergmann (Geschäftsführung Fonds Darstellende Künste e.V.) ..................... 115 5.2 Postkoloniales Kuratieren bei internationalen Theaterfestivals – eine journalistische Position: Esther Boldt (Freie Autorin für Theater heute und nachtkrititk.de) ...... 118 5.3 Internationale Perspektive auf die Festivallandschaft: Kathrin Deventer (Generalsekretärin European Festivals Association, Brüssel) ............123
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative Handlungsweisen und Operationsmöglichkeiten internationaler Theaterfestivals ...................................... 129 6.1
Narrative in den Kunstwerken und Inszenierungen der Festivals .......................................................... 129 6.2 Kuratieren als kulturpolitische Strategie ...............................134 6.3 Internationale Theaterfestivals als Teil eines Kulturkosmopolitismus .... 137 6.4 Entwicklung eines Modells: Internationale Theaterfestivals als Akteursnetzwerk ....................143
Die Zukunft internationaler Theaterfestivals – Plädoyer für eine Vielfalt in der Kuration ..........................................155 Bibliografie ............................................................ 163
Danksagung
Mein Dank geht an die studentischen wissenschaftlichen Hilfskräfte Carolin Kister und Amelie Limbach, danke für Eure Unterstützung bei Transkription und Zusammenfassung der Interviews, sowie Rosalie Schneegaß für die erneute Sondierung der Literatur. Wir müssen noch viel schreiben! Frau Prof.in Dr.in Birgit Mandel danke ich für den Hinweis zum Förderprogramm des Gleichstellungsbüros der Universität Hildesheim und die wiederholten Nachfragen über den Stand der Dinge. Prof. Dr. Eckard Bauer und Karl Eden von der Hochschule für Bildende Künste (HBK) Braunschweig danke ich für den Anstoß mit der Frage: »Wollen Sie nicht lieber promovieren?« Sabine Karmrodt und Karin Burg danke ich für die stetige, schnelle und freundliche Unterstützung bei allen formalen Angelegenheiten – Und sie retten immer noch Welten, die Instituts- und Dekanatssekretärinnen. Mein herzlicher Dank geht an alle wunderbaren Menschen, die sich im Doktorandenkolloquium tummeln, insbesondere Dr.in Katharina Schröck für ihre Anmerkungen und Rolf C. Hemke für die Einblicke in die afrikanische Festivallandschaft, sowie allen im Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung und am Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Vielen Dank für Euren methodischen Beistand, Diskussionen und Überzeugungskraft. Vielen Dank an die gesprächsbereiten und versierten Expert*innen der internationalen Theaterfestivals: Martine Dennewald, Veronica Kaup-
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Hasler, Sandro Lunin , Daniel Richter, András Siebold und den Expert*innen der Außenansicht: Esther Boldt, Kathrin Deventer und Holger Bergmann. Sigrid Gareis, Prof.in Dr.in Nicole Hatzinger und PD Dr.in Katja Schneider danke ich für ihr Engagement im Lehrgang Kuratieren in den szenischen Künsten und all die wertvollen, internationalen Einblicke, die dieser eröffnet hat. Prof. Dr. Philipp Schulte der LMU München danke ich für die spontane Zwischen-Autobahn-und-Büro-Reflexion zu den Ergebnissen dieser Arbeit. Sarah Zerwas und Kristof von Anshelm, das Team »VON A UND Z«, danke ich für das Grübeln über Darstellungsmöglichkeiten komplexer Themen bei Kaffee. Meinem Erstbetreuer Prof. Dr. Wolfgang Schneider danke ich für die Einladung nach Hildesheim und die Aufnahme in diesen Kreis in einem Moment der Niederlage. Nach dem Schneider´schen Prinzips des Fragenstellens, gefolgt von einer Entscheidung: »Um was geht es in Ihrem Forschungsprojekt?« »Haben Sie eine Betreuung?« »Jetzt haben Sie eine.« Danke für all die vielen Besprechungen, am Würstchenstand in der Frankfurter Markthalle, in der Lobby des Berliner Motel One Hotels, mit Blick auf die Wiese im Hofcafé am Kulturcampus Domäne Hildesheim. Ich würde mit Dir an jeder Bar dieser Welt immer wieder gerne ein Wasser trinken. Meinem Zweibetreuer Prof. Dr. Julius Heinicke danke ich für das spontane Ja-Sagen zur Betreuung und schnellen Begutachtung dieser Arbeit und die fortwährende mentale Unterstützung. Ashley Bird, thank you so much for proofreading my English abstract between different time zones. Time and space will never be an issue for this fantastic friendship. Dr.in Elisabeth Schäfer und Prof. Dr. Eric Sons deren akademische Weite und Tiefe ich immer wieder feiere und genieße. Vielen Dank für den Beistand in vielen zu kurzen Begegnungen auf Tagungen und Netzwerktreffen. Urszula Wojewoda-Scherer und Dr. Olaf Scherer danke ich für das Konzept »Türen-offen-Halten« und ihren unermesslich großen Anteil in einer dauerhaften und bedingungslosen Unterstützung.
Danksagung
Den Heroines Dr.in cand. Nicole Schrader danke ich für alle positiven »Working out Loud«- Momente. Dr.in cand. Kerstin Saremba, ich weiß nicht wie viele Kilometer wir gelaufen sind, wie viele Kaffees getrunken, wie viele Anläufe wir genommen haben: »If you walk with me. We can take small steps.« – Ich danke Dir dafür, dass Du bei jedem Schritt dabei warst. & Last, but never ever the Least Danke ich Dir, Dr. Stefan Henze und Ella & Emmit – Die Knallerbsen. Jetzt wird mindestens so lange gefeiert, wie es gedauert hat, das Ding zu schreiben!
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Zum Geleit Von Professor Dr. Wolfgang Schneider
Zum Stichwort »Festivals« findet »Google« mehr als 400 Millionen Ergebnisse. Allein in Deutschland sollen jährlich laut »Wikipedia« mehrere Hundert Theaterfestivals stattfinden. Das Format scheint sich etabliert zu haben, es setzt auf den Event, in kurzer Zeit, zumeist an einem Ort, Aufführungen der Darstellenden Künste zu versammeln. Das Zeigen ist das eine, das Diskutieren das andere. Aber mit welchen Zielen und mit welchen Zielgruppen, mit welcher ästhetischer und inhaltlicher Fokussierung, mit welchem Auswahlverfahren und mit welcher Kuration? Und was sind die Spezifika insbesondere internationaler Theaterfestivals, wer sind die Akteure und was sind deren Narrative? Das Phänomen der Festivalisierung der Gesellschaft – oder wie gelegentlich spöttisch das Überangebot als »Festivalitis« bezeichnet wird – erfordert auch eine kulturpolitische Analyse und Reflexion. Geht es um Marktwerte, um Vermittlungsansprüche, um künstlerische Interventionen und thematische Impulse? Welche Rolle spielen Festivals in einer ausdifferenzierten Theaterlandschaft, deren Infrastruktur vor allem durch die Förderung der Institutionalisierung und von Projekten der Produktion geprägt sind? Und wie nachhaltig ist das Ganze, im Hinblick auf den Standort, auf die Region und die Weiterentwicklung der Darstellenden Künste? Nicola Scherer-Henze sieht internationale Theaterfestivals als diskursives Moment, weil sie thematische Setzungen vornehmen, Impulse für Praxis und Politik geben und sie das Internationale in der Kultur stärken könnten. Sie seien auch so etwas wie Seismografen für Fragen nach Konzeptionen von Gesellschaft(en). »Neben Fragen des gesellschaftli-
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Narrative internationaler Theaterfestivals
chen Zusammenlebens verhandeln sie Diskurse wie Critical Whiteness, Gender, Diversity, Migration, Globalisierung und Digitalisierung.« Es gehe auch immer darum, die Relevanz von Theaterarbeit und die Legitimität der Kunstform zu befragen. Ganz grundsätzlich will die Forschungsarbeit auch den Ort für internationalen Austausch und Diskurs über globale Krisen untersuchen. »Die Hypothese hierbei ist, dass internationale Theaterfestivals ein verbleibendes Feld in der Theaterlandschaft darstellen, in dem nachhaltig neue Konzepte gezeigt und entdeckt, Nachwuchsförderung und internationaler Austausch gefördert und produziert werden.« Mit einem interdisziplinären Forschungsansatz aus theoretischen Überlegungen der Theaterwissenschaft und der Kulturpolitikforschung sowie der Soziologie und der Philosophie wird versucht, die Funktionsweise von Theaterfestivals zu ergründen, auch unter Einbeziehung von Perspektiven der Macher_innen.
Kartografie des Kuratorischen Analysiert werden Programmformate wie Inszenierungen, Publikumsgespräche, Workshops, Ausstellungen und Tagungen, reflektiert werden Strategien, Ziele und Haltungen; es geht um das Internationale, die Vielfalt, das Narrative, aber eben auch das Kulturpolitische. Nach dem Kartografieren der Felder sollen empirische Daten erhoben und ein theoriebasiertes Modell entwickelt werden. Forschungsfragen sind u a.: »Durch welche kuratorischen Entscheidungen werden kulturpolitische Strategien erkennbar? Welche Formate enthalten Narrative oder kulturpolitische Strategien? Welche Rolle spielen internationale Theaterfestivals innerhalb der deutschsprachigen und internationalen Theaterlandschaft?« Die Auswahl der Festivals erfolgte anhand der Indikatoren Internationalität, internationale Relevanz und kulturpolitische Ziele. Zudem kamen »kulturelle Bildungsformate aktiver Teilhabe, diskursive Formate, Trans-/Interdisziplinarität, transkulturelle Ansätze in der kulturpolitischen Ausrichtung der Festivals, Zukunftsorientie-
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rung, Nachhaltigkeit sowie das Selbstverständnis als Plattform für experimentelle Formen« hinzu. Ausgewählt wurden schließlich das Festival »Theaterformen« (Braunschweig, Hannover), das »Internationale Sommerfestival auf Kampnagel« (Hamburg), das »Züricher Theaterspektakel«, das Festival »steirischer herbst« (Graz) und das »Internationale Forum des Berliner Theatertreffens«. Als Experten wurden zudem befragt: der Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, eine Theaterkritikerin und die Generalsekretärin der European Festival Association. Schon zu Beginn der Feldforschung stellt Nicola Scherer-Henze die Rückbesinnung der Theaterfestivals auf politische Themen fest, nennt sie Plattformen analog von Selbstdefinitionen und identifiziert schon bei oberflächlicher Betrachtung insbesondere partizipative Formate. Auffällig hierbei sei, »dass es vermehrt um gesellschaftliche Themen« gehe, dass eine Ausweitung der Räume ins Urbane stattfände, sowie auch dezentrale Orte und der rurale Raum eine Rolle spiele. Theater werde als Spiegel gesellschaftspolitischer Zustände verstanden.
Zusammenleben, Zusammendenken und Zusammenhalten Bei aller Unterschiedlichkeit der beforschten Beispiele können Gemeinsamkeiten festgehalten werden: neue Formen des Zusammenlebens, ein Zusammendenken von darstellenden Künsten und politischem Aktivismus sowie das Zusammenhalten von demokratischen Errungenschaften und europäischen Werten. Aber auch das Verhältnis von globalem Norden und globalem Süden wird thematisiert, die Freiheit des Theaters propagiert und die Instrumentalisierung von Kunst reflektiert. Erkenntnisse werden auch zwischen Kulturpolitik und Kulturmanagement generiert: »Als kuratorische Strategie lässt sich festhalten, dass die Kuration des Festivals als Prozess beschrieben wird, welcher sich in vielen Gesprächen, Diskussionen mit Künstler_innen und theaterexternen Expert_innen vollzieht.« Die Programme der Festivals erzählen von alternativen Narrativen, also von einer toleranten Gesellschaft, wenden sich wider Nationa-
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lismus und Rassismus; sie würden Zukünfte antizipieren, in denen Menschlichkeit und Gerechtigkeit dominieren. Die grafische Auswertung mündet in der Matrix eines Akteursnetzwerks. Denn das komplexe System von Theaterfestivals bedurfte im wahrsten Sinne des Wortes der Auseinandersetzung. Die Akteure sind sowohl Subjekte als Objekte. Nicola Scherer-Henze nennt sie entlang der soziologischen Theorie für eine neue Gesellschaft nach Bruno Latour Aktanten. Auch die Zusammenfassung aller Aktanten überzeugt. Eine Grafik macht nicht nur deutlich, wer mit welchen Interessen wirkt, sondern auch, welche verhandelten Gegenstände auf die Agenda der Diskurse gelangen und wie sie mit wem und wo zur Entfaltung gebracht werden.
Theaterfestivals als transkultureller Austausch Internationale Theaterfestivals könnten durchaus das Potential haben, zu lernendenAkteuren in der Kulturlandschaft zu werden. Deshalb plädiert die Forschungsarbeit dezidiert für künstlerische Freiräume, in denen sich Ästhetik und Inhalte entwickeln könnten, für die Transformation des Kulturjournalismus zu einem begleitenden Partner und eine fürsorgliche Kulturpolitik, die weniger die üblichen Kennzahlen bedient als fragt: »Wer ist nicht vertreten? Wessen Geschichten werden nicht erzählt? Welche kolonialen Strukturen und Machtverhältnisse gilt es bei internationalen Theaterfestivals für die Zukunft zu vermeiden?« Es gelte neue Öffentlichkeiten zu schaffen, diskursive Formate zu programmieren und durch Ko-Produktionen den transkulturellen Austausch zu fördern, um vielfältige Blickwinkel auf Gesellschaft zu ermöglichen. Nicola Scherer-Henze hat eine Forschungslücke geschlossen; wir wissen jetzt mehr über die disparate Welt von Theaterfestivals. Ihr ist es gelungen, nicht nur das System solcher internationaler Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum zu analysieren, sondern auch die Ziele als Strategien zu Tage zu fördern und zur Diskussion zu stellen. Methodisch macht sie alles richtig, sie wählt überzeugend aus, was als Beispiel ergiebig sein könnte, sie befragt nicht nur die Inszenierungen, die ge-
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zeigt werden, sondern auch die sogenannten Begleitprogramme. Es ist ihr Verdienst nachzuweisen, dass in zunehmender Weise die Diskurse in ihren diversen Erscheinungsformen eine größere programmatische Rolle spielen und oft sogar Ausgangspunkt der Einladungspraxis oder der Produktionsbeauftragung sind. Deutlich wird der Transformationsprozess zu Theaterfestivals als Plattform gesellschaftlicher Aktanten aus Kunst und Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft sowie Kultureller Bildung und kulturpolitischer Kuration. Nicola Scherer-Henze kennt sich aus, sie ist mittendrin und nah dran – als belesene Kulturwissenschaftlerin, als erfahrene Kulturmanagerin, als aufmerksame Projektmitarbeiterin bei diversen Festivals. Sie pflegt die nötige wissenschaftliche Distanz, sie nutzt die teilnehmende Beobachtung und die Methode, über Experteninterviews zu Aussagen zu gelangen, die authentisch aus der Praxis entwickelt wurden, um sie theoretisch einzuordnen unddarausBausteine für ein Modell zu nutzen. Diese Forschungsarbeit, die einem gesellschaftlichen Phänomen in der Kulturlandschaft akribisch nachzugehen weiß, um der Entwicklung von Strategien von Theaterfestivals auf die Spur zu kommen, ist ein kulturpolitischer Gewinn und für die Theaterpolitik-Forschung von großer Relevanz.
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Abstract (Deutsch/Englisch)
Die vorliegende Arbeit analysiert und diskutiert kulturpolitische Strategien internationaler Theaterfestivals im deutschsprachigen Raum. Es wird untersucht, zu welchen Narrativen internationale Theaterfestivals beitragen, und es wird der Frage nachgegangen, ob Kurator*innen dabei dezidiert kulturpolitische Ziele verfolgen. Die kulturpolitische Forschungsarbeit folgt hierbei einem interdisziplinären Forschungsdesign und verbindet theoretisch-methodologische Anteile mit einem empirischen Teil von Expert*inneninterviews. Innerhalb der Arbeit wird auf Basis der Grounded Theory ein Modell internationaler Theaterfestivals als Akteursnetzwerk entwickelt, welches die Funktionsweise von internationalen Theaterfestivals und das Entstehen von Narrativen und kulturpolitischen Strategien sichtbar macht. Within the following PhD thesis various cultural policy strategies of international performing arts festivals are discussed and analyzed. The thesis examines ways in which international performing arts festivals contribute to narratives and asks if curators follow distinctive cultural policy aims in their decision-making process. The design of this research follows an interdisciplinary approach and combines theoretical methodology with empirical expert interviews. Based on grounded theory the thesis will develop a framework of the international performing arts festival as an actor network, and as such will lay bare the connections between international theatre festival narratives and cultural policy strategies.
1. Internationale Theaterfestivals als diskursives Moment
Internationale Theaterfestivals kondensieren die Essenz dessen, was künstlerisch und kulturpolitisch international verhandelt wird. Sie zeigen, mit welchen Thematiken sich Künstler*innen weltweit beschäftigen und unter welchen kulturpolitischen Rahmenbedingungen sie dieses tun. Festivals folgen einer eigenen Logik, in welcher sie wiederum die komplexen Themen, Narrationsweisen, Ästhetiken und Sprachen einem vornehmlich lokalen Publikum zu vermitteln versuchen. Internationale Theaterfestivals spielen folglich eine wichtige Rolle innerhalb der Theaterlandschaft und können anders als Spielstätten1 , die einem Jahresspielplan folgen, eine stärkere und fokussierte thematische Setzung vornehmen und hier zu kulturpolitischen und künstlerischen neuen Narrativen beitragen. Ein weiteres Merkmal der Theaterfestivals ist ihre Internationalität, durch welche sie in hohem Maße divers sind, in den Themen, Ästhetiken, den handelnden Akteur*innen, wie Künstler*innen, Vortragende zu gegenwärtigen künstlerischen und politischen Diskursen, Stipendiat*innen, Sprechsprachen, Bildsprachen, Dekodierungssystemen, dies benötigt Untertitelung, Vermittlung und neue Kompetenzen bei den Rezipient*innen, zum Beispiel die der transkulturellen Öffnung.
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Gemeint sind alle Stadt- und Staatstheater, Off-Theater, Gastspielhäuser und Bespielhäuser der freien Szene. Es gibt auch an Stadttheater angeschlossene Festivals wie beispielsweise das Festival »Um alles in der Welt Lessing« des Hamburger Thalia Theaters.
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Was Regelbetriebe als Umbau am lebenden Objekt versuchen, wie beispielsweise das Programm 360 ° – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft der Kulturstiftung des Bundes, welches in einem Topdown-Prozess für mehr Diversität in der Kultureinrichtung sorgen will, oder die Münchener Kammerspiele unter der Leitung von Matthias Lillenthal, der die freie Szene in das Stadttheater Bayerns holte und damit Grundsatzdebatten in der kommunalen Kulturpolitik und Stadtgesellschaft auslöste, betreiben internationale Theaterfestivals bereits seit Jahrzehnten professionalisiert und mit kulturpolitischer Haltung, so die These. Eine Theaterszene, die zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe werden will2 , während eine Studie die desolaten Zustände der Theaterlandschaft in Zahlen unbequem transparent darstellt3 , kann von dieser Ausnahmeform, deren Funktionsweise das Herstellen eines temporären Ausnahmezustandes ist, einiges mitnehmen. Auch Milo Rau formuliert aus der Festivalkultur heraus die Utopie für das Theater von morgen, wie Christian Rakow hier zusammenfasst: Mit der Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit wirken die Festivals an dem mit, was der Recherchetheatermacher und künftige Intendant des NT Gent Milo Rau jüngst als Utopie eines künftigen Theaters umrissen hat: ein »globales Volkstheater«, das im Austausch von Produktionen über Ländergrenzen hinweg entsteht und mithilft, dass Menschen ihre Themen und Ästhetiken miteinander teilen.4 Diese Forschungsarbeit stellt die Frage, in welchen Momenten und in welcher Weise sich kulturpolitische Haltungen bei internationalen Theaterfestivals zeigen. Verfolgen Festivalleiter*innen hierbei konkrete 2
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Siehe Website der UNESCO, Pressemittteilung vom 3.4.2018. Die Entscheidung fällt Ende 2019. Website: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-weltweit/nominierung-der. Abgerufen am 26.9.2019. z.B.: Studie zu »Frauen in Kultur und Medien« des deutschen Kulturrats von 2016, siehe Website: https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2016/12/ Frauen-in-Kultur-und-Medien.pdf. Abgerufen am: 26.09.2019. »Kunst Gegen Kohle – Theaterfestivals in Deutschland.« https://www.goethe.de/de/kul/tut/gen/tup/21048289.html, March 17, 2019.
Internationale Theaterfestivals als diskursives Moment
kulturpolitische Ziele oder dezidiert eine kulturpolitische Strategie? Welche Weltbilder liegen der Kuration zugrunde? Und wie werden diese durch künstlerische Formate nach außen getragen? Welche Funktionsweisen lassen sich beschreiben, in denen kulturpolitische Strategien bei internationalen Festivals zum Tragen kommen? Obgleich sich die Festivallandschaft weiterentwickelt hat und es immer vielfältigere Formen von Festivals gibt, fehlt weitestgehend eine kritische Reflexion durch die Forschung. Neben der Forschungslücke, die es zu schließen gilt, ist die Beschäftigung mit kulturpolitischen Strategien internationaler Theaterfestivals noch aus einem weiteren Grund relevant. Sie fungieren als Seismograf für Fragen nach Konzeptionen von Gesellschaft(en), Fragen nach persönlichen Lebensweisen und können hier Suchbewegungen aufzeigen, die gegenwärtig in den Künsten und gesellschaftlich stattfinden. Neben Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens verhandeln sie Diskurse wie Critical Whiteness, Gender, Diversity, Migration, Globalisierung oder Digitalisierung. Daran angeschlossen sind neue Aushandlungsprozesse um Ländergrenzen, Re-Nationalisierungs- und Re-Demokratisierungsprozesse, die das Medium Theater nicht nur thematisch tangiert, sondern auch neue Fragen der Legitimität der Kunstform Theater und des spezifischen Formats Festival und des Theaters als Verhandlungsplatz gesellschaftlicher Relevanz kulturpolitisch diskutiert. Im Kontext des Kunstdiskurses steht das Format Festival in der Kritik, zur Eventisierung der Künste beizutragen und hier einem allgemeinen gesellschaftlichen Trend und der von Adorno und Horkheimer5 antizipierten Verzweckung von Kunst im Sinne einer Kulturindustrie zu folgen, im Raum. Hier stellen sich Fragen, inwieweit Kunst zum Mittel von Eventisierung wird und wo die Grenzen zwischen Popkultur im Theater und der Auslösung des Formats in reine Freizeit- und Unterhaltungskultur verlaufen oder ob es in Anbetracht neuer Diskurse
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Theodor W. Adorno, Prismen: Kulturkritik und Gesellschaft, ungekürzte Ausg., Dtv. – München: Dtv, 1961- 159 (München: Dt. Taschenbuch-Verl., 1963).
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um Niedrigschwelligkeit und Diversität6 oder Nicht-Besucher*innen7 und dem Durchbrechen einer elitären, intellektuellen Abgrenzung der Kunst kulturpolitisch und theoretisch neu zu betrachten wäre. Als Gegenargument stellt sich die Idee des Festivals als Plattform für experimentelle Formen der Künste und (Re-)präsentations- und Produktionsort für international unterrepräsentierte oder verfolgte Künstler*innen dar. In diesem Spannungsfeld ordnet sich eine vielfältige Festivallandschaft an. Es entwickeln sich partizipative Formate, und das Feld der immersiven Künste entsteht. Festivalleiter*innen arbeiten mit Konzepten von Empowerment, wie beim internationalen Sommerfestival Kampnagel, bei dem der Anteil der Autorinnen bei Wikipedia, der bei 13 % liegt, in dem Format Feminist Wikipedia Edit-A-Thon erhöht werden soll. In den immersiven Künsten geht es um einen niedrigschwelligen, fast universellen Zugang zu Kunstwerken und das Hineingezogensein in dem Moment der Rezeption. Ong Keng Sen, vormaliger Kurator des Singapore International Festival of the Arts, arbeitet beispielsweise mit Jane Bennetts Konzept von Entchantment. Mit dem Begriff Entchantment beschreibt sie die Fähigkeit des Menschen, in einen Zustand der Verzauberung zu gelangen. »To be enchanted is to be struck and shaken by the extraordinary that lives amid the familiar and the everyday. Starting from the assumption that the world has become neither inert nor devoid of surprise but continues to inspire deep and powerful attachments. […].«89 6
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Christiane Dätsch, ed., Kulturelle Übersetzer: Kunst Und Kulturmanagement Im Transkulturellen Kontext, Edition Kulturwissenschaft, Band 103 (Bielefeld: transcript, 2018). Thomas Renz, Nicht-Besucherforschung: Die Förderung Kultureller Teilhabe Durch Audience Development, Schriften Zum Kultur- Und Museumsmanagement (Bielefeld: transcript, 2016). Bennett, Jane: The Entchantment of modern life – attachments, crossings, and ethics. Princeton University Press, New Jersey 2001, S. 4. Sie stellt die Frage, ob der Widerstand gegen die Idee, dass die Moderne entzaubert sei, einen positiven Effekt für das ethische, soziale und politische Zusammenleben bedeuten könnte. Die Grundidee der »Entzauberung der Welt«
Internationale Theaterfestivals als diskursives Moment
Bennett setzt Webers entzauberten Moderne ein alternatives Konzept entgegen und schreibt insbesondere den Künsten zu, eine Erfahrungswelt zu ermöglichen, um eine Ethik zu etablieren, die empathisch ist, affektive Reaktionen befördert, psychosoziale kollektive Gesundheit unterstützt und affirmative Fremdheitserfahrungen kreiert. Kunst könne dies durch unterschiedliche Eigenschaften erzeugen, wie: »power of an artwork, entities of an actor network, identity concepts of objects, status of an object in relation to human subjects, the question of art becoming art through an exhibition«10 . Bennett interessiert der Gedanke, inwieweit »the ways in which the cultural narratives that we use help to shape the world in which we have to live.« Vor der Frage, in welcher Weise kulturelle Narrative die Welt, in der wir zu leben haben, mitgestaltet, liegt die Frage, welche Narrative überhaupt erzeugt oder miterzählt werden, in diesem Fall durch internationale Theaterfestivals. Im wissenschaftlichen Diskurs wird Performing Citizenship als Modell einer künstlerischen Partizipation am politischen Diskurs betrachtet, der Posthumanismus betrachtet die Neuordnung von Subjekt- und Identitätskonzeptionen zwischen Digitalisierung und Globalisierung, die De- und Postkoloniale Theorie leistet einen Beitrag zu einem globalen Perspektivwechsel. In den Künsten entwickeln sich neue Produktions- und Distributionsweisen; das Selbstverständnis von Künstler*innen befindet sich ebenso im Wandel, wie generelle Identitäts- und Subjektkonzeptionen.11 Welche künstlerischen und kulturpolitischen Strategien verfolgen die Festivalleiter*innen im Kontext dieser sich verändernden Gesellschaftsstrukturen? Welche Ästhetiken, Narrationen kommen hinzu? Und welche zusätzlichen Formate bilden sich aus? Welchen Platz
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stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert, in welchem Max Weber Prozesse der Intellektualisierung und Rationalisierung als Ursache der Entzauberung beschreibt. Vortrag im PhD Program in Art History, The Graduate Center CUNY, von Jane Bannett, Website: https://www.youtube.com/watch?v=T17Yde3eVp0, abgerufen am 22.06.2017. (Interventionen, n.d.), S. 10 ff
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nimmt Theater in Zeiten der Notwendigkeit eines Ortes für internationalen Austausch und Diskurs über globale Krisen ein? Gibt es eine Neuordnung hin zu einer Polis im Sinne eines Verhandlungsplatzes, welcher Partizipation einer diversen Gesellschaft ermöglicht? Bei Betrachtung der Programme wird deutlich, dass die Festivals sich den dystopischen Zuständen der Gegenwart stellen und viele Fragen formulieren. Internationale Theaterfestivals beschäftigen sich nicht mit einem Kanon, sondern suchen nach neuen Kunstformen, Geschichten und Ästhetiken und installieren in ihren künstlerischen Formaten temporäre Als-ob-Situationen, die dem Theater eigen sind. In seinen Eigenschaften als soziale Kunstform kann durch die leibanwesenden Darsteller*innen eine Identifikation oder Abgrenzung der potentiell eigenen Denk- und Handlungsoptionen der Rezipient*innen entstehen und in dieser Weise direkt zu (alternativen) Narrationen beitragen. Alternativ können Kunstwerke in abstrakten, nicht figurativen Formaten im Sinne Deleuze´, wie Zepke in seinem Artikel »Ein Kunstwerk enthält nicht die geringste Information. Deleuze, Guattari und die zeitgenössische Kunst« hier zusammenfasst, alternative Denkweisen hervorbringen: Kunst kann dann Explosionen verursachen, welche die unserer Wahrnehmung durch den Verstand auferlegte Struktur (d.h. die konzeptuell organisierte Kognition) sowie das gegenständliche Bild des Denkens (vor allem die Erkenntnis) zerstören. Das wäre dann die Politik der Kunst, die gegenständlichen Klischees zur Explosion zu bringen, welche unser Denken und Sehen dominieren, und Alternativen zu derjenigen unterschwelligen kognitiven Struktur anzubieten, welche die Grundlage dafür darstellen.12 Internationale Theaterfestivals sind eine Form von Kulturveranstaltung, die meist mit Vorlauf eines Jahres sorgfältig kuratiert und vorbereitet werden. Ähnlich wie bei der Ausstellung, einer Spielzeit 12
Stephen Zepke fasst in diesem Artikel Deleuze‹ Konzept zusammen: https:// www.performancephilosophy.org/journal/article/view/188/264. Abgerufen am 3.10.2019.
Internationale Theaterfestivals als diskursives Moment
oder einer Programmreihe gibt es eine thematische Setzung, ein Motto oder einen Slogan, eine zentrale Frage oder einen Rechercheauftrag. Diese thematischen Setzungen sind reflexive Flächen globalpolitischer und künstlerischer Prozesse und können als Momentaufnahme und Repräsentanten eines weltlichen Zustandes beschrieben werden. Die Hypothese hierbei ist, dass internationale Theaterfestivals ein verbleidendes Feld in der Theaterlandschaft darstellen, in dem nachhaltig neue Konzepte gezeigt und entdeckt, Nachwuchsförderung und internationaler Austausch gefördert und produziert werden. In welcher Weise sich internationale Theaterfestivals diesen globalpolitischen Themen und künstlerischen Reaktionen widmen, untersucht diese Arbeit.
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2. Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
Dieser Arbeit liegt ein interdisziplinärer Forschungsansatz zugrunde. Um Theaterfestivals in ihrer Verfasstheit darstellbar zu machen, werden theoretische Konzepte der Soziologie, Philosophie, Theaterwissenschaft sowie der Kulturpolitikforschung und des Kulturmanagements hergezogen. Zur Beantwortung der Kernforschungsfrage, welche kulturpolitischen Strategien sich bei internationalen Theaterfestivals zeigen, sind in erster Linie jene Expert*innen des Feldes gefragt, die in der Position sind, über eine strategische Ausrichtung über mehrere Jahre hinweg künstlerische, personelle, kulturpolitische Entscheidungen zu treffen. In Bezug auf internationale Festivals sind im Wesentlichen die Festivalleiter*innen die Entscheider*innen der Kuration der jeweiligen Festivaledition. Sie sind die Akteure im Feld und gestalten dieses somit maßgeblich mit. Neben der Perspektive der Macher*innen stellt sich diese Arbeit die Aufgabe, Festivals und ihre Funktionsweise modellhaft darstellbar zu machen, da dies eine zusätzliche Forschungslücke darstellt und bisher die komplexe Funktionsweise von Festival nicht hinreichend erläutert wurde. Die Arbeit ist innerhalb des kulturpolitischen Diskurses verortet und befragt die Akteur*innen-Perspektive auf kulturpolitische Strategien, die sich im Rahmen internationaler Theaterfestivals zeigen. Hierbei wird die Intention der Akteur*innen abgefragt, ebenso wie ihre Einschätzung der Interdependenzen zwischen künstlerischen Äußerungen und politischen gegenwärtigen Zuständen, und steht somit in Zusam-
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Narrative internationaler Theaterfestivals
menhang mit der im Kunstdiskurs immer wieder gestellten übergeordneten Frage nach der politischen Dimension von Kunst für die Gesellschaft(en) und ihren Vorstellungen von Werten, Zusammenleben, Zukunft, Arbeit, Recht, (Kunst-)Freiheit und gegenwärtigen Diskursen wie beispielsweise De- und Postkolonialismus, Critical Whiteness, Digitalisierung, Gender, Migration, Transkulturalität. Das in Kapitel 6.3 erarbeite Modell ermöglicht es, die vielfältigen Weisen zu veranschaulichen, in welchen sich kulturpolitische Strategien zeigen können. Konkret sind das beispielsweise die unterschiedlichen Programmformate internationaler Theaterfestivals, wie Inszenierungen, Publikumsgespräche, Workshops, Ausstellungen, Tagungen, anhand derer abzulesen ist, welche Themen eine Rolle spielen. Welche sozialen Anordnungen für die Präsentation gewählt werden und in welcher Weise diese absichtsvoll konstruiert sind, lässt sich in Expert*inneninterviews erfragen. Die Beantwortung der Forschungsfrage wird aus verschiedenen Dimensionen heraus angegangen. Es gibt zum einen die Analyse der Festivals, die Expert*inneninterviews, Außenperspektiven durch Expert*innen des Feldes und zum anderen eine Reflexion auf der Metaebene und ein über die Grounded Theory1 entwickeltes Funktionsmodell internationaler Theaterfestivals, welches auf Grundlage von vorangegangener Feldforschung und Mapping erstellt wurde.
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Forschungsfrage: Welche kulturpolitischen Strategien zeigen sich bei internationalen Theaterfestivals?
Die vorliegende Arbeit behandelt die Frage »Welche kulturpolitischen Strategien zeigen sich bei internationalen Theaterfestivals?« Von dieser erkenntnisleitenden Fragestellung ausgehend, entwickeln sich innerhalb des Forschungsprozesses vier Unterfragen, die sich wie folgt gliedern: Die Festivalleiter*innen der internationalen Theaterfestivals 1
Adele E. Clarke and Reiner Keller, Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn, Interdisziplinäre Diskursforschung (Wiesbaden: Springer VS, 2012).
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
werden als Entscheidungsträger*innen für kulturpolitische Setzungen der Festivals identifiziert. Die erste Unterfrage hinterfragt daher die kulturpolitische Haltung (1), die den Entscheidungsprozessen zugrunde liegen, um Aussagen darüber zu ermöglichen, aus welcher kulturpolitischen Haltung heraus Programm- und Ausgestaltung der Festivals entstehen und welche Narrative hier erzeugt werden. Weiterführend wird diskutiert, ob die Festivalleiter*innen hierbei konkrete kulturpolitische Ziele oder Strategien (2) verfolgen. Darauf aufbauend stellt sich die Frage, welchen Funktionsweisen kulturpolitische Ziele oder Strategien (3) bei internationalen Theaterfestivals unterliegen. Schlussendlich – vorausgesetzt, die These, Theaterfestivals operieren mit kulturpolitischen Strategien, ist haltbar – stellt sich die Frage, welche Rolle internationale Theaterfestivals als kulturpolitischer Akteur (4) innerhalb der deutschsprachigen und internationalen Theaterlandschaft (4a) einnehmen und wie sich diese angesichts aktueller Diskurse um die Relevanz und Legitimität des Theaters im Diskurs (4b) verorten lässt. Die Arbeit stellt nachstehende Thesen auf:
2.2
Thesen zu Narrativen und kulturpolitischen Strategien internationaler Theaterfestivals
These 1: Internationale Theaterfestivals vertreten kulturpolitische Haltungen und verfolgen hierbei kulturpolitische Strategien. These 2: Internationale Theaterfestivals operieren mit vielfältigen Formaten, innerhalb derer sich kulturpolitische Strategien zeigen. These 3: Internationale Theaterfestival tragen Narrative zum kulturpolitischen Diskurs bei. These 4: Internationale Theaterfestivals spielen eine relevante Rolle als kulturpolitischer Akteur innerhalb der deutschsprachigen und internationalen Theaterlandschaft, indem sie als Orte dienen, an denen sich Themen besonders vielperspektivisch und tiefgehend bearbeiten las-
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sen. Internationale Theaterfestivals sind somit ein verbleidendes Feld in der Theaterlandschaft, in dem nachhaltig neue Konzepte gezeigt, entdeckt und mitentwickelt sowie Nachwuchsförderung und internationaler Austausch gefördert und produziert werden.
Methodisches Vorgehen Um die Forschungsfragen zu klären und die Thesen zu verifizieren oder zu falsifizieren und wissenschaftlichen Gütekriterien, Reliabilität (Zuverlässigkeit), Validität (Gültigkeit) und Objektivität zu entsprechen, geht die Arbeit wie folgt vor: Die Arbeit gliedert sich in sieben Teile. Zu Beginn stellt die Arbeit internationale Festivals als diskursives Moment (Kapitel 1) vor. Hier wird dargelegt, dass internationale Theaterfestivals einen für die internationale und insbesondere auch für die sich im Umbruch befindliche deutsche Theaterszene relevanten kulturpolitischen Akteur darstellen und kulturpolitische Strategien entwickeln. Kapitel 2 begründet die interdisziplinäre Forschungsmethodik, die empirische Teile (Kapitel 3 und 4) und einen methodologischtheoretischen Teil (Kapitel 5) vereint. Der empirische Teil stellt die Akteur*innen-Perspektive in den Vordergrund, die in Bezug auf die erkenntnisleitende Fragestellung als relevante Akteure identifiziert und hier belegt werden (Kapitel 2.4.1). Um den zugrunde liegenden Weltbildern und damit zusammenhängenden kulturpolitischen Haltungen näher zu kommen, werden Expert*inneninterviews mit den Festivalleiter*innen geführt. Sie sind jene Akteure im Feld, die über das Programm der Festivals entscheiden. Dieses Vorgehen folgt einem qualitativen Forschungsansatz (Kuckartz 2016; Flick 2017) und stellt die Perspektive der Akteur*innen selbst in den Vordergrund. In Kapitel 3 wird zunächst fehlende Grundlagenforschung betrieben, die das Feld der internationalen Theaterfestivals kartografiert, um auf Basis dieser Erkenntnisse die Auswahl der exemplarischen internationalen Theaterfestivals zu begründen. Der methodologisch-theoretische Teil dient dazu, die bislang nicht vorhandenen Analysewerkzeuge für internationale Theaterfestivals zugrunde zu legen, die es benötigt, um die Funktionsweise internationaler Theaterfestivals nachvollziehbar
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
und somit für die Forschungsfrage, wie sich kulturpolitische Strategien bei internationalen Theaterfestivals zeigen, anwendbar zu machen. Das hierfür entwickelte Modell zeigt internationale Theaterfestivals als Akteursnetzwerk und fasst zusammen, welche Aktanten bei internationalen Theaterfestivals beteiligt sind, und beschreibt hierbei, in welcher Funktionsweise sich kulturpolitische Strategien zeigen, und setzt die beteiligten Aktanten in Relation. Auf Grund der fehlenden Grundlagenforschung wird zusätzlich zur Empirie, basierend auf der Grounded Theory, ein Modell für internationale Theaterfestivals als Akteursnetzwerk entwickelt, das als Analysetool für internationale Theaterfestivals dienen kann. In Anwendung des Modells und in Ergänzung zur Situationsanalyse von Adele Clarke ermöglicht es, exemplarische kulturpolitische Strategien und Narrative der Festivals konkret nachvollziehbar zu machen (Kapitel 6). Die Arbeit stellt die These auf, dass Festivals kulturpolitische Setzungen vornehmen, und belegt dies deskriptiv anhand von Festivalprogrammen, Eröffnungsreden und kontrastiert diese wechselseitig mit den normativen Setzungen, die durch ein induktives Verfahren aus den Expert*inneninterviews codiert und empirisch ermittelt werden (Kapitel 4). Anschließend werden die Ergebnisse aus Kapitel 4 nochmals mit einer anderen Akteursebene abgeglichen und kritisch diskutiert (Kapitel 5). Die Arbeit kontrastiert damit die Kommunikation der Festivals nach außen mit der Selbstbeschreibung der Motivation der Kurator*innen und der Wahrnehmung externer Expert*innen. Kapitel 5 widmet sich drei unterschiedlichen externen Perspektiven; diese dienen dazu, die in Kapitel 4 zusammengetragenen Zwischenergebnisse nochmals kritisch zu reflektieren und die Thesen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Zusätzlich ermöglichen die externen Perspektiven mögliche Ausblicke auf weitere Forschungsmöglichkeiten und mögliche »blinde Flecken« der Akteur*innen in Bezug auf ihre eigenen Tätigkeiten. In Kapitel 6 werden einzelne konkrete Beispiele herangezogen, um Operationsmöglichkeiten und Handlungsweisen der Festivals zu verdeutlichen, und alle Ergebnisse aus den vorangegangenen Kapiteln nochmals zusammengefasst und kritisch reflektiert. Kapitel 7 bildet die Conclusio und somit den Abschluss der Arbeit.
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Narrative internationaler Theaterfestivals
Grafik Forschungsdesign
Abbildung 1 – Forschungsdesign der vorliegenden Arbeit (eigene Darstellung) Methodisches Vorgehen
Methodische Begründung
Kartographieren des Feldes und Literaturrecherche Kapitel 3
• Einordnung des Themas und der Forschungsfrage in einen übergeordneten Kontext. • Aufzeigen der Forschungslücken und der Relevanz der Forschung.
Erhebung empirischer Daten durch Feldforschung, Mapping, teilnehmende Beobachtung, Forschungstagebuchs. Kapitel 3 und 4
• Herausarbeiten aktueller Tendenzen und Narrative internationaler TF. • Sammeln und Sortieren aller Aktanten von TFs. • Sammeln und analysieren von kulturpolitischen Strategien und Narrativen internationaler TFs.
Entwicklung eines theoriebasierten Modells „Funktionsmodell internationaler Theaterfestivals“ auf Grundlage der Grounded Theory [Latour] und Situationsanalyse [Clarke] Kapitel 3
• Visualisierung der Funktionsweise von internationalen TF und ihren kulturpolitischen Strategien und Narrativen. • Entwicklung eines Analysetools für die Bearbeitung der Forschungsfrage.
Expert*innen-Interviews [Kukarcktz] Kapitel 4 und 5
• Deskriptive Beschreibung der kulturpolitischen Ziele, Strategien und Narrative der Festivals und deren Expert*innen. • Kulturpolitische Strategien und Narrative der Festivals analysieren (Kapitel 4) und durch externe Expert*innen und die erhobenen empirischen Daten aus Kapitel 3 und 4 kontrastieren (Kapitel 5).
Diskussion aller zentralen Ergebnisse
Conclusio
Kapitel 6
Kapitel 7
Forschungsfrage(n) • • • •
Welche kulturpolitischen Strategien zeigen sich bei internationalen Theaterfestivals? Zu welchen Narrationen tragen internationale Theaterfestivals bei? Verfolgen die Festivalleiter*innen dezidiert kulturpolitische Strategien? Durch welche kuratorischen Entscheidungen werden kulturpolitische Strategien erkenntlich?
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
• •
Welche Formate enthalten Narrative oder kulturpolitische Strategien? Welche Rolle spielen internationale Theaterfestivals innerhalb der deutschsprachigen und internationale Theaterlandschaft?
Zielsetzung und zu erwartende Ergebnisse der Arbeit Ein Funktionsmodell internationaler Theaterfestivals wird entwickelt und veranschaulicht, wie sich kulturpolitische Strategien und Narrative bei internationalen Theaterfestivals zeigen. Die Arbeit gibt Aufschluss darüber, in welcher Weise sich internationale Theaterfestivals an gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozessen beteiligen und wie sie Diskursräume eröffnen. Die Arbeit erörtert Veränderungspotentiale seitens der Kulturpolitik, die internationalen Produktionsbedingungen und die Kurration. Die Arbeit zeigt die Weiterentwicklung internationaler Theaterfestivals seit Abschluss des BMBF-Forschungsprojekts »Theater und Fest in Europa«2 . In vergangenen Forschungsprojekten werden Versuche unternommen, die Phänomenologie von Festivals zu klären, was zu dem Schluss führte, dass eine eindeutige Bestimmung eines kulturellen Organisationsmodells für Theaterfestivals unmöglich schien3 , da Festivals in ihrer Verfasstheit verschieden sind und stetigem Wandel unterliegen. An diese Stelle rückt in dieser Arbeit das Funktionsmodell für internationale Theaterfestivals, welches das Konzept stetigen Wandels miteinschließt und Theaterfestivals als Akteursnetzwerk beschreibt. Diese methodologische Betrachtung lässt es zu, Theaterfestivals als Konstrukt erfassbar und die Dimensionen, in denen sie als kulturpolitischer Akteur wirksam sein können, nachvollziehbar zu machen. Was die Arbeit nicht betrachtet, ist die Perspektive der Künstler*innen auf die Gastgeberschaft und Kontextualisierung durch die Festivals
2 3
Berücksichtigter Zeitraum bis 2012 (Elfert 2009), S. 14f.
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Narrative internationaler Theaterfestivals
und die Reaktionen des lokalen Publikums auf ihre Arbeiten oder festivaleigene Audience-Development-Strategien, auch dies wären interessante Forschungsperspektiven, denen aus forschungspragmatischen Gründen innerhalb dieser Arbeit nicht nachgegangen werden kann.
2.3
Forschungsgegenstand: internationale Theaterfestivals und Theorierahmung
In diesem Unterkapitel wird beschrieben, was die Alleinstellungsmerkmale der performativen Künste und im Speziellen der Kunstform des Theaters sind. Weiter wird argumentiert, dass gerade diese Merkmale eine Veränderung in Sichtweisen befördern können. Insbesondere das Theater eignet sich, andere, alternative Lebensweisen und Entwürfe vermittelbar zu machen. Dem Medium Theater wird eine gesellschaftsbildende oder mindestens abbildende Funktion zugesprochen. Hinzu kommt, dass internationale Theaterfestivals die besondere Form des Ausnahmezustandes professionalisiert haben, was sowohl kulturmanageriale Herausforderungen als auch kulturpolitische und soziale Potentiale mit sich bringt,. Theaterfestivals sind als Teil der Theaterlandschaft zu begreifen und je nach Länderkontext unterschiedlich für die Szenen zu bewerten. Innerhalb des deutschsprachigen Raums stellen sie eine wichtige Ergänzung zum Regelbetriebe der Stadt- und Staatstheaterbetriebe und den Spielstätten der freien Szene dar, insbesondere in ihrer Rolle als Produzent und Plattform für internationalen Nachwuchs, neue Formate und internationale Produktionen und Künstler*innen, die in renommierten Häusern der Welt nicht (re-)päsentiert werden (Jennifer Elfert 2015). Das Organisationsmodell Festival verlangt von den Macher*innen eine eigene Form des Kulturmanagements, das mit der Ausnahmeform umzugehen weiß. In der Phase der Planung stehen kuratorische Entscheidungen im Vordergrund. Diese beruhen entweder auf selbstgesetzten Rechercheaufträgen oder Themen oder Slogans einer Festivaledition, die durch die Festivalleitung oder das Leitungsteam definiert werden. In der Vorbereitung der Umsetzung können Probleme in den
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
Visa-Prozessen der Künstler*innen auftreten, welche mit Hilfe von Multiplikatoren und kulturpolitischen Akteuren (z.B. Goethe-Institute, politische Vertreter*innen) zu lösen versucht werden. In der Durchführung des Festivals stehen akute lokale Probleme im Vordergrund. Als Herausforderungen in der internationalen Zusammenarbeit können Visa-Restriktionen für Künstler*innen4 auch interkulturelle Probleme in der Verständigung oder unterschiedliche Sicherheitsanforderungen der Theaterbetriebe in den jeweiligen Ländern auftreten. Neben diesen kulturmanagerialen Herausforderungen sehen sich Theaterfestivals, wie alle anderen Kulturbetriebe, aktuellen gesellschaftlichen Diskursen und globalen Ereignissen gegenübergestellt und operieren in einem Kontext sich stetig verändernder gesellschaftlicher Diskurse, globaler Ereignisse und (kultur-)politischer Rahmenbedingungen. Daran angeknüpft sind Fragen an die Niedrigschwelligkeit der Kulturbetriebe in Bezug auf Diversität und transkulturelle Öffnung des Kulturbetriebs (Dätsch 2018; Langenohl, Poole, and Weinberg 2015), Konzepte wie »Kultur für Alle!« (Hoffmann 1981) und neue Fragen der Kuration in den darstellenden Künsten, die die politische Dimension des Mediums Theaters neu hinterfragen (Malzacher 2015). Festivals müssen ihr Programm und ihr Audience Development angesichts sich verändernder Gesellschaftsstrukturen, Globalisierung, Digitalität und Diversität kritisch hinterfragen (De Beukelaer, Pyykkönen, and Singh 2015) (Mandel 2008) und sich diesen Fragen auch innerbetrieblich in Bezug auf die Teamaufstellung und das Recruitment stellen. Sie müssen definieren, in welcher (Form-)Sprache und über welche Kanäle sie an ihr Publikum herantreten oder Nicht-besucher*innen (Renz 2016) für sich gewinnen können. Angebunden an den Diskurs der Rückgaberechte und den postkolonialen Diskurs, stehen Fragen der internationalen Vormachtstellung westlicher Länder in der Kultur zur Debatte. Mit welchen Kulturgütern wird gehandelt? Wessen Geschichten werden erzählt und von wem? 4
Das Deutsche Zentrum des ITI (Internationales Theaterinstitut) initiierte hierzu Anfang 2019 eine Studie. Siehe: https://www.iti-germany.de/presse/pressemitteilungen/. Abgerufen am 3.10.2019.
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Welche künstlerischen Werke bewahren, sammeln und (re-)präsentieren wir in unseren Kultureinrichtungen? Ist hier eine diverse Gesellschaft vertreten und angesprochen? Wessen kulturelles Erbe produzieren wir heute für morgen? Welche neuen Chancen und Herausforderungen stellen sich für Kultureinrichtungen in einer Zeit gesellschaftlicher Transformationsprozesse? Welche Tendenzen lassen sich in der Kulturlandschaft beobachten? Welche kulturpolitischen Fragen stellen sich hierbei? Was in der bildenden Kunst die Provenienzforschung betreibt, die über Rückgaberechte und Präsentation geraubter Kunst diskutiert, ist im Bereich des Theaters noch rudimentär verhandelt. Zur Diskussion steht der klassische Theaterbetrieb mit seinem Ensemblebetrieb (Schneider 2013) gegenüber einer nach wie vor durch die Kulturpolitik unterfinanzierten und -repräsentierten freien Szene (Schneider, Fülle, and Henniger 2018), obgleich wesentliche Impulse für zukünftige Entwicklungen und die Reformation der Theaterlandschaft genau aus dieser kommen. Welche Rolle spielen hierbei internationale Theaterfestivals? Und wie ist ihre Rolle als kulturpolitische Akteure für die deutschsprachige Theaterlandschaft und die internationale Festivalszene zu bewerten?
Spezifität des Theaters: Leibanwesenheit, antizipierte Zukünfte und Gegenkultur Historically, festivals, carnivals and fairs have been important forms of social and cultural participation, used to articulate and communicate shared values, ideologies and mythologies central to the world-view of relatively localized communities. (Bennett, Taylor, and Woodward 2014, S. 1) Dem Fest wird folglich eine gemeinschaftsbilde und mindestens abbildende Funktion zugesprochen. Insbesondere dem Theater als sozialer Kunstform mit einer direkten Leibanwesenheit der Agierenden und Reagierenden oder auch partizipierenden Akteur*innen wird dieses Potential, alternative Lebenskonzepte und Sichtweisen vermittelbar zu machen, zugesprochen.
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
Das Fest ist Ausdruck kultureller Handlung, und manche Feste sind immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe, wie die mexikanischen Día de los Muertos-Zelebrationen. Festivals zeichnen sich durch eine hohe Diversität in den Kommunikationsräumen aus und teilen sich unterschiedlichste Raumsoziologien. In welcher Weise sich kulturpolitische Strategien bei internationalen Theaterfestivals äußern, lässt sich folglich nur feststellen, wenn zunächst die Funktionsweise, wie Theaterfestivals agieren, phänomenologisch geklärt ist. Neben dem faktischen Raum und der Zeit, in der sie stattfinden, das heißt sich die Festivaledition an einem Ort zu einer definierten Zeit vollziehen, wirken sie auch in andere raumsoziologische Dimensionen hinein – wie etwa dem Möglichkeitsraum, und etablieren third spaces, die von dem Kulturwissenschaftler Homi Bhabha im Kontext transkultureller Gesellschaften seitens der Kultur gefordert werden. Sie operieren im digitalen Raum, ebenso wie in einem internationalen Netzwerk aus Kurator*innen, Künstler*innen und kulturpolitischen Akteur*innen. Internationale Theaterfestivals lassen sich somit auch als Akteursnetzwerke bezeichnen, deren einzelne Entitäten nicht hinreichend durch die Forschung dargestellt sind. Um eine Übersicht und Darstellung der Relationen aller für internationale Theaterfestivals relevanten Aktanten zu gewährleisten, wird in Kapitel 3 das Funktionsmodell internationaler Theaterfestivals erstellt.
Auswahlbegründung der Festivals Innerhalb dieses Unterkapitels wird kurz erläutert, wie die Auswahl der exemplarischen internationalen Theaterfestivals begründet ist. Für die Auswahl der exemplarischen Festivals wurden vorab nachstehende Indikatoren festgelegt. Die Festivals sind innerhalb der Festivalszene repräsentativ und werden über eine lokale Wahrnehmung hinaus in der internationalen Szene und in der Fachpresse wahrgenommen und besprochen. Es werden Festivals und Programme betrachtet, die über eine lange zeitliche Dauer hinweg in die Festivalszene hinein-
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Narrative internationaler Theaterfestivals
wirken, mindestens zehn Jahre. Grundlage für dieses Auswahlkriterium ist, dass sich erst über eine längere Dauer hinweg eine signifikante Form eines Festivals innerhalb der Szene herausbilden kann und somit auch von anderen Festivals abgrenzen lässt. Alle Festivals agieren international und nehmen in ihrer Selbstpräsentation und Kuration explizit Bezug auf gegenwärtige gesellschaftspolitische Diskurse. Die internationale Festivalszene ist stark miteinander verschränkt, festivalübergreifend sind viele Themenfelder wiederzufinden und durch ein internationales Netzwerk und Touring-Logistik verbunden. Hierdurch werden auf unterschiedlichen internationalen Festivals oftmals gleiche Stücke gezeigt, was zu einem Konkurrenzgefüge innerhalb der Festivalszene in der Frage eines Alleinstellungsmerkmals führt. Die europäischen Festivals sind hier in einer Vormachtstellung, da sie über eine breite Kulturförderung verfügen und somit die Einladenden sind. Auf kulturpolitischer Ebene gibt es hier ein klares Machtgefüge. Kein Festival entspricht einer »Reinform«, sie sind komplex angelegt und innerhalb und über eine Edition hinweg fluide. Daher ist es nicht nachvollziehbar zu begründen, ein Festival als Beispiel für eine Kategorie von Festival geltend zu machen. Die ausgewählten Festivals repräsentieren daher einen Themenschwerpunkt innerhalb einer Reihe von Themen, die innerhalb der Festivalszene gegenwärtig fokussiert werden. Innerhalb des Kapitels 3 werden die Themenfelder analysiert und in Kapitel 4 mit den Daten aus den Expert*inneninterviews abgeglichen. Neben den oben genannten Indikatoren, Internationalität, internationale Relevanz, dezidiert formulierte kulturpolitische Ziele/Themen, kommen als Indikatoren für die Auswahl kulturelle Bildungsformate aktiver Teilhabe, diskursive Formate, Trans-/Interdisziplinarität, transkulturelle Ansätze in der kulturpolitischen Ausrichtung der Festivals, Zukunftsorientierung, Nachhaltigkeit sowie das Selbstverständnis als Plattform für experimentelle Formen hinzu. Auf Grundlage der vorangegangenen Indikatoren werden folgende Festivals als relevante Fallbeispiele identifiziert, die jeweils einen Schwerpunkt des aktuellen Diskurses in der internationalen Theater-
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
festivallandschaft im deutschsprachigen Raum repräsentieren. Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg mit dem Themenschwerpunkt »Digitalisierung und Datapolitics«, das Festival Theaterformen mit einem Schwerpunkt »Postkolonialismus«, der steirische herbst mit dem Themenschwerpunkt »Transkultur«, das Zürcher Theaterspektakel mit dem Schwerpunkt »Migration« und das Format Internationales Forum des Berliner Theatertreffens mit dem Schwerpunkt »Nachwuchsförderung«. Im Kapitel 4 werden die thematischen Schwerpunkte der internationalen Festivals an konkreten Beispielen tiefer begründet.
2.4
Forschungsstand: internationale Theaterfestivals im deutschsprachigen Raum
Zu internationalen Theaterfestivals gibt es bisher wenig Grundlagenforschung. Das BMBF-Forschungsprojekt Theater und Fest in Europa untersuchte die Historie zwischen Theater und Festkultur, das Projekt und somit auch die Betrachtung der Festivalszene endet im Jahr 2012. Insbesondere in der internationalen Festivalszene ergeben sich jedoch durch die globale Krisensituation von Geflüchteten und Renationalisierungsprozessen aktuelle Tendenzen, die die Szene beeinflussen und neue kulturpolitische Strategien, Narrative und Rahmungen zur Diskussion stellen. Die Debatte um neue Grenzziehungen weltweit ist in dem Buch »Mauern – Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität« der Politikwissenschaftlerin Wendy Brown nachgezeichnet. Auffallend ist auch, dass Theoretiker*innen wie Wendy Brown, Hélène Cixious oder Homi Bhabha in diskursiven Formaten, wie angeschlossene Tagungen, Eröffnungsreden oder Talks, internationaler Theaterfestivals vertreten sind und somit politikwissenschaftliche und philosophische Perspektiven verstärkt in die Programmierung von Festivals einbezogen werden. Neben den Entwicklungen infolge dieses Krisenmoments, 2015/16, fehlt es an grundlegenden Analysewerkzeugen für internationale Theaterfestivals, die ihre Funktionsweise theoriebasiert klären. Diese For-
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Narrative internationaler Theaterfestivals
schungslücke soll die vorliegende Arbeit schließen. In einer vorangegangenen Forschungsarbeit »Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells«5 werden Theaterfestivals als kulturelle Organisationsformen vornehmlich aus kulturmanagerialer Perspektive betrachtet. Die Dimension und die kulturpolitische Bedeutung dessen, was für Theaterfestivals zentral ist, die künstlerischen, vermittelnden und diskursiven Formate sowie Netzwerke und weiteren kulturpolitischen Akteure werden hier nicht betrachtet. Unter der Prämisse, dass Kunst eine Aussagekraft hat, die etwas über unsere Zeit, deren Themen und sowohl dystopischen aals auch utopischen Möglichkeiten erzählen kann und in singulärer Weise Erkenntnisse zur Verfügung stellt6 , werden die künstlerischen, vermittelnden und diskursiven Formate als wesentliche Betrachtungsmerkmale für diese Forschungsarbeit festgesetzt. Die Etablierung des Formats Theaterfestivals ist als Folge der politischen Situation des Kalten Krieges und der Neuordnung kultureller Ausdrucksformen und des internationalen Austauschs zu sehen (Jennifer Elfert 2015, 13). Internationalen Theaterfestivals wurde die Aufgabe europäischer Identitätsstiftung zugeteilt, somit kommen Festivals aus einer Tradition gesellschaftspolitischer Erzählung. Auch die Bayreuther Festspiele und Salzburger Festspiele hatten in ihrer Zeit die Vision einer freien, offenen Kunstrezeption, die sich mittlerweile zu elitären Veranstaltungen gewandelt haben. Historisch haben sich zwei Stränge von Festivalkulturen herausgebildet: Theater als Beiwerk zu einem Fest, in welchem Theater neben vielen anderen Dingen auch stattfindet, und Theater als Anlass der Festivität, wie bei den griechischen Dionysien oder der Gesamtkunstwerkkonzeption Wagners und den Bayreuther Festspielen (vgl. Fischer-Lichte 2012, p 9ff.). Die Veröffentlichung »Festivalization of Culture« beschäftigt sich mit dem allgemeinen Trend der Eventisierung, das bislang einzige Modell von Festi-
5 6
Jennifer Elfert, Theaterfestivals. (Bielefeld: transcript-Verlag, 2015), http://public. eblib.com/choice/publicfullrecord.aspx?p=4347683. Dieter Mersch, Dispositiv, Medialität und singuläre Paradigmata, in: Elke Bippus, Jörg Huber, Roberto Nigro (Hg.): Dispositiv X Ästhetik, Zürich Wien New York 2012, S. 25-38
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
vals ist in »Management and the Arts«7 vorzufinden und beschreibt die kulturmanageriale Sicht auf ein Festival. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine ausgereifte, über Jahre gewachsene Festivallandschaft, die im Vergleich zu anderen internationalen Kulturszenen über gute Förderstrukturen und eine im Grundgesetz verankerte Kunstfreiheit verfügt (Deutschland: Artikel 5 Absatz 3 (GG), Österreich: Artikel 17a (StGG), Schweiz: Artikel 21 (BV)). Die in dieser Arbeit behandelten Festivals haben sich zudem bereits etabliert und über teils Jahrzehnte ein individuelles Profil herausgearbeitet, welches sich auch über einen Leitungswechsel hinaus weiterträgt und für das jeweilige Festival charakteristisch bleibt. Aktuell entwickeln sich viele kleinere Nachwuchsfestivals, deren Untersuchung sich das DFG-Teilprojekt »Nachwuchsfestivals — Zwischen Event und der Suche nach neuen Formen«8 widmet. Innerhalb des deutschsprachigen Diskurses ist vornehmlich Florian Malzacher 9 mit seinen Texten zur neuen Rolle des Kurators in den darstellenden Künsten und zur kulturpolitischen Haltung von Festivals und ihrer Kuration zu nennen. Grundlagentexte zur Kuration finden sich vor allem in Bezug auf die bildenden Künste, die Film- und Musikindustrie (siehe Übersicht Literaturrecherche).
2.4.1
Experten*inneninterviews und Codierung
Die inhaltlichen Setzungen bei Festivals werden durch ihre künstlerischen Leitungen vorgenommen, alternativ durch eine Jury. Im Fokus dieser Arbeit stehen Festivals, die einem klaren kuratorischen Konzept
7 8
9
Byrnes, William J. Management and the Arts. Fifth edition. New York: Focal Press, Taylor & Francis Group, 2015. Teilprojekt der DFG-Forschungsgruppe 2734: »Krisengefüge der Künste Institutionelle Transformationsdynamiken in den darstellenden Künsten der Gegenwart«, siehe Website: https://www.inst.uni-giessen.de/theater/de/forschung/ forschungsprojekt. Abgerufen am 3.10.2019. Florian Malzacher, ed., Not Just a Mirror: Looking for the Political Theatre of Today, Performing Urgency 1 (Berlin: Alexander Verlag, 2015).
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folgen. Die Forschungsarbeit analysiert diese spezifischen Kurationsweisen und stellt sie in den Zusammenhang zu aktuellen Tendenzen und Reflexionen zu dem relativ jungen Diskurs und Forschungsfeld der Kuration in den szenischen Künsten und fragt nach den kulturpolitischen Leit- und Weltbildern, die hinter der Kuration der Festivals stehen, respektive für welche Vorstellung von Welt die Festivals selbst stehen und folglich welche Narrative durch Theaterfestivals erzeugt oder bestärkt werden. Die Theorie der Methode Experteninterview geht davon aus, dass bei einem Experteninterview »zwei akademisch sozialisierte Gesprächspartner aufeinander [treffen], die sich in einer […] symmetrischen Kommunikationsbeziehung austauschen« (Bogner, Littig, and Menz 2005, 9). Gemeint ist hier, dass ein Fachgespräch auf der Basis eines gesteigerten Wissensniveaus für das spezifische Feld stattfinden kann. Hieraus folgern Bogner und Menz, dass Problematiken wie Kommunikationsschwierigkeiten aufgrund verschiedener Wissensstände und sozialer und sprachlicher Kompetenzen auszuschließen seien, und geben gleichzeitig zu bedenken, das Versprechen der/des Experten*in als ein »elaboriertes Objekt« kritisch zu hinterfragen (Bogner, Littig, and Menz 2005, 10). Aus diesem Grund sieht das Forschungsdesign eine Kontrastierung der Expert*innenperspektive vor. Diese wird durch folgende drei Gesprächspartner*innen repräsentiert. Esther Boldt steht für die journalistische Perspektive auf das Feld, sie schreibt für einschlägige Fachpresse, nachtkritik.de und Theater heute. Holger Bergmann ist zu dem Zeitpunkt des Interviews Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste e. V. und vertritt die Perspektive der Kulturförderung und Kulturpolitik. Kathrin Deventer ist Generalsekretärin der Organisation European Festivals Association (EFA) in Brüssel und Co-director der Plattform EFFE – Europe for Festivals, Festivals for Europe10 und steht innerhalb des Forschungsdesigns für die internationale Perspektive auf das Feld internationaler Theaterfestivals. 10
Website: https://www.efa-aef.eu/en/about/structure/15/. 13.8.2018.
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Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
Um eine Offenheit für die spezifische Interviewsituation zuzulassen und zeitgleich eine Vergleichbarkeit des Datenmaterials zu ermöglichen, ist im Forschungsdesign ein offenes leitfadenorientiertes Experteninterview vorgesehen. Die im Leitfaden gesetzten thematischen Schwerpunkte stellen Vorformulierungen der theorierelevanten Kategorien dar, diese gilt es in die Auswertung zu übernehmen und nochmals in Abgleich mit dem entstandenen Datenmaterial kritisch zu hinterfragen.11 Ein exemplarischer Leitfaden ist im Anhang einzusehen. Die Expert*inneninterviews sind alle individuell vorbereitet, da konkrete inhaltliche Fragen sich notwendigerweise12 immer auf die Festivals, ihre Leiter*innen, ihre spezifische Programmatik und konkrete Pressestimmen und Kritik(en) beziehen müssen. Vom Vorgehen, nach Meuser/Nagel, werden die Interviews transkribiert, paraphrasiert und mit Überschriften versehen, danach folgt ein thematischer Vergleich sowie die Überprüfung und gegebenenfalls Neubildung von Kategorien. Bei einem gelingenden Expert*inneninterview »berichtet, typisiert, rekonstruiert, interpretiert, kommentiert und exemplifiziert.«13 , die/der Expert*in ihre/seine Sicht der Dinge. In der Analyse wird sich daher methodisch auf das Datenmaterial berufen und aus dem Material Kategorien entwickelt. Es gilt folglich aus den Interviewtexten das »Überindividuell-Gemeinsame herauszuarbeiten«14 . Nach Meuser/Nagel ist die Vergleichbarkeit der Interviewtexte bei Expert*inneninterviews durch den »gemeinsam geteilten institutionell-
11 12
13 14
Vgl. Meuser/Nagel, In.: Bogner/Littig, S. 82. Referenz, Expertengespräch auf Augenhöhe, Voraussetzung für ein gelingendes Experteninterview ist es, dem Gegenüber zu verdeutlichen, dass man in der Materie mitreden kann und sich mit ihrem Feld der Expertise dezidiert auseinandergesetzt hat. Meuser/Nagel, In.: Bogner/Littig, S. 79. Meuser/Nagel, In.: Bogner/Littig, S. 80.
45
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organisatorischen Kontext [weitgehend gesichert].«15 Anders verhalte sich dies beispielsweise bei biografischen Interviews, so Bohnsack.16 Vom Vorgehen schlagen Meuser und Nagel vor, zunächst das Material zu transkribieren, einheitliche Überschriften zu finden, einen Vergleich vorzunehmen, in dem überprüft wird, welche Wörter, Themen, Fragen in allen Interviewtexten vorkommen. Anschließend werden Kategorien gebildet (Konzeptualisierung), hier löst sich die Analyse vom individuellen Interviewtest. Abschließend wird die Anbindung an eine theoretische Rahmung vorgenommen (Theoretische Generalisierung).17 Dieses detaillierte und stufenweise Vorgehen soll Vorannahmen vermeiden und eine saubere Empirie sichern.18
2.5
Codierung: Theoretisierung der Betrachtungsweise der handelnden Akteure
Die Codierung der Expert*inneninterviews, dient dazu, Erkenntnisse aus dem Material heraus zu entwickeln, dieses wird nach der induktiven Methode19 vorgenommen, um Vor- und Fehlannahmen, die bei der A-priori-Kategorienbildung entstehen können, zu vermeiden.20 »Mit Codieren wird in der Grounded Theory die intellektuelle Bearbeitung der empirischen Daten und die Entwicklung und Zuordnung von Codes bezeichnet«; es dient dazu, die Daten »theoretisch auf den Punkt
15 16 17 18 19
20
Meuser/Nagel, In.: Bogner/Littig, S. 81. Bohnsack: 1983: Alltagsinterpretationen und soziologische Rekonstruktion. S. 181. Vgl. Meuser/Nagel, In.: Bogner/Littig, S. 83ff. Vgl. Meuser/Nagel, In.: Bogner/Littig, S. 80ff. Siehe: Kapitel 4.2 Kategoriebildung am Material (induktive Kategorienbildung) In: Kuckartz, Udo. Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3., überarbeitete Auflage. Grundlagentexte Methoden. Weinheim Basel: Beltz Juventa, 2016. S. 63ff. Kuckartz, Udo. Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3., überarbeitete Auflage. Grundlagentexte Methoden. Weinheim Basel: Beltz Juventa, 2016. S. 64.
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
[zu] bringen«21 . Die aus dem Material entwickelten Codes ermöglichen es, in einem mehrstufigen Prozess die von der interviewten Person erhaltenen Informationen von der Person zu abstrahieren und auf einer Metaebene zu analysieren. Im Folgeschritt lassen sich diese Erkenntnisse für die Beantwortung der Forschungsfrage nutzbar machen, da sich hier auf theoretisierter Ebene zeigen lässt, wir die handelnden Akteure kulturpolitische Strategien verfolgen oder auch beschreiben.
2.5.1
Entwicklung neuer Analyseformen für internationale Theaterfestivals
Festivals sind komplexe kulturelle Ereignisse, es gibt für diese keine Norm, die es ermöglichen würde, ein immer gleiches Analyseraster anzuwenden. Daher stellt sich die Frage, wie sich komplexe Gebilde, wie internationale Theaterfestivals überhaupt fassbar machen lassen. Ließe sich ein Äquivalent zur Bild-, Aufführungs- oder Medienanalyse finden? Ansätze zur Darstellung von Festivals in kurzen Eckdaten lassen sich bei Jennifer Elfert 22 finden. Diese Form der Kartografie ist ein hilfreiches Tool, um die Größe, das Finanzvolumen, den angesprochenen soziokulturellen Raum und die Auslastungszahlen vergleichbar zu machen. Dieser Form der Einordnung fehlen jedoch insbesondere für die Forschungsperspektive dieser Arbeit Kriterien wie die künstlerischen Positionen und die damit verbundenen Narrative, gesellschaftspolitische Relevanz und kulturpolitische Dimension der Festivals. Ein Ziel der Analyse der Festivals in dieser Arbeit ist es, zunächst die tatsächlichen Vorgänge und Ereignisse beschreibbar zu machen, um sie dann in einen größeren Kontext einzuordnen. Eine »Bewertung« einer Edition ist nicht das Ziel der Analyse, vielmehr geht es um die Entwicklung brauchbarer Kriterien, die es ermöglichen, ein Festival zunächst
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Kuckartz, Udo. Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 3., überarbeitete Auflage. Grundlagentexte Methoden. Weinheim Basel: Beltz Juventa, 2016. S. 80. Elfert, Jennifer: Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells. transcript Verlag, Bielefeld, 2009.
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adäquat zu beschreiben. Ein Festival wird zusätzlich multiperspektivisch betrachtet und erlebt, so kann eine Beobachtung einzelner Zuschauer*innen, Festivalteilnehmer*innen, Presse oder Festivalmitwirkenden divergent ausfallen. Nehmen wir ein Festival als kulturelles Ereignis – oder zutreffender als die Aneinanderreihung oder temporäre Anhäufung von kulturellen Ereignissen – an, fokussiert sich diese Arbeit auf die Frage der kuratorischen und kulturpolitischen Prozesse, die zu genau dieser Anordnung führen. Diese Fokussierung dient dazu, Erkenntnis darüber zu gelangen, was die Form der Anordnung des Festivals und die dahinterliegenden kuratorischen und kulturpolitischen Prozesse uns über unsere Zeit und die Kunst, die in ihr produziert wird, erzählen kann. Um hier zu einem Fazit zu gelangen, sind multiperspektivische Betrachtungen notwendig: die Einordnung der künstlerischen Projekte in einen kunsthistorischen und kuratorischen Kontext, die Analyse der angeschlossenen soziokulturellen Felder und Raumsoziologien, welches das Festival herstellt (möglicherweise auch über Jahre), die Relevanz des Festivals für ein lokales, nationales oder internationales (Fach-)Publikum und das Netzwerk internationaler Theaterfestivals mit seinen Akteur*innen. Weitere Untersuchungsmöglichkeiten wären die Zuschauer*innenperspektive auf die kulturellen Ereignisse des Festivals in ihrer Stadt, Wahrnehmung der Künstler*innen auf die Produktionsbedingungen, die Kommunikation und ihre Sichtbarkeit beim Festival und darüber hinaus. Für jede dieser weiteren Perspektiven wären umfangreiche Analysen notwendig, die sowohl quantitative wie qualitative Daten benötigen, wie beispielsweise (Nicht-)Besucher*innen-Befragungen. Als ermittelbare Daten über die Festivals stehen Festivalprogramme (Print oder Website), Eröffnungsreden, Kritiken, Blogbeiträge, Pressestimmen und Reportagen, festivaleigene Publikationen zur Verfügung. Ohne teilnehmende Beobachtung und Expert*inneninterviews lässt sich auf Grund der Datenlage keine begründete Aussage über die Intentionen, Narrative und kulturpolitischen Strategien internationaler Theaterfestivals tätigen. Die Ergänzung der Kurator*innen der Festivals um externe Expert*innen in den Interviews dienen als Überprüfung der in den
Kulturpolitische Forschungsmethodik zu internationalen Theaterfestivals
Interviews oder Eröffnungsreden und Ankündigung proklamierten Intentionen. Um herauszufinden, ob die im Programmheft beschriebene Inszenierung zutrifft und dem kulturellen Ereignis entsprechend beschrieben wurde, wäre eine qualitative Befragung der teilnehmenden notwendig, auf diese wird innerhalb dieser Arbeit auf Grund der Fokussierung und aus forschungspragmatischen Gründen verzichtet. Die erhobenen Daten in dieser Arbeit lassen es zu, die Selbstbeschreibung der Festivals zu analysieren und die selbsterklärten Ziele und künstlerische Setzungen beispielhaft mit dem Programm abzugleichen, um aus dieser Konstellation Rückschlüsse auf die dahinterliegenden kulturpolitischen Motivationen zu schließen. Aus der Betrachtung des Forschungsstandes zu internationalen Theaterfestivals heraus verdeutlicht sich, dass ein brauchbares Analysewerkzeug für internationale Theaterfestivals fehlt, Analogien könnten aus der Aufführungs-, Medien- und Diskursanalyse herangezogen werden. Jedoch sind Festivals in ihrer Verfasstheit nicht vergleichbar mit einzelnen Aufführungen oder dezidierten Diskursen, sondern angeschlossen an eine Vielzahl von Diskursen und eine kuratorische Zusammenstellung vieler Aufführungen, Musikvorführungen, Installationen. Jennifer Elferts »Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells« betrachtet Theaterfestivals vorranging aus organisationstheoretischer Sicht. Im Fokus stehen die gewachsenen Strukturen des Theaterfestivals als kulturelles Organisationsmodell – was dabei zu kurz kommt, ist die Frage danach, was innerhalb dieser gewachsenen Struktur inhaltlich und künstlerisch eigentlich passiert und wie die Funktionsweise eines Festivals in seiner Komplexität erfassbar wird. Verena Teissl stellt in »Kulturveranstaltung Festival: Formate, Entstehung und Potenziale, Kultur- und Museumsmanagement«23 den Entwurf einer Typologie für künstlerisch-kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung und teilt diese in vier Ebenen auf: Ausrichtung (z.B. sparten-,
23
Verena Teissl, Kulturveranstaltung Festival: Formate, Entstehung und Potenziale, Kultur- und Museumsmanagement (Bielefeld: transcript, 2013).
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themen- länderbezogen oder interdisziplinär), strukturgebende Faktoren mit produzierendem Charakter (z.B. Wettbewerb, Auftragsarbeit, Markenträger wie ECoC), strukturgebende Faktoren der Programmselektion (z.B. Künstlerische Leitung, Kuratorenschaft, Outsourcing durch Eventagentur) und Effekte (z.B. Weitergabe von Kunstwerken an das internationale Netzwerk, Lancieren von Erstlingswerken bzw. Auftragsarbeiten im internationalen Veranstaltungsnetzwerk)24 . Ihre Typologie lässt sich für internationale Theaterfestivals in Hinblick auf ihre Ausrichtung anwenden, die vorgeschlagenen strukturgebenden Faktoren 1 spielen für internationale Theaterfestivals eine zu vernachlässigende Rolle, »Wettbewerb«, »Markenträger« und »High End« sind in Bezug auf die internationalen Theaterfestivals mit der Bemühung einer eigenen kuratorischen Handschrift und einer kulturpolitischen Positionierung als Narrativ kontraproduktiv, hier sind nur die vorgeschlagenen Faktoren »Ohne Wettbewerb« und »Ko-Produktion« relevant. Bei den strukturgebenden Faktoren der Programmselektion wird bei internationalen Theaterfestivals die Kuratorenschaft durch die künstlerische Leitung bestimmt, je nach Ausrichtung, und gibt es eine Co-Kuratorenschaft für eine bestimmte Sparte. Hinzu kommen weitere Effekten bei internationalen Theaterfestivals, die in der Liste aller Aktanten (Siehe: 6) gesammelt und in Bezug auf kulturpolitische Strategien und Narrative dargestellt werden. Im weiteren Verlauf schlägt Teissl die Beschreibung von Kulturveranstaltung als »Sites of Passage« vor: Der Begriff >>Sites of Passage>Übergangsort>Sites of Passage>Sites of Passage Community Building Beteiligung an Diskursen Hervorbringung neuer Narrative, Ästhetiken, Dramaturgien Repräsentation
5. Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft
Die drei externen Perspektiven dienen der Kontrastierung der Expert*inneninterviews mit den künstlerischen Leiter*innen der Festivals.
5.1
Eine kulturpolitische Position zu Aufgaben und Grenzen der Theaterkunst: Holger Bergmann (Geschäftsführung Fonds Darstellende Künste e.V.)
Holger Bergmann wurde als Experte für den Bereich der Kulturförderung und die kulturpolitischen Rahmenbedingungen, an und unter denen sich kulturpolitische Strategien und Narrative entwickeln, befragt. Er ist Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste e.V. und fördert in dieser Funktion maßgeblich Produktionen der freien Theaterszene innerhalb Deutschlands.
Programmierung und die soziale Frage Am Beispiel des Dortmunder Favoriten Festivals, das er selbst kuratierte, verdeutlicht Bergmann, dass Festivals, auch wenn sie an ungewöhnliche Orte des Stadtraums gehen, keine nachhaltigen Veränderungen in diesen forcieren oder bewirken: »wir wollen nicht vorgaukeln […]wir widmen uns jetzt wirklich dieser sozialen Frage an den Orten […] wir haben dort das künstlerische Programm der Gruppen platziert […] [32].
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Narrative internationaler Theaterfestivals
Die Bearbeitung sozialer Fragen, sieht Bergmann nicht bei der Kunst. Was er Formaten, die in den Stadtraum gehen wiederum zuschreibt, ist das Potential diskursive Räume zu öffnen: »Die künstlerischen Arbeiten haben […] keinen sozialen Auftrag. Die kommen wegen ihrer künstlerischen Arbeit. Aber sie kommen in ein Umfeld und in eine diskursive Situation, in der sich etwas anderes ergeben kann.« [42]. Aus Bergmanns Sicht bieten Festivals Erfahrungsräume an, deren Potentiale sich auch auf andere Bereiche übertragen ließen: »Aber die Potentiale, die wir für demokratische Prozesse aus gerade DIESEN künstlerischen Prozessen nehmen können, […] ist etwas, was wir jetzt in diesen postdemokratischen Zeiten ganz gut gebrauchen können. Und was Politik eigentlich auch ganz gut gebrauchen kann.« [36]. An dieser Stelle zieht er Parallelen zur kulturpolitischen Arbeit des Fonds für Darstellende Künste. Auch hier befinde man sich in einem permanenten Aushandlungsprozess darüber, wie man mit Transparenz umgehe, ob man tendenziell mehr Projekte fördere oder weniger, diese dafür aber nachhaltiger. Bergmann spricht sich generell dafür aus, bei Veränderungsprozessen zuerst bei sich selbst anzusetzen und damit auch beim Fonds für Darstellende Künste als Förderinstitution, »das heißt, dass wir Dinge von unserer Seite aus verändern, die natürlich dann auch wieder Veränderungen bei anderen erzeugen werden.« [40]. Als aktuelle Tendenzen innerhalb der deutschen Theaterszene könne er kein spezifisches Thema ausmachen, die Szene sei sehr vielfältig und es gebe eine gelegentliche Anhäufung von Einzelthemen in Antragsrunden. Auffällig sei, dass oft die Frage nach Zusammensetzung von Gesellschaft und demografischen Entwicklungen thematisiert werde, auch eine »gewisse gesellschaftliche Wirkungen […] der Arbeit« [42] sei in den Anträgen als Anliegen formuliert. Themen wie Gender und Digitalisierung wären kurzzeitig präsenter gewesen. Neben thematisch changierenden Setzungen sei vielmehr an der Art zu produzieren eine aktuelle Veränderung in der Theaterlandschaft wahrnehmbar. Es entstehen deutlich mehr Netzwerkarbeiten und generell Koproduktionen, die mit unterschiedlichsten Akteur*innen im Feld kooperieren, dies gehe von städtischen Einrichtungen über Kommunaltheater zu Museen bis hin zu Festivalformen [42]. Das erkläre er sich damit, dass »die neue Produk-
Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft
tivität des Kapitals […] das Netzwerk« sei [42]. Dementsprechend sei in einer ökonomischen Logik auch die Effizienz dieses Netzwerks entscheidend. Als Beispiel nennt er hier das Doppelpass-Förderprogramm, welches zu einer Etablierung der Zusammenarbeit zwischen Stadttheatern und Gruppen aus der freien Szene geführt habe. Weiterhin bringt Bergmann an, dass aus Gründen finanzieller Kontinuität oft die Inhalte zurückgestellt würde, als Beispiel bringt er Anträge, die ein Recherchetheaterprojekt planen, in welchem mit traumatisierten Geflüchteten gearbeitet werden soll. Hier spricht er einen deutlichen Appell aus, diese, für ihn sehr elitäre Haltung, zu überdenken. Beim Favoriten Festival luden sie beispielweise eine Initiative ein, die seit eineinhalb Jahren eine mobile Küche mit Geflüchteten aufbaut, als Festival-Gastro hinzukommen. Die Idee, man könne mit einem Theaterprojekt, das nach 10 Tagen Präsenz auf einem Festival vorbei sei, etwas Nachhaltiges bewegen, beschreibt Bergmann als schwierig. Die Ursache für dieses Problem sieht er aber eher auf Seiten der Förderpolitik als der Antragsteller*innen. Er sieht hier die Fördereinrichtungen in der Pflicht, darüber nachzudenken, welche Fördermodule es zu entwickeln gelte [50]. Festivals und das Theater generell, sei, so Bergmann, nicht nachhaltig in seiner Wirkung. Es könne allerdings einen Erfahrungsraum bieten. Eine weltverändernde Funktion spricht er den Künsten hierbei nicht zu und sieht hier auch stärker die kulturpolitischen Prozesse, die man selber mitbestimme, und die Kulturpolitik in der Pflicht, hier Verantwortung zu übernehmen, und hinterfragt, ob es überhaupt möglich oder legitim sei, in post-demokratischen Zeiten die Verantwortung für die Wiederbelebung der Demokratie auf künstlerische Produktionen abzuwälzen[68]. Die Künste können hier eine Diskursfläche bieten, in welcher es sich grundsätzlich für Widerspruch und Konflikt ausspreche: »[E]s geht nicht darum […] homogene Flächen zu erzeugen oder […] alles im Gleichklang von Stadtgesellschaft, Kreativwirtschaft, alle dürfen mitmachen […] [s]ondern es geht (darum), dass wir die Sachen so verschieben, dass sie durchaus auch Konflikte inkludieren« [68]. Bergmann betont die Vielfalt der freien Theaterszene, die wiederum nicht frei von Ökonomisierungsprozessen und Logiken sei. Mit dem
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Narrative internationaler Theaterfestivals
Ausspruch »das Kapital ist das Netzwerk« veranschaulicht er die prekäre Situation der freien Theaterszene, deren starke Vernetzung auch ein Ergebnis von ökonomischer Sicherung und Fortbestand der einzelnen Akteur*innen, wie Künstler*innen und Kollektiven sei, die sich vielfach von Antrag zu Antrag finanzieren, obgleich sie einen wesentlichen Input für die Theaterlandschaft und somit zu deren Vielfalt beitragen. Die kulturpolitische Verantwortung diese Verhältnisse zu verändern und zu verbessern, sieht Bergmann klar bei der Kulturpolitik. Für eine wesentliche Aufgabe der Künstler*innen hält er die Öffnung von Diskursflächen, die Widerspruch und Konflikt inkludieren und nicht dienlich sind im Beantworten (kultur-)politischer Fragen, sondern diese eher zu Tage fördern.
5.2
Postkoloniales Kuratieren bei internationalen Theaterfestivals – eine journalistische Position: Esther Boldt (Freie Autorin für Theater heute und nachtkrititk.de)
Esther Boldt ist freie Autorin für die Fachpresse, sie schreibt für das Webportal nachtriktik.de und die Fachzeitschrift Theater heute. Neben dieser Tätigkeit entwickelte sie ein Nachwuchsförderprogramm für Kulturjournalist*innen und stellt hier das Feld und seine Praxis unter selbstkritische Beobachtung.
Postpostkoloniales Kuratieren »Noch virulenter als die Frage wie man mit Geflüchteten umgeht« [6], scheint die Frage »wie man mit postkolonialer oder postpostkolonialer Kunst umgeht« [6], als Beispiele benennt Boldt hier den Asienschwerpunkt des Festivals Theaterformen 2016 und das Brasilienfestival des Frankfurter Mousonturms, sowie eine Koproduktion zwischen Hellerau und Kampnagel.
Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft
Sie beschreibt den Begriff des postkolonialen Kuratierens, dessen Merkmal das Einladen von Produktionen aus nicht europäischen Ländern sei. Hieran schließen sich Fragen an, wie sich diese Kunst rezipieren und auch im Rahmen eines Festivals Kontextualisierung lasse. Für Kritiker*innen stelle sich ebenfalls die Frage der Rezeption, aber auch die Frage, wie sich die Produktionen beschreiben lassen und wie es möglich wird, »diesen postkolonialen Blick« [6] zu thematisieren. Kuratorisch werde dies, so Boldt, unterschiedlich angegangen. Eine Gefahr, die sie hierbei sieht, ist, dass es doch wieder zu einer Exotisierung von Kunstwerken komme, gerade dadurch, dass sich in der Kontextualisierung nur auf den Faktor der Herkunftslandes konzentriert werde: »Wir gucken uns jetzt Kunst aus Asien/Afrika/Südamerika [an]« [8], welches einer Zuschreibung entspricht, die dem einzelnen Werk/Abend nicht gerecht werden kann, so Boldt. Sie hinterfragt kritisch ob es überhaupt möglich sei, einen offenen Blick zu erlernen, »weil wir einfach dann doch immer mit unserer westlichen Brille gucken.« [8]. Gelungen ist ein postkoloniales Kuratieren aus ihrer Sicht dann, wenn die Einladung unabhängig von einem spezifischen kulturellen Kontext geschehe und es um »die Wertschätzung des Künstlers und tatsächlich die Arbeit an sich geht.« [10]. Als eine weitere Gefahr benennt sie die Instrumentalisierung des Kunstwerkes oder des/der Künstlers/in, um eine These des Kurators/der Kuratorin zu bestätigen. Wenn also »unsere Fragen an den Kulturraum oder die Geschichte/den Blick auf die künstlerische Arbeit verstellen« [10], also eine Einladung ausgesprochen wird, »damit wir uns daran abarbeiten – nicht zwangsläufig in einer produktiven Weise –, sondern in einer Weise, die unsere Fragen wichtiger nimmt, als die Fragen die der Künstler vielleicht hat mit der Arbeit.« [10] Als eine Ursache benennt Boldt die Fördermittelvergabe: »es hat tatsächlich viel mit Kulturpolitik zu tun« [10], es sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten extrem zu beobachten, dass die Fördermittelvergabe auch kuratiert werde und stärker inhaltlich gebunden sei. Das führe dazu, dass »die Veranstalter deswegen auch in die Situation kommen, dass sie genau stärker kuratieren müssen, stärker auch politisch inhaltlich legitimieren müssen, warum sie ein Festival machen.« [10]. Die Festivals geraten
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Narrative internationaler Theaterfestivals
also unter Legitimationsdruck, die politische Relevanz, gegenüber den Geldgeber*innen nachzuweisen. Dieser Umstand führt zu einem interessegeleiteten Zugriff auf Kunst, der mit den Institutionen zu tun hat und zunächst mit den künstlerischen Werken selbst, das benennt Boldt als problematischen Umstand. »Also das kann man ja überall genau sehen, dass Festivals oder auch Programm von Häusern, wenn sie von Drittmitteln abhängig sind, wenig zu tun zu haben scheinen mit einem wirklich begeisterten singulären Interesse, was ja vielleicht ein euphemistischer Begriff wäre, von einer Kuratorin.«[10]. Sie reklamiert, dass an allen Häusern und Festivals sichtbar sei, dass sich Kurator*innen von Drittmitteln abhängig machen, und die Programmgestaltung nicht von einem singulären Interesse für Künstler*innen und ihre Werke ausginge, sondern allein von der Frage »Woher können wir jetzt Mittel bekommen?« [10] oder »Wie können wir/vielleicht gibt es ein Interesse, aber wie kann man dieses Interesse so politisch legitimieren, dass man dafür Fördergelder bekommt?« [10]. Kulturpolitisch sieht Boldt als problematisch an, dass beispielsweise als Kulturdezernent*in eher »Managertypen« [12] nachbesetzt werden und dass sie hier ein Verständnis dafür, was Kunst gesellschaftlich soll, hier nicht gegeben sieht. Insgesamt fehle ihr der Diskurs um die Frage der gesellschaftlichen Austrags von Kunst, als Beispiele benennt sie die Besetzung der Häuser Kammerspiele München, Volksbühne Berlin und Schauspiel Frankfurt, wo es im Nachgang große Diskussionen um die Besetzung der Intendanz gab, aber keinerlei offener Diskurs mit der Stadtgesellschaft im Vorfeld. Sie schlägt vor, in einem solchen Vorabprozess Fragen zu klären wie: Was ist das Theater für ein Haus? Was verbinden wir damit? Was braucht die Stadt? Was hat die Stadt schon? Was soll unser Theater sein? Folglich Diskurs vor personeller Entscheidung. Dies sieht sie als große Chance für die Städte und auch für die Verankerung des Theaters innerhalb der Stadt. Sie wünscht sich mehr Transparenz, eine offene Ausschreibung, wie beispielsweise in der Schweiz, so dass alle Bewerber*innen zumindest die Chance haben, sich zu bewerben und auf diese Weise, so Boldts Hoffnung, auch Kandidat*innen ins Spiel kommen,
Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft
die von der Kulturpolitik bislang nicht gesehen werden. Gegenwärtig sieht sie allerdings, dass »[eher] Manager und Drittmittelakquisiteure gefragt sind als Menschen mit einer sehr klaren und eigenwilligen künstlerischen Position.« [12].
Thematische Schwerpunkte und Rahmenprogramme bei Festivals Boldt nimmt im Feld wahr, dass sich Festivals gerade auf einem Peek der Themenfestivals befinden, und prognostiziert, dass diese Zeit bald vorbei sein werde, ist sich aber unschlüssig darüber, was folgen könnte. Als »extrem« [18] nimmt sie diese thematische Fokussierung beispielsweise beim steirischen herbst unter Mitwirkung von Florian Malzacher wahr. Sie glaubt, diese »Mode« [18] werde bald vorbei sein, und benennt dafür zwei Gründe: Einerseits seien Themenfestivals zu intellektuell und andererseits zu einengend. Zu Formaten wie »Our common Futures«, wie es bei Festival Theaterformen stattgefunden hat, kritisiert sie, dass hier ein Versprechen gegeben worden sei, welchem die Veranstaltung nicht habe gerecht werden können. Angelockt wurde sie persönlich durch »dieses utopische Versprechen: »[was] könnte unser Gemeinsames sein?« [28] und »was sind die Zukünfte, die wir uns zusammen vorstellen können?« [28]. Sie hat die Künstler*innen als »fantastisch« [28] erlebt und sie hätte über Biografisches hinaus, gern mehr über ihr Wissen und ihren Zugriff auf Theater erfahren. Dies benötige sehr viel Zeit und Arbeit, um auf einen »common ground« [28] zu kommen, von dem aus sich über utopische Konzepte diskutieren lasse. Gleichzeitig räumt sie ein, dass der »common ground« [28] also eine gemeinsame Gesprächsgrundlage, möglicherweise aber auch ein Konzept sei, das man loslassen könne, und dass es eher um ein gemeinsames Anfangen gehe, da es einen gemeinsamen Stand, von dem aus man losgehe, gar nicht geben und man diesen auch nicht diskursiv oder argumentativ erreichen könne, somit rücke der Prozess, sich mit den eingeladen Künstler*innen auszutauschen, in den Mittelpunkt und Fragen zu klären wie »wo seid ihr jetzt und was denken wir denn wo ihr seid?« [30].
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Boldt benennt, dass thematisches Kernprogramm auch häufig aus Kostengründen gemeinsam geplant werde und dann die Kontextualisierung und das Rahmenprogramm in den Mittelpunkt rücke, um das Festival noch als ein eigenes definieren zu können. Als Beispiel hierfür nennt sie das Afrikafestival, das unter anderem am HAU Berlin stattgefunden hat. Sie referiert einen Artikel der »Zeit« mit dem Titel »Kill the middleman« [30] und erklärt, dass die Mittelsmänner-Rolle weiter zuzunehmen scheine und sich das Gefühl einstelle, man müsse überall vermitteln und intervenieren, so dass es für sie eine logische Folge ist, dass sich auch Festivals »diesen Gürtel zulegen, diesen Speckgürtel aus Erklärungen und Kontextualisierungen und Publikumsgesprächen.« [30]. Postkoloniales Kuratieren gelinge, so Boldt, nur dann, wenn die Einladung einer Produktion aus dezidiertem Interesse für das spezifische Kunstwerk heraus entstehe. Durch eine Einladung entlang an Fördermechanismen (welche Koproduktionen, Kooperationen gerade gefördert werden) könne zu einer Weitererzählung des Narrativs der Exotisierung führen. Neben biografischen Erzählungen der Künstler*innen, interessiere sie sich mehr für die künstlerischen Strategien. Was sie außer Acht lässt, ist, dass insbesondere die gegenwärtige internationale Theaterszene auf Grund der politisierten globalen Lage eng verbunden ist mit den Lebensumständen der Künstler*innen und den Bedingungen unter denen sie Kunst produzieren. Was Festivals wollen oder versuchen, gelingt ihnen, aus Boldts Sicht, oftmals nicht. Sie geht davon aus, dass die Zeit der Themenfestivals und erhöhten Kontextualisierung bald vorbei sei, und macht keine Prognosen darüber, was danach ansteht.
Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft
5.3
Internationale Perspektive auf die Festivallandschaft: Kathrin Deventer (Generalsekretärin European Festivals Association, Brüssel)
Kathrin Deventer ist Generalsekretärin der Organisation European Festivals Association (EFA) in Brüssel und Co-director der Plattform EFFE – Europe for Festivals, Festivals for Europe1 und steht innerhalb des Forschungsdesigns für die international Perspektive auf das Feld internationaler Theaterfestivals. Die EFA ist in erster Linie ein Netzwerk für internationale Festivals, sie bieten international Weiterbildungen an und bringen Akteur*innen zusammen. Zu Beginn schildert Deventer ihren Berufsalltag und ihre Aufgaben als Chefin der EFA. Sie spricht von ihrer Verantwortung einem kleinen Team gegenüber und von den Schwierigkeiten, die aus dem schnellen Wachstum der Organisation entstanden seien.
Geschichte der EFA Diese sei 1952 aus einem informellen Zusammenschluss von 15 Orchesterdirektoren gegründet worden, welche diese Plattform schufen, um gemeinsam zu programmieren. Inzwischen zähle der Interessensverband ca. 100 aktive und passive Mitglieder aus 40 Ländern. Die Aufgaben der EFA gliedere sich in drei Bereiche: Informationsaustausch, Netzwerkarbeit (z.B. Angebot von Trainingsprogrammen) und Lobbyarbeit für Kunst und Kultur und die politische Repräsentanz [30]. Der Mitgliedsbeitrag in der EFA liege pro Festival bei 4.250 €, welche wieder zurückinvestiert würden in ein inklusiveres Aktivitätenprogramm der EFA [36].
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Website: https://www.efa-aef.eu/en/about/structure/15/. 13.8.2018.
Abgerufen
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Europa und Kunst »Also der Künstler hört nicht auf, an irgendwelchen nationalen Grenzen zu schaffen und zu kreieren. Und die Kunst hört nicht auf, über die Grenzen zu leben.« [38] Auch Festivals hören nicht »an den nationalen Grenzen oder politischen Grenzen [auf] zusammenzuarbeiten«. [42] Auf die Frage, inwiefern Europa eine Utopie wäre, meint Deventer: »Ich denke, dass die Zivilgesellschaft und im ganz speziellen die Kunst und Kultur nicht eine Utopie lebt, sondern eine Selbstverständlichkeit« [42]. Mit Blick aus Brüssel ist Europa eine Tatsache und kein Diskussionsstand.
(Gesellschafts-)Politische Dimensionen von Festivals und Kunst Deventer sieht die Aufgabe von Künstler*innen darin, neben dem ästhetischen Ausdruck ihrer Arbeiten einen Bezug zur Gesellschaft herzustellen. In Bezug auf Festivals bedeutet das für sie: »[I]ch glaube, dass Festivals in ihrem Betrieb sehr stark auf gesellschaftliche Veränderungen oder gesellschaftliche Dinge eingehen einfach dadurch, dass sie Plattformen sind, die ja den Künstlern in erster Linie eine Plattform gibt, sich auszudrücken« [44]. Da Künstler »sehr gesellschaftskritisch sind, werden dadurch auch die Festivals, die diese Künstler programmieren gesellschaftskritischer und müssen das auch sein.« [44]. Andersherum, dass das Festival ein politisches Thema vorgebe, funktioniere es allerdings nicht. Die meisten Festivals fänden in einem städtischen Rahmen oder lokalen Kontext statt und dementsprechend liege der gesellschaftliche Auftrag darin, dadurch dass es im öffentlichen Raum stattfinde, öffentlich zugänglich zu sein [44] (Als Gegenbeispiel führt sie die Bayreuther Festspiele an.). Themen wie (E-)Migration oder Populismus wäre in der Kunst schon jahrelang Gegenstand der Arbeiten, lange bevor sie medial thematisiert worden wären. Deventer schreibt Künstler*innen ein seismografisches Potenzial zu: »Das sind Themen, die schon ganz ganz lange in der Kunst und durch Künstler besprochen werden, das Thema
Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft
der Bürgerschaft, der aktiven Partizipation, das Hinterfragen von wirtschaftlichen Missständen das Ausbeuten von Minderheiten« [44]. Das gesellschaftsverändernde Potenzial der Kunst sieht sie dabei als begrenzt an: »Ich denke, dass die Kunst vor allem Auswege aus […] gesellschaftlichen Situationen entdeckt, die eigentlich immer schon voraus der Zeit ist. […] Wenn wir das Einschränken würden und die Freiheit der Schaffenden, der Kreativen einschränken würden und denen jetzt sagen müssen, jetzt müsst ihr mal reagieren und das, was die Politik nicht geleistet hat ausbürsten und müsst mal ein bisschen die Gesellschaft wieder beieinander halten so im politischen Hilferuf an die Kultur« [44] pflichte sie dieser Haltung im privaten Sinne von bürgerschaftlichen Engagement bei, allerdings nicht auf einer professionellen Ebene: »[wir] müssen wir vor allem dafür sorgen, dass die Freiheit gewährleistet werden muss, dass die Freiheit der Schaffenden, der Künstler gewährleistet sein muss und die Künstler weiterhin Pioniere unserer Wirklichkeit sein können und denen müssen wir vor allem als Festivals […]eine Plattform geben.« [44]. Deventer konstatiert, dass sich die Programmierung von Festivals dahingehend verändert habe: »[…] wenn man sich heute die Programme anschaut der Festivals aber schon seit zehn Jahren, dann ist das so, dass da ganz viele Outreach-Programme stattfinden, ganz viele Education Activities, es hört nicht auf mit einfach nur einem Künstlergespräch nach dem Konzert. Sondern es geht da um ganz viel bürgerschaftliches Engagement, das hat es vor zwanzig Jahren in dem Sinne so nicht gegeben« [44].
Förderpolitik: »Vor sechzehn Jahren stand da nichts von Audience Participation oder irgendwie sowas mit drin« [46] Dieser Veränderung könne sie anhand der geänderten Förderpolitik feststellen, es gehe nicht mehr darum, »dass es eine Art von Diversität gibt, die mit länderüberschreitender Arbeit und Mobilität zu tun haben, sondern dass es darum geht, wie Audiences/vor allem Audience Development, also wie Zuschauer und Bürger einbezogen werden können.« [46]. Dies sei das Hauptkriterium für eine Förderung, »das
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Narrative internationaler Theaterfestivals
zweite ist, ganz fürchterlich inwiefern Kunst und Kultur Geld schafft, also einen ökonomischen Mehrwert bedeutet.« [46]. Sie stellt abschließend fest: »[…]man kann anhand der Kriterien der politischen Akteure sehen inwiefern da der Kunstbetrieb weiter auch natürlich gerichtet und ausgerichtet werden soll.« [46] Was Deventer hier anspricht, sind die Attribute Umweg-Rentabilität und Kreativwirtschaft. Kultur gerät in die bereits bei Bergmann und Kaup-Hasler beschriebene Strudel des erhöhten Produktionsdrucks und wird seitens der Kulturpolitik aufgefordert, neben genuin künstlerischen, diskursiven und vermittelnden Formaten gesellschaftspolitische, soziale und ökonomische Aufgaben zu bearbeiten. Darüber hinaus wird die Kultur aufgefordert, die Effizienz dieser Unternehmungen bereits in Förderanträgen transparent zu machen und in späteren Auslastungszahlen und Reichweitenachweisen zu quantifizieren. Für eine zukünftige Kulturpolitik wünsche sich Deventer eine Entschleunigung, die nicht so stark auf die ökonomischen Dimensionen der Kunstproduktion fixiert sei und mehr Prozesse als Produkte produziere. Sie betont besonders die ästhetische Erfahrung, die man in der Sparte Tanz erleben könne. Konkret würde sie »Kriterien befürworten die Zeit, die Raum, die so wenig möglich Kriterien im Grunde genommen ausschreiben, an die beantwortet werden muss.« [54]. Es müsse möglich sein, »dass wir diese Rahmenbedingungen so stecken, dass sich das [der ökonomische Druck] nicht ausübt auf die Freiheit und das Schaffen des Künstlers selbst.« [56]. Ein Beispiel hierfür sei, »dass es trotzdem auch immer noch wieder solche Freibriefe in jedem Kulturprogramm geben müsste. Vor allem auf lokaler oder regionaler Ebene.« [56]. Dies liege in der Verantwortung der Städte und Kommunen, allerdings nicht auf europäischer Ebene.
Die Rolle der Festivalleitung und die Kuration Deventer unterscheidet verschiedene Arten oder Strategien der Kuration und betont, dass es wichtig sei, dass all diese unterschiedlichen Formen weiter stattfänden und ihr Berechtigung hätten [60]. Dazu gehören die Programmierung eines Best of the Best-Festivals, bei dem der/die Ku-
Externe Perspektiven auf die internationale Theaterfestivallandschaft
rator*in beispielsweise die beste Tanzinszenierung eines jeden Landes auswähle, die Artist in Residence-Kuration, bei welcher ein/e Künstler*in in Residence durch ihre Schaffen das Programm mitdefiniere [60]. Eine dritte Variante wäre, dass entweder Künstler*in oder Kurator*in eine Vision habe, von der sich die andere Person jeweils inspirieren lasse, und so eine Kuration im dialogischen Austausch entstehe. Eine weitere Variante sei der/die Künstler*in in der Doppelfunktion als Kurator*in, wie in Avignon oder anderen Festival, bei denen Künstler*innen im Schaffensprozess andere hinzuholen und dadurch eine Kuration entstehe, so Deventer [60]. Wesentlich sei für sie der Unterschied zwischen produzierenden und nicht-produzierenden Festivals: »Vor allem im Theaterbetrieb ist das ja so, dass eigentlich Theaterbetrieb neben dem Repertoire-Theater im Festivalbereich ja oft neue Kreationen liefert und dadurch auch lebt.« [60]. Deventer beschreibt verschiedene Kurationsstile, deren Vielfalt zu erhalten sei. Seitens der Kulturpolitik und der EFA als kulturpolitische Interessensvertretung fordert sie, künstlerische Freiräume jenseits des ökonomischen Drucks zu ermöglichen. Festivals reagieren sehr stark auf gesellschaftliche Veränderungen, da sie Plattform für Künstler*innen darstellen und die sie als Pioniere unserer Wirklichkeit deklariert. Um diese visionäre und kritisch reflexive Funktion, die Künstler*innen hier erfüllen, nicht zu verlieren, fordert sie, dass die Freiheit der Kunst gewährleistet sein müsse und nicht durch eine politische Themensetzung der Festivalleitung vorgegeben und eingeschränkt werden dürfe. Die Förderpolitik habe in den letzten zehn Jahren Audience Development zur Priorität gemacht. Deventer betont die Setzung: Europa ist eine Tatsache. Aus Brüssel gesprochen, und in Bezug auf das Tagesgeschäft der EFA scheint dies berechtigt, die Festivals und deren Künstler*innen sind international vernetzt und agieren und arbeiten über Ländergrenzen hinweg. Deventer stellt die Forderung an die Kulturpolitik, die Kunstfreiheit in den Vordergrund zu stellen. Kulturpolitik solle hier keine thematischen Setzungen machen, sondern dies den Künstler*innen und Kurator*innen in ihrer vielfältigen Weise überlassen.
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6. Kulturpolitische Strategien und neue Narrative Handlungsweisen und Operationsmöglichkeiten internationaler Theaterfestivals
In diesem Kapitel werden einzelne konkrete Beispiele der Festivals herangezogen, um die Funktionsweise, wie Narrative oder kulturpolitische Strategien, erkennbar werden, nachvollziehbar zu machen.
6.1
Narrative in den Kunstwerken und Inszenierungen der Festivals
Neben den handelnden Akteuren wirken auch die Installationen, Kunstwerke, Festivalzentren, diskursiven und kulturellen Bildungsformate der Festivals mit an den entstehenden Narrativen, die Festivals miterzählen. In ihren Inszenierungen und dem erweiterten Programm erzählen internationale Theaterfestivals von alternativen Narrativen, sie antizipieren Zukünfte und bilden ein Framing von Lebensmodellen in performativen Formaten. Wie beispielsweise die Produktion »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« (R: Milo Rau, UA: Schaubühne Berlin, D 2016) zeigt. Die Inszenierung erzählt von einer weißen NGO-Mitarbeiterin und ihren Erfahrungen in einem Einsatz in kongolesischen Bürgerkrieg. Rau »begibt sich in die politischen
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Narrative internationaler Theaterfestivals
Brennpunkte der heutigen Zeit (und) betritt dabei bewusst widersprüchliches Gelände: Wie ertragen wir das Elend der Anderen, warum schauen wir es uns an? Warum wiegt ein Toter an den Toren Europas mehr als 1000 Tote in den kongolesischen Bürgerkriegsgebieten? So ist »Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs« nicht nur ein Nachdenken über die Grenzen unseres Mitleids – sondern auch über die Grenzen des europäischen Humanismus.« – so in der Ankündigung der Schaubühne zu lesen. Das Stück zeigt eine Weiße, die über ihre Erfahrungen mit dem Leid der Menschen vor Ort, das sie beobachtet, berichtet. Ursina Lardi wird »als idealtypische Vertreterin der herrschenden Klasse treffsicher besetzte Schaubühnen-Darstellerin« tituliert, die sich selbst als »sich selbst als unerträglich zynische und rassistische Schauspielerin [spielt].«1 Der Theaterabend wird in der Fachpresse kontrovers diskutiert, welcher durch den Regisseur Rau bewusst provozierend aus der eurozentristischen Perspektive heraus erzählt wird: »Charity und Betroffenheits-Posts auf Facebook sind nett gemeint, aber eigentlich nicht mehr als zynischer Ausdruck von zentraleuropäischem Egozentrismus – und wir beziehungsweise unser Reichtum letztendlich verantwortlich für Massenarmut und Massenmorde auf dem afrikanischen Kontinent.«2 , so Sasha Ehlert in seiner Kritik auf nachtkritik.de. Milo Rau fordert in Manifesten das Ende der Festung Europa und stellt zur Debatte: »Warum sollten wir nicht, wenn auch nur für eine Saison, die alte Schlingensief-Rolle der ironischen Negation aufgeben und, sagen wir es offen: staatstragend arbeiten?«3 Hier zeigt sich, wie sich eine kulturpolitische Position in der Entität
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https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id= 12021:mitleid-die-geschichte-des-maschinengewehrs-an-der-schaubuehneberlin-kitzelt-milo-rau-das-zentraleuropaeische-schlechte-gewissen&catid= 34:schaubuehne-berlin&Itemid=100476 Siehe Website: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view= article&id=12021:mitleid-die-geschichte-des-maschinengewehrs-an-derschaubuehne-berlin-kitzelt-milo-rau-das-zentraleuropaeische-schlechtegewissen&catid=34:schaubuehne-berlin&Itemid=100476. Abgerufen am 10.10.2019. Edb.
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative
des Bühnenwerks weitererzählt und wiederum eine Diskussion um Narrative wie Postkolonialismus, Eurozentrismus auslöst. Ein weiteres Beispiel, wie sich Narrative bei Festivals über Kunstwerke entwickeln, ist das Eröffnungsstück des Festival Theaterformen 2016: »God Bless Baseball« (R: Toshiki Okada, Japan/Südkorea, UA: Gwangju, Südkorea 2015); es erzählt vom Einfluss der Besatzungsmacht auf Japan und Korea in Bezug auf die kulturelle Identitätsbildung. Baseball wurde Teil der Kultur in Japan und Korea, zwei Länder mit zwei Sprachen teilen auf Grund der durch die Besatzungsmacht hereinkommenden Sportart gemeinsame Helden und gemeinsame kulturelle Praxis. Die Dystopie der Gegenwart wird erzählt in dem Stück »Welcome to Caveland – Die Nacht der Maulwürfe« des als Theatermagiers betitelten Regiseur Phillip Quesne. Mit seiner Form der Inszenierung vollzieht er das, was Kurator Ong Keng Sen des Singapore international Festivals of the Arts als kuratorische Strategie des Enchantements (Verzauberung) bezeichnet. Die Inszenierung ist sphärisch und immersiv und erzählt vom Narrativ der Dystopie, einer Welt, in der die blinden Maulwürfe sich in den Untergrund zurückziehen, da ein Leben oberhalb nicht mehr denkbar ist. Das Stück thematisiert die Narrative des Klimawandels (Leben ist nicht mehr möglich) und Ohnmacht und Politikverdrossenheit der »Blinden«.
Lokale Anbindung von Themen mit globaler Relevanz Die Themen, mit denen sich Künstler*innen beschäftigen, sind oftmals vielschichtig und verschachtelt. Ein konkretes Projekt, das Verbindungen mit der konkreten Umwelt eines Festivals eingeht, lässt es zu, dass sich eine komplexe Thematik in der konkreten Alltagswelt manifestiert und somit für das Publikum leibhaftig erfahrbar wird. Ein Beispiel hierfür ist die Grenzinstallation »Das ist mein Blut«4 des angolanischen Künstlers Kiluanji Kia Henda. 4
Siehe auch Website steirischer herbst: http://2016.steirischerherbst.at/ deutsch/Programm/Dies-ist-mein-Blut. Abgerufen am 12.10.2017.
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Abbildung 4 – Installation »Das ist mein Blut« beim Festival »steirischer herbst« 2016
In der Festivaledition des steirischen herbst 2016 »nimmt (er) das Publikum mit auf einen künstlerischen Grenzgang in die Südsteiermark und baut die aktuellen politischen Geschehnisse installativ in die Landschaft ein.«5 Er nutzt rote Metallstangen, die überall an den Anrainerstaaten als Grenzpfosten aufgestellt wurden und installiert sie auf einem Wiesengrundstück des Schloss Seggau im öffentlichen Raum. Er »[spannt] einen beklemmenden Bogen zwischen den derzeit herrschenden Ängsten in der Gesellschaft, den katholischen Traditionen, dem südsteirischen Weinbau und den Zäunen, die uns die lange unsichtbare Grenze zu Slowenien vor Augen halten.«6 Diese Beispiele zeigen, in welche Weise Theater eine sozial bildende und abbildende Funktion erfüllt und hierbei zu Narrativen beiträgt oder diese in Frage zu stellen vermag. Theaterfestival vereinen hierbei zwei gemeinschaftsbildende Parameter miteinander: das Fest, als kul-
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Vgl.: Website edb. Website steirischer herbst: http://2016.steirischerherbst.at/deutsch/Programm/Dies-ist-mein-Blut. Abgerufen am 12.10.2017.
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative
turelle Praxis und das Theater als Kunstform mit sozialer Dimension und Leibanwesenheit der Akteur*innen.
Kulturpolitische Setzungen in der Kommunikation Internationale Theaterfestivals verstehen sich als kulturpolitische Akteure, die international kuratieren und lokal vermitteln. Das Publikum ist, so räumen die Expert*innen ein, ein festival-affines, gewachsenen Publikum, das experimentellen Formen von Kunst ohnehin offen gegenüber sei. Das Publikum setzt sich bei Festivals häufig aus zwei Teilen zusammen, dem lokalen Stadtpublikum und dem Fachpublikum. Angepasst an die geografische Verortung versuchen Festivals, andere Akteure zu den Festivals einzuladen. Lunin äußert, dass beispielsweise Zürich als Stadt und damit das Festivalpublikum sehr divers sei, es gebe aber auch »Migrationsgemeiden, die sonst kaum vorkommen im kulturellen Diskurs« [36/Lunin] wie die tamilische oder kosovo-albanische. Für diese gebe es »Produktionen, die wir explizit darauf ausgerichtet haben […] eben in Zusammenarbeit mit kosovo-albanischen Theatermenschen […]« [36/Lunin]. Kaup-Hasler stellt bezogen auf den aktuellen Rechtsruck in Österreich die für sie eine drängende Frage: »Wie erreichen wir/wie geben wir anderen nicht das Gefühl, dass sie zu blöd sind für das, was wir machen?« [60/Kaup-Hasler]. In der bildenden Kunst stellt sie fest, dass die Ankündigungstexte oft ausschließlich für die eigene Community geschrieben seien. Daher habe sie sich nach anfänglicher Skepsis von ihrer Kunstvermittlerin überzeugen lassen, das Programmheft des Festivals in leicht verständliche Sprache übersetzen zu lassen. Alle Festivals kommunizieren in Mehrsprachigkeit und in den Inszenierungen mit Untertitelung. Das ist eine Änderung innerhalb der Szene, die Richter im Interview als längst überfällig tituliert und sich auch für die Stadt- und Staatstheaterszene wünscht. Auch Deventer stellt in den Vordergrund, dass das Thema Audience Development, welches die vier Bereiche Kulturvermittlung, Public Relation, Kulturnutzer*innen-Forschung, Marketing strategisch verbindet [Mandel, 2008], eine gesteigerte Rolle spiele. Kaup-Hasler hingegen versucht, diverse Gruppen anzusprechen, geht aber insbesondere in Bezug auf
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jugendliche Zuschauergruppen davon aus, dass man diese letztlich nicht erreiche. Im Bereich der Kommunikation sind die Kurator*innen in einem Austausch mit den Künstler*innen und ihren Produktionen, der Einbezug anderer Akteursgruppen wie beispielsweise Vereine und Verbände oder Teil-Öffentlichkeiten, wie die potentielle junge Publikumsgeneration, scheint keine große Rolle in kuratorischen Entscheidungsprozessen zu spielen. Hier wären Vermittler*innen mit neuen Konzepten gefragt, die das Vertrauen der Kurator*innen benötigen, Konzepte ausprobieren zu können und die Kulturpolitik, Formate der nachhaltigen kulturellen Bildung bei internationalen Festivals zu fördern. Was durch die Expert*innen verhäuft genannt wird, ist der Wunsch der Künstler*innen, mehr Zeit auf den Festivals zu verbringen, um einen internationalen Austausch als Bestandteil des Festivals zu etablieren, der auch unter den Künstler*innen stattfinden könne.
6.2
Kuratieren als kulturpolitische Strategie
In Bezug auf die Kuration werden unterschiedlichste Strategien durch die Expert*innen beschrieben. Herausgestellt hat sich, dass die Festivalkurator*innen ein genuines Interesse an den künstlerischen Formaten und an den Künstler*innen, die diese produzieren, zeigen. Die Schwerpunktsetzung oder eigenen Rechercheaufträge sind intrinsisch motiviert und unternehmen den Versuch, keine neuen kolonial Strukturen zu etablieren oder durch die Art des Kuratierens diesen entgegenzuwirken, etwa im Entgegenwirken von ökonomiegetriebenen Produktionsdruck, der Einladung und nachhaltigen Beschäftigung mit anderen Theaterszenen und Ästhetiken, wie Dennewald hier verdeutlicht. Sie differenziere nicht zwischen einer europäischen und (süd-)ostasiatischen Ästhetik und Dramaturgie. Sie wolle keinen Exotismus kuratieren, die Kategorie Nationalität spiele keine Rolle. »Das heißt nicht, dass alles gleich ist, sondern es ist alles auf unterschiedliche Weise gleich oder ähnlich« [106/Dennewald]. Hierbei werden die Künstler*innen in den Vordergrund gestellt, deren Arbeiten der Singulariät von Kunst un-
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative
terliegen und deren aktivistische Anteile oder Narrative durch die Expert*innen als Konsequenz aus oder in Vorausschau auf globale Krisen beschrieben werden. Die Singularität von Kunst stellt die Kurator*innen vor neue Fragen, was die Vermittlung angeht. Denn die Idee, eine offen zugängliche diverse Kulturveranstaltung sein zu wollen, wird von den Expert*innen als Konflikt gegenüber der Singularität von Kunst eingeschätzt. Die externen Expert*innen mahnen hier an, dass Theater und so auch seine Festivals ohnehin nur eine eingeschränkte Möglichkeit habe, wirksam zu sein, und dass die kulturpolitischen Entwicklungen in der Förderpolitik, politische Aufgaben der Kunst zu übertragen, kritisch zu sehen sei. Die Kunstfreiheit und das freie Schaffen der Künstler*innen seien hier zuerst zu schützen. Kunst sucht das Singuläre, die Ausnahme, sie ist somit auf eine Art auch elitär, da sich die hochspezifischen Narrationsweisen und Ästhetiken einzelner Künstler*innen und Kollektive und deren Werke nicht niedrigschwellig und unmittelbar an ein breites Publikum vermitteln oder dieses überhaupt ansprechen. Das spricht einerseits für eine starke Vermittlung, andererseits auch für eine Vielfalt in den Rezeptionsformaten und -angeboten. Deutlich wird, dass die Kurator*innen sich in der Verantwortung sehen, (kultur-)politische Themen zu fokussieren, und sich hier als handlungsfähigen und lernfähigen kulturpolitischen Akteur beschreiben, der gesellschaftspolitische Funktionen erfüllt, indem eine Diskursplattform eröffnet wird und konkret (Eröffnungsreden, Programmhefte, Festivalmagazine) und in künstlerischen Formaten Fragen formuliert werden. Theater habe hierbei eine sozial bildende und abbildende Funktion und könne dadurch besonders gut Narrative vermittelbar machen. Theaterfestival vereinen hierbei zwei gemeinschaftsbildende Parameter miteinander: das Fest, als kulturelle Praxis und das Theater als Kunstform mit sozialer Dimension und Leibanwesenheit der Akteur*innen. Insgesamt zeigt sich, dass die Politisierung des Theaters als Reaktion globaler Krisen durch die Expert*innen wahrgenommen wird. Künstler*innen weltweit sind mit Fragen von Kunstfreiheit, Demokratie, Sicherheit konfrontiert und finden eigne singuläre Formen des Ausdrucks. In Ländern des globalen Südens und Ostens scheint das Erzäh-
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len von noch nicht offenbarten Geschichten eine tragende Rolle zu spielen. In den Formen finden sich viele Recherche-Projekte, also prozessorientierte künstlerische Arbeiten, die ergebnisoffen mit einem Rechercheaustrag oder einer Fragestellung an selbst gesetzte Themen herangehen. Die Festivals bieten eine wichtige Plattform für die Künstler*innen, ihre Arbeiten einer Öffentlichkeit präsentieren zu können, denn das ausgereifte Theatersystem, wie wir es beispielsweise in Deutschland vorfinden, ist nicht der Regelfall für andere Länder. Oftmals sind internationale Festivals die einzige Möglichkeit, die eigenen Arbeiten einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen. In dieser Systematik steckt wiederum eine Gefahr, die von den Expert*innen auch klar benannt wird, die dazu führen kann, dass Künstler*innen und auch Kurator*innen Stücke (ko-)produzieren, die einer Touring-Pragmatik unterliegen, das heißt kleine Bühnenaufbauten, geringe Beteiligtenanzahl, festivalaffine Formsprache und Formate. Einerseits sollen und wollen Festivals eine Plattform für neue Formen im Theater sein, andererseits laufen sie aber Gefahr, selbst zum Produzent redundanter Formen zu werden. Hier kommt die vielfach durch die Expert*innen angesprochene »Wachheit« ins Spiel, die neben der Weltbeobachtung eines fortlaufenden Prozesses der selbstkritischen Infragestellung der eigenen Position und Mechanismen bedarf. Im Bereich der Cultural Leadership ist zu vermerken, dass die Kurator*innen ausnahmslos angeben, in einer Teamstruktur mit flachen Hierarchien zu arbeiten, und eine faire Bezahlung aller Beteiligten für wichtig erachten. Themen wie faire Bezahlung, Diversität im Team und Diskriminierungsfreie Arbeitsumfelder kommen durch die aktuellen Debatten in der Theaterszene auch in die Ausschreibungen der Stellenbesetzung der Festivals. Kaup-Hasler ziehe beispielsweise statt eines überladenen Programms die faire Bezahlung ihre Mitarbeiter*innen vor: »[E]s gibt das nicht, dass Menschen für uns ohne Geld arbeiten« [38/Kaup-Hasler]. Dementsprechend habe sie keine Praktikant*innen. Auch für die Bezahlung der Künstler*innen gebe es ein unteres Limit, lieber würde Kaup-Hasler auf einige Programmpunkte verzichten, als dieses Prinzip zu brechen. Sie kritisiert, »was gerade von der Kunstseite in puncto Prekariat und neoliberales Arbeiten gemacht wurde
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative
in den letzten 20 Jahren« sei katastrophal [38]. Das System sei überhitzt von der Selbstausbeutung, zu der beispielsweise auch Matthias Lilienthal beigetragen habe. Das politische Agieren zeige sich für sie in der »Arbeit im Team, durch den Umgang mit Mitarbeiter, durch ihren Gehaltsgefüge« [38]. Hier hätten viele Kolleg*innen eine bigotte Haltung. Bei der Bezahlung der eingeladenen Künstler*innen, falls diese nicht entweder unverhältnismäßig hohe oder niedrige Gagen verlangen würden, gelte ein ähnliches Prinzip: »[W]ir handeln die nicht runter« [40]. Damit unterscheide sich das Festival vom HAU und Kampnagel. Für Koproduktionen mit anderen Institutionen habe sie die Regel aufgestellt: »Je größer die, also je besser die Institution darstellt, desto weniger bekommt sie« [40]. Hier sei eine Verhältnismäßigkeit wichtig, da 10.000€ für kleinere Institutionen bspw. vergleichbar mit einem Jahresbudget seien, während diese Summe für größere Institutionen nicht weiter ins Gewicht falle. Hier nehme sie oft eine ausgleichende Rolle ein: »[J]e weniger stabil Institutionen in Graz finanziert werden, umso mehr springe ich dann ein« [40]. Um die kulturpolitische Haltung der Festivals in puncto Bezahlpolitik bewerten zu können, wäre eine umfangreiche Forschung anzuschließen, bei der die tatsächlichen Zahlen transparent sind. KaupHaslers Beispiel zeigt, dass hier noch viele Veränderungen notwendig sind. Der Blick auf die virulente Nachwuchsfestivalszene und deren kollektive Kurations- und Cultural-Leadership-Ansätze könnte hier Beispiele für alternative Konzepte liefern.
6.3
Internationale Theaterfestivals als Teil eines Kulturkosmopolitismus
Theaterfestivals stellen sich sozialen und kulturpolitischen Fragestellungen und setzen sich hierbei auch mit postkolonialen, feministischen und poststrukturalistischen Theorien auseinander. Die Gleichzeitigkeit popkultureller, lokaler, globaler, zeitgenössischer, historischer Elemente, aus denen sich immer wieder andere, neue Singularitäten herstel-
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len ließen, wird von dem Kulturtheoretiker Reckwitz auch als Kulturkosmopolitismus bezeichnet. Diese umschriebene Fähigkeit der Kultur der oberen Mittelklasse, die das »massenhaft Besondere« im Modell einer Hyperkultur zu erstellen vermag, birgt Potentiale für internationale Theaterfestivals die es selbstkritisch zu hinterfragen gilt. Neue künstlerische, vermittelnde und diskursive Formate entstehen hier durch internationale Festivals. Hierbei ist die Weiterführung der Dekonstruktion bestehender kolonialer, genderspezifischer Machtverhältnisse der zeitgenössischen Theaterproduktion internationaler Festivals eine fortlaufende Herausforderung für die Festivals selbst und die Kulturpolitik.
Kulturkosmopolitismus nach Reckwitz Kultur erhält in der neuen Mittelklasse die für die Spätmoderne insgesamt charakteristische Form der Hyperkultur. In der Hyperkultur kann potentiell alles was die globale Gegenwart und die Geschichte bereit halten flexibel als Kultur valorisiert werden. Ob hoch oder Populärkultur, lokales oder globales, zeitgenössisches oder historisches, alle potentiellen Elemente der Kultur bieten sich im Prinzip gleichberechtigt dar und werden zur potentiellen Bereicherung des Lebensstils. Die Hyperkultur zeichnet sich durch einen Kulturkosmopolitismus aus, in dessen Rahmen die Elemente der Kultur unendlich kombinierbar erscheinen. Besonderheit folgt damit nun bevorzugt dem Muster kompositorischer Singularität. Sie wird aus diversen, immer wieder anderen, immer wieder neuen Bestandteilen arrangiert und kuratiert. Tatsächlich ist es vor allem diese kompositorische Logik, die der Spätmodernen Kultur die Fabrikation des massenhaft Besonderen ermöglicht.7 Diese Idee der Gleichzeitigkeit popkultureller, lokaler, globaler, zeitgenössischer, historischer Elemente, aus denen sich immer wieder andere, neue Singularitäten erstellen ließen führt zu der Frage, wie Ku-
7
Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, S. 109, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative
rator*innen mit der Potentialität der Produktion des »massenhast Besonderen« umgehen? Wie gestaltet sie die Weiterführung der Dekonstruktion bestehender kolonialer, genderspezifischer Machtverhältnisse der zeitgenössischen Theaterproduktion bei internationalen Festivals? Hierzu drei Zitate aus den Expert*innen-Interviews: »[…] beim Kuratorischen, gibt es eine kuratorische Herausforderung oder vielleicht auch eine Bedingung. Das ist die selbstgestellte Aufgabe, eben nicht nur Rosinen zu picken. Also nicht nur ein Best-ofFestivals zu machen, die kann jeder eigentlich vom Schreibtisch aus machen. Dafür braucht es kein Kuratorisches mehr. Aber ein Festival zu entwerfen, was auch Arbeiten erst ermöglicht, wo du Teil von einem Prozess bist, es mitbegleitest und guckst wie kommen die Sachen zusammen, wo du dir auch die Mühe machst irgendwohin hinzufahren und vielleicht Sachen anzuschauen, die eben noch nicht überall rumgereicht werden. Das braucht einfach viel mehr Arbeit. Das heißt, du hast dann natürlich den Effekt, dass das Festival origineller wird, weil du irgendwas zeigen kannst, was noch nicht so unterwegs war. Und das gelingt einem auch nicht jedes Jahr.« (András Sieboldt im Expert*inneninterview 2018) Der Aspekt der internationalen Ko-Produktion findet sich in allen Interviews wieder. Die Kurator*innen bemühen sich, ihre eigene Machtposition kritisch zu Hinterfragen und durch internationale KoProduktionen eine andere Art der internationalen Zusammenarbeit im Theaterbetrieb zu etablieren. Das die Idee der fair cooperation8 eine stetige Herausforderung bleibt, wird von den Akteur*innen als weiter bestehende Aufgabe für die Kuration angenommen. »Man braucht die Autonomie der Kunst, sonst gibt es einfach überhaupt nichts mehr, was mal abstrakt oder wirklich sperrig ist. Sonst machen wir es nur noch für gutes Gefühl. Also eigentlich ist es auch Teil des Problems, weil das sind dann genau die Blasen, an denen wir
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Annika Hampel: Fair Cooperation. Partnerschaftliche Zusammenarbeit in der Auswärtigen Kulturpolitik, Springer Verlag, Wiesbaden 2015.
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arbeiten. […] es geht letzendlich darum, die Augen zu öffnen für Kunst und darum unterschiedliche Stimmen wahrnehmen zu lassen oder sie (Jugendliche) auch durch partizipative Momente mit einzubinden. Aber das ohne diesen pädagogischen Zeigefinger oder ohne diese Erwartungshaltung. Da bin ich ganz ganz ganz skeptisch. Wir brauchen eher scharfe Kunst oder dazwischen ein Kunstwerk, dass vielleicht all diese Themen in sich trägt aber wirklich ästhetisch spannend ist. Es muss ästhetisch interessant sein, nur inhaltistisch das ist wenig, das ist uninteressant.« (Veronica Kaup-Hasler Experti*nneninterview 2017) Durch zunehmende Politisierung der Kunst gerät die Kulturpolitik mitunter in die Verlegenheit ihre kulturpolitischen Instrumente mit inhaltlichen Vorgaben zu füllen. Hier werden Künstler*innen aufgefordert sich dem Community Building, der Inklusion einer diversen Gesellschaft und den Refugees zu widmen. An das Schaffen der Kunst wird etwa ein Auftrag der Demokratierettung, transkulturellen Öffnung und die Aufrechterhaltung der Rechtstaatlichkeit angebunden. Kunst ist zunächst ein elitäres und singuläres Vorhaben. Künstler*innen entwickeln ihre Techniken, Präsentationsweisen und Ästhetiken im Kontext künstlerischer Tradition und immer wieder über diese hinaus und von alten Konzepten abgrenzend. Kunst kann genuine Bildsprachen, Formsprachen, Sinnzusammenhänge, immersive Erlebnisse hervorbringen (Kleimann/Schmücker 2001, Bennett 2001). Wenn Kulturpolitik Künstler*innen als Seismographen gesellschaftspolitischer Entwicklungen ernst nimmt, wäre es konsequent den Freiraum des künstlerischen Schaffens kulturpolitisch zu schützen und die Autonomie der Künstler*innen zu stärken? Expert*innen der Kulturpolitik fordern und diskutieren eine neue Resilienz der Kulturpolitik, die sich gegenüber dezidierten und impliziten (kultur-)politischen Aufträgen abgrenzt und den Schutz der Autonomie der Kunst in den Vordergrund stellt. Darüber hinaus sind die Künstler*innen auch feine Beobachter*innen globalpolitischer Ereignisse, die Kurator*innen teilen die Auffassung daher nicht, dass Künstler*innen kulturpolitische Vorgaben benötigen, die an Fördermittel angeknüpft werden. Aus Sicht der
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative
Kurator*innen entsteht eine zunehmende Politisierung der Kunst in der »Dekade des Krisenhaften« ganz automatisch, da sich die Künstler*innen kritisch mit den Rahmenbedingungen auseinander setzen unter denen und für diese sie Kunst produzieren. Das Institutionen durch Kulturpolitik aufgerufen werden, sich beispielsweise einer diversen Stadtgesellschaft zu öffnen, scheint im Falle der internationalen Theaterfestivals ein Impuls zu sein, den die Festivals schon weit früher selbst ausgerufen haben. Veronica Kaup-Hasler fordert weiter, dass unter diesen Bedingungen »die Kunst selbst zu schützen« sei. Kunst kann in genuiner Weise unterschiedliche Funktionen erfüllen. Wie beispielsweise bei Kleimann und Schmücker zu finden: Innovationsfunktion(en), Reflexionsfunktion(en), Überlieferungsfunktion(en), Expressive Funktion(en), Appellative Funktion(en), Distanzierungsfunktion(en), Distinktionsfunktion(en), Geselligkeitskonstitutive Funktion(en). Auch die Philosophin Jane Bennett betrachtet in »Entchantment of modern Life: Attachments, Crossings and Ethics«9 die Potentiale der Kunst und beschreibt deren Eigenheiten wie folgt: power of an artwork, entities of an actor network, identity concepts of objects,status of an object in relation to human subjects, the question of art becoming art through an exhibition. Sie hinterfragt: »In which ways does the cultural narratives that we use help to shape the world in which we have to live?« und plädiert ebenfalls für die Autonomie der Kunst. Bei internationalen Theaterfestivals zeigt sich, dass die Autonomie der Kunst nicht als Dualismus gegenüber Themen wie Community Building gedeutet werden muss. Die Gleichzeitigkeit scharfer Kunst und die Auseinandersetzung mit dieser kann durch Festivalzentren, die auch ein zufälliges und niedirgschwelliges Erleben von Kunst ermöglichen und durch den langfristigen Aufbau einer internationalen Community um das Festival herum, verstärkt werden, wie Siebold hier beschreibt:
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Jane Bennett betrachtet in »Entchantment of modern Life: Attachments, Crossings and Ethics«, Princeton Press 2001.
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»Wir sind ein Ort, der großen Themen, wie Migration, […] unser ZENTRUM, vom Festival ist ein Raum, der ganzjährig von neuen Hamburgern, also ehemals Geflüchteten oder Hamburgerinnen, bespielt wird, […] und man merkt das Leute, die hier hinkommen, danach eine andere Offenheit haben. […] Und das darf man nicht unterschätzen, was das bringt, dieser Austausch hier auf dem Gelände. Nicht nur zwischen Leuten die aus anderen Ländern gekommen sind und Leuten, die hier schon seit paar Generationen leben. Sondern auch der Austausch zwischen verschiedenen sozialen Klassen, der hier stattfindet. Einfach das die Community, die sich hier bildet aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Hautfarben und Genderidentitäten besteht. Du hast hier Arbeiten, sowas wie Florentina Holzinger, da sitzen dann Leute drin, die sich noch NIE mit dem Thema Feminismus auseinandergesetzt haben.« (András Siebold im Expert*innen-Interview 2018) Gesamt lassen sich aus den Expert*innen-Interviews und der teilnehmenden Beobachtung nachstehende Elemente identifizieren, die für den Kurationsprozess relevant sind. In einem weiteren Schritt, in Kapitel 6.4, werden die Ergebnisse in der Darstellung internationaler Theaterfestivals als Akteursnetzwerk nochmal verdichtet und theoretisiert.
Elemente des kuratorischen Prozesses internationaler Theaterfestivals: • • • • • • • • •
Geografische Verortung Kuratorisches Konzept -> Thema/Slogan der Festivaledition Gesellschaftspolitisch relevante Themen Einbindung lokaler Akteur*innen/Szenen Hineinhören in die Welt, Wachsamkeit Nachhaltiger Austausch mit internationalen Künstler*innen -> Koproduktion(en) Stetiges Hinterfragen der eigenen Form Offenheit für das Scheitern Forcieren der »In-Betweens« bei der Durchführung der Festivals
Kulturpolitische Strategien und neue Narrative
• •
6.4
Das Festival als Akteurs-Netzwerk begreifen (Bezugsrahmen werden reflektiert) Cultural Leadership im Zeitalter postheroischen Managements (z.B. Diskriminierungskritische Arbeit, kollektives Leadership)
Entwicklung eines Modells: Internationale Theaterfestivals als Akteursnetzwerk
Das Unterkapitel sammelt und sortiert alle aus der Empirie zu entnehmenden Aktanten von Theaterfestivals und analysiert, welche kulturpolitischen Strategien und Narrative internationaler Theaterfestivals sich an die Aktanten anschließen. Das Ziel des Modells ist es, alle Aktanten, die bei internationalen Theaterfestivals eine Rolle spielen, aufzuzeigen und in Relation zu setzen. Das Modell dient dazu, die Funktionsweise internationaler Theaterfestivals transparent zu machen, um die Unterfrage »Welchen Funktionsweisen folgen kulturpolitische Ziele oder Strategien bei internationalen Theaterfestivals?« zu beantworten. Neben der Klärung dieser Unterfrage dient das Modell zusätzlich dazu, die Thesen 2-4 zu verifizieren beziehungsweise zu falsifizieren. Um die Thesen zu bearbeiten, wird in einem zweiten Schritt unter Hinzunahme der Situationsanalyse nach Clarke10 veranschaulicht, wie sich neue Narrative und kulturpolitische Strategien bei internationalen Theaterfestivals bilden beziehungsweise zeigen. Die Situationsanalyse lässt, ähnlich wie bei der Grounded Theory, zu, dass alle Aktanten für eine Situation berücksichtigt werden können. Zum besseren Verständnis wird hierfür ein konkretes Beispiel der exemplarischen Festivals herangezogen. Das Funktionsmodell ist daher nicht nur als methodologisches Modell auf Basis der Grounded Theory und internationalen Theaterfestivals als Akteursnetzwerke zu verstehen, sondern gleichermaßen als Analysetool für Festivals nutzbar. 10
Clarke, Adele E., and Reiner Keller. 2012. Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Interdisziplinäre Diskursforschung. Wiesbaden: Springer VS.
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Modell internationaler Theaterfestivals als Akteursnetzwerk In nächsten Schritt wird das entwickelte Modell internationaler Theaterfestivals als Akteursnetzwerk zunächst alle beteiligten Faktoren, die zu dem komplexen kulturellen Organisationsmodell Theaterfestival zählen, veranschaulichen, um durch eine schematische Beschreibung zu verdeutlichen, in welcher Weise sich kulturpolitische Strategien zeigen und Narrative erzeugt werden. In zweiten Schritt wird aus dem Datenmaterial heraus erarbeitet, in welcher Weise sich kulturpolitische Strategien bei den exemplarischen Festivals zeigen.
Faktoren im Modell Der Begriff der Aktanten ist der Akteursnetzwerk-Theorie (engl. ActorNetwork-Theory) von Latour entlehnt11 . Das Funktionsmodell internationaler Theaterfestivals legt Latours Theorie zugrunde, die davon ausgeht, dass Akteure sowohl Subjekte als auch Objekte sein können, zusammengefasst werden sie Aktanten genannt. Weiterhin sind Akteursnetzwerke komplexe Systeme, die an weitere Netzwerke angeschlossen sind. Da Theaterfestivals über eine lange Dauer hinweg agieren, sich zyklisch wiederholen und eine Vielzahl an Aktanten und Netzwerke miteinander verbinden oder auch erst bilden, lassen sie sich als Akteursnetzwerke beschreiben. Die nachstehende Grafik zeigt alle Subjekte und Objekte sowie angeschlossene Netzwerke im Akteursnetzwerk internationaler Theaterfestivals. Die Daten basieren auf teilnehmender Beobachtung12 und Situationsanalysen.13 11
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Siehe: Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, ISBN 978-3-518-29567-0 (Originalausgabe: Reassembling The Social. Oxford University Press, 2005). Uwe Flick, Qualitative Sozialforschung: Eine Einführung, 8th ed., Rororo; 55694: Rowohlts Enzyklopädie (Reinbek bei Hamburg: rowohlts enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2017). Clarke and Keller, Situationsanalyse.
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Abbildung 5 – Grafik »Internationale Theaterfestivals als Akteursnetzwerk« (eigene Darstellung) >>Space>Actors>Networks>Core>Discourse>ActorsCoreCultural Policy Actors>ActorsCoreDiscourse>Space>networks