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German Pages 194 Year 2008
mimesis Romanische Literaturen der Welt herausgegeben von Ottmar Ette
Ottmar Ette (Hg.)
Nanophilologie Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2008
Copyright-Informationen zu den Illustrationen des Bandes: S. 8: S. 22: S. 38: S. 52: S. 70: S. 78: S. 98: S. 120: S. 140: S. 144: S. 148: S. 150: S. 152: S. 166:
Romanesco, © muffinmaker, Quelle: photocase.com Fraktales 3D-DLA-Cluster, © Paul Bourke, Quelle: Wikimedia Commons Julia-Set-Fraktal, © Solkoll, Quelle: Wikimedia Commons Julia-Set-Fraktal, © Eequor, Quelle: Wikimedia Commons Vergrößerungsschritte im Mandelbrot-Fraktal, © unbekannt Romanesco, © Helgi, Quelle: photocase.com Bransley Farn, © Kimbar, Quelle: Wikimedia Commons Fraktales Eis-Kristall, © rokit_de, Quelle: photocase.com Ausschnitt aus Mandelbrot-Fraktal, © Wolfgang Beyer, Quelle: Wikimedia Commons Check-list von Le Monde vom 5. Juni 2007 (Ausschnitt), © Le Monde, Quelle: lemonde.fr reshape ze World project (RZW), © Le Monde, Quelle: lemonde.fr Ausschnitt aus Mandelbrot-Fraktal, © Wolfgang Beyer, Quelle: Wikimedia Commons Blickbewegungen beim Lesen, © Christiane Bohn & Reinhold Kliegl Romanesco, © Gordon Bussiek, Quelle: photocase.com
Sämtliche im Band genannten Internet-Adressen wurden vom Herausgeber zuletzt am 7. August 2008 auf ihre Richtigkeit überprüft.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-484-55047-6
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Tobias Kraft, Berlin Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhaltsverzeichnis Ottmar Ette Zur Einführung – Nanophilologie und Mikrotextualität ............................. 001 El comienzo / Der Anfang (D.L.)
Yvette Sánchez Nanophilologie – Fraktale Miniaturisierung........................................... 0 9 El dinosaurio que faltaba / Der Dinosaurier, der noch fehlte (D.L.)
Fernando Valls Über den spanischen microrrelato: Um einige Missverständnisse ein für alle Mal auszuräumen … .................... 023 4 / 4 (E.A.)
David Lagmanovich Was ist ein microrrelato – und was ist keiner? ....................................... 039 Otro hombre visible / Noch ein unsichtbarer Mann (D.L.)
Julio Prieto Less is more: die Würze der Kürze am Río de la Plata.............................. 053 El sabio / Der Weise (D.L.)
Esther Andradi Fraktal: eine Poetik des Minimalen ..................................................... 071 Mercado / Markt (E.A.)
Tobias Kraft Vom Mikroskop zum Panorama und wieder zurück. Fabio Morábitos Kurzprosabände Caja de herramientas (1989) und También Berlín se olvida (2004)......................................................... 079 Pedido / Anweisung (D.L.)
Marcel Vejmelka Mínimos, múltiplos, comuns. Die Ordnung der Welt bei João Gilberto Noll. ....................................... 099 Pasajero frustrado / Frustrierter Passagier (D.L.)
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Inhaltsverzeichnis
Anja Bandau Desaster und Utopie: Vom unerhörten Detail zum Romanfragment .............. 121 El héroe / Der Held (D.L.)
Andreas Gelz Pico-publications, fragments & texticules. Kürzesttexte in Frankreich am Beispiel der papiers de verre von Hervé Le Tellier ...................................................................... 141 Champán / Champagner (E.A.)
Christiane Bohn & Reinhold Kliegl Mikrobewegungen des Auges und Nanophilologie. Was uns die Blickbewegungen über die Verarbeitungsprozesse beim Lesen verraten ....................................................................... 151 Breve / Kurz (D.L.)
Ottmar Ette Epistemologie der écriture courte – écriture courte der Epistemologie: Versuch einer Antwort auf die Frage ‘Was ist Nanophilologie?’ .................. 167 Autorenverzeichnis ........................................................................ 187
Zur Einführung – Nanophilologie und Mikrotextualität Literarische Kürzestformen, deren Geschichte so alt ist wie die abendländische Literatur selbst, haben im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in der Romania – und dort insbesondere in Lateinamerika und Spanien –, aber auch im englischsprachigen Raum eine ungeheuer dynamische Entwicklung erfahren, von der im deutschsprachigen Bereich bislang eher wenig zu bemerken und zu hören war. Eine Reihe von Anthologien hat diese rasante Proliferation mikrotextueller Formen im hispanophonen1, im anglophonen2 und im germanophonen3 Bereich aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven dokumentiert. Die wissenschaftliche Erforschung literarischer Kurz- und Kürzestformen hat mit dieser Dynamik nicht Schritt gehalten. Insbesondere im deutschsprachigen Raum erweist sich diese ‘Verspätung’ als besonders augenfällig, ist doch mitunter selbst das Forschungsgebiet als solches gänzlich unbekannt. Auf diese erstaunliche Lücke weist der vorliegende Band in aller Bescheidenheit – und dies selbstverständlich ohne jeden Versuch, das gesamte Forschungsfeld in all seinen künftigen Verästelungen zu dokumentieren: less is more. Die Nanophilologie als sich konstituierender Bereich einer literatur- und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Philologie untersucht literarische Kurz- und Kürzestformen ausgehend von der Grundannahme, dass diese literarischen Formen der Mikrotextualität quantitativ wie qualitativ bestimmt werden können und spezifische Verdichtungsformen darstellen, anhand deren Analyse Phänomene, Verfahren und Formprägungen von Literatur insgesamt modellhaft untersucht und exemplarisch herausgearbeitet werden können. Die Untersuchung mikrotextueller Verdichtungsformen – so die Ausgangsthese des hier vorgelegten Bandes – erhellt die fundamentalen narrativen und semantischen, aber auch die produktions- und rezeptionsästhetisch relevanten Funktionsweisen von (makrotextueller) Literatur überhaupt. Mit anderen Worten: Es geht der Nanophilologie ums Ganze. Als ein Zentrum des im Aufbau befindlichen internationalen Forschungsfelds der Nanophilologie könnte man den Bereich der Mikrotextualität ausmachen. Da-
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Vgl. u.a. David Lagmanovich: La otra mirada. Antología del microrrelato hispánico. Palencia: Menoscuarto 2005; David Lagmanovich/Laura Pollastri: Microrrelatos argentinos. Antología de narraciones brevísimas. Edición preliminar. Adhesión al IV Congreso Internacional de Minificción, Universidad de Neuchâtel, Suiza, Noviembre de 2006. General Roca, Argentina: Universidad Nacional de Comahue 2006. Lauro Zavala: Minificción mexicana. México D.F.: UNAM 2003. Irene Andres-Suárez/Antonio Rivas (Hg.): La era de la brevedad. El microrrelato hispánico. Palencia: Menoscuarto (im Druck). Mit Blick auf Spanien vgl. den Beitrag von Fernando Valls in diesem Band. Vgl. u.a. Robert Shapard/James Thomas (Hg.): Sudden Fiction. American Short-Short Stories. Utah Layton: Gibbes M. Smith 1986; Roberta Allen: Fast Fiction: Creating Fiction in Five Minutes. Cincinnati: Story Press 1997; James Thomas/Rober Shapard (Hg.): Flash Fiction Forward: 80 Very Short Stories. New York - London: W.W. Norton 2006. Vgl. die international angelegte Anthologie von Daniel Kampa (Hg.): Kurz und bündig. Die schnellsten Geschichten der Welt. Zürich: Diogenes 2007.
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bei ließe sich dieser Bereich im quantitativen Sinne insofern nach ‘außen’ architextuell von anderen Textformen abgrenzen, als hierunter nur Texte verstanden werden sollen, die in der Regel – die Grenzen schwanken zwischen den einzelnen Literaturräumen – eine Länge zwischen einer Zeile und einer Seite aufweisen. Die hierfür entwickelten Begrifflichkeiten sind noch immer sehr unterschiedlich: Termini wie ‘MicroFiction’,4 ‘Microrrelato’,5 ‘Minificción’6 oder ‘Kürzestgeschichten’7 kreisen diesen Gegenstandsbereich aus den unterschiedlichen Blickwinkeln spezifischer literaturgeschichtlicher und literarästhetischer Traditionen erst ein. Nach ‘innen’ lässt sich eine Binnendifferenzierung insoweit vornehmen, als literarische Kürzestformen, die wiederum in Texte unter 10 Wörtern (wie etwa Hemingway: «For sale: baby shoes, never worn.»; oder Augusto Monterroso: «Cuando despertó, el dinosaurio todavía estaba allí.») und in Texte zwischen 10 und 20 Wörtern (etwa Anton Tschechov: «Ein junger Mensch hatte eine Million Mark beisammen, legte sich darauf und erschoss sich.»; oder Bertolt Brecht: «‹Woran arbeiten Sie?›, wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: ‹Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.›») unterschieden werden sollen, von literarischen Kurzformen differenziert werden, deren Umfang innerhalb des gesetzten Rahmens der Mikrotextualität die Grenze von 20 Wörtern deutlich überschreitet. Die paratextuelle Dimension, dies sei hier ausdrücklich angemerkt, wird gerade mit Blick auf die jeweiligen Titel der Texte miteinbezogen. Welche Fülle an Problemen sich aus rein quantitativen Definitionen ergibt, wird in einer Reihe von Beiträgen zum vorliegenden Band ausführlich diskutiert. An dieser Stelle sollen derartige Einteilungen lediglich eine weitere These buchstäblich in gedrängter Form vor Augen führen: dass sich nämlich oft anhand winziger Texte großer Autoren fraktale Muster von Literatur modellhaft erkennen und analysieren lassen. Wenden wir uns in der gebotenen Kürze qualitativen Differenzierungen zu. In dieser Hinsicht ist erstens zwischen mikrotextueller Prosa, Lyrik und Dramatik zu unterscheiden, wobei sich die in diesem Band versammelten Beiträge – ungeachtet noch weitgehend von der Forschung ‘übersehener’ dramatischer Kürzestformen etwa bei Brecht oder García Lorca – vorrangig auf den erstgenannten Bereich konzentrieren. Zweitens wird auf dem Feld der Mikrotextualität zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen8 bzw. diktionalen9 Texten differenziert, wobei auch dominant
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Jerome Stern (Hg.): MicroFiction: An Anthology of Really Short Stories. New York London: W.W. Norton 1996. David Lagmanovich: El microrrelato. Teoría e historia. Palencia: Menoscuarto 2006. Lauro Zavala: Cartografías del cuento y la minificción. Sevilla: Renacimiento 2004. Susanne Schubert: Die Kürzestgeschichte: Struktur und Wirkung. Annäherung an die short short story unter dissonanztheoretischen Gesichtspunkten. Frankfurt am Main Berlin - Bern: Peter Lang 1997. Vgl. José Chaves: A Brief Introduction to the Latin American Short-Story. In: Northwest Review (Eugene) XXXIX, 2 (2001), S. 17–28; Rebecca Martín/Fernando Valls: El microrrelato español: el futuro de un género. In: Quimera (Barcelona) 222 (noviembre 2002), S. 10–44. Zu dieser Unterscheidung vgl. Gérard Genette: Fiction et diction. Paris: Seuil 1991.
Zur Einführung – Nanophilologie und Mikrotextualität
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friktionale10 Formen Berücksichtigung finden sollen. Drittens kann zwischen narrativen und nicht-narrativen Mikrotexten untergliedert werden, wobei allein narrative und zugleich fiktionale Kürzestprosa mit dem Begriff der Mikroerzählung bezeichnet werden soll.11 Differenziert man diese Texte nach einzelnen Areas, so zeigt sich hinsichtlich Frequenz und Relevanz der Text-, aber auch der Theorieproduktion ein unverkennbarer Schwerpunkt im Bereich der hispanoamerikanischen wie der anglophonen Literaturen, wie dies Begriffe wie sudden fiction, fast fiction oder flash fiction sowie microrrelato, minificción oder hiperbreve belegen. Sie umgrenzen freilich nur einen Kernbereich dessen, was in den nachfolgenden Aufsätzen untersucht und in diesem Band unter dem Horizontbegriff der Nanophilologie versammelt wird. Mit Blick auf die von den Mikroerzählungen ausgelösten Verstehensprozesse soll erstens der zusätzlich zur Begrifflichkeit der Kürze12 in neuester Zeit eingeführte Aspekt der Konzision13 untersucht werden. Als nicht minder zu berücksichtigende Kategorie wäre zweitens die einer prononcierten (expliziten oder impliziten) Intertextualität miteinzubeziehen, deren Bedeutung sich nicht zuletzt aus den vielfältigen Verbindungen zu fraktalen Strukturmodellen und Geometrien erhellt. Drittens schließlich ist der Aspekt des Fraktals14 bzw. einer fraktalen Strukturierung von Mikroerzählungen15 heranzuziehen, eine Begrifflichkeit, die ihrerseits wiederum auf die literaturtheoretische Relevanz von Mikroerzählungen für die Nanophilologie zurückverweist. Vor diesem Hintergrund erlauben nanophilologische Untersuchungen und Strukturanalysen Rückschlüsse ebenso auf fundamentale Schreib- und Lese- sowie Verstehensprozesse im Bereich der Literatur generell. Eine Mikroerzählung signalisiert stets ihren Makrokosmos. Wenn Literatur erstens als komplexes Diskursuniversum verstanden werden kann, das darauf spezialisiert ist, diskursiv (und disziplinär) nicht spezialisiert zu sein; wenn Literatur zweitens eine künstlerische Ausdrucksform ist, die auf Verdichtungsformen des Polysemen und des Viellogischen abzielt; und wenn Literatur
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Vgl. hierzu Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 308–312. Vgl. hierzu Rebecca Martín/Fernando Valls: El microrrelato español; sowie ausführlich David Lagmanovich: El microrrelato. Vgl. u.a. Lauro Zavala: Seis problemas para la minificción, un género del tercer milenio: Brevedad, Diversidad, Complicidad, Fractalidad, Fugacidad, Virtualidad. In: Cuento en Red 1 (primavera 2000), S. 55–62, http://cuentoenred.xoc.uam.mx; sowie ders.: Fragmentos, fractales y fronteras: género y lectura en las series de narrativa breve. In: Revista de Literatura (Madrid) LXVI, 131 (enero–junio 2004), S. 5–22; sowie Susanne Schubert: Die Kürzestgeschichte: Struktur und Wirkung. Annäherung an die short short story unter dissonanztheoretischen Gesichtspunkten. Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von David Lagmanovich im vorliegenden Band. Benoît B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur. Herausgegeben von Ulrich Zähle. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhilt Zähle und Ulrich Zähle. Basel - Boston: Birkhäuser Verlag 1987. Vgl. hierzu den Beitrag von Yvette Sánchez im vorliegenden Band.
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drittens als ein sekundäres modellbildendes System16 erscheint, das gegenüber textexternen Systemen seine Eigen-Logik und relative Autonomie bewahrt, dann lassen sich Mikroerzählungen insofern als fractal patterns begreifen, als sich in ihnen offenkundig Strukturierungen eines modèle réduit (im Sinne von Lévi-Strauss) bzw. im spezifisch literaturtheoretischen Sinne einer mise en abyme (André Gide) beobachten und herausarbeiten lassen. In Fortentwicklung der Überlegungen Mandelbrots ließe sich dann eine fraktale Geometrie der Literatur erarbeiten, die modellhaft in der Mikrotextualität bzw. in der Mikroerzählung als Kernbereich nanophilologischer Forschung analysierbar wäre. Dies bedeutet, dass sich Mikroerzählungen im oben definierten Sinne als semantische wie als narrative Verdichtungsstrukturen darstellen, die es erlauben, die konkreten literarischen Ausgestaltungen der jeweiligen Kürzestform als modellhaft für literarische Phänomene und Verfahren im makrotextuellen Bereich zu studieren. Dies lässt sich gerade vor dem Hintergrund neuester narratologischer Theoriebildungen,17 aber auch auf Formen der mise en abyme nicht zuletzt auch mit Blick auf epistemologische Fragestellungen beispielhaft belegen. Als Fernziel einer so verstandenen nanophilologischen Perspektivierung, die in interdisziplinärer und transdisziplinärer Kooperation ebenso mit kognitionspsychologischen wie mit philosophischen Ansätzen weiterentwickelt werden könnte, wäre es durchaus vorstellbar, Grundstrukturen und Grundverfahren von Sinnbildungsprozessen in der Literatur überhaupt exemplarisch freizulegen. Die nachfolgenden Beiträge zu nanophilologisch relevanten Beispielen aus dem Bereich der romanischen Literaturen der Welt gehen auf eine Tagung zurück, die am 23. November 2007 unter dem Titel «Nanophilologie. Microrrelatos – microficciones: ein internationales Symposium zu literarischen Klein- und Kleinstformen» an der Universität Potsdam stattfand. Zwei der Beiträger sind auch als Autoren von Mikroerzählungen hervorgetreten. Die ebenso hintergründige wie lustvolle Lesung von microrrelatos, die als literarischer Schlusspunkt des Symposiums von Esther Andradi und David Lagmanovich in Form eines unvergesslichen Duetts gestaltet wurde, musste in die Schriftlichkeit dieses Bandes übersetzt werden. Die Kurztexte beider argentinischen AutorInnen sollen nun die Räume zwischen den einzelnen Beiträgen dieses Bandes auf ihre je eigene Weise kunstvoll beleben. Mein Dank gilt allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die eine kleine Idee, die im Dialog mit Fernando Valls entstand, an der Universität Potsdam mit wissenschaftlichem Leben erfüllten; Rosa María Sauter de Maihold für ihre schwungvollen Übersetzungen, Tobias Kraft für die graphische Signatur und umsichtige Betreuung von Tagung und Band; sowie Gabriele Penquitt, Bastian Hoffmann und Ulrike Zieger für die sorgfältige Sichtung der Beiträge. Der vorliegende Band eröffnet die neu konzipierte Reihe mimesis – Romanische Literaturen der Welt im
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Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzung Rolf-Dietrich Keil. München: W. Fink 21986. Vgl. u.a. James Phelan/Peter J. Rabinowitz (Hg.): A Companion to Narrative Theory. Oxford: Blackwell 2005; Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart - Weimar: Metzler 2004.
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Max Niemeyer Verlag und beabsichtigt zugleich, zur Konstituierung eines neuen Forschungsfeldes für die Philologien und die sich mit ihnen vernetzende Nachbardisziplinen beizutragen. Ottmar Ette
Potsdam, 2. Juni 2008
El comienzo Cada vez que comienzo un microrrelato, ignoro si acabo de escribir las primeras palabras o las últimas. Der Anfang Wenn ich mit einer Mikroerzählung anfange, weiß ich nie, ob ich gerade die ersten oder die letzten Worte geschrieben habe. David Lagmanovich1
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Alle Übersetzungen der eingeschobenen Mikroerzählungen O.E.
Yvette Sánchez (St. Gallen)
Nanophilologie – Fraktale Miniaturisierung Einleitung Der Herausgeber dieses Bandes propagiert schon seit längerem eine interdisziplinäre Verbindung zwischen den Literatur- und Naturwissenschaften, die nun auch im Paratext, im Titel und in der molekularen Illustration deutlich wird. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dem geisteswissenschaftlichen Prekariat müsste man sich, Ottmar Ette folgend, etwa darüber klar werden, dass sich Philologie und Kulturwissenschaften nicht minder um Leben kümmern als die Life Sciences.1 Der begriffliche, motivische und auch inhaltliche Austausch zwischen beiden Disziplinen – er bildet das Substrat dieser Publikation – reicht von der Gattung der Science Fiction über Deleuze/Guattaris Rhizom bis hin zu Mikro- und Nanophilologie. Dieser letztgenannte, neue Begriff spielt nicht auf eine unsichtbare Textsorte, nicht auf eine mikroskopische Romanspur an, vielmehr schielt er mit einem Augenzwinkern auf ein naturwissenschaftliches Schlagwort, mit dem sich derzeit besonders gut Drittmittel einwerben lassen. Der Titel ironisiert dreifach. Zum einen impliziert das Schlüssel-Präfix Nano-, dass am Markt der Wissenschaften die Philologien einen verschwindend kleinen Anteil haben; zum anderen postuliert er, dass die philologische Forschung ein substantielleres Renommee und eine weniger verzwergte finanzielle Unterstützung verdient hätte – namentlich in Deutschland mit seiner europäischen Führerschaft in Nanotechnologie und einem generös dotierten Nano-Initiative-Aktionsplan 2010. Drittens schließlich beschäftigt sich die Nanophilologie mit kleinsten Texten und untersucht verkürzte, reduzierte oder konzentrierte Erzählwelten, wie es die Nanotechnologie mit den kleinsten Strukturen und Konstruktionen auf dem Gebiet der Quantenphysik tut. Hier seien die sattsam bekannten Angaben wiederholt: Ein Nanometer entspricht dem Millionstel eines Millimeters (109). Da diese angewandten Wissenschaften in der Sphäre von Molekülen und Atomen arbeiten, entzieht sich die Nano-Materie unseren Sinnen; ihre Teilchen sind für uns unsichtbar (50– 70.000 Mal kleiner als eine Haaresbreite). Die meisten gewählten Termini einer nanotechnischen Metasprache stellen sich dementsprechend in Wechselwirkung zu den Naturwissenschaften bzw. seit jüngstem auch zu den Literaturwissenschaften.
Mikro/Makro-Dimensionen Im Rahmen eines Makrokongresses der Universität Neuchâtel vom November 2006, an welchem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer versuchten, die Gattung der Kürzesterzählung zu definieren und endgültig festzumachen – in der Hispania ist dieses Projekt eines microrrelato viel weiter fortgeschritten als im deutschen
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Vgl. Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos Kulturverlag 2004.
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Yvette Sánchez
Sprachraum – behandelte ich extreme dimensionale Gegensätze, von allerkleinsten bis zu den maßlos größten literarischen Motiven zwischen Bonsai und Dinosaurier. Offenbar provoziert die Strenge des konzisen Diskurses einer Kürzesterzählung die Literaten zum zügellosen Spiel mit überbordenden Größen, die physische Grenzen durchbrechen und die Materie, den Raum und die Zeit einteilen und so in Pascals beide Unendlichkeiten von Detail und Kosmos vordringen. Und jedes Fragment enthält ein gleichsam holographisches Bild des Ganzen.2 Am Potsdamer Mikrosymposium sollten dann meine Überlegungen um die fraktalen Dimensionen erweitert werden.
Fraktal Nach den ersten Skalierungen der extremen Formate in Kürzestgeschichten möchte ich in einem zweiten Schritt die Teilung bzw. Auffächerung der Materie ins Unendliche verfolgen. Ich bin keineswegs die erste, die im Zusammenhang mit der Mikroerzählung das Fraktal aktiviert; Esther Andradi tut es im vorliegenden Band ebenso wie Lauro Zavala es vor ihr tat.3 Die starken Kontraste von Größenordnungen lassen sich mit dem Prinzip des Fraktalen verschiedener Maßstäbe kombinieren; dazu kommen die Wiederholung und der rekursive Prozess. Ein Fraktal ist ein komplexes System, das sich innerhalb seiner selbst ins Unendliche vervielfacht und aus mehreren verkleinerten Kopien desselben Subjekts besteht. Oder ein halbgeometrisches Objekt, dessen Grundstruktur sich in verschiedenen Maßstäben selbstähnlich wiederholt, bis hin zum Detailismus auf einer endlosen Skala, die wir oft in der Natur finden: Schneeflocke, Küstenlinie, Blutkreislauf, Bronchien, Gehirn – eine Art virtuelles Universum von potenziell unendlich hoher Auflösung. Jeder Zoom auf einen Teil des Bildes fördert neue Details, neue Formen, neue Welten ans Licht. Die Fraktale beschreiben die Geometrie der Natur, deren komplexe und unregelmäßige, launische Formen der klassischen Geometrie entgleiten. Wiederholung von ähnlichen Formen in verschiedenen Maßstäben, Splitting, Verzweigung bzw. Verästelungen, Iteration und Verschachtelungen. Ein Felsen erinnert an die Formen des Berges, Teile eines Blumenkohls oder Brokkolis stimmen mit dem Bild des Ganzen überein, das Lindenblatt imitiert die Lindenkrone und die Spitze der Fichte bildet den Plan des ganzen Baumes ab. Der Wert jeder Zahl wird durch eine Farbe abgebildet. In der virtuellen Variante ist jeder Punkt des Bildes eine durch den Computer berechnete Zahl.
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Lauro Zavala: Cartografías del cuento y la minificción. Sevilla: Renacimiento 2004, S. 80: «[…] ein Fragment ist kein Detail, sondern ein Element, das die Gesamtheit enthält, die es lohnt, gesondert entdeckt und erforscht zu werden.» [Übersetzung der Verfasserin, wie auch sämtliche im Original spanischen Zitate dieses Aufsatzes.] «[…] un fragmento no es un detalle, sino un elemento que contiene una totalidad que merece ser descubierta y explorada por su cuenta.» Lauro Zavala: Seis problemas para la minificción, un género del tercer milenio: Brevedad, Diversidad, Complicidad, Fractalidad, Fugacidad, Virtualidad. http://webs. uolsinectis.com.ar/rosae/breve8.htm.
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Den Begriff des Fraktals hat vor gut drei Jahrzehnten (1975) der Mathematiker Benoît Mandelbrot4 geprägt, als er die rekursiven Algorithmen entwickelte. Dies mit Hilfe des Computers, der Details zum Unendlichen hin erfassen, d.h. die Grenzen der fraktalen Wiederholungen in biologischen Formen durchbrechen kann, deren Teile dem Ganzen gleichen. Blätter weisen, wie gesagt, eine ähnliche Morphologie auf wie der kleine Ast, deren Teil sie sind, und dessen Form seinerseits wieder dem Ast gleicht, zu dem er gehört, der wiederum eine ähnliche Form aufweist wie der Baum; dennoch ist ein Blatt (als simple biologische Form) qualitativ nicht dasselbe wie ein Ast oder Baum (komplexe biologische Form). 5 Bisher ging es um räumliche Strukturen; dasselbe Schema, dieselbe Dynamik kann sich aber auch in der zeitlichen Dimension wiederholen und zu immer vielschichtigeren Systemen führen. Die Chaostheorie besagt im populären Bild, dass der Flügelschlag eines chinesischen Schmetterlings einen Hurrikan in Miami auslösen kann. Das Fraktal ergründet die Ordnung im Chaos und die Spannung dazwischen. Auch das Gewicht zweier ungleicher Volumen spielt eine Rolle: Atlas, der die ganze Welt auf seinen Schultern trägt, nimmt in einer Kürzestgeschichte von Enrique Anderson Imbert sogar die Last eines Vogels wahr, der sich auf irgendeinen Ast setzt. Dieser ‘Schmetterlingseffekt’ kann in sensibler Abhängigkeit mit einer minimalen Modifikation des atmosphärischen Zustandes das Verhalten eines ganzen Systems drastisch verändern, den das erkennende Subjekt des Phänomenologen oft besser registriert als der Mathematiker. Der Protagonist in José María Merinos Erzählung ‘Mosca’ befürchtet beim Versuch, mitten im Winter eine Fliege im Badezimmer eines Luxushotels zu töten, es könne das letzte Exemplar einer seltenen Spezies sein, welche die Mission zu erfüllen hat, eine ebenfalls seltene Pflanze zu bestäuben, von deren Überleben letztlich das Schicksal der ganzen Menschheit abhängt. Und dass von der Bestäubung und Vermehrung dieser Pflanze in Millionen von Jahren das Vorkommen von genügend Sauerstoff abhängen wird, damit unsere eigene Spezies überleben kann. Was habe ich getan? Indem ich diese Fliege getötet habe, habe ich auch Euch, Nachkommen der Menschheit, zum Tode verurteilt.6
Das Fraktal hat sich – da es seine Dienste verschiedenen Wissenschaften (auch den sozialen) anbot – zum neuen Paradigma gemausert, zur Matrix-Wissenschaft. Wir kennen den Effekt zur Genüge: eine kriselnde nationale Wirtschaft kann globale Auswirkungen haben und die ganze Weltwirtschaft in ein Ungleichgewicht bringen. Dennoch gilt es, zwischen statischen, rigiden Parametern der Fraktalgeome-
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Pablo Paniagua: ¿Qué es la literatura fractal? 9.6.2007. http://www.noticiascadadia. com/noticias/articulo/que-es-la-literatura-fractal.html. Benoît Mandelbrot. La Geometría Fractal de la Naturaleza. Barcelona: Tusquets 1987. Wikipedia, fractal. http://es.wikipedia.org/wiki/Fractal. José María Merino: Mosca. In (ders.): La glorieta de los fugitivos. Minificción completa. Madrid: Páginas de Espuma 2007, S. 69: «Y que de la polinización y multiplicación de esta planta va a depender, dentro de milenios, la existencia del oxígeno suficiente como para que nuestra propia especie sobreviva. ¿Qué he hecho? Al matar a esa mosca os he condenado también a vosotros, descendientes humanos.»
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trie und der Dynamik eines sozial beweglichen, elastischen Systems zu unterscheiden. Es ist Jorge Luis Borges, der uns die Segmentierung der materiellen Welt und anderer (mentaler) Welten als absolutes Konzentrat in unendlich teilbare Portionen plastisch erklärt, die man heute im kybernetischen Netz mit seinen Hyperverbindungen7 wiederfinden kann. Der argentinische Autor erzählt uns von jener kleinen, aufschlussreichen Scheibe mit einem Durchmesser von zwei, drei Zentimetern, welche alle Punkte des Universums enthält, von der Bibliothek von Babel oder vom Sandbuch und – in der zeitlichen Dimension – von Zenons Rennen zwischen Achill und Schildkröte (wieder aufgegriffen in Augusto Monterrosos Fabel ‘La tortuga y Aquiles’). José María Merino weiß von einem Mann, der beim Strandspaziergang das ganze Universum, einschließlich der Galaxien, in einer Flasche eingeschlossen findet.8 Tropfen, Samen, Sandkorn als kleinste Embleme des unendlichen Kosmos9 tauchen in der Folge der Science Fiction (vgl. etwa The Invasion of the Body Snatchers, The Andromeda Strain usw.), des Öfteren in Kürzestgeschichten auf, so etwa in Julio Cortázars Erzählung über die ‘platt gedrückten Tropfen’; einer von ihnen, obwohl sehr klein und durch den Himmel in ein tausendfaches, gedämpftes Funkeln zerstückelt, wird wieder wachsen bis zum personifizierten Riesentropfen.10 Oder auch die Nanoerzählung eines jungen Biochemikers (in unserem Kontext wohl kein Zufall), Ignacio Enrique Sánchez de Miguel, die wir aus seinem unpublizierten Manuskript von 2001 zitieren. Berufung Er verwendete jeden Tag seines glücklichen Lebens darauf, die Sandkörner eines Strandes zu ordnen.11
Apropos: Borges selbst beschenkt uns mit einem meiner Lieblingstexte, hyperkurz und spielerisch. Es überrascht, ihn in keiner der konsultierten Anthologien zu finden, enthält er doch eine starke Prise Narrativität und auch eine Dosis an dramatischer Spannung. Auf seiner Metaebene birgt er gar eine eigentliche Poetik präziser
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Gabriel Jiménez Emán: Encuentros lejanos. In: David Lagmanovich (Hg.): La otra mirada. Antología de microrrelatos hispánicos. Valencia: Menoscuarto Ediciones 2005, S. 227. Jean Baudrillards ‘totaler Bildschirm’ ist omnipräsent. José María Merino: Agujero negro. In (ders.): La glorieta de los fugitivos, S. 171. Und da wir eben den Sand unendlichen Ausmaßes erwähnt haben: «Jedes Sandkorn ist ein Berg, den er ohne Triumph erklimmt […].» Dante Liano: Desierto. Unpubliziertes Manuskript 1996. Julio Cortázar: Aplastamiento de gotas. In: Raúl Brasca (Hg.): Dos veces bueno. Cuentos brevísimos latinoamericanos. Buenos Aires: Ediciones Instituto Movilizador 1996, S. 16. «Vocación. Dedicó todos los días de su feliz vida a ordenar los granos de arena de una playa.» Dazu kommt seine (ebenfalls unpublizierte) Variante vom kleinen Samen: «‹Kleiner farbiger, im Park gefundener (geöffneter) Umschlag›. Samen eines Dinosauriers. Nur unter Aufsicht eines Erwachsenen pflanzen!» «‹Sobrecito de colores (abierto) encontrado en el parque›. Semilla de dinosaurio. Plantar solamente bajo la supervisión de un adulto.»
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Verdichtung voller Ironie, Schärfe, Experimentierlust und dimensionaler Gegensätze (der räumlichen, zeitlichen, zwischen materiellem Minimum und mentaler Monumentalität) – alles zusammen ist unmittelbar auf das anwendbar, was uns hier beschäftigt. Der Text ‘Die Wüste’ findet sich in Atlas, Borges’ 1984 publiziertem Reisebuch: Etwa drei bis vierhundert Meter von der Pyramide entfernt, bückte ich mich, nahm eine handvoll Sand auf, ließ ihn still und etwas weiter weg wieder fallen und sagte leise vor mich hin: Ich bin im Begriff, die Sahara zu verändern. Der Akt war gering, aber die nicht scharfsinnigen Worte waren exakt, und ich dachte, daß mein ganzes Leben dazu notwendig gewesen war, sie auszusprechen […].12
Diese poetische Extractio, verbunden mit einer Kristallisation der Wüste im Sandkorn, widerhallt als histoire in der Äußerung oder im discours. Das Spiel der Größenverhältnisse begünstigt die Anwendung rhetorischer Figuren wie der Antithese, des Paradoxons, des Oxymorons, der Metonymie (besonders der Synekdoche) und der Hyperbel – und ihre katachretische Verwendung im Bildersalat. Das Rekursive der fraktalen Struktur weist auf der raummetaphorischen Ebene des literarischen Diskurses auf das Zirkuläre und Zyklische, das Konzentrische, auf Verschachtelungen, Spiegelungen, Verdoppelungen, auf kaleidoskopische Labyrinthe, die mise en abyme, und den Solipsismus der Tautologie. Antonio Fernández Molina zeigt uns in den sechs Linien seines ‘El huevo cascado’ den klassischen Fall einer mise en abyme. Der Ich-Erzähler entdeckt in einer Eierschale ein Männchen, das ihm selber gleicht und das seinerseits wieder eine Eierschale aufbricht, in dem ein weiteres kleines Männchen steckt, und «so immer weiter …».13 Oder Álvaro Menén Desleal mit seinem «kleinen Schauspieler, der einen Schüler spielte» und auf einer Kinoleinwand einen kleinen Schauspieler von wenigen Jahren entdeckte, usw.14 Wir erinnern uns an das Spiel der Vervielfachung, der unendlichen Doppelgänger, aufgrund der Fraktalität der Spiegel beim Friseur. Auch die rhetorischen Figuren der Synekdoche und der Metonymie sind eng mit dem Fraktal verbunden. Die Natur bietet Muster zuhauf: der Wassertropfen und die Sintflut, die Verwandtschaft zwischen dem Funken und der Sonne, welche Juan Ramón Jiménez unterstreicht, oder die Konzentration des weiten Universums
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Jorge Luis Borges: El desierto. In (ders.): Atlas. Barcelona: Edhasa 1986, S. 76: «A unos trescientos o cuatrocientos metros de la Pirámide me incliné, tomé un puñado de arena, lo dejé caer silenciosamente un poco más lejos y dije en voz baja: Estoy modificando el Sahara. El hecho era mínimo, pero las no ingeniosas palabras eran exactas y pensé que había sido necesaria toda mi vida para que yo pudiera decirlas […].» Vgl. Oliver Morsch: Die Physik der Körner. Was Sandhaufen über Systeme fernab des Gleichgewichts verraten. In: NZZ (Zürich) (13.2.2008). Antonio Fernández Molina: El huevo cascado. In: González, Joseluís (Hg.): Dos veces cuento. Antología de microrrelatos. Madrid: Ediciones Internacionales Universitarias 1998, S. 31. Álvaro Menén Desleal: El argumento. In: Brasca, Raúl (Hg.): Dos veces bueno, S. 75.
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im Körperteil eines winzigen Insekts.15 Jiménez schreibt in seinem Minitext ‘Cuentos largos’16 gegen das Merkmal des Materiellen, Quantitativen, indem er behauptet, dass die Verfahren des Vergrößerns und Verkleinerns unwichtig seien; erst der Geist verleihe den Dingen ihr wirkliches (semantisches) Maß: «ein Buch kann auf die Größe eines Insektenbeines verkleinert werden, weil die Idee es vergrößern und zum Universum werden lassen kann.»17 Nur einen Steinwurf davon entfernt finden wir die Figur des Oxymorons von sehr gegensätzlichen Formaten, zum Beispiel beim ‘winzigen Wal’ (des Sargassomeers) von Rafael Pérez Estrada oder dem ‘klitzekleinen Weltall’ von Ángel Olgoso.18 Wie wir wohl vom kanonischen Dinosaurier wissen, dem größten Tier, das in die kleinste Erzählung passt und das seine Eier in nicht wenige mikrofiktionale réécritures gelegt hat,19 ermöglichen Geist und Traum die dimensionalen und fraktalen Sprünge besonders häufig in der phantastischen Literatur (auch des Absurden), in Märchen, Fabeln oder im Science Fiction-Kino.20 Man denke an das Motiv des mad scientist (in der faustischen AlchemistenTradition), der für seine Selbstexperimente meist aus Versehen ein Elixier schluckt, das ihn auf ein Mikroformat schrumpfen lässt, wodurch er auch den Sinn für natürliche Proportionen verliert. Solches geschieht im Stummfilm Amante menguado, in der mise en abyme aus Pedro Almodóvars Hable con ella. Und im
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So wird dem Nagel eines Menschen oder Dinosauriers ein Eigenleben als Protagonist verliehen, etwa in der Erzählung von Tomás Borrás ‘Final de un relato’. In: Joseluís González (Hg.): Dos veces cuento, S. 45. David Lagmanovich (Hg.): La otra mirada, S. 52. Juan Ramón Jiménez: Cuentos largos. In: Clara Obligado (Hg.): Por favor, sea breve. Antología de relatos hiperbreves. Madrid: Páginas de Espuma 2001, S. 134: «[…] un libro puede reducirse a la mano de una hormiga porque puede amplificarlo la idea y hacerla universo.» Wir erinnern uns an die paratextuelle Verbindung von Jiménez’ berühmter Sentenz auf jener Illustration, die den Buchdeckel der ersten wegbereitenden Anthologie von Kürzestgeschichten der Weltliteratur ziert: ein durch das Elektronenmikroskop vergrößertes Pollenkorn. Antonio Fernández Ferrer (Hg.): La mano de la hormiga. Los cuentos más breves del mundo y de las literaturas hispánicas. Madrid: Fugaz 1990. Während Jiménez vom Kriterium der Dimension Gewicht wegnehmen möchte, plädiert Monterroso für Kürze und Prägnanz. Rafael Pérez Estrada: Ballena mínima. In: David Lagmanovich (Hg.): La otra mirada, S. 196. Der Autor aus Granada, Ángel Olgoso, veranschaulicht in seiner Kürzestpoetik der Mikroerzählung (Quimera), die oxymoronhafte Verbundenheit mit den ‘kleinsten Weltallen’ und zählt Gegensätze zwischen kleinsten und größten Motiven auf: aus der Welt der Kunst (Miniaturen und Fresken), des Feuers (Glut und Feuer), der Waffen (Pfeile und Kanonen) und fliegender Objekte (Leuchtkäfer und Supernovas). Neus Rotger/Fernando Valls (Hg.): Ciempiés. Los microrrelatos de ‘Quimera’. Barcelona: Montesinos 2005, S. 205. José María Merino. Cien. Ebda., S. 171. José de la Colina: La culta dama. Ebda., S. 206. Eduardo Berti. Otro dinosaurio. Ebda., S. 283. José María Merino. La ficción pequeñísima. In (ders.): La glorieta de los fugitivos, S. 205. Ein Beispiel sei stellvertretend genannt: The incredible shrinking man (1957).
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Schicksal des Erzählers in José María Merinos ‘Ökosystem’,21 als dieser (in einer parasitären Symbiose) in ein Bonsai-Paradies eindringt wie Gulliver oder Däumling.22 Und die prähistorische ‘Bestie’, die derselbe Autor für einen Ursprungsmythos entwirft, lässt den berühmten Dinosaurier klein aussehen. Tausende von Männern jagen das gigantische Tier und werden im Sturzbach seines grünlichen Blutes ertrinken, das aus seiner Wunde quillt und die gesamte Vegetation der Erde grün zu färben vermag.23 Mit den dimensionalen Spielen und dem damit verbundenen Effekt der verkehrten Welt begibt man sich schnell auf karnevaleskes Terrain. Michail Bachtins Konzept der Karnevalisierung, der entfesselten, subversiven Parodie, verbindet entweder das Übergroße mit dem verschwindend Kleinen, kehrt die etablierten Größenverhältnisse um oder bricht sie und suspendiert damit (vorübergehend) Normen und hierarchische Barrieren, lässt Proportionen Kopf stehen und provoziert Gelächter, Exzentrik und dekonstruktive Grenzüberschreitungen.24 So propagiert es Anderson Imbert mit seiner ‘Zigarette’, die den Raucher raucht25 und so – in ironischer Entsprechung zu Góngoras berühmtem Sonett – den Nikotinkonsumenten in «Rauch, Staub, Schatten und Nichts» verwandelt. Auch Virgilio Piñera schlägt die verkehrte Welt vor, indem er seinen Ich-Erzähler nach und nach einen Berg von tausend Metern Höhe essen lässt, auch wenn sein Kiefer in Mitleidenschaft gezogen wird und er damit eine «geologische Störung» verursacht.26 Wenn ein Text karnevalisiert wird, regieren das Hybride, die Ambivalenz, das Paradoxe und die groteske Entstellung einer verkehrten Welt.27
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David Lagmanovich (Hg.): La otra mirada, S. 168. Die Verbindung mit der Urgeschichte (nicht nur der biblischen) inspiriert den IchErzähler zur Wahrnehmung eines weiteren großen Tiers im Blumentopf: ein Mammut (für einmal kein Dinosaurier). Enrique Anderson Imbert kultiviert das Konzept der gegensätzlichen Proportionen. Der Körper des Vaters verwandelt sich für einen kleinen Jungen in einen Berg, den er besteigt: ‘La montaña’. In: Clara Obligado (Hg.): Por favor, sea breve, S. 92. Das geschrumpfte menschliche Wesen erscheint auch in seiner Erzählung 'Microscopia': ein Mann verliert nach und nach seine Statur, und bevor er in die mikroskopische Dimension eintritt, erlangt er die Größe eines (kafkaesken) Käfers. Enrique Anderson Imbert: Microscopia. In: Antonio Fernández Ferrer (Hg.): La mano de la hormiga, S. 30. Fernando Ruiz Granados beansprucht die riesige rote Ameise als Ergebnis einer Metamorphose von Mann zu Insekt, in ‘Rato de espera’. Ebda., S. 391. Die Mutation vom Menschen zur Fliege als Variante führt uns Fernando Ruiz Granado vor: ‘La mosca’. Ebda., S. 390. Fernando Ruiz Granado: La Bestia. Ebda., S. 388. Dualismen werden relativiert und der Kanon wird degradiert und ins Lächerliche gezogen. Enrique Anderson Imbert: El cigarillo. In: Antonio Fernández Ferrer (Hg.): La mano de la hormiga, S. 22. Bereits Lautréamont veranlasste die Feige, den Esel zu verschlingen (Ebda., S. 274). Virgilio Piñera: La montaña. In: Raúl Brasca (Hg.): Dos veces bueno, S. 22. Beispielsweise von einem physischen, überproportionierten und hervorstehenden Merkmal.
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Über der Heterodimensionalität von Vergrößerungen und Verkleinerungen sollte die heterodoxe Zeit nicht in Vergessenheit geraten, die zeitlichen Sprünge in der Anlage des Plots, die Verlangsamung und Beschleunigung. Die Vorliebe für eine miniaturisierte Inszenierung paart die lange Dauer, sogar die Ewigkeit, mit dem (unmittelbar eingefangenen) Blitzmoment. Es entstehen erzählerische Anachronien, zeitliche Synekdochen, wie diejenige des in Rücklaufzeitraffer abspulenden Lebensfilms: Die ‘Choses de la vie’, die im Motiv des letzten Stündchen aufblitzen, das im Sekundenbruchteil oder einer einzigen Linie von Buchstaben enthalten ist. Eine riesige Ausdehnung passt in einen einzigen Tag: die sechsundzwanzig Milliarden Jahre der Erzählung von León Febres-Cordero.28 Die erzählte Zeit umfasst Ewigkeiten, die Erzählzeit gerade einmal eine halbe Textseite.29
Äonen Ganz zu schweigen von den sieben Millionen Äonen, welche die ‘Erbauung des Universums’ brauchte, gegenüber der einen Woche, die Gott für das einfache Modell benötigte.30 Wir leben in einer simulierten Welt. Wenn wir das Äon, ‘Zeit, Ewigkeit, Weltzeitalter’,31 ‘unendliche und unberechenbare Zeitdauer’ (einige Quellen setzen sie bei einer Milliarde an) mit der Zahl von 7 Millionen multiplizieren, erhalten wir als astronomisches Ergebnis 7015 (7.000.000.000.000.000 oder das noch neue Präfix Penta-). In ihrem microrrelato verwendet Ana María Shua einige literarische, rhetorische und strukturelle Verfahren, bei denen wir kurz verweilen möchten: Nach einer Allegorie und Isotopie im semantischen Feld der Architektur wurde in ihrer Erzählung der Kosmos in zwei Etappen erbaut, die sich in einem Hin und Her zwischen zwei Fiktionalitätsebenen vermischen. Auf der Ebene A erschuf der große Architekt und christliche Gott in einer Woche ein Modell unseres Universums, ein winziger, ‘plumper’ Teil des ewig Ganzen der Ebene B, wo der ‘tatsächliche’, authentische, ‘perfekte’ und ‘ausführliche’ Kosmos kreiert wird. Das Modell stellt
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León Febres-Cordero: Fugaz desencuentro. In: Neus Rotger/Fernando Valls (Hg.): Ciempiés, S. 184. Gabriel Jiménez Emáns beschreibt in seinem Minitext ‘die Kürze’ (La Brevedad. In: (ders.): Los dientes de Raquel, Mérida: La Draga y el Dragón 1973, S. 167): «Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass die Kürze eine Entelechie ist. Wenn ich eine Linie lese, die mir länger vorkommt als mein eigenes Leben, und einen Roman, der mir kürzer scheint als der Tod.» Vgl. Raúl Brasca: Los dinosaurios, el dinosaurio. In: David Lagmanovich (Hg.): La otra mirada, S. 287. Cristina Fernández Cubas erzählt von einer Äbtissin, die aus der Klausur in einer flüchtigen und ganz kurzen Eskapade das Kloster für einmal von außen, vom Balkon gegenüber aus betrachten möchte. Die Außenperspektive der Klostermauern bescheren ihr, nach den Worten der Ich-Erzählerin, «eine der längsten von allen mir bekannten langen Reisen.» Cristina Fernández Cubas: El viaje. In: Joseluís González (Hg.): Dos veces cuento, S. 43. Ana María Shua: La construcción del universo. In: Neus Rotger/Fernando Valls (Hg.): Ciempiés, S. 146. Der Begriff wird in verschiedenen Disziplinen verwendet, darunter in der Theologie und der Geologie, genauer der Geochronologie.
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neben einer spekulativen Verbindung monistischer und dualistischer Weltschöpfungsmodelle in einer Synekdoche die räumliche Dimension her.32 Der IchErzähler produziert eine Anachronie, da er genau im Moment der Präsentation des Projekts der Ebene A zugegen war, demjenigen der mise en abyme. In einer Heterotopie im utopischen Gegen-Raum des wirklichen Kosmos (Ebene B) wird unser improvisiertes Universum auf eine phantastische Weise transformiert: in die verkehrte Welt des Karnevalesken. Der ganze Text, mit seiner Struktur der beiden Ebenen A und B kultiviert das Paradoxe (die Präsentation wurde realisiert, obwohl B bereits abgeschlossen war; beide Verbformen stehen in der Vergangenheit). Schließlich muss man das Konzept der Simulation berücksichtigen (in Form einer Metonymie und Synekdoche des Modells), bloßes Abbild A der Realität B. Die Sehnsucht nach der ursprünglichen Unbeholfenheit dies ist die Moral der allegorischen Geschichte deutet auf das Kollektiv (‘wir’), das sich mit dem, was es hat, begnügen soll, dem Unfertigen, Unvollkommenen, denn die endgültige Fertigstellung des großen Projekts ist in Verzug geraten. Ana María Shua: Die Erbauung des Universums Sieben Millionen Äonen dauerte die Erbauung des wirklichen Universums. Das unsere ist lediglich ein Projekt, das maßstabgetreue Modell, das der große Architekt in einer Woche zusammenbaute, um es den Investoren zu präsentieren. Ich war dabei. Das fertige Universum ist natürlich viel, viel größer und auch ausführlicher. Anstelle dieses unbeholfenen Abbildes liegt eine unendliche Perfektion im Detail. Und trotzdem fühlen sich die Investoren wie immer betrogen. Wie immer dauerte die Fertigstellung des Projekts länger und war anstrengender und teurer als vorgesehen. Wie immer denken sie wehmütig an jene plumpe und undefinierbare Grazie des Modells zurück, das man verwendete, um sie zu täuschen. Wir sollten uns nicht beklagen.33
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Eine weitere räumliche Synekdoche mit ideologischer Botschaft liefert uns Pía Barros in ‘Golpe’. In: Clara Obligado (Hg.): Por favor, sea breve, S. 174: «das Stück menschliche, veilchenblaue, durch einen Schlag misshandelte Haut überträgt ein Kind auf das ganze, durch eine Diktatur gebeutelte Land.» Ana María Shua: La construcción del universo, S. 146: «Ana María Shua: La construcción del universo. Siete millones de eones tardó en construirse el universo verdadero. El nuestro es sólo un proyecto, la maqueta a escala que el gran arquitecto armó en una semana para presentar a los inversores. – Estuve allí. – El universo terminado es muchísimo más grande, por supuesto, y más prolijo. En lugar de esta representación torpe, hay una infinita perfección en el detalle. – Y sin embargo, como siempre, los inversores se sienten engañados. Como siempre, realizar el proyecto llevó más tiempo, más esfuerzo, más inversión de lo que se había calculado. Como siempre, recuerdan con nostalgia esa torpe gracia indefinible de la maqueta que usaron para engañarlos. No deberíamos quejarnos.»
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Die Grenzen einer Kürzestgeschichte bieten Raum mit einer unendlichen Perfektion im Detail für die ‘Errichtung des Universums’, wovon das unsrige nur ‘ein maßstabgetreues Modell ist’. Ana María Shua hat sich vielleicht durch die kartographischen ‘Strenge der Wissenschaft’ der berühmten Mikroerzählung von Jorge Luis Borges inspirieren lassen, in welcher von einer Landkarte im Maßstab 1:1 die Rede ist, deren Fortsetzung der salvadorianische Schriftsteller Álvaro Menén Desleal in ‘Die ökumenische Landkarte’ verfasst hat.34 Und Merino erzählt die Geschichte eines riesigen Rettichs, der sich «den ganzen Planeten zu eigen machen wird.»35 Ein weiterer Ursprungsmythos des Mexikaners Julio Torri (1889–1970) relativiert die Größe unseres Planeten ein kleiner Ball im kosmischen Spiel der Götter. Die Analogie erinnert an das vorkolumbische Ballspiel. Und auch in dieser Erzählung ist ein Augenblick, «nicht länger als das Lächeln einer Göttin» und entspricht in der Wahrnehmung der «weitschweifigen» Menschen einer Zeitauffassung von hyperbolischer Größenordnung: «mehreren Tausend Trillionen von Jahrhunderten».36
Monaden Die genannten Motive, vor allem das damit eng verbundene Fraktal, geben uns Anlass, in die Idee der Monaden von Gottfried Wilhelm Leibniz abzutauchen, der das ganze Universum in den fensterlosen Kleinstentitäten der Monaden reflektiert sah. Jedes Ding ist fortlaufendes Aggregat oder Ansammlung von Monaden, in einer von Gott im Voraus festgelegten Harmonie: Dynamik der Einheit in der Vielfalt, Wahrnehmung der Mannigfaltigkeit in der Einzigartigkeit. Jede Monade ist ein autonomer Mikrokosmos, unbeschränkbar und nicht einsehbar, aber dennoch zugleich ein Spiegel des Universums. Von diesem postuliert Leibniz’ Monadologie ein arithmetisches Format als Minimum, als unendliche autonome Einheiten in der Verschiedenartigkeit, als einfache Substanzen, Verbindungsglieder zwischen Körper und Seele. Die plastischen Metaphern endloser Falten aus Stoff, Wasser oder Papier dienen Leibniz in Entsprechung seiner Monaden nicht etwa als losgelöste Elemente (wie etwa Borges’ Sandkörner), sondern als ein in unzählige Einheiten unterteiltes Kontinuum, jede etwas kleiner als die vorhergehende. So stellte sich Leibniz ein Universum vor, das durch eine ins Unendliche differenzierte Kraft verdichtet wird, eine in ihr Inneres gerichtete Faltenmaschine, die sich in kreisförmig, in sich verwirbelnden Linien bewegt. Der textile Charakter des Kosmos enthüllt, wie eine plissierte Tunika, die spirituell-physische Doppelfunktion des Stoffes. Leibniz kann die Welt nicht anders als über sein Falten-Arrangement deuten. Zudem hat diese Metapher der Erkenntnis, deren Ursprung in einem Strumpfband lag, eine Affinität zu den bildenden
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Álvaro Menén Desleal: El mapa ecuménico. In: Raúl Brasca (Hg.): Dos veces bueno, S. 78–79. José María Merino: Del cambio. In (ders.): La glorieta de los fugitivos, S. 178–179. Julio Torri. Los dioses jugaban a la pelota. Ebda., S. 49.
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Künsten und weitet sich aus zu oszillierenden Pendel- und Wellenbewegungen, Gabelungen und im auditiven Bereich zum Echo und zu den Schwingungen (einer Saite).37 Gilles Deleuze nahm 1988 das Leibnizsche Thema wieder auf, als er seinen Essay Le pli. Leibniz et le baroque38 publizierte und die Falte als zentralen künstlerischen Beitrag des Barock herausstrich und auch ihre vervielfachende Metaphysik «Falte auf Falte, Falte nach Falte»,39 Vertiefung für Vertiefung. «Sich unaufhörlich unterteilend, bilden die Teile der Materie in einem Wirbel kleine Wirbel, und darin andere, noch kleinere, und wieder andere in den konkaven Intervallen der sich berührenden Wirbel.»40 Der Vervielfältigungsimpuls macht auch vor den Kürzesterzählungen, den microrrelatos nicht Halt, wie es José María Merino wiederholt belegt, der die Gattung im hispanischen Raum kultiviert. In einem seiner metaliterarischen, fraktalen oder eben: monadischen Müsterchen mit dem Titel «Plage»41 verbindet sich die Metabene mit dem Fraktal, das heißt, das auf sich selbst Verweisende enthält in sich seinen fraktalen Keim; obendrein vervielfältigt sich unsere schwungvolle Gattung, breitet sich unaufhörlich aus. Diese eigentliche Reproduktionsmaschine verursacht eine fraktal-parasitäre Bedrängung mit offensichtlichen klaustrophobischen Auswirkungen: In kürzester Zeit füllte sich das Haus mit Mikroerzählungen. Sie vermehrten sich unaufhörlich und begannen, in der Bibliothek Schaden anzurichten. Kein Mittel half, sie auszurotten, und er musste in eine andere Wohnung ziehen. Nun glaubt er, seine Bücher seien in Sicherheit, ohne zu wissen, dass mittlerweile Tausende Mikroerzählungen das Haus umzingeln und dass nichts die Invasion verhindern kann.42
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Vgl. Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 12–22. Selbstverständlich schwingt in der Faltigkeit auch noch die theologisch-mystische Spekulation mit. Gilles Deleuze: Le pli. Leibniz et le baroque. Paris: Les Éditions de Minuit 1988, in der deutschen Übersetzung: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt: Suhrkamp 2000. Ebda., S. 11. Ebda., S. 14. José María Merino. Plaga. In (ders.): La glorieta de los fugitivos, S. 228. Ebda.: «En poco tiempo, la casa se llenó de microrrelatos. Se multiplicaban incesantemente, y empezaron a ser muy dañinos en la biblioteca. Ni trampas ni venenos pudieron exterminarlos, y tuvo que trasladarse a otra vivienda. Ahora cree que sus libros están a salvo, sin saber que miles de microrrelatos están rodeando la casa y que nada podrá evitar la invasión.»
El dinosaurio que faltaba Por mí pueden dormir cuanto quieran: cuando despierten, ya no estaré aquí. Der Dinosaurier, der noch fehlte Von mir aus können sie schlafen soviel sie wollen: Wenn sie aufwachen, werde ich nicht mehr hier sein. David Lagmanovich
Fernando Valls (Barcelona)
Über den spanischen microrrelato: Um einige Missverständnisse ein für alle Mal auszuräumen … Um zur Poetik der Subtraktion, zum Weniger ist mehr des Mies van der Rohe zu gelangen, die sich von der Miniatur in der Malerei bis zur Mikrophotographie,1 über die Nanotechnologie und die Minicomputer erstreckt, den sogenannten Mikrojournalismus von Vicente Verdú oder den schon alltäglichen Minirock nicht auslassend, wurde schon ein weiter Weg zurückgelegt. Doch mit der Rückkehr neuer Möglichkeiten des Nano (des Superwinzigen) und des Mikro bläst ein neuer kultureller Wind durch die Landschaft … So wurden gerade die so genannten movilcineastas ins Leben gerufen, jene Filmautoren mit Handy, die in einer Minute ihre Geschichte erzählen müssen und sogar schon einen eigenen Wettbewerb geschaffen haben, das Movil Film Fest (Juni 2007), ein Format, das neue Wege erschließen könnte, wenn es die größte Gefahr, die es bedroht, abzuwenden weiß: die Banalisierung oder die Kunst, sich mit dem Offensichtlichen zufrieden zu geben. Die spanische Sängerin und Sound-Mischerin Ajo bezeichnet sich selbst als micropoetisa [Mikrodichterin] und bewegt sich somit im Fahrwasser von Gloria Fuertes. Sie erkennt ebenfalls an, dass sie durch ihre microshows, die in der Tradition der copla (Lied im Volkston) und der greguería (geistreiche und satirische Aussprüche) stehen, sich langsam einen Namen zu machen beginnt. Folgendes Gedicht, dem ein Hauch einer Picasso-Sentenz inne wohnt, soll hier als Beispiel dienen: «Ich werde Dich immer abgöttisch lieben und Du bist mir Wurst, reimen noch nicht, aber mit der Zeit werden sie sich schon reimen.»2 Letztendlich wird erst die Zeit sagen, was mit diesen seltsamen Arbeiten geschieht, ob sie sich festigen können und Werke hervorbringen, die dem Druck des Vergänglichen standhalten. Das ermutigendste Beispiel offenbart die Literatur mit dem microrrelato, obwohl dieser plötzlich auf sonderbaren Widerstand stößt. Wenn wir bis jetzt die These vertreten haben, dass der microrrelato eine neue Gattung ist, dann deshalb, weil er unterschiedlichen Ansprüchen genügen muss, da seine innere Logik, die Mechanismen, die bei seiner Anfertigung angewendet werden und die dichte Spannung des Erzählens nicht jener der Erzählung entspricht, wodurch er sich von anderen, ihm verwandten Gattungen unterscheidet, wie zum Beispiel vom Gedicht in Prosa oder dem Aphorismus.3
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Vgl. http://www.scienceart.nl. Vgl. Rocío García: Cine en un minuto. In: El País (Madrid) (3.6.2007), aber ihre Arbeiten können auch im Internet nachgeschlagen werden: http://www.movilfilmfest.com sowie im Interview von Iker Seisdedos: 10 preguntas a Ajo. In: El País Semanal (Madrid) (9.12.2007): «Te adoraré, siempre y me importas un pimiento todavía no riman, pero ya rimarán con el tiempo.» Vgl. hierzu Fernando Valls: Sobre el microrrelato: otra Filosofía de la composición. In: Teresa Gómez Trueba (Hg.): Mundos mínimos. El microrrelato en la literatura española contemporánea. Gijón: Cátedra Miguel Delibes – Llibros del Pexe 2007, S. 117–124.
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Das Bewusstsein einer neuen kurzen narrativen Form mit ihren Besonderheiten ist in Spanien sehr neu, doch seit dem Modernismo und später auch im zweiten und dritten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts, in den Jahren der so genannten Art nouveau, sind regelmäßig kurze narrative Texte verfasst worden, ohne dass den Schriftstellern bewusst war, dass sie eine andere Gattung mit einigen unterschiedlichen Gesetzen schufen. Es gab daher eine Zeitspanne von etwa 60 Jahren zwischen dem Niedergang der historischen Avantgarden und den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in der diese Form gepflegt wurde, so dass sogar umfangreiche Bücher entstanden. Angesichts des Fehlens einer präziseren Bezeichnung, könnte man hier von narrativen Texten sprechen, die zu dem hinführen, was wir heute als microrrelato bezeichnen. Doch erst seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stoßen wir auf immer mehr Stücke und Bücher, bei denen dieses Bewusstsein offensichtlich wird, vielleicht dem Wunsch geschuldet, der fruchtbaren hispano-amerikanischen Tradition nachzueifern, zweifellos mit dem Ansporn eines parallelen Phänomens, das sich in der eigenen Sprache auf der anderen Seite des Ozeans entwickelt. In diesem Sinn sind die wichtigsten Bezugspunkte der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts die Texte von Borges, Cortázar und Juan José Arreola (ich zähle sie in der Reihenfolge auf, in der sie Spanien erreichten), aber vor allen Dingen das immer beliebtere Werk von Augusto Monterroso. Die Bücher des in Mexiko lebenden guatemaltekischen Schriftstellers wurden in Spanien erst Anfang der achtziger Jahre veröffentlicht, der Kritiker Juan Antonio Masoliver Ródenas4 war wahrscheinlich ihr Entdecker. Als wichtigste Werke argentinischer Schriftsteller können folgende aufgezählt werden: Von Jorge Luis Borges5 El hacedor (1960) und La cifra (1981); von Julio Cortázar Historias de cronopios y de famas (1962), La vuelta al día en ochenta mundos (1967), Último round (1969) und Un tal Lucas (1979). Die Werke des mexikanischen Schriftstellers, Varia Invención (1949), Confabulario (1952), Bestiario (1959), Confabulario total (1962) und Palíndroma (1971) wurden zeitgleich veröffentlicht, obwohl man vermuten kann, dass sie erst später das Interesse der Leser geweckt haben.6 Natür-
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Vgl. Augusto Monterroso: Obras completas (y otros cuentos). Barcelona: Seix Barral 1981 und (ders.): La oveja negra y demás fábulas. Barcelona: Seix Barral 1983, deren Erstauflagen in Mexiko aus den Jahren 1959 bzw. 1969 stammen. Die Rezension von Masoliver Ródenas, erschienen in La Vanguardia (Barcelona) (25.5.1971), S. 48, befindet sich ebenfalls in dem Band von Joaquín Marco und Jordi García (Hg.): La llegada de los bárbaros. La recepción de la narrativa hispanoamericana en España, 1960–1981. Barcelona: Edhasa 2004, S. 745f. Er beschäftigt sich jedoch nur mit dem Roman und lässt den microrrelato außer acht. Vgl. Jorge Luis Borges: El hacedor. Madrid: Alianza – Emecé 1972; (ders.): La cifra. Madrid: Alianza Editorial 1981. Zum erstgenannten Band gibt es eine überraschende Jugendrezension von Francisco Rico: «El hacedor» de Jorge Luis Borges. In: Índice (Madrid) 166 (1962), S. 23. Vgl. Juan José Arreola: Mujeres, animales y fantasías mecánicas. Herausgegeben von Ojeda Jorge A. Barcelona: Tusquets 197; (ders.): Confabulario antológico. Barcelona: Círculo de Lectores 1973; (ders.): Confabulario personal. Barcelona: Bruguera 1980 und (ders.): Confabulario definitivo. Herausgegeben von Carmen de Mora. Madrid: Cátedra 1986. Die kritische Rezeption war früh, geweckt, wahrscheinlich durch das In-
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lich können einige dieser Bücher den spanischen Lesern schon vorher in ihren argentinischen oder mexikanischen Erstauflagen zugekommen sein, aber nur eingeschränkt und tröpfchenweise, worüber sich verschiedene Rezensenten aus jenen Jahren beschwerten. Wenn wir die Poetiken und die Interviews mit den spanischen Autoren des microrrelato näher betrachten, dann ist wohl der Einfluss der hispanoamerikanischen Schriftsteller auf sie weitaus weniger bedeutsam als zu erwarten und de facto wohl auch war. Unter diesen Umständen sind seit Ende der achtziger Jahre eine Reihe Bücher erschienen, die sich mit dieser kürzesten Erzählung beschäftigen. Zu den repräsentativsten Bänden jenes Anfangsmoments zählen vielleicht Historias mínimas (1988) von Javier Tomeo, in dem sich kurze narrative Texte und Mikrotheater abwechseln; die Sammlung La mano de la hormiga. Los cuentos más breves del mundo y de las literaturas hispánicas (1990) von Antonio Fernández Ferrer und die im klassischen Stil eines Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares verfassten Cuentos breves y extraordinarios (1951), eine Textsammlung, in denen unterschiedliche Arten von Kurztexten in Prosa, nicht immer narrativer Art zusammengetragen sind. Und schließlich das Buch von Luis Mateo Díez Los males menores (1993), obwohl in seiner Erstausgabe Erzählungen und microrrelatos gemeinsam auftauchen und erst in der endgültigen Ausgabe im Jahr 2002 vom Ganzen abgetrennt werden, indem der Autor einen Untertitel einfügt und es damit an diese Gattung anschließt.7 Wenn wir jedoch die Geschichte dieser neuen Form aufzeichnen wollen, als Teil einer laufenden Forschung, müsste man herausfinden, wann genau dieses vollständige Bewusstsein der Besonderheit dieses Neuen und Anderen bei den Schriftstellern und den Kritikern erkennbar wird; oder wann die Leser es als solches annehmen. Man müsste auch in Betracht ziehen, wann die ersten Bücher mit microrrelatos veröffentlicht werden und die Kritik beginnt, die Gattung von anderen zu unterscheiden, wobei es sicher nützlich ist, den Zeitpunkt ausfindig zu machen, in dem bei Zeitungen und Zeitschriften der Entschluss gefasst wird, microrrelatos als solche zu veröffentlichen und schließlich, wann die ersten Wettbewerbe ausgeschrieben werden. Es gibt zu viele offene Punkte und Fragen ohne Antwort, obwohl damit der Fragenkatalog natürlich noch nicht abgeschlossen ist. Ich habe noch einige weitere: Wie wurden diese Stücke bis jetzt genannt? Ist es vielleicht ratsam oder ertragreich, dass mehrere Bezeichnungen für die Gattung geführt werden? Um eine endgültige Anerkennung zu erzielen, wäre es zweckmäßig zu einer Einigung über die Bezeichnung und die besonderen Charakteristika dieser Texte zu gelangen, wenn sich die Leser, die Kulturpresse und die Kritik für sie interessieren sollen, ohne damit die kreative Freiheit der Schriftsteller einschränken zu wollen. Eine solche Klärung könnte dazu beitragen, eine der negativen Folgen für den microrrelato zu vermeiden: Die konformistische Idee, dass alles zulässig ist, solange es sich nur
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teresse an seinem Roman La feria (1963). Vgl. Javier Martínez Palacio: La maestría de Juan José Arreola. In: Ínsula (Madrid) 240 (1966), S. 13. Vgl. Luis Mateo Díez: Los males menores. Microrrelatos. Herausgegeben von Fernando Valls. Madrid: Espasa Calpe (Austral 529) 2002.
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um eine sehr kurze Erzählung handelt. Somit werden geistreiche Sätze oder sogar einfache Einfälle, Anekdoten oder Witze, die mehr oder weniger als Geschichten verkleidet daherkommen, als microrrelatos durchgehen. Wenn wir erreichen wollen, dass diese Art Erzählungen an öffentlicher Bedeutung gewinnen sowie vom Leser als solche erkannt und geschätzt werden sollen, wäre es ratsam, darüber zu einer klaren wieder erkennbaren Bezeichnung zu kommen. Sonderbarerweise gibt es heutzutage noch Autoren, die – obwohl sie den microrrelato mit Geschick schreiben – sich weigern ihn als solchen anzunehmen oder aber es ist ihnen nicht bewusst, dass ihre Texte besser verstanden werden, wenn sie als Teil dieser neuen narrativen Ausdrucksform angesehen werden. Auch ein Großteil der Verleger scheint nicht genau über diese gattungsspezifischen Besonderheiten Bescheid zu wissen. Und wenn sie früher die Nase rümpften, wenn ein Schriftsteller ihnen ein Band mit Erzählungen zur Veröffentlichung brachte, ist es nicht schwer sich ihr Gesicht vorzustellen, wenn ihnen ein Band mit microrrelatos angeboten wird, eine narrative Dimension, die ihnen noch ungezähmter erscheint. Auch die Journalisten der Feuilletons (traditionell immer die Letzten, die Dinge mitbekommen und meist das Offensichtliche, das Substanzlose und das Extravagante unterstützen) wissen nicht, was sie mit diesen Bänden anfangen sollen, wenn ihnen eines in die Hände fällt, was ebenso für die Kritiker gilt. Mit Ausnahme der Autoren und einer bestimmen Anzahl von Lesern, ähnlich zahlreich wie diejenigen, die sich für die Poesie und die Erzählung interessieren (und daher sicher noch nicht genügend), macht es den Anschein als wolle sich alles gegen die Verbreitung dieser anregenden und anspruchsvollen Form stellen. Mit der nötigen Distanz und dem Blickwinkel, den die Zeit mit sich bringt, könnten folgende bedeutende Entwicklungen des microrrelato hervorgehoben werden: Der Wiederaufbau seiner literarischen Tradition, seiner Vorgeschichte; ein bestimmter verlegerischer Schwung; die Spontaneität, mit der viele berühmte und junge Schriftsteller diese Gattung in maßgeblichen Bänden pflegen; die Veröffentlichung zahlreicher Anthologien; das gestiegene Bewusstsein einer wachsenden Autorenschaft und die für diese Gattung ausgeschriebenen Preise, obwohl keiner von ihnen, weder durch sein literarisches Ansehen noch durch die Zuwendungsart hervorsticht; die wachsende Bedeutung im universitären Unterricht, die Beachtung auf internationalen Kongressen und als Thema wissenschaftlicher Forschung. Aber es ist vielleicht der erste Punkt, der Wiederaufbau der Geschichte, der literarischen Tradition, bei dem der größte Fortschritt festzustellen ist, da kürzlich Studien über Juan Ramón Jiménez, Ramón Gómez de la Serna, Federico García Lorca und dem Art nouveau der zwanziger und dreißiger Jahre8 erschienen sind
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Vgl. Juan Ramón Jiménez: Cuentos largos y otras prosas narrativas breves. Herausgegeben von Teresa Gómez Trueba. Palencia: Menoscuarto 2008; Gómez de la Serna, Ramón: Disparates y otros caprichos. Herausgegeben von Luis López Molina. Palencia: Menoscuarto 2005; Federico García Lorca: Pez, astro y gafas. Prosa narrativa breve. Herausgegeben von Encarna Alonso Valero. Palencia: Menoscuarto 2007; sowie Teresa Gómez Trueba: Acerca del camino estético que nos condujo al microrrelato: el ejemplo de Juan Ramón Jiménez und Antonio Rivas: Entre el esbozo narrativo y el microrrelato: los ‘caprichos’ de Ramón Gómez de la Serna. Ein dem microrrelato ge-
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sowie über einige wichtige, augenscheinlich isolierte Persönlichkeiten, die schon die kürzeste Erzählung während der fünfziger und sechziger Jahre betrieben haben, wie zum Beispiel Ana María Matute (Los niños tontos, 1956), Max Aub (Crímenes ejemplares, 1957), Ignacio Aldecoa (Neutral corner, 1962) und Antonio F. Molina (La tienda ausente, 1967; Los cuatro dedos, 1968; Dentro de un embudo, 1973; Arando en la madera, 1975).9 Dank der Arbeit von Teresa Gómez Trueba wissen wir, dass der Dichter aus Moguer sehr bewusst wahrgenommen hat, dass er eine ganz andere Art Text anfertigte, als diejenige, die er normalerweise schrieb (in der Mehrzahl, starre Bilder, ohne narrative Elemente). Dieses wird in dem Moment offensichtlich, in dem er eine große Anzahl seiner Prosastücke unter dem bezeichnenden Titel Cuentos largos zusammenfasst. Das juanramonianische Projekt, ein Buch mit einem solchen Etikett zusammenzustellen, das aus Texten besteht, die er zwischen 1917 und 1924 schrieb, wurde in der Zeitschrift España 1924 angekündigt. Der Band des Dichters aus Moguer sollte durch eine aufschlussreiche Einführung eingeleitet werden, in der genauestens jene Spannung zwischen der Stille und dem Schreiben zum Ausdruck kommen sollte, die das Wesen der Gattung an sich ausmacht und von vornherein seinem Willen entsprach, ein Buch zu veröffentlichen, das ausnehmend kurze narrative Prosa beinhaltete, obwohl jener Band erst viele Jahre nach dem Tod des Dichters das Licht der Welt erblickte. So war auch nicht zu übersehen, dass nach dem Ende des Bürgerkrieges sich viele Autoren mit dieser Gattung beschäftigt haben, einige mit einer bestimmten Beständigkeit wie zum Beispiel Tomás Borrás, Álvaro Cunqueiro und Juan Perucho; andere wiederum gelegentlich wie Francisco Ayala, Samuel Ros, José María Sánchez-Silva, Camilo José Cela, Jorge Campos, Francisco García Pavón, Alfonso Sastre, Rafael Sánchez Ferlosio, Manuel Pilares, Lauro Olmo, Medardo Fraile, Esteban Padrós de Palacios y Fernando Quiñones.10 Letztendlich müssten vor allem noch die Jahre des Modernismo eingehend untersucht werden.11 Ein gutes Beispiel dieses verlegerischen Engagements, das wir schon angesprochen haben, ist die Sammlung Micromundos, die der Verleger der Thule Ediciones, José Díaz ausschließlich dieser Gattung widmet. In ihr sind Klassiker wie
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widmetes Dossier. Herausgegeben von Fernando Valls. In: Ínsula (Madrid) (Oktober 2008) (im Druck). Das Werk von Antonio Fernández Molina erscheint in einer Anthologie unter dem Titel Las huellas del equilibrista. Herausgegeben von José Luis Calvo Carilla. Palencia: Menoscuarto 2005. Vgl. Fernando Valls: Soplando vidrio. Sobre dieciocho narradores españoles cultivadores ocasionales del microrrelato (1942–2005). In: Luisa Valenzuela/Sandra Bianchi/Raúl Brasca (Hg.): Akten des Encuentro de minificción 2006. Buenos Aires (im Druck); und Fernando Valls: Cola de ratón. Estudios sobre el microrrelato español. Madrid: Páginas de Espuma 2008 (in Arbeit). Es gibt schon interessante Ansätze in der Studie von Ángeles Ezama Gil: El cuento de la prensa y otros cuentos. Aproximación al estudio del relato breve entre 1890 y 1900. Zaragoza: Prensas Universitarias 1992 und in der aufschlussreichen Arbeit von Domingo Ródenas de Moya: Consideraciones sobre la estética de lo mínimo. In: Teresa Gómez Trueba (Hg.): Mundos mínimos. El microrrelato en la literatura española contemporánea, S.67–93.
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Franz Kafka, István Örkény, Max Aub und Marco Denevi erschienen; mehrere interessante Sammlungen12 und die Werke einer Vielzahl hispano-amerikanischer Autoren wurde veröffentlicht, unter anderem von Raúl Brasca, Juan Armando Epple, Gabriel Jiménez Emán, Luis Britto García, Rogelio Guedea und Ana María Shua. Gleiches gilt auch für andere Verleger, ich führe hier unter anderen Juan Casamayor von Páginas de Espuma und José Ángel Zapatero von Menoscuarto auf, die eine große Vorliebe für diese Gattung haben. Es ist auch mehr als gerecht, die Hingabe zum microrrelato einiger Autoren hervorzuheben, ungeachtet wie sie diesen in ihren Bänden mit hoher literarischen Qualität nennen: Gustavo Martín Garzo (El amigo de las mujeres, 1992), Rafael Pérez Estrada (La sombra del obelisco, 1993; El domador, 1995), José Jiménez Lozano (El cogedor de acianos, 1993 und Un dedo en los labios, 1996), Hipólito G. Navarro (Relatos mínimos, 1996 und Los tigres albinos, 2000), Pedro Ugarte (Materiales para una expedición, 2002), Luciando G. Egido (Cuentos del lejano oeste, 2003), Julia Otxoa (Un extraño envío, 2006) und Juan Pedro Aparicio (La mitad del diablo, 2006) sind einige Beispiele von Autoren unterschiedlicher Prägung, die sich einer Gattung widmen, die sich leider immer noch am Rande des möglichen Marktes befindet. Zudem gibt es immer mehr Autoren, die genau wissen, was sie schreiben, wie unter anderem José María Merino (Días imaginarios, 2002 und Cuentos del libro de la noche, 2006, die jetzt in dem Buch La glorieta de los fugitivos, 2007 zusammengefasst wurden) sowie Andrés Neuman (El que espera, 2000 und Alumbramiento, 2006), um nur zwei Namen mit unterschiedlichem Alter und kulturellem Hintergrund anzuführen, die beide jedoch herausragende Theoretiker dieser neuen narrativen Ausdrucksform sind. Indes ist anscheinend bislang noch nicht der Moment gekommen, dass die Kritiker sich des microrrelato mit mehr Unbefangenheit und Hintergrundwissen annehmen würden. Tatsächlich ist die akademische, die universitäre Kritik zum ersten Mal Vorhut der kämpferischen, der aktuellen Kritik. Anders verhält es sich meines Erachtens mit den Texten von Manuel Vicent (A favor del placer, 1993) und Juan José Millás (Articuentos, 2001), dessen kurze Stücke angesiedelt sind zwischen dem literarischen Artikel und dem microrrelato, vor allem im Falle des Ersten, nicht immer eine Handlung aufweisen, obwohl sie sich narrativer Elemente bedienen. Trotzdem haben beide die angeführten Gattungen erneuert, insbesondere den literarischen Artikel und im Falle von Millás, auch den microrrelato. Es gelang ihm, diese Stücke in wahrhaftige Bereiche narrativer Experimentierung zu verwandeln, was er später auch, mit weniger Glück wie mir scheint, in seine Romane überträgt. Man könnte daher sagen, dass die Schriftsteller der Gegenwart über eine fundierte Tradition verfügen, auf die sie sich stützen können, ohne das Gefühl des Erstschöpfers zu haben und ohne die Notwendigkeit zu verspüren, sich an anderen Literaturen ausrichten zu müssen, was jedoch nicht nur ungesund sondern auch entbehrlich ist. So können die jungen, in spanischer Sprache schreibenden Schriftsteller behaupten, so wie es der Maler Gustave Courbet in der zweiten Hälfte des
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Vgl. Raúl Brasca (Hg.): De mil amores. Antología de microrrelatos amorosos. Barcelona: Thule 2005; Juan Armando Epple (Hg.): MicroQuijotes. Barcelona: Thule 2005 und Aloe Azid (Hg.): Mil y un cuentos de una línea. Barcelona: Thule 2007.
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19. Jahrhunderts tat: «Ich durchquere die Tradition wie ein guter Schwimmer».13 Schließlich sollte man an die Veröffentlichung einiger Anthologien erinnern,14 obwohl bis heute eine historisch geprägte Sammlung fehlt, die sich ausschließlich mit dem spanischen microrrelato beschäftigt. Ungeachtet des wachsenden Interesses am microrrelato gibt es einige Umstände in den letzten Jahren, die einzeln gesehen vielleicht unbemerkt geblieben wären, mich aber zur Überzeugung brachten, dass nicht alles optimal verläuft, dass es Voreingenommenheiten und ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber der Gattung gibt. Auf dem ersten Blick könnte sich dies auf die Gefahr beziehen, dass der microrrelato der Banalisierung anheim fallen könnte noch bevor er sich vollständig etabliert hat, wie der Schriftsteller Ángel Olgoso anmerkt.15 Sonderbarerweise richten sich diese Widerstände nicht gegen die Bücher selbst, ihre literarische Qualität oder den Wert an sich, was zunächst durchaus hilfreich sein könnte, sondern gegen die Gattung als solche in ihrer Gesamtheit. Hierzu zählt die zurückhaltende Rezeption von David Lagmanovichs Sammlung La otra mirada. Antología del microrrelato hispánico,16 sowie die abwertenden Kommentare eines bekannten spanischen Schriftstellers, der ähnliche Urteile schon dem Theater gewidmet hatte. Diese kritische Perspektive nimmt ebenfalls die überraschende Rezension aus der Feder eines bekannten Kritikers zu den schon angeführten kompletten microrrelatos von Merino ein,17 der erste spanische Schriftsteller, der sich entschließt, seine gesamten Stücke in einem Band zu veröffentlichen und im Schlepptau dieses letzten, der Schriftsteller Alejandro Gándara,18 und nicht zu vergessen, die Einschätzungen der Schriftstellerin und Artikelschreiberin Laura Freixas.19 Im Einzelnen: Lagmanovichs Textsammlung ist die erste, in deren Vorwort der Versuch unternommen wird, eine Geschichte der Gattung vom Modernismo bis zur Gegenwart anzubieten und auch eine Sammlung von ihm als repräsentativ empfundener Texten aus der hispanischen Welt dargeboten wird. Es ist daher eine
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Vgl. J. F. Yvars: El arte de la vista. In: La Vanguardia (Barcelona) (4.11.2007). Vgl. Joseluís González (Hg.): Dos veces cuento. Antología de microrrelatos. Madrid: Ediciones Internacionales Universitarias 1998; José Díaz (Hg.): Ojos de aguja. Antología de microcuentos. Barcelona: Círculo de Lectores 2000; Clara Obligado (Hg.): Por favor sea breve. Antología de relatos hiperbreves. Madrid: Páginas de Espuma 2002; Miguel R. Díez (Hg.): Antología de cuentos e historias mínimas (Siglos XIX y XX). Madrid: Espasa-Calpe 2002; Benito Arias García (Hg.): Grandes minicuentos fantásticos. Madrid: Alfaguara 2004; Enrique Turpin (Hg.) Fábula rasa. Barcelona: Alfaguara 2005; und Neus Rotger/Fernando Valls (Hg.): Ciempiés. Los microrrelatos de ‘Quimera’. Barcelona: Montesinos 2005. Vgl. das Interview von Miguel Arnas Coronado: Ángel Olgoso: El relato poético. In: Adamar. Revista de creación, VI, 25, http://www.adamar.org/narrativa. Veröffentlicht in Palencia: Menoscuarto 2005. Der Herausgeber des Bandes weigert sich, die Texte microrrelatos zu nennen (er bezeichnet sie minificciones, obwohl sie es nicht sind) und in der Liste der Titel, welche die Sammlung zusammensetzen, nennt er sie sogar cuentos. Vgl. seinen Blog El Escorpión vom 3.9.2007, http://www.elmundo.es/elmundo/2007/ 09/03/escorpion/1188776398.html. Vgl. Laura Freixas: Cortos. In: La Vanguardia (Barcelona) (1.11.2007).
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Anthologie der Sprache aller Autoren, die, ungeachtet ihres Geburtsortes, sich der spanischen Sprache bedienen. Es ist die erste systematische Arbeit, die sich der Geschichte und der Texte mit klaren, strikt literarischen Kriterien annimmt. In Spanien hat die Kritik ungeachtet der Rezensionen von José María Pozuelo und dem Schriftsteller José María Merino dem Buch nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die es verdient. Die Meinung Javier Marías sollte auf der anderen Seite aber nur als unbedachte Antwort aufgefasst werden, als voreilige Einschätzungen aus dem Mund eines bezogen auf das Thema Unkundigen. Um das Phänomen der literarischen ‘Überausbeutung’ zu kritisieren, greift er auf das Beispiel jener «gehaltlosen Texte» zurück «die dessen ungeachtet berühmt werden, wie das schon unerträgliche Geschichtchen des Dinosauriers von Monterroso, welches obendrein eine noch unerträglichere Strömung der Nachahmung hervorbrachte, die der besagten ‘microrrelatos’ oder so ähnlich, mit denen sich viele witzige Schriftsteller brüsten und wohl fühlen. Sie sind so billig …».20 Wieder einmal wird der Teil für das Ganze gehalten … Wichtiger scheint mir hingegen der abfällige Kommentar, den Santos Sanz Villanueva der Gattung in einer Rezension über die Sammlung der microrrelatos von Merino äußert, obwohl er zu mehr Ausgeglichenheit und Grundwissen über das von ihm beurteilte Fach verpflichtet wäre. Er beginnt mit der Feststellung, dass er «wenig Sympathie für den microrrelato und andere zu der Familie gehörenden Arten» hegt, so als ob eine ganze Gattung (die er als «Untergattung» bemängelt) nur in ihrer Gesamtheit beurteilt werden könnte und nicht in jeder ihrer konkreten Ausführungen; des Weiteren schreibt er die «Blüte der kleinsten Formen der Erzählung» den «merkantilen Zwecken» zu, als ob es irgend einen wirtschaftlich bedeutenden Markt für diese Art Bücher gäbe. Drittens behauptet er, dass sie für ihn «fast immer mehr oder weniger gelungene greguerías [sind], Einfälle mit ungleichem Erfolg und manchmal hege ich den Verdacht, […] dass sie Ausdruck eines Maßes an Müßiggang und Unfähigkeit [sind]», womit er seine Unkenntnis der Materie beweist, über die er mit solcher Strenge urteilt. Schließlich stellt er fest, dass «alles dabei ist, Gutes und Schlechtes, Treffendes, von aufschlussreichen Metaphern bis zu Trivialitäten», was nicht viel besagen muss, denn Ähnliches kann man über den Roman, die Dichtung, das Theater sagen, ohne dass deswegen irgend jemand sich anmaßt, die angeführten Gattungen in ihrer Gesamtheit zu disqualifizieren. Seine Rezension muss eine solche Aufmerksamkeit geweckt haben, dass die sonst so nachsichtigen Kritiker der Zeitschrift Leer ihm gehörig und zu Recht die Ohren lang zogen.21 Meine persönliche Einschätzung als
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Vgl. Javier Marías: O que yo pueda un día asesinar en mi alma. In: El País Semanal (Madrid) (27. Mai 2007), S. 122. «Textos inanes que sin embargo hacen fortuna, como el ya insoportable cuentecillo del dinosaurio de Monterroso, que encima ha dado lugar a toda una corriente imitativa aún más insoportable, la de los llamados ‘microrrelatos’ o algo así, con los que muchos escritores chistosos se sienten ufanos y cómodos. Cuestan tan poco …» Vgl. den anonymen Kommentar in Leer 187 (November 2007), S. 56–57: «poca simpatía por microrrelatos y especies familiares»; «conveniencias de mercado»; «florecimiento de las formas más pequeñas del relato»; «casi siempre me parecen greguerías más o menos afortunadas, ocurrencias con desigual nivel de acierto y en algún caso sospecho […] que esconden dosis de vagancia e incapacidad»; «hay de todo, bueno y malo, aciertos equiva-
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Gewohnheitsleser sowohl von Büchern mit microrrelatos als auch von Romanen ist, dass der Durchschnitt dieser oberhalb dem von Romanen liegt. Dennoch werden im Gegensatz mehr Bücher veröffentlicht, die sich als gute Romane entpuppen, als gute Bücher mit microrrelatos publiziert werden. Im zweiten Teil seiner Rezension befasst Sanz Villanueva sich mit dem Band von Merino, um uns mitzuteilen, dass ihn «die zusammenhängende Lektüre solcher Stücke ermüdet».22 Offensichtlich kann man Bücher mit microrrelatos nicht so lesen, als würde es sich um einen Roman handeln, man darf ihn nicht einmal so durchsehen, wie ein Band mit Erzählungen. Ihr Aufbau fordert einen anderen Rhythmus, es muss in kleinen Dosen gelesen werden, indem man die Stücke annimmt und wieder aufgibt, mit einer dem Lesen eines Gedichtes, einer greguería oder eines Aphorismus ähnlichen Geschwindigkeit, denn jeder Text muss seinen eigenen Wert besitzen, obwohl es nicht unüblich ist, dass mehrere microrrelatos eine Serie komplementären Sinns ergeben. Daher muss man das Vergnügen, das die Lektüre der microrrelatos hervorrufen könnte, sich erst setzen lassen, damit man seine Substanz aufnehmen kann. Das Beste wäre, die Texte langsam durchzulesen, mit einer bestimmten Bedachtsamkeit, indem man zwischen den Seiten des Bandes hin und her geht, um eine Übersättigung zu vermeiden und nicht die vielen verschiedenen Handlungen durcheinander zu bringen. Den Bänden von microrrelatos muss man demzufolge gegenübertreten, indem man versucht, die Stücke einzeln zu verstehen, sie zu hierarchisieren ohne dabei die möglichen Verbindungen, die zwischen ihnen entstehen können, außer acht zu lassen, und den Wert hervorzuheben, den diese Verbindungen auch zu anderen Stücken des Bandes haben. In Anlehnung an ein Gedicht von Jorge Guillén, das Eduardo Chillida inspiriert hat, könnte man sagen, dass der microrrelato «überzeugend aber federleicht sein muss…» In einem kürzlich erschienenen Artikel über eine Zeichnungssammlung von Juan Abelló, nahm Antonio Muñoz Molina Bezug auf die Leichtigkeit, die Unmittelbarkeit, das Geheimnisvolle und das Präzise (und verglich sie auch mit der Musik von Erik Satie oder dem Jazz von Lester Young und Thelonius Monk) gemessen an der Unvollständigkeit dieser Zeichnungen (von Goya, Manet, Klimt, Gauguin und Picasso), so dass wir, aufgrund ihrer Besonderheiten und nach der gelungenen Analyse des spanischen Schriftstellers, sehr gut die Zeichnung, den apunte, mit dem microrrelato in Beziehung setzen können.23 Den schon genannten Band von José María Merino nimmt ein weiterer spanischer Schriftsteller, der – soweit wir wissen – noch nie microrrelatos geschrieben hat zum Ausgangspunkt, um in seinem Blog (unter dem Titel El Escorpión) zu erklären, dass es «in dieser Gattung einen ganzen Schwall Nichtiges gibt, […]. Der Anfänger meint, das Wesentliche sei die Kürze. Doch die Kürze hat viele Gesichter. In dieser Kunst des Schreibens versteht man unter Knappheit die Zusammen-
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lentes a reveladoras metáforas y trivialidades»; «resulta cansina la lectura encadenada de piezas semejantes.» Ebda. Vgl. Antonio Muñoz Molina: Lecciones de dibujo. In: El País (Madrid) (22.12.2007). Die Ausstellung ‘Maestros modernos del dibujo’ war im Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid zu sehen.
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fassung, das heißt, die Fähigkeit mittels eines narrativen Minimums, ein symbolisches Maximum zu erreichen […]. Daher sind Knappheit und Länge nicht dasselbe. Es handelt sich um zusammengefasstes Denken, nicht um wenig Schreiben […]. Die Gefahren des microrrelato bündeln sich in seiner Tendenz zum Witz, zur vorgeblichen Leere und zur Metaliteratur».24 Letztendlich nichts Neues. Und schließlich, (ich möchte mich nicht mit weiteren Beispielen dieser Art aufhalten), kommentiert Laura Freixas folgendes in einem Beitrag, an den ich mich hier erinnere, weil er eine Idee beinhaltet, die sich des öfteren in den spanischen Medien wiederholt: «Der Aufschwung der Kurzgeschichte, sogar der hyperkurzen – die flash fiction, die jetzt so aktuell ist, dass sie sogar in den Schreibwerkstätten beigebracht wird und Wettbewerbe organisiert werden – ist noch nie richtig gelungen.» Erstaunlich ist jedoch der Anlass, der sie solche Schlussfolgerungen ziehen lässt: Es erschienen keine Erzählbände oder Bücher mit microrrelato auf den Bestseller-Listen, wie es beim Roman der Fall ist. Wenn wir diese Logik weiter verfolgen, dann könnte man behaupten, dass ebenso wenig die Dichtung, das Theater, der Essay oder die Erzählung geglückt sind. Das Beklemmende daran ist, dass wieder einmal das Kriterium zur Bewertung eines literarischen Buches ausschließlich der Verkauf ist, ohne dass seine literarische Qualität zählt oder in Betracht gezogen wird. Sorge bereitet hier vor allem die Feststellung, dass es Schriftsteller gibt, sogar unter jenen, dessen Werk dem Kommerziellen keinen Tribut zollt, wie es im Falle derjenigen geschieht, mit denen wir uns zur Zeit beschäftigen, die die perverse Logik des Marktes übernehmen, die Bequemlichkeit und den Verzicht, den dieser ihnen vorschreibt, mit dem Ziel, ihr Publikum zu erweitern, obwohl diese nicht immer Leser sind. Die kürzeste Narrativik wurde mit bedeutenden Varianten ebenfalls in den zentraleuropäischen Literaturen gepflegt, von Brecht und Kafka bis Robert Walser und Slawomir Mrozet. Nicht zu vergessen sind Alfred Polgar und István Örkény. Auch in Frankreich (der soeben wiederentdeckte Félix Fénéon [1861–1944], Samuel Beckett oder Francis Ponge), in Italien (Giorgio Maganelli), in Brasilien (Marcelino Freire ist dort Herausgeber der Os cem menores contos brasileiros do século. Cem escritores brasileiros do século XXI. Cem microcontros inéditos25) und vor allem die USA.26 Die einzige, alles erfassende Sammlung die ich kenne, ist die von Gianni Totti I racconti più brevi del mondo.27 David Lagmanovich hat auf die wichtigsten amerikanischen Anthologien, die der Gattung gewidmet sind aufmerksam gemacht, ausgehend von der sicher ersten in der Zeitschrift TriQuar-
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El Escorpion: «en este género hay mucha tontería, a raudales […] El neófito suele pensar que el asunto es la brevedad. Lo que pasa es que la brevedad tiene muchas faces. En este arte de la escritura se entiende ‘brevedad’ por síntesis, oséase, por la capacidad de obtener un máximo simbólico de un mínimo narrativo […]. De modo que brevedad y longitud no son lo mismo. Se trata de pensamiento sintético, no de escribir poco […]. Los riesgos del microrrelato se concentran en su tendencia hacia el chiste, hacia el vacío presuntuoso y hacia la metaliteratura.» Veröffentlicht in Sao Paulo: Ateliê 2004. Vgl. Vicente Molina Foix: Félix Fénéon. Novelas en tres líneas. In: Letras libres (México D.F.) 26 (November 2003), S. 18–21. Veröffentlicht in Rom: Fahrenheit 451 1995.
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terly (1976) mit dem Titel Minute Stories, in denen in der Mehrzahl amerikanische Schriftsteller zusammen mit denen aus anderen Ländern aufgeführt werden; bis hin zu den Short shorts: An anthology of the shortest stories (1982), herausgegeben von Irving Howe und Ilana Weiner Howe. Das Bezeichnende daran ist, dass in der Tradition der englischen Literatur, die short, short stories bis zu 10 Seiten lang sein können, so dass wir von Texten und Erzählintensitäten ganz unterschiedlichen Ausmaßes sprechen. Aus der Durchsicht von fünf bekannten amerikanischen Anthologien durch Lagmanovich sollte auch die von Robert Shapard und James Thomas hervorgehoben werden: Sudden fiction: American short-short stories. Daraus lässt sich ableiten, dass – während das Panorama englischsprachiger Autoren repräsentativ ist (Hemingway, Carver, Updike, etc.) – die Präsenz hispanischer Autoren beliebig und unzureichend ist, indem sie Unkenntnis über die Entwicklung der Gattung in spanischer Sprache an den Tag legen.28 Der microrrelato muss immer ein Text, eine Gattung mit offenem Zugang sein (darauf legt zu Recht der in Barcelona lebende exilkubanische Schriftsteller Rolando Sánchez Mejías Wert29) und nicht ein Format, das strengen und verschlossenen Regeln unterworfen ist, wie einige Schriftsteller und Kritiker meinen. Wenn etwas einen guten microrrelato ausmacht, dann seine Fähigkeit, die Grenzen der Fiktion zu erweitern, indem er uns das zeigt, was sonst niemand vorher wahrgenommen hat, denn es ist genau in diesen unscheinbarsten Details, im Reichtum einer neuen Nuancierung, in der ein normaler Blick nicht das Subtile schätzt, wo man oftmals die Komplexität findet und Wahrheiten aufnimmt, die man nicht kannte. Es ist in diesem Bereich, in dem der microrrelato zur vollen Entfaltung kommen sollte, in dem er den Leser zu verführen versuchen sollte. Es ist letztendlich die absolute Überzeugung, dass es Erfahrungen und Eindrücke gibt, die nur mittels eines microrrelato wiedergegeben werden können und daher auch keine andere Ausdrucksmöglichkeit besitzen. Ist das vielleicht keine Gattung? Eine Gattung, die sich auf das stützt, was Robert McKee, ein Meister des Drehbuches als das «Gesetz der abnehmenden Wiederkehr» bezeichnet, in dem ausgeführt wird, dass «je öfter Du eine Ausdrucksform benutzt, umso weniger effektiv wird sie. Je mehr Worte es in einem Film gibt, umso weniger ausdrucksstark sind sie».30 Walter Benjamin stellte fest, dass Definieren unfruchtbar mache, auch wenn eine solche Auffassung auf beständige Gattungen wie die Dichtung, den Essay oder den Roman angewendet werden können. Im Falle eines so jungen Formats wie des microrrelato müssen wir von Ideen, einer vorläufigen Konzeptualisierung ausgehen, auch wenn diese noch sehr unbestimmt ist. Wenn man die Texte mit
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Vgl. David Lagmanovich: Nuestros microrrelatos en algunas antologías en lengua inglesa. In: Andrés Cáceres Milnes/Eddie Morales Piña (Hg.): Asedios a una nueva categoría textual: el microrrelato. Valparaíso: Universidad de Playa Ancha 2005, S. 15–31. Dieses schreibt er Neus Rotger in einer E-Mail vom 29. November 2005, als dieser ihn anschreibt, um ihn für einen eventuellen Beitrag für die Zeitschrift Quimera, in dem der Gattung gewidmeten Teil zu gewinnen. Vgl. Lluis Amiguet: Ley del retorno menguante. In: La Vanguardia (Barcelona) (5.12.2002): «cuanto más a menudo utilizas un recurso expresivo, menos efectivo es. Cuanto más palabras hay en una película, menos cosas pueden decir.»
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einbezieht, könnte davon ausgegangen werden, dass der microrrelato mit maximaler Intensität und Knappheit, und damit entsprechend kurz, eine Geschichte erzählen soll, eine Handlung, die eine Bewegung voraussetzt. Wir könnten sie daher als eine Geschichte definieren, die in ein paar Zeilen erzählt wird, weil es nicht notwendig ist, sie in einem breiteren Raum darzustellen. Wenn das Lied ein zwei Minuten dauerndes musikalisches Stück ist, so ist der microrrelato eine Erzählung, die sich auf der Länge einer Seite entwickelt, aber auch in anderen Fällen in fünf Zeilen erzählt werden kann. Oftmals stellt der microrrelato sich als ein zweideutiger Text dar, der eine Wiederaufnahme einer geschichtlichen Episode nutzt, indem er mittels der Überhöhung ihrer Komplexität, der Ironie, der Grenzüberschreitung oder der Irreverenz sie neu fasst als Auszeichnung oder Parodie, wie es die argentinische Schriftstellerin Luisa Valenzuela in ihrer für die Zeitschrift Quimera31 geschriebenen Poetik aufzeigt. Wenn der Schriftsteller die Perspektive der Tradition besitzt, dann muss und darf er sie auch überschreiten, wie es immer von ihm erwartet wird. In einem guten microrrelato wird immer mehr angedeutet als gezeigt und seine Anekdote muss über sich selbst hinausgehen, um einen neuen oder wunderbaren Aspekt der Wirklichkeit zu zeigen. Eine weitere Eigenheit dieser literarischen Modalität liefern die Leser. Es handelt sich um eine anspruchsvolle Gattung, da diejenigen, die sich ihr nähern wollen, mit der kulturellen und literarischen Tradition vertraut sein müssen, um am Textverständnis teilhaben zu können; nicht in der infantilen und rudimentären Art der so genannten Cybertexte, in denen Stoff ergänzt oder reduziert wird, sondern indem man versucht, so tief wie möglich das zu verstehen, was der Autor zum Ausdruck bringt oder aber nur andeuten möchte. Es wäre daher nicht umsonst zu untersuchen, welche Mechanismen und warum sie eine Wirkung auf den Leser ausüben. Außerdem wäre es von Vorteil zu wissen, ob es einen Unterschied gibt zwischen der mündlichen und schriftlichen Rezeption. Man müsste auch berücksichtigen, dass der microrrelato, als Gattung, die sich außerhalb des Marktes bewegt, über die Grenzen hinausreicht, die der Poesie gesetzt sind, da er sich den Luxus des Experimentierens erlauben kann, solange er wie heute kommerziellen Bedingtheiten nicht unterworfen ist, unter denen der Roman und sogar das Theater zu leiden haben. Ein gutes Beispiel wäre der Dialog, der hin und wieder zwischen Text und Bild entsteht, vor allem wenn die Autoren auch für diese verantwortlich sind, wie es der Fall bei Antonio Fernández Molina, Antonio Beneyto, Javier Tomeo, Rafael Pérez Estrada, José Luis Jover, Pedro Casariero oder José María Merino ist. So auch zwischen dem Text und der Photographie, wie es in einer Vielzahl von Blogs offensichtlich wird, in denen man diese Gattung praktiziert. Die Bücher mit microrrelatos, aber vor allem die einzelnen Stücke, müssten einen kurzen und bündigen Titel haben, ohne damit ihren Reiz für den Leser zu verlieren, aber ihm einen einfachen Hinweis für ein besseres Selbstverständnis an die Hand zu geben, ohne damit konkrete Spuren über ihren Sinn zu verraten. In einigen Fällen können die Titel länger als der Text selbst sein (wie zum Beispiel in mehreren Stücken der so genannten Cuentos del lejano oeste (2003) von Luciano
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Vgl. Neus Rotger/Fernando Valls (Hg.): Ciempiés, S. 43.
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G. Egido) oder er bündelt den gesamten Inhalt («Der Geschmack eines Croissants um neun Uhr morgens in einem alten Café des Viertels, in dem Rodolfo Mondolfo sich mit seinen 97 Jahren noch jeden Mittwoch Nachmittag mit seinen Freunden trifft» lautet der Titel von Luisa Valenzuela, dessen gesamter Text ist: «Wie gut»32); er stellt die Antwort oder Lösung dessen, was in dem kurzen Korpus des Stücks erzählt wird dar, wie es zum Beispiel in diesem Stück von Pedro Ugarte geschieht: Die Bücher, die Zigaretten, dein Sohn und seine Spielsachen, das Gesicht deiner Frau. Du bist zu Hause und es ist Nacht und du knipst das letzte Licht aus. Wie komisch: plötzlich verschwindet alles.33
Oder aber es wird ein gleichwertiger Dialog zwischen der Überschrift und dem Text eingeführt, die sich im Sinn und Dimension angleichen, so dass einer der Widerschein des anderen ist (als Beispiel dient Juan Pedro Aparicio: «Ludwig der XIV/Ich»). Wenn ein microrrelato von Beginn an die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich ziehen will, dann wäre vielleicht sein nächstliegendster Schluss das Paradoxe, das Ambigue und das Beunruhigende. Im Gegensatz zu dem. was oftmals wiederholt wird, muss die Einheit oder die Aneinanderfügung der Gesamtheit der Stücke in einem Band nicht einen Mehrwert an sich bedeuten, nicht einmal ein wünschbares Verfahren sein, sondern nur eine andere Art, die Stücke zu ordnen und zu präsentieren. Obwohl es richtig ist, dass durch diesen Mechanismus, die Beziehungen, die sich zwischen den Stücken aufbauen der Gesamtheit eine größere Komplexität verleihen können, ist dies wünschenswert auch wenn es auf Kosten der Vielseitigkeit geht. Der anmaßende und ironische Titel dieses Beitrages ist nichts weiter als der Ausdruck eines Wunsches, den ich nicht zu erfüllen vermag. Der kanadische Architekt Frank O. Gehry bemerkte, dass die zukünftigen, an den Gigantismus gewöhnten Generationen schwerlich die kleinen Dinge, die Miniaturen akzeptieren werden. Wenn, wie es scheint, Museen, Konzerte, Flugzeuge vergrößert werden müssen, um die Aufmerksamkeit der Mehrheit auf sich zu lenken, müsste der Künstler die Dimensionen seiner Werke auch ausdehnen (ich erinnere nur an das, was in totalitären Regimen geschah) und der Schriftsteller eines Bestsellers müsste nur mehr seine Romane als große Wälzer schreiben. In diesem widrigen Umfeld, in einem aberwitzigen Spiel der Dimensionen, in dem scheinbar die Größe sehr wichtig ist, finden die Dichter, die Komponisten von Liedern oder die Autoren von microrrelatos trotz allem ihre eigene Nische; dafür müssen sie sich selbst davon
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«El sabor de una media luna a las nueve de la mañana en un viejo café de barrio donde a los 97 años Rodolfo Mondolfo todavía se reúne con sus amigos los miércoles a la tarde»; «Qué bueno.» Pedro Ugarte: Materiales para una expedición. Relatos & híbridos. Madrid: Lengua de Trapo 2002, S. 179: «Los libros, los cigarrillos, tu hijo y sus juguetes, el rostro de tu esposa/Estás en casa, y es de noche, y apagas la última luz. Qué extraño: de pronto todo desaparece.»
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Fernando Valls
überzeugen, dass sie sich an eine riesige Minderheit wenden, an jene Empfänger, die Juan Ramón Jiménez im Auge hatte. Der Leser der microrrelatos muss daher immer wachsam, aktiv und anspruchsvoll sein. Ich glaube, dass der microrrelato sich in der heutigen Situation, ähnlich wie das Gedicht oder die Erzählung, in ein wahrhaftiges Terrain der Freiheit und des Experiments verwandelt hat,34 am Rande der Moden und der schrecklichsten Laster des literarischen Kommerzes, Krebsgeschwulst der heutigen Literatur, das am meisten diejenigen Schriftsteller ergreift, die bei ihrem literarischen Weg von ihren eigenen Ansprüchen ausgingen. Umso mehr muss der Kritiker, der Wissenschaftler vor allem die Vollkommenheit, die literarische Qualität suchen, ohne der postmodernen Nachgiebigkeit des anything goes zu verfallen, mit der schließlich jedwedes Ergebnis erläutert und sogar – was mir noch viel schlimmer erscheint , gerechtfertigt wird. «Nur das Außergewöhnliche verdient es, erzählt zu werden»35 bemerkt Olgoso, aber es müsse so komplex und subtil wie möglich erzählt werden, mit den wenigsten narrativen Elementen. Dann, und nur dann, haben wir einen guten microrrelato vor uns. Daher müsste diese Gattung der Knappheit und der Ellipse, da wir sie als eine Art Wahrheit betrachten, die keine andere Dimension zulässt, immer einen mikroskopischen Blick auf die Wirklichkeit werfen, eine neue Art um ihre Intensität zu vergrößern, um das zu beobachten oder zu schätzen, was vielleicht noch nie jemand vorher gesehen hat. Zum Schluss, nachdem die Geschichte und die Theorien der Gattung durchlaufen wurden, wissen wir nur, dass ein guter microrrelato, in seiner beständigen Erforschung und Suche, bestrebt sein sollte uns zu beunruhigen oder zumindest, uns ein Zögern oder ein Lächeln zu entlocken.36
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So unterstreicht Ángel Olgoso in dem schon angeführten Interview (Miguel Arnas Coronado: Ángel Olgoso: El relato poético), dass es keinen Abfall gebe, dass «die klassische Erzählung schon gezähmt worden ist» und dass «der microrrelato die Aufgabe hat, ihr den Gnadenstoß zu geben, um so die Worte von all ihren Fesseln zu lösen und ihm so seine magische und subversive Kraft zurückzugeben.» «[E]l cuento clásico ha sido domesticado»; «el microrrelato tiene la misión de darle el tiro de gracia, liberando así las palabras de toda atadura y devolviéndole su poder mágico y subversivo.» Ebda., «Sólo lo excepcional es digno de ser contado.» Ich möchte mich bei Julio Prieto für seine Hilfe bedanken, und bei Ottmar Ette für seine Offenheit und Großzügigkeit sowie für seine Wirkungskraft.
4 En el mar del vientre, todos somos viajeros y migrantes. Del útero al mundo, del mundo a la tierra, vamos pasando las estaciones de elemento en elemento. Del agua al aire, del aire al fuego, de ahí a la tierra y viceversa. Así infinitamente. Desterrados, desuterados, con la nostalgia de una mar que nos contuvo en la cuna, vamos por el mundo añorando raíces. Pero el agua no tiene donde aferrarse: hay que dejarse llevar con su devaneo. 4 Im Meer des Bauches sind wir alle Reisende und Migranten. Vom Uterus in die Welt und von der Welt zur Erde durchlaufen wir die Zeiten von Element zu Element. Vom Wasser in die Luft, von der Luft zum Feuer, von dort zur Erde und umgekehrt. Und so unendlich weiter. Von der Erde, aus dem Uterus vertrieben, voller Sehnsucht nach einem Meer, das uns in seinem Wiegen enthielt, queren wir die Welt auf der Suche nach Wurzeln. Aber das Wasser besitzt nichts, woran man sich festklammern könnte: Man muß sich von seinen Wogen wegtragen lassen. Esther Andradi
David Lagmanovich (Tucumán)
Was ist ein microrrelato – und was ist keiner? Die beachtliche Verbreitung des microrrelato in spanischer Sprache seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jhs. hat die Vermutung aufkommen lassen, es handele sich hier um eine Entwicklung, deren Ursprung auf amerikanischem Boden zu finden sei. Später habe sich diese in Spanien fortgesetzt, so dass sich dann auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans eine Weiterentwicklung ergeben habe, wie dies beim Modernismo schon der Fall gewesen sei. An dieser Stelle sollen einige Worte von Jorge Luis Borges aus seinem Essayband Otras inquisiciones [Befragungen] aus dem Jahr 1952 in Erinnerung gerufen werden: Die Illusionen des Patriotismus sind unendlich. Im ersten Jahrhundert unseres Zeitalters hat Plutarch sich über diejenigen lustig gemacht, die behaupteten, der Mond in Athen sei besser als der Mond in Korinth; Milton merkte im 17. Jh. an, dass Gott die Angewohnheit hatte, sich zuerst seinen Engländern zu offenbaren; Fichte behauptete Anfang des 19. Jh., dass es offensichtlich dasselbe sei, Charakter zu besitzen und Deutscher zu 1 sein.
Wie auch bei vielen anderen Fragen, gilt es nach meiner Meinung bei diesem Thema einen flexiblen Standpunkt einzunehmen. Können wir die Aufhebung von Redundanzen, die Minimierung des Umfangs und die Intensivierung der rein künstlerischen Werte, gegenüber all jenen Dingen, die wir als ‘dekorativ’ ansehen, als ausschließliches Kennzeichen der spanischsprachigen Welt betrachten? Natürlich nicht! Die genannten Eigenschaften stehen für eine Etappe in der Entwicklung der abendländischen Ästhetik und sind weniger Ausdruck eines mexikanischen, argentinischen oder eines allgemein hispanischen Phänomens. Diese Etappe ist Teil eines Entwicklungsabschnitts oder eine Veränderung der Tonlage, die sich nicht nur in der Literatur vollzieht, sondern sich auch parallel auf anderen Gebieten der Kunst manifestiert. Nicht allzu weit von den impliziten Prinzipien für das Schreiben von microrrelatos entfernen sich das Interesse an den dichten lyrischen Kompositionen aus Japan, das die Schlussphase des Modernismo kennzeichnet, die ästhetischen Prinzipien der Komponisten des Wiener Kreises um Arnold Schönberg und Alban Berg; das Beharren auf dem Minimalismus der Bauhaus-Gruppe um Walter Gropius, Mies van der Rohe und ihre Partner, (zu der, nicht zu vergessen, auch Paul Klee zählte); oder etwas früher die scharfe Kritik
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Jorge Luis Borges: Nuestro pobre individualismo, Otras inquisiciones. In: Obras completas 1923–1972. Buenos Aires: Emecé 1973, S. 658–659, hier S. 658: «Las ilusiones del patriotismo no tienen término. En el primer siglo de nuestra era, Plutarco se burló de quienes declaran que la luna de Atenas es mejor que la luna de Corinto; Milton, en el XVII, notó que Dios tenía la costumbre de revelarse primero a Sus ingleses; Fichte, a principio del XIX, declaró que tener carácter y ser alemán es, evidentemente, lo mismo.» (Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Übersetzerin dieses Beitrags.)
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David Lagmanovich
Claude Debussys an der Wagnerianischen Üppigkeit. Und diese Prinzipien entfalten sich nicht nur in hispanischen Ländern, wie die Beispiele von Franz Kafka und Bertolt Brecht in der deutschsprachigen Literatur zeigen. Alle sind Meister der Knappheit, der notwendigen Knappheit, wie es in Ernest Hemingways Ablehnung dessen, was er ‘fine writing’ zu nennen pflegte, deutlich wird und seiner Bevorzugung einer ungeschminkten und direkten Ausdrucksweise; oder, danach, das Erzählwerk des Ungarn István Örkény, mit seinen ‘Cuentos de un minuto’ [Minutennovellen]. Die Feststellung des umfangreichen Aufkommens minifiktionaler Ausdrucksformen in den unterschiedlichen Sprachen bedeutet zur Kenntnis zu nehmen, dass das Prinzip an sich unterschiedliche Ausbildungen haben kann. Zum Beispiel ist die Kürze immer ein Grundsatz, der eingehalten werden soll, aber was man unter ‘kurz’ oder ‘lang’ versteht, hängt vom historischen und kulturellen Kontext ab. Daher beschert uns die Sammlung von ‘short shorts’ von Irving Howe und seiner Frau in einer der ersten Anthologien dieser Gattung2 noch einige Überraschungen. So beziehen die beiden Herausgeber zum Beispiel eine Erzählung von Jorge Luis Borges ein, die hispanische Leser nie als microrrelato bezeichnet hätten. Denn in jenen Jahren war es unvermeidlich, die minificción in direkter Gegenüberstellung zur Erzählung zu betrachten. Außerdem sind die angelsächsischen Erzählungen weitaus länger als die hispanischen. So erscheint die Erzählung ‘El muerto’ [Der Tote] von Borges äußerst kurz im Vergleich zu Beispielen von William Faulkner, Ring Lardner, W. Somerset Maugham oder einem Großteil der Erzählungen Hemingways. Aber wir – das heißt, die spanischsprachigen Leser – bezeichnen als microrrelatos oder microcuentos Texte erheblich geringeren Umfangs, wenn sie zudem einige weitere Bedingungen erfüllen. Auf dieser Grundlage könnten und müssten wir wohl auch mit einer umfassenderen Untersuchung der supranationalen Wirklichkeit des microrrelato beginnen. So sollten wir gemeinsam zum Beispiel die Texte ‘Die Wahrheit über Sancho Pansa’ von Franz Kafka, ‘Teoría de Dulcinea’ [Die Theorie der Dulcinea] von Juan José Arreola, ‘El precursor de Cervantes’ [Der Vorläufer von Cervantes] von Marco Denevi und einige jener Texte mit cervantinischer Inspiration, die Juan Armando Epple in seine Sammlung MicroQuijotes3 aufgenommen hat, analysieren. Auch ein Vergleich der minifiktionalen Sichtweise, die Örkény vom Leben unter einer unbarmherzigen Diktatur entwickelt, mit dem was uns Autoren in unserer Sprache über die Diktatur und die Diktatoren – zum Beispiel in Chile – gezeigt haben, könnte weiterführen. Man sollte auch die Spuren Kafkas in unserer Kultur der Kürze bis zu Beispielen verfolgen, wie die des Kubaners Virgilio Piñera oder des Spaniers Javier Tomeo u.s.w. Mit anderen Worten, es ist an der Zeit, nicht mehr nur zu erklären, was Kürze ist (ich bevorzuge den Begriff Knappheit [concisión]4)
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Irving Howe/Ilana Weiner Howe (Hg.): Short Shorts. An Anthology of the Shortest Stories. Boston: David R. Godine 1982. Juan Armando Epple (Hg.): MicroQuijotes. Barcelona: Thule 2005. Ein weiteres nützliches Wort für eine Beschreibung wäre die Zurückhaltung [parquedad]. Vgl. folgende Aussage der Kritikerin der bildenden Künste: «die Zurückhaltung als Rekurs der expressiven Erweiterung», sagt Elba Pérez in einer monographischen Schrift
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sondern uns, mit Grubenlampen ausgestattet, der Erforschung der Höhlen und Tiefen der uns interessierenden Gattung widmen. Dafür schlage ich vor, von einer operativen Charakterisierung (also nicht von einer Definition, die immer beschränkend ist) des microrrelato auszugehen. Wir sollten den microrrelato als eine literarische Gattung begreifen, die drei wichtige Eigenschaften oder Merkmale aufweist: 1) die Kürze oder Knappheit (ein leicht zu erkennendes äußeres Merkmal), 2) die Narrativität (inneres Merkmal, das vom Kritiker analysiert werden kann und 3) die Fiktionalität, die überwiegend von der Haltung oder der Absicht des Schriftstellers abhängt. Kürze (im üblichen Sinne des Wortes), Narrativität und Fiktionalität sind die Koordinaten des microrrelato. Da wir uns zunächst auf deren Identifizierung beschränken, verzichten wir auf weitere mögliche Merkmale, zum Beispiel, der proteische Charakter, auf den sich Violeta Rojo bezieht, die Überschneidung mit Formen extraliterarischen Schreibens, die das Interesse von Dolores Koch weckte, oder der fraktale Charakter, den Lauro Zavala in seine Analyse einfließen lässt. Jedenfalls können solche Merkmale dazu dienen, Subtypen des microrrelato zu erkennen, die aber erst in einem zweiten Moment von Interesse sind. Wir verzichten auch zunächst auf das, was Alfonso Reyes ‘die Art und Weisen’ (maneras) der Literatur nannte, das heißt, Prosa und Lyrik. Die Benutzung der vorgeschlagenen Triade könnte die im Titel dieser Arbeit angeführte Frage ‘Was ist ein microrrelato – und was ist keiner’ beantworten. Wenn in einem Text die Merkmale der Kürze, der Narrativität und der Fiktionalität festgestellt werden können, dann handelt es sich ohne Zweifel um ein Exemplar der von uns untersuchten Gattung. Wenn er Kürze und Narrativität beinhaltet, die behandelten Tatsachen aber nicht fiktionaler Art sind, so kann es sich entweder um einen Zeitungstext handeln, der sich mehr mit dem befasst, was schon geschehen ist, als jenem, was noch geschehen könnte, oder um eine Gebrauchsanweisung bzw. Schriftstück, in dem eher das Faktische und nicht das Fiktionale dominiert. Wir können natürlich, wie durchaus üblich, auf Texte stoßen, die gleichzeitig narrativ und fiktional aber nicht kurz sind, so dass sie einer anderen Spielart der Erzählkunst angehören, wie zum Beispiel der Geschichte oder der nouvelle. Demgegenüber steht das gnomische Schreiben, das Aphorismen, Sprichworte und ähnliche Ausdrucksformen mit einer eminenten Kürze hervorbringt, aber kaum etwas der anderen beiden Kennzeichen aufweist. Es ist fast überflüssig zu betonen, dass das Vorhandensein von nur einem der Merkmale nicht ausreicht, damit dieser Text in die Welt des microrrelato aufgenommen werden kann. Vielleicht sollten wir uns zusätzlich zwei weitere Fragen stellen: Warum schreiben und lesen wir microrrelatos? Wir müssten den Ursachen nachgehen, die den Menschen dazu bringen, microrrelatos zu schreiben und nicht etwa Sonette, Erzählungen mit konventioneller Länge oder soziologische Essays. Aus einem bestimmten Blickwinkel sind die Texte mit denen wir uns befassen, von geringer Attraktivität: Sie sind zu kurz, was beim Leser zu Ratlosigkeit führen kann, oft unverständlich für Leser, die an den
––––––– über den argentinischen Künstler Zdravko Ducmelic, in: Hugo Monzón u.a.: 40 dibujantes argentinos. Buenos Aires: Ediciones Actualidad en el Arte 1987, S. 291.
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Konsum weniger anspruchsvoller kultureller Produkte, wie Fernsehserien oder Zeitungschroniken gewöhnt sind und uns letztlich in weit von der Wirklichkeit entfernte Situationen führen. Schließlich sind sie dazu angetan, nicht existente Welten vorzustellen, die natürliche Ordnung der Dinge aufzuheben, und Wortgebilde einzuführen, die wir früher mit dem wenig eleganten Wort Galimathias bezeichneten und die heutzutage als grenzüberschreitende sprachliche Erfahrungen bekannt sind. Dazu zählen unmögliche Syntax, selten verwendete phonetische Assoziationen und eine Wortwahl, die man mit Hilfe des Wörterbuches entschlüsseln muss. Allem Anschein nach hat sich ganz plötzlich der Prosaschreiber in einen Dichter verwandelt. Es ist daher unverzichtbar, dem Sinn dieser Art des Schreibens auf die Spur zu kommen, das sich im gegebenen Moment vielleicht in eine Form des Lesens verwandelt, um dann erneut Gegenstand des Schreibens zu werden. Vorläufig sollten wir annehmen, dass der erste Schriftsteller der microrrelatos auf dieser Welt sich von niemanden inspirieren ließ: Es gab noch keine schriftlichen minificciones und ganze Bibliotheken erschauderten unter einer Art Schöpfungsaura. Der notwendige Impuls sie zu schreiben, geht jeder Versuchung voraus, sie zu lesen: Er ist das perfekte Beispiel des Dranges der Kreation. Dieses Wort Drang, ist das erste von dem ausgehend wir erklären können, warum ein microrrelato überhaupt geschrieben wird. Ein solcher Text ist nicht geplant, wird nicht mit einem zukünftigen Verleger vereinbart, er wird nicht mit dem Ehepartner oder den Freunden besprochen, er unterliegt nicht einmal einer Gliederung. Er ist reine Art des Schreibens, welche unmittelbar aus dem Bewusstsein des Schriftstellers entspringt, wenn etwas im Inneren ihm sagt, dass er das schreiben muss, was sich in seinem Innersten geformt hat. Und dieser Impuls ist insofern dringlich, als die nicht geschriebenen microrrelatos – die nicht auf dem Monitor oder dem Papier erscheinen, weil der Autor eigentlich seinem inneren Aufruf nicht folgt – wie die gefühlten aber nicht geborenen Gedichte sind: Sie behindern die Funktionen des Körpers und können zu Krankheit und Verzweiflung führen. Regel Nr. 1 des erfahrenen Lesers: Man muss all jenen misstrauen, die einen auf der Straße anhalten, um uns minimale Erzählungen – oder Gedichte – vorzutragen, die sie ‘noch’ nicht geschrieben haben, denn es könnte sein, dass sie nur einen Vorwand suchen, um sie nie zu schreiben. Wenn man niemals den Drang verspürt, einen microrrelato zu schreiben, dann ist man für diese Aufgabe nicht geeignet und es wäre besser, sich dem Schreiben einer anderen Art von Texten zu widmen. Die ganze Weltliteratur baut auf einem stillen Pakt auf, der so alltäglich ist, dass man meist nicht daran denkt. Es ist der Vertrag, der zwischen dem Autor und dem Leser geschlossen wird. Der Schriftsteller sagt (ohne diese Worte auszusprechen, nur mit seiner Haltung): Ich schlage Dir vor, dass Du mich liest, denn ich habe Dir etwas zu erzählen. Der Leser seinerseits sagt: Ich lese Dich, aber nur wenn Du mir etwas zu erzählen hast; wenn Du nichts Interessantes anbieten kannst, dann behalte deine Ware und lass mich meiner Wege gehen. Von diesen beiden Voraussetzungen wird die zweite vom Leser auferlegt und beeinträchtigt sehr die Lesbarkeit des Werkes, seine Öffnung. Der Leser kündigt letztendlich an, dass er aufhören kann es zu tun. Aber es gehört auch zu den prioritären Notwendigkeiten des Autors; daher können wir sie als eine der Gründe an-
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geben, weshalb wir microrrelatos schreiben und eben auch warum wir sie lesen. Wer eine Geschichte erzählt, verspürt die Notwendigkeit dies zu tun und wenn er es getan hat, um sich selbst zu lesen. Wenn es nicht so wäre, dann würde auch er das Vorhaben abbrechen. So war es seit jeher, in der primitiven Gesellschaft, in der Renaissance und der Moderne. Ein Freund hält Dich an der Ecke an und ist erpicht darauf, Dir zu erzählen, was ihm mit seiner Frau widerfuhr; Dein Kind kommt von der Schule heim und – obwohl Du es vielleicht nicht hören willst –, musst Du Dich seiner Auseinandersetzungen mit den Mitschülern annehmen; der Taxifahrer kann nicht anders als Dir seine Unbill über die Versorgung mit Flüssiggasflaschen erzählen. Es gibt sehr wenige Menschen (und das sind im Allgemeinen jene, die zum Psychiater gehen, um sich von ihm erklären zu lassen, was mit ihnen geschieht), die nicht das Bedürfnis des Erzählens haben. Natürlich kann man auf ganz verschiedene Art und Weisen erzählen: Der Drang des Schreibens und das Bedürfnis des Erzählens erklären die Ausbildung der Erzählkunst, aber nicht notwendigerweise des microrrelato. Weder Cervantes noch Dickens oder Proust wussten von seiner Existenz; und im Falle, dass sie es geahnt haben, haben sie ihm sicherlich keine Beachtung geschenkt. Hier kommen andere Faktoren ins Spiel, die mit der Gesellschaft zu tun haben oder noch genauer, damit wie der Schriftsteller auf die vorherrschenden Tendenzen der ihn umgebenden sozialen Wirklichkeit reagiert. Die gegenwärtige Gesellschaft – am Ende des 19. Jhs., des gesamten 20. Jhs. und seit Anfang des 21. Jhs. – hat sich in atemberaubender Geschwindigkeit in Richtung dessen bewegt, was wir den Diskurs der Kürze nennen können. Dieses bedeutet nicht, dass die althergebrachten ausführlichen Formen verschwunden wären, denn es gibt noch Leser, die ausgedehnte Romane bevorzugen und ganze Romanzyklen verfolgen, die es ihm ermöglichen, sich auf eine sehr angenehme Form in einem bestimmten zeitlichen und örtlichen Bereich aufzuhalten. Aber gleichzeitig müssen wir erkennen, dass die Dimensionen vieler Kunstwerke eine außergewöhnliche Wichtigkeit erlangt haben und damit die möglichen Schwierigkeiten, die sie im Moment der Aufnahme durch den Leser (d.h. im Moment der Rezeption) bereiten können. Der Umfang der Erzählung, des Buches, des Essays und des Theaterstückes ist nicht mehr vorgegeben, und alles deutet darauf hin, dass die Möglichkeit der Veränderung, mit der sich der Autor auseinander setzen muss, viel mit der daraus folgenden Länge zu tun hat. Als Antwort auf diese soziale Bedingtheit haben einige Erzähler sich für kurze und kürzeste Formen entschieden. Sie verkleinern jede Art von Beschreibung bis sie nur mehr eine Andeutung ist; sie streichen die Abschweifungen und vermeiden jede Wegstrecke – jeden Umweg –, der nicht einen Fortschritt der Handlung mit sich bringt. Es ist ein Prozess, der historisch betrachtet, halluzinierend wirken kann. Wenn wir früher eine vier bis fünf Seiten umfassende Erzählung als ‘kürzeste Erzählform’ betrachteten, beschreiben wir damit nur mehr ein Erzählstück, das vier bis fünf Absätze lang ist. Später zentrierten wir uns auf zwei Absätze, auf einen einzigen Absatz und schließlich auf ein paar Zeilen. Das extreme Beispiel bieten uns jene Autoren an, die Texte verfassen, die ich ‘hyperkurze Texte’ nenne: Kompositionen von einer oder zwei Zeilen.
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Mehr als die Kürze, ein sehr oft genutztes Wort, bevorzuge ich wie gesagt das Merkmal ‘Knappheit’ [concisión] zu nennen. Kurz ist nicht dasselbe wie knapp: Es kann Knappheit in einem größeren Textumfang vorliegen, nämlich dann wenn nichts zu viel, wenn die richtigen Wörter und kein unnötiges Wort verwendet werden. Knappes, angemessenes Schreiben: die Tugend der großen Schriftsteller, mit wenigen Worten viel zu sagen. Eine Nebenbemerkung: Alle Epochen der Geschichte weisen kurze literarische Texte auf. Einige Parabeln der Heiligen Schrift, so wie die Maximen und Aphorismen, die casos der traditionellen Volksliteratur und bestimmte poetische Formen sind Beweis dafür. Aber wenn wir von diesen Gattungen sprechen, dann beziehen wir uns nicht notgedrungen auf Erzählformen. Was es jedoch bis etwa vor einem Jahrhundert nicht gegeben hat, war eine mit Bedacht gewählte knappe Erzählform – eine Art, wenn man so will–, die dieses Merkmal als eine ihrer wesentlichen Charakteristika besitzt. Der Drang, das Bedürfnis zu erzählen und die Eroberung der Knappheit sind die ersten drei Eigenschaften des microrrelato, diejenigen, die seine Bestimmung ausmachen. Diese Charakteristiken sind die, die man beim Schreiben von microrrelatos verteidigen muss; es sind Verlockungen, denen wir hoffnungslos verfallen. Es gibt weitere Aspekte dieser Fragestellung: Es kommt unbedingt darauf an, zu erkennen, was der Schriftsteller von microrrelatos während des Prozesses des Schreibens fühlt. Das ist zentral: Wir schreiben microrrelatos, weil wir in Erfahrung bringen wollen, wie die Schöpfung eines üblicherweise als ‘runde Sache’ Bezeichneten sich vollzieht. Es handelt sich um ein sich selbst genügendes literarisches Produkt, das für sich selbst steht und auf einen Blick erkannt werden kann und trotz der Geschwindigkeit des Schreibens und der damit verbundenen Schnelligkeit des Lesens unterschiedliche und tiefe Bedeutungen in sich birgt. Die Eigenständigkeit ist wesentlich. Wir wollen nicht nur kurze Texte schreiben, sondern unser Bestreben ist es, dass ihre Kürze bedeutsam, reich an Werten ist, so dass nur ein uns Schriftstellern ähnlicher Leser («Mon semblable, mon frère») in der Lage ist, sie zu entziffern. Wir säen Bedeutungen und wünschen uns, dass sie von unseren Lesern entdeckt werden. Was schon einmal möglich war anhand des mittelalterlichen Rondeaus, des Sonetts der Renaissance, eines Becquer’schen Reimes, einer mit der neuen hispanoamerikanischen Erzählkunst verwandten Geschichte, versuchen wir jetzt durch den microrrelato zu erreichen. Aber ist es möglich, dass die Minifiktion diese Ebenen erreicht, dass sie unsere Erwartungen auf diese Art und Weise erfüllt? Wir meinen, ja. Vor allem sind es die wahren Künstler des microrrelato, welche die Grundvoraussetzungen stillschweigend annehmen, die wir vor kurzem angesprochen haben: Sie folgen dem Drang des Kreativen, sie kommen dem Bedürfnis des Erzählens nach und sind bereit, in unzähligen Überarbeitungen des Textes ihr Bestes zu geben, um dem Auftrag der Knappheit zu folgen. Und ein jeder der geschriebenen Texte kann als eine eigenständige Wirklichkeit betrachtet werden, die ihren Eigenwert hat, obwohl der kreative Impuls – und später der Prozess des Lesens – sie miteinander in Verbindung setzen kann.
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Aber das ist noch nicht genug. Die erwähnten Merkmale sind Teil der Schaffung des microrrelato, aber sie sind nicht die Einzigen. Es gibt eine besondere Art, diese Texte zu verfassen. Es ist schwierig zu verallgemeinern, weil jeder Autor von microrrelatos – von Kafka bis Borges und von Monterroso bis José María Merino – seine eigene Poetik besaß oder besitzt. Aber wir können eine Annäherung versuchen. Es gibt äußere und innere Merkmale des microrrelato. Zu den äußeren gehört, ob man will oder nicht, die offensichtliche Seite der Knappheit: die Kürze. Die microrrelatos (das scheint eine Binsenwahrheit) sind kurz; es ist nicht möglich, dass eine zehnseitige Erzählung in unserem Korpus minifiktionaler Texte ihren Platz finden kann, und wenn es jemand tut, dann sollte er seine Vorstellungen über diese Gattung genauer definieren. Es gibt jene, welche die Kürze außen vor lassen, ihre definitorische Bedeutung nicht nennen möchten, weil sie diese für offensichtlich halten. Aber sie verwechseln die Reihenfolge der Argumentation: Die Aussage, dass ein microrrelato eine ultrakurze Erzählform ist, bedeutet nicht, dass es sein einziges zutreffendes Merkmal sei. Ultrakurze Texte zu verfassen ist nicht gleichzusetzen mit dem Schreiben eines microrrelato. Anders formuliert: Nicht alle ultrakurzen Texte sind microrrelatos (es können Kurzgeschichten, Aphorismen, auch Miniaturessays und vieles andere mehr sein), aber alle microrrelatos sind ultrakurze Texte. Zusätzlich gibt es interne Eigenschaften, die mit dem Prozess des Schreibens zu tun haben. Im Allgemeinen besitzt der microrrelato – der nicht angelegt wurde wie es beispielsweise beim Essay oder dem Roman üblich sein kann – einen aussagekräftigen Titel, den man praktisch als unerlässliches Element dem Text zurechnen muss. Zudem beginnt er meistens in medias res, so dass das Auftaktereignis nicht das im chronologischen Sinn erste Geschehen sein muss; er erlaubt eine Vielzahl an diskursiven Strategien in seiner wenig breiten Ausarbeitung und endet mit einem Schluss, der ohne die Überraschung des Lesers zu erfordern, ihm doch eine bestimmte Erkenntnis schlussfolgernder Art anbietet, ohne dabei in Abschweifungen oder einer Art Nebel (und noch weniger Nebulosität) den Sinn zu verlieren. Dieses sind die bedeutendsten Merkmale des microrrelato, seine grundlegende Identitätsbeschreibung. Wir dürfen uns dennoch nicht daran stören, wenn wir weitere Merkmale in minifiktionalen Texten aufspüren, die wir bewundern: Es gilt zu berücksichtigen, dass man Vorgaben der Poetiken am besten entweder nicht beachtet oder sie anpasst. Früher oder später wird alles, was einmal Material der Regelbestimmung war zu Material der Auflehnung. Schließlich schreiben wir microrrelatos aus einem oftmals wenig beachteten Grund: Wir tun es weil es uns Freude bereitet. Die Literatur, die unter Opfern verfasst wurde, wird nicht notwendigerweise den Leser rühren. Der Genuss der Literatur ist doppelt und gegenseitig: Die Freude des Schriftstellers beim Schreiben soll beim Leser denselben Genuss hervorrufen. Der gegenwärtige microrrelato ist das beste Beispiel einer wohl verstandenen hedonistischen Anschauung der Literatur, eine Vorstellung, die den Wunsch und die Suche nach Genuss durch das Wort aufnimmt und zugleich erfüllt. Und wir verdienen es, sie zu besitzen, als Ausgleich für das viele Leid, das uns die heutige Welt tagtäglich bereitet.
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Fünf Feststellungen, fünf Merkmale, die uns vielleicht helfen, unsere am Anfang gestellte Frage zu beantworten: Warum schreiben wir microrrelatos? Die wahren Schriftsteller tun es nicht, um die Richtung der abendländischen Literatur zu verändern oder durch das Offizium des Schreibens die Lebensbedingungen der benachteiligten Schichten der Gesellschaft zu verbessern. Der Schriftsteller schreibt diese Texte vor allen Dingen, weil er dazu den Drang verspürt; auch, weil er das Bedürfnis verspürt, etwas zu erzählen; sofort, weil sein Erzählmodell sich durch die Knappheit auszeichnet. Dann erscheint das Verständnis der Autonomie des Erzählens, was den Blick auf die verschiedenen Erzählarten eröffnet, die der microrrelato anbietet. Und vor allem ersinnt und schreibt der Schriftsteller minimale Fiktionen, weil er die Freude am Schreiben empfindet und sie seinen Lesern übermitteln möchte. Wir rufen nochmals folgende Formulierungen ins Gedächtnis: Drang, Bedürfnis, etwas zu erzählen, Knappheit, Autonomie, Freude am kreativen Schreiben. Die Untersuchung des microrrelato oder zumindest die Einschätzung dieser Form – sowohl seitens des Autors als auch des Kritikers – ist seit ihren Anfängen, die wir auch Entdeckung nennen könnten, in der nur von der Anzahl an Worten bestimmter Kompositionen ausgegangen wurde, schon deutlich vorangekommen. Jetzt wissen wir mehr und wie es immer der Fall ist, lieben wir das, was wir besser kennen, umso mehr. Wir kommen nun zu der anderen Frage: Warum lesen wir microrrelatos? Seit den ersten Untersuchungen dieser Form war immer die Rede davon, dass das moderne Leben mit seinem immer schnelleren Fortschreiten nach künstlerischen Formen verlangt, die diesem Stil oder den Ansprüchen der gegenwärtigen Epoche zu entsprechen vermögen. Wenn die Geschwindigkeit oder die fehlende Zeit Merkmale der zeitgenössischen Gesellschaft sind, dann werden jene literarischen Texte, die weniger Zeit für die Lektüre beanspruchen, mehr Erfolg haben; daher auch die Bevorzugung der kurzen Formen in Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Filmen, Musikkompositionen… In dieses Panorama der allgemeinen Reduzierung der Ausarbeitungen, die früher kein Problem darstellten, scheinen sich die microrrelatos einzufügen. Etwas Wahres ist daran. Solange nicht das Gegenteil bewiesen wird, kann man diese Argumentation annehmen: Das Lesen von microrrelatos passt sich der Nutzung der Zeit durch Männer und Frauen in der Gegenwart an. Es ist denkbar, dass es noch andere Möglichkeiten für den fälschlicherweise so bezeichneten ‘Konsum’ der Literatur gibt – wir haben schon darauf hingewiesen, dass es ausführliche Formen gibt, die mit den kürzeren koexistieren –, aber ohne Zweifel passt sich die Praxis des literarischen Schaffens, heute wie auch früher, den gesellschaftlichen Bedingungen, den Bezügen ihrer Konzeption und Rezeption an. Andererseits lesen wir microrrelatos, weil uns die Schau der Intelligenz fasziniert. In anderen Zeiten wären wir vor allem im Roman von den Geschehnissen in der Handlung, der unerbittlichen Präsenz des Zufalls, der permanenten Überraschung in den Bann gezogen worden, die uns der Lauf der Dinge bereithielt: Insbesondere der Feuilletonroman spezialisierte sich darauf, mittels häufiger Anschlä-
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ge auf die Sensibilität des Lesers mit unseren Gefühlen zu spielen. Heutzutage schätzen wir hingegen die Klarheit des Effektes, den uns der microrrelato vorschlägt. Wir genießen sogar die mögliche Überraschung am Ende der Geschichte, ohne uns darüber zu ärgern, dass der Autor mit unseren Erwartungen gespielt hat. Wenn es ein Text ist, der mit der Neuauflage klassischer Situationen experimentiert oder zur Parodie gerät, schätzen wir das Geschick, mit der eine Geschichte wiedererzählt wird, die wir immer nur in einer bestimmten Spielart kannten, die aber jetzt eine neue und überraschende Geschmacksvariante hat. Wir können uns besser mit dem Schriftsteller durch seinen Text verständigen, wir verfolgen mit mehr Aufmerksamkeit nicht nur das, was passiert, sondern was er anstellt, sowohl mit den Worten als auch mit uns. Man hat schon insbesondere mit Bezug auf die Neue Lateinamerikanische Literatur so viel vom ‘Leser als Komplizen’ gesprochen, dass wir deshalb vielleicht den präzisen Augenblick verpasst haben, in dem wir uns alle auf diese Komplizenschaft eingelassen haben. Nach einer ersten Lektüre glauben wir zu wissen, was in einem microrrelato geschieht, doch wir kehren zu ihm zurück um neue Nuancen festzustellen und vor allem, um noch mehr die Strategie des Schriftstellers zu würdigen. Ohne dass wir ein Wort mit ihm wechseln, halten wir ein Zwiegespräch mit ihm, gleichzeitig billigen oder kritisieren wir seine Vorgehensweise, obwohl wir in unserer Rolle als Leser nicht in der Lage sind, eine bessere Lösung als die uns angebotene zu finden. Das heißt: Das, was uns als Leser der microrrelatos angeboten wird, ist nicht mehr und nicht weniger als die Beteiligung. D.h., eine neue Art der Lektüre. Das Gedicht, sogar das beste Gedicht, sagt uns ‘ich bin hier’. Der microrrelato hingegen sagt uns dasselbe, aber in anderer Form: er stellt fest ‘ich bin hier, und du sagst mir dann, was du von mir hältst’. Es gibt Berührungspunkte zwischen dem Schreiben eines Gedichtes und eines microrrelato; aber die Interaktion, auf die wir uns bezogen, tritt tatsächlich in keiner anderen zeitgenössischen literarischen Form so hervor. Der kurze Korpus des microrrelato ist kein Objekt, das man passiv betrachten könnte, sondern ein Raum des Austauschs zwischen dem Schriftsteller und dem Leser. Eine alternative Form – wenn auch nicht gegensätzlicher Art – für dieselbe Aussage ist, dass wir uns während des Lesens des microrrelato auch als Autoren fühlen. Es gibt so viele Auslassungen, Anspielungen und Suggestionen im microrrelato, dass unsere Aufgabe dann darin besteht, ihn nicht nur aufzunehmen, sondern ihn aufzubauen. Vermutlich konstruieren wir ihn so entlang der Linien, die vom Autor nahegelegt wurden (das heißt, vom ersten Autor, denn wir als Leser sind die zweiten Autoren). Wir fühlen uns wie vor eines dieser Wortspiele gestellt, die die neueste Spielart der Kreuzworträtsel sind, bei denen wir, ausgehend von einem vermeintlichen Chaos, einen Sinn schaffen. Wenn wir sie genau betrachten, ist ein jeder gelungener microrrelato ein ‘Bausatz’, um den treffenden Ausdruck von Cortázar in unserem Kontext zu verwenden. Der Text aktualisiert und konfiguriert sich mit jeder Lektüre; danach fällt er in den Ruhestand zurück, das heißt, er ist nicht mehr als Worte auf dem Blatt. Man kann behaupten, dies sei eine aktuelle und reale Voraussetzung eines jeden literarischen Textes. Dabei gibt es aber Abstufungen und in der Kunst sind
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Nuancen ausschlaggebend. Der microrrelato bietet eine freiere Perspektive im Vergleich zu den anderen Gattungen, sogar mit dem ihm am nächsten stehenden Fall, der Kurzgeschichte. Wenn man unveröffentlichte Texte liest, sagen wir oft, dass einer von ihnen ‘in Wirklichkeit kein microrrelato sondern eine Kurzgeschichte ist’ (oder ein Gedicht in Prosa oder ein Fragment einer Autobiographie). Dann wird uns widersprochen, ‘er ist doch nicht zu lang! ’ Dann sollte man daran erinnern, dass die Kürze nicht das einzige maßgebliche Merkmal des microrrelato ist. Vielleicht erkennen wir es in dem jeweiligen Moment nicht, aber wenn wir den besagten Text stärker auf der Seite der Geschichten und nicht in dem Bereich der microrrelatos sehen, dann ist dies sicherlich auf die Hingabe an den Text zurückzuführen, d.h. auf die Art, mit der sich der Leser auf ihn einlässt. Es gibt eine Phänomenologie der Lektüre, die sich nicht sehr von dem unterscheidet was man ‘eine Ästhetik der Rezeption’ nennt. Einige Theoretiker haben unsere Reaktion auf poetische Texte oder die, die wir als solche betrachten, untersucht; mit anderen Worten, sie waren daran interessiert herauszufinden, was uns dazu bewegt, einige Texte als poetische Texte zu sehen und andere nicht. Solche Studien fehlen für den microrrelato. Die theoretischen Texte, die wir ihm bis heute gewidmet haben, konzentrieren sich augenscheinlich auf eine Ästhetik des microrrelato vom Standpunkt des Autors, auf eine Philosophie der Komposition. All dieses Material ist sehr interessant, aber es fehlt in hohem Maße die andere Seite der Frage, d.h. eine Ästhetik des microrrelato vom Standpunkt des Lesers. Bis jetzt habe ich noch keinen Text über den microrrelato angeführt, um meine eigene Position zu untermauern und auszubauen. Ich werde es jetzt tun, indem ich auf die Worte des spanischen Schriftstellers Luis Landero zurückgreife, der folgendes im Vorwort zu einer Anthologie der microrrelatos aus Extremadura schreibt: Ich spreche, also erzähle ich. Ich schaue, also erzähle ich. Ich höre, also erzähle ich. Dieses ist die Beschäftigung von allen, von den Schriftstellern und Rednern im Allgemeinen: Die Welt, das Leben in eine Erzählung zu verwandeln. Erinnern und träumen sind auch Arten der Erzählung. Tretet ein und schaut. Miniaturen, einige wenige Zeilen, die anstreben, ein Stückchen der Wirklichkeit zu enthalten, Andeutungen, syntaktische Striche, die dem Form verleihen, was in seinem Ursprung vielleicht nur ein Blick war – weil dort alles ist, was man zum Schreiben oder um etwas von der Welt zu verstehen braucht: Schauen, mit Aufmerksamkeit, mit Geduld, mit Schärfe. Und so ist die Wirklichkeit, das tägliche Leben, voll von kleinen Erzählungen, von Blitzen, die in der Nacht der Seele mögliche Geschichten erleuchten, von Entwürfen, in dem nie ein Akteur, ein Konflikt, eine Zeit und ein Raum, ein Anfang der Handlung fehlen.5
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Luis Landero: Vorwort. In (ders.): Relatos relámpago. Mérida: Junta de Extremadura 2007, S. 10–11, hier S. 10: «Hablo, luego cuento. Miro, luego cuento. Oigo, luego cuento. Cuento, luego existo. Ese es el oficio de todos, escritores y oradores en general: convertir en relato el mundo, la vida. Recordar y soñar son también modos de narración. Entren y vean. Miniaturas, unas pocas líneas que aspiran a contener un pedacito propio de realidad, sugerencias, trazos sintácticos que le dan forma a lo que en su origen fue quizá una mirada – porque ahí está todo lo que uno necesita saber para escribir o para
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Und Landero endet: Tretet ein und schaut. Diese kleinen Geschichten sind auf der einen Seite das älteste Produkt des alten Handwerks des Erzählens und auf der anderen Seite unser narratives tägliches Brot. Und wenn wir dieses Buch lesen sollten, lasset uns die Augen von ihm auf6 richten, um weiter im Buch der Welt zu lesen. Das ist eine mögliche Art der Rettung.
Ich fasse zusammen: Die hier vorgestellten Anmerkungen sind ein notwendigerweise bescheidener Beitrag zur Untersuchung des Themas; ein sehr weites Thema, das sich mit den sehr kurzen Erzählungen beschäftigt. Uns ist bekannt, dass uns nie zu untersuchende Aspekte fehlen werden und auch nie alte und neue microrrelatos, die es zu entdecken gilt. Wir werden immer weiter Beschäftigung haben, weil es immer microrrelatos geben wird und in ihnen werden wir einen Spiegel finden – nicht den einzigen, aber doch einen sehr bedeutsamen – der Literatur unserer Zeit. Übersetzt von Rosa María S. de Maihold
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entender algo del mundo: mirar, con atención, con paciencia, con acuidad. Y así, la realidad, el diario vivir, está lleno de relatitos, de relámpagos que iluminan en la noche del alma historias posibles, de esbozos donde no falta nunca un personaje, un conflicto, un tiempo y un espacio, un principio de trama.» Ebda., S. 11: «Entren y vean. Estos cuentecitos son por un lado el fruto más antiguo del viejo oficio de narrar, y por otro, el pan nuestro narrativo de cada día. Y cuando leamos este libro, levantemos los ojos de él para seguir leyendo en el libro del mundo. He ahí un modo posible de salvación.»
Otro hombre invisible No hubo cambio alguno en su organismo, pero las miradas de todas las mujeres lo atravesaban y se perdían en el infinito. Noch ein unsichtbarer Mann Es gab keinerlei Veränderung in seinem Organismus, aber die Blicke aller Frauen durchliefen ihn und verloren sich im Unendlichen. David Lagmanovich
Julio Prieto (Madrid – Potsdam)
Less is more: die Würze der Kürze am Río de la Plata Die Kunst erweitern? Nein. Sondern geh mit der Kunst in deine allereigenste Enge. Und setze dich frei. Paul Celan Umfassende Bücher zu verfassen ist ein mühsamer und verarmender Wahnsinn: Das Ausbreiten einer Idee auf 500 Seiten, deren perfekte mündliche Ausführung in ein paar Minuten passt. Das beste Verfahren ist, vorzutäuschen, dass es die Bücher schon gibt und eine Zusammenfassung, einen Kommentar anzubieten.1
Diese berühmten Worte aus dem Vorwort des El jardín de senderos que se bifurcan (1941) fassen die narrative Poetik eines der fruchtbarsten Schriftsteller des 20. Jahrhundert zusammen, – Jorge Luis Borges – die man nicht nur wegen ihres sinnbildlichen Charakters berücksichtigen sollte, sondern auch weil sie einem der nutzbringendsten Stränge der rioplatensischen Literatur Gestalt verleiht: Sie chiffriert eine literarische Schicklichkeit in der Wirksamkeit der Kürze. Hierzu zählen einige der bedeutendsten Werke dieser Literatur, die sich von der Mikrotextualität der Vorworte, ‘Zusammenfassungen und Kommentare’ von Borges bis zu den Kurzgeschichten und humoristischen Vignetten von Julio Cortázar, Cristina Peri Rossi, Luisa Valenzuela und Ana María Shua erstrecken. Aus der Perspektive der stilistischen Schicklichkeit und einer Dynamik des Distinktionsgewinns, die als Kennzeichen der hohen Literatur gelten können, wird einer der deutlichsten Zugänge zur Mikronarrativität erkennbar oder mit anderen Worten, zum microrrelato als einer im Entstehen begriffenen erzählerischen Gattung, die zunehmend Gegenstand kritischer Überlegungen der letzten Jahrzehnte war.2 Die Texte von Borges
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Jorge Luis Borges: Vorwort zu El jardín de senderos que se bifurcan. In (ders.): Obras completas. Barcelona: Emecé 1989, Bd. I, S. 429: «Desvarío laborioso y empobrecedor el de componer vastos libros: el de explayar en quinientas páginas una idea cuya perfecta exposición oral cabe en pocos minutos. Mejor procedimiento es simular que esos libros ya existen y ofrecer un resumen, un comentario.» Unter den kritischen Annäherungen an den microrrelato könnten die Arbeiten von David Lagmanovich: Márgenes de la narración: el microrrelato hispanoamericano. In: Chasqui (Tempe) XXIII (1994), S. 29–43; (ders.): El microrrelato: teoría e historia. Palencia: Menoscuarto 2006; Violeta Rojo: Breve manual para reconocer microcuentos. México: UNAM 1997; Lauro Zavala: Cartografías del cuento y la minificción. Sevilla: Renacimiento 2004; (ders.): La minificcción bajo el microscopio. Bogotá: Universidad Pedagógica Nacional 2005 und die monographischen Zeitschriftenbeiträge in Quimera (2002), herausgegeben von Lauro Zavala: La minificción en Hispanoamérica und von Fernando Valls und Rebeca Martín: El microrrelato en España hervorgehoben werden. Ebenso die Anthologien von Francisca Noguerol Jiménez (Hg.): Escritos disconformes: nuevos modelos de lectura. Congreso Internacional de Minificción 2002. Salamanca: Universidad de Salamanca 2004; sowie Juan Armando Epple: Brevísima relación:
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und Cortázar, Arreola und Monterroso, die gewöhnlich in den Anthologien als klassische Beispiele dieses Genres erscheinen, zählen zu dem, was man den ‘Königsweg’ der Mikrotextualität nennen könnte. Auf diesem Königsweg treten ebenfalls ähnlich gelagerte Phänomene und Tendenzen hinzu, die im Umfeld der modernen Kunst für eine Reduzierung derselben auf ihre Fundamente oder ihren minimalen Ausdruck eintreten. Beispiele hierfür sind die ‘reine Poesie’ von Paul Valéry, Juan Ramón Jiménez oder Jorge Guillén, oder die ultraistische Dichtung von Gerardo Diego oder des jungen Borges. Auch die haiku von Ramón López Velarde oder die ‘microgramas’ von Jorge Carrera Andrade, die satirischen Aussprüche von Ramón Gómez de la Serna, nicht wenige avantgardistische und neoavantgardistische plastische Positionen (vom Kubismus, über den Konstruktivismus oder der abstrakten Kunst bis hin zum Minimalismus und der Konzeptkunst) würden hierzu gehören, sowie auch Anton Weberns Zwölftonmusik oder letzten Endes, die moderne Architektur von Le Corbusier und Mies van der Rohe (von dem das Diktum stammt, das als Titel dieses Essays dient und von dem übrigens hier in Berlin einige seiner herausragenden Werke bestaunt werden können3). In dem Maße, in dem der microrrelato nicht nur als Gegenstand kritischer Reflexionen betrachtet wird, sondern auch als Objekt des literarischen Konsums, der die Gunst des Lesepublikums genießt, ist es möglich, einen weiteren Weg der Annäherung vorzuschlagen. Die Mikronarrativität könnte als kulturelles Phänomen, das in den letzten Jahrzehnten einen wachsenden Aufschwung erfahren hat, mit anderen Kurzformen und auch mit der Wahrnehmungsbeschleunigung, die typisch für die Massenkultur des Spätkapitalismus sind, in Verbindung gebracht werden: Mit dem Videoclip, dem Werbespot, der E-Mail, den SMS, den Blogs oder dem Logbuch. In diesem Sinn sollte man die Mikronarrativität sowohl mit dem Antrieb und der Nachfrage des Marktes des Kulturkonsums, als auch mit den Theorien des Paul Virilio über die semiotische Beschleunigung in Beziehung bringen. Sie würde somit in das Forschungsfeld der «Dromologie» Eingang finden, jene Wissenschaft, deren Aufgabe Virilio in der Erforschung der Effekte der Geschwindigkeit auf die moderne Kultur sieht.4 Im engeren literarischen Umfeld könnte der microrrelato hierdurch mit anderen Formen der Vereinfachung und Vulgarisierung der Schriftkultur in Verbindung gebracht werden, wie die light-Literatur, die Kurzfassungen oder kompakten Volksausgaben der Klassiker;5 dies wäre eine Erklärung dafür,
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Antología del micro-cuento hispanoamericano. Santiago: Editorial Mosquito 1990; Lauro Zavala: Relatos vertiginosos: antología de cuentos mínimos. México: Aguilar 2000; David Lagmanovich (Hg.): La otra mirada: antología del micorrelato hispánico. Palencia: Menoscuarto 2005; Neus Rotger/Fernando Valls (Hg.): Ciempiés: los microrrelatos de ‘Quimera’. Mataró: Ed. de Intervención Cultural 2005 und Laura Pollastri: El límite de la palabra: antología del microrrelato argentino contemporáneo. Palencia: Menoscuarto 2007. Nennenswert ist die Neue Nationalgalerie in der Potsdamer Straße – eine Art Parthenon, der auf seine minimale Ausdrucksform reduziert wurde. Vgl. Paul Virilio: Vitesse et politique: essai de dromologie. Paris: Galilée 1977. Über das Phänomen der Kurzfassung des Literarischen, vgl. Adam Gopnik: The Corrections: Abridgment, Enrichment and the Nature of Art. In: The New Yorker (New York) XXII (Oktober 2007), S. 66–76.
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weshalb diese narrative Form in letzter Zeit Angriffsziel aus den Reihen der hohen Literatur war. So hat einer der herausragendsten Vertreter der Gegenwart, Javier Marías, in einer Kolumne der Zeitung El País Semanal das Phänomen der literarischen ‘Überausbeutung’ kritisiert, indem er als Beispiele anführte «jene gehaltlosen Texte die dessen ungeachtet berühmt werden, wie das schon unerträgliche Geschichtchen des Dinosauriers von Monterroso, welches obendrein eine noch unerträglichere Strömung der Nachahmung hervorbrachte, die der besagten ‘microrrelatos’ oder so ähnlich…».6 Am Rande dieser Annäherungen – die der hohen Literatur einerseits und andererseits die der kommerziellen oder Konsumliteratur – gibt es noch einen dritten Weg, der zur Mikronarrativität führt: Dieser steht im Zusammenhang der Erosion dessen, was für Lyotard ‘Erzählungen’ der Modernität7 sind, womit die eigentliche Bestimmung von Narrativität in Frage gestellt wird. Damit handelte es sich also um eine Reihe von Textanwendungen, die von dieser Krise der Narrativität ausgehend eine Verminderung des Literarischen fördern und fernab des Begriffs der Ökonomie oder der stilistischen Schicklichkeit die Gestalt einer rhetorischen Armut, eines ‘schlechten’ Schreibens annehmen.8 Aus diesem Zugang offenbart sich eine heimlichere, aber nicht minder reiche Ader der Mikronarrativität am Río de la Plata: Zu dieser Linie gehören sowohl die ‘abgedrifteten’ Pseudo-Erzählungen und narrativen Fragmente von Macedonio Fernández, die apokryphen MiniBiographien von Juan Rodolfo Wilcock als auch die ‘unterbrochene’ und abschweifende Fiktionalität der Novellen von César Aira, die paradoxe und redundante Kunst der Aphorismen in den ‘Stimmen’ des Antonio Porchia, die phantastische und gattungsüberschreitende Lyrik von Marosa di Giorgio oder die beschleunigten, sich auf halben Weg zwischen Lyrik und Fiktion befindenden Phantasien von Wáshington Cucurto und so bedeutende Phänomene wie die Mini-Bücher des von ihm gegründeten Verlages Eloísa Cartonera. Bücher aus Pappe, schlecht eingebunden und mit geringer Haltbarkeit, deren Verlagsphilosophie sich aus einem Strom ‘schlechter’ rioplatensischer und lateinamerikanischer Schreibkultur nährt und deren Erfolg als Projekt eines gemeinschaftlichen Aktivismus vergleichbar ist mit dem der ‘Mikrokredite’ des Ökonomen und Friedensnobelpreisträger Muhammad
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Angaben zur Quelle vgl. Artikel von Fernando Valls, S. 30, Fußnote 20. Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Wien: Passagen Verlag 1993, S. 165: «Die Krise der Erzählungen» (S. 9) fördert die Bindung zwischen Mikrotextualität und ‘schlechtem’ Schreiben, die Lyotard mit Hilfe der Quantenmechanik, der Theorie der Spiele und der Mikrophysik analysiert: «Auf dem mikrophysikalischen Niveau kann eine ‘bessere’ Information, das heißt eine performantere, nicht erreicht werden» (S. 165). Mikrotextualität und ‘schlechtes’ Schreiben wären, in diesem Sinne, vergleichbar mit den von Borel zitierten «Spiele[n] mit unvollständiger Information» oder «Spielen, bei denen die beste Art zu spielen nicht existiert» (S. 166, Fn. 196). Über den Begriff des ‘schlechten’ Schreibens vgl. Julio Prieto: Desencuadernados. Vanguardias ex-céntricas en el Río de la Plata. Rosario: Beatriz Viterbo 2002 sowie das Portal http://www.malescribir.de, in dem das Forschungsprojekt vorgestellt wird, zu dem dieser Essay gehört.
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Yunus aus Bangladesh.9 In diesem Sinne könnte man von den gesellschaftspolitischen Vorteilen des ‘Mikro’ als postkoloniale Taktik sprechen, die mit den hegemonialen Vektoren der Globalisierung verzahnt ist. Die Möglichkeit eines Dissenses über eine als ‘schlechtes’ Schreiben praktizierte Mikronarrativität steht im Gegensatz zu den beiden anderen angeführten Wegen oder Verfahren. Das so genannte Borges-Modell und das kommerzielle Modell des microrrelato würden somit in die gleiche Richtung zusammenlaufen, in der sich auch die technologischen Vektoren der Modernisierung bewegen; das heißt, sie münden in einer Dynamik der Wirkung und Beschleunigung, sei es in Form größter Informationsdichte auf minimalem Raum – eine Gemeinsamkeit des microchip und des microrrelato von Borges – oder in Form der Geschwindigkeit des Vertriebs und des Konsums – eine Gemeinsamkeit des microrrelato light und des Reklamespots, als eine Art an die Gesetze des ökonomischen Marktertrages angepasste Rezeptionswirkung. Im Gegensatz dazu würde die auf der Seite des ‘schlechten’ Schreibens abgelegte Mikronarrativität einer Logik der Unterbrechung, des Kurzschlusses und des Verzugs folgen, die dazu neigt, die hegemonischen Erzählungen der Modernisierung unlesbar zu machen. Wenn man also in den beiden ersten Zugängen von den an das Ideal der Wirkung angekoppelten Vorzügen des ‘Kurzen’ spricht, so kann man im Falle der Autoren, die sich für die heterodoxe Variante entscheiden mehr von ‘Schlechtigkeiten’ und Perversionen des Kurzen reden, weil sie Taktiken der Unterbrechung sind. Es sind diese Schlechtigkeiten und Perversionen die hier untersucht werden sollen, indem ein besonderes Augenmerk dem Schreiben des Argentiniers Macedonio Fernández und der uruguayischen Schriftstellerin Marosa di Giorgio gilt. Wenn das Schreiben, das die ‘Schlechtigkeiten’ des Kurzen erforscht, sich erst durch eine Krise der Narrativität artikuliert, so ist diese Krise meist an eine Kritik der Darstellung gekoppelt. Vielleicht ergeben sich bei keinem der erwähnten Autoren diese Krise und diese Kritik so intensiv wie bei Macedonio Fernández. Als Beispiel wählen wir hier den Anfang eines seiner von der Norm abweichenden ‘brindis faltantes’, den er dem spanischen Dichter Gerardo Diego widmet:
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Zeugen des Erfolgs von Eloísa Cartonera sind die Erweiterungen des Projektes jenseits des Río de la Plata mit der Gründung der ‘Schwestern’-Verlage Sarita Cartonera (Perú), Animita Cartonera (Chile) und Yerba Mala Cartonera (Bolivia). Das Verlagshaus in Buenos Aires stellt sich auf seiner Website als «ein künstlerisches, soziales und gemeinschaftliches Projekt ohne Profit» vor. «Ihr Sitz ist eine Pappwerkstatt namens ‘No hay cuchillo sin rosas’, in der die Arbeiter mit den Künstlern und Schriftstellern Ideen austauschen … die Bücher werden mit Umschlägen aus Pappe editiert, die Altpapierhändlern auf der Straße abgekauft wurde. Bemalt werden sie von Jungen, die ihr Dasein als Altpapiersammler aufgeben, um im Projekt zu arbeiten. Verlegt wird unveröffentlichtes, grenzgängerisches und avantgardistisches Material aus Argentinien, Chile, Mexiko, Costa Rica, Uruguay, Brasilien, Peru. Die Prämisse des Verlags ist die Verbreitung lateinamerikanischer Autoren. Die Pappe wird für 1,50 $ gekauft, für die normalerweise 0,30 $ gezahlt wird. Und bei der Anfertigung verdienen die Jungen 3 $ pro Stunde. Das Projekt versucht Arbeitskräfte einzustellen, die durch den Verkauf der Bücher unterstützt werden. In der Pappwerkstatt gab es außerdem schon Kunstausstellungen.» http://www.eloisacartonera.com.ar/eloisa/que.html
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Es ist so wenig, was ich zu sagen habe, meine Herren, dass ich befürchte, es wird viel Zeit in Anspruch nehmen, in einem so gedrängten Trinkspruch ein Plätzchen zu finden, um den Schluss zu platzieren. Wenn die Nervosität einer (aus der Tasche gezogenen) Improvisation und ihre Kürze es mir unmöglich machen, einen Schluss in der Mitte oder an anderer Stelle zu finden, dann werde ich mich, so leid es mir tut, genötigt sehen sie auf unbestimmte Zeit weiterzuführen und für mich den Genuss des Beifalls, den man so spontan für die Schlussfolgerung aufbewahrt, ewiglich weiter verschieben, wenn nicht das Zusammentreffen schon vorher zu Ende ist. 10
Bei Macedonio Fernández nimmt der microrrelato die Form der ‘Unmöglichkeit des Anfangs’, des wiederholt vereitelten narrativen Bestrebens an und dieser Rückgriff auf misslungene Anfänge bildet eine seltsame, synkopierte Form der Narrativität. Ein weiterer Trinkspruch (Leopoldo Marechal gewidmet) beginnt folgendermaßen: «Der Anfang einer Rede ist der schwerste Teil und ich misstraue all denen, die damit beginnen».11 Der unmögliche Anfang ist ein mikronarrativer (oder genauer, pseudo-narrativer) Mythos, der in unterschiedlichen Formen in Macedonios Schreiben gegenwärtig ist, ausgehend von dem Text mit dem trügerischen Titel Una novela que comienza, bis zur Idee eines durch Dutzende von Prologen unendlich herausgezögerten Romans – mehr als fünfzig hat sein Museo de la Novela12 oder auch die perversen mikronarrativen Artefakte, ‘título-obra’ oder ‘tapa-libro’ genannt, eine Art von fiktionaler ready-mades, in denen die gesamte Fiktion, alles das, was man lesen sollte, im Titel oder Buchdeckel enthalten ist.13 Tat-
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Macedonio Fernández: Papeles de Recienvenido y Continuación de la Nada. In: Obras completas, Bd. IV. Herausgegeben von Adolfo de Obieta. Buenos Aires: Corregidor 1996, S. 56: «Es tan poco lo que tengo que decir, señores, que temo que tome mucho tiempo el encontrar en un brindis tan estrecho un lugarcito donde situarle el final. Si la nerviosidad de una improvisación (sacada del bolsillo) y lo breve que es me imposibilitaran hallar un lugar de final en mitad u otro punto de ella, será con gran pena que me veré continuándolo indefinidamente y postergando para mí eternamente el goce de los aplausos que tan espontáneamente se reserva para la conclusión, si la concurrencia no ha concluido antes.» Ebda., S. 63: «El principio del discurso es su parte más difícil y desconfío de los que empiezan por él.» Macedonio Fernández arbeitete mit Unterbrechungen über drei Jahrzehnte (zwischen 1925 und 1952) an diesem unvollendeten und unvollendbaren ‘work in progress’. Es wurde 15 Jahre nach seinem Tod, 1967, veröffentlicht. Vgl. Macedonio Fernández: Museo de la Novela de la Eterna. Buenos Aires: ALLCA XX 1993. Die Idee wird im Vorwort ‘Al lector de vidriera’ des Museo de la Novela vorgeschlagen: Ebda., S. 76: «Die Verbreitung der Buchdeckel und Titel verdankt man den Ausstellungsfenstern, den Zeitungsständen und den Anzeigen. Ideal wäre, der Leser des Buchdeckels, der Leser der Tür, der Minimale Leser oder Nicht Gewonnene Leser würde endlich hier mit dem Autor, der ihn berücksichtigt hat, zusammenkommen, mit dem Autor des Buchdeckel-Buchs, des Werk-Titels. Und er erwägt, dass der Titel des Titels, den wir in unserem Roman vorstellen, ‘El lector alcanzado’ sein sollte, denn ein erster Vorfall ergibt sich schon auf dem Buchdeckel, auf dem der Minimale Leser einzig und allein von dem in Bann gezogen wird, was die Buchhändler schäbiger Weise gelesen haben: das Titelblatt, das Einzige, was von der Mehrzahl der Bücher verlegt wird» «[…] la circulación de tapas y títulos es merced a las vidrieras, quioscos y avisos. La ideal, el
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sächlich können in diesen Trinksprüchen, eine Kurz- oder mindere Form des Literarischen, eine Gattung ohne festen Wohnsitz, in der Macedonio ein perverser Fachmann14 ist, zwei sich in seinem Schreiben wiederholende Merkmale beobachtet werden: Auf der einen Seite die Erkundung einer paradoxen oder absurden Hypothese als Quelle des Humors und als Prinzip der Fiktionalität; auf der anderen Seite, das was man seine ‘Grenzobsession’ nennen könnte, die außerordentliche Ergiebigkeit, die der Begriff der Grenze in seiner Phantasie und seinen Werken hat. Tatsächlich schlägt ‘Trinkspruch für Gerardo Diego’ eine mikronarrative und ‘schlecht’ geschriebene Variante der eleatischen Aporie des Achilles und der Schildkröte vor, die Borges15 so oft in tadellosem Stil wiederholt hat: Eine Dauer (durée), die aufgrund ihrer Kürze nicht einmal ihr Ende beinhalten kann und sich daher (in ihrer paradoxen Logik) ewig verlängert. Aus einer rein stilistischen Perspektive und komplementär zu den diskursiven und gattungsspezifischen Abweichungen und den Unregelmäßigkeiten im Umgang mit der Narrativität ist der Kontrast zwischen der unerschütterlichen Eleganz und Harmonie jeder einzelnen Zeile von Borges und die Liederlichkeit und rhetorische Armut in Macedonio Fernández’ Schreiben hervorzuheben. Auf der stilistischen Ebene könnten als Beispiele dieses willentlichen «Verzug des Stils»16 sowohl die kakophonische Fülle interner Reime (Wiederholung von Adverbien, die auf –mente enden) als auch die erschöpfende und verworrene Syntax des Satzes dienen, der, um es in einer biologischen Metapher auszudrücken, nicht gut ‘atmet’. Der Pflege des Trinkspruchs und einer paratextuellen Mikrofiktionalität entsprechend, (die sich in Form von Vorworten, Nachworten, editorischen Notizen, Epigraphen, Titeln, Titelblättern, Unterschriften, Schlussvermerken und weißen Blättern niederschlagen: Alles Gattungen eines mit großem Fleiß praktizierten Mikroschreibens, eine Art Demontage des Buchartefaktes), kultiviert Macedonio Fernández den paradoxen Humor, der die Form des metaphysischen Witzes annimmt, eine weitere Kunst des Bündigen, die auch über die Begriffe ‘Grenze’ und ‘Mangel’ reflektiert. Zum Beispiel: «Es fehlten so viele, dass, wenn einer mehr gefehlt hätte, er nicht mehr hineingepasst hätte.»17 Macedonio Fernández setzt einen Diskurs und eine Ästhetik der ‘Winzigkeit’ ein, die sich in Übereinstimmung mit seinen metaphysischen Thesen befinden: Die These des ‘almismo ayoico’, die die Grenzziehung zwischen Objekt und Subjekt verneint und die Ablehnung jeden
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lector de Tapa, Lector de Puerta, Lector Mínimo o Lector no-Conseguido tropezará por fin aquí con el autor que lo tuvo en cuenta, con el autor de la tapa-libro, de los TítulosObra. Y considera que ‘El lector alcanzado’ debe ser el título del Título que estamos presentando en nuestra novela, pues un primer suceso ya ocurre en su tapa donde el Lector mínimo es redondamente alcanzado por lo único que mezquinamente han leído los libreros: la carátula, lo único que para el mayor número de libros se edita de ellos …» Perversion, die anhand der Tatsache, dass Macedonio Fernández Trinksprüche unter anderen ‘Fehlern’ das Nichtvorhandensein oder die Nichtexistenz des Redners nicht ausschließt, sichtbar wird. Vgl. zum Beispiel den Essay ‘La perpetua carrera de Aquiles y la tortuga’ in: Jorge Luis Borges: Discusión. In: Obras completas. Barcelona: Emecé 1989, Bd. I, S. 244–248. Macedonio Fernández: Papeles, S. 54. Ebda., S. 114: «Fueron tantos los que faltaron que si falta uno más no cabe.»
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Seins oder jeder Transzendenz unterstützt, die jenseits der unmittelbaren phänomenischen Erfahrung liegt.18 Daraus kann die Beschreibung seiner selbst abgeleitet werden: «Ich, der kürzeste Schriftsteller»,19 Spezialist in der ‘minimalen Ansprache’, der den Witz, den Trinkspruch, das Fragment als bevorzugte Mittel eines Schreibens wählt, dessen Tugend im Gelingen eines ‘mehr des weniger’ steckt: «Wir nur könnten über uns hinaus wachsen: Wenn die uns zur Verfügung stehende Zeit geringer gewesen wäre, hätten wir dennoch viel mehr noch weniger schreiben können.»20 In gewisser Weise stimmt die Mikronarrativität der unmöglichen Anfänge mit einer Metaphysik des ‘nicht Erreichens’, des ‘nicht zum Sein gelangen’ überein: «Meine Winzigkeit ließ mich überall als noch nicht angekommen erscheinen, als einen Existierenden mit einem ‘aber’, einem ‘schon, aber’, immer ein kurz vor dem Nichts ankommen; noch weniger als ankommen: Einer, der nicht im Nichts verbleibt, ankommen wäre zu positiv.»21 Diese Schreibkunst der Winzigkeit, die aufgrund ihrer vermehrten Spuren in verschiedenen philosophischen und ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhundert mit der Duchampschen Forschung des ‘Inframinimalen’22 zu vergleichen ist, findet sich auch in der ästhetischen Theorie von Macedonio Fernández: Die Ästhetik «einer minimalen Motivierung oder Sache, welche die Reinheit eines absoluten Fehlens der Motivierung anstrebt»23 und auch jedwedes Augenmerk auf das sinnliche oder stilistische als oberflächlich betrachtet. Sie stimmt ebenfalls mit der radikalen Reduzierung der Romankunst überein, fern aller von Romantheorien normalerweise verwendeten Kriterien, wie vorgebliche Mimesis, soziale Kritik, Wissensübertragung oder Freiheit der Phantasie und stützt sich auf ein einziges metaphysisches Ziel: Sie versucht eine ‘Erschütterung’ im Bewusstseins des Seins des Lesers hervorzurufen.
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Obwohl das gesamte Werk Macedonio Fernández’ vom philosophischen Diskurs durchdrungen ist, befinden sich die Texte mit überwiegend metaphysischen Charakter in einem Band zusammengefasst: No toda es vigilia la de los ojos abiertos y otros escritos metafísicos. In (ders.): Obras completas, Bd. VII. Buenos Aires: Corregidor 1987. Dieser Band enthält das gleichnamige, im Jahr 1928 veröffentlichte Werk sowie eine Vielzahl philosophischer Fragmente, von denen viele erst nach dem Tod des Autors publiziert wurden. Im Hinblick auf die These des ‘almismo ayoico’ siehe S. 243–246. ‘Yo, el escritor más corto’ in: Macedonio Fernández: Papeles, S. 58. Ebda., S. 57: «Sólo nosotros podíamos superarnos: si el tiempo disponible hubiera sido menos aun más podríamos haber escrito menos.» Ebda., S. 69: «Mi minusculidad hízome parecer en cualquier lugar que no estaba allí todavía, como un existente con pero, un ‘ya, pero’ siempre un recién de llegar a la Nada; aún menos que llegar: un no quedado en la Nada, llegar es demasiado positivo.» Im Zusammenhang mit dem Begriff ‘infra-mince’, der den infinitesimalen Intervall zwischen dem Phänomen und seinem Verschwinden bestimmt, vgl. Marcel Duchamp: Duchamp du signe. Paris: Flammarion 1994, S. 274: «Quand / la fumèe de tabac / sent aussi / de la bouche / qui l’exhale, / les deux odeurs / s’épousent par / infra-mince.» Vgl. ebenso Denis de Rougemont: Marcel Duchamp mine de rien. In: Preuves (Paris) 204, (fév. 1968), S. 43–47, sowie Thierry de Duve: Pictorial Nominalism. Minneapolis: University of Minessota Press 1991, S. 159–61. Macedonio Fernández: Teorías. In: Obras completas, Bd. III. Buenos Aires: Corregidor 1997, S. 329: «De mínimo de motivación o asunto, tendiente a la pureza de una total omisión de motivación.»
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Diese dichte Verwirkung verschiedener Aspekte in Macedonio Fernández’ Diskurs, die chaotische Vermischung der philosophischen, fiktionalen, politischen, mystischen und anthropologischen Strömungen in der Gesamtheit seinen Schriften, verleiht dieser Mikronarrativität den Charakter eines diskursiven Sprungs oder eines gattungsüberschreitenden Nomadentums, in dem der Versuch oder das narrative Fragment, sozusagen im Limbus des ‘Dazwischen’, am Rande oder Niemandsland zwischen zwei oder mehreren diskursiven Rahmen enjambiert wird. Diese macedonianische Art der Mikronarrativität, die man als ‘interterritoriales microrrelato’ bezeichnen könnte, hat einen breiten Widerhall in der Literatur des Río de la Plata. Im Bereich der Fiktion sind Spuren bei Osvaldo Lamborghini, Copi, César Aira und Alberto Laiseca nachzuweisen; im Bereich der Lyrik, bei Leónidas Lamborghini, Ricardo Zelarayán und Néstor Perlongher; und sowohl in der Lyrik und der Fiktion von Gabriela Bejerman, Wáshington Cucurto und Marosa di Giorgio. Um den Grundgedanken der Kürze nicht zu vernachlässigen, werde ich jetzt einige Spuren in dem Lyrikwerk dieser Dichterin verfolgen. Die Dichtung von Marosa di Giorgio, in einem Sammelwerk aus zwei Bänden unter dem Titel Los papeles salvajes (2000) herausgegeben, umfasst ein Dutzend über fünf Jahrzehnte geschriebene Bücher, die zwischen 1954 (Poemas) und 2000 (Diamelas a Clementina Médici) entstanden. Andererseits umschließt ihr Schreiben ebenso einen Roman – Reina Amelia (1999) – und drei Bände erotischer Erzählungen – Misales (1993), Camino de las pedrerías (1997) und Rosa Mística (2003) –, die im Laufe eines Jahrzehnts erschienen. Diese Aufteilung in Lyrik und Fiktion, oder Dichtung und Prosa ist einerseits trügerisch, wenn man die ungewöhnliche Einheit dieses Schreibens in Betracht zieht, eine Einheit, die gerade im unaufhörlichen Wandel und Wechsel zwischen Lyrik und Prosa liegt, sowohl in den von der Schriftstellerin selbst als poetische Texte bezeichneten Schriften (meistens Prosatexte), als auch in den sogenannten fiktiven Texten (in denen es fortlaufend lyrische Ausbrüche und Exkurse gibt). Mit Ausnahme des Romans Reina Amelia und den Novellen ‘Misa de amor’ und ‘Rosa mística’, mit denen die jeweiligen Erzählbände Misales und Rosa Mística abgeschlossen werden, kann das Werk von Marosa di Giorgio in der Eigenschaft eines Mosaiks gelesen werden, das aus einer Vielzahl bündiger Mosaiksteinchen besteht, dessen Länge zwischen einem Absatz und zwei bis drei Seiten schwankt. In diesem Mosaik ist es möglich, auf Grund der Funktion seiner Textur, zwei Tonarten zu unterscheiden, die wiederum mit der von der Autorin selbst aufgeführten Unterscheidung zwischen Prosa und Dichtung übereinstimmen: Die poetischen Mosaikstückchen zeichnen sich durch eine ausgefeilte Diktion und eine verbale Spannung aus, die der dichterischen Form zueigen ist; die prosaischen oder fiktionalen Mosaikstückchen hingegen treten in einer unebenen und schmucklosen, leicht ungrammatikalischen Art auf, die eingeschrieben ist in die rioplatensische Tradition des ‘schlechten’ Schreibens, die von Macedonio Fernández und Felisberto Hernández bis zu Néstor Perlongher und César Aira reicht. In beiden Modalitäten spielt die Mikronarrativität in ihrer Ausprägung als sich auflösende oder ‘flüchtende’ narrative Fragmente eine entscheidende Rolle. Die Philosophie der Zusammensetzung dieses Schreibens könnte in jenem Wort zusammengefasst werden, mit dem Los papeles salvajes endet – nämlich das Wort «hacia», sowohl
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Beginn eines unvollständigen Satzes als auch Ende eines Verses, eines Buches und eines gesamten Werkes: Sie werden sagen: Dort geht eine Tochter mit ihrer Mutter und eine Mutter mit ihrer Tochter, Ins Nie Wieder: In Richtung24
Hacia: in diesem Wort und diesem Versuch, das poetische Werk nicht schließen zu wollen, beruht der Wunsch, den imaginären Dialog mit der Mutter, mit den verwunschenen und schrecklichen Wesen der Kindheit nicht abschließen zu wollen, ein bevorzugtes Thema in Diamelas a Clementina Médici und bis zu einem bestimmten Standpunkt auch ihrer gesamten Dichtung. Was dort hinterlassen wird, ist aber auch ein Sinnbild: Der Stempel eines Schreibens, das sich im Übergang wissen will, eine mit Andersheit erfüllte Schrift, durchdrungen von winzigen und seltsamen Querungen. In der poetischen Diktion des Werkes Los papeles salvajes finden sich verbreitet die in Unordnung gebrachten narrativen Verfahren. Das Zusammenspiel der Zeiten des Verbs wird pervertiert: Das Imperfekt der Beschreibung und Inszenierung dynamisiert sich und lässt neue kleine narrative Kapseln entstehen; das Präteritum, die Zeit des Geschehens, der Spannung und des diegetischen Fortschreitens arbeitet fortan mit Strategien der Stagnation, der Ummantelung und Indefinition, so dass anstatt einer narrativen Spannung, eine Erzählung in der Schwebe, im Stillstand entsteht. Schwebende Erzählung, die nicht zurückkehrt, deren Fäden, einem zerfetzten Spinnennetz gleich, voneinander gelöst sind und in der Luft flattern; eine Erzählung, die sich ein- und nicht entwickelt. In Los papeles salvajes dreht sich alles um die exaltierte Sichtweise der Natur, exstatisch und veränderbar. Diese Sichtweise der verwunschenen Natur erzeugt phantastische microrrelatos, die sich zwischen dem Feenhaften und dem Grausamen, zwischen dem Zarten und dem Perversen bewegen. Als Beispiel dient der microrrelato des Schnees: «Seit dem Mittag schneite es. Der Schnee fiel so seltsam, schräg, ein wenig fliegend. Als ob die Menschen der Lüfte gerade die Schmetterlinge freigelassen hätten.»25 Oder der microrrelato der Dämmerung: «Es brach die Dämmerung ein, und die Vögel, die zu ihren Nestern zurückkehrten, hackten die alten Feen mit ihren Schnäbeln tot, während die jungen Feen ihre langen Figuren und ihre glühenden Kelche zwischen Kräutern und trockenen Wurzeln empor streckten.» 26
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Marosa di Giorgio: Los papeles salvajes, Bd. II. Buenos Aires: Adriana Hidalgo 2000, S. 338. «Dirán: Ahí va una hija con su madre y una madre con su hija, hacia el nunca más. Hacia.» Ebda., S. 38: «Desde el mediodía nevaba. La nieve caía extrañamente, sesgada, volando un poco. Las gentes del aire estarían liberando mariposas.» Ebda., S. 39: «Venía el crepúsculo, y los pájaros que tornaban a sus nidos mataban a picotazos a las hadas viejas, y las hadas jóvenes erguían entre hierbas y raíces secas, sus largos talles y sus cálices ardientes.»
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Marosa di Giorgios Dichtung setzt somit eine Art zwischengeschobene Mikronarrativität ein – eine Narrativität «auf halbem Leben»,27 aufgelöst in der lyrischen Diktion, auf der Schwelle zwischen dem außergewöhnlichen, außerordentlichen oder phantastischen Geschehen und der poetischen Vision. Ein subtiles Spiel der Lichtwechsel lässt die Lektüre sich zwischen metaphorischen Schimmern und Fragmenten ungewisser, verlorener Diegese bewegen. So zum Beispiel im Fragment 8 in Humo (1955), das folgendermaßen beginnt: «Um das orange Alter zu beleben.»28 Die hier als Träger jenes Exorzismus der Erinnerung angeführten Handlungen – «die Levkoje befragen», «mit dem Schmetterling reden, ernsthaft», «den Glyzinien eine Nachricht senden», «die Großmütter wieder entfachen», «Gott einladen»29 – sind Teil einer Anrufung oder magischen Litanei sowie ebenfalls die Geschichte einer seltsamen Feier (bei der zum Beispiel auch eine Freudsche Lektüre des Rituals des Neurotikers möglich wäre, das die Schriften ihres Landsmannes Felisberto Hernández prägen, mit dem sie mehr als nur eine Gemeinsamkeit hat). Ihre Gedichte bringen eine Mikronarrativität ins Spiel, die nicht nur die Gattungsbestimmungen überschreitet, sondern ebenso, in der Manier des macedonianischen ‘schlechten’ Schreibens, die Erzählungen der Wirklichkeit erzittern lassen, jene narrativen Handlungsstränge, die ihr Verständnis stabil und auf konventionellem Weg lesbar machen. Von daher rührt ihre Zuneigung zur Perversität, mit der sie den ‘Familienroman’ schreibt, wenn er unerlaubte oder beunruhigende Signifikanten (Inzest, sexuelle Gewalt, Kannibalismus, Zoophilie) einführt und gleichzeitig das Fürchterliche, Magische oder Übernatürliche heimisch macht. Die vergänglichen Abenteuer des Verlangens entsprechen in diesem Schreiben der Vergänglichkeit der narrativen Stränge und der einfachen Veränderbarkeit der Töne. Fast übergangslos wird das Lyrische, Nostalgische oder Feenhafte in gewaltsame oder abweichende Sexualität überführt – «die rosa Rosen, extrem, der unglaublichen Lieben» im Zusammenspiel mit «den Sachen der Kindheit, den Rosen des Hauses.»30 Einfalt und Perversion leben zusammen in einem sowohl nahtlosen als auch instabilen Gewebe, das die Gattungskonventionen und die bekannten und entfernten Positionen der Lektüre auf der Ebene des Diskurses und der Sexualität untergräbt. Textualität und Erotik erscheinen hier als ein «bekannter und entfernter Schrecken.»31 Diese «schrecklichen Hymnen, Geschichten ohne Anfang und ohne Ende»32 bauen eine perverse Mystik auf: Sie rühmen unschickliche Liebe, schreckliche Bündnisse, gefährliches Glück. Eine winzige und sich wiederholende Anekdote webt den Text: eine unerlaubte erotische Spannung, eine unbändige, unerfüllbare Leidenschaft zwischen Vater und Tochter, zwischen Kind und Erwachsenen, zwischen Herrin und Bediensteten, zwischen Hermelin und Mädchen, zwi-
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Ebda., S. 48. Ebda., S 50: «Para revivir la edad anaranjada …» Ebda., S. 50–51: «interrogar al alhelí; hablar con la mariposa, seriamente;mandar aviso a las glicinas; reencender las abuelas; invitar a Dios.» Ebda., S. 159: «las rosas rosadas, extremas, de los amores increíbles; las cosas de la infancia, las rosas de la casa.» Ebda., S. 77: «terror conocido y lejano.» Ebda., S. 78: «himnos terribles, historias sin principio ni fin.»
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schen zwei Schwestern, um nur einige Beispiele aus den beiden ersten Gedichtbänden zu zitieren. Ihre Stromstöße und Kurzschlüsse bilden den Kern einer ungewissen Erzählung, – eines «intensiven Vorkommnis»33 in der treffenden Beschreibung Roberto Echavarrens – die nur dank des Aufblitzens einer leidenschaftlichen Vision voranschreitet. Tatsächlich bezieht sich dieser Liebesdiskurs implizit auf die Antithesen, Paradoxa und sich querenden Verflechtungen der mystischen Lyrik eines San Juan oder einer Santa Teresa, auf das Kreuz als profanes, fleischliches und weniger theologisch-christliches Sinnbild: Verborgen im Schatten, hörend und nicht hörend;34 Verlass dein Umfeld zwischen den Bestien und den Lilien. Und komm diese Nacht zu mir, oh, mein Geliebter, Monster aus Sirup, Verlobter aus Tulpe, Mörder der süßen Blätter. So, jene Nacht rief ich so … mit regenbogenfarbener Angst und einer dunklen Liebe erfüllt.35
Das Kreuz, pulsierende Kreuzung von Liebe und Tod, die Entwicklungen und Tönungen Freudscher Art zulässt, so dass oftmals der Wunsch einer Vereinigung mit dem Wunsch nach Auslöschung einhergehen: «Ich begann ihn zu töten. Weil du zu niemandem meine Geliebte sagen darfst – ich begann langsam die Blüten der Brust zu öffnen, das Herz herauszunehmen.»36 Daher kann und will die Erzählung nicht voranschreiten, eingesperrt in der Intensität einer leidenschaftlichen Kreuzung. Die schwebende pulverisierte Erzählung ist genau das, was den Wunsch, dass «dieses Gedicht kein Ende hätte»37 erst erfassbar macht. So zum Beispiel verfolgt das Fragment 11 in Humo aus der Nähe – bei gleichzeitiger leichter Verdrehung – den mystischen Liebesdiskurs in der Klage des Verlassenen: «Wo verstecktest du dich / Geliebter und ließt mich mit einem Schluchzen zurück»,38 klagt San Juan; und Marosa: «Warum verließt du dein Schloss zwischen den Eichen und dem Flieder, zwischen Zedern und Bienenkörben und die versteckten Nester, in denen die Vögel des Feldes ihre Eier verborgen haben? … Warum hast Du das verlassen, was Du am meisten mochtest?»39 Die perverse Drehung im mystischen Bild ergibt sich am Ende, in der Offenbarung des Geliebten, in seiner polymorphen Unermesslichkeit
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Roberto Echavarren: Marosa di Giorgio: devenir intenso. Montevideo: Lapzus 2005, S. 3: «devenir intenso.» Marosa di Giorgio: Los papeles salvajes, Bd. I, S. 30: «Entre sombras, escuchando y no escuchando.» Ebda., S. 47: «Deja tu comarca entre las fieras y los lirios. Y ven a mí esta noche, oh, mi amado, monstruo de almíbar, novio de tulipán, asesino de hojas dulces. Así, aquella noche lo clamaba yo … llena de miedo irisado y de un oscuro amor.» Ebda.: «Empecé a matarlo. Porque no digas mi amor a nadie – a entreabrirle los pétalos del pecho, a sacarle el corazón.» Ebda.: «no tuviera fin este poema.» San Juan de la Cruz: Cántico espiritual. Poesías. Madrid: Alhambra 1983, S. 21: «¿Adónde te escondiste, / Amado, y me dejaste con gemido.» Marosa di Giorgio: Los papeles salvajes, Bd. I, S. 53: «¿Por qué abandonaste tu castillo entre los robles y las lilas, entre cedros y colmenas, y los ocultos nidos donde venían a guardar sus huevos los pájaros del campo? … ¿Por qué has dejado lo que más querías?»
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und Unfassbarkeit: Freundin oder Tochter, wie es vorher «Rentiere oder Jungen»40 waren: «oh, mein regenbogenfarbenes Mädchen, meine kleine Freundin, meine geheimnisvolle Tochter.»41 Die Erotik des Schreibens von Marisa di Giorgio, wie auch die von Macedonio Fernández beinhaltet andererseits die mystische und metaphysische Leidenschaft. Das Werk Los papeles salvajes durchläuft die mystischen Stufen, bis es das Sein der Dinge zum Ausdruck zu bringen vermag, es zu feiern und zu würdigen: «und um es zu würdigen, erfand sie Erzählungen, Gedichte, Hymnen, noch einmal, Gedichte.»42 Dieses Fest der Phantasie kann sich in Form einer Erzählung, eines Gedichtes oder einer Hymne niederschlagen; häufig jedoch wird es in einer außergewöhnlichen Zwischenform aus allen drei dargeboten. Wie auf dem mystischen Weg, auf dem die Reise unmöglich ist und eine außerordentlich große Liebe versucht, eine abgründige Bresche zu überbrücken, so impliziert das Sagen des Unsagbaren des Seins, seine intimste Essenz – Gott zu betrachten – eine metaphorische oder narrative Reise, eine Verlagerung, die eine Zusammenfassung eines kognitiven Aktes bzw. Sehnens ist. In der Dichtung von di Giorgio wird eine mikronarrative Arbeit der exstatischen Vision angestrebt, welche die «Ereignisse der Sinne»43 wiedergeben soll. So erzählt man von der Sonne die wunderbare Begebenheit, dass «ihr ein paar kleine rosafarbene, sehr schöne Beine abgefallen sind, die sie aufzog und ihr keinen Nutzen brachten und sie diese umdrehte»;44 und von Pfirsichen, die «in ihrem Inneren, statt eines Kerns … einen Heiligen, aus Gold, winzig klein, fast lebend, fast wahrhaftig»45 hatte. Das Geheimnis der Erkenntnis findet seinen mikronarrativen Ausdruck in dieser Nähe zum Wunderbaren und Wahrhaftigen oder ‘fast Wahrhaftigen’; in diesem ‘fast’, diesem unmittelbaren Bevorstehen des Seins wäre einer der Schlüssel zu diesem Schreiben zu finden. Eine Intensität des unmittelbaren Bevorstehens, ein geheimnisvoller Knoten von Nähe und Distanz, die Entfernung des Schreiben zu seinem Objekt, des erwachsenen schreibenden Subjektes zum kindlichen Ich, an das es sich erinnert, bestimmt das Schreiben von Marosa di Giorgio, deren dichterisches Gesamtwerk sich
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Ebda., S. 52: «renos o muchachos.» Ebda., S. 53: «oh mi irisada muchacha, mi amiga pequeña, mi misteriosa hija.» Ebda., S. 136: «Y en su honor, inventaba cuentos, poemas, himnos, otra vez, poemas.» In seinem Buch Marosa di Giorgio: devenir intenso. Montevideo: Lapzus 2005 merkt Roberto Echavarren folgendes an: «Die Protagonisten sind keine Figuren, sondern vielmehr Ereignisse (ein Wind, ein Frost), die die Übergangsfigur von Charakteren annehmen.» [Los protagonistas no son personajes, sino más bien acontecimientos (un viento, una helada) que toman la figura transitoria de caracteres] (S. 15). Di Giorgio kultiviert die Fiktion wie einen vergänglichen Sprössling der Personifizierung, der «nicht ein Mehr an Bedeutung anstrebt, sondern taumelt und immer um ein Weniger herum laviert, einer Verwischung» [no apunta a un más de significación, sino que se tambalea y bordea siempre un menos, un borramiento] (S. 15). Marosa di Giorgio: Los papeles salvajes, Bd. II, S. 310: «se le cayeron, también, unas piernas pequeñas, rosadas, muy bonitas, que él criaba y no le servían para nada y las volteaba.» Marosa di Giorgio: Los papeles salvajes, Bd. I, S. 137: «[tenían] adentro, en vez de un hueso … un santo, de oro, diminuto, casi vivo, casi verdadero.»
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scheinbar um die Frage dreht, wie eine Erinnerung erzählt werden soll. Und augenscheinlich handelt es sich hier genau um die Unmöglichkeit zu erzählen. Es ist das Schreiben über diese Unmöglichkeit, weil die Erinnerung als solche nicht wiedergegeben werden kann, sie ist in ihrer reinen Form unwiederbringlich. Die Dichterin versucht daher, die Intensität der Ausstrahlung der Erinnerung in ihrem Bewusstsein zu erhalten, bevor diese sich in der Erzählung ausdünnt; sie versucht das Wunderbare, Außergewöhnliche und Schreckliche dieser Intensität zum Ausdruck zu bringen, um zu verhindern, dass es sich in einer Erzählung auflöst. Für ihre Rettung verwendet sie die narrativen Verfahren der Gattung des Phantastischen oder der wunderbaren Erzählung oder des Unheimlichen. Daher ist dieses Schreiben mehr eine narrative Inszenierung als eine Erzählung: Inszeniert durch Andeutungen einer Erzählung im Übergang, hin zur lyrischen Exaltierung, zur Theatralik der Erotik, deren Knappheit auch durch die unmögliche Verbindung der ausgedachten Ereignisse bestimmt wird. Die poetische Vorstellung von Marosa di Giorgio strickt Fragmente einer unmöglichen Erzählung. Wie kann man die kindliche Erinnerung weiter verfolgen, in der man dem ‘Dorf der Ratten’ angehören wollte, die Erinnerung an «das alte Alter, als wir noch in den Magnolien lebten mit der Heiligen Jungfrau Maria und den Heiligen Drei Königen?»46 Welches menschliche, tierische, übernatürliche Geschöpf könnte sich daran erinnern, in der «Geburtsgrotte» gelebt zu haben und beschließen, mit «Vater und Mutter» «den kleinen Menschenfresser, gefangen letzte Nacht und schon gehäutet und versüßt» beim Abendessen zu verspeisen? Vielleicht gilt folgende grenzüberschreitende Eigenschaft als Unterscheidungsmerkmal für das ‘schlechte’ Schreiben, das die rioplatensische Literatur seit Macedonio Fernández durchzieht: Die Erzählung an einer Grenze zu beginnen, von der aus man weiß, dass es unmöglich ist, sie weiterzuführen. Diese ungewisse Weiterleitung, jene Eigenschaft des unmittelbar Bervorstehenden, die besonders an die Erinnerung gebunden ist, durchdringt das lyrische Gesamtwerk von Marosa di Giorgio, erfährt aber ihren Höhepunkt in dem Band, der es abschließt: Diamelas para Clementina Médici, ein elegischer Text, der dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1990 gewidmet ist. In diesem Text wird die Erinnerung oftmals als microrrelato des Schreckens dargestellt: Wir sind mehrere. Und sie haben mich ausgewählt, um zuerst zur Schlachtbank zu gehen. Gut. Sie schieben mit einem Messer. Ich erschrecke und wehre mich und weiche zurück. Aber es klebt schon so viel Blut an meinem Kleid. Mutter, hilf mir, Mutter. Aber Du pflegst woanders die Hortensien. Es ist sehr schwer.47
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Ebda., S. 156: «antigua edad, cuando aún vivíamos en las magnolias con la Virgen María y con los Reyes?» Marosa di Giorgio: Los papeles salvajes, Bd. II, S. 327: «Somos varios. Y me eligen para ir primero al matadero. Está bien. Empujan con cuchilla. Me espanto y me resisto y
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Oder aber sie wird mikronarrativ in Form einer phantastischen Geschichte bearbeitet (ähnlich dem Henry James in The Jolly Corner oder dem José Bianco in Sombras suele vestir), wie es in diesem anderen Fragment zum Ausdruck kommt, in dem die lyrische Evozierung der natürlichen familiären Arcadia plötzlich im jähen Hereinbrechen der Erinnerung an den Tod der Mutter endet: «Ich sagte: Schau mal! Lass uns neben der Gans herlaufen! Du antwortetest nicht. Dann bin ich stehen geblieben und habe mich umgedreht und blieb versteinert. Denn ich merkte, dass Du nicht da warst und nie hierher gekommen warst.»48 Die tote Mutter wird hier wie ein Gespenst beschrieben, weil sie nur so erfahren werden kann: Der Tod ist das unmögliche, unannehmbare Ereignis, das jede Erfahrung der «Wirklichkeit» untragbar macht: «Oh, dann ist hier Deine Reise zu Ende! Aber das kann nicht sein, nein, nein. Etwas muss da sein. Ein feiner Strich geht von Dir zur Welt, immer.»49 Der Tod macht das Gespenst heimisch: Die Phantastik, weit entfernt von der Künstlichkeit, die seit Todorov der Gattung zugesprochen wird, ist eine Überlebensstrategie, ein Überlebenswissen.50 Es ist ein Weg, die Erfahrung des Verlustes eines geliebten Menschen ertragen zu können, indem man sie psychisch und symbolisch bearbeitet. Mit anderen Worten, die Verbindung zwischen den Welten, der Wunsch oder die Bitte nach einem ‘feinen Strich’, der Leben und Tod, das Gegenwärtige mit dem nicht Sein oder dem ‘Jenseits’ vereint, wäre der eigentliche Kern der Phantastik, ihr traumatischer Knotenpunkt. Daher sind die Bestätigungen des Lebens in Diamelas gegensätzlicher, gespenstischer Natur. Es sind querende Phantasien im Lacanschen Sinn,51 in denen das Gespenst die Aussage quert: «Mutter ist lebendig. Aber sie ist nicht auferstanden. Sie ist lebendig.»52 In Diamelas sind häufig fiktionale disclaimers vorhanden, welche die Substanzlosigkeit oder Flüchtigkeit der Darstellung aufzeigen: «In der Ferne wird es eine Darstellung geben / die wir erstaunt ansehen werden / fast ohne es zu glauben / die uns erzählt wird, wie du zurückgekommen bist / an meine Seite und in dein Wesen».53 Wie auch schon bei Macedonio Fernández, der, sein Schreiben an den Tod seiner Frau
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retrocedo. Mas ya hay mucha sangre en mi vestido. / Mamá, sálvame, mamá. / Pero tú cuidas las hortensias de otro lado. / Es muy difícil.» Ebda., S. 312: «Dije: ¡Mira! ¡Vamos a correr al lado de la oca! No contestaste. Entonces, me detuve, y me volví, y me quedé helada. Pues me di cuenta de que no estabas, y nunca habías venido.» Ebda., S. 314: «Oh, cómo acá finiquitó tu viaje! Mas no puede ser, no, no. Algo debe estar. Una fina raya parte de ti hacia el mundo, siempre.» Vgl. Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004, S. 9–22 und 171–188. Zu «traversée du fantasme» vgl. Jacques Lacan: Le séminaire, livre XI. Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Paris: Editions du Seuil 1973, S. 246. Marosa di Giorgio, Papeles salvajes, Bd. II, S. 316: «Mamá está viva. Pero no resucitó. Está viva.» Ebda., S. 320: «A lo lejos habrá una representación / que miraremos asombradas / casi sin creer, / y que contará cómo volviste / a mi lado y a tu ser.»
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anknüpfend, sagte: «Und alles werde ich sagen, um den Tod in ‘Ihr’ zu töten»,54 diese Verflechtung des Diskurses im Mangel, diese Beschäftigung mit der Melancholie, die ihre Fiktionalisierung bedeutet, ist ein weiterer Grund, der die Knappheit der narrativen Szene im Schreiben von di Giorgio zu erklären vermag und auch ihre einzigartige Intensität und Beharrlichkeit. In diesem Exkurs durch die (un)heimlichen Wege der Kürze am Río de la Plata habe ich versucht, einige Ansatzpunkte herauszuarbeiten, die auf der Seite einer ‘schlechten’ Literatur Los papeles salvajes von Marosa di Giorgio mit den Werken von Macedonio Fernández verbinden; ein Schriftsteller von ebenfalls verwilderten Blättern: Papeles de Recienvenido und Papeles de Buenos Aires.55 Zum Schluss möchte ich noch, als komplementäres Ende zum Eingangszitat von Borges, einen heterodoxen microrrelato von Macedonio Fernández anführen, der, ähnlich wie die Schriften von di Giorgio, die Produktivität des Textes in der paradoxen, unterbrochenen Intensität des Anfangs chiffriert: Alles wurde schon geschrieben, alles wurde schon gesagt, alles wurde schon getan, hörte Gott dass ihm gesagt wurde und er hatte noch nicht die Welt erschaffen, noch gab es nichts. Auch dieses haben sie mir schon gesagt, erwiderte er aus dem alten gespaltenen Nichts. Und begann.56
Übersetzung: Rosa S. de Maihold
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Macedonio Fernández: Relato. Cuentos, poemas y misceláneas. In: Obras completas, Bd. VII. Herausgegeben von Adolfo de Obieta. Buenos Aires: Corregidor 1987, S. 128: «Yo todo lo voy diciendo para matar la muerte en ‘Ella’». Papeles de Buenos Aires ist der Titel einer kurzlebigen Literaturzeitschrift (es erschienen zwischen 1943 und 1945 nur 5 Nummern), die von Macedonio Fernández und seinem Sohn, Adolfo de Obieta herausgegeben wurde. Macedonio Fernández: Museo de la Novela de la Eterna. Herausgegeben von Ana María Camblong und Adolfo de Obieta. Buenos Aires: ALLCA XX 1993, S. 8.
El sabio Vivía solo. Murió súbitamente, rodeado de miles de libros, papeles, cuadros y testimonios de gratitud de instituciones científicas. Cuando revisaron todo aquello encontraron un papel azul con el comienzo de una confesión: «Yo hubiera querido ser actor.» Der Weise Er lebte allein. Er starb überraschend, umgeben von Tausenden von Büchern, Papieren, Bildern und Dankbarkeitsbezeugungen wissenschaftlicher Einrichtungen. Als sie all das durchsuchten, fanden sie ein blaues Papier mit dem Beginn eines Geständnisses: «Ich wäre gerne ein Schauspieler gewesen.» David Lagmanovich
Esther Andradi (Berlin)
Fraktal: eine Poetik des Minimalen Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung. Georg Christoph Lichtenberg
Ein Fraktal ist laut Wörterbuch jene geometrische Figur, bei der die Beschaffenheit der Teile dieselben Merkmale aufweist wie das Ganze. Die fraktalen Formen, in denen die Teile dem Ganzen ähneln, sind in der gesamten Natur vorhanden, wie die Blätter, die eine ähnliche Morphologie aufweisen wie der kleine Ast, von dem sie ein Teil sind; der wiederum hat eine ähnliche Form wie der Ast, der ebenfalls der Form des Baumes entspricht. Dennoch ist das Blatt qualitativ nicht dasselbe wie ein Ast oder ein Baum. So befindet sich die Essenz des Blumenkohls in jeder einzelnen seiner kleinen Röschen, die wiederum den großen Blumenkohl bilden. Es ist der Ursprung unseres Planeten, der in einem Sandkorn enthalten ist, das Fragment, das das Universum wiedergibt, das Minimale als Ausdruck des Ganzen, und wenn man weiter in diese Richtung geht, dann kommt man direkt zur Mystik Buddhas, der unter dem Feigenbaum das Eine als den Gipfel der Meditationsübung postuliert. Eins mit dem Teilchen, das das Geheimnis der Welt enthält, das Makro in dem Mikro eingeschlossen, in dem Mini, im Flash, im Hyper, im Nano. Jahrhunderte lang hat die Menschheit die sich wiederholenden geometrischen Muster bei der Ornamentierung der Vasen, der Architektur, der Illustration der Bücher und vieler anderer Kunstformen verwendet, die in gewisser Weise mit fraktalen Strukturen in Beziehung gebracht werden können. Aber Benoît Mandelbrot, der Wissenschaftler, der zum ersten Mal 1975 den Begriff ‘Fraktal’ verwendete, versuchte hiermit einzig in einem Wort den Eindruck des Steines einzufangen, der fällt und zerbricht. Die Adern von herumliegendem Gestein, das in jedem seiner Splitter die Informationen der gesamten Mine vereinigt. Die Dinge verlangen ein Prinzip und einen Anfang, und was zuerst ist, ist zuerst, pflegen die Zigeuner zu sagen. So nenne ich sie Fraktale, um mich der gebrochenen, der embryonalen, fragmentierten Literatur anzunähern, die aufgrund ihres Ursprungs, ihrer Produktion, Verbreitung und vielleicht ihres Schicksals eine enge Verwandte der Dichtung sein könnte. Miniaturen. Fragmente, die ein Teil des Ganzen und nichtsdestotrotz selbständig sind, die ihre eigene Struktur und Dichte haben. Im Spanischen spricht man von microficción, microrrelato, hipercuento … Die Engländer, die den Klassifizierungen sehr zugeneigt sind, definieren sie folgendermaßen: Weniger als 25 Worte flash fiction, weniger als 50 sudden fiction und 50 Worte und mehr minifiction. Gracián resümierte weise, weniger ist mehr, was übersetzt soviel heißt wie ‘das Gute, wenn kurz, ist doppelt gut’ und am Río de la Plata ‘lo bué si bre dos veces bué’ [das Gu, wenn ku, dopp gu]. Aber genug der Ungenauigkeiten, denn dort wo in Spanien und Lateinamerika von ‘mi-
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cro’ die Rede ist, spricht Ottmar Ette von Nanophilologie. Worin liegt der Unterschied? Nicht mehr und nicht weniger als in ein paar Millionen an Dichte. Während ein Mikroteilchen ein millionstes Teilchen von etwas ist, ist ein Nanoteilchen das billionste Teilchen von etwas. Ich kann nicht verhindern, mich beim Schreiben kurz zu fassen. Augusto Monterroso, der große Meister der Gattung sagte, er schreibe nicht aus stilistischen Gründen kurz, sondern aus Faulheit. Ziererei. Niemand wählt eine Gattung, es ist die Gattung diejenige, die sich aufdrängt. Keine Romanzyklen. Das meinige ist der Tropfen, der den Stein sucht. Seine Utopie besteht darin, ihn zu höhlen. So wie der Computer sie hervorbringt und sie sich zusammentun, so versammeln sie sich irgendwann, in einem Jahr, zwei oder drei und lassen ein Buch entstehen. Und weil das so ist, fand ich auch heraus, dass das Fragment die Quelle einer Erzählform ist. Einer Art des Erzählens, die nicht mehr und nicht weniger ist als ein Videoclip, ein Flash, die Postkarte, das Wort, das mehr aussagt als tausend Bilder. Eine Zeit lang habe ich geglaubt, dass diese kurzgefasste Form des Erzählens etwas mit dem Leben im Exil meiner Sprache zu tun hatte; weshalb sich dann das Laub, der Dschungel des Realen,1 wie Saer es nennt, die Erzählung der Konturen, auf ein Minimum reduziert, im Bestreben, das Wesentliche zu erfassen, el mero, mero concho de las cosas. Damals sagte ich, ich schreibe so kurz, weil ich es von Juan José Arreola gelernt habe, und suchte damit einen Vorwand, um darin bestärkt zu werden. Die Erzählkunst von Arreola war lange Zeit ein Problem für die Literaturwissenschaft. Die Vorliebe des Schriftstellers für das Spiel und die Kurzformen der Fiktion handelten ihm mehr als nur Misstrauen ein. An einem einsamen Ort, dessen Name hier nicht wichtig ist, lebte ein Mann, der sein ganzes Leben damit verbrachte, der konkreten Frau aus dem Wege zu gehen. Er bevorzugte den Genuss der Lektüre und gratulierte sich tatkräftig, jedes Mal wenn ein fahrender Ritter eines jener verschwommenen weiblichen Gespenster angriff, die aus Tugenden und übereinander gezogenen Röcken bestehen und den Helden nach vierhundert Seiten Heldentaten, Schwindeln und Ungereimtheiten erwarten.2
Das schrieb Arreola in seiner Teoría de Dulcinea (Theorie der Dulcinea). Und Italo Calvino erfand mit seinen Cittá invisibili (Die unsichtbaren Städte) und Cosmicomiches (Cosmicomics) die von mir so ersehnte literarische Welt sowie auch Julio Ramón Ribeiro mit seinen Prosas apátridas (Heimatlose Geschichten). Diese ge-
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Juan José Saer: La selva de lo real. In (ders.): Una literatura sin atributos. México: Universidad Iberoamericana 1996, S. 51–57. Juan José Arreola: ‘Teoría de Dulcinea’. In: Biblioteca Digital Ciudad Seva, http://www.ciudadseva.com/textos/cuentos/esp/arreola/teoria.htm: «En un lugar solitario cuyo nombre no viene al caso hubo un hombre que se pasó la vida eludiendo a la mujer concreta. Prefirió el goce manual de la lectura, y se congratulaba eficazmente cada vez que un caballero andante embestía a fondo uno de esos vagos fantasmas femeninos, hechos de virtudes y faldas superpuestas, que aguardan al héroe después de cuatrocientas páginas de hazañas, embustes y despropósitos.» (Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Übersetzerin dieses Beitrags.)
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samte Literatur fand sich versammelt in der Schublade des Unklassifizierbaren. Ein Wort, das so viel wie impresentable (nicht salonfähig) heißt. Eine herabgewürdigte, unterentwickelte Literatur. Nichtsdestotrotz ist eine Rose eine Rose eine Rose. Und die Rose, die aus lauter kleinen Röschen besteht, bildet den Blumenkohl und so trifft das Minimale mit dem Fraktalen zusammen. In den achtziger Jahren las ich das Tao der Physik von Fritjof Capra, jenes Lehrbuch, in dem die orientalische Philosophie mit der westlichen Wissenschaft vereint werden sollte. Und so fiel mir das Tao mit seinen Weisheiten in die Hände: Treinta radios se juntan en el cubo Eso que la rueda no es, es lo útil. [Dreißig Speichen treffen auf eine Nabe: gemäß ihrem Nicht-sein ist des Wagens Gebrauch] Ahuecada, La arcilla es olla. Eso que no es la olla Es lo útil.3 [Man erweicht Ton, um ein Gefäß zu machen: Gemäß seinem Nicht-sein ist des Gefäßes Gebrauch]4
Hier fand ich das absolute Lob auf die Verwaltung der Stille, auf das Nicht Gesagte, auf die Zweckmäßigkeit des Nüchternen beim Sprechen, beim Erzählen. Und ich fand mich, sowohl mutig als auch ängstlich, in dem Beschreiben dieses wo nichts ist wieder. Denn dieses kürzeste Schreiben genoss keinen guten Ruf in der Presse, damals. Es war die Zeit des 600seitigen Romans, des literarischen Staubeckens, das den Assuan und den Itaipú in sich vereinte und die Aussicht, mit einer Gattung in den Ring steigen zu können, die zu dem Zeitpunkt auf große Ablehnung stieß, war gering. Das Schicksal meines Manuskriptes Come, éste es mi cuerpo5 (Iss, dieses ist mein Leib) – 30 eucharistische Texte, 30 minimale Geschichten um Essen und Hungersnöte, die Lobrede auf Fleisch, Fleischeslust, Artischocke und Spaghetti in einem allegro ma non troppo – war, dass es von Hand zu Hand ging, es wurde in Zusammenkünften und im Radio gelesen, teilweise übersetzt und in deutschen Zeitschriften veröffentlicht. Der Dichter Abelardo Oquendo, Verleger von Mosca Azul in Lima, las sie als Erster und obwohl er Gefallen an ihnen fand, beichtete er mir, dass er keine geeignete Reihe für das Manuskript finden würde. Das Schicksal wiederholte sich von Verlag zu Verlag, bis die argenti-
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Lao Tse: Tao te king. Versión von Úrsula K. Le Guin. Madrid: Editorial Debate 1999, S. 26. Lao Tse: Tao tê king. Aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Victor von Strauss. Zürich: Manesse Verlag 1959, S. 68. Esther Andradi: Come, éste es mi cuerpo. Buenos Aires: Ediciones Último Reino 1991 (Zweite Auflage 1997).
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nische Schriftstellerin Noemí Ulloa, die ich im Lesesaal des Ibero-Amerikanischen Institutes traf, sich für die Geschichten begeisterte und mich ermutigte, sie an das von Víctor Redondo geleitete Verlagshaus Último reino in Buenos Aires zu senden. Mit solch einem Namen erschienen mir Verlagshaus und Verleger wie ein Arkanum. Noemí sollte Recht behalten. 1991 erschien, Come, éste es mi cuerpo in Buenos Aires und obwohl schon zwei Auflagen ausverkauft sind, bin ich sehr froh, dass dieses Buch die Besonnenheit und den guten Geschmack besaß, in Umlauf zu kommen, bevor der Markt entdeckte, dass ein gutes ‘weibliches’ Literaturwerk unbedingt Essen und Erotik beinhalten muss. Es wurde schon oftmals mit Recht betont, dass der Text durch den Akt der Lektüre ergänzt wird. Wenn dieses so sein sollte, dann wäre es das Beste, den Leser mit einzubeziehen, indem man beim Schreiben weiße Flecken lässt. So äußerte sich der kürzlich verstorbene argentinische Humorist und Schriftsteller Roberto Fontanarrosa: Ich werde Ihnen jetzt erklären, wie ich ein Buch auswähle. Sie können es auffassen, wie Sie wollen, aber ich werde Ihnen sagen, welche Voraussetzungen ein Buch erfüllen muss, damit ich es auswähle. Als erstes und wichtigstes sollte es kein dickes Buch sein. Ein dickes Buch ist meiner Ansicht nach ein Vertrauensmissbrauch des Autors gegenüber meiner Zeit. Es wäre so, als ob jemand kommen würde und zu mir sagte: ‹Ich möchte gerne mit dir reden, hättest du zwei Wochen Zeit für mich?› Sind wir uns denn so vertraut, dass ich mit ihm und seinem Buch zwei Monate lang ins Bett steige? Des Weiteren und das werden diejenigen verstehen, die schon älter sind, wobei dieses nichts mit Reife zu tun hat: Es muss große Buchstaben haben. Es gab Schriftsteller, die schrieben mit sehr kleiner Schrift und zu diesem Zeitpunkt des Lebens ist diese Herausforderung einfach zu hoch. Außerdem muss es Lücken aufweisen. Wenn ich ein Buch aufschlage und einen schwarzen Wust sehe, als wäre er ein Ameisenhaufen, sage ich mir: Wie komme ich in den Text hinein?6
In diesem Sinne haben die cortitos (Kürzestgeschichten) den Vorteil, dass sie das Essenzielle des Erzählduktus mit wenigen Worten zusammenfassen können. Die
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Roberto Fontanarrosa: Pequeño Fontanarrosa Ilustrado. Auszug eines Vortrags des Humoristen auf der Buchmesse in Rosario, erschienen auf der hinteren Seite der dortigen Tageszeitung vom 30. August 2006, S. 12: «Les voy a explicar desde mi punto de vista cómo yo elijo un libro. Ustedes lo toman como quieran, pero yo les voy a decir qué condiciones tiene que tener un libro para que yo lo elija. Primero y principal no tiene que ser un libro gordo. Un libro gordo me parece un abuso de confianza del autor hacia mi tiempo. Es como si aparece alguien y me dice: ‹Quisiera hablar con vos, tenés dos semanas libres …› ¿cuál es el lazo de confianza que me une a ese escritor para que durante dos meses yo me vaya a la cama con él y su libro? Segundo, y lo va a comprender la gente que ya tiene cierta edad, y no es por la madurez: tiene que tener letra grande. Hay escritores que escribían con letra muy chiquitita, y ya a esta altura del campeonato ese esfuerzo es excesivo. Otra cosa: tiene que tener espacios en blanco. Si abro un libro y veo un masacote negro como si fuera un amontonamiento de hormigas, yo digo: ¿Por dónde le entro al texto?»
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kurze Erzählung vereint wie das Gedicht, Dichte und Genauigkeit und so wie dieses, bewegt sie sich durch unbekannte, mysteriöse Korridore, am Rande der Autobahnen des Marktes und in Tausend und einer Abkürzung des Lesens. Die kurze Erzählung birgt wie auch die fraktale in ihrem Inneren den Roman, mehrere philosophische Bücher, geheime Abhandlungen … sie benötigt nur mehr die Hermeneutik eines Lesers, der eine der Zeilen liest und den ganzen Tag darüber nachdenkt. Ist dieses hier keine Annäherung an die Sichtweise Buddhas, der das Sein in dem Einen sah? So gut zusammengefasst wiederum in einem Vers von Borges: Wenn, (wie der Grieche im Kratylus sagt) der Name der Archetyp der Sache sei, dann ist in den Buchstaben der Rose, die Rose und der gesamte Nil im Worte Nil.7
Und zuletzt, um mit dem weisen Wittgenstein zu sprechen: Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.8
Es scheint unmöglich, alles noch enger zusammenfassen, mit so wenig, so vertieft und unmittelbar auf so vielen Ebenen gleichzeitig ankommen zu können, wie dies der Fall im Tractatus-logico-philophicum ist. Und wenn es etwas gibt, das noch ungesagt blieb, dann sage ich es mit ihm: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.9 Und so glaubt diese Bande von Drückebergern eines Monterroso, von Speerspitzenwerfern wie Lichtenberg, von Weisen wie Wittgenstein, dass es immer möglich sei, mehr durch weniger auszudrücken. Und hier stehen wir und schauen, wer sich traut, mehr Lücken im Text zu lassen, während er auf dem Sims schreibt und alles was der Text auszuhalten vermag riskiert, ohne in den Abgrund zu stürzen, mit dem Schwindel spielend, angehäuft auf einer Zeile, konzentriert in einem kleinen Gefäß. Vielen Dank! Übersetzung: Rosa María S. de Maihold
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Jorge Luis Borges: El Golem 1958. In: Nueva Antología Personal. Buenos Aires: Editorial Emecé 1968, S. 33: «Si (como el griego afirma en el Cratilo) / El nombre es arquetipo de la cosa / En las letras de rosa está la rosa / Y todo el Nilo en la palabra Nilo.» Ludwig Wittgenstein: Tractatus-logico-philosophicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963, S. 89. Ebda., S. 115.
Mercado En el mercado me detengo ante la escultural calabaza. A un costado, una palta morada le hace un requiebro. La palta está partida a fin de demostrar eficazmente que es tan tierna como las que más. No puedo seguir adelante. Necesito confiar a alguien esta maravilla y entonces descubro que el mundo es un mercado y más valdría no hacer las compras sola. Markt Auf dem Markt bleibe ich vor dem monumentalen Kürbis stehen. Auf einer Seite hat ihm ein Schlag dunkelviolett eine Liebkosung versetzt. Der Schlag zeigt deutlich, daß er so zart ist wie nur je einer. Ich kann nicht mehr weiter. Ich muß jemandem dieses Wunder anvertrauen, und so entdecke ich, daß die Welt ein Markt ist und daß es besser wäre, nicht alleine einzukaufen. Esther Andradi
Tobias Kraft (Potsdam)
Vom Mikroskop zum Panorama und wieder zurück. Fabio Morábitos Kurzprosabände Caja de herramientas (1989) und También Berlín se olvida (2004) Der Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Fabio Morábito ist ein Meister der Verknappung. Sein breites Œuvre besteht im Wesentlichen aus literarischen Kurzformen: ein umfangreiches, lyrisches Werk, drei Essay-Bände, drei Bände mit Erzählungen und Kurzgeschichten, sowie die zwei Prosa-Bände Caja de herramientas (1989) und También Berlín se olvida (2004). Bis heute hat Morábito, dessen Bücher seit einigen Jahren bei Tusquets Editores erscheinen, keinen Roman veröffentlicht. Die Kunst des Romans liegt im Mut zur Lücke. Und ich gehöre zu denen, die sich fragen: Was ist wohl passiert in diesem Intervall zwischen dem einen und dem anderen Kapitel? In diesem, wenn auch manchmal kurzen Zeitraum, den der Roman überspringt: 1 wie viele Geschichten hätten daraus wohl entstehen können?
Es ist diese Präferenz für die Zwischenräume des bereits Erzählten und des Erzählbaren, aus denen Morábitos Texte entstehen. Sie zeigen uns PeripherieNarrative auf, wo wir sie nicht vermutet hätten: aus den Innenwelten eines Gebrauchswerkzeugs, von den Rändern einer S-Bahn-Trasse, in den Miniaturüberblendungen eines Nachmittags. Dieses Dazwischen der Perspektive ist auch ein Dazwischen der Form. So sind die 12 Texte aus Morábitos Sammlung Caja de herramientas ein Paradebeispiel für lyrische Kurzprosa, doch so ganz auf den begrifflichen Punkt bringen lassen sie sich nicht. Dies gilt vor allem für ihre jeweilige Länge und die sich daraus ergebenden Klassifizierungsvarianten. Plausibler allerdings, als bei jedem der zwölf herramientas- oder Berlín-Texte die genaue Anzahl der Wörter nachzuzählen, um dann eine Unterscheidung zwischen apunte, cue, micro-story oder einem anderen der über 50 Varianten der Forschung zu machen,2 klingt da schon der Ansatz von David Lagmanovich. Wenn unsere Vorstellungen von Länge und Kürze variieren, dann heißt das, dass wir sie nicht mithilfe einer gegebenen Zahl von Wörtern definieren können, so wie es einige
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Morábito in Tobias Kraft: Literatur in Zeiten transnationaler Lebensläufe: Identitätsentwürfe und Großstadtbewegungen bei Terézia Mora und Fabio Morábito. Potsdam: Publikationsserver der Universität Potsdam 2007 (http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2007/ 1295/), S. 115: «El arte de la novela estriba en saber saltar. Y yo soy de los que se pregunta: ¿qué ha pasado en el intervalo entre un capítulo y otro? En ese espacio de tiempo, incluso breve, que la novela pasa por alto, ¿cuántas historias no podrían haber surgido?» (Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Autor dieses Beitrags.) Vgl. Lauro Zavala: Cartografías del cuento y la minificción. Sevilla: Editorial Renacimiento 2004, S. 292 f, vgl. auch S. 338–349.
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Tobias Kraft versucht haben. Was übrig bleibt und in solchen Fällen den Ausschlag gibt, ist die Wahrnehmung des Lesers […].3
Doch natürlich erkennt auch Lagmanovich an, dass es nachvollziehbare Unterscheidungsstufen zwischen verschiedenen Subformen der minificciones gibt und so gilt es, den Ausführungen dieses Autors folgend, hier zwei Unterscheidungen für die folgenden Texte voranzustellen. In einem strengen Sinne sind erstens die Caja de herramientas-Texte keine microrrelatos, da in ihnen das Narrative nicht die Leit- sondern eine Sekundärform neben vielen anderen darstellt. So nenne ich sie im Folgenden auch nur minificciones.4 Dem gegenüber sind die autobiographischen Texte aus También Berlín se olvida trotz der auch hier erkennbaren Formenvielfalt klar als Kurznarrative mit Figur, Ereignis, Spannungsbogen und einer kohärenten Anordnung des Geschehens innerhalb einer Diegese erkennbar. Doch sie fallen, und hier komme ich zum zweiten Punkt, aufgrund ihrer Länge von durchschnittlich 6 Seiten aus dem üblicherweise für die Gattung der microrrelatos vorgenommenen Umfang von 1–3 Seiten knapp heraus. Dieses Übermaß relativiert sich allerdings bei der Betrachtung anderer Maßstäbe, denen Lagmanovich ein größeres Gewicht als das der Länge zugesteht. Die in allen Berlín-Texten erkennbare, konzise Form einer Erzählung in medias res und mit Zug zum Abschluss, das jede Opulenz vermeidende Maß der Erzählerstimme und eine auf Synthese fokussierte Erzählhaltung bilden gemeinsam das, was der argentinische Literaturwissenschaftler die «narrative Natur»5 des microrrelato nennt und unter dem für die Gattungsfrage wichtigen Aspekt der ‘Knappheit’6 fasst.
Microficciones mit vitalem Objekt-Ensemble: Caja de herramientas Als mexikanischer Schriftsteller italienischer Herkunft und in Alexandria geboren ohnehin schon «einer dieser ‘Sonderlinge’ der Sprache»,7 wagte Fabio Morábito 1989 mit Caja de herramientas ein Experiment hin zur freien Prosa. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich vor allem als Übersetzer und preisgekrönter Dichter einen Namen gemacht, aber auch bereits einen Essay-Band (El viaje y la enfermedad, 1984) sowie ein Kinderbuch veröffentlicht (Gerardo y la cama, 1984). Sind es in Morábitos Kurzgeschichten aus La lenta furia (1989), La vida ordenada (2002) oder Grieta de fátiga (2006) meistens unprätentiös erzählte Alltagsgeschichten, die entweder in ihrer Figurenzeichnung oder der Auflösung des Plots
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David Lagmanovich: El microrrelato. Teoría e historia. Palencia: Menoscuarto Ediciones 2006, S. 22–23: «[S]i las nociones de extensión y brevedad son relativas, ello implica que no se pueden definir en función de un número dado de palabras, como han intentado algunos. Lo que queda, y lo que define tales casos, es la percepción del lector […].» Vgl. auch ebda., S. 38. Vgl. ebda., S. 91f. David Lagmanovich: El microrrelato, S. 313: «naturaleza narrativa».Vgl auch ebda., S. 314ff. Vgl. hierzu die Ausführungen Lagmanovichs in diesem Band. Sergio Pitol in Fabio Morábito: También Berlín se olvida. México D.F.: Tusquets Editores 2004, Klappentext: «uno de los ‘raros’ de la lengua».
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für (mindestens) eine Überraschung sorgen, spielt das Narrative in den Caja de herramientas-Texten eine eher sekundäre Rolle, die dennoch kurz besprochen werden soll. Obwohl sie die Alltagsinstrumente eines Werkzeugkastens ins Zentrum ihrer reflexiv-poetischen Rede stellen, bemühen sich diese kaum mehr als drei Seiten langen Texte auf den ersten Blick genauso wenig um eine konzise Erzählung wie um einen linearen Aufbau der Gedanken. Doch das sollte vielleicht nicht überraschen, bildet doch die Alltäglichkeit der Gegenstände selbst die narrative Folie, auf der sich die Dynamik der Texte erst entwickelt. Um es anders zu sagen: Zum Werkzeugkasten bringt jeder Leser seine eigenen Geschichten bereits mit und so braucht sich der Text nicht mehr zu kümmern, erst eine gemeinsame Sinnebene herzustellen. Die anscheinende Zufälligkeit der wie an einer losen Kette aneinander gefügten Semantiken und Reflexionen zu beispielsweise einem Hammer verschleiert jedoch die hohe Kunstfertigkeit, mit der hier literarisch gearbeitet wird. Nicht umsonst ziert das paratextuelle Motto des Bandes das genauso strenge wie lustvolle Zitat «Von null an»8 von John Cage, dessen Musik wesentlich vom Prinzip des kalkulierten Zufalls, der formalen Reduktion und der Stille geprägt ist.9 Denn die Texte zu Feile und Sandpapier, zum Schwamm, Öl, Rohr, Messer, Seil, zur Tasche, Schraube, Schere und Sprungfeder oder zum Lappen und dem bereits erwähnten Hammer sind keineswegs harmlose Spielereien, sondern so sehr ernsthafte wie elegante Neuschreibungen dieser so wenig beachteten Objekte. Statt einer künstlerischen Ästhetisierung mit moralischer Botschaft (wie z.B. in der Fabel) erreicht Morábito in diesem weltlichen Bestiarium10 der Dinge vielmehr eine Anthropomorphisierung seiner Instrumente und Stoffe, die fortan wie lebendige Skulpturen den Text bevölkern: Das Öl ist ein Wasser, das den Drang und die Dreistigkeit des Aufbruchs eingebüßt hat und nun, wo alle Wege gegangen sind, feststellt, daß es Land betritt, das es in der Vergangenheit bereits durchlaufen hat. Es ist ein Wasser, das eine Reise um die Welt hinter sich hat. Es ist überflüssig […]. Es ist ein üppiges Wasser, das vor lauter Fließen erfah-
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Fabio Morábito: Die langsame Wut. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot und Susanne Lange. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 79. Fabio Morábito: Caja de herramientas. [1989] México D.F.: Fondo de Cultura Económica México 1994, S. 7: «Partir de cero.» Vgl. Peter Watson: Das Lächeln der Medusa. Die Geschichte der Ideen und Menschen, die das moderne Denken geprägt haben. [2000] München: C. Bertelsmann 22001, S. 729 f, 884ff. Zur besonderen Stellung und Bedeutung der hispanoamerikanischen bestiarios als Genre der minificciones vgl. Lauro Zavala: Prólogo. In dies. (Hg.): Minificción mexicana. México D.F.: UNAM 2003, S. 7–19, hier S. 14ff., sowie Lauro Zavala: Cartografías del cuento y la minificción. Sevilla: Editorial Renacimiento 2004, S. 74f. und David Lagmanovich: El microrrelato. Teoría e historia. Palencia: Menoscuarto Ediciones 2006, S. 135ff. Sicher nicht zufällig erinnern Morábitos Werkzeug-Texte stilistisch auch an das Bestiario des mexikanischen Schriftstellers Juan José Arreola.
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Tobias Kraft rungsschwer geworden ist, bösartig vielleicht. […] Es ist ein Wasser, das schwach auf 11 den Beinen ist.
Diese Einführung in das literarisierte Wesen der Dinge ist das Ergebnis einer Psychologisierung der mit ihnen verbundenen Handlungen. So entsteht – man könnte meinen: aus dem Stehgreif – eine von diesen Charakterstudien ausgehende Projektion auf eine Psyche des Objekts. Durch die Rückbindung der Objekteigenschaften an ihren Gebrauch und damit an ihre Beziehung zum Menschen verbinden diese Ensemble-Fiktionen ein literarisches Spiel mit einer soziologischen, bisweilen auch ethnologischen Tiefendimension. Im Unterschied zum Analogon Tier – Mensch der Fabel ist der symbolische Verweis hier subtiler: denn analog zum Menschen ist bei Caja de herramientas nicht das Objekt selber, sondern das Spektrum der durch das Objekt ermöglichten Handlungen und Absichten. Diese werden – im Weitwinkel der ihnen zugrunde liegenden, verhaltens- wie sozialpsychologisch deutbaren Motivationen – vor dem Leser ausgebreitet. [Der Hammer] ist das einfachste Werkzeug und das tiefgründigste. Kein anderes füllt so unsere Hand, ja uns selbst aus, kein anderes nimmt uns so für die Arbeit ein. Mit einem Hammer in der Hand erlangt unser Körper seine ideale Spannung, eine klassische Spannung. Jede Statue sollte einen Hammer haben, ob sichtbar oder unsichtbar, wie ein zweites Herz oder ein Gegengewicht, das den Gliedmaßen des Körpers die angemessene Schwere verleiht. Sobald wir einen Hammer halten, werden wir runder, vollkommener. 12 Er ist das perfekte Requisit für die Dauer.
Morábitos Werkzeuge spiegeln den Menschen in seiner Schaffenskraft und sind zugleich sein Komplementär, sie reproduzieren und ergänzen den menschlichen Ausdruck, in ihnen speichert sich das Bewusstsein von der Formbarkeit der Welt. Caja de herramientas essentialisiert und entbanalisiert den Umgang mit seinen Objekten, ohne sich selbst dabei unnötige diskursive Last aufzulegen. Im Gegenteil: Trotz ihrer semantischen Dichte und multiplen Assoziationen bleiben die minificciones erstaunlich gut lesbar und eröffnen dabei die eigentliche Stärke ihrer Komposition: ihre Leichtigkeit. Sie ist das Ergebnis einer sorgfältigen Anordnung unterschiedlichster literarischer Textsorten und -verfahren, die unscheinbar aber wirkungsvoll ineinandergreifen. Aphorismen, «das Gesicht, das lacht, will ein an-
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Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 90–91. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 19: «El aceite es un agua que ha perdido el ímpetu y el descaro de la ida, y ahora, agotadas todas las rutas, se descubre pisando tierras que pisó en el pasado. Es un agua que ha dado vuelta al mundo. Está de sobra. […] Es un agua de lujo, que de tanto fluir se ha vuelto pesada de experiencia, quizá maligna. […] Es un agua débil de rodillas.» Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 126. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 57: «[El martillo] es la herramienta más fácil, y la más profunda. Ninguna otra nos llena la mano tanto como ella, ninguna otra nos inspira el mismo grado de adhesión al trabajo y de aceptación de la tarea. Con un martillo en la mano nuestro cuerpo adquiere su tensión justa, una tensión clásica. Toda estatua debería tener un martillo, visible o invisible, como un segundo corazón o un contrapeso que diera la gravedad debida a los miembros del cuerpo. Cargando un martillo nos volvemos más rotundos y más íntegros; es el aditamento perfecto para la permanencia.»
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deres Gesicht sein, […] es will allem Starren entfliehen»,13 folgen auf Kleinstallegorien wie die der selbstmordbereiten Menschenschar in ‘El trapo’,14 essayistische Blitzsentenzen machen Platz für Portrait-Fragmente voll metaphorischer Schönheit: «das Öl [ist] ein Wasser, das ein Geheimnis trägt»,15 die wiederum in sich abgeschlossene Kleinsteinheiten bilden, wie ganze Absätze und Kapitel eines nur scheinbar längeren Textes. Diese Rastlosigkeit der Form wird angetrieben von einer unbändigen Lust am Anfang, von einer ständig aus sich selbst herauswachsenden Dichtung des ersten Satzes. In diesem Schreibmodus liegt das Geheimnis der Kurzform.
Vom Mikroskop zum Panorama Das Verfahren der Verschaltung gleichrangiger, multipler Logiken ist in Morábitos Werkzeug-Texten zugleich die mikroanalytische Segmentierung eines belebten Objekts als auch die Projektierung dieser Teil-Logiken auf das Großformat literarischer Gesamtschauen: «Er versucht das Ganze durch seine Teile zu zeigen.»16 Dieses pars-pro-toto-Prinzip fraktaler, selbstähnlicher Strukturen beginnt bei den bereits erwähnten Aphorismen, Kurzportraits und Allegorien als sowohl eigenständige wie korrespondierende Teile eines Textes, das dieser in seiner Anordnung als sowohl autonomer wie relationaler Teil eines Textensembles fortsetzt. Alle diese Teile – Fragment, Text, Textensemble – wiederum strahlen weit über die Dinge hinaus, von denen sie sprechen und üben sich an den großen Motiven: Ein reinigender Wisch mit dem Lappen wird zum Ausdruck menschlicher Sesshaftigkeit, in einer Schere bündelt sich der tragische Kampf zweier im Hass vereinter Schwestern und in den labyrinthischen Verästelungen des permissiven und unkritischen Schwamms findet das Wasser endlich zu sich selbst. [D]as Wasser ist nie so sehr Herr seines Ausdrucks, seiner Stimme wie im Innern eines Schwamms. […] Mit seinen tausend Verästelungen bremst der Schwamm den Fall des Wassers, damit sich das Wasser Wasser nennen kann, in aller Reinheit und Menschlichkeit. Im Schwamm wachsen dem Wasser vorübergehend wieder Hände und Füße, Rumpf, Finger und Knorpel und somit eine Quelle des Selbstbewußtseins, es ist auf sich 17 selbst zurückgeworfen.
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Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 106. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 37: «el rostro que ríe quiere ser otro rostro, […] para huir de las facciones». Vgl. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 56. Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 110. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 41: «el aceite es un agua que carga con un secreto». Eduardo Milán/Ernesto Lumbreras (1999) (Hg.): Prístina y última piedra. Antología de poesia hispanoamericana presente. México D.F.: Editorial Aldus 1999, S. 389: «Pretende mostrar el todo a través de sus partes.» Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 87. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 14–16: «[E]l agua no se halla nunca tan dueña de su expresión, de su voz, como dentro de una esponja. […] Lo que hace la esponja con sus mil ramificaciones es frenar la caída del agua para que el agua se nombre a sí misma sin dificultad, limpia y humanamente.
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So wie das Wasser im Durchdringen des Schwammes zu sich selber findet, indem es sich seines Körpers in der Verlangsamung erst bewusst wird, so findet der Schwamm erst seine Bestimmung in der Verbindung mit dem Wasser. Was sich in der kleinsten Verästelung des Schwammes – und des Textes – abbildet, ist die Essenz des Wassers als flüssige Bewegung, als Strom. Ein Makromoment im Mikroskop. Diese fraktalen Teil-Logiken, im Mikroskop wie im Panorama, können sich durchaus widersprechen. So lesen wir in ‘Das Rohr’, dieses kommunizierende Werkzeug sei zugleich stets das Neue […] voller Sonntag […] unser Anteil an Ebene […] Dringlichkeit […] eine Abkürzung […] nichts als Nacken und Rücken […] ein Schlafwandler […] betäubend […] 18 Symbol vollendeter, unumschränkter Herrschaft […] gleichmütig.
Trotz dieser vorsätzlichen Verkettung verschiedenster poetischer Objekt-Bilder – «Ein Rohr funktioniert, solange es […] den Atem anhält.»19 – und Metaphern – «Jede Abkürzung ist ein Flug»20 – dominiert in jedem der Caja de herramientasTexte ein Motiv, das die Grundstimmung des Textes und die Kernaussage über das Objekt vorgeben. Gut so, würden die Texte doch sonst Gefahr laufen, sich im Spiel zu verzetteln und ihr eigentliches Ziel aus dem Blick verlieren: die Sprengkraft des Alltäglichen zu inszenieren. So sind die verschiedenen Assoziationsabenteuer von ‘Das Rohr’ leitmotivisch geprägt von der bereits erwähnten Ebene, ein Ordnungsraum, der in Mikroszenen zusammengedacht wird als zugleich konkrete wie abstrakte Fläche: ‹He, du!› ruft man und formt mit den hohlen Händen um den Mund ein Rohr, ein Stück Ebene, als wollte man den anderen von der Welt isolieren und ihn schnell mit seinem Ruf einfangen. […] die Rohre […] sind der Sieg des Allgemeinen und der Ebene, denn was durch ein Rohr fließt, ist immer vage und amtlich, ist flach, gehört dem Staat an. […] Kurzum, das Rohr ist […] eine tätige Ebene. […] Man muß sich nur ansehen, wie das Rohr eines Teleskops […] vorgeht: es rekrutiert Lichtwellen, es isoliert sie, […] ver21 setzt sie in einen mystischen Zustand, […] ganz Ebene.
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En la esponja el agua recobra fugazmente manos y pies, tronco, dedos y cartílagos, o sea un germen de autoconciencia, y vuelve a sí misma […].» Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 94–97. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 23–25: «siempre la novedad […] lleno de domingo […] nuestra ración de llanura […] premura […] un atajo […] puro nuco y lomo, puros pasos de ciego […] narcótico […] símbolo de un pleno señorío alcanzado […] ecuánime.» Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 94. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 23: «Un tubo funciona […] por retención del aliento». Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 95. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 24: «Todo atajo es un vuelo». Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 94–96. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 23–25: «‹¡Hey, tu!›, se grita ahuecando las manos alrededor de la boca en forma de tubo, en forma de llanura, como si se quisiera abstraer al otro del mundo y uncirlo rápidamente con la punta de nuestro grito. […] los tubos […] representan la victoria de lo genérico y la llanura; porque lo que lleva adentro un tubo es siempre vago y oficial, es
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Die vielverschalteten Teil-Logiken dieser teleskopischen wie mikroskopischen Texte provozieren eine Beschleunigung der Rezeption, die den Leser in einer Art fortlaufenden diskursiven Überraschung immer weiter in die Welt eines Objekts führt, aus dem doch stets als Panorama der Mensch mit seinem Handeln herausscheint. Diese Stimmungs- und Tempowechsel, zwischen extatischem Wortspiel und kontemplativer Reflexion, verdanken sich einer Textkomposition, die Morábito «zahllose Male verändert, verbessert, bis die gewünschte Intensität erreicht ist».22 Und ähnlich wie seine Kurzgeschichten und Berliner microrrelatos, die stets in medias res beginnen und «immer neue, unerhörte und unvermutete Wendungen»23 nehmen, kennt seine Caja de herramientas-Prosa auch nicht im eigentlichen Sinn einen, sondern nur multiple Möglichkeiten des Anfangs. Ein sprunghafter Leser könnte seine Lektüre bei fast jedem Satz dieser proliferierenden Texte beginnen. Anders bei den Schlusssätzen: Sie kennzeichnet meist eine pointierte Genauigkeit, die – je nach Tonfall – an einen Schlussakkord oder eine Sprungfeder denken lässt, die beim Zuschnappen laut schnalzt. [O]ft, wenn die beiden Scherenklingen in ihre Arbeit versunken sind, […] gehen sie eine ernsthafte Verbindung ein, sie verabreden sich mit Feuereifer, mit geschliffener Liebenswürdigkeit, sie bilden ein vernickeltes Ehepaar, jeder Teil vergißt sein einstiges Bohemeleben, und während sie flinke Routen durch Meere von Stoff oder Karton oder Papier ziehen, erkennen wir auf einmal, daß die beiden kein doppeltes Spiel mehr spielen, kein Bein stellen, nicht Schrecken verbreiten oder Rufmord begehen, sondern sich 24 schlicht und ergreifend gratulieren.
Microrrelatos eines vollständig Fremden: También Berlín se olvida Der Autor lebte für einen längeren Zeitraum in Berlin. Die Chronik jener Zeit streift nicht das Offensichtliche, das Lärmende, das Opulente; er wählt einen anderen Weg: mithilfe scheinbarer Kleinigkeiten entdeckt er Schritt für Schritt das verborgene Herz 25 von Berlin, so wie es keiner vor ihm getan hat.
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llano, pertenece a la patria […] En suma, el tubo es […] llanura en acto. […] Basta ver lo que hace el tubo de un telescopio o de un microscopio: recluta ondas de luz, las aísla y las descorteza, […] las deja en estado místico, en situación de perfecta audiencia, de llanura.» Michi Strausfeld: Die innere Unordnung. Nachwort. In: Fabio Morábito: Das geordnete Leben. Berlin: DAAD Berliner Künstlerprogramm 2003, S. 151–155, hier: S. 155. Ebda., S. 154–155. Fabio Morábito: Die langsame Wut, S. 117. Fabio Morábito: Caja de herramientas, S. 47: «[A] menudo, mientras están sumergidas en su trabajo […], las tijeras se emparientan en serio, se dan cita con calor, con arte, con finura, forman un niquelado matrimonio, cada parte olvida su bohemia perdida, y a las dos, mientras abren diligentes rutas en mares de tela o de cartulina o de papel, las descubrimos de pronto no zancadillando, no sembrando terror y calumnias sino simple y llanamente congratulándose.» Sergio Pitol in Fabio Morábito: También Berlín se olvida, Klappentext: «El autor vivió una larga temporada en Berlín. La crónica de aquel tiempo no toca lo obvio, lo estruendoso, lo opulento; elige un camino diferente: a través de aparentes minucias va descubriendo el corazón profundo de Berlín como nadie lo ha hecho.»
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1998–1999 ermöglicht Fabio Morábito ein Stipendium des DAADKünstlerprogramms einen einjährigen Aufenthalt in Berlin, mit dem er sich in eine traditionsreiche Reihe von lateinamerikanischen Autoren einreiht, die sich – aus politischen oder privaten Gründen – für eine längere Zeit in dieser Stadt aufgehalten und ihre jeweils eigenen Spuren in ihr hinterlassen haben.26 Als Ergebnis dieser Zeit veröffentlicht er 2004 den Erzählband También Berlín se olvida, «das Buch, das mich von allen, die ich geschrieben habe, am meisten überrascht hat». 27 Die 13 hierin enthaltenen, kurzen Erzählungen lesen sich wie eine Leistungsschau der literarischen Fähigkeiten Morábitos, der zugleich ein brillanter Erzähler und an der Lyrik gereifter Sprachkünstler wie auch ein präziser Beobachter des Alltags ist, «[mit] einem Faible für das Beobachten, das einhergeht mit einem Gefühl nicht dazu zu gehören».28 Dieses Gefühl zweifelhafter Zugehörigkeit ist für diesen Autor, der in seiner Zweitsprache Spanisch schreibt und in seiner Wahlheimat Mexiko lebt, ein Grundzustand des Lebens und Arbeitens geworden. Ein Gefühl, das ein multizentrisches Dazwischen eines Schriftstellers beschreibt, der stets jenseits fester Zugehörigkeiten gelebt hat und mit seiner Biographie wie Schreibpraxis als prototypischer Vertreter einer ‘Literatur ohne festen Wohnsitz’29 verstanden werden kann. Als solchermaßen geübter Schreiber zwischen den Welten (der Sprachen, der Kulturen, der Lebensräume) baut Morábito in seinen Wanderungen durch Berlin eine geradezu intime Beziehung mit dieser unbekannten Stadt auf, in der er dennoch nie ganz aufgeht. Anstatt die Berliner Schrebergärten, die ihn so sehr faszinieren, selbst zu betreten und den Kontakt mit ihren Bewohnern zu suchen, bleibt er, in der Figur des Erzählers, auf Distanz. Ausgehend von einem konkreten Moment der Erfahrung, neigen seine Erzählungen dazu, das Gesehene und Erlebte zu essentialisieren. So wird das Miniaturmodell ‘Schrebergarten’ in der schon bekannten Bewegung vom Mikroskop zum Panorama projektiert auf die menschliche Sehnsucht nach Perfektion der Lebensumstände. Ich habe mich nie getraut, einen Kleingarten zu betreten, weil alle oder beinah alle von Stacheldraht umzäunt waren, die einen zufälligen Besuch untersagten. Was mich viel-
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Vgl. hierzu Karl Kohut: Berlín: ¿Ciudad latinoamericana? In: Christoph Strosetzki/Jean François Botrel/Manfred Tietz (Hg.): Actas del I Encuentro Franco Alemán de Hispanistas. Frankfurt am Main: Vervuert 1991, S. 118–133. Tobias Kraft: Literatur in Zeiten transnationaler Lebensläufe, S. 117: «el libro que más me ha sorprendido de todos los que he escrito». Fabio Morábito: ‘Quitémonos las fiestas hechas para ser festivos realmente’. Interview mit Fabio Morábito. In: Ansunción Horno Delgado (Hg.): Diversa de ti Misma: Poetas de México al Habla. México D.F.: Ediciones El Tucán de Virginia 1997, S. 290–300, hier S. 291: «[con] cierto espíritu de observación que va aparejado de un sentimiento de no pertenencia». Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos Kulturverlag 2005.
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leicht anzog, war in ihnen den menschlichen Traum gespiegelt zu sehen, der in der Mi30 niatur die Perfektion anstrebt, die ihm in normaler Größe verwehrt bleibt.
In der beobachtenden Distanz, die der Miniaturen-Erzähler dabei wahrt, äußert sich eine für diesen Erzählband typische Haltung des gedrosselten, kontrollierten Kulturkontakts. Sie ist zugleich Grundgefühl eines teleskopischen Schreibens, dass sich der Distanz zur eigenen Literatursprache stets bewusst ist: «ich schreibe in einer Sprache, in der ich zu Gast bin.»31 Diese Zurückhaltung wird sowohl narrativ inszeniert als auch sprachlich thematisiert. Sie ist Ausdruck einer Distanz zum Objekt seiner Betrachtungen – Berlin, Deutschland und den Deutschen –, die sich aus einer für Morábito selten klaren Abgrenzung ergibt. In Deutschland und im Kontext seiner Zeit als DAAD-Künstlerstipendiat ist der mexikanische Italiener arabischer Herkunft zum ersten Mal vollständig ein Fremder. Und das scheint ihn nicht im Geringsten zu stören. Im Gegenteil: Es wird zum produktiven Ausgangsmoment seiner Berlin-Erfahrung. Meine Beziehung zu Berlin war zu jedem Zeitpunkt die eines Ausländers auf Durchreise, der auf die Stadt in dem Wissen schaut, dass er wieder fortgehen wird. So gesehen war es ein Jahr der Besinnung. Zum ersten Mal fühlte ich mich gänzlich und vollständig wie ein Ausländer, daran war nichts zu drehen. Was für eine Erleichterung! Für ein Jahr entkam ich diesen Grauzonen, in denen ich stets gelebt hatte: in Ägypten, gebürtig aber Ausländer; in Italien, ein Italiener geboren in Ägypten; in Mexiko, ein Mexikaner mit 32 italienischem Pass.
Zum ersten Mal ist Morábito nun nicht mehr zwischen den Ländern, Ethnien, Kulturen und Zuschreibungen zuhause. Zum ersten Mal ist dieser im Dazwischen so geübte Mann ein Außenstehender. Eine wohltuend klare und klärende Abgrenzung.
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Fabio Morábito: También Berlín se olvida, S. 25: «Nunca me atreví a entrar en un Kleingarten, porque todos o casi todos estaban rodeados de alambrados que inhibían al visitante casual. Quizá lo que me atraía era ver reflejada en ellos esa ensonación humana que busca en la miniatura la perfección que no encuentra a escala normal.» Fabio Morábito: ‘Quitémonos las fiestas hechas para ser festivos realmente’, S. 291: «escribo en una lengua en la que me siento huésped.» Zu Morábitos Umgang mit dem Spanischen als Zweit- und zugleich Literatursprache, sowie zu Fragen seiner zwischen drei National- und Kulturräumen angesiedelten Identität vgl. Tobias Kraft: Literatur in Zeiten transnationaler Lebensläufe, S. 53ff. Morábito in Tobias Kraft: Literatur in Zeiten transnationaler Lebensläufe, S. 113: «Mi relación con Berlín fue a cada instante la de un extranjero de paso, que mira la ciudad con los ojos de alguien que sabe que se va a ir. En este sentido, fue un año de descanso. Por primera vez me sentí total y absolutamente extranjero, sin vuelta de hoja. ¡Qué alivio! Escapé durante un año de las medias tintas, como siempre he vivido: en Egipto, nativo pero extranjero; en Italia, italiano nacido en Egipto; en México, mexicano con pasaporte italiano.»
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Von der Präsenz größter Zusammenhänge im Allerkleinsten des Alltags Mit der stillen Konzentration eines Zuschauers entstehen in dieser geradezu komfortablen Situation des Fremden Texte, die geprägt sind von der Verschiebung des Blicks hin auf ein anderes, weniger bekanntes Berlin, auf eine Stadt der Peripherien, deren Schicksal, niemals fertig zu werden, zu ihren größten Stärken zählt. Dieser andere Blick auf die Stadt wird vielfach inszeniert und findet in den programmatisch an den Anfang des Bandes platzierten Erzählungen, ‘S-Bahn’ und ‘Kleingärten’ in der großstadtspezifischen Pendel- und Kreisbewegung einer SBahn-Fahrt seine erste eindeutige Perspektivierung. Zum Vorschein kommen dabei nicht die Monumente der Großstadt, sondern die Ränder, gleichsam Uferzonen, der Gleistrassen. Nicht Start- und Zielort der Stadtreisen rücken so ins Blickfeld, sondern der Reiseweg selbst. Auf ihm, sei es zu Fuß, im Bus oder in der Bahn, entdeckt der Erzähler die ihm zunächst fremde Stadt als ein Ganzes multipler Peripherien. Es gibt hier eine gewisse Abneigung gegen das Polierte, das Aufgeregte, die Emphase, die schließlich der Stadt einen Hauch ständiger Peripherie verleiht. In gewisser Weise heißt, sich durch Berlin zu bewegen, von einer in die nächste Peripherie zu wechseln und Berlin erbringt den Beweis, dass eine großartige Stadt die Summe ihrer Peripherien 33 sein kann.
Dieser alltägliche Umgang mit dem berühmten Berliner Transportmittel vermittelt unverhofft eine andere, privatere Stadt. Es ist das Berlin des zweiten Stocks, auf dessen Höhe die S-Bahn für gewöhnlich durch die Stadt rauscht und dabei dem müßigen Passagier allerlei Einblicke in die Intimsphäre der Anwohner gibt, die zugleich den vielleicht intimsten Blick in die Stadt selbst darstellen. Die Gebäude, nun nicht mehr durch den Boden miteinander verbunden, folgen in einer mehr metaphysischen denn realen Ordnung aufeinander, und alles erlangt, wegen der Dominanz der Fassaden über die Straßen, eine szenische Qualität, die sich bei Nacht noch verstärkt, wenn die S-Bahn, während sie an den erleuchteten Zimmern vorbeizieht, 34 den Reisenden flüchtige Einblicke in ferne Intimsphären erlaubt […].
Der Autor greift diesen Gedanken einer Stadt der Fenster, deren innere Ordnung aus der Perspektive des zweiten Stocks neu entsteht, am Ende des Textes auf, wenn sich der Erzähler nach der Erfüllung dieser städtebaulichen Bewegungspotenziale in der Utopie einer kubistischen Stadt sehnt: eine Stadt der Gleichzeitigkeit aller Perspektiven, aller Versprechen, aller möglichen Welten.
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Fabio Morábito: También Berlín se olvida, S. 28: «Hay como un rechazo al lustre, al revuelo, al énfasis, que acaba por otorgar a la ciudad un aspecto de perpetua periferia. En cierto modo moverse por Berlín es trasladarse de una periferia a otra y Berlín es la prueba de que una gran ciudad puede ser la suma de sus periferias.» Ebda., S. 15: «Los edificios, ya no unidos por el suelo, se suceden en un orden más metafísico que real, y todo adquiere, por la supremacía de las fachadas sobre las calles, un aspecto escenográfico, que se acentúa de noche, cuando el S-Bahn, rozando los cuartos encendidos, regala a los pasajeros visiones fugaces de intimidad ajena […].»
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[V]ielleicht ist die geheime Bestimmung der S-Bahn ja nicht nur, mit den Fenstern zu verwachsen, sondern sie eines Tages zu durchdringen, mauereinwärts zu reisen, um das Berlin zu erkundschaften, dass wir nicht sehen, und erst dann nach draußen zu gelangen, wenn wir Zimmer, Küchen, Alkoven, Spiegel, schreiende Kinder und Seitensprünge passiert haben. […] Nachdem sie solange die Stadt der Mauer gewesen ist, die unpassierbare Stadt, würde sie sich in die erste kubistische Stadt der Geschichte verwandeln, 35 die erste, offen für alle Blickwinkel und Meinungen.
Der Metropolenflüsterer Morábito erkennt in der S-Bahn nicht nur ein ideales Transportmedium für Voyeuristen hinter den einen und Exhibitionisten hinter den anderen Fenstern, er sieht in ihr nicht nur das Versprechen einer Picasso-Stadt, sondern dank ihrer konstanten Pendel- und Kreisbewegung auch ein Medium beständiger Kohäsion, ohne das Berlin vielleicht seinen Zusammenhalt einbüßen müsste: «Wie sie gegen den Strich der Stadt auf Reise geht […], gleicht die S-Bahn einer Nadel, die ein Garn um Berlin näht.»36 In ihrer ganzen städteplanerischen und verkehrstechnischen Präzision steht die S-Bahn sinnbildlich für das Talent der Deutschen, auf engstem Raum zusammen und doch getrennt zu leben. Sie produziert und reproduziert Mikrosysteme urbanen Nebeneinanderlebens: jeder einzelne in seiner Kleinstparzelle des Privaten. [D]as Gefühl von Sorgfalt, von weise berechneter Genauigkeit, welche die Fahrt in einem Zug, erbaut zwischen Zement und Fenstern, erzeugt, lässt sich verstehen als die Quintessenz des Talents, das die Deutschen haben, auf Tuchfühlung zusammenzuleben ohne sich zu berühren. Ein Stück von dieser angeborenen Undurchdringlichkeit, die es ihnen erlaubt, ihren Nächsten zu ignorieren und sich eine Privatsphäre von einem halben Quadratmeter zu schaffen, wenn sie in einem vollen Café sitzen, […] versteht man endgültig, wenn wir uns diese Art fliegenden Teppich anschauen, der die Berliner S-Bahn 37 ist.
Der Text kehrt hiermit zum ursprünglichen Fenstermotiv zurück und schließt an mit einer phänomenologischen Betrachtung über die Deutschen, deren Eigenarten sich als eines der entscheidenden Leitmotive durch diesen Erzählband ziehen. Aus dem ständigen Umkreisen und Durchdringen dieses fremden Stadtraums speist sich
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Ebda., S. 18: «[T]al vez, la secreta vocación del S-Bahn no es sólo adherirse a las ventanas, sino penetrar algún día en ellas, viajar muros adentro para explorar el Berlín que no vemos y volver al exterior después de haber recorrido cuartos, cocinas, alcobas, espejos, gritos de niños y adulterios. […] Después de haber sido por tantos años la ciudad del Muro, la ciudad irrecorrible, se convertiría en la primera ciudad cubista de la historia, la primera en abrirse a todas las miradas y a todos los puntos de vista.» Ebda., S. 16: «Viajando a contrapelo de la ciudad, […] el S-Bahn tiene algo de aguja que cose un hilo alrededor de Berlín.» Ebda., S. 17: «[L]a sensación de pulcritud, de fina sabiduría de cálculo que produce el paso de un tren elevado en medio del cemento y de las ventanas, puede verse como la quintaesencia del talento que tienen los alemanes de convivir codo a codo sin tocarse. Algo de esa impermeabilidad congénita que les permite ignorar al prójimo y construirse una privacidad de medio metro cuadrado cuando están sentados en un café muy concurrido, […] se entiende cabalmente cuando miramos esa especie de alfombra mágica que es el S-Bahn berlinés.»
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ein Erzählerblick, der Blickbewegungen ermöglicht, deren Brennweite vom Teleskop (Fenster) bis zum Panoramawinkel (Häuserfassaden) reicht und dabei stets dasselbe Phänomen zu fassen sucht: ein anderes Verhältnis der Deutschen zu privatem und öffentlich einsehbarem Raum. So auch in ‘Kleingärten’. Hier gelingt es Morábito, die zwei Hauptmotive der vorherigen Erzählung, die Zoom-Perspektiven einer S-Bahn-Fahrt und die Perfektion einer deutschen Kleinstprivatsphäre, in einem neuen Bild zusammenzufassen: dem Schrebergarten als perfektes Abbild der Mikro-Peripherie. Er ist nicht nur radikalster Ausdruck einer maximal reduzierten Intimsphäre, sondern zugleich ein Substrat der Fenster, deren Einblick den S-Bahn-Fahrer in der vorherigen Geschichte noch so sehr stimulierten. Waren die Fenster in ‘S-Bahn’ Ausdruck eines zweites Berlins auf der Höhe des zweiten Stocks, so ist der Blick auf die Gartenkolonien an den Grundstückgrenzen der Bahngleise die Perspektivierung auf ein drittes Berlin, ein untergeschossiges Freiluftberlin der Puppenhausexistenzen. Der Fokus auf diese Gartenkolonie beschreibt im besten Sinne Morábitos poetisches Verfahren, wie es sich bereits im Blick auf die nächtlichen Schlafzimmerszenen der Berliner andeutete. Während er sich aus der Perspektive des distanzierten (in der S-Bahn vorbeirauschenden) Teleskop-Beobachters mit den Kleinsteinheiten der Schrebergärten auseinandersetzt, entwickelt er zugleich ein vielfach größeres Reflexionspanorama in einem Akt translokaler Projektion, wenn den Hafenstädter Morábito zwischen dem Herannahen und Entfliehen der Züge eine Ahnung von Meer und Küste beflügelt. Das ferne Zitat der Meeresgezeiten, die Nähe zum Gleis, ist die Illusion eines Ufers. Die keineswegs feindlichen oder unbequemen Bahngleise scheinen die Bewohner der Kleingärten mit diesem Hauch des Anderen und der Ferne zu versehen, das einen dazu treibt, sich auf die Suche nach dem Meer und den Bergen zu machen. Um präziser zu sein: Das Neuartige, das die Eisenbahntrasse mit ihrem Meeresrauschen anspült, schafft eine entfernte Verwandtschaft zwischen den Zuggleisen und dem Strand. Die Schienen 38 sind die Verheißung des Meeres für die Armen und die Sesshaften.
Morábito verbindet so geschickt die Transport- und Wegelinien von Wasser- und S-Bahn-Trassen zu einer selbstähnlichen Geräuschkulisse, die dort, am Ufer der SBahn, eine andere Welt der Miniaturen entstehen lässt. Im Blick auf die Kleinsteinheiten dieser Parallelwelt entsteht ein Fokus, der das Periphere zum Zentrum macht und seine vermeintliche Subordinarität konterkariert durch eine Suche nach der Essenz der Dinge, die aus einer Betrachtung von Schrebergärten nicht nur, wie gerade gesehen, zu einer Reflexion über das menschliche Grundbedürfnis nach einer perfekten Idylle, sondern von dort, dem Konzept des kleinen Gartens, zu der
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Ebda., S. 23: «El ferrocarril, lejos de ser una presencia hostil o incómoda, parece proveer a los habitantes de los Kleingärten de ese toque de alteridad y de lejanía que es lo que impulsa a salir en busca del mar y las montañas. Para ser más exactos, el carácter de novedad que introduce el surco ferroviario con su brillo marino establece un parentesco remoto entre la vía del tren y la playa. Los rieles son una suerte de mar para los pobres o los sedentarios.»
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eigentlichen Funktion aller Gärten gelangt: der Möglichkeit eines intimen Rückzugraums. Vom Panoramafenster in den Mikrokosmos und wieder zurück. Ein Garten ist intim oder er ist kein Garten. Darum lässt sich jeder Garten in kleinere Gärten unterteilen. Das Gesetz des Gartens ist bei jeder Handbreit Erde neu zu beginnen, mit jedem Schritt eine neue Vorstellung von Garten zu erproben. Das erklärt die Leichtigkeit, mit der man sich in einem Garten abschotten und dort seine Lieblingsecke finden 39 kann, seinen eigenen innerhalb des größeren Gartens.
Stadt- und Schreibbewegungen Die Stadtbewegungen des Nahverkehrs, mit denen Morábitos Alter-Ego in También Berlín se olvida die Eindrücke seiner Berlin-Erfahrung sammelt, beschränken sich nicht auf die exzessive Nutzung von Bus und Bahn, seine immer wieder in den Berlin-Texten auftauchende Erzähler-Autor-Figur ist auch ein überzeugter Wanderer der Urbe, dessen Lektüre fortan nicht mehr die Bücher, sondern die Seiten der Stadt sind: «Während meiner Zeit in Berlin habe ich kein einziges Buch gelesen sondern war ständig zu Fuß unterwegs. Ich habe die Lektüre gegen unzählige Spaziergänge eingetauscht.»40 Das Voranbewegen durch die Stadt ist ein Fortschreiben der Stadt, eine Bewegung zum eigenen Schreiben hin, die bereits früh morgens um sechs auf dem Weg zum Bäcker ihren ritualisierten Anfang findet.41 Zu dieser Stunde durch die schlafende Stadt zu gehen, war wie eine Schneise zu öffnen, zuzulassen, dass sich die Reste von gestern, die noch in mir schlummerten, verflüchtig42 ten und das Papier zu glätten für die Wörter des Tages, der sich gerade ankündigte.
Ebenso entwickelt sich die Erzählung ‘Las dos hermanas’ auf der Folie exzessiver Wanderungen des Erzählers durch Berlin, «das […] es versteht, zu einer Privatan-
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Ebda., S. 24: «Un jardín es íntimo o no es un jardín. Por eso, todo jardín es divisible en jardines menores. La ley del jardín es recomenzar entero en cada palmo de tierra, ensayar a cada paso una nueva idea de jardín, lo que explica la facilidad con que uno puede aislarse en un jardín y hallar en él su rincón favorito, su propio jardín dentro del jardín más grande.» Ebda., S. 70: «Durante mi estancia en Berlín no leí un solo libro y me dediqué a caminar. Sustituí la lectura con interminables paseos.» Das folgende Zitat stammt aus dem microrrelato ‘El hombre del croissant’, den Morábito bei einer Lesung im Berliner Instituto Cervantes am 31. Oktober 2006 vorgestellt hat zusammen mit einem neuen Text, der diese Anekdote – zugleich eine Reflexion über das Schreiben und die Distanz zwischen Autor und Leserschaft – fortschreibt, dieses Mal aus der Perspektive des Mannes mit dem croissant, vgl. Fabio Morábito: Der Mann mit dem Croissant. In der Übersetzung von Ulrich Kunzmann. Reihe ‘Ich bin ein Berliner’. Berlin: Instituto Cervantes (Handout zur Lesung). Fabio Morábito: Der Mann mit dem Croissant. Fabio Morábito: También Berlín se olvida, S. 70: «Caminar a esa hora por la ciudad dormida era como abrir un surco, dejar que se evaporara el resto del ayer que había en mí y estirar el papel para las palabras del hoy que comenzaba.»
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gelegenheit eines jeden einzelnen zu schrumpfen.»43 Seine regelmäßigen Spaziergänge – frühmorgens zum Aufwachen, mittags zum Nicht-Einschlafen, abends zur Ablenkung – scheinen dabei zu funktionieren wie die Meditation eines Dichters auf dem Weg zu seinen Stoffen. Es war so einfach ihn zu betreten und sich in seinem hektischen Rhythmus zu verlieren, dass ich mich frage, ob ich tatsächlich mein Nickerchen an diesen Nachmittagen unterdrückt habe; ob ich nicht, mit meiner Zigarette im Mund, im Halbschlaf über den Ku’damm ging, das Bewusstsein von seinem Fortlauf betäubt und dass daher dieses Gefühl stammt, das ich hatte, von Fortbewegung ohne Anstrengung, vom Abtauchen in ei44 ner duldsamen Menge.
Diese somnambulen Bewegungsmuster folgen dabei einer immergleichen Logik: Auf der Basis festgelegter Routen wird ein schwereloses Reisen simuliert, das den Autor in eine intime, geradezu vor-bewusste Beziehung zur Stadt setzt, die als «legible city»45 in dem Maße seine zu werden scheint, wie er sie in die Sprache seiner Literatur übersetzt. In ihr gibt es nur wenige, klar erkennbare Ruhepunkte. Einer ist die Kantstraße, «[die] arme Schwester»46 des großen und glamourösen Ku’damms. Dort, in dieser irdischen und persönlicheren Straße, findet der AutorErzähler seinen kreativen Rastplatz: das Kantcafé, in dem er beinahe täglich sitzt, schreibt und seinen genauen Blick trainiert. Das folgende ausführliche Zitat zitiert das bereits bekannte Motiv der deutschen Mikro-Privatsspähren – «eine Privatsphäre von einem halben Quadratmeter»47 – und illustriert gut, wie sich von dort, der hochsensiblen Wiedergabe einer kurzen Begegnung mit der schwangeren Bedienung in einem Café, ein Moment argumentativer Klarheit ergibt, der in seiner ganzen Poesie und Dichte an Morábitos Lyrik erinnert: elegant, subtil, genau. Darin liegt Morábitos größte Stärke: erzählerisch in einer knappen Szene zu komprimieren, was den Unterschied zwischen zwei Straßen, geradezu zwei Lebensgefühlen, ausmacht, den Kontrast in all seiner Reduktion auf das Alltägliche zu erkennen und nicht essayistisch zu beschreiben, sondern in erster Linie zu erzählen. Dazu reicht es ihm, einem heterogenen und unscharfen Raum wie dem einer Einkaufsstraße die Kontur einer Figur, ‘la hermana pobre’, abzutrotzen, von dort in den konkreten Moment einer Szene überzuge-
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Fabio Morábito: Der Mann mit dem Croissant. Fabio Morábito: También Berlín se olvida, S. 70: «que […] sabe reducirse a un asunto íntimo de cada uno.» Ebda., S. 83: «Era tan fácil entrar en ella y perderse por su agitado ritmo, que me pregunto si de veras suprimí la siesta en esas tardes; si yo no iba, con mi cigarro en la boca, semidormido por Ku’damm, la conciencia atolondrada por su movimiento, y de ahí esa sensación que tenía de locomocíon sin esfuerzo, de inmersión en una densidad más tolerante.» Die Formulierung geht auf ein Projekt des Digital-Künstlers Jeffrey Shaw zurück, das dieser 1989 zum ersten Mal in Amsterdam präsentierte und bei dem der Betrachter, auf einem Fahrrad sitzend, durch eine virtuelle Stadt aus Buchstaben fährt und sich die Stadt als semantisches Feld in der Bewegung erschließt, http://www.jeffrey-shaw.net/ html_main/frameset-works.php3). Fabio Morábito: También Berlín se olvida, S. 86: «[la] hermana pobre». S. Fußnote 36: «una privacidad de medio metro cuadrado».
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hen, nur um diese mit einem Rückgriff auf den Ausgangspunkt, die Faszination des arteriengleichen, fluiden Kurfürstendamms, abzuschließen. Eines Tages kam meine Lieblingskellnerin, […] im sechsten oder siebten Monat schwanger, um mir die Rechnung zu bringen. Erschöpft setzte sie sich, während sie ein paar Münzen für das Wechselgeld suchte, und als sie damit fertig war, blieb sie, anstatt wieder zu gehen, in Gedanken versunken einfach sitzen. Sie schien sich neben mir, der schrieb, wohl zu fühlen und während sie auf die Straße schaute, berührten sich unsere Ellbogen. Ich tat so, als wäre nichts passiert und schrieb so langsam ich konnte weiter, um sie nicht zu erschrecken, glücklich, dass sich unsere Ellbogen berührten und wegen ihrer ruhigen Art, mich zu ignorieren, während unsere Arme aneinander lagen. Diese Intimität, diese Beschaulichkeit, konnte es nur in diesem halbleeren Café in der Kantstraße geben, niemals auf dem Ku’damm. Denn auf dem Ku’damm gibt es im Grunde keine Begegnungen, auch keine Hindernisse und keine Schwangerschaften, nur den Fluss; zwei, die sich am Ku’damm begegnen, werden anhalten, um sich für wenige Sekunden zu begrüßen, kaum einander zuhören, sich vielleicht nicht mal ganz erkennen und froh sein, sich mit einem Händedruck voneinander trennen zu können, um wieder unbe48 schwert über den Ku’damm zu spazieren.
Morábitos zugleich relationales wie vektorielles Erzählverfahren ist der Schritt von der Mikro- zur Proto-Szene. Aus der Abgeschlossenheit einer kurzen und stillen Begegnung zwischen einer Kellnerin des Kantcafés und der Autorfigur leitet der Text über auf eine Metaebene, in der eine erneut knappe Szene – «dos que se encuentren en Ku’damm» (s.o.) – prototypisch erzählt wird und sich damit als Narrativ in dem Maße unpersönlicher und unverbindlicher als die vorangegangene Begegnung im Café zeigt, wie sich beide Straßen, aus denen diese Szenen sich speisen, voneinander unterscheiden. In diesem Vektorbild der City-West liegen andere, tiefere Schichten verborgen, die an besonderen Tagen, «[in] diesen Augenblicken plötzlicher Überblendung»49 sichtbar werden. Dann durchleuchtet die Stadt und ihren Schreiber das Wissen von anderen Welten. Die Durchkreuzung verschiedener Herkunfts- und Lebensorte im Schreiben, sowie das stets präsente Gefühl ubiquitärer Geborgenheit äußern sich in den Folgesätzen dieser Abschlusserzählung des Bandes so präzis und persönlich wie an kaum einer anderen Stelle. In der Sommerhitze einiger Juni-
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Fabio Morábito: También Berlín se olvida, S. 87: «Un día, […] mi [mesera] preferida vino a entregarme la cuenta con su panza de seis o siete meses de embarazo. Exhausta, no dudó en sentarse a mi lado mientras buscaba unas monedas para darme el cambio, y una vez que lo hizo, en lugar de retirarse, se quedó con las manos cruzadas sobre el vientre, ensimismada, su codo tocando el mío mientras miraba la calle, como si junto a mí, que escribía, se sintiera a gusto. Fingí la misma naturalidad y seguí escribiendo lo más despacio que pude para no sobresaltarla, feliz de aquel contacto de su codo con el mío, de su manera tranquila de ignorarme mientras nuestros brazos se tocaban. Esa intimidad, esa placidez, sólo pudieron haberse dado en ese café semivacío de Kantstrasse, nunca en Ku’damm. Porque en Ku’damm, en realidad, no hay contactos, ni tropiezos, ni embarazos, sólo fluidez; dos que se encuentren en Ku’damm, se detendrán a saludarse pocos segundos, casi sin oírse, quizá sin acabar de reconocerse, felices de separarse con un apretón de manos para volver a ser libres de caminar por Ku’damm.» Ebda., S. 88: «[en] esos instantes de momentánea transmigración».
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tage, da erscheint nicht nur das Treiben am Zoo wie ein arabischer Bazar. Vielmehr wird, in einer geradezu idealtypisch vektoriellen, translokalen Bewegung zwischen zwei Orten Morábitos Herkunft sicht- und vor allem erfahrbar. Wenn man zum Ku’damm kommt, bietet sich einem, an einem Panoramafenster sitzend, ein einzigartiges Spektakel, im weitläufigen, herrschaftlichen und glänzenden Licht, im warmen Licht des Ku’damms, wenn es hervorscheint zwischen den herabhängenden Bananenstauden, die sanft an das Fenster klopfen, und man fühlt, dass etwas in einem sich der Schuhe entledigt, einen Turban aufwickelt, mahomedanisiert, nach Mekka geht und dass man um elf Uhr morgens mitten in Berlin auf einem fliegenden Teppich reist. […] In der Kantstraße findet man solchen Wunder nicht, doch manche dieser Traumbilder gibt ihre reiche Schwester an sie ab, und auf einigen sonnengefluteten Balkonen im Obergeschoss, auf einzelnen Gemüsemärkten und in Häusereingängen, wähnte ich mich 50 in Alexandria.
Der Text, in den sich die Präsenz dieses anderen Ortes buchstäblich einschreibt, bereitet auf diesen Moment der Erzählung in vielen kleinen Schritten vor, die gemeinsam, im Netz der Isotopien von Tee, Mekka, einem fliegenden Teppich, Fata Morganas und Gemüsemärkten, das Gefühl einer Ferne in die Stadt tragen, die Heimat bedeutet. Eine ferne, arabische Herkunft, deren Evokation die Sehnsucht nach einer dritten Arterie erzeugt, die alle anderen Straßen zusammenführt. Nicht nur die in Berlin, sondern die von Morábitos drei großen Fixpunkte: Alexandria, Mailand, Mexiko-Stadt. Meine Zeit in Berlin verlief zwischen diesen beiden Arterien, diesen zwei zugleich entfernten und beinahe zusammenfließenden Schwestern […], ich ging von der einen in die andere und lebte in ihnen wie an den Ufern gegenüber einer dritten Allee, die es nie gab 51 und nach der ich wohl immer noch Ausschau halte.
Vom Werkzeugkasten nach Berlin und wieder zurück Die in meinen Beispielen aus También Berlín se olvida skizzierten Blick-, Stadtund Schreibbewegungen fokussieren nicht Start- oder Zielort der Wanderschaften und S-Bahn- oder Busfahrten, sondern die Bewegung selbst, «gegen den Strich der Stadt».52 Dieses Unterwegssein wird für den Autor/Erzähler – und darin greift Morábito das Thema seiner Lyrik auf – zur Produktionsbedingung für das eigene
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Ebda.: «Cuando llegue a Ku’damm, sentado frente al ventanal panorámico, se le deparará en la luz ancha, señorial, lustrosa, la luz de té de Ku’damm, un espectáculo único, el de abrirse paso entre las frondas de los plátanos que se inclinan y golpean suavemente el ventanal, y sentirá que algo en él se descalza, se aturbanta, se mahometiza, se va a la Meca, y que está viajando a las once de la mañana en pleno Berlín sobre una alfombra mágica. […] Kantstrasse no produce milagros, pero algo de esos espejismos recibe de su hermana rica, y en ciertos balcones soleados de los pisos altos, en ciertas verdulerías y zaguanes oscuros que tiene, he vuelto a presentir Alejandría.» Ebda.: «Mi estancia en Berlín transcurrió entre estas dos arterias cómplices, estas dos hermanas distantes y casi confluentes […], yo iba de una a otra viviéndolas como las aceras opuestas de una tercera avenida que nunca existió y que acaso sigo buscando.» Ebda., S. 16: «a contrapelo de la ciudad».
Vom Mikroskop zum Panorama und wieder zurück
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Schreiben und zur Rezeptionsbedingung der eigenen Wahrnehmung. Erst in der ständigen, das Marginale fokussierenden Fortbewegung entstehen die Bilder der Stadt. Das Marginale eines Alltags, der trotz seiner vermeintlichen Vertrautheit als (doppelt) fremd erfahren und perspektivisch durch verschiedene Brennweiten inszeniert wird, korrespondiert mit einem Grundton der Verknappung, der für Morábitos gesamtes Werk kennzeichnend ist. Der Blick, den der Autor dabei in seinen Texten inszeniert, ist geprägt von einer geradezu forensischen Klarheit, imstande, das Verborgenste der Dinge, die Präsenz größter Zusammenhänge im Allerkleinsten des Alltags, aufzudecken. Die Sprache, die er dazu verwendet, ist selbst Abbild und Grund eines Gespürs für Differenzen, das in Morábitos transnationalem Lebensweg ihren Ursprung und in seiner Schreib- und Berufspraxis als mexikanischer Autor und italienischer Übersetzer ihren Ausdruck findet. Objekt, Perspektive und Form stehen hier in einem ständigen, sich gegenseitig bedingenden Dialog. Überwiegt in den Berlin-Texten eine neugierige Melancholie – wohl im Einvernehmen mit dem Gefühl gelassener Fremdheit –, so lesen sich die Caja de herramientas-Texte als unprätentiöse, aber zugleich enthusiastische Verklärungen des Profanen, in denen der ganze Reichtum, das ganze Deutungspotenzial des Alltäglichen gefeiert wird. Beide Bände teilen mit Blick auf Morábitos Werk nicht nur die Eigenschaft, die bisher kürzesten Texte dieser wichtigen Stimme der zeitgenössischen, mexikanischen Literatur zu versammeln, es sind auch die einzigen, die über eine klare, in sich geschlossene Komposition verfügen. Die Berliner microrrelatos funktionieren dabei am ehesten wie die einzelnen, in sich geschlossenen Episoden einer Erzählung. Das Kompendium der zwölf minificciones aus Caja de herramientas hingegen bildet eine Fraktalstruktur ab, die von den Teil-Logiken der Kleinstform über die Verbindungsgeraden des jeweiligen Leitmotivs hin zur Projektion einer Psyche des Objekts auf den Menschen sich selbstähnlich reproduziert, ohne jedoch in Redundanzen abzugleiten. Im Gegenteil: diese Komposition einer Dichtung der ersten Sätze könnte in ihrer Formvirtuosität kompakter nicht sein. Wenn das Ergebnis dieser stets ernsthaften Arbeit sich auch in Zukunft so gut liest wie bisher, dann kann man diesem Autor, der bis heute keinen Roman veröffentlicht hat, nur wünschen, dass er seinen Formen treu bleibt und seiner Lust am Anfang(en) stets neuen Antrieb gibt.
Pedido Se ruega abstenerse de leer los avisos, improperios y graffiti que el lector encontrará donde ha descubierto el que está leyendo en este momento. Anweisung Es wird gebeten, von der Lektüre der Hinweise, Schmähungen oder Graffiti abzusehen, die der Leser dort finden wird, wo er jene entdeckte, die er just in diesem Augenblick liest. David Lagmanovich
Marcel Vejmelka (Gießen – Potsdam)
Mínimos, múltiplos, comuns. Die Ordnung der Welt bei João Gilberto Noll Vorbemerkung: Brasilien auf den Landkarten der Mikrofiktion Lateinamerikas Im lateinamerikanischen Kontext erscheint Brasilien abseits der ausgeprägten und sich immer stärker ausdifferenzierenden Kartographien von Produktion und Theoretisierung der Mikronarrative wie sie im hispanoamerikanischen Raum insbesondere anhand des microrrelato zu beobachten ist.1 Damit setzen sich die in weiten Bereichen voneinander abgekoppelten Entwicklungen in den Literaturen der benachbarten ‘kulturellen Blöcke’ – des ‘lusitanischen’ und ‘hispanischen’, wie Antonio Candido sie in einem Essay über die Isolation und Einbindung Brasiliens in den lateinamerikanischen Gesamtzusammenhang von Literatur- und Geistesgeschichte nennt – auch anhand einer spezifischen Form und Gattung, der literarischen Klein- und Kleinstformen und in der Gegenwart fort.2 Brasilien besitzt – wie im Übrigen allgemein die Literaturen des lusophonen Raums – keine ausgeprägte oder gar in sich geschlossene Tradition an Mikroerzählungen oder anderen kurzen bis kürzesten Formen des Erzählens. Entsprechend bilden vereinzelt in diesen Schaffensbereich zu zählende Autoren und Werke keine Systematik und Kontinuität.3 Bemerkbar machen sich in dieser Hinsicht in Brasilien vor allem Entwicklungen jüngeren Datums, die sich bewusst und ausdrücklich
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Siehe David Lagmanovich im vorliegenden Band sowie seine Ansätze zur Systematisierung und Theoretisierung der Gattung des microrrelato in David Lagmanovich: Hacia una teoría del microrrelato hispanoamericano. In: Revista Interamericana de Bibliotecología (Medellín) 1–4 (1996). http://www.educoas.org/portal/bdigital/contenido/rib/rib_ 1996/articulo2/index.aspx?culture=es&navid=201 und jüngst David Lagmanovich: El microrrelato: teoría e historia. Palencia: Menoscuarto 2006. Vgl. dazu den Essay von Antonio Candido: Os brasileiros e a literatura latino-americana. In: Novos Estudos Cebrap (São Paulo) I, 1, (1981), S. 58–68 oder auf Spanisch Antonio Candido: Los brasileños y la literatura latinoamericana. In: Antonio Candido: Crítica radical. Selección, cronología, bibliografía, traducción y notas de Márgara Russotto. Caracas: Biblioteca Ayacucho 1991, S. 355–369. Ebenfalls dieser Problematik der wechselseitigen Isolation innerhalb Lateinamerikas widmen sich Jorge Schwartz (Jorge Schwartz: Abajo Tordesillas. In: Casa de las Américas (La Habana) 191 (1993), S. 26– 35) und zuletzt Ana Pizarro (Ana Pizarro: Hispanoamérica y Brasil: Encuentros, desencuentros, vacíos. In: Acta Literaria (Concepción) 29 (2004), S. 105–120). Auch hier bezogen auf die Begrifflichkeiten Antonio Candidos, der mit dem Blick auf das ‘literarische System’ (sistema literário) den Zusammenhang interner Referentialität und Kontinuität im Sinne einer Traditionsbildung innerhalb eines kulturellen Raums literarischer Produktion, Zirkulation und Reflexion beleuchtet (Antonio Candido: Formação da literatura brasileira. Momentos decisivos). Belo Horizonte, São Paulo: Ed. Itatiaia/ Martins 2000, S. 23 ff.).
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am hispano- oder US-amerikanischen Vorbild von mircorrelato oder micro-fiction orientieren.4 Der ‘mini-contista’ und Literaturkritiker Marcelo Spalding datiert die erste bewusste und explizite Produktion von Kürzestprosa in Brasilien auf das Jahr 1993, als Dalton Trevisan unter dem Titel Ah, É? eine Sammlung von ihm als ‘ministórias’ bezeichneter Kürzesttexte, die jeweils aus wenigen kurzen Absätzen, oftmals auch nur aus einem Absatz bestehen, veröffentlichte.5 Doch kann diese Veröffentlichung nicht dazu verwendet werden, den Beginn einer Entwicklungslinie oder literarischen Strömung zu markieren. Im Werk Trevisans wie in der brasilianischen Literaturlandschaft bleibt dieser Band zunächst isoliert. Es folgen in jüngster Zeit weitere Titel, die ebenfalls als Einzelinitiativen zu betrachten sind: 2001 überrascht Luiz Rufatto mit Eles eram muitos cavalos, in dem er 70 von ihm als ‘flashes’ bezeichnete Geschichten vom 9. Mai 2000 in São Paulo erzählt und für das er den Prêmio Machado de Assis der Akademie für Sprache und Dichtung erhält. Im selben Jahr veröffentlicht Fernando Bonassi sein hervorragendes Passaporte, Reiseberichte in mikronarrativer Form, die viel mehr als nur Erzählungen sind.6
Der Schriftsteller Marcelino Freire konnte schließlich 2004 für die von ihm herausgegebene Anthologie Os cem menores contos brasileiros do século7 einhundert
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Stark ist dagegen in Brasilien eine nicht nur umfassende, sondern auch eng mit dem hispanoamerikanischen Kontext in Kontakt und Austausch stehende Tradition des Haiku, die ab den 1920er Jahren einsetzt. Historische Überblicke liefern Masuda Goga (H. Masuda Goga: O haicai no Brasil. História e desenvolvimento. São Paulo: Oriento 1988) und Paulo Franchetti (Paulo Franchetti: Notas sobre a história do haikai no Brasil. In: Revista de Letras (São Paulo) 34 (1994), S. 197–213). Theoretische Grundlegungen und Einbettungen in den brasilianischen bzw. lateinamerikanischen Kontext liefert insbesondere Haroldo de Campos (Haroldo de Campos: A arte no horizonte do provável. São Paulo: Perspectiva 1969), zum Haiku im hispanoamerikanischen Kontext siehe z.B. den bekannten Essay von Octavio Paz über ‘La tradición del haiku’ (Octavio Paz: Los signos de rotación y otros ensayos. Madrid: Alianza 1971). Dalton Trevisan: Ah, é? Rio de Janeiro: Record 1994. Marcelo Spalding: Micronarrativa e pornografia. In: Micronarrativas 2006. http://www. digestivocultural.com/colunistas/coluna.asp?codigo=1838: «Em 2001, Luiz Rufatto surpreende com Eles eram muitos cavalos, onde conta 70 histórias, por ele chamadas de ‘flashes’, da cidade de São Paulo no dia 9 de maio de 2000, e fatura o Prêmio Machado de Assis da mesma Academia. No mesmo ano Fernando Bonassi publica o ótimo Passaporte, relatos de viagem em forma de micronarrativas que vão muito além de relatos.» (Soweit nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen originalsprachlicher Zitate vom Verfasser dieses Beitrags). Vgl. Marcelino Freire (Hg.): Os cem menores contos brasileiros do século. São Paulo: Ateliê Editorial 2004. Nicht unerheblich ist dabei, dass mit dem wiederholten Zitat von Monterrosos berühmten ‘Dinosaurio’ durch Herausgeber und Rezensenten – beispielsweise Cassiano Elek Machado in der Tageszeitung Folha de São Paulo (Cassiano Elek Machado: Livro põe 100 escritores para fazer ficção com até 50 letras. In: Folha de São Paulo (São Paulo) 25.03.2004. http://www1.folha.uol.com.br/folha/ilustrada/ ult90u42708.shtml) – eine sehr deutliche Bezugnahme auf die hispanoamerikanische Tradition der Mikronarrative – hier meist in der Übersetzung der Gattungsbezeichnung
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Kollegen – darunter neben jungen Autoren so bekannte Namen wie Millôr Fernandes, Moacyr Scliar, Modesto Carone, Sérgio Santana und auch die bereits in dieser Hinsicht hervorgetretenen Fernando Bonassi, Dalton Trevisan und auch den hier im Mittelpunkt stehenden João Gilberto Noll – dazu bringen, je einen Text von maximal 50 Zeichen Länge zu verfassen. Trotz ihres beeindruckenden Umfangs handelt es sich also auch bei dieser Sammlung um ein vereinzeltes Projekt, das aber dem bislang nur sporadisch auftretenden Genre zumindest eine stärker gebündelte Sichtbarkeit in Brasilien und über seine Grenzen hinaus sowie eine konkretere Akzentuierung verleiht.8
‘Mínimos’: João Gilberto Nolls Poetik des Augenblicks Der 1946 im südbrasilianischen Porto Alegre geborene und dort lebende João Gilberto Noll zählt zu den bedeutendsten Erzählern seines Landes. Zu seinen bekannstesten Werken zählen die in der Regel kurzen Romane Hotel Atlántico von 1989,9 der seinen Protagonisten und Erzähler in einer Reihe von erzwungenen oder zwanghaften Metamorphosen und Verstellungen von Rio de Janeiro bis Porto Alegre führt, oder jüngst Berkeley em Bellagio,10 eine auf etwa einhundert Seiten in einem einzigen großen Absatz vollzogene Überblendung der beiden im Titel vereinten Reise- und Schreiberfahrungen des Autors, und zuletzt 2004 Lorde,11 der Auftakt zu einer geplanten Trilogie über London, Berlin und Porto Alegre, in dem die Erzählerfigur sich von einem vom King’s College eingeladenen brasilianischen Schriftsteller in einen identitätslosen Obdachlosen und schließlich neugeborenen Portugiesischlehrer verwandelt. Auch im Bereich der traditionellen bzw. langen Erzählung (des conto) hat Noll einen festen Platz in der brasilianischen Literaturlandschaft inne; seine letzte Erzählsammlung erschien 2006 unter dem Titel A máquina de ser.12 Alle diese Texte sind geprägt von räumlich und geistig sich ungeordnet bewegenden Erzählerfiguren, die unvermittelt von eruptiven Impulsen erfasst werden und einen sogartigen, atemlosen Sprachfluss in Gang setzen. Nolls Schreiben entsteht so aus diesem Impuls der unvermittelten Begegnung, oft gar Konfrontation
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‘microrrelato’ als ‘microconto’ – erfolgt. Siehe dazu auch die Rezensionen von Marcelo Spalding (Marcelo Spalding: A narratividade no microconto: estudo narrativo da obra ‘Os cem menores contos brasileiros do século’. In: Micronarrativas 2004. http://www.ailha.com.br/spalding/textos_detalhes.asp?id=58) und Lielson Zeni (Lielson Zeni: Uma coletânea de contos desafia autores nacionais a fazerem uma grande história com poucas palavras. In: Bonde 2004. http://www.bonde.com.br/colunistas/colunistasd. php?id_artigo=1386). Gleiches gilt in noch stärkerem Maße für die von Marcelo Spalding herausgegebene und hier bereits zitierte online-Zeitschrift micronarrativas, die sich um die Veröffentlichung und theoretische Verortung von kürzesten Erzählformen im brasilianischen Raum bemüht, jedoch bei weitem noch nicht den Rang einer dauerhaften Institution im Literaturbetrieb erreicht. (http://www.micronarrativas.com.br) João Gilberto Noll: Hotel Atlântico. Rio de Janeiro: Francisco Alves 1995. João Gilberto Noll: Berkeley em Bellagio. São Paulo: Francis 2003. João Gilberto Noll: Lorde. São Paulo: Francis 2006. João Gilberto Noll: A máquina de ser. Rio de Janeiro: Nova Fronteira 2006.
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des Ichs mit Orten, ihren Menschen und ihren Räumen in einem beliebigen Augenblick einer äußerlich unspezifischen Situation. In seinen Texten scheinen diese Anstöße, die aufbrechenden Delirien und Amnesien, sich aneinander zu reihen und gegenseitig hervorzubringen oder umzuleiten. Nolls jüngster Roman Lorde beginnt mit der Ankunft des Erzählers auf dem Londoner Flughafen Heathrow, und schon in den wenigen Minuten des Wartens auf die Person, die ihn dort abholen soll, und dann im Moment der Begegnung mit ihr wird er vom Strudel seiner angsterfüllten Vorstellungskraft erfasst: Ah, ich sah eine Telefonzelle, ich sah ein Mädchen hinter einer Scheibe, das Telefonkarten verkaufte, ich sah, dass ich in der Hemdtasche noch ganz zerknüllt den Zettel hatte, auf dem ich seine Telefonnummern aufgeschrieben hatte. Als ich das erschreckend kalte Telefon ergriff, hörte ich eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um, so als wüsste ich schon immer, wer es war. Er, den ich nun aufhören würde zu kennen.13
Die ineinander verschachtelten Sequenzen solcher Nicht-Ereignisse, die in die Wahrnehmung und Repräsentation fiktionaler Visionen umkippen, diese Reihungen von Gradwanderungen der Wahrnehmung zwischen Realität und Fiktion bestimmen Fluss und Rhythmus von Nolls Schreiben, richten es immer wieder auf das Augenblickliche aus. Teresa Barbieri etwa charakterisiert in ihrem Vorwort zum Roman Hotel Atlântico diese Poetik des Augenblicks, die ohne Schwierigkeiten auf Nolls Gesamtwerk ausgeweitet werden kann, wie folgt: In der metaphernlosen, trockenen, schneidenden Sprache erkennt man die physischen und psychischen Zerstörungen der Erzählerfigur. Nolls Prosa ist entpoetisiertes Wort und schleudert den Leser auf eine unasphaltierte Straße, auf einen Steinboden, auf dem er nicht dahingleitet, sondern hinfällt und stolpernd weiterläuft.14
So entsteht eine Dualität aus der Beliebigkeit von Zeitpunkt und Ort des Erzählten sowie den immer wieder markierten oder vermittelten Orten und Bewegungen zwischen Orten, die dem Erzählten und auch dem Schreiben zugrunde liegen. Ottmar Ette führt in seiner Untersuchung zur Reiseliteratur aus, dass eine ‘Literatur in Bewegung’ sich grundlegend aus den von ihr berührten Orten und vollzogenen (Reise)Bewegungen speist, jedoch nicht nur im Sinne von Schauplätzen und Themen, sondern als Orte des Schreibens: Nicht nur die Orte, von denen berichtet wird, sondern auch die Orte des Schreibens und die Orte des Lesens befinden sich in wechselseitiger wie je eigenständiger Bewegung.
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João Gilberto Noll: Lorde, S. 11: «Ah, vi um telefone público, vi uma moça atrás de um guichê que vendia cartões telefônicos, vi que eu ainda tinha bem amassado no bolso da camisa o papel em que anotara os telefones dele. Ao tocar no telefone público espantosamente frio, ouvi uma voz atrás de mim. Virei-me como se já soubesse desde sempre quem era. Este que eu começaria a desconhecer.» Teresa Barbieri: Percurso desbussolado. In: João Gilberto Noll: Hotel Atlântico, S. 7– 12, hier S. 9: «É na linguagem desmetaforizada, seca, cortante, que se percebem as demolições físicas e psíquicas do personagem-narrador. Palavra despoetizada, a prosa de Noll joga o leitor numa estrada sem asfalto, chão de pedras onde, em vez de deslizar, tropeça e prossegue aos solavancos.»
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Viel zu selten führen wir uns vor Augen – und die Rezeptionsästhetik hat hierzu kaum einen Beitrag geleistet –, daß wir auch als Leserinnen und Leser in ständiger Bewegung sind.15
In den hier im Mittelpunkt stehenden Kürzesterzählungen Mínimos, múltiplos, comuns ist es jeweils eine solche momentane Grenzerfahrung, die den einzelnen Text veranlasst und in seiner Gesamtheit ausformt. Aus einem beliebigen Alltagsmoment heraus entsteht oder in ihn hinein bricht das Erzählen in extremer Verdichtung und Verkürzung, wie im Text VORAGEM: ‹Meine Herren, meine Damen, meine Kameraden, meine Brüder …› Woher war diese Vorrede gekommen? Welche Richtung würde sie nehmen? Er wusste nur, dass er sich dort befand, hinter dem langen Tisch, vor einem leeren Saal. Einladung abgesagt? Eine unvollständige Geschichte? Er wusste es nicht, er wiederholte nur diese an Geister gerichtete Begrüßung. Welche ihn in diesen Momenten fast einschläferte, so hypnotisch war diese Gesangskunst, die nicht einzugreifen vermochte. Er betrachtete seine Hände. Ja, sie hielten Blätter. Weiße. Woher würden seine Worte kommen, wenn sie dort wirklich gesprochen werden mussten? Würden sie einem Schrei des Widerstands dienen? Einem Lobgesang? Oder lediglich einem leidvollen letzten Dank, hm? In einem Augenblick wogten lärmende Geräusche durch den Saal. Im Bruchteil einer Sekunde füllten sich die Ränge, Leute saßen sogar auf dem Boden.16
Wie im Traum entfaltet sich eine Situation der Orientierungslosigkeit, die in einen Strudel angedachter Möglichkeiten ihres Sinns und Zwecks einmündet, um schließlich vom Alptraum in ein traumhaftes Entkommen oder von einem Sekundenalp-
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Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, S. 11. Nicht weiter verfolgt werden kann an dieser Stelle der äußerst anregende Verweis auf die nicht zu trennende Dualität von Orten und Bewegungen des Schreibens sowie Orten und Bewegungen des Lesens, die angesichts extrem kurzer Erzählformen ganz eigene Dynamiken zu entwickeln verspricht. Die faszinierende und schwierige Frage nach spezifischen Rezeptionsformen und eben auch Rezeptionsorten von Mikronarrativen scheint in erster Linie auf eine besondere Eignung auf ein ‘Lesen in Bewegung’ und in kurzen Intervallen hinzudeuten, welche den häufigen Hinweis der sich immer weiter beschleunigenden Lebenswelt als entscheidenden Kontext für die zunehmende Verbreitung der literarischen Kurz- und Kürzestformen aufruft. João Gilberto Noll: Mínimos, múltiplos, comuns. São Paulo: Francis 2003, S. 42: «‹Senhores, senhoras, meus compadres, meus irmãos …› De onde saíra esse preâmbulo? Que curso seguiria? Ele só sabia que estava ali, atrás da mesa larga, diante de um auditório vazio. Convite desfeito? Uma história incompleta? Não sabia, apenas repetia aquele cumprimento dirigido a fantasmas. E que nessas alturas quase o fazia adormecer, tamanha a dose hipnótica desse solfejo sem nenhum poder de intervenção. Olhou as mãos. Sim, seguravam folhas. Brancas. De onde viria sua palavra, se ela realmente fosse obrigatória ali? Serviria a um brado de resistência? A uma louvação? Ou apenas a um agradecimento, sofrido, derradeiro, hein? Num átimo, ruídos espalhafatosos se lançaram pelo salão. Numa fração de segundo, o auditório lotou, gente sentada no chão.» Im Band Mínimos, múltiplos, comuns eingeordnet unter GÊNESE; O VERBO; AS PALAVRAS. Hintergründe und Bedeutungen dieser Einordnungen werden im zweiten Abschnitt dieses Beitrags thematisiert und erläutert.
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traum auf dem Podium in ein Erwachen des vortragenden Ichs umzuschlagen. Oder auch in die onirische Flucht dieses Ichs vor den leeren Rängen im Publikum und den weißen Blättern auf dem Tisch … Dieser Text bildet exemplarisch eine von insgesamt 338 Kurznarrativen, die João Gilberto Noll in drei Jahren und vier Monaten – von August 1998 bis Dezember 2001 – zweimal wöchentlich in der Tageszeitung Folha de São Paulo unter dem Titel ‘Relâmpagos’ (‘Blitze’) veröffentlichte. Gemeinsam war ihnen im Zuge der Konzeption und Durchführung des Projekts – abgesehen vom strikten zeitlichen Rahmen ihrer Abfassung und Publikation – nur eine formale Einschränkung: jeder Text durfte maximal 130 Wörter umfassen. In dieser selbstgestellten Aufgabe und Herausforderung17 findet sich ein Pol dieser literarischen Unternehmung: Die Verdichtung des in Nolls Schreiben – in den Romanen und langen Erzählungen – schon angelegten Momentanen: das explosionsartige Wirksamwerden von Phantasien, Obsessionen, Phobien oder Begierden, schließlich Momente der Entstehung von Fiktion, ihres Eindringens in nicht mehr voneinander zu trennende Ebenen einer vermeintlichen Realität. Wagner Carelli schlägt im Vorwort zu Mínimos, múltiplos, comuns den Begriff des ‘romance mínimo’, des als auf das Minimum seiner formalen Ausführung reduzierten ‘Minimalromans’ vor,18 um diese Kurznarrativen zu klassifizieren: Jedes Buch seines umfangreichen Werks ist für sich genommen schon ein Wunder an poetischer und moralischer, struktureller und architektonischer Synthese [...]; die Zeit und Aufgabe dieser Mínimos, múltiplos, comuns verstärkten diese Synthesefähigkeit und dehnten ihre bereits unwahrscheinlichen Grenzen über das Wundersame hinaus aus – in den Bereich eines absoluten Schreibens.19
Der Autor selbst charakterisiert seine Kurztexte in einem Interview ebenfalls als kleinste, doch vollständige Romane («romances inteiros, minúsculos») und milimetrische fiktionale Einfälle («milimétricos surtos ficcionais»20 ). Im Paratext zu Mínimos, múltiplos, comuns greift er diese Erklärung wieder auf und formuliert sie
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Die Arbeit innerhalb selbst gestellter räumlicher Begrenzungen setzt Noll danach in den bereits erwähnten Erzählungen von A máquina de ser fort, die ursprünglich in den Jahren 2004 und 2005 vierzehntägig in der Beilage ‘Pensar’ der Tageszeitung Correio Braziliense in Brasília erschienen und dort jeweils eine komplette Doppelseite ausfüllten. Auch vereinzelte, radikal verkürzte Texte publiziert Noll immer wieder, z.B. den Text ‘Madrugada’, der 2002 als kostenlos verteiltes ‘mini-livro’ in der Reihe 30 Segundos des (im Übrigen von Marcelino Freire, dem Herausgeber der Cem menores contos brasileiros do século, geführten) Verlags eraOdito in São Paulo erschien und gemeinsam mit weiteren neun Minibüchern die Sammlung 5 Minutinhos bildet. Wagner Carelli: Um painel minimalista da Criação. In: João Gilberto Noll: Mínimos, múltiplos, comuns, S. 19–22, hier S. 20. Ebda., S. 19: «Cada livro em sua já extensa obra é em si um prodígio de síntese, poética e moral, estrutural e arquitetônica […]; o tempo e a tarefa destes Mínimos, múltiplos, comuns exacerbaram essa habilidade sintética e levaram seus já improváveis limites além do prodigioso – ao território de uma escrita absoluta.» Ubiratan Brasil: Os instantes ficcionais de João Gilberto Noll. In: Estado de São Paulo (São Paulo) (27.07.2003), o.S, http://www.joaogilbertonoll.com.br/entrevistas.html.
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dort als fiktionale Momente («instantes ficcionais»21). Ebenda liefert Noll den einzigen externen Bezug für eine Klassifizierung seines Projekts und verweist auf die von Octavio Paz 1956 in El arco y la lira formulierte «Weihe des Augenblicks» («Consagración del instante») und führt dazu aus: «D.h. gedichtähnliche Mikroerzählungen, in denen für intensive Augenblicke der gewöhnliche Fluss einer zunächst umfangreicheren Erzählung, die sich durch das gesamte Buch zu ziehen scheint, aufgehoben wird.»22 Damit entzieht Noll sich und seine Kürzestprosa einer eindeutigen Benennung und Zuordnung. Er sucht nicht oder vermeidet vielleicht bewusst eine begriffliche Annäherung an die starke Tradition des benachbarten spanischsprachigen La-PlataRaums.23 Statt dessen setzt er sein Projekt zweifach in Bezug zur Poesie als Verdichtung des Augenblicks und im von Octavio Paz dargelegten Sinne als seine ‘Weihe’ und Isolierung aus dem Fluss der säkularen, historischen Zeit, welche Noll mit seiner Poetik der unvermittelt unterbrochenen oder einbrechenden Wirklichkeitswahrnehmung verbindet. Im von Noll benannten Text Paz heißt es: [D]ie chronologische Zeit [erfährt] eine entscheidende Verwandlung: sie hört auf zu fließen, ist nicht länger Abfolge, Augenblick, der vor und nach anderen gleichen Augenblicken kommt, und wird der Beginn von etwas anderem. Das Gedicht zieht einen Trennungsstrich, der den privilegierten Augenblick vom Zeitstrom absondert: in diesem Hier und Jetzt nimmt etwas seinen Anfang: eine Liebe, eine heroische Tat, eine Vision der Gottheit, ein augenblickliches Staunen angesichts jenes Baumes dort oder der Stirn der Diana, die so glatt ist wie ein blanke Wand. Dieser Augenblick ist gesalbt mit einem besonderen Licht: er ist durch die Poesie geweiht worden, im besten Sinne des Wortes Weihe.24
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João Gilberto Noll: Mínimos, múltiplos, comuns, S. 20. Ubiratan Brasil: Os instantes ficcionais de João Gilberto Noll, o.S.: «Ou seja, microcontos poemáticos em que você suspende por agudos momentos o fluxo normal de uma narrativa, a princípio mais extensa e que parece correr pelo livro todo.» Darin bewegt er sich gegen die eingangs hinzugezogenen Vertreter und Verteidiger der literarischen Kürzestformen in Brasilien, die sehr gezielt den Bezug auf die Tradition und Theorie des microrrelato im hispanoamerikanischen Raum suchen, nicht zuletzt mit Verweisen auf David Lagmanovich. Generell aber bestehen Schriftsteller häufig auch auf eigenen Klassifizierungen der von ihnen umgesetzten Textformen, deren Benennungen, Definitionen und Charakterisierungen auch als Ergebnis des Bemühens um radikale sprachliche Kondensierung und Reduzierung ihres Literaturbegriffs verstanden werden können. Dies verdeutlicht Noll mit der Vagheit und Varianz seiner Klassifikationsvorschläge und dieser letzten Hinwendung zur ‘klassischen’ Poetik. Octavio Paz: Die Weihe des Augenblicks. In: Octavio Paz: Essays 2. Aus dem Spanischen von Carl Heupel und Rudolf Wittkopf. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 43–54, hier S. 45. Octavio Paz: La consacración del instante. In: Paz, Octavio: El arco y la lira. El poema, la revelación poética, poesía e historia. 3 Aufl. México: Fondo de Cultura Económica 1996, S. 185–197, hier S. 186: «[…] el tiempo cronológico […] sufre una transformación decisiva: cesa de fluir, deja de ser sucesión, instante que viene después y antes de otros idénticos, y se convierte en comienzo de otra cosa. El poema traza una raya que separa al instante privilegiado de la corriente temporal: en ese aquí y en ese ahora principia algo: un amor, un acto heroico, una visión de la divinidad, un momentá-
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In welchem Sinne Noll diese Inspiration umsetzt, kann man anhand einer Äußerung nachvollziehen, in der er sein Verständnis vom eigenen Werk mit der in seinem Schreiben ebenfalls zentralen Körperlichkeit der Sprache umschreibt. Literatur ist für ihn «fast so etwas wie eine räumliche, plastische Kunst, in der in einem einzigen Satz ihre Negation und Affirmation, die vergangene, die gegenwärtige und die zukünftige Zeit usw. usw. koexistieren.».25 Auch in der räumlichen Dimension vollzieht ein solches radikal kondensiertes Schreiben eine Öffnung nach allen Richtungen hin, wie man sie in der Umkehrung des von Ottmar Ette formulierten Paradoxons verstehen kann, nach welchem die Ausweitung von Raum und Bewegungsradius die Welt immer kleiner mache. Je weiter wir die Räume dehnen, um so kleiner wird die Welt. Die Situation ist paradox: Indem wir unseren Bewegungsraum ausweiten, minimieren wir durch immer höhere Bewegungsgeschwindigkeiten diesen Raum und die an ihn angrenzenden Räume auf immer radikalere Weise.26
Dieser minimierte Raum im kondensierten Schreiben macht die Welt ihrerseits weiter und umfassender. Im banalen, doch geweihten Alltagsmoment können Bewegungen enthalten sein und entwickelt werden, die größere Ausmaße bis hin zu globalen Dimensionen umfassen, wie im Folgenden noch eingehend dargestellt wird. Der so verstandene poetische Augenblick – seine im Titel des nächsten Beispiels bezeichnete ‘Essenz’ und sein Nervenzentrum – öffnet zwischen Realität und Fiktion einen Raum, der sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin öffnet, um die gelebte und erlebte Erfahrung in sich aufzunehmen, die ihr vorausging und die auf sie folgen wird, um sie in ihrer Gesamtheit an sich selbst zurückzubinden, ohne je zum Stillstand zu kommen: DER SCHAUM DES AUGENBLICKS Ich betrat Zimmer 9. Von meinem Fenster aus sah ich für gewöhnlich ein wehendes Laken auf einer Terrasse. Man wird fragen: ‹Na und?› Nun, dieses Laken war eben nicht nur ein Laken. Ich sah, wie sich in ihm eine schweigsame Begierde entfaltete und mir ins Ohr flüsterte. ‹Folge mir zum Nervenzentrum dieses, genau dieses – ich weiß – banalen Augenblicks, sofort!› ‹Ach!›, antwortete ich. Ein Krankenpfleger deckte mich nun zu. Ich vermutete, es war das Laken von der Terrasse. Ich murmelte, dass ich bereit war, ihm zu folgen. Ich erinnere mich an eine Schläfrigkeit. Und dass ich keine Zeit hatte, mich auf danach vorzubereiten. Danach?27
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neo asombro ante aquel árbol o ante la frente de Diana, lisa como una muralla pulida. Ese instante está ungido con una luz especial: ha sido consagrado por la poesía, en el sentido mayor de la palabra consacración.» Ubiratan Brasil: Os instantes ficcionais de João Gilberto Noll, o.S.: «quase que uma arte espacial, plástica, em que convivam numa só sentença a sua negação e afirmação, o tempo passado, presente e futuro, etc., etc.» Ottmar Ette: Literatur in Bewegung, S. 13. João Gilberto Noll: Mínimos, múltiplos, comuns, S. 349: «A NATA DO INSTANTE – Entrei no quarto 9. Do meu quarto costumava ver um lençol esvoaçando num terraço. Perguntarão: ‘E daí?’ Daí que aquele lençol não era só um lençol. Dentro dele, eu via,
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‘Múltiplos’: Der tagtägliche Urknall – das Universum in unendlicher Ausdehnung Der zweite Pol von João Gilberto Nolls Kürzestnarrative wird gebildet von der symbolisch-thematischen Ausweitung der Gesamtheit dieser Texte aus der sprachlich-räumlichen Verdichtung jedes Einzeltextes heraus. Diese Ausweitung findet ihren Ausdruck in ihrer Neuordnung zu einer Art Tableau für ihren gemeinsamen Abdruck in Buchform und bezeichnet somit auch den Übergang von einer chronologisch und formal gesteuerten ersten Schaffensphase zu einer zweiten Phase der systematischen Anordnung. Insgesamt werden die 338 Minimalromane in 5 Großbereiche, 31 Unterkategorien und 100 nochmalige Untergruppen angeordnet, die folgende Struktur besitzen: Tableau der Gliederungsstruktur in João Gilberto Nolls Mínimos, múltiplos, comuns GÊNESE O NADA NADAS NINGUÉNS O VERBO PALAVRAS NOMES GRITOS FUSÕES E METAMORFOSES OS MIMETIZADOS OS PETRIFICADOS OS VOLATIZADOS OS CAMALEÓNICOS A DESMEMÓRIA OS ESQUECIDOS OS PERDIDOS OS ACHADOS OS ELEMENTOS ÁGUA ÁGUAS MARES RIOS MERGULHOS
OS ELEMENTOS (CONT.) AR ARES VENTOS NEBLINA FOGO CHAMAS SOL CALOR TERRA COVAS TERRENOS AS CRIATURAS O CORPO O PORTE O ORGANISMO AS MÃOS A BOCA A LINGUA O PÚBIS OS OLHOS
––––––– se descortinava um estro taciturno, a clamar aos meus ouvidos. ‘Siga-me até o centro nervoso deste instante, este mesmo, banal, eu sei, e já!’ ‘Ai!’, eu respondia. Um enfermeiro me cobria agora. Desconfiei ser o lençol do terraço. Murmurei que eu estava pronto para segui-lo. Lembro de um entorpecimento. Que não deu tempo de me preparar para depois. Depois?» Eingeordnet unter AS CRIATURAS, OS CONVALESCENTES, NOS HOSPITAIS.
108 AS CRIATURAS (CONT.) OS DESPIDOS SÓS ACOMPANHADOS OS AMANTES ELAS ELES NÓS OS CASAMENTOS CASADOS VIÚVOS A FAMÍLIA O PAI A MÃE OS FILHOS NÃO GERADOS O IRMÃO OS OUTROS AS CRIANÇAS ENTRE ADULTOS ENTRE SI OS ANIMAIS OS CACHORROS OS GATOS AS AVES OS ANDARILHOS RETIRANTES CORREDORES PASSEANTES OS EXCLUÍDOS OS SEM-TERRA OS SEM-TETO OS DESOCUPADOS OS REVOLTOSOS O CONTEXTO GOLPE E EXÍLIO A LUTA A VOLTA OS GLADIADORES OS DUELISTAS OS VENCIDOS OS VENCEDORES OS ACUSADOS OS RÉUS OS JUÍZES AS TESTEMUNHAS OS CONDENADOS
Marcel Vejmelka
OS ACUSADOS (CONT.) OS OUTORGADOS OS FUGITIVOS FORAGIDOS CAPTURADOS OS FERIDOS AS FERIDAS AS SEQÜELAS OS CONVALESCENTES NOS HOSPITAIS EM CASA OS ARTISTAS OS MÚSICOS OS POETAS OS PALCOS OS PINTORES O MUNDO A GEOGRAFIA CALIFÓRNIA EUROPA RIO GRANDE DO SUL RIO DE JANEIRO SANTA CATARINA OUTROS BRASIS OS HORIZONTES DAS JANELAS DAS MARGENS AS PLANTAS FOLHAS CANTEIROS PÉTALAS OS REFLEXOS ESPELHOS FOTOGRAFIAS O SISTEMA RESTAURANTES CAFÉS BARES HOTÉIS BANCAS CINEMAS O RETORNO OS MORTOS AS MORTES OS CADÁVERES OS ENTERROS
Mínimos, múltiplos, comuns
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O RETORNO (CONT.) OS DEUSES PROFANOS SECULARES Wagner Carelli, der diese Ordnung und Struktur der Texte gemeinsam mit Noll erstellt hat,28 bemüht in seinem Vorwort zum Band den Vergleich zur abstrakten Malerei Mark Rothkos und dessen Multiplikation der Bedeutung und Wirkung über die gemeinsame Anordnung einzelner – in Farbe und Formgebung minimalistischer – Bilder zu einem ebenfalls bedeutenden Ganzen, als Konstellationen in der großen Leere. Eine ähnliche Spannung bestehe zwischen den extrem verdichteten Kurztexten und ihrer gemeinsamen Konstellation, mithin ihrer internen wie externen Komposition.29 Durch die nachträglich erstellte Systematik des Buches entwirft Noll hierarchisch gegliederte Räume und Ebenen, komponiert er sie als eine Typologie oder Klassifikation der Welt aus der Perspektive seines Schreibens, entfaltet er ihre Ausdehnung in einer mehrstufigen Untergliederung, welche bereits das Moment der Verdichtung transportiert, den thematischen Zusammenhang der betreffenden Textgruppen wieder und aus entgegengesetzter Richtung zunehmend konkretisiert, einrahmt und benennt.30 Die zweite Ebene benennt in ihren Gruppierungen fundamentale Aspekte der Großbereiche, die Gruppierungen der dritten Eben benennen dann deren Einzelphänomene, auf welche schließlich die Konkretisierung durch die Minimalromane folgt. Auf diese Weise findet die jeweilige Spezifik einer jeden ‘Konstellation’ von der obersten Ordnungsebene bis hin zum einzelnen Kürzesttext ihren Niederschlag; zugleich aber artikulieren alle diese Stränge den umfassenden Mechanismus der Verbindung und Verschränkung aller Elemente. Diese grundlegende Relationalität ist ein weiterer Aspekt der fraktalen Logik von Mínimos, múltiplos, comuns, die im Einzelnen noch dargestellt wird. In dieser Spannung und Dualität eröffnet sich für Wagner Carelli die «Unbegrenztheit auf dem Gebiet des Schreibens und [...] Einheit – in Großbuchstaben –, die alle und jede einzelne Erzählung anstreben.»31 In dieser zweiten Phase entsteht ein einziger neuer Text aus Nolls Feder, der den Kurznarrativen vorangestellte Vorsatz ‘Sobre a lógica essencial da edição’. Mehr als ein Vorwort oder eine Leseanleitung stellt dieser – im Übrigen umfangreichste Einzeltext des Bandes – eine Minimalpoetik der Komposition dar. Die fünf Großbereiche der ersten Hierarchieebene – GÊNESE, OS ELEMENTOS, AS CRIATURAS,
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Laut Nolls eigener Aussage in einem Interview mit Kátia Borges (Kátia Borges: No compasso da linguagem. Entrevista com João Gilberto Noll. In: A Tarde (Salvador da Bahia) (2006), o.S., http://www.secrel.com.br/jpoesia/katb3.html. Wagner Carelli: Um painel minimalista da Criação, S. 21. Diese Bewegung wurde sehr bewusst und sorgfältig vorgenommen. Sie schlägt sich schließlich in einer aufwendigen Gestaltung von Mínimos, múltiplos, comuns durch Vera Rosenthal nieder, für welche sie 2004 mit dem Prêmio Jabuti ausgezeichnet wurde. Wagner Carelli: Um painel minimalista da Criação, S. 21: «ilimitação no território da escrita e […] Unidade – com maiúscula – a que aspiram todos e cada um dos relatos.»
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O MUNDO und O RETORNO – bilden den Rahmen für ein Erfassen der Welt in ihrer Entstehungsgeschichte und räumlichen Ausdehnung. In ihrem Innern jeweils entfalten sie sich, um diese Ordnung selbstähnlich zu reproduzieren, wie hier anhand der Beschreibung des ersten Bereichs GÊNESE und seiner Unterkategorien – O NADA, O VERBO, FUSÕES E METAMORFOSES, A DESMEMÓRIA – zu erkennen: «Genesis handelt vom Nichts, das allem vorausgeht; vom Wort, das als ursprüngliche Manifestation darauf folgt; von den Fusionen und Metamorphosen auf der Ebene und im noch formlosen Zustand der Dinge, und vom Gedächtnisverlust, der alles befällt, was geschaffen wurde, und es von seinem Ursprung ablöst.»32 Auch das Narrativ dieser Ordnung bildet eine ‘Chronologie der Schöpfung’ ab – derjenigen einer vom Autor gottgleich geschaffenen Welt. Auch in ihr ist der fraktale Charakter der Sequenzen in Nolls Schreiben zu erkennen. Verbindet man diese temporale Dimension mit der räumlichen Ausdehnung dieses Universums, so wird deutlich, wie der Übergang von einer faktischen Chronologie der Textabfassung zu einer symbolischen Darstellung der Schöpfung deren Grundverfasstheit von einander bedingenden und erzeugenden Impulsen aufgreift und erneut zur Anwendung bringt. Entsprechend ‘ungeordnet’ und fragmentiert gibt sich denn auch das formal strenge Tableau, je weiter man auf den Hierarchieebenen hinabsteigt. Der atemlose Rhythmus der einzelnen Texte findet in der Verkettung der systematischen Kategorien seine Fortsetzung. In dieser transponierten Gedrängtheit steckt der Impuls, der den literarischen hervorbringt und von ihm ausgeht, welcher erneut aufscheint in Nolls Darlegung der Gesamtkomposition als eigenes Mikronarrativ: DIE WELT, in der diese Wesen leben, besitzt eine Geographie, in der die Orte erstmalig benannt werden; sie besitzt Horizonte, in deren Betrachtung die Wesen versinken, sie besitzt eine Flora, in der Pflanzen als Figuren agieren; sie besitzt photographische und Spiegelreflexe, die diese Welt reproduzieren, und sie besitzt ein hier sehr spezifisches System – von Dienstleistungen.33
Die aus ihrer Verkettung heraus entstehenden Momente wiederholen sich jeweils auf den drei Hierarchieebenen in der Anordnung ihrer Elemente: Der Schriftsteller Luiz Paulo Faccioli weist in diese Richtung, wenn er in den Zusammenhang jeder einzelnen Mikroerzählung mit der Gesamtstruktur beschreibt, die nicht nur in jeder Miniatur die Grundidee des Ganzen sichtbar macht, sondern auch verdeutlicht, dass die Logik der Ordnung sich aus vielfach verschränkten Abstufungslinien bildet:
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João Gilberto Noll: Mínimos, múltiplos, comuns, S. 23: «Gênese trata do Nada que a tudo precede; do Verbo que o sucede como manifestação primordial; das Fusões e Metamorfoses no plano e estado ainda informe das coisas, e da Desmemória que acomete o que é criado e o desconecta da origem.» Ebda., S. 23: «O MUNDO em que vivem essas criaturas tem uma Geografia, onde pela primeira vez os lugares são nomeados; tem Horizontes ante os quais as criaturas se põem contemplativas, tem uma flora, com Plantas a contracenar como protagonistas; tem Reflexos especulares e fotográficos que o reproduzem, e tem um Sistema aqui muito específico – de serviços.»
Mínimos, múltiplos, comuns
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[…] der enthüllende Augenblick des Prozesses ist ein Innehalten, auf das eine innere Implosion und eine Neuanordnung im Lichte dieser ‘Traumsonne’ folgen; schließlich die Rückkehr, allerdings in einen Zustand, in dem die Dingen nicht mehr ihren früheren Sinn ergeben. Alle Erzählungen weisen dieselbe Bewegung auf, die 338 Mal den von der Schöpfung vorgegebenen Zyklus durchläuft, in einem offensichtlichen und metasprachlichen Dialog mit der künstlerischen Schöpfung.34
Diesen Gedanken erhellt er mit dem Bild des ‘tagtäglichen Urknalls’ – des ‘big bang de todos os dias’. Nach einer unbestimmbaren Zeit unendlicher Verdichtung aller Materie im Augenblick seiner poetischen Wahrnehmung dehnt sich das literarische Universum nach jedem dieser Urknalle – im Erzählen – unendlich aus und kann in seiner Bewegung nur vom ebenfalls in Bewegung befindlichen Beobachterstandpunkt des Schreibenden erfasst werden. Zugleich erscheint in dieser erzählerischen Darlegung der hierarischen Ordnung die Wiederholung der nachträglich aus jedem einzelnen Kürzesttext destillierten Synthese der Schöpfung auf der ordnenden Ebene, die sich in der expansiven Bewegung zunehmend fragmentiert, ohne jedoch ihre vom Ursprungspunkt her rührende Ausrichtung zu verlieren. Daher wird auch jeder bruchstückhafte fiktionale Augenblick seinerseits von der Ordnung der Texte in ihrer Gesamtheit zusammengehalten und in seiner Bedeutung vervielfacht. Die vielen und vervielfältigten Zersplitterungen setzen in ihrer selbstähnlichen Gestaltung ein neues Bild zusammen, das eben nicht ihre Summe oder Sequenz oder Anhäufung ist, sondern ihre Intensivierung und interne Vervielfältigung. Der im Bild des Urknalls enthaltene bidirektionale Impuls der unendlichen Verdichtung und Ausweitung in vervielfältigter Wiederholung führt schließlich dazu, dass die extreme Verdichtung im konkreten Kürzesttext zugleich die größte Ausweitung des Bedeutungsrahmens dieses literarischen Projekts enthalten bzw. dass die räumlich-strukturelle Ausweitung der Textanordnung ihrerseits die Geste der absoluten Reduktion andeuten kann. Die im Tableau und der Analogie zur Schöpfungsgeschichte versinnbildlichte Ordnung der Welt und allen Seins ist daher nicht Resultat der miteinander in Beziehung gesetzten Einzeltexte oder eine Synthese ihrer Gesamtheit, sondern kann erst in umgekehrter Richtung durch ihre Auffächerung und Variation vermittels jedes einzelnen Kürzesttextes ihre volle Bedeutung entfalten. Die fraktale Repetitivität, die selbstähnliche, ins Unendliche reichende Wiederholung der Form auf jeder neuen Maßstabsebene, die von Yvette Sánchez als eine grundlegenden Konstante von Mikronarrativen beschrieben wird,35 kommt somit in der Verfasstheit und Konzision von Nolls Kürzesttexten sowie auf allen
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Luiz Paolo Faccioli: O big bang de todos os dias. In: Rascunho (Curitiba) (fev. 2004), S. 3, http://www.micronarrativas.com.br: «[…] o instante deflagrador do processo é uma parada, seguida de uma implosão interior e um realinhamento à luz desse ‘sol do sonho’; por fim, o retorno, mas a um estágio onde as coisas não fazem mais o sentido que faziam antes. Todas as narrativas apresentam esse mesmo movimento, repetindo 338 vezes o ciclo proposto da Criação, num diálogo óbvio e metalingüístico com a criação artística.» Siehe dazu ihren Beitrag in diesem Band.
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Ebenen ihrer Anordnung und Klassifikation zum Tragen. Diese nicht zum Stillstand zu bringende Wechselbeziehung kann mit einer von Ottmar Ette formulierten Reflexion zur fraktalen Relationalität der Insel im geographischen Raum erhellt werden. Wie die von Ette beschriebenen Inseln bergen Nolls Minimalromane die Dualität von Abgeschlossenheit und vielfacher Anbindung in sich: Damit zeichnet sich eine zumindest zweifache Bedeutungsstruktur der Insel ab. Sie kann einerseits für eine vom Anderen isolierte Abgeschlossenheit, andererseits aber gerade auch für das Bewusstsein einer mit dem Anderen vielfach verbundenen Relationalität stehen.36
Die komplett von Wasser umgebene Insel erweist sich in einer solchen Betrachtung als unendlich in ihrem Küstenumfang und untergräbt dadurch eine eindeutige Vorstellung von ihrer Abgeschlossenheit. Die sich bis ins Unendliche – und damit auch ins Nanometrische – fortsetzenden und verkleinernden Ein- und Ausbuchtungen ihrer Küstenlinie verweisen auf die Möglichkeit, in dieser je nach Art der Betrachtung vom Abgeschlossenen ins Endlose umschlagenden Figur die Dualität von Reduktion und Ausdehnung von der Insel über die Inselgruppe und das Archipel bis hin zur in ihrem Selbstverständnis kontinental verfassten Welt zu konzipieren. Die Fragmentiertheit der insulären Küstenlinie verbindet sich mit der Fragmentiertheit bzw. Verstreutheit des Archipels, aber auch mit der Insularität der vermeintlichen Kontinente: Die semantisch wie eine Kippfigur funktionierende Geschichte der Insel umfasst in ihrer abendländischen Tradition folglich zum einen die Insel als Insel-Welt, in der sich eine Totalität in ihrer Abgeschlossenheit verräumlicht, um sich sogleich innerhalb ihres Binnenraumes in verschiedene landschaftliche, klimatische oder kulturelle Teilräume auszudifferenzieren. Zum anderen zeigt sich die Insel aber auch als Teil einer Inselwelt, die das Fragmentarische, Zersplitterte, Mosaikhafte repräsentiert, das durch vielfältige innere Verbindungen und Konstellationen gekennzeichnet ist.37
Bringt man diese Reflexion und Logik wiederum auf die Relationalität von Nolls Kürzesttexten und ihre Klassifikation als ‘Weltordnung’ zur Anwendung, kann man unschwer Inseln und Archipele unterschiedlichen Ausmaßes ausmachen, die nicht notwendigerweise der Hierarchie und Abfolge der Kategorisierungen folgen müssen, sondern auch über semantische Verknüpfungen durch entfernt voneinander angeordnete Texte wirksam werden können. Im letzten Reflexionsschritt erscheint jeder einzelne Text in seinem Anspruch an literarische Eigenständigkeit als eine solche Insel, die Abgeschlossenheit und vielfache Relationalität in sich und im selben Moment vereint, in ihrer internen Ausdifferenzierung schließlich eben diese Relationen ausführt und die externen Dimensionen der sie umgebenden ‘Welt’ in ihrem Innern selbstähnlich reproduziert.
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Ottmar Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik. In: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.): Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext. Frankfurt am Main: Vervuert Verlag 2005, S. 135–180, hier S. 136. Ebda., S. 137.
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In Nolls Tableau geht so die Kategorie der Schöpfung (GÊNESE) von biblischen Aspekten wie dem Nichts (O NADA) und dem Wort (O VERBO) über in eher alchimistisch anmutende Fusionen und Metamorphosen (FUSÕES E METAMORFOSES), um dann in Gedächtnisverlust und Vergessen (A DESMEMÓRIA) umzuschlagen. Dabei enthält die Klasse des Nichts neben ihrer Pluralform (NADAS) auch die ‘Niemande’ (NINGUÉNS), hinter denen der zur Schöpfung gegenläufige Prozess der Vernichtung oder Entmenschlichung aufscheint. Ähnlich teilt sich die Gruppe OS ELEMENTOS zunächst klassisch in die vier Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde (ÁGUA, AR, FOGO, TERRA) auf, doch eine Ebene darunter führt die Gliederung bereits in so eigenwillige Kategorien wie ‘Eintauchen’ im Wasser (MERGULHOS), ‘Nebel’ in der Luft (NEBLINA) oder ‘Grundstücke’ auf der Erde (TERRENOS). Diese Räume dehnen sich im Innern des Bewusstseins und um das Individuum herum aus. Sie sind Landschaften der leidenden Seele, zugleich signifikante Schauplätze oder als Orte des Schreibens, die in die Schrift hineinwandern. So wird in Mínimos, múltiplos, comuns die Welt auch ausdrücklich als geographischer Raum mit folgender Strukturierung erfasst: O MUNDO – A GEOGRAFIA – CALIFÓRNIA; EUROPA; RIO GRANDE DO SUL; RIO DE JANEIRO; SANTA CATARINA; OUTROS BRASIS. Die nördliche Hemisphäre des eigenen Kontinents sowie die ‘Alte Welt’ (die im Titel des in London angesiedelten Textes ‘Festival 500 anos’ etwa in Umkehrung der Perspektive als solche gekennzeichnet wird) stehen als externe Anbindung einer ins Innere Brasiliens gerichteten Zersplitterung in Staaten und Städte (bis hin zu Straßen und Plätzen Porto Alegres unter GRANDE DO SUL) und schließlich die Markierung interner Alterität (die ‘anderen Brasilien’ sind ‘Brasília’ und ‘Mato Grosso’) gegenüber. Brasilien, dieses Land von ‘kontinentalen Ausmaßen’, wurde vom Anthropologen Darcy Ribeiro in einer von Ottmar Ette für seine bereits hinzugezogene Gedankenlinie erhellenden Passage zur Frage nach der Existenz Lateinamerikas selbst als Archipel bezeichnet.38 Eine solche Betrachtung Brasiliens unterläuft in gegensätzlicher und doch analoger Bewegung das Selbstverständnis der geschlossenen Festlandmasse – fragmentiert das Kontinentale durch Ettes archipelisches Denken – und verweist zugleich auf verschiedene Ebenen der internen Fragmentierung und externen Relationalität, wie etwa im von Flussläufen und Verinselungen geprägten geographischen Raum des Amazonasbeckens oder in kulturellen Räumen wie dem Norden, Nordosten oder Süden, die teilweise stärkere transnationale, in die spanischsprachigen Nachbarländer hinein reichende Anbindungen aufweisen als intranationale Regionen untereinander.39 In ähnlicher Weise können durch klassifikato-
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Vgl. Ottmar Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 142 mit Bezug auf Darcy Ribeiro: América Latina, a Pátria Grande. Rio de Janeiro: Guanabara 1986. Die gleiche Dualität von Kontinent und Archipel setzt im Bereich der Literatur etwa der wie Noll aus Rio Grande do Sul stammende Érico Veríssimo in seiner Romantrilogie O tempo e o vento (Veríssimo 1985) in historischer Perspektive um, wenn er mit dem Roman O continente (1949) die Erschließung und Besiedlung des extremen Südens von Brasilien ab dem späten 17. Jh. behandelt, die Individualisierung und Modernisierung dieses geographischen wie kulturellen Raums um die Wende vom 19. zum 20. Jh. an-
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rische Ortsangaben in Nolls Mínimos, múltiplos, comuns, aber auch durch erkennbare Schauplätze von Texten in allen Kategorien seines Tableaus die vielfältigen und sich vervielfältigen Brasilien innerhalb Brasiliens auftreten, aber auch kontinentale wie transareale Bewegungen und Erfahrungen anhand von Berkeley und San Francisco im Norden des amerikanischen Kontinents oder London auf einer der dem europäischen Festland vorgelagerten britischen Inseln erfasst werden. So etwa in einer kulturell durchmischten, auf die Dynamiken innerhalb der amerikanischen Hemisphäre, aber auch in transpazifischer Verbindung nach Asien verweisenden Begegnung an einem Silversternachmittag in Kalifornien – die in Nolls Tableau unter A GEOGRAFIA, CALIFÓRNIA eingeordnet wird. Hier scheint nicht nur der biographische Bezug auf Nolls Aufenthalt als Gastdozent in Berkeley 1996 durch, sondern auch die transnationale Tendenz von Pfingstkirchen, die vielschichtigen und multidirektionalen Migrationen von Menschen zwischen und auf den Kontinenten, schließlich die globale Durchdrungenheit und Präsenz der imagologisch konkret auf den Südteil der Stadt Rio de Janeiro – auf die Zona Sul – verweisenden Bossa Nova: JAHRESWECHSEL Als ich die Kirche unbestimmter Konfession neben jener kalifornischen Straße betrat, ein wenig, um mich auszuruhen, ein wenig auch, um die Liturgie zu betrachten (dort drinnen erklangen Stimmen), als ich also eintrat, erblickte ich auf dem Boden liegende Menschen, als würden sie damit einen maßlosen Glauben bekräftigen, etwas in dieser Art, und ich dachte, noch acht Stunden bis zum Jahreswechsel, strich mir mit der Hand über den Kopf und erkannte, dass ich meines koreanischen Freundes bedurfte, der seine Kindheit in São Paulo verbracht hatte. Bevor ich an die Tür klopfte, hörte ich, wie er ‹Insensatez› sang. Eine Nacht voller Gesang!, dachte ich überschwänglich.40
Auch die transatlantische Beziehung zwischen Südamerika und Nordeuropa findet sich kondensiert in einem geographisch in Stockholm – systemisch in A GEOGRAFIA, EUROPA – angesiedelten Kürzesttext, der den starken klimatischen Kontrast von Tropen und Polarkreisnähe mit dem Leitmotiv des ständig drohenden Herausfallens aus der geordneten Wirklichkeit im Moment des Wahnsinns und der klinischen Internierung verbindet. Vorweggenommene und sogleich widerrufene
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hand der Figur des Dr. Rodrigo in O retrato (1951) beleuchtet, um im Anschluss daran erneut die geographisch-kulturelle Perspektivierung einzunehmen und das transformierte Brasilien in der ersten Hälfte des 20. Jhs. nunmehr als O Arquipélago (1962) zu beschreiben. (Érico Veríssimo: O tempo e o vento: O continente; O retrato; O arquipélago. 2 Bände. Porto Alegre: Globo 1985) João Gilberto Noll: Mínimos, múltiplos, comuns, S. 385: «PASSAGEM DO ANO – Quando entrei na igreja de religião imprecisa naquela estrada da Califórnia, um pouco para descansar, outro tanto para contemplar a liturgia (vinham vozes lá de dentro), pois, ao entrar, me deparei com pessoas prostradas no piso, como se afirmassem uma fé desmedida, algo assim, e pensei que faltavam oito horas para a passagem do ano, passei a mão na cabeça e vi que precisava do amigo coreano que vivera a infância em São Paulo. Antes de bater na porta, percebi que ele cantava ‹Insensatez›. Noite de cantoria!, pensei efusivo.»
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Fremdvorstellungen werden auf den Topos der Kälte reduziert, die sich unvermittelt mit dem vereinsamten Wahnsinn des Schriftstellers verbindet und schließlich mit der Überquerung verallgemeinerter Brücken der Stadt in die Auflösung des Denkens in Reifenspuren im Schnee einmündet: ZWIELICHT AUF DER BRÜCKE Die Kälte Stockholms. Ich wohnte in was wir in den Tropen romantisch als Mansarde bezeichnen. Doch von süßlicher Mansarde hatte dieser Kasten nichts. Ich wurde von einer Stiftung fürs Schreiben bezahlt. Als ich über die Brücken der Stadt lief, berührte ich etwas irgendwie Unkontrolliertes, das mir den Weg öffnete. Versteht Ihr? Ich auch nicht. Ich wurde damals langsam verrückt. Und ich wusste, dass dort an der nächsten Ecke der Gesundheitsdienst auftauchen und mich mitnehmen konnte. Und das geschah dann auch. Durch die Rückscheibe betrachtete ich die Reifenspuren im Schnee. Gedankenlos.41
Kehrt man auf die Ebene der Anordnung der Texte zurück, so wird die von Nolls Tableau entworfene ‘Welt’ auf derselben Ordnungsebene auch als System (O SISTEMA) beschrieben, das anhand von nicht festgelegten Orten der Dienstleitung – RESTAURANTES; CAFÉS; BARES; HOTÉIS; BANCAS; CINEMAS – diese Geographie der globalisierten Welt von einerseits immergleichen Örtlichkeiten an verschiedenen Orten und andererseits immer noch präsenten Elementen lokaler Spezifik ebenfalls entwirft. Schließlich wird die ‘Welt’ beschrieben anhand der Pflanzen (AS PLANTAS), welche die Orte ihres Auftretens repräsentieren, sowie durch zwei Kategorien der explizit gemachten subjektiven Wahrnehmung und ihrer Täuschungen: Horizonte (OS HORIZONTES) von einem Fenster oder Ufer aus betrachtet und Spiegelungen (OS REFLEXOS) im Spiegel und in der Photographie. Doch das prägnanteste Bild eines solchen aus dem geographischen Raum ins Innere des Selbst gewendeten und dort wieder geographisch gestalteten Augenblicks liefert – sicher nicht zufällig – ein Text aus der Reihung GÊNESE, A DESMEMÓRIA, OS PERDIDOS, der eine weitere entscheidende Begrifflichkeit im Hinblick auf Raum und Bewegung der und in der Literatur ins Spiel bringt: Die unmögliche Rückkehr des erzählenden Ichs in seine bis gerade eben gültige Wirklichkeit wandelt sich hier in eine unaufhaltsame Bewegung der permanenten Grenzüberschreitung durch Bewusstsein und Text. GRENZEN Als ich an der Ecke den Arm hob, vermutete ich, mich nicht mehr an dem Tag zu befinden, den ich als richtig annahm. Ich fühlte, wie ein Stechen den Abend in der Mitte zerschnitt, der Abend war nun vollständig in Unordnung geraten, besaß kein bestimmtes
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Ebda., S. 388: «PENUMBRA NA PONTE – O frio de Estocolmo. Eu morava no que romanticamente chamamos, nos trópicos, de mansarda. Mas de mansarda edulcorada aquele cubículo não tinha nada. Eu era pago por uma fundação para escrever. Quando andava pelas pontes da cidade, ia tangendo uma coisa meio indisciplinada que me abria caminho. Entenderam? Nem eu. É que na época estava enlouquecendo. E sabia que ali, na próxima esquina, o serviço de saúde poderia aparecer e me levar. O que acabou acontecendo. Pelo vidro traseiro fiquei olhando as marcas das rodas na neve. Sem pensar.»
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Marcel Vejmelka Gesicht, ließ mich mal ganz frei schwebend im Bild, ordnete mich mal so sehr in alles ein, dass ich instinktiv mit den Armen ruderte und zu entkommen versuchte. Ein Taxi hielt an. Ich stieg ein. Ich konnte dem Fahrer keine Richtung angeben. Ich sagte ihm nur, er solle losfahren. Unterwegs würde ich mich erinnern. Und er fuhr sehr langsam los, ein wenig nach vorn gebeugt, mit zusammengekniffenen Augen, so als wären wir kurz davor, eine dünne Linie, ja … eine Grenze …, zu überschreiten.42
In diesem Minimalroman zeichnet sich eine grenzüberschreitende Bewegung des Schreibens und des Schreibenden ab, die keinen Anfangs- und Endpunkt mehr kennt. Nur der Autor als in sein eigenes Schreiben eindringender Verweis auf seine biographische und reale Dimension kann noch versuchen, ein nicht stillzustellendes und doch in seiner Unmöglichkeit klar markiertes Verlangen zu befriedigen, schließlich wieder am Beginn seiner Reisen anzukommen. Unter der Reihung AS CRIATURAS, OS ARTISTAS, OS MÚSICOS findet sich ein Minimalroman mit dem in dieser Hinsicht deutlichen Titel ‘Porto Alegre’, in dem die zunächst angedeutete Färbung einer Kindheitserinnerung an Gesangsstunden – mit der Begegnung eines die Alterität verkörpernden schwarzen Kindes, das durch die erotisch-pathologische Blässe der Lehrerin kontrastiert wird – umschlägt in die bedrohlichen Unwägbarkeiten eines menschlichen Lebenswegs. Selbst noch vor dem bewussten Beginn der Bewegungen haben diese eingesetzt, auch wenn sie sich zunächst auf die im Geiste sich andeutenden Variationen einer Biographie beschränken, in der ein Schriftsteller sich erinnert, dass er vielleicht auch Sänger hätte werden können: PORTO ALEGRE Kältedampf entstieg meinem Mund. Ich öffnete das Tor, während ich das Geräusch des Kieses verfluchte, den ich auf dem Weg zu meiner ersten Gesangsstunde durchschreiten musste. Als ich an die Tür klopfte, sandte die eiskalte Hand einen Schmerz bloßgelegten Knochens aus. Ein schwarzes Kind öffnete. Ich stellte mich neben dem Klavier auf. Und die Lehrerin? Ich erblickte nur eine beeindruckende Menge Arzneifläschchen auf dem Tisch. Ich hörte ein Husten. Und dann erschien sie in einem Hausmantel, der mich eine extreme Blässe erkennen ließ, die rosige, frisch wirkende Narbe auf der Brust, die ich als leicht keuchend beschreiben würde. Ich erinnere mich, dass mir schwindlig wurde, erschlagen ungläubig angesichts meines Schicksals als Sänger.43
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Ebda., S. 78: «FRONTEIRAS – Quando na esquina ergui o braço, suspeitei não estar mais no dia que eu dava como certo. Senti uma fisgada a cortar a tarde pelo meio, a tarde agora em completo desalinho, sem face definida, ora me deixando como que solto no quadro, ora me integrando tanto a tudo que eu me lançava em instintivas braçadas, tentando uma evasão. Parou um táxi. Entrei. Não consegui indicar o rumo ao motorista. Falei apenas que me levasse. Que no caminho eu lembraria. E ele foi me levando muito lentamente, meio curvado, olhos cumprimidos, como se estivéssemos a ponto de ultrapassar uma linha delicada, sim … uma fronteira …» Ebda., S. 367: «PORTO ALEGRE – Vapores do frio saíam da minha boca. Abri o portão maldizendo o ruído do cascalho que eu deveria percorrer ao me dirigir para a primeira aula de canto. A mão gelada, quando bati na porta, emitiu uma dor de osso desencapado. Uma criança negra abriu. Perfilei-me ao lado do piano. E a professora? Eu só via uma quantidade impressionante de frascos de remédios sobre a mesa. Escutei uma tosse.
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‘Comuns’: kleinste gemeinsame Vielfache und die Gesamheit vervielfachter Kleinstformen Der für die Buchpublikation der versammelten und klassifizierten Kürzesterzählungen gewählte Titel Mínimos, múltiplos, comuns spielt zunächst mit dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen der Mathematik (‘o mínimo múltiplo comun’) und verweist auf eine Gesamtheit, die nicht identisch ist mit der Summe ihrer einzelnen Elemente. Entsprechend geht die vom klassifikatorischen Tableau entworfene Welt nicht in ihren einzelnen Elementen auf und kommt auch mit sich selbst nicht zur Deckung. Der im Titel verwendete Plural für die mathematische Anlehnung deutet auf diese Vervielfältigung und Verkomplizierung hin. Ebenso kann und soll die jeweilige Perspektivierung der Einzeltexte nicht in ihrer Einordnung aufgehen; ihre Zuordnung erschließt sich häufig nicht auf Anhieb, wie in umgekehrter Herangehensweise – von den Kategorien zu ihren Komponenten – bereits deutlich wurde. Mit diesem Spiel der Ebenen wird der literarisch begründete Raum auf vielschichtige Weise neu erschlossen. Weiterhin wird der Begriff des ‘kleinsten gemeinsamen Vielfachen’ durch die eingefügten Kommata in seine Bestandteile zerlegt, die jeweils eigene Bedeutungskomplexe entwickeln: ‘mínimos’, ‘múltiplos’ und ‘comuns’ weisen hin auf den Dreischritt des inneren und äußeren Zusammenhalts dieser literarischen Kleinstformen in ihrer Vielzahl und gemeinsamen Konzeption. Gemeinsam ergeben diese drei Dimensionen eine komplexe Konfiguration der Intensivierung und Vervielfältigung von 338 Minimalromanen à 130 Wörtern in 5, 31 und 100 ineinander verschachtelten Zuordnungen, wie soeben in extremer Verkürzung angedeutet. Die Verbindung zwischen den einzelnen Ebenen, Strängen und fiktionalen Momenten ist zugleich durchzogen von ihrem Drang zur Dispersion und Fragmentierung. Die Spannung kann immer nur für Momente aufrecht erhalten werden, der einzelne Text bricht dann wieder aus dem Gefüge heraus und vereinzelt sich, so wie auch das – hier durch die Einordnung unter ‘AS CRIATURAS – OS ARTISTAS – OS POETAS’ als Selbstreflexion des Literarischen angelegte – Ich sich schließlich gemeinsam mit seinem Gegenüber in die Isolierung und zugleich doch wieder Einbindung beinhaltende Insel-Metapher verwandelt: DIE ANWESENHEIT Wenn er durch die rua da Praia käme, würde er Venturas Buchladen betreten. Dort war der von jenen Kindern umringte Dichter. Dieses Mal war das Foto nicht da. In dem Augenblick, da er die Abwesenheit bemerkte, näherte sich ein Mann und bat ihn um etwas Kleingeld. Arbeitslos, ohne Geld für den Bus. Er wechselte ungewollt das Thema: ‹Und Walt Whitman, hast du den gelesen?› Denn das war der Lieblingsdichter des Arbeitslosen. Er vermisste sein Portrait mit den Kindern dort. Und er zeigte auf den hellen Fleck
––––––– E ela então apareceu num robe que me deixava entrever uma brancura extremada, a cicatriz rosada, parecendo recente, no peito que eu diria levemente arfante. Lembro que tonteei, fulminantemente incrédulo diante do meu destino de cantor.»
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Marcel Vejmelka an der Wand. Da zerschnitt ein Donner den Lauf des Abends. Sie waren schon zu Inseln geworden.44
Damit führt das letzte Bild nicht nur zur Konstellation und Eingebundenheit der Insel in die Archipele der Welt und der Wirklichkeit, in die Möglichkeit der Ausweitung bis hin zu globalen Dimensionen im Zuge der literarischen und thematischen Verdichtung und Reduzierung auf kleinstmögliche Ausmaße und Umrisse. Und nicht zufällig wird dieses Bild entwickelt im sozialen wie imaginären Raum eines Buchladens und anhand eines verschwundenen (nordamerikanischen) Dichterportraits, dessen Spur des Verschwindens die Erkenntnis einer Inselhaftigkeit befördert, die sich in der Gemeinschaft des Augenblicks einer absoluten Vereinzelung entzieht. Im ununterbrochenen Wechselspiel von Reduktion und Ausweitung, von in Fragmenten enthaltenen Totalitäten, die sich wiederum in Fragmente aufspalten, scheint auch in zahlloser Wiederholung der ‘erste Impuls’ auf, der Nolls Schreiben in Bewegung setzt und hält. In diesem Sinne wiederholt sich auch in jedem der 338 Minimalromane von Mínimos, múltiplos, comuns der literarisch umgesetzte, auf der Ebene des ordnenden Welt-Tableaus abgebildete und ausgeweitete Versuch des jedes Mal aufs Neue einsetzenden und sich vollziehenden Schöpfungsaktes im Schreiben, wie ihn David Treece 1997 in seinem Vorwort zu Nolls bis zum damaligen Stand gesammelten Romanen und Erzählungen zusammenfasst: Dies sind entscheidende Momente, die Nolls gesamtes Werk durchziehen, wenn der Protagonist unvermittelt mit seiner primitiven sexuellen Natur konfrontiert ist, mit dem rätselhaften und herausfordernden Blick eines Kindes oder mit den Quellen der menschlichen Sprache selbst. In all diesen Wiederbegegnungen ist er gezwungen, wie zum ersten Mal die Geste zu versuchen, die ihn in einem […] liturgischen Ritual zur Wiederbelebung und Erneuerung der Bedeutung der Dinge zum menschlichen Wesen macht. 45
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Ebda., S. 370: «A PRESENÇA – Se passasse na rua da Praia, entrava na livraria Ventura. Lá ficava o poeta com aquelas crianças em volta. Dessa vez a fotografia não estava ali. No instante de se dar conta da ausência, aproximou-se um homem a lhe pedir uns trocados. Sem trabalho, não tinha para a condução. Ele, sem querer, desconversou: ‘E Walt Whitman, você leu?’ Pois era o poeta preferido do desempregado. Sentia falta do retrato dele com as crianças, ali. E apontou para o claro na parede. Foi quando um trovão cortou o fio da tarde. Eles já estavam ilhados.» David Treece: Prefácio. In: João Gilberto Noll: Romances e contos reunidos. São Paulo: Companhia das Letras 1997, S. 7–18, hier S. 13: «São momentos decisivos esses, que percorrem toda a obra de Noll, quando o protagonista se vê de repente às voltas com a sua natureza primitivamente sexual, com o olhar enigmático e desafiador da criança, ou com as próprias fontes da linguagem humana. Em todos esses reencontros, ele é obrigado a ensaiar, como se pela primeira vez, o gesto que o instaura enquanto ser humano, num ritual litúrgico […] de revitalização e regeneração do significado das coisas.»
Pasajero frustrado El anciano hizo entrar en su arca a innumereables parejas de animales. Yo no tuve cabida, aunque como todos temía el avance de las aguas. Qué falta de imaginación: se franqueó la entrada a los animales reales, pero ningún ser fabuloso consiguió un lugar. Frustrierter Passagier Der Alte ließ unzählige Tiere paarweise auf seine Arche. Ich paßte nicht mehr hinein, obwohl ich wie alle das Vorrücken des Wassers fürchtete. Welch ein Mangel an Einbildungskraft: Realen Tieren wurde Einlaß gewährt, doch kein Fabelwesen fand Platz. David Lagmanovich
Anja Bandau (Berlin)
Desaster und Utopie: Vom unerhörten Detail zum Romanfragment Die Anekdote im Kontext der Nanophilologie ist eher eine klassische Kürzesterzählung als eine explizit im Kontext der Moderne entstandene epische Kleinform. Allerdings wandelt sie sich mit den historischen und poetologischen Bedingungsgefügen und erfährt in diesen Kontexten jeweils neue Aneignungen und Funktionalisierungen. Für die Rhetorik gehört sie zu den exempla und steht der fabula nahe. Im folgenden Beitrag geht es um die Anekdote im kolonialen Kontext, genauer gesagt darum, wie Ende des 18. Jhs. im Kontext des französischen Kolonialismus durch Anekdoten Wissen über die Kolonien in das koloniale Zentrum gelangt. Dabei stütze ich mich auf zwei Texte, die anonym publizerte Histoire des Désastres de Saint-Domingue und Adonis, ou le bon nègre. Une anecdote coloniale des Kolonialbeamten und Journalisten Jean-Baptiste Picquenard, die Ende des 18. Jhs. in Frankreich in der Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen dem revolutionären Frankreich und seinen Kolonien publiziert wurden. Beide nutzen die Gattung der Anekdote in unterschiedlicher Weise: zum einen im Sinne einer eingefügten kondensierten Erzählung in einem historiographischen Text, zum anderen als Referenz auf die Gattungsmerkmale der Anekdote im Untertitel einer längeren Erzählung, die hier als Vorform des Romans gelten kann. Die histoire dieser beiden Texte erzählt die Revolution in der Kolonie als Implosion der bestehenden hierarchischen Ordnung zwischen Herr und Sklave.1 Ihr erzählerischer Grundplot entspricht hier dem scheinbar unbedeutenden, nebensächlichen, illustrierenden Detail,
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Das konkrete Ereignis, um das es geht, ist die haitianische Revolution: Zeitgleich mit den Umwälzungen von 1789 in Frankreich beginnt in der ökonomisch wichtigsten französischen Kolonie ein komplexer Transformationsprozess, in dessen Folge 1804 die erste Republik freier Sklaven entsteht. In ihm wirken sehr unterschiedliche Interessen: Die antikolonialen Autonomiebestrebungen der grands blancs (etwa 20.000 weiße kreolische Plantagenbesitzer), der Kampf der hommes de couleur (ca. 30.000 freie Farbige) um Gleichstellung mit den Weißen und vor allem um politische Partizipation, der Kampf der so genannten petits blancs (30.000 weiße Handwerker, Ladenbesitzer und Besitzlose) um soziale Gleichstellung, der Kampf der freien und besitzlosen Schwarzen (affranchis) sowie der Kampf der schwarzen und nicht-weißen Sklaven (ca. 500.000 und über 90% der Bevölkerung) um die Abschaffung der Sklaverei, der radikale Umwälzungen erforderte. Der Konflikt zwischen diesen Gruppen äußert sich in bewaffnetem Terror, Pogromen, vereinzelten Revolten, Guerillakrieg und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armeen. Beide Texte fokussieren einen kleinen Ausschnitt der haitianischen Revolution: die ersten Erhebungen der schwarzen Sklaven und der gens de couleur im Norden der französischen Kolonie Saint-Domingue während der frühen Phase des Aufstands und die politischen Interventionen der vom französischen Nationalkonvent entsandten Kommissare für die Umsetzung der Gesetzgebung zur Gleichstellung der hommes de couleur (freien ‘Farbigen’) sowie für eine schrittweise Abschaffung der Sklaverei.
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das die Anekdote charakterisiert, jedoch durch seinen Einsatz zentrale Bedeutung erlangt.2 Texte wie die Histoire des Désastres und andere Berichte von Kolonialbeamten, Reiseberichte und Augenzeugenberichte von geflohenen Plantagenbesitzern entstehen relativ zeitnah und vermitteln dem zeitgenössischen Publikum ein interessengeleitetes Bild für eine spezifische Öffentlichkeit. Diese Bilder von der haitianischen Revolution beschreiben das Ereignis als unerhört, gewaltvoll und monströs. Die verschiedenen Titel betonen das Scheitern, die Katastrophe und die chaotischen, gewaltvollen Zustände. Nur wenige Texte schildern die Verhältnisse mit Sympathie bzw. Verständnis für die Aufständischen: Dies sind vor allem nichtliterarische Abhandlungen zur Verurteilung der Sklaverei aus den Reihen der Société des amis des noirs, denen allerdings wenig eigene Kenntnis der tatsächlichen Situation vor Ort zugrunde lag. Eine Ausnahme bildet der Erzähltext Picquenards, der aus der Kenntnis der kolonialen Situation in Saint-Domingue zwischen 1791 und 1793 eine, wenn auch ambivalente, Utopie der Gleichberechtigung zwischen weißen und nicht weißen Kreolen sowie Franzosen entwirft. Beide Texte werden in Frankreich in der komplexen politischen Situation nach der Terreur publiziert und sind Teil einer westlichen Printkultur, die jedoch das Außereuropäische, Andere verhandelt und, so meine These, dies für das Publikum intelligibel macht. Ich frage nun nach den Umständen, unter denen über die haitianische Revolution geschrieben wurde, und nach dem Zweck dieses Schreibens. Es wird eine Geschichte erzählt, die sich für die intendierte Leserschaft in geographischer und kultureller Distanz ereignet und die sich gleichzeitig als bedrohlich für die bestehende soziale/koloniale Ordnung und bestehende ökonomische Strukturen erweist. Dabei gehe ich davon aus, dass sich das Schreiben über die Ereignisse in einem transatlantischen, interamerikanischen Raum konstituiert und verschiedene interessensgebundene Narrative in Zirkulation gebracht werden, die sich spezifischer Formen und Konventionen bedienen. Die zentralen Gattungen des Sprechens über das kulturelle Andere sind die Reiseberichte und die contes orientaux. Die Reiseberichte, die die haitianische Revolution thematisieren oder auch ganz ins Zentrum stellen, sind u.a. Michel-Etienne Descourtilz’ Voyage d’un naturaliste (1809) und Baron von Wimpffens Voyage à Saint-Domingue pendant les années 1788, 1789 et 1790 (1797). Die ebenfalls während der Revolution boomende Gattung des Dramas behandelt die Themen der Sklaverei, z.B. Olympe de Gouges L’esclavage des noirs (1789). Stephen Greenblatt (1991) hat die Anekdote als wesentliches Moment der Reiseberichte in der Renaissance bezeichnet. Sie sei zentrales Register des Unerwarte-
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Die komprimierte Anekdote, die Violeta Rojo neben Kürze, dem Gebrauch präziser Sprache sowie dem Einsatz von Bildern anstelle von Beschreibung und ausführlicher Narration als ein Kriterium für das Genre des ‘minicuento’ anführt, bildet den Ausgangspunkt meiner Überlegungen (vgl. Violega Rojo. Breve manual para reconocer minicuentos. México D.F.: Universidad Autónoma Metropolitana 1997, S. 8). Während bei Rojo die Anekdote synonym für Fabel, histoire, Argument, Handlung, Konflikt gebraucht wird, beziehe ich mich auf das spezifische Genre der Anekdote und seine unterschiedlichen Funktionen in der Geschichtsschreibung (vgl. ebda., S. 72).
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ten und also der Begegnung mit dem Anderen, dem Ungewohnten, mit Differenz. Damit bildet sie einen Modus, durch den das Unbekannte angeeignet werden konnte. Was Greenblatt für die Reiseberichte der Entdecker und Eroberer festhält, ist auch für die Texte, die nun Gegenstand meiner Analyse sind, relevant. Hilzinger verweist auf den quantitativen Anstieg der Anekdotenproduktion zu Krisenzeiten im allgemeinen – gesellschaftliche Umbrüche, Kriege, Revolutionen –, in denen das Genre system- und bewusstseinsstablisierende Funktion habe, andererseits aber auch selbst einem Wandel unterliege, wenn die referentielle gesellschaftliche Ordnung verlustig gehe und sich eine neue bürgerliche Öffentlichkeit bilde.3 Die folgende Analyse begreift die Anekdote nicht nur im Sinne der Verbindung zur Geschichtserzählung, sondern in der Art und Weise, wie sie die Bezüge zwischen Authentizität, Narration, geheimem und öffentlichem, unwichtigem und zugleich signifikantem Detail entfaltet. Ich möchte in Hinblick auf die koloniale Situation zwei Aspekte näher untersuchen: zum einen die Anekdote als kurzen eingeschobenen Text in der Geschichtserzählung und zum anderen die Anekdote am Ausgangspunkt einer längeren Erzählung sowie als Gattungsbezeichnung im Zusammenhang mit dem Roman. Hier geht es um die Funktionalisierung der Gattungsbezeichnung als Untertitel, die sowohl auf die Nähe zur Geschichtserzählung als auch auf die inhaltliche Definition der Anekdote als kurze Erzählung von etwas Unbekanntem, Neuen, aber auch scheinbar Nebensächlichen Bezug nimmt.
Die Anekdote als Bebilderung und Subversion der Geschichte Dem Petit Robert zufolge leitet sich das Genre der Anekdote vom griechischen anekdotos für ‘unveröffentlichte Sache’ ab. Die Anekdote geht auf Prokopios von Cäsarea zurück, der im 6. Jh. entlarvende Geschichten über den byzantinischen Hof schrieb, die er in seiner offiziellen Geschichte der Regierung Justinians nicht veröffentlicht hatte. Auch das Historische Wörterbuch der Rhetorik weist auf ihre Verbundenheit mit der Erzählung von Geschichte hin: Als Anekdote bezeichnet man eine kurze, oft anonyme Erzählung eines historischen Geschehens von geringer Wirkung, aber großer Signifikanz, die mit einer sachlichen oder sprachlichen Pointe endet. Sie wirkt insbesondere durch die ‘Verbindung von ›Repräsentanz‹ und ›Faktizität‹ des Geschehens’ sowie durch ‘die Haltung der ›Nachdenklichkeit‹ im Erzählen’.4
Im französischen Kontext, vor allem in der französischen Memoiren-Literatur, taucht sie Ende des 17. Jhs. als ‘particularité historique (secrète)’ auf;5 sie ist in so
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Vgl. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung: zum Strukturund Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: M & P, Verlag für Wissenschaft und Forschung 1997, S. 232. Joachim Knape: Anekdote. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1992, S. 566–579, hier S. 566. Siehe u.a. Marie-Pascale Huglo: Métamorphoses de l’insignifiant: essai sur l’anecdote dans la modernité. Montréal: Balzac-Le Griot 1997, S. 30.
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genannten ana (Anekdoten-Sammlungen) als Gattung galanter Kommunikation ebenso wie höfischer Geschichtsschreibung um historische Persönlichkeiten präsent. Die pointierte, kurze Form der Anekdote, die im 18. Jh. aufkommt und eine Übergangsform zum Witz darstellt, wird hier nicht berührt. Hilzinger (1997) führt aus, dass die Gattung, die im 17. Jh. im höfisch-aristokratischen Milieu kursiert und mit herrschaftskritischer Intention auf historiographische Beiträge in der Tradition der Geheimgeschichte verweist, zumeist eine Autorstimme habe, die die Rolle eines Zeugen übernimmt und aus dem ‘Innern der Macht’ berichtet. Zudem nutze Raynal (1754) das Genre als anecdotes historiques mit der aufklärerischen Intention, historiographisches Material einer größeren interessierten Leserschaft zugänglich zu machen.6 Das Metzler-Literatur-Lexikon fügt hinzu, die Anekdote sei eine epische Kleinform, die in einer überraschenden Steigerung oder Wendung einen Augenblick zu erfassen sucht, in dem sich menschliche Charakterzüge offenbaren und als Geschichten, die sich vor allem um historische Persönlichkeiten oder Ereignisse (auch um fiktive Gestalten) bilden, tendiere die Anekdote sowohl zum historisch Konkreten, Verbürgten als auch zum fiktiv Bearbeiteten. Von hieraus lässt sich eine Linie zur Publizistik und zur literarischen Anekdote als Mischform ziehen, die vom Oralen stark beeinflusst ist. In Historiographie und Publizistik wird die Anekdote zur eigenen Gattung, obwohl sich dieser Status für das literarische Genre als prekär erweist.7 Die im 19. Jh. angebrachte Kritik, die Anekdote löse die ‘Geschichte in den Geschichten auf’,8 mag für die systematisch-strukturalistische Gattungsbestimmung neben der Tendenz zur Mündlichkeit entscheidend gewesen sein, das Genre zu vernachlässigen.9 Dany Hadjadj sieht im «détail sans portée générale» eine erst im 20. Jh. explizit artikulierte Charakteristik, die für ihn auch den Niedergang des Genres ausmacht.10 Aber nach dem linguistic und cultural turn scheint das Genre wieder von Interesse zu sein für die Beschäftigung mit Geschichtsschreibung und, wie ich zeigen möchte, auch für die Beschäftigung mit Genre aus postkolonialer Perspektive. Insbesondere der New Historicism hat sich der besonderen Verschränkung von Literarischem und Referentiellem in der narrativen Form der Anekdote gewidmet, nicht zuletzt weil seine Vertreter in ihr ein subversives Moment gegenüber den grands récits der Geschichte sahen: Sie öffne als anekdotische Form von Geschichte die grands recits und betone ein Moment von Kontingenz. Diese Offenheit relativiert Greenblatt jedoch später und verweist auf ihr generelles
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Vgl. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen, S. 33f. Voltaire (Le siècle de Louis XIV) sieht in den Anekdoten die ‘petits détails longtemps cachés’, die erst nach der großen Geschichtsschreibung sichtbar werden (vgl. Dany Hadjadj: L’Anecdote au péril des dictionnaires. In: Alain Montandon (Hg.): L’Anecdote. Actes du colloque de ClermontFerrand (1988). Clermont-Ferrand: Faculté des Lettres 1990, S. 1–20, hier S. 16). Vgl. Joachim Knape: Anekdote, S. 567. Vgl. Jacques Dubois: Rhétorique générale. Paris: Larousse 1970. Vgl. Joachim Knape: Anekdote und Nicole Thibault: Entre le roman et l’histoire. L’esthétique de l’anecdote au XVIIIe siècle. Lille: ANRT 1986. Dany Hadjadj: L’Anecdote au péril des dictionnaires, S. 17.
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Potential zum Öffnen und Schließen einer historiographischen Erzählung.11 Joel Fineman bescheinigt ihr als literarische Form oder als Genre, das in spezifischer Weise Ereignis und Kontext verbinde, eine besondere Verbindung zum Realen. Diese kompakte Form besitze aufgrund der spezifischen Verknüpfung von Literarischem und Referentiellem eine besondere narrative Kraft.12 Ein weiteres Charakteristikum ist ihr Neuigkeitswert, denn laut John Lee schafft sie zumindest den Effekt des Neuen, das andernorts mit dem Status des ‘noch nicht Veröffentlichten’ beschrieben wird.13 Diese (post)moderne Perspektive auf die Anekdote bezieht sich vor allem auf ihre Funktion in der Geschichtsschreibung. Inwieweit nun diese Charakteristika für die hier analysierten Texte relevant sind, soll im Folgenden aufgezeigt werden.
Die exemplarische Erzählung der Désastres in Form der Anekdote Die 1795 anonym in Paris erschienene Histoire des Désastres de Saint-Domingue fügt eine kurze, zwei Absätze umfassende ‘Erzählung in der Erzählung’ in die Schilderung sowie die Bewertung der Ereignisse um die Revolution schwarzer Sklaven ein: Ein Plantagenbesitzer namens Chateauneuf aus Limbé (im Norden
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In seiner Einleitung zu einer posthum veröffentlichten Sammlung von Aufsätzen Finemans bezieht sich Greenblatt exemplarisch auf Thukydides; dessen Anekdoten produzieren «‹the effect of the real, the occurrence of contingency.› The moments of openness are soon closed, but there is always the possibility, the promise, of other anecdotal openings, or of further histories in which the closed narratives, now reframed through a kind of theoretical Aufhebung, themselves serve as anecdotes.» [‹ein Effekt des Realen, das Erscheinen von Kontingenz.› Die Momente von Offenheit werden alsbald geschlossen, aber es gibt immer die Möglichkeit, das Versprechen anderer anekdotischer Öffnungen oder weiterer Geschichten, in denen die geschlossenen Erzählungen, die durch eine Art theoretische Aufhebung neu gerahmt werden, nun selbst als Anekdoten dienen.] (Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin dieses Beitrags.) (Greenblatt, Stephen. Introduction: Joel Fineman’s ‘Will’. In: Joel Fineman: The Subjectivity Effect in Western Literary Tradition: Essays Toward the Release of Shakespeare’s Will. Cambridge: MIT Press 1991, S. ix–xix, hier S. xix) Vgl. Joel Fineman. The History of the Anecdote: Fiction and Friction. In (ders.): The Subjectivity Effect in Western Literary Tradition: Essays Toward the Release of Shakespeare’s Will. Cambridge: MIT Press 1991, S. 59–87, hier S. 67. Fineman geht sogar soweit und bezeichnet sie bezüglich ihrer formalen, wenn nicht tatsächlichen Kürze als kleinste Einheit des historiographischen Fakts. Dabei bezieht er sich in erster Linie auf die Funktion der Anekdote. Lee bezieht sich hier auf die kritische Praxis des New Historicism selbst: «Anecdotes, in fact, lie at the heart of New Historicism, as the metonymic vehicle controlling the critical practice, enabling intervention, and shaping disposition. One reason for this is that anecdotes create the effect of newness.» [Anekdoten sind in der Tat zentral für den New Historicism, und zwar als metonymisches Verfahren, das die kritische Praxis kontrolliert, Eingriff erlaubt und die Rezeption leitet. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass Anekdoten den Effekt des Neuen schaffen.] (Lee, John: The Man who Mistook his Hat: Stephen Greenblatt and the Anecdote. In: Essays in Criticism (Oxford) XLV, 4 (1995), S. 285–300, S. 298)
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von Saint-Domingue) gewinnt ein auf seiner Plantage geborenes Sklavenkind ob dessen guten Charakters lieb, behandelt es wie den eigenen Sohn und macht den Jungen im Alter von 15 Jahren zum Diener seines Vertrauens. Nachdem dieser das Vertrauen des Herrn eines Tages missbraucht, bestraft ihn der Herr, indem er ihn zum Feldsklaven macht. Obwohl der Herr sich bald wieder aus Zuneigung mit seinem Schüler versöhnt und dessen Fehltritt vergisst, kann der stolze Sklave die Strafe nicht vergessen. Die Revolte (die ersten Aufstände der Sklaven 1791) bricht aus und der 80jährige Alte wird von den Aufständischen gefangen genommen. Er wird aufgrund seiner unter den Sklaven verbürgten Humanität vom Tode verschont; als jedoch sein Sklave Adonis ihn im Lager erblickt, stürzt er sich auf ihn und tötet ihn trotz des sofortigen Eingreifens der umstehenden Schwarzen. Der Erzähler bezeugt, dass Adonis im Testament des Herrn mit der Freiheit, der Kleidung des Herrn und 10.000 Pfund bedacht worden war. Als Fußnote wird dieser Anekdote als eine Art Gegenbild zum undankbaren Adonis die eigene Geschichte des Autors/Erzählers und seiner ihm liebevoll ergebenen Sklaven, die ihn und seine Familie unter Einsatz ihres Lebens vor den Aufständischen retten, beigefügt. Diese Episode, die der Autor im zweiten Kapitel des zweiten Teils in seine Erzählung einfügt, wird durch die allgemeine Aussage über die Grausamkeit der schwarzen Aufständischen gerahmt, die es wert ist, in die Geschichte der Neuzeit aufgenommen zu werden.14 Dies geschieht u.a. durch die Anekdote. Der Autor unterstellt mit dieser Rahmung die Eruptionshaftigkeit, die außerordentliche Heftigkeit des Ereignisses ebenso wie seine Kurzlebigkeit – und suggeriert im Anschluss, dass bei angemessenem Verhalten bzw. konsequenten militärischen Aktionen der Aufstand hätte niedergeschmettert werden können. Die Anekdote um Adonis zeigt in einer überraschenden Steigerung oder Wendung den seinem humanen Herren gegenüber undankbaren Sklaven. Sie funktioniert ganz im Sinne Greenblatts als Register des Unerwarteten, der Begegnung mit dem ‘Unbekannten/Anderen’, in diesem Fall mit dem ‘Fremden’ bzw. ‘Differenten’. Sie bildet einen Modus, dieses Andere in das eigene Weltbild einzuordnen, es sagbar zu machen und anzueignen und es in dieser Kurznarrative als abweichende Moral zu entlarven und zu verurteilen. Erscheint das in der Fußnote beigefügte Gegenbild der liebenden Sklaven zunächst als ambivalente Aussage, durch die eine
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Der letzte Satz vor dem Einschub der Anekdote lautet: «Mais en général l’insurrection des noirs fut accompagnée de traits de férocité dignes de figurer dans l’histoire des temps modernes.» [Aber im Allgemeinen wurde die Erhebung der Schwarzen von Grausamkeiten begleitet, die würdig sind, in der Geschichte der Neuzeit ihren Platz zu finden.] (Anonym: Histoire des désastres de Saint-Domingue, précédée d’un tableau du régime et des progrès de cette colonie, depuis sa fondation, jusqu’à l’époque de la Révolution française. Paris: Garnery 1795, S. 195) Und der Absatz, der der Anekdote folgt, lautet: «Un grand nombre de noirs rentrèrent aussitôt dans leurs habitations respectives, on y vit retourner et reprendre leurs travaux ordinaires des ateliers entiers, ou il ne manquoit que ceux des noirs qui avoient été moissonnés dans l’intervalle par la guerre ou les maladies.» [Eine große Zahl der Schwarzen kehrten alsbald in ihre jeweiligen Behausungen zurück, und man sah die Sklaven geschlossen dorthin zurückkehren und ihre alltäglichen Arbeiten aufnehmen, es fehlten nur jene Schwarzen, die in der Zwischenzeit durch Krieg oder Krankheiten dahingerafft wurden.] (Ebd., S. 197).
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Öffnung der Narrative vermutet werden könnte, so ergänzt es das zuvor Gezeichnete jedoch insofern, als dass die hier aufgeführten tugendhaften Sklaven den Autor als guten Herrn inszenieren, dessen Verhalten keine Rebellion provoziert. Das steht auch insofern ganz in der übergreifenden Argumentation des Gesamttextes, als der Autor gegen ein Übermaß an Profitsucht und für ein maßvolles Plantagensystem mit aufgeklärten und humanistischen Plantagenbesitzern plädiert. Der undankbare Adonis wird in der Form der Anekdote zur unerhörten Ausnahme, während die ‘nicht so seltenen Gegenbeispiele’ die von den moralischen Prinzipien des Autors geleitete Verhaltensnorm darstellen. Das aus den Fugen Geratene ist die Tat des vereinzelten stolzen, rachsüchtigen und wie ein ‘wütiger Tiger’ agierenden Sklaven. Hier geht es weniger um eine geheime als um eine wenig bekannte Geschichte, da die Informationen über Saint-Domingue in der französischen Metropole in den 1790er Jahren einerseits nach Beginn der Unruhen in der Kolonie äußerst tendenziös und andererseits nach der Kriegserklärung gegenüber England alternative Informationsquellen äußerst spärlich waren und mit großer Verspätung eintrafen. Der Neuigkeitswert, der dem über das Genre transportierten Inhalt zugeschrieben wird, ist hier durchaus relevant. Allerdings erfolgt die Funktionalisierung nach altbekannten Mustern und Ideologien. Der historiographische und pamphletartige Gesamttext nutzt die Anekdote insofern, als er hier aus der Perspektive der im Zuge des Aufstands vertriebenen Plantagenbesitzer (colons) die Erzählung der unerhörten Rebellion schwarzer Sklaven scheinbar beiläufig einfügt und, so argumentiere ich im Folgenden, in das Schema vom gütigen Herrn und seinem undankbaren Sklaven kanalisiert. Damit ordnet der Autor die Revolution als unmoralische Abweichung und unrechtmäßigen Ausbruch der revoltierenden Sklaven aus dem existierenden System in das bestehende Wertesystem ein und negiert somit das revolutionäre, das System umstürzende Moment.15 Der Verfasser inszeniert sich als Augenzeuge, als Kaffeepflanzer aus dem Norden Saint-Domingues, als «patriote en France et aristocrate à SaintDomingue».16 Er lässt sich eindeutig den pro-esclavagistes, den Gegnern der société des amis des noirs zuordnen. Sein Diskurs ist allerdings ein mit humanistischen Werten versetzter, der die Rhetorik der amis des noirs aufnimmt und sich Konzepte etwa der Histoire des deux Indes wie jenes der patrie aneignet. Er kritisiert die Auswüchse der Sklaverei achtloser und geiziger Plantagenbesitzer, verurteilt fehlende Subsistenzwirtschaft und unterlegt seine Abhandlung mit Zahlen über die jährlich eingeführten Sklaven, Wissen über Zucker- und Kaffeeanbau, Details über die Praxis einzelner Plantagen im ersten Teil und mit Detailwissen über die Aktionen verschiedener Bevölkerungsgruppen und zirkulierende Schriftstücke im zweiten Teil. Trotz der Diskussion um moderate Reformen zeichnet der Autor das Bild
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Eine ausführlichere Analyse von Text und Kontext der Histoire des Désastres in Anja Bandau: L’Histoire des Désastres de Saint-Domingue, ou comment écrire sur les évènements à Saint-Domingue entre la colonie et Paris. In: Anja Bandau/Rebekka von Mallinckrodt (Hg.): Paris croisé. Ou comment le monde extra-européen est venu dans la capitale française (1760–1800). Vorauss. Paris: Karthala 2008. Anonym: Histoire des désastres de Saint-Domingue, S. 137.
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einer stabilen Ordnung, ist das System der Sklaverei unantastbar und sieht der Autor zunächst auch keine Notwendigkeit, das System zu ändern. Die Stoßrichtung des Textes ist unverkennbar: Der Ruin der Kolonie sei das Werk einiger weniger Männer mit schlechten Intentionen,17 deren Handeln er sogar als kriminell bezeichnet. Das Ziel der Publikation besteht darin, den ‘terrorisme’ auszumerzen. Sie will die «criminel abus des pouvoirs»18 durch die Kommissare Sonthonax und Polverel offen legen. Die Entscheidung darüber, wer als neuer Kommissar nach Saint-Domingue geht, soll durch den Bericht beeinflusst werden. Dass diese Anekdote zentralen Stellenwert in der Bewertung der revolutionären Ereignisse in Saint-Domingue hat, beweist zum einen ihre Situierung im Kontext der Gewalttaten der schwarzen Sklaven und zum anderen die Verbindung mit der persönlichen Geschichte der Vertreibung des Autors von seiner Plantage, aus der Kolonie, bei der er die liebende Unterstützung und den Einsatz des Lebens der ihm treu ergebenen Sklaven bereits im Vorwort hervorhebt. Denn ansonsten ist es genau diese anekdotische Schreibweise (faits épisodiques et accessoires), die sich der Autor versagt, zumindest in Bezug auf die eigenen Erlebnisse und auf die Ausschmückung des Unglücks, das keiner Fiktion bedürfe. Als Referenz dürfte hier die histoire anecdote dienen, die zwischen Ende des 17. bis Ende des 18. Jhs. eine geläufige Gattung ist. Diese beruft sich auf ihren Wahrheitscharakter, weil sie sich haupsächlich aus Anekdoten speist. Thibault spricht von einem «récit historique parsemé d’anecdotes».19 Die tatsächliche Ausführung in der Histoire des Desastres weicht dann auch vom selbst Eingeforderten ab und es gibt vielfältige Beispiele für die Übertretung dieser selbst gesetzten Beschränkung. Es existieren tatsächlich verschiedene anekdotisch präsentierte Fakten, die jedoch nicht den gleichen exemplarischen Stellenwert erreichen. Die einzig autorisierte Ausnahme von dieser Regel ist jedoch die Geschichte des Adonis bzw. der eigenen Rettung durch die hilfreichen und ergebenen Sklaven.20 Die Utopie eines harmonischen Zusammenlebens aller Gruppen auf SaintDomingue, die der anonyme Autor der Histoire andeutet, wird durch die Abschaffung der Sklaverei durch Sonthonax (affranchissement général) am 29. August 1793 zerstört, sie führt zum «letzten Moment»21 des Autors und mit ihm vieler colons auf der Insel. Die Konsequenzen zwingen ihn dazu, die Insel zu verlassen. Diejenigen, die nun die Macht übernehmen, kommen in seiner Abhandlung als rechtmäßige Bürger nicht vor. Der Status der Republikaner, also gleichberechtigter staatsbürgerlicher Subjekte – durch Sonthonax’ Proklamation der Abschaffung der
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Ebda., S. 233. Ebda., S. 339. Nicole Thibault: Entre le roman et l’histoire, S. 11. «Malgré toute l’attention à éviter de nommer les individus, j’en ai désigné quelques-uns, j’y ai été forcé par des droits bien mérités, et par la nécessité d’éclairer ma marche, et d’aider, autant qu’il est possible, à l’intelligence des faits.» [Trotz aller Bemühungen, Individuen nicht zu nennen, habe ich einige erwähnt; ich sah mich sowohl durch ihre wohlerworbenen Rechte dazu gezwungen als auch durch die Notwendigkeit, mein Vorgehen zu erhellen und soweit als möglich dem Verständnis der Fakten zu dienen.] (Anonym: Histoire des désastres de Saint-Domingue, S. xii) Ebda., S. 341.
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Sklaverei ermöglicht – wird ihnen vom Autor mit allem Nachdruck nicht zuerkannt: «Ich wiederhole es: Die Horden, die sie mit dem Namen Republikaner geschmückt haben, waren wieder zu grausamen und undisziplinierten Banditen geworden, die bereit waren, jeden als ihren Chef anzuerkennen, der ihrer Vorliebe für Verwüstung schmeichelte.»22
Gattungspassagen: Die hybride und ephemere Gattung anecdote coloniale als Vorform des kolonialen utopischen Romans Die Anekdote um den Sklaven Adonis und seinen Herrn aus der Histoire des Désastres wird vier Jahre später dem 1799 in Paris veröffentlichten ersten französischen literarischen Erzähltext über die haitianische Revolution als Grundlage dienen: Adonis. Où le bon nègre. Anecdote coloniale von Jean-Baptiste Picquenard. Er umfasst 80 Druckseiten, ist also nicht eigentlich kurz und wurde als (Vor)Form des Romans gelesen. Der Text trägt die Gattungsbezeichnung anecdote coloniale im Untertitel und bezieht sich damit auf die (literarische) Kleinform der Anekdote. Der französische Kolonialbeamte, Journalist und Autor Picquenard war Mitglied der commission civile um Sonthonax und Polverel in Saint-Domingue und Verfechter der égalité auch für die nichtweißen und schwarzen Bewohner der Kolonie. Damit befindet er sich in einer konträren Position zum anonymen Autor der Histoire des Désastres, der die Position der vertriebenen Plantagenbesitzer vertritt. Picquenard schreibt eine Gegengeschichte zu der Anekdote um den undankbaren Adonis und macht das Abenteuer des anonymen Autors in Verbindung mit der exemplarischen Anekdote zur histoire seiner Erzählung; er deutet die Figur des Adonis um in einen guten Sklaven, der den Herrn rettet und der diesem zum Schluss fast ebenbürtig ist. Damit korrigiert er die Version des undankbaren Sklaven der Histoire des désastres, der den Herrn gegen jede Moral und Notwendigkeit aus Stolz tötet. In Picquenards utopischer Version der französischen Familie ‘noir et blanc’, die nach der Flucht von Saint-Domingue in Virginia lebt, erfährt auch der nostalgische Entwurf eines funktionierenden kolonialen Mikrokosmos, den der anonyme Autor der Histoire am Ende seiner Schilderungen des Niedergangs der Kolonie erwähnt, eine Umdeutung: Während der ersten Aufstände der Sklaven 1791 im Norden Saint-Domingues gerät der erst seit kurzem mit seiner Familie auf der Insel lebende Besitzer einer ererbten Kaffeeplantage d’Herouville in Gefangenschaft von Biassou, Führer der Aufständischen, und wird Zeuge von dessen Schreckensherrschaft. Sein Sklave Adonis rettet ihn und seine Familie aus dieser Gefangenschaft, indem er sein eigenes Leben mehrfach aufs Spiel setzt, sich als kompetenter und ‘listiger’ Akteur erweist und durch Liebe und Freundschaft zum ebenbürtigen Mitglied der transatlantischen Utopie einer französischen Familie wird. Gemeinsam fliehen sie von der Karibik-Insel nach Neuengland, wo sie nach einigen Umwegen – Adonis und seine
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Ebda., S. 331: «Je le répète, les bandes qu’ils avoient décorées du nom de républicains, etoient redevenues des brigands féroces et indisciplinés, et prêts à reconnoitre pour chef quiconque flatteroit leur goût pour la dévastation.»
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Gefährtin Zerbine werden von englischen Piraten geraubt – ihr Leben in Freiheit und als gemeinsame Eigentümer eines Pachthofes genießen. Hintergrund und Bedingungen dieser Begebenheit sind die politischen Ereignisse auf der Ebene der Kolonialversammlung, die sich jedoch auf die Intrigen des Gouverneurs Blanchelande mit den Royalisten, den englischen Kolonialmächten und dem Rebellenführer Biassou beschränken. Einblick erlangt der Leser durch eingeschobene Kommentare des Erzählers und durch d’Herouville, der in der Gefangenschaft zu einer Art Sekretär Biassous wird. Die unterschiedlichen Interessengruppen innerhalb der weißen Siedler werden benannt; interessanterweise spielen die gens de couleur wie im Vorgängertext keine Rolle, obwohl sie wichtige Handlungsträger des historischen Geschehens sind und die Revolte, freilich für ihre eigenen Belange, begonnen hatten. Meine These ist, dass das Genre der anecdote coloniale die Gattungskonvention darstellt, die Picquenards Erzählung von der Revolte als aufklärerisches Exempel aber auch als Präsentation der Fakten über die Kolonie konditioniert. Die Wahl des Genres bildet den ambivalenten Stellenwert der Kolonialgeschichte ab: marginal und doch zugleich zentral für die Belange der Metropole. Was in Übereinstimmung mit der metropolitanen Sichtweise auf die Ereignisse in den Kolonien als sekundär präsentiert wird, kann einerseits über die marginale Gattung der Anekdote überhaupt erzählt werden und andererseits im Kontext dieser Gattung zum exemplarischen Moment (in diesem Text) werden. Zudem kommentiert und konterkariert er die Aussage der Histoire des Désastres. Das von Picquenard gewählte Genre der kolonialen Anekdote ist ein hybrides Genre, das sich eher über den funktionalen Aspekt als über formale Spezifika profiliert23 und Aspekte verschiedener Gattungen aufnimmt. In unserem Fall vereint sie Charakteristika des conte philosophique, des philosophischen Streitgesprächs (Dialog), des Schauerromans und des sentimentalen Romans. Nimmt Picquenards koloniale Anekdote einerseits den exemplarischen Charakter des conte philosophique auf (Adonis’ vorbildliches Verhalten ist exemplarisch), so mindert das Genre die Ereignisse zugleich zu Marginalien der ‘großen Geschichte’. Picquenard nutzt die Gattungszuordnung ‘Anekdote’ auf zwei Ebenen: zum einen rekurriert er auf das kleine Detail, das Einzelschicksal, das aber allgemein menschliche Charakterzüge offenbaren kann, hier die Konstruktion des bon nègre. Zum anderen verweist er auf die Gesamtheit der Ereignisse zwischen 1791 und 1793. Der kontextualisierende Gesamtrahmen wird in Form von isolierten Daten und Stichworten in die Erzählung zum Teil unvermittelt, zum Teil als Erläuterung für den Fortgang der Geschichte um d’Herouville eingestreut. Bereits in dieser Struktur deutet sich die revolutionäre Umwälzung, die mit den Bezeichnungen Verbrechen und Grausamkeiten ersetzt wird, als Leerstelle an. Die ursprüngliche Bedeutung der Anekdote als ‘noch nicht Veröffentlichtes’ und ‘détail secondaire’ erhält einen Sinn in Bezug auf die kulturelle und geographische Distanz, in der die Ereignisse für die französischen Leser standen. Der unbedeutende Fakt ist auch der nicht veröffentlichte Fakt, also jener, der in Frankreich
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Vgl. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung, S. 33f.
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nicht bekannt ist. Dazu gehören die Gewalttaten, die als Lehre dienen sollen, die Intrigen, aber auch geographische und kulturelle Details. Die Ereignisse um den Aufstand der Sklaven in Saint-Domingue knüpfen an Debatten um Gleichheit und Freiheit an. Auf die Frage, wie nun die Ermächtigung der schwarzen Subjekte gegen die kreolische Kolonialverwaltung, aber auch gegen die revolutionären französischen Agenten erzählt werden kann, antwortet auch Picquenards Text mit der Revolution als französisches Exportgut. Allerdings entgleist die Idee der Freiheit und der sublimen Revolution und die Freiheit wird zur «unerbittlichen Furie, die Schrecken und Tod verbreitet».24 Diese Sicht wird weit bis ins 20. Jh. perpetuiert. Auf der Ebene der exemplarischen Geschichte, der Anekdote um die Rettung des außergewöhnlich tugendhaften Herrn und das außergewöhnliche Verhalten des Sklaven, werden die aufklärerischen Ideen, die von der Fraktion der Gegner der Abolition für die Revolte verantwortlich gemacht wurden, rehabilitiert.
Kulturelle Passagen und Wandel: Lehrer-Schüler-Verhältnis, kulturelle Übersetzung und Liebe als Überschreibungsfigur Im Folgenden möchte ich den Umgang mit dem Genre in Bezug auf die Diskussion um Fakten, Zeugenschaft und Imagination analysieren und diskutieren. Es geht darum zu untersuchen, wie in der interkulturellen Auseinandersetzung mit den Kolonien einerseits Wandel negiert bzw. dämonisiert und andererseits etwa im Rekurs auf transformierte hierarchische Verhältnisse Wandel darstellbar wird und aufklärerische Ideale umgesetzt werden, indem die Entwicklung vom Herr-Knecht- zum Lehrer-Schüler-Verhältnis inszeniert, kulturelle Übersetzung artikuliert und Liebe als kommunikationsstiftendes Medium, das dichotome soziale Positionen verbindet und Kluften zwischen diesen überwindet, genutzt wird.25 Zwischen Zeugenschaft und Imagination Gleich zu Beginn seiner kolonialen Anekdote Adonis, ou le bon nègre verweist der Autor auf die Unsicherheit der Genre-Zuordnung und auf die zentralen Pole, zwischen denen sich die Erzählung von Geschichte entfaltet. In seinem Vorwort spannt Picquenard den Referenzrahmen für das zu Erzählende und begründet seine Gattungswahl zwischen den Stichworten Fiktion, Fakt und Zeugenschaft. Dabei verdeutlicht er zugleich die Schwierigkeiten bei dieser Wahl. Es entsteht ein Text
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J.-B. Picquenard: Adonis suivi de Zoflora et de documents inédits. Hg. von Chris Bongie. Paris: L’Harmattan 2006 (1798), S. 5: «La liberté fut pour le nouveau monde le plus cruel des fléaux qui l’aient désolé, depuis les massacres commis par les Espagnols qui en firent la découverte». Zu weiteren Topoi der Passage sowie ausführlicher zur kulturellen Übersetzung in Bezug auf Picquenards Text siehe Anja Bandau: ‘Unglaubliche Tatsachen’: Die haitianische Revolution und die anecdote coloniale. In: Sven Grampp/Kay Kirchmann/Marcus Sandl/Eva Wiebel (Hg.): Revolutionsmedien - Medienrevolutionen. Die Medien der Geschichte 2 (Historische Kulturwissenschaft), Konstanz: uvk 2008, S. 569–592.
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zwischen roman und nouvelle, der jedoch den Untertitel anecdote coloniale trägt, der auf die Charakteristika der Anekdote verweist und in einem gewissen Widerspruch zur Romanform steht. Während der Vorläufer die Revolte als Katastrophe bebildert, liegt der Akzent in Picquenards Erzählung auf dem utopischen Entwurf der Umsetzung aufklärerischer Ideale. Er bedient sich explizit der Fiktion. Trotzdem vermeidet der Untertitel die Bezeichnung roman, weil ihm noch immer das Unwahrhaftige anhaftet, und verbürgt das historisch Konkrete, das Zeugnis und damit das Wahrhaftige: Les faits presque incroyables que je publie dans ce petit ouvrage lui eussent attiré, sans doute, l’épithète de roman, si je l’avais écrit seulement vingt ans plus tard: mais quand je puis nombrer mes autorités par milliers, quand une foule de citoyens vivants en ont été les témoins oculaires; quand les archives de la municipalité de Cap et la procédure du gouverneur Blanchelande viennent à son appui d’une manière authentique; quand, enfin, les principaux héros de cette anecdote sont encore existants à la Nouvelle-Angleterre, qu’ai-je besoin de chercher d’autres preuves, pour convaincre mes lecteurs de sa véracité?26
Verweist der Autor hier mit den unglaublichen Tatsachen («faits incroyables») einerseits auf Topoi des Erzählens von Geschichte sowie auf die Unterscheidung von Roman und Fakten, so erhebt er andererseits den Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Dieser Anspruch resultiert zum einen aus der direkten Überlieferung der Ereignisse – «je déclare les tenir directement de la famille même dont je rapporte les malheurs, et du bon Nègre qui les a terminés»27 –, aus der Masse der Betroffenen, die die Details bezeugen können – «je puis nombrer mes autorités par milliers»28 – und zum anderen aus dem eigenen Augenzeugenstatus: «J’ai dépeint les nègres et les blancs tels que je les ai vus moi-même dans cette île où j’ai passé quelques années».29 Zugleich ist er also Augenzeuge. Darüber hinaus verspricht die Autorfigur des Vorworts eine Gesamtsicht aus einer Vielzahl isolierter Fakten, die den subjektiven Erinnerungsversuchen unmöglich ist aufgrund des kurzen Zeitraums zwischen Erzählung und Ereignissen sowie der Monstrosität der Fakten. Auch deshalb zieht Picquenard die vielen lebenden Augenzeugen als Autoritäten für seine Erzählung heran, die die gemeinsamen Erfahrungen wiedergeben sollen. Aus der Aktualität, der Unmittelbarkeit entsteht der Druck auf die fiktionale Darstellungsform im Roman, der Erfundenes präsentiert. Die Vielzahl der Ereignisse macht die Gesamtsicht schwierig; Objektivität jedoch ist es, was der Autor für sich in Anspruch nimmt und was seine Erzählung von den Augenzeugenberichten absetzt. Der Verfasser der Histoire des Désastres präsentiert sich in seinem Vorwort ebenfalls als Augenzeuge, verzichtet aber beredt auf alles Romaneske. Auch er
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J.-B. Picquenard: Adonis, S. 3. Ebda. Ebda. Ebda., S. 4. Zum Paradigma des Testimonialen bei Picquenard siehe auch Youmna Charara. Introduction. In: Fictions coloniales du XVIIIe siècle. Ziméo. Lettres africaines. Adonis, ou le bon nègre, anecdote coloniale. Présenté et annotés par Youmna Charara. Paris: L’Harmattan 2005, S. 173–191.
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verweist auf den ambivalenten Status des Erzählten, die fehlende Aufmerksamkeit für die transatlantische Geschichte in Frankreich selbst, weshalb er sich mit ‘objektiven Fakten’ begnügen wolle. In der Einleitung zum Text wird klar, dass es auch um eine Neu-Verortung der heimat- und mittellosen colons geht, die zu Tausenden ihre Heimat in Saint-Domingue verlieren und andernorts, unter anderem in Frankreich, um Asyl bitten. Für diese macht er sich zum Anwalt; seine eigene Geschichte der Flucht und Rettung autorisiert diese Funktion.30 Lehrer-Schüler-Verhältnis, kulturelle Übersetzung und Liebe als Überschreibungsfigur Wandel wird bei Picquenard durch die Transformation des im Vorläufertext fest zementierten hierarchischen Verhältnisses zwischen Herrn und Sklaven, kulturelle Übersetzungsleistungen und Liebe als Überschreibungsfigur geleistet. Picquenards Geschichte des Adonis ist zunächst und vor allem jene seines von humanistischen Idealen geprägten Herren und seiner Rettung. Dabei spielt Adonis eine helfende Rolle, wird aber im Verlaufe der Entwicklung der Ereignisse immer zentraler (Gefangenschaft d’Hérouvilles; kulturelles Wissen). Die ‘zivilisatorische’ Überlegenheit d’Herouvilles wird gegen Ende der Erzählung in einem Dialog wieder eingesetzt, der die Beziehung zwischen ehemaligem Sklaven und ehemaligem Herrn in das hierarchische Verhältnis des Lehrers zu seinem Schüler transformiert, das einerseits durch die Naivität des Schülers und andererseits durch die Gelehrtheit des Lehrers gekennzeichnet ist.31 Hier bedient sich Picquenard eines Genres westlichen Philosophierens par excellence, nämlich des philosophischen Dialogs. Bei diesem ‘Streitgespräch’ erweist sich Adonis immerhin als mit Logik und Verstand ausgezeichneter Fragender, der seinen Lehrer auf die Widersprüche und Peripetien seiner Philosophie, und damit auf das Dilemma der Philosophen der Aufklärung hinweist. Sowohl die von der Zivilisation unberührten ‘nègres’ als auch die zivilisierten Europäer sind gewalttätig und böse (méchants). Es entsteht eine Art Paradox,32 denn beide aufklärerischen Postulate, ‘Bildung führt zur Besserung des Menschen’ (zu Beginn von d’Herouville verkörpert) und ‘die ›Unzivilisierten‹ sind die besseren Menschen’, werden teilweise von Adonis’ Beobachtungen und von den Begebenheiten im Text widerlegt. Als zwischen Adonis und seinem Lehrer die wesentlichen Konzepte des Textes zur Sprache kommen, stehen
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Die Histoire des désastres öffnet einen transatlantischen Raum. Sie zeichnet ein Bild der Kolonie, deren Geschicke zentral für die Belange Frankreichs, der patrie sind, auch wenn sie ob der Ereignisse in Frankreich wenig Beachtung finden. Der Autor artikuliert die räumliche Distanz, die durch die 16.000 Meilen etabliert wird. Trotzdem zeigt der Autor die Räume als eng miteinander verschränkt. Er verweist auf die Wechselwirkung zwischen Nähe und Ferne, die Relevanz für die Metropole wird eingeklagt. Der Autor hält ein Plädoyer für die colons und ruft wiederum seine compatriotes colons auf, von veralteten und falschen Vorurteilen abzulassen und sich als gute französische Bürger erkennen zu geben. Die Aushandlung der unterschiedlichen Verortungen, ihre Annäherung sowie die verschiedenen Orte des Ausagierens klingen hier an. J.-B. Picquenard: Adonis, S. 63–71. Siehe Youmna Charara. Introduction.
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Vermittlung, Transfer und Übersetzung im Zentrum. Die Zuhörerschaft wird als eine interkulturelle inszeniert und Adonis übersetzt für seine Geliebte Zerbine vom Französischen ins Kreolische. Diese Übersetzungsleistungen werden auf der Überfahrt von Saint-Domingue nach Virginia fortgeführt. Die Markierung kultureller Differenz erfolgt des Weiteren über die Implementierung kulturell und geographisch spezifischer Konzepte für eine Leserschaft jenseits der Kolonie. Dazu gehören geographische und botanische Bezeichnungen (raquette, mapou, lambis33) für die spezifische Flora und Fauna ebenso wie kulturspezifische kreolische Bezeichnungen für Alltagspraktiken der Sklaven (macoute, compère, nègre marron34). Der Text setzt kreolische Worte kursiv, übersetzt und erklärt sie in Fußnoten. Dieses landeskundliche und kulturelle Wissen, das der Autor demonstriert, ist ein bekanntes Mittel der zahlreichen Reiseberichte, die im Umlauf waren. Es ist der Versuch, eine bestimmte couleur locale und damit eine gewisse Authentizität zu markieren, ganz nach dem Geschmack der sich ausbildenden romantischen Leserschaft. Diese werden zum Teil bereits im Text übersetzt, wie etwa faire leur méridienne.35 Möglicherweise aus der eigenen Erfahrung heraus bringt der Autor immer wieder Verweise auf das Übersetzen und auf die Funktion des Kreolischen in diesem Kontext ein. Mit dem Kreolischen führt der Autor aber auch das wichtigste Kommunikationsmittel des größten Teils der Bevölkerung auf Saint-Domingue in den Text ein. Eine solche kulturelle Übersetzungsleistung leistet die Histoire des Désastres indes nicht. Das Verhältnis zwischen Herr und Sklave wird hier nicht in das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler umgewandelt. Dass der Herr zugleich auch Lehrer ist, wird durch die Verwendung der Bezeichnung Schüler für den Sklaven angedeutet, jedoch ist hier die Veränderung in Richtung eines gleichberechtigteren Verhältnisses weder angelegt noch durchgeführt. Die hierarchische Beziehung Herr – Sklave wird durch die auslöschende Kraft der Revolte gewaltvoll verändert, indem die Machtverhältnisse umgekehrt werden und der Herr getötet wird. Hier wird genau jene Eigenschaft als Leerstelle inszeniert, die Picquenard als zentrales Mittel der Kompensation, ja als Kitt für soziale Klüfte und kulturelle Differenzen einsetzt: Liebe als Überschreibungsfigur und Medium. Faulstich arbeitet in Anlehnung an Luhmann Liebe als Gattungskonvention des sentimentalen Romans im 18. Jh. sowie als Kulturmedium heraus.36 Sie ist bereits in der Histoire des Désastres als Negativfolie angelegt, denn sie ist das entscheidende fehlende Moment. Adonis ist nicht durch positive Gefühle, durch die Erwiderung der Liebe des Herrn an diesen gebunden; im Gegenteil, negative Gefühle wie Stolz und Wut lassen ihn zur Gewalt greifen. Dies wird umso deutlicher, als das in der Fußnote angebotene Gegenbild die Liebe der Sklaven zu ihrem Herrn betont und hier bereits Adonis’ aufopferungsvollen Einsatz aufgrund dieser emotionalen Bindung vorwegnimmt.
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J.-B. Picquenard: Adonis, S. 60, 55, 55. Ebda., S. 56, 57, 59. Ebda., S. 60. Werner Faulstich: Die Entstehung der ‘Liebe’ als Kulturmedium im 18. Jahrhundert. In: ders./Jörn Glasenapp (Hg.): Liebe als Kulturmedium. München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 23–56, hier S. 36.
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In Picquenards Anekdote dient sie zur Darstellung der Kommunikation und des Zusammenlebens zwischen den ehemaligen Sklaven und den Plantagenbesitzern. Relevant sind unterschiedliche Ausprägungen des Liebeskonzepts in Form der Freundschaft, der Paarliebe, der pädagogischen Liebesbeziehung zwischen Lehrer und Schüler, der Liebe des Sklaven für seinen Herrn, der Liebe des Herrn für seine Untergebenen. Genau in dem Augenblick, in dem die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen der Kolonialgesellschaft durch die gewaltvollen Aufstände unterbrochen und in Frage gestellt werden, führt Picquenard die Modi der freundschaftlichen Liebe ein, um diese Beziehungen zu gestalten. Diese paradox, ja fast fantasmatisch anmutende Wendung scheint jedoch folgerichtig, berücksichtigt man die Absicht Picquenards, Kommunikation und einen versöhnlichen Ausgang der gesellschaftlichen Transformationen zu imaginieren. Differenzierte Möglichkeiten des Dissens über die sozialen und ökonomischen Verhältnisse werden vom Liebeskonzept ‘überschrieben’. Dieses Moment verweist eindeutig in Richtung der Gattung des Romans.
Fazit: Von der Anekdote zum Roman im kolonialen Kontext Die Anekdote hat in beiden untersuchten Texten exemplarischen Charakter. Die Anekdote vom rachsüchtigen und gewalttätigen Adonis in der Histoire des Désastres kann als Versuch gelesen werden, die rebellischen Sklaven in die vorrevolutionäre Ordnung zu re-integrieren, die der Autor zuvor selbst in den Rang der Chimären verbannt hatte, und die Revolution als Abfolge von Katastrophen zu erzählen. Währenddessen inszeniert Adonis, ou le bon nègre die gelungene Transformation durch aufklärerische Ideale. Picquenard beschreibt tatsächlich Wandel und transformiert das hierarchische Verhältnis, sei es durch die weniger rigide Hierarchie des freundschaftlichen Lehrer-Schüler-Verhältnisses oder durch die Figur der Liebe als Überschreibung. Sprach Knape von der Anekdote als Erzählung eines Ereignisses von geringer Wirkung aber großer Signifikanz, so artikuliert er hier bereits die Ambivalenz des Stellenwertes nicht nur des Erzählten sondern auch seiner Form. Picquenards Anekdote bedient sich anderer Genres, um ihre moralische Orientierungsfunktion aufrecht zu erhalten, denn das Exempel lässt sich nicht mehr problemlos durch die aus den Fugen geratene koloniale Ordnung statuieren. Exempel und Geschichte klaffen auseinander, das Ereignis sprengt die Form. Damit verliert Picquenards koloniale Anekdote einen Teil der dem Genre eigenen Komprimiertheit und verweist auf den Roman. Die Adonis-Figur unterliegt in der Passage von einem Text zum anderen Veränderungen: Die Aufspaltung in den guten und den bösen schwarzen Sklaven wird in Gestalt des gewalttätigen und skrupellosen Anführers der Revolte Biassou und jener des gutmütigen und aufopferungsvollen Sklaven Adonis in Picquenards Erzählung integriert; sie ist in der Histoire des Désastres bereits in den beiden Entwürfen des undankbaren Adonis der Anekdote und des gutherzigen Sklaven des Autors in der Anmerkung angelegt. Picquenards Adonis tritt jedoch nun als tragende Figur mit umgekehrten, positiven Eigenschaften auf. Kehren wir zurück zu einer der zentralen Ausgangsfragen: Warum trägt Picquenards Text die Bezeichnung anecdote coloniale und nicht etwa roman colonial
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im Untertitel? Verschiedene Erklärungen sind im Verlaufe der vorliegenden Analyse gestreift worden. Mag die Bezeichnung einerseits schlicht der Quelle der Anekdote um den Adonis geschuldet sein, so kann sie andererseits auch mit der Bescheidenheitsformel bezüglich der schriftstellerischen Fähigkeiten des Autors im Vorwort in Verbindung gebracht werden. Eine weitere Strategie scheint mir wichtig, die ganz bewusst die Anekdote als Genre wählt, da sie 1. per Gattungsdefinition näher an der Realität scheint als der Roman und 2. in der schwierigen Zeit der Terreur und später des Directoire, in dem die Hoffnung auf Wiederherstellung der Kolonie noch nicht aufgegeben war, Informationen über die Kolonien als sekundäre Details verpackt und verkauft. Die Anekdote reduziert die Komplexität und die Artikulation spezifischer Begründungszusammenhänge durch eine klare Aufspaltung in gute und böse Protagonisten, die Lehrer-Schüler-Beziehung sowie humanistische Grundlehren. Die Überschreibung von Dissens zwischen schwarzen Sklaven und weißen Herrn durch Emotionalisierung, die Marginalisierung bzw. fehlende Präsentation anderer Bevölkerungsgruppen und die temporäre Umbesetzung dichotomischer Codes schaffen Erklärungsmuster, die aus der Perspektive des aufgeklärten weißen Publikums akzeptabel sind. Diese formalen Charakteristika ermöglichen es, Wissen über die Kolonien – und nicht zuletzt über die gewaltvollen Transformationen – zu vermitteln und so dem metropolitanen Wertesystem und literarischen Geschmack entsprechend zu formen. Die Anekdote als Bescheidenheitsformel trägt zudem der Situation Rechnung, sie platziert klug das Wissen über die Kolonie zu einer Zeit, in der sich aufgrund des fortdauernden Konflikts in der Kolonie eine schwarze Heldenfigur fast verbat.37 Picquenard rettet seine aufklärerischen Ideale durch den außergewöhnlichen schwarzen Sklaven Adonis und in einem Arkadien, das insofern zweifelhaft ist, als es fern von Saint-Domingue und von Frankreich eine Alternative zur Revolution imaginiert, die zumindest für die schwarzen Sklaven keine Möglichkeit einer uneingeschränkten Subjektwerdung vorsah. Diese Utopie des Autors beschneidet den Akteurstatus des Anderen. Das Andere wird exemplarisch anverwandelt, und zur Realisierung dieser Operation dienen die Werte und Normen der Aufklärung sowie die in diesem Zusammenhang entstandenen Konzepte des ‘guten Wilden’, der durch Freundschaft, Empfindsamkeit und Erziehung zum gelehrigen Schüler und guten Freund transformiert wird. Damit wird auch bei Picquenard die schwarze Heldenfigur in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Das schematische Moment der Anekdote kommt insofern den politisch und ideologisch begründeten Individualisierungsbegrenzungen der Heldenfigur entgegen, eine Individualisierung, nach der der Roman in jedem Fall verlangt. Auch wenn der Liebesplot eindeutig dem Genre des Romans zugeschlagen werden kann und auf diesen verweist, so unterstützt die Anekdote in der eher schematischen und reduzierten Zeichnung der Charaktere die Entfaltung schwarzer Subjektivität in den engen Grenzen des ‘guten Wilden’, des gelehrigen Schülers und guten Freunds, nicht aber als selbst bestimmt und unabhängig von weißer Hegemonie. Was Picquenards Alternative bietet, ist tatsächlich die Abschaffung der Sklaverei, und sie denkt damit zumindest graduelle Unterschiede bezüglich der Freiheit, denn im hierarchischen Lehrer-Schüler-
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Vgl. Youmna Charara. Introduction, S. 179f.
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Verhältnis besteht immerhin die Möglichkeit, auf dieselbe Ebene wie der Lehrer zu gelangen. Während die Histoire des Désastres die schwarze Heldenfigur in Anerkennung der Transformationen der Kolonialgesellschaft quasi verweigert und auch das revolutionäre Frankreich und die Kolonie getrennt hält, entwirft Picquenard einen schwarzen Helden, der jedoch weitgehend in den Moralvorstellungen und der aufklärerischen Logik verhaftet bleibt. Die Wertungen des vorbildlichen Verhaltens schwarzer Sklaven, die sich nicht der Rebellion anschließen, lauten in beiden Texten nahezu gleich: «O Jean, qui caches sous ta peau noire une ame digne d’honorer toutes les couleurs!»38 zum einen und zum anderen: «Une peau noir peut couvrir un bon cœur».39 Hier wie dort wird die tugendhafte Ausnahmehaltung hervorgehoben, gemäß einem durchaus implizit rassistischen Differenzgedanken. Stellt man die Frage, ob und inwiefern Alterität vermittelt werden kann, so lässt sich festhalten, dass die Aneignung schwarzer Subjektivität durch Spaltung und Polarisierung Differenz artikuliert, allerdings im Rahmen des paternalistischen, westlich geprägten Status Quo. Die Anekdote als komprimierte literarische Kleinform mit reduziertem Plot, die eine «merkwürdige Begebenheit»40 erzählt, macht formal der Novelle Platz und verweist als anecdote coloniale auf den Roman. Als Strukturmoment bringt sie die Möglichkeiten der Verdichtung und Miniaturisierung in andere literarische Formen wie Roman, Biographie, Memoirenliteratur und Essay ein. Als Reaktion auf eine veränderte Öffentlichkeit, aber auch auf die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse musste die Kolonialanekdote ephemer bleiben.
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Anonym: Histoire des désastres de Saint-Domingue, S. 196. J.-B. Picquenard: Adonis, S. 4. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung, S. 232.
El héroe El héroe bajó de la estatua y salió a caminar. Lo que vio le dio la impresión de haberse equivocado de ciudad, o quizá de país. ¿Por esta gente (se dijo) sacrifiqué mi vida? Se sintió tan desalentado, que no tuvo fuerzas para regresar a su monumento. Las ofrendas florales se acumulaban en el pedestal, pero durante largo tiempo nadie notó que el héroe ya no estaba allí. Der Held Der Held stieg vom Standbild herunter und lief los. Was er sah, vermittelte ihm den Eindruck, sich in der Stadt oder vielleicht im Land geirrt zu haben. Für diese Leute (sagte er sich) habe ich mein Leben geopfert? Er fühlte sich so entmutigt, daß er keine Kraft mehr fand, um zum Denkmal zurückzukehren. Die Blumengebinde häuften sich am Sockel, doch bemerkte lange Zeit niemand, daß der Held nicht mehr da war. David Lagmanovich
Andreas Gelz (Freiburg)
Pico-publications, fragments & texticules. Kürzesttexte in Frankreich am Beispiel der papiers de verre von Hervé Le Tellier In einem Beitrag aus dem Jahr 2004 bezeichnet Lauro Zavala das Spanische als die ‘lengua franca’ des microrrelato – genauer als eine Domäne der hispanoamerikanischen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jhs. –, so wie das Französische die Sprache des Romans im 19. Jh., das Englische diejenige der Kurzgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jhs. gewesen sei. Diese erstaunlich unironisch vorgebrachte Wiederaufnahme traditioneller translatio studii-Vorstellungen kann man getrost in Zweifel ziehen – lässt sich für Frankreich doch eine Entwicklung von so genannten récits très courts schon seit zumindest den 20er Jahren des 20. Jhs. feststellen, ich nenne nur die Namen Francis Ponge, Henri Michaux, Jacques Prévert, Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet. Dessen ungeachtet führt mich diese Behauptung zu einer Frage, die wesentlich für die Bestimmung des Gegenstands der folgenden Überlegungen sein wird, ob nämlich Entwicklungstendenzen der microfiction im Frankreich der Gegenwart vor dem Hintergrund der literaturgeschichtlichen Entwicklung der französischen Literatur seit den 60er Jahren bestimmt werden können, die anders als dies Zavala suggeriert, nicht das Ergebnis eines poetologischen und epistemologischen Bruchs darstellen (inklusive einer angenommenen literarischen Kontinentaldrift), sondern mit Blick auf Fragen der poetologischen Entwicklungslinien von Avantgarde und Postavantgarde bzw. der epistemologischen Entwicklung von Moderne, Postmoderne und Post-Postmoderne als eine Entwicklung sui generis angesehen werden könnten, als spezifische, ‘lokale’ literarische Antwort auf globale Entwicklungstendenzen literarischer Formensprache. Mein Beispiel sollte demnach eine literaturgeschichtliche Spanne umschließen, die eine solche doppelte, zugleich diachrone wie synchrone Lesart erlaubt. Aus diesem Grund habe ich mit Hervé Le Tellier einen Autor gewählt, dessen aktuelle Arbeiten vor dem Hintergrund seiner Zugehörigkeit zum Ouvroir de littérature potentielle (Oulipo) betrachtet werden können, einer literarischen Gruppierung, deren Anfänge bis auf den Beginn der 60er Jahre zurückreichen, die gleichwohl heute immer noch aktiv ist. Es ist offenkundig, dass zahlreiche Arbeiten Oulipos eine Affinität zur microfiction und einigen ihrer zentralen Merkmale aufweisen, wie man, um nur zwei Gruppenmitglieder und deren paradigmatischen Texte zu nennen, an den Exercices de style Raymond Queneaus aus dem Jahr 1973 sehen kann, einer Serie von Textminiaturen, die als Variationen ein und desselben, stets aufs Neue in unterschiedlichen sprachlichen Registern und literarischen Stilen beschriebenen Alltagsereignisses erscheinen, sowie an Georges Perecs Text La vie mode d’emploi (1978). Diese im Untertitel als romans bezeichnete Arbeit rückt in ihrer ungewöhnlichen Konstruktion zugleich auch schon eine Aporie der microfiction in den Blick, insofern sie den Versuch darstellt, über das metonymisch eingesetzte zentrale Bild des Hauses eine gleichsam unendliche Vielzahl kürzester und fragmentierter Geschichten
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Andreas Gelz
zu generieren – diejenigen der nach einem mathematisch-kombinatorischen Verfahren sukzessive beschriebenen Appartements und ihrer Bewohner –, Geschichten, die am Ende nicht einmal mehr ausgeführt, sondern vom Leser als potentielle Geschichten aus dem Index konstruiert bzw. rekonstruiert werden können. Auf diese Weise taucht die mit Blick auf die microfiction nicht unwichtige Frage nach der Einheit einer proliferierenden Textproduktion auf sowie nach deren autopoietischen Prinzipien, also nach den Regeln ihrer Selbstreproduktion. Die Thematisierung der Arbeiten von Oulipo im Zusammenhang mit der microfiction ist dabei nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Kombinatorik (bzw. der Serialität) oder der Potentialität von großem Interesse, sondern auch mit Blick auf den diesen Verfahrensweisen bzw. Kategorien zugrunde liegenden produktionsästhetischen Impuls der Gruppe, auf experimentellem Weg und mit einem systematischen, enzyklopädischen, manche würden sagen: totalisierenden Anspruch immer neue Texte bzw. Produktionsregeln neuer Texte zu generieren. Nicht zuletzt taucht damit die Frage am Horizont auf, ob nicht allein schon die Formel einer Textproduktionsregel (und nicht deren Ausführung) eine Art microrécit darstellen kann (vgl. etwa Raymond Queneaus Text Un conte à votre façon aus dem Jahr 1967). So publiziert Oulipo z.B. in den verschiedenen Schriften seiner Bibliothèque Oulipienne, aber auch auf seiner Homepage oulipo.net so genannte contraintes, d.h. Regeln zur Produktion von Texten. Die Frage eines Zusammenhangs zwischen Oulipo als literarischer Gruppierung sowie des Werks eines ihrer Mitglieder, hier das von Hervé Le Tellier, auf der einen Seite und der microfiction auf der anderen legt nicht nur dieser kursorische Blick auf einige Texte und poetologische Prinzipien aus der Geschichte von Oulipo nahe, sie ergibt sich auch aus der Präsentation des Autors auf der offiziellen Homepage der Gruppe oulipo.net, in der er diesen Zusammenhang selbst herstellt. Als gattungsgeschichtliche Kategorien, denen er sein eigenes Schreiben zuordnet, verzeichnet er dort Romane, Novellen, die Poesie, den Essai, das Theater, die Lyrik, das graphische Werk; eine weitere Kategorie in diesem Spektrum lautet jedoch: ‘BO & pico-publications’, also Bibliothèque oulipienne & pico-publications, die hier in einem Atemzug genannt und damit als verwandt eingestuft werden. Eine andere Kategorie, die mit der pico-publication verwandt ist, und der Hervé Le Tellier einen Teil seiner Texte ebenfalls zugeordnet sehen möchte, nennt er Fragments & texticules. Auf diese Weise tauchen zentrale Begriffe der Diskussion um die microfiction im Rahmen der poetologischen Selbstbeschreibung des OulipoMitglieds Le Telliers auf, die Kategorie der Kürze, der Begriff des Fragments sowie spezifische Gattungsbezeichnungen, die z.B. auch im hispanophonen Bereich für die sogenannten microrrelatos kursieren, wie der Begriff der textículos. Überblickt man die Publikationen Le Telliers, so fällt darüber hinaus sein Interesse an Texten auf, die als Serie von microfictions konzipiert sind, auch dies eine typische Erscheinungsform der Kürzesttexte. Zu nennen wären hier die beiden Bände Les Jocondes jusqu’à cent, hundert maximal 5-zeilige Kommentare zu Leonardo da Vincis Mona Lisa, sowie deren Fortsetzung Joconde sur votre indulgence, nach Le Tellier eine Hommage an Raymond Queneaus Exercices de style, oder Les amnésiques n’ont rien vécu d’inoubliable, ou, mille réponses à la question ‘a quoi tu
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penses’? (1997), einer Variante zu Georges Perecs Je me souviens (1978), die auf Le Telliers Einsätze auf France Culture in der Radiosendung Les Papous dans la tête zurückgehen. Deren Ertrag hat er unter dem Titel Papouasie 2004 ebenfalls veröffentlicht. Jüngstes Beispiel dieser seriellen Textproduktion ist der 2007 erschienene Text Les oppossums célèbres, ein postmodernes Bestiarium als Zusammenspiel von microfiction und Zeichnungen aus der Feder Xavier Gorces. Mit ihm hat Hervé Le Tellier wiederholt zusammengearbeitet, so auch in dem Band mit dem anspielungsreichen Titel Guerre et plaies (2003), der einige ihrer gemeinsamen Arbeiten für die Zeitung Le Monde versammelt, oder in La Chapelle Sixtine aus dem Jahr 2005, eine Art sexueller Reigen, in dem der Geschlechtsakt einer Reihe sich zu unterschiedlichen Paarungen zusammenfindender Personen kombinatorisch ausgestaltet wird. Weitere serielle microfictions sind die Cités de mémoire (2002), Le Telliers Hommage an Italo Calvinos Città invisibile, oder seine Sonates de bar (1991), 2000 Zeichen umfassende Kürzestgeschichten, die alle in einer Bar spielen und ausgehend von einem Cocktail-Rezept als erzählerische contrainte konzipiert wurden. Aus Raumgründen möchte ich auf diese Texte hier jedoch nicht weiter eingehen, sondern mich im folgenden auf eine seiner Arbeiten für Le Monde, papiers de verres konzentrieren. Aus dem bisher Gesagten lassen sich bereits einige Charakteristika von Le Telliers Schreiben ableiten, so etwa seine Vorliebe für eine Kürzestprosa, die er nicht zuletzt vor dem Hintergrund genuiner poetologischer Vorstellungen und ausgewählter Texte der Werkstatt für potentielle Literatur entwickelt (vgl. die häufigen intertextuellen Bezugnahmen auf Raymond Queneau, Italo Calvino und Georges Perec), wobei das Kriterium der Serialität bzw. der Kombinatorik sowie das textgenerierende Prinzip der contrainte eine wesentliche Rolle spielen: die Mona Lisa als Textgenerator, die mnemotechnische Formel ‘Je pense à’, die Verknüpfung bekannter Schriftsteller mit einem Tier, das Thema bzw. die Form der sexuellen Beziehung, die Beschreibung imaginärer Städte, verschiedene Cocktail-Rezepte, um nur solche Regeln herauszugreifen, die sich auf die vorstehend genannten Texte beziehen. Gattungsgrenzen sowie jene zwischen fiktionalen wie nicht-fiktionalen Texten werden dabei systematisch überschritten, weswegen ich im Falle Le Telliers auch den Begriff microrécit dem Begriff microfiction vorziehe. Dies gilt insbesondere für die papiers de verre, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen werde. Bei den papiers de verre handelt es sich um kurze Textvignetten aus der Feder Hervé Le Telliers, die nicht mehr als 25 Wörter umfassen, eine gattungsgeschichtliche Hybridform zwischen Aphorismus, Sentenz, Chronik und dem Tagebucheintrag bzw. der autobiographischen Miniatur, wobei diese Liste zweifelsohne ergänzt werden könnte. Berücksichtigt man z.B. zusätzlich das Übermittlungsmedium, die so genannte lettre check-list, ein per E-Mail versandter Nachrichtenüberblick der Zeitung Le Monde, von der unten beispielhaft die erste von drei Seiten abgebildet ist, erscheint die Korrespondenz als ein weiteres prägendes Gattungsschema – nebenbei bemerkt bedeutet dies auch, dass der Verfasser des papier de verre nur mehr als Erzählerfigur eines von anderen Autorinstanzen, hier der Redaktion der check-list, produzierten und kommunizierten Textes erscheint. Auch der Begriff der Liste, genauer der Check-Liste, also einer Prüf- und Kontrollliste, fungiert als
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Abbildung 1: Check-list von Le Monde vom 5. Juni 2007 (Ausschnitt).
potentielle Gattungsbezeichnung, deren performativer Charakter sich auf das Beziehungsverhältnis von Text und Wirklichkeit beziehen lässt. Der Begriff papier de verre (Schleifpapier) selbst ist zuletzt ebenfalls eine perspektivreiche Gattungsbezeichnung, die Merkmale der vorgenannten Gattungen integriert und damit eine weitere wesentliche Eigenschaft dieser Textsplitter auf den Begriff bringt, nämlich ihren ‘friktionalen’, weder ausschließlich fiktionalen noch diktionalen Charakter, der zugleich ihr Verhältnis zur Wirklichkeit umschreibt. Ausgangspunkt der von Le Tellier in seinen papiers de verre angestellten Betrachtungen ist zumeist eine der in der check-list präsentierten Nachrichten. Einige wesentliche Stilmerkmale der papiers de verre, auf die ich an dieser Stelle ebenfalls nicht näher eingehen kann und deren Auflistung unvollständig bleiben muss, sind dabei durchaus nicht untypisch für die Textsorte des microrécit:
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a) die Paradoxie «J’ai battu mon record personnel pour la 20e Journée du refus de la misère. Cette année, j’ai réussi à refuser à au moins trente miséreux.» (18.10.2007) «Le Vatican ouvre une ligne aérienne Rome-Lourdes. Sacrément rentable. Mais qu’entends-je? sur le vol retour, il y a encore des places ‘handicapés’.» (28.08.2007) b) die Opposition so z.B. sein Kommentar zur Aktion «5 minutes de répit pour la planète»: «Moi aussi, hier, j’ai éteint la lumière cinq minutes. J’ai regardé par la fenêtre, beaucoup faisaient comme moi, je ne voyais plus que la réclame du périph, pour EDF.» (24.10.2007) oder sein Kommentar zu Nicolas Sarkozys Kurzurlaub auf der Luxusyacht eines befreundeten Unternehmers vor Malta: «Un canot à la dérive, depuis plusieurs jours, avec 18 clandestins morts. Au large de Malte. Il y a embarcation de fortune et embarcation de fortune.» (04.06.2007) c) die Analogie «Européens et Américains reprennent leurs aides à l’Autorité palestinienne. C’est tout comme moi avec mon ficus. Depuis que je l’ai laissé crever, de honte, je l’arrose.» (19.06.2007) d) das Pastiche «Larry Craig, sénateur républicain antigay, était (plagions Guitry) contre les homosexuels, tout contre. Nul homme (citons Camus) n’est hypocrite dans ses plaisirs.» (03.09.2007) e) das Wortspiel Qui veut la faim veut les moyens : on parle d’une taxe sur les produits gras et sucrés. Les recettes seront maigres, mais on entend hurler les révoltés du Bounty.» (13.09.2007) «Les prisons ne se videront pas le 14 juillet. Je l’ai su quand j’ai vu notre président faire son jogging. Volonté, c’est certain, élégance, passe encore, mais ‘grâce’ présidentielle?» (10.07.2007) f) die intertextuelle Anspielung «Face à un Sarkozy ‘vorace’, Hollande veut une gauche ‘coriace’. Drame cornélien: entre les Vorace et les Coriace, n’est-ce pas Vorace qui gagne?» (30.05.2007) g) intermediale und kulturhistorische Anspielungen «La Californie brûle et Bush (quelle folie quand on s’appelle ‘buisson’) est sur place. Toujours pas question de signer Kyoto, et, d’après les témoins, il joue de la lyre.» (26.10.2007)
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«La ‘nouvelle vague’ Sarkozy, dit François Fillon. Pour Le Mépris et Les 400 Coups, on voit bien les auteurs, mais qui est A bout de souffle, et qui est La Jetée?» (05.06.2007) Dass Hervé vom literarischen Charakter seiner im publizistischen Umfeld erscheinenden papiers de verre überzeugt ist, kann man ganz unabhängig davon, was ich über den friktionalen Charakter dieser Texte gesagt habe, daran erkennen, dass er seine Texte aus der elektronischen ‘Morgenausgabe’ von Le Monde in zwei literarischen Publikationen gesammelt hat, deren Titel in der eingangs unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von oulipistischer und mikrofiktionaler Poetik präsentierten Werkschau bereits kurz erwähnt wurden: zum einen in dem gemeinsam mit dem Zeichner Xavier Gorce herausgegebenen Band Guerre et plaies (2003), der seine Einträge vom April 2002 bis April 2003 umfasst, also die Zeitspanne, wie es im Klappentext heißt, zwischen der Stichwahl zwischen Chirac und Le Pen und dem Beginn des ersten Irak-Kriegs, zum anderen in dem ebenfalls mit Zeichnungen und Collagen von Xavier Gorce veröffentlichten Bestiarium Les opossums célèbres (2006); dort findet sich eine Reihe der in der check-list 2006 veröffentlichten Texte. Diese doppelte Publikation an verschiedenen Orten des literarischen Felds (im Literaturverlag wie im Internet-Ableger einer Zeitung), in unterschiedlichen medialen Zusammenhängen mobilisieren unterschiedliche Rezeptionsmodi auf Seiten des Lesers; der microrécit wird auf diese Weise zu einem link, der fiktionale und nicht-fiktionale bzw. diktionale Texte zueinander in Beziehung setzt (innerhalb der check-list, aber auch, wie zuletzt gesehen, außerhalb von ihr), der nicht nur die bisher erwähnten gattungsspezifischen, sondern auch mediale und literatursoziologische Grenzen einreißt. Diese Vorgehensweise steht durchaus auch in der Tradition von Oulipo, das als literarische Gruppe stets auf andere nicht-literarische Textsorten (z.B. wissenschaftliche Texte) zurückgegriffen hat. Die Innovation der Arbeit Le Telliers besteht jedoch in einer systematischen Öffnung seiner Texte hin zu intermedialen Konstellationen (Radio, Presse, Graphik, Hypertext), die den Text, hier den microrécit, in einer neuen Weise erfahrbar machen. Dieser intermedialen Konstitution der microrécits Hervé Le Telliers gelten die abschließenden Bemerkungen. Mit intermedialer Konstitution sind nämlich nicht nur die intermedialen Anspielungen auf Theaterstücke und Filme etc. im Text der papiers de verre selbst gemeint, sondern zum zweiten auch die Eigenarten der medialen Kopplungen ihrer Übermittlung sowie drittens die Spezifika ihrer Funktionsweise im Kontext der Zeitungsseite (die eine Internet-Seite ist). Bzgl. des zweiten Gesichtspunkts bedeutet dies, dass der microrécit eine aus mehreren Elementen bestehende intermediale Konstellation ausbildet als ein microrécit auf einer Zeitungsseite, die ihrerseits als hypertextuelles Gefüge konstituiert ist und per E-Mail verbreitet wird. Die komplexe Pragmatik dieser Überlagerung verschiedener medialer Kanäle der Verbreitung der Texte Le Telliers, verschiedener Erzählinstanzen (der Erzähler des papier de verre, Hervé Le Tellier als ihr Autor, die online-Redaktion, die die E-Mail versendet, die Nachrichten-Redaktion,
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die die Nachrichten der check-list verfasst, etc.) im Verbund mit den die Texte determinierenden vielfältigen Gattungsvorgaben stellen eine radikale Erweiterung des Potentials des microrécit dar. Angesichts dieser Dynamik, in die der literarische Text gestellt ist und deren Motor er darstellt, könnte man sogar die These aufstellen, die intermediale Konstitution des microrécit Hervé Le Telliers stelle eine neue Form der oulipistischen contrainte dar. Ihre prominente Wirkung entfalten die papiers de verre jedoch nicht allein aufgrund ihrer stilistischen und strukturellen Besonderheiten auf der Textebene oder intertextueller bzw. intermedialer Verweise sowie der intermedialen Eigenart ihrer Übertragung und der daraus resultierenden Pragmatik, sondern, wie bereits erwähnt, auch durch ihre topographische Anordnung auf der elektronischen Zeitungsseite selbst. Hier ergeben sich weitere intermediale Bezüge, die ebenfalls im Sinn einer Transformation oulipistischer Ästhetik verstanden werden können. Der Serialität des papier de verre, ihre an den Erscheinungsrhythmus der Zeitung gebundene tägliche Erscheinungsform als textkonstitutives und autopoietisches Prinzip wird von Hervé Le Tellier in Zusammenarbeit mit der Redaktion von Le Monde nämlich eine weitere contrainte an die Seite gestellt, ein räumliches Prinzip, das sich auf die Kontiguität der papiers de verre als Untergattung zu der sie einschließenden check-list und damit zu den ihnen an die Seite gestellten und von ihnen reflektierten, ebenfalls als Untergattungen zu verstehenden Nachrichtentexten erstreckt. Diese sind in drei Abschnitten geordnet (les faits, la toile, les envies) und werden von wenigen farblich abgesetzten Rubriken gerahmt, sur mesure, sur écoutes, document, blog, en marge, carnet du voyageur, zu denen das papier de verre selbst auch gehört. Dieser räumliche Zusammenhang ist wesentlich für die Funktionsweise der papiers de verre. Eine seiner Ausprägungsformen möchte ich dabei besonders herausstellen, die spezifische Kopplung von Bild und Text am Beispiel der Zusammenarbeit von Hervé Le Tellier und Xavier Gorce. Die Bedeutung dieser Bild-Text-Relation für die papiers de verre erkennt man u.a. an den Veränderungen, die Le Tellier beim Übergang seines Textes vom elektronischen Medium zur Buchpublikation vorgenommen hat. Dort sind die Nachrichtenanteile der lettre check-list als ursprünglicher Publikationskontext der papiers de verre vollständig zugunsten ihrer exklusiven Konfrontation mit den ebenfalls der check-list entstammenden Zeichnungen Xavier Gorces (Les indégivrables, s. Abbildung 1) verschwunden, beide Formen bzw. Medien treten in einen Prozess der Pluralisierung und Ambiguisierung von Sinnbezügen ein. In einer ganz bestimmten Weise handelt es sich bei dieser Bild-Text-Relation um eine Form der Collage, deren avantgardistische Wurzeln unverkennbar sind, die jedoch am Beginn des 21. Jhs. eine deutlich ironische Ausprägung erfahren, wie man an einem weiteren Projekt erkennen kann, das Xavier Gorce und Hervé Le Tellier in der check-list von Le Monde für einige Wochen lang anstelle der papiers de verre bzw. der indégivrables realisiert haben: das reshape ze World project (RZW) nämlich, in dem berühmte Bauwerke und nationale Sehenswürdigkeiten i.S. einer bricolage mit anderen Gegenständen kombiniert und damit transformiert werden, ein Vorgang, der von einem microrécit Le Telliers begleitet wird. Fiel die Bild-Text-Relation der papiers de verre mit den Zeichnungen von Gorce in der
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check-list angesichts der Kopräsenz zahlreicher Nachrichtenvignetten eher indirekt aus, ist die direkte wechselseitige Bezugnahme von Text und Bild konstitutiv für das Projekt RZW.
Abbildung 2: reshape ze World project (RZW).
Die Dialektik dieser räumlichen Kontiguität verschiedener Mikrotexte in der checklist von Le Monde wird noch dadurch potenziert, dass sie von ihrer medialen Struktur her (und damit meine ich nicht allein die jeder Pressepublikation eigene Tendenz zur kontingenten Abbildung heterogener Informationen) über den Publikationsrahmen hinaus anschlussfähig werden. So heißt eine der Seiten der check-list La toile und bietet Nachrichten aus dem weltweiten Netz in Gestalt von kommentierten (und i.S. eines Nachrichteneintrags präsentierten) Links dar. Die solchermaßen entgrenzten Einträge auf dieser Seite treten mit den anderen Seiten bzw. Rubriken der check-list und ihren Inhalten, darunter dem papier de verre, in Beziehung. Die beschriebene intermediale Funktionsweise der papiers de verre bewirkt damit am Ende einen fiktionalisierenden Impuls mit Blick auf den Gesamttext der checklist. Im Kontext einer Zeitungsseite, in der sie dominant in der linken oberen Ecke angeordnet sind, tauchen diese Vignetten die Dynamik der nachrichten- und medientechnisch abgebildeten Wirklichkeit in ein Licht ästhetischer Transformation. Kontaminiert das papier de verre nicht die Presse(-mitteilung) selbst, die nunmehr auch als (Kürzest-)Fiktion erscheint? Als vermischte Meldung fiktiven Charakters? Oder doch zumindest als Ausgangspunkt einer – und hier wären wir wieder bei der Poetik des Ouvroir de littérature potentielle angelangt – potentiellen Fiktion? Die zuletzt beschriebene mediale Verankerung des papier de verre in einer hypertextuellen Umgebung lässt das papier de verre – v.a. in Gestalt seiner intertextuellen bzw. intermedialen Referenzen – zuletzt sogar als eine Art Link erscheinen, der die check-list und die in ihr präsentierten Nachrichten wenn schon nicht als Teil eines spezifischen kulturellen Zusammenhangs erscheinen lässt, so doch wenigstens auf einen solchen Horizont bezieht.
Champán Camino por la calle, las manos en los bolsillos de este saco masculino que me queda grande y en una ciudad donde la primavera estalla con violencia. No soporto estos cambios abruptos. Tengo muy poco dinero para vivir quién sabe hasta cuándo, aquí o en cualquier parte. Entonces, recuerdo a un amigo, un argentino con quien aprendí una de las cosas más importantes de mi vida. El Teto. Era maestro de provincia y quién sabe por qué había aterrizado en esa ciudad. Con hambre y sin dinero, Teto me dijo un día: «Cuando tengas mucho, gástalo de una vez, atórate. Y si es poco, inútil es que intentes estirarlo: No te humilles. Rífalo en lo que más te guste.» Así es que retrocedo cien metros, y compro champán francés para presidir el más magro de los desayunos. Champagner Ich laufe die Straße entlang, die Hände in den Taschen dieser Männerweste, die mir zu groß ist, in einer Stadt, in welcher der Frühling mit Gewalt ausbricht. Ich ertrage diese abrupten Wechsel nicht. Ich habe sehr wenig Geld zum Leben, wer weiß, wie lange es reicht, hier oder anderswo. Dann erinnere ich mich an einen Freund, an einen Argentinier, bei dem ich eines der wichtigsten Dinge in meinem Leben lernte. Teto. Er war ein Lehrer vom Land, keine Ahnung, warum er in dieser Stadt gelandet war. Hungrig und mittellos hatte mir Teto eines Tages gesagt: «Wenn du viel hast, gib es auf einmal aus, verschluck' dich. Und wenn es wenig ist, dann nützt es nichts, wenn du es zu strecken versuchst: Erniedrige dich nicht. Setz es auf das, was dir am meisten gefällt.» So gehe ich hundert Meter zurück und kaufe französischen Champagner, um das magerste aller Frühstücke zu krönen. Esther Andradi
Christiane Bohn & Reinhold Kliegl (Potsdam)
Mikrobewegungen des Auges und Nanophilologie. Was uns die Blickbewegungen über die Verarbeitungsprozesse beim Lesen verraten Das Lesen stellt sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch eine relativ spät erworbene kognitive Fähigkeit dar, deren wissenschaftliche Erforschung sich Psychologen, Kognitionswissenschaftler, Sprach- und Literaturwissenschaftler, Psycho- und Patholinguisten, Pädagogen und Forscher aus anderen Disziplinen seit mehr als einem Jahrhundert zur Aufgabe gemacht haben. Die Methode der Erfassung von Blickbewegungen beim Lesen hat deutlich dazu beigetragen, das Verständnis der Leseprozesse und das Wissen über beteiligte kognitive Prozesse beim Lesen zu erweitern. In diesem Beitrag sollen die wesentlichen Charakteristika der Blickbewegungen beim Lesen, zentrale experimentelle Befunde zur Verarbeitung von Wörtern, Sätzen und Texten zusammengefasst werden und abschließend ein Ausblick auf die mögliche Rolle der Blickbewegungsforschung auf dem jungen Gebiet der Nanophilologie gegeben werden.
1. Charakteristische Blickbewegungen beim Lesen Beim Lesen eines Satzes oder Textes in alphabetischen Schriftsystemen wie Deutsch, Englisch oder Französisch bewegen wir die Augen von links nach rechts, um die visuelle Information des Geschriebenen aufzunehmen und letztlich zum Leseverständnis zu gelangen. Dabei haben wir den subjektiven Eindruck einer gleichmäßigen Blickbewegung über die Wörter hinweg. Tatsächlich besteht die Aufnahme der visuellen Information aus einem Wechsel von schnellen, ruckartigen Blicksprüngen, den Sakkaden, und Phasen, in denen sich das Auge in relativer Ruhe befindet, den Fixationen. Die Sakkaden beim Lesen dauern je nach Amplitude zwischen 30 und 60 Millisekunden (ms). Die mittlere Sakkadenamplitude selbst liegt bei ca. sieben bis neun Buchstaben. Die durchschnittliche Fixationsdauer beim Lesen liegt zwischen 200 und 250 ms. Aufgrund des Phänomens der so genannten sakkadischen Suppression1 können wir nur während der Fixation die visuellen Informationen des Inputs aufnehmen, während der Sakkaden dagegen sind wir ‘blind’. Die Hauptfunktion der sukzessiven Blickbewegungen beim Lesen ist die Verschiebung des Textes in den zentralen, fovealen Bereich des Auges. Der foveale Bereich ist die Region mit der höchsten Sehschärfe und hat eine Ausdehnung von ca. 2° (Grad visueller Winkel), was je nach Schriftgröße einer Anzahl von sechs bis acht Buchstaben entspricht. Die zentrale Fovea wird von der parafovealen Region umgeben, die sich bis zu 5° (oder ca. 15–20 Buchstaben) erstreckt und in der die Sehschärfe vermindert ist. Demnach ist die Verarbeitung visueller Information
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E. Matin: Saccadic Suppression: A review. In: Psychological Bulletin (Washington D.C.) 81 (1974), S. 899–917.
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im Bereich der Fovea optimal, aber Leser können auch aus dem parafovealen Bereich Informationen aufnehmen. Die perzeptuelle Wahrnehmungsspanne eines geübten Lesers ist asymmetrisch, d.h. in alphabetischen Schriftsystemen nach rechts verschoben: Links von der Fixation können ungefähr drei bis vier Buchstaben wahrgenommen werden, nach rechts, also in die sprachspezifische Leserichtung, 14 bis 15 Buchstaben.2 In der Blickbewegungsforschung beim Lesen wird zwischen so genanntem first-pass-Lesen und second-pass-Lesen unterschieden. Das first-pass-Lesen umfasst alle Fixationen der ersten Inspektion der Wörter, bevor das Auge auf eine bezüglich der Leserichtung zurückliegende Stelle im Satz oder Text zurückspringt. Second-pass-Lesen dagegen beinhaltet alle Fixationen des zweiten Lesedurchgangs, d.h. wenn das Auge diese Stelle im Satzmaterial bereits vorher inspiziert hatte. Second-pass-Lesen setzt eine bezüglich der Leserichtung rückwärts gerichtete Sakkade voraus, eine so genannte Regression. Bei ca. 10–15% aller Sakkaden handelt es sich um Regressionen. Regressionen werden meist mit Schwierigkeiten bei der Integration eines Wortes in den Satz verbunden. Im first-pass-Lesen unterscheidet man weiter zwischen Fällen, in denen ein Wort genau einmal fixiert wurde, durch Refixationen mehrmals fixiert wurde oder übersprungen wurde (skipping) (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Blickbewegungen beim Lesen; Die Kreise 1–5 stellen Fixationen dar, wobei es sich bei den Fixationen 1–3 um Fixationen im first-pass-Lesen handelt, bei den Fixationen 4 und 5 um Fixationen des second-pass-Lesens. Die Summe aus Fixation 1 und 2 ergibt die Blickdauer (gaze), die Summe der Fixationen 3 und 5 ergibt die Gesamtlesezeit (total reading time) des Wortes.
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G. W. McConkie/K. Rayner: The span of the effective stimulus during a fixation in reading. In: Perception & Psychophysics (Austin) 17 (1975), S. 578–586.
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2. Die Erfassung von Blickbewegungen und wichtige Parameter Die Erfassung der relativ kleinen und schnellen Blickbewegungen beim Lesen erfordert eine entsprechend sensitive Technik. Hierfür werden Blickerfassungsgeräte (eye tracker) verschiedenster Typen verwendet, die es dem Experimentator ermöglichen, je nach Fragestellung eine passende Wahl zwischen größtmöglichem Komfort für die Probanden, hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung, hoher Präzision und einfacher Handhabung zu treffen. Die hier beschriebene Forschung verwendet zunehmend videobasierte Systeme, bei denen durch an einem Stirnband oder im Versuchsaufbau befestigte Kameras das Auge mit 50 bis 1000 Hz und höher aufgezeichnet wird. Die automatische Bildanalyse erlaubt eine Zuordnung der Fixationen zu +/-1 Buchstaben des gelesenen Textes. Bei hohen Aufzeichnungsraten ist es möglich, den zu lesenden Text oder einzelne Wörter davon in Abhängigkeit von der aktuellen Fixationsposition des Auges experimentell zu manipulieren und dadurch Aufschlüsse über den Bereich zu erhalten, aus dem während einer Fixation Information verarbeitet wird (moving window technique, moving mask technique, boundary paradigm3). In Studien, in denen es hauptsächlich um die Untersuchung der Wortidentifikation geht, stellt das Wort selbst die Einheit für die Analyse der Fixationszeiten dar. Abhängig von der theoretischen Fragestellung werden verschiedene Blickdauern errechnet und interpretiert. Maße im first-pass-Lesen sind die Einzelfixationsdauer und die Blickdauer (gaze), die die Summe aller Fixationen auf einem fixierten Wort n bildet. Wurde Wort n mehrmals fixiert kann man zusätzlich zwischen der ersten, zweiten, dritten Fixationszeit usw. unterscheiden. Berücksichtigt man second-pass-Lesen, d.h. Fixationen auf Wort n nach einer Regression, analysiert man die Gesamtlesezeit (total reading time) auf einem Wort. In Studien, in denen Fragestellungen zur syntaktischen oder semantischen Verarbeitung zusammenhängender Sätze oder Texte experimentell untersucht werden, spielen andere Variablen bei der Interpretation der Blickbewegungsmuster eine Rolle. Hierfür werden nicht einzelne Wörter sondern häufig mehrere Wörter als Zielgebiet bestimmt, anhand derer verschiedene Maße von Blickbewegungszeiten akkumuliert und analysiert werden. Die Gesamtlesezeit des 1. Lesedurchgangs (first pass reading time, regional gaze duration) ist die Summe aller Fixationszeiten im first-pass-Lesen in einer bestimmten Region. Analog besteht die Gesamtlesezeit des 2. Durchgangs (second pass reading time) aus der Summe aller Fixationsdauern in einer definierten Region im second-pass-Lesen. Die Dauer des Regressionswegs (go-past duration) ist die Summe aller first-pass-Fixationszeiten in einer bestimmten Region inklusive der Regressionszeiten, die aus der Region herausgehen, bevor das Auge aus der definierten Region nach rechts weiterspringt. Ein weiteres Maß ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus einer bestimmten Region eine Regression herausgeht (regression-out). Die Gesamtdauer der Regressionen (lookback time) zu einer bestimmten Region wird ebenfalls ausgewertet. Unter Umständen wird auch die Gesamtlesezeit (total reading time) einer Region ermit-
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Vgl. Matthew S. Starr & Keith Rayner: Eye movements during reading: Some current controversies. In: Trends in Cognitive Science (London) 5, 4 (2001), S.156–163.
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telt, d.h. die Summe aus allen Fixationszeiten im ersten und den folgenden Lesedurchgängen in dieser Region. Aufgrund der bisher noch wenigen Studien zur Untersuchung der Prozesse bei der Textverarbeitung gibt es kaum einheitliche Richtlinien, die das abhängige Zeitmaß oder die Größe der Bezugsregion für bestimmte Fragestellungen empfehlen. Inwiefern die verschiedenen zeitlichen Variablen Aufschlüsse über die Prozesse bei der visuellen Sprachverarbeitung geben sollen, wird in den folgenden Abschnitten erläutert.
3. Das Auge als Fenster zur Kognition Neben gebräuchlichen Parametern der Satz- und Textverarbeitung wie z.B. der Gesamtlesezeit des Satzes, per Knopfdruck gemessen, oder dem Satzverständnis bietet die online-Erfassung von Blickbewegungen beim Lesen die Möglichkeit, direkte Momentaufnahmen bezüglich der kognitiven Verarbeitungsprozesse zu interpretieren. Ein Hauptschwerpunkt der Blickbewegungsforschung beim Lesen ist die Entwicklung von Modellen, die die Blickbewegungskontrolle beim Lesen den menschlichen experimentellen Daten entsprechend simulieren und somit teilweise erklären können. Hierbei müssen zwei kritische Fragen beantwortet werden: Wo genau fixiert das Auge und wie lange fixiert es? Entsprechend der zeitlichen und räumlichen Dimension des Blickes fokussieren gängige Theorien mehr auf die okulomotorischen Steuerungsprozesse der Sakkaden oder auf die kognitiven Komponenten. Theorien der okulomotorischen Kontrolle zufolge, hängt die Sakkadensteuerung (und damit auch die Fixationszeit) von Faktoren auf niedriger Verarbeitungsstufe ab, z.B. von visuellen Faktoren wie der Wortlänge. Grundlegend für die Theorien kognitiver Kontrolle beim Lesen ist die Annahme, dass das Auge sensitiv für kognitive Verarbeitungsprozesse ist und entsprechend die Fixationszeiten den Verarbeitungsaufwand der gelesenen Wörter und Sätze und mögliche Verarbeitungsschwierigkeiten widerspiegeln. Demnach stellt die Blickbewegung des Auges ein Sichtfenster auf die Kognition dar. Theorien kognitiver, linguistischer Kontrolle stützen sich auf Analysen der Fixationszeiten in Abhängigkeit von Faktoren höherer Verarbeitungsstufen, wie lexikalische, syntaktische und semantische Variabeln. Beispielsweise wird die Dauer der ersten Fixation auf einem Wort mit dem Verarbeitungsschritt des lexikalischen Zugriffs im mentalen Lexikon assoziiert, während die Blickdauer Prozesse der Textintegration widerspiegeln soll. Bei der Analyse des zeitlichen Ablaufs der visuellen Sprachverarbeitung werden die erwähnten Parameter des first-pass- und second-pass-Lesens mit ‘früheren’ (visuelle Verarbeitung und Wortidentifikation) und ‘späteren’ Verarbeitungsstufen (z.B. Integration des Wortes in den Satz) assoziiert. Blickbewegungsmodelle, die sowohl okulomotorische als auch lexikalische Parameter bei der Blickbewegungskontrolle berücksichtigen, sind z.B. SWIFT4 und das EZ-Reader-Modell5. Die Be-
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R. Engbert/A. Nuthmann/E. M. Richter/R. Kliegl: SWIFT: a dynamical model of saccade generation during reading. In: Psychological Review (Washington D.C.) 112, 4 (2005), S. 777–813.
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funde der Blickbewegungsforschung werden auch für die Entwicklung von Sprachverarbeitungsmodellen herangezogen, bei denen es um die zeitliche Abfolge der lexikalischen, syntaktischen und semantischen Analyseprozesse bei der visuellen Sprachverarbeitung geht. Im Folgenden werden wir uns vor allem mit Befunden bezüglich linguistischer Variablen beschäftigen, die im Rahmen der kognitiven Kontrolle interpretiert werden.
4. Lexikalische Effekte beim Lesen Ein Hauptanteil der Variationen von Fixationsdauern hängt mit Prozessen der Worterkennung beim Lesen zusammen. Das Grundmuster lässt sich kurz zusammenfassen: Je leichter ein Wort zu erkennen ist, desto kürzer ist die Fixationszeit auf diesem Wort. Die Schwierigkeit eines Wortes wird durch eine Reihe verschiedener, dem Wort inhärenter Eigenschaften moduliert. So können unterschiedliche Aspekte eines Lexems, wie z.B. die Wortkategorie, die Wortlänge, das Erwerbsalter, die Wortfrequenz oder die Vorhersagbarkeit des Wortes das Fixationsmuster systematisch beeinflussen. Die schriftliche Frequenz eines Wortes wird aus repräsentativen Korpusanalysen ermittelt und als Häufigkeit pro 1 Millionen Wörter angegeben.6 Funktionswörter wie Artikel, Konjunktionen oder Präpositionen liegen in einem weitaus höheren Frequenzbereich als Inhaltswörter wie Substantive, Verben oder Adjektive. Es wurde gezeigt, dass Funktionswörter, die meist sehr kurz und hochfrequent sind, häufiger übersprungen werden als Inhaltswörter.7 Unabhängig von der Wortlänge zeigt sich ein deutlicher Frequenzeffekt in den Fixationszeiten, wobei sowohl die Einzelfixationsdauer als auch die Blickdauer auf niedrigfrequenten Wörtern signifikant länger ist als auf hochfrequenten Wörtern.8 Neben dem vielfach replizierten Wortfrequenzeffekt gibt es auch einen systematischen Zusammenhang zwischen der psycholinguistischen Variable des Erwerbsalters eines Wortes und der Verarbeitungszeit. Das Erwerbsalter wird durch
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E. D. Reichle/K. Rayner/A. Pollatsek: The E-Z reader model of eye-movement control in reading: comparisons to other models. In: The Behavioral and Brain Sciences (New York, u.a.) 26, 4 (2003), S. 445–476. A. Geyken: The DWDS Corpus: A Reference Corpus for the German Language of the 20th century. In: C. Fellbaum (Hg.): Idioms and Collocations: From Corpus to Electronic Lexical Resource. Birmingham: Continuum Press 2007. P. A. Carpenter/M. A. Just: What your eyes do while your mind is reading. In: K. Rayner (Hg.): Eye movements in reading: Perceptual and language processes. New York: Academic Press 1983, S. 275–307. R. Kliegl/E. Grabner/M. Rolfs/R. Engbert: Length, frequency, and predictability effects of words on eye movements in reading. In: European Journal of Cognitive Psychology (Basingstoke) 16 (2004), S. 262–284; R. Kliegl/A. Nuthmann/R. Engbert: Tracking the mind during reading: the influence of past, present, and future words on fixation durations. In: Journal of Experimental Psychology: General (Washington D.C.) 135, 1 (2006), S. 12–35; K. Rayner/S. A. Duffy: Lexical complexity and fixation times in reading: Effects of word frequency, verb complexity, and lexical ambiguity. In: Memory & Cognition (Austin) 14 (1986), S. 191–201.
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Elternfragebögen, subjektive Einschätzung und durch Analysen kindersprachlicher Korpora ermittelt. Für Wörter, die ontogenetisch früh erworben wurden, wurden kürzere Einzelfixationszeiten, kürzere erste Fixationen auf dem Wort und kürzere Blickdauern gefunden.9 Tatsächlich sind die Befunde bezüglich der lexikalischen Variablen etwas komplexer, denn beim natürlichen Lesen ist das Wort in einen Satzkontext eingebettet. Die Effekte der lexikalischen Variablen eines fixierten Wortes, die die kognitiven Prozesse der Worterkennung widerspiegeln, interagieren mit den Eigenschaften der benachbarten Wörter.10 Leser können auch parafoveal Informationen verarbeiten, d.h. dass auf einem fixierten Wort n das nachfolgende Wort n+1 vorverarbeitet werden kann und die Fixationsdauer auf Wort n diesen Prozess entsprechend widerspiegelt. Auch kommt es innerhalb dieser Dynamik vor, dass Variablen links stehender Wörter auf die Fixationsdauer des fixierten Wortes nachwirken (spill over). Der deutlichste Beleg für die Vor- oder auch Nachverarbeitung von Wörtern auf einem anderen Wort sind die Fälle von übersprungenen Wörtern. Diese Wörter wurden überhaupt nicht fixiert, aber am Satzverständnis nachweisbar mitverarbeitet. Die Annahme einer verteilten Verarbeitung über mehrere Wörter hinweg konnte durch eine Reihe von Befunden unterstützt werden, dass z.B. eine niedrige Wortfrequenz von Wort n-1 sich in höheren Fixationsdauern auf Wort n niederschlägt oder dass umgekehrt eine hohe Frequenz des nachfolgenden Wortes n+1 auf dem fixierten Wort n zu kürzeren Fixationszeiten führt.11 Eine weitere Variable, die dem Wort zugeschrieben wird, aber nur in Abhängigkeit der umgebenden Wörter erhoben werden kann, ist die Vorhersagbarkeit eines Wortes aus dem Kontext. Die Vorhersagbarkeit ist die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, mit der Probanden ein folgendes Wort aus gegebenem Satzkontext erraten können.12 Studien konnten zeigen, dass Wörter, die hoch vorhersagbar sind, kürzer fixiert werden und auch öfter übersprungen werden.13 Diese Blickbewegungsmuster unterstützen die Annahme, dass Wörtern, die vom Leser assoziiert werden können und daher leichter zu verarbeiten sind, eine kürzere Verarbeitungszeit zukommt.
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B. Juhasz: Age-of-Acquisition effects in word and picture processing. In: Psychological Bulletin (Washington D.C.) 131 (2005), S. 684–712. J. M. Henderson/F. Ferreira: Effects of foveal processing difficulty on the perceptual span in reading: implications for attention and eye movement control. In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory & Cognition (Washington D.C., u.a.) 16, 3 (1990), S. 417–429; A. Kennedy/J. Pynte: Parafoveal-on-foveal effects in normal reading. In: Vision Research (Exeter) 45, 2 (2005), S. 153–168. R. Kliegl/A. Nuthmann/R. Engbert: Tracking the mind during reading. S. für weitere Details R. Kliegl/E. Grabner/M. Rolfs/R. Engbert: Length, frequency, and predictability effects. D. A. Balota/A Pollatsek/K. Rayner: The interaction of contextual constraints and parafoveal visual information in reading. In: Cognitive Psychology (Amsterdam) 17, 3 (1985), S. 364–390; S. F. Ehrlich/K. Rayner: Contextual effects on word perception and eye movements during reading. In: Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior (New York, u.a.) 20 (1981), S. 641–655.
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Der Effekt der lexikalischen Ambiguität wurde ebenfalls in Blickbewegungsstudien im englischen Sprachraum untersucht. Duffy und Rayner demonstrierten, dass ein mehrdeutiges Wort (z.B. coach – Trainer vs. Wagen), dessen beide Lesarten gleichfrequent sind, in einem neutralen Kontext längere Blickzeiten induziert als ein synonymes eindeutiges Wort (cabin – Wagen) im gleichen Kontext.14 Wenn dagegen eine Lesart des ambigen Wortes frequenter ist als die zweite (z.B. boxer – Sportler vs. Hund), zeigen sich keine zeitlichen Unterschiede zwischen den Fixationen, wenn das Wort in einem Kontext präsentiert wird, der die erste, frequentere Lesart erfordert. Demnach ist die Verarbeitung eines ambigen Wortes, dessen Lesarten gleichermaßen frequent sind, schwerer als die Verarbeitung eines eindeutigen Lexems. Es wird angenommen, dass die konkurrierenden Bedeutungen die Verarbeitung des Wortes verzögern, was sich in den Blickzeiten niederschlägt. Neuere Evidenzen ebenfalls aus dem Englischen zeigen, dass der Effekt der lexikalischen Ambiguität bei Lexemen, deren konkurrierende Lesarten zwei verschiedenen Wortarten zugeordnet werden können (z.B. duck als Nomen – Ente oder Verb – ducken), durch den syntaktischen Kontext aufgelöst werden kann.15 Wenn die lexikalische Mehrdeutigkeit syntaktisch disambiguiert wird, gibt es keinen Unterschied in den Fixationszeiten auf dem kritischen Wort. Dieser kontextuelle Effekt zeigt, wie wichtig es ist, die Verarbeitung des Wortes in seinem Satzkontext zu betrachten, da dies auch die natürliche, alltägliche Aufgabe der visuellen Sprachverarbeitung darstellt.
5. Syntaktische und semantische Effekte Neben der puren Worterkennung spielen Prozesse der syntaktischen und semantischen Integration des Wortes in den Satzkontext ebenfalls eine starke Rolle bei Verarbeitung des Lesematerials. Ein klassisches Beispiel als Herausforderung für unser Sprachverarbeitungssystem stellen so genannte Holzwegsätze (garden path sentences) dar. Diese Sätze haben die Eigenschaft, strukturell lokal ambig zu sein, wie z.B. der Konjunktionalsatz «..., dass der Entdecker von Amerika wahrscheinlich erst am Vormittag erfahren hatte». Meist wird beim Lesen dieser Sätze temporär eine inkorrekte Lesart bevorzugt (im Bsp.: die Präpositionalphrase von Amerika wird als Attribut zu der Entdecker interpretiert), so dass es bei dem kritischen Wort dann zum Zusammenbruch der Analyse kommt (hier am Ende des Satzes auf dem Verbalkomplex erfahren hatte). Es muss eine syntaktische Reanalyse erfolgen, die von Amerika als Präpositionalobjekt analysiert. Auch für diesen Fall der Satzverarbeitung hat die Erhebung von Blickbewegungen Aufschluss darüber gegeben, wo genau die Verarbeitungsschwierigkeit auftritt und welche Bereiche im Satz für die Reanalyse hilfreich sind bzw. wie der Leser bei der Reanalyse vor-
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Vgl. K. Rayner/S. A. Duffy: Lexical complexity and fixation times in reading. J. R. Folk/R. K. Morris: Effects of syntactic category assignment on lexical ambiguity resolution in reading: an eye movement analysis. In: Memory & Cognition (Austin) 31, 1 (2003), S. 87–99.
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geht.16 Zahlreiche Blickbewegungsstudien haben sich mit der Verarbeitung von strukturell ambigen Sätzen befasst.17 Der Einfluss thematischer Rollen auf die Analyse von temporär strukturell ambigen Sätzen wurde ebenfalls mit Blickbewegungsmessungen untersucht. Liversedge und Mitarbeiter demonstrierten für das Englische, dass es für die Satzverarbeitung entscheidend ist, ob eine by-Phrase eine thematische Rolle des Verbs erhält und demnach ein Argument des Verbs ist oder es sich um ein Adjunkt handelt.18 In Sätzen wie «The shrubs were planted by the apprentice» [Agens] ist die first-passBlickdauer auf der disambiguierenden Region signifikant kürzer als in Sätzen wie «The shrubs were planted by the greenhouse» [Lokativ]. Die Autoren schlussfolgern, dass Leser bzgl. der ambigen Phrasen über eine Lesestrategie verfügen, die bei der Satzanalyse Argumente gegenüber Adjunkten bevorzugt, und dass die erhöhten Fixationszeiten in dem Experiment zeigen, dass die Leser demnach auf einen thematischen Holzweg geführt wurden. In einem weiteren Experiment, in dem eine der beiden thematischen Interpretationen der by-Phrase durch einen Kontextsatz begünstigt wurde («The head gardener wondered who [Agens] / where [Lokativ] …»), bestätigte das Ergebnis. Die Fixationszeiten im first-pass-Lesen verlängerten sich signifikant, wenn nach einem Agens-Kontext eine inkonsistente lokative by-Phrase folgte. Es besteht eine langjährige Diskussion innerhalb der Psycholinguistik, inwieweit die Satzverarbeitung modular in Verarbeitungsstufen organisiert ist, d.h. dass die syntaktische Analyse der semantischen vorausgeht, oder es sich um interaktive Prozesse handelt. Mit Hilfe von Blickbewegungsmessungen untersuchten Ni und Mitarbeiter, ob pragmatische Anomalien («It seems the cats won’t usually bake the food we put on the porch») in ähnlicher Weise wie syntaktische Anomalien («It seems that the cats won’t usually eating the food we put at the porch») zu Reanalyseprozessen führen.19 Die Experimente ergaben, dass die Sensitivität gegenüber beiden Arten der Anomalie zum gleichen Zeitpunkt zu beobachten war, die Auswirkungen der Anomalie sich jedoch qualitativ unterschieden. Syntaktische Anomalien bewirkten einen sofortigen Anstieg der Regressionen ab dem anomalen Bereich im Satz. Pragmatische Anomalien bewirkten zunächst einen Anstieg der first-pass-Fixationszeiten ab dem Zeitpunkt der Anomalie und einen langsam an-
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L. Frazier/K. Rayner: Making and correcting errors during sentence comprehension: Eye movements in the analysis of structurally ambiguous sentences. In: Cognitive Psychology (Amsterdam) 14 (1982), S. 178–210. S. für einen Überblick C. Clifton, Jr. /A. Staub/K. Rayner: Eye movements in reading words and sentences. In: R. P. G. van Gompel/M. H. Fischer/W. S. Murray/R. L. Hill (Hg.): Eye Movements: A Window on Mind an Brain. Oxford: Elsevier Ltd. 2007, S. 341–371. S. P. Liversedge/M. J. Pickering/H. P. Branigan/R. P. G. van Gompel: Processing arguments and adjuncts in isolation and context: The case of by-phrase ambiguities in passives. In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory & Cognition (New York, u.a.) 24, 2 (1998), S. 461–475. W. Ni/J. D. Fodor/S. Crain/D. Shankweiler: Anomaly Detection: Eye Movement Patterns. In: Journal of Psycholinguistic Research (New York, u.a.) 27, 5 (1998), S. 515– 539.
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steigenden Zuwachs von Regressionen. Die Autoren schlussfolgern, dass die syntaktische Verarbeitung für die Akzeptanz eines Satzes zentral ist und Schwierigkeiten bei der Analyse zu sofortigen Reparaturmechanismen führen. Die semantischpragmatische Interpretation eines Satzes wird der syntaktischen Analyse nachgestellt, d.h. der Analysemechanismus des Lesers versucht zunächst, aus einem grammatischen Satz eine sinnvolle Aussage zu machen, bevor er das Satzmaterial reanalysiert. Ein weiterer syntaktischer Aspekt, der die Sprachverarbeitung beim Lesen und damit auch das Blickbewegungsmuster systematisch beeinflusst, ist Fokus. FokusStrukturen, wie z.B. Topikalisierungen oder Spaltsätze (cleft-Konstruktionen), betonen relevante Inhalte eines Textes. Der Leser muss in der Lage sein, diese für das Textverständnis wichtigen Inhalte zu erkennen und im Kurzzeitgedächtnis abzuspeichern, um nachfolgende Informationen richtig interpretieren zu können. Birch und Rayner demonstrierten in einer Blickbewegungsstudie mit Einzelsätzen und Satzpaaren, dass Leser sensitiv für Fokussierung sind und fokussierte Elemente aufmerksamer und genauer betrachten als Inhalte, die syntaktisch nicht fokussiert waren.20 Entweder waren die Fixationszeiten auf fokussierten Elementen bereits im first-pass-Lesen länger oder, was immer der Fall war, es zielten mehr Regressionen auf fokussierte Bereiche als auf nicht-fokussierte Passagen. Die Autoren nehmen an, dass diese zusätzlichen Fixationen auf fokussierten Elementen die zeitlich aufwändige Integration des Inhaltes in das mentale Repräsentationsmodel des Kontextes widerspiegeln. Demnach scheint Fokus vor allem einen Effekt auf die späteren Verarbeitungsprozesse der Satzintegration und der semantischen Interpretation zu haben, weniger einen Einfluss auf die frühe Worterkennung. Insgesamt zeigen die Blickbewegungsstudien auf Satzebene sehr deutlich, dass strukturelle oder semantische Besonderheiten eines Satzes auch für den Leser Besonderheiten bzgl. der Satzverarbeitung darstellen und entweder in einer Erschwerung oder Erleichterung der Analyse resultieren.
6. Blickbewegungen und Diskurs Auf der Ebene des Textverständnisses sind neben der effektiven Wortidentifikation und einer syntaktischen und semantischen Satzanalyse satzübergreifende Faktoren wie die Kohäsion und Kohärenz des Textes und auf Seiten des Lesers z.B. die Gedächtnisleistung bzgl. relevanter Informationen oder die Perspektive von Bedeutung. Die strukturelle Gliederung eines Textes in Überschrift und mehrere thematische Absätze erleichtert subjektiv das Verständnis eines Texts signifikant. Ob dies tatsächlich der Fall ist bzw. ob es sich im online-Leseverhalten und den Blickbewegungen widerspiegelt, soll hier kurz beschrieben werden. Es wird angenommen, dass der Leser beim Verstehen des Diskurses mehrere Repräsentationsebenen des Textinhaltes erstellt, ein so genanntes Situationsmodell.21 Hierin werden verschie-
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S. Birch/K. Rayner: Linguistic focus affects eye movements during reading. In: Memory & Cognition (Austin) 25, 5 (1997), S. 653–660. W. Kintsch: The role of knowledge in discourse comprehension: A constructionintegration model. In: Psychological Review (Washington D.C.) 95 (1988), S. 163–182.
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dene Aspekte des Inhaltes mental repräsentiert, wie z.B. kausale, zeitliche und räumliche Information, die Ziele, Meinungen des Protagonisten etc., und mit dem Weltwissen des Lesers verknüpft. All diese Informationen sind für die Kohärenz eines Textes entscheidend und Verletzungen beeinflussen das Textverständnis massiv. Rink und Kollegen untersuchten die Blickbewegungen beim Lesen von zeitlich korrekten und inkorrekten Abfolgen der Ereignisse in einem Text.22 In kurzen Erzählungen auf Deutsch und Spanisch wies jeweils der 6. Satz im Verhältnis zu einer Information im zweiten Satz (z.B. Person A kommt vor Person B an einem Ort an) eine zeitliche Inkonsistenz auf (Person B wartet dort auf A) oder er war zu den vorigen Ereignissen konsistent (Person A wartet dort auf B). Allgemein zeigte sich, dass die Verarbeitung des inkonsistenten Satzes selbst nicht verzögert war (gleiche Fixationszeiten im first-pass-Lesen), es aber insgesamt zu einer längeren Gesamtlesezeit des Satzes kam, da die Leser signifikant mehr Regressionen aus diesem Satz heraus machten als in der konsistenten Bedingung. Beim Auftreten einer zeitlichen Inkonsistenz führten die Leser in denjenigen Fällen signifikant mehr Regressionen zum zweiten Satz aus, in denen sie die Inkonsistenz auch berichten konnten. Scheinbar wurde nur in denjenigen Geschichten eine Inkonsistenz bemerkt, bei denen die zeitliche Information in das bestehende Situationsmodell durch den Leser integriert wurde. War dies der Fall, konnte der Leser gezielt zu der zu vergleichenden Stelle im Kontext der Erzählung (Satz 2) zurückspringen. Die Sensitivität gegenüber dem Kontext bei der Verarbeitung von Präpositionalphrasen demonstrierten Liversedge und Kollegen in einer Blickbewegungsstudie23. In einem Kontextsatz wurde entweder eine zeitliche («The maid wondered when to peel the vegetables») oder eine räumliche Interpretation («The maid wondered where to peel the vegetables») voraktiviert. In einem Folgesatz erschien eine Präpositionalphrase, die eine zeitliche («In fact, the maid peeled the vegetables in the morning») oder eine räumliche («In fact, the maid peeled the vegetables in the kitchen») Information enthielt. Die Gesamtlesezeit in der definierten Region nach dem ambigen Teil der Präpositionalphrase («… in the …») war länger, wenn die fokussierte Konstituente in Bezug auf den Kontextsatz thematisch inkongruent war. Die Autoren argumentieren, dass dieser zeitliche Mehraufwand, der sich in den Fixationszeiten zeigt, daraus resultiert, dass der Leser die noch nicht vergebene thematische Rolle aus dem Kontextsatz (temporal oder lokativ) im Diskurs füllen möchte und daher eine folgende, zunächst ambige Präpositionalphrase entsprechend interpretiert. Die thematische Reanalyse in der inkongruenten Bedingung kostet im Sprachverarbeitungssystem zusätzliche Zeit. Neben den oben erwähnten Befunden zur Sensitivität von Fokusstrukturen in Sätzen,24 gibt es eine Reihe von Studien zur Verarbeitung von Topik-Sätzen in Informationstexten. Am Anfang eines Abschnittes hat der Topik-Satz die Funktion,
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M. Rink/E. Gámez/J. M. Díaz/M. De Vega: Processing temporal information: Evidence from eye movements. In: Memory & Cognition (Austin) 31, 1 (2003), S. 77–86. S. P. Liversedge/M. J. Pickering/E. L. Clayes/H. P. Branigan: Thematic processing of adjuncts: Evidence from an eye-tracking experiment. In: Psychonomic Bulletin & Review (Austin) 10, 3 (2003), S. 667–675. S. Birch/K. Rayner: Linguistic focus affects eye movements during reading.
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ein neues Diskurs-Topik einzuführen. Gleichzeitig stellt der Topiksatz eine Art Makroproposition dar, die verschiedene Aussagen des Abschnittes in sich integriert. Der Topik-Wechsel (topic-shift-Effekt) besagt, dass für Sätze, die ein neues Topik einführen, mehr Lese- bzw. Verarbeitungszeit benötigt wird als für Sätze, die keinen Topikwechsel beinhalten.25 Im Rahmen des beschriebenen Situationsmodells kostet es den Leser Zeit, das alte Thema des Textes abzuschließen und ein neues Topik in das mentale Netz einzugliedern. Das Lesen von Texten dient nicht nur dem Freizeitvergnügen, sondern einem bestimmtem Zweck. Dies gilt besonders für das Lesen von Informationstexten, in denen der Lesen häufig die Antwort auf eine spezifische Frage sucht. Mit einer solchen Leseintention nimmt der Leser eine bestimmte Perspektive gegenüber dem Text ein. Inwiefern diese individuelle Perspektive eines Lesers die Verarbeitung von Informationstexten beeinflusst, versuchten Kaakinen und Mitarbeiter zu beantworten.26 Probanden aus zwei Gruppen wurden jeweils unterschiedliche Perspektiven auf einen Text instruiert, wodurch sich zwischen den Gruppen unterschiedliche perspektiven-relevante Elemente im Text ergaben. Die Ergebnisse der Blickbewegungen zeigten, dass Leser sowohl im first-pass-Lesen als auch beim zweiten Lesedurchgang (second pass) signifikant mehr Zeit für das Lesen von perspektiven-relevanten Informationen aufwenden als für die Verarbeitung von irrelevanten Elementen. Gleichzeitig war eine gute Erinnerungsleistung für perspektiverelevante Informationen mit längeren Lesezeiten auf diesen Elementen verbunden. Demnach liefert die Studie Evidenzen dafür, dass die Verarbeitung eines Textes deutlich von der Perspektive und Intention des Lesers moduliert wird. Der Einfluss des Titels auf die Verarbeitung eines Textes wurde ebenfalls mit Hilfe von Blickbewegungsstudien untersucht. Sobald ein Text über eine Überschrift verfügt, reduzieren sich die Gesamtlesezeit des Textes, die Fixationszeiten am Ende der Sätze (sentence wrap-up effect27), die Anzahl der Regressionen und die Fixationszeiten auf einzelnen Substantiven.28 Laut der Autoren hat eine Überschrift, die klare Zusammenhänge zwischen einzelnen Propositionen im Satz herstellt, eine erleichternde Funktion sowohl bei der Verarbeitung des Textes auf Makroebene,29 genauer bei der Integration der Satzpropositionen in den Diskurs, als auch bei der frühen Verarbeitungsebene des lexikalischen Zugriffs. Die Befunde der experimentellen Studien zu den Blickbewegungsmustern beim Lesen unterstützen die Annahmen einer kognitiven Kontrolltheorie. Es wird deutlich, dass die inhärente Logik der strukturellen und inhaltlichen Gliederung eines Texts in Überschrift und einzelne Abschnitte, Topik und Thema tatsächlich die
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J. Hyönä: Processing of topic shifts by adults and children. In: Reading Research Quarterly (Newark) 29, 1 (1994), S. 76–90. J. K. Kaakinen/J. Hyönä/J. M. Keenan: Perspective Effects on Online Text Processing. In: Discourse Processes (London, u.a.) 33, 2 (2002), S. 159–173. M. A. Just/P. A. Carpenter: A theory of reading: From eye fixations to comprehension. In: Psychological Review (Washington D.C.) 87 (1980), S. 329–354. J. Wiley/K. Rayner: Effects of titles on the processing of text and lexically ambiguous words: Evidence from eye movements. In: Memory & Cognition (Austin) 28, 6 (2000), S. 1011–1021. W. Kintsch: The role of knowledge in discourse comprehension.
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Leichtigkeit, mit der ein Leser den Text verarbeitet, versteht und erinnert, systematisch beeinflusst. Dies lässt sich in der zeitlichen Dimension der Blickbewegungssteuerung nachweisen, in dem z.B. die Einführung eines neuen Topiks die Fixationszeiten erhöht30 oder das Vorhandensein eines Titels die Fixationszeiten insgesamt reduziert.31 Auch auf der Ebene der Satzverarbeitung und der Wortidentifikation haben Blickbewegungsstudien Aufschlüsse über die zugrunde liegenden sprachlichen Verarbeitungsprozesse und deren zeitliche Abfolge geben können.32 Selten wird in diesen Studien literarisches Textmaterial verwendet, da das vornehmliche Ziel der Psychologen und Linguisten ist, diejenigen Prozesse zu beschreiben und zu erklären, die am Verständnis der propositonalen Bedeutung des Satzes oder Textes beteiligt sind. Ein literarischer Text grenzt sich von anderen Texten (Informationstexten) davon ab, dass er meist fiktiv ist, Protagonisten, Ort, Zeit und Handlung, Thema und Auflösung beinhaltet und über eine gewisse Ästhetik verfügt. Unabhängig davon, welche Eigenschaften einen geschriebenen Text zu einem literarischen Werk machen (die Diskussion wird den Beiträgen der anderen Autoren in diesem Band überlassen), stellt die Nanophilologie eine interessante Schnittstelle zwischen der ‘traditionellen’ Blickbewegungsforschung beim Lesen und der Literaturwissenschaft dar.
7. Blickbewegungen und Nanophilologie Die Nanophilologie33 ist eine sehr junge Disziplin innerhalb der Literaturwissenschaften und befasst sich mit Kurzformaten von Texten. Konkret wird die Satzform als potentielles Literaturformat untersucht. Ausgangspunkt für diese Forschungsrichtung ist zum einen die Tatsache, dass einzelne Sätze sehr komplexe Inhalte, Lebensweisheiten, Erkenntnisse o.ä. ausdrücken können und ihnen dadurch eine eigene Bedeutsamkeit zukommt, deren Wirkungsweise es zu erklären gilt. Zum anderen wird in der heutigen Zeit der zunehmenden Technologisierung und der angestrebten Effizierung der Informationsverteilung die Erstellung einer möglichst kurzen Mitteilung mit möglichst hohem Informationsgehalt zur zentralen Aufgabe. Welche lexikalischen und strukturellen Prozesse hier nötig sind und welche ästhetischen literarischen Aspekte hierbei wirken, ergeben die Forschungsfragen der Nanophilologie. Wie in den obigen Abschnitten zur Blickbewegungsforschung beim Lesen beschrieben wurde, stellt die online-Blickerfassung beim Lesen von Wörtern, Sätzen oder Texten eine geeignete Methode dar, um die Dynamik der beteiligten kognitiven Prozesse beim Lesen zu erforschen. Im Rahmen kognitiver Kontrolltheorien können aufgrund der zeitlichen Parameter beim Lesen Rückschlüsse über die in-
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J. Hyönä: Processing of topic shifts by adults and children. J. Wiley/K. Rayner: Effects of titles on the processing of text and lexically ambiguous words. K. Rayner: Eye movements in reading and information processing: 20 years of research. In: Psychological Bulletin (Washington D.C.) 124, 3 (1998), S. 372–422. S. die Einführung und den Artikel von Ottmar Ette in diesem Band.
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terne sprachliche Verarbeitung gezogen werden. Die Reduktion der Textlänge auf nur ein oder zwei Sätze macht es möglich, die inzwischen recht fundierten Ergebnisse und als relevant ermittelten Parameter aus der Forschung zur Wort- und Satzverarbeitung, auf Beispielsätze aus dem Bereich der Nanophilologie anzuwenden. Die charakteristischen Eigenschaften eines repräsentativen Satzes der Nanophilologie-Forschung sind zum einen die Mehrdeutigkeiten, die sich aus der Kurzform ergeben und den Leser zur selbständigen Rekonstruktion eines Kontextes zwingen, und zum anderen die Spannungsmomente, die sich aus der Abfolge und der Bedeutung bestimmter Ereignisse in dem komplexen Satz ergeben. Beispiele hierfür sind Sätze wie: «Er war ein Zwerg» (aus Schottland, zitiert nach Erich Schröger) oder der mittlerweile klassische Satz «Beim Aufwachen war der Dinosaurier noch immer da.»34 Inwiefern sich diese angenommene Spannungsdynamik in dem Blickverhalten des Lesers widerspiegelt, könnte und sollte mit Blickbewegungsstudien untersucht werden. Möglicherweise kommt es an den kritischen Stellen im Satz zu Verzögerungen oder Beschleunigungen bereits im first-pass-Lesen oder zu besonderen Blickbewegungsmustern im second-pass-Lesen hinsichtlich der Dauer und Ziele der Regressionen, die insgesamt Prozesse bei der Erstellung eines mentalen Situationsmodells widerspiegeln. Einen umfassenderen theoretischen Zusammenhang für die Untersuchung des Einflusses literarisch ästhetischer Stilmittel auf das Leseverhalten bietet unseres Erachtens das aktuelle Forschungsprogramm zu embodied or grounded cognition.35 Die Kognitionspsychologie geht traditionell davon aus, dass unser Wissen über die Welt in einem semantischen Gedächtnis gespeichert ist, d. h. es ist weitgehend unabhängig von unseren Wahrnehmungen und unserem Handeln in amodalen Symbolen repräsentiert. Eine alternative Perspektive der grounded cognition ist, dass Wahrnehmung und Handeln sich in hohem Maße koordiniert vollziehen, dass beispielsweise die Präsentation eines lächelnden Gesichts unterhalb der Wahrnehmungsschwelle eine dem Betrachter ebenfalls nicht bewusste Aktivierung der Muskeln in der Mundpartie hervorruft, die zu einem Lächeln führen.36 Diese Sicht auf die Kognition gewinnt in der psychologischen und neurowissenschaftlichen Forschung zunehmend an Bedeutung. Unsere Blickbewegungen sind uns zwar fast immer unbewusst, aber sie sind trotzdem sehr sophistizierte Indikatoren unseres Erlebens beim Lesen. Wir vermuten, dass ihre Bedeutung für die Überprüfung literaturwissenschaftlicher Theorien noch nicht hinreichend erkannt ist.
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Augusto Monterroso: El dinosaurio. In (ders.): Cuentos. Madrid: Alianza Editorial 1986, S. 51: «Cuando despertó, el dinosaurio todavía estaba allí.» Lawrence W. Barsalou: Perceptual symbol systems. In: The Behavioral and Brain Sciences (New York, u.a.) 22 (1999), S. 577–660. Lawrence W. Barsalou: Grounded Cognition. In: Annual Review of Psychology (Palo Alto) 59 (2008), S. 617–645. Ulf Dimberg, Monika Thunberg & Kurt Elmehed: Unconscious Facial Reactions to Emotional Facial Expressions. In: Psychological Science (Oxford, u.a.) 11, 1 (2000), S. 86–89.
Breve Cada vez más breve, sí. Pero con la pequeñez de la herida, que es por donde se te escapa la vida. Kurz Immer kürzer, ja. Aber mit der klitzekleinen Verletzung, aus der dir das Leben schwindet. David Lagmanovich
Ottmar Ette (Potsdam)
Epistemologie der écriture courte – écriture courte der Epistemologie: Versuch einer Antwort auf die Frage ‘Was ist Nanophilologie?’ Definition(en) des Microrrelato Ich weiß nicht Ich weiß nicht, ob ich tot bin. Das Fehlen körperlicher Schmerzen spräche nach diesem schrecklichen Verkehrsunfall eher dafür. Aber warum empfinde ich dann seelischen Schmerz, warum besteht die Erinnerung fort an das, was ich vor dem Zusammenstoß 1 litt?
Dieser kurze, im Jahr 2007 im Erzählband Los cuatro elementos veröffentlichte Text des argentinischen Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers David Lagmanovich erfüllt alle mit der Gattung Microrrelato zu verknüpfenden Kriterien. Denn dieser fiktionale Erzähltext, der einschließlich seines Titels aus insgesamt 44 Wörtern und in der gedruckten Fassung aus gerade einmal 6 Zeilen besteht, erfüllt zweifellos zum einen die von dem mexikanischen Spezialisten für minifiktionale Texte, Lauro Zavala, aufgestellten Charakteristika ohne jede Einschränkung: Kürze, Diversität, Komplizenschaft, Fraktalität, Flüchtigkeit und Virtualität. 2 Auch wenn man – und ich komme darauf zurück – nicht notwendigerweise mit allen genannten Kriterien und mehr noch deren jeweiliger Definition durch Zavala einverstanden sein muss, darf man doch festhalten, dass der aus einem einzigen Abschnitt bestehende und von David Lagmanovich der 19 Microrrelatos umfassenden Gruppe ‘Vidas y muertes’ zugeordnete Text genau das tut, was der Untertitel des gesamten Bandes verspricht: jener Gattung der Microrrelatos, der Mikroerzählungen, anzugehören, um deren literaturwissenschaftliche Bestimmung sich der argentinische poeta doctus selbst vielfach verdient gemacht hat. Zieht man nämlich sein eigenes, ein Jahr zuvor im selben Verlag veröffentlichtes Buch El microrrelato: teoría e historia und die darin enthaltene ausführliche Bestimmung des Begriffs ‘Microrrelato’ hinzu, so stellt man zum anderen fest, dass die von ihm gewählte Definition auf seinen eigenen Text anwendbar ist und auf jenen Überlegungen beruht, die einige Jahre zuvor von Rebeca Martín und Fernando Valls angestellt worden waren:
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David Lagmanovich: No sé. In (ders.): Los cuatro elementos. Microrrelatos. Palencia: Menoscuarto Ediciones 2007, S. 110: «No sé – No sé si he muerto. La falta de dolor corporal, después del terrible accidente en la carretera, indicaría que sí. Pero entonces ¿por qué sigo experimentando el dolor del alma, por qué persiste el recuerdo de lo que sufría antes de estrellarme?» (Alle Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Autor dieses Beitrags.) Lauro Zavala: Seis problemas para la minificción, un género del tercer milenio: Brevedad, Diversidad, Complicidad, Fractalidad, Fugacidad, Virtualidad. In: Cuento en Red 1 (primavera 2000), S. 1–10, http://www.ciudadseva.com/textos. Vgl. auch Lauro Zavala: Cartografías del cuento y la minificción. Sevilla: Editorial Renacimiento 2004.
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Ottmar Ette Die Übereinstimmungen des Microrrelato mit dem Gedicht, der Fabel, dem Aphorismus, dem Artikel oder selbst der Werbebotschaft sind mitunter augenfällig, doch erfordert der Microrrelato etwas, das die erwähnten Texte nicht immer bieten: das Erzählen einer Geschichte. Die Handlung, wenn es eine solche gibt, ist höchst kondensiert, die Figuren, die oftmals namenlos bleiben, besitzen nur wenig Profil, doch ist es notwendig, dass der Autor von Microrrelatos dem Leser eine Geschichte erzählt. Darin liegt zweifellos die interpretative Komplexität, welche diese Gattung erzeugt, aber auch und vor allem ihr 3 Interesse und ihre Originalität.
Ein entscheidendes Kriterium der Abgrenzung des Microrrelato von anderen literarischen wie nicht-literarischen Klein- und Kleinstformen ist folglich seine narrative Ausprägung, so sehr diese auch ‘miniaturisiert’ sein mag. Der Microrrelato erzählt stets eine Geschichte: Die von ihm entfalteten Wissensbestände sind narrativ strukturiert. David Lagmanovich selbst fügt diesem Aspekt hinzu, dass der Microrrelato des weiteren «un microtexto de condición ficcional, una minificción» sei und sich daher durch seinen nicht allein narrativen, sondern zugleich eindeutig fiktionalen Status auszeichne. Diese Doppelbestimmung erlaubt es, den Microrrelato ebenso von nichtfiktionalen literarischen Kleinformen wie etwa Aphorismen, Maximen oder Sentenzen4 wie auch von fiktionalen, aber vorwiegend nicht-narrativen Kurzformen wie etwa dem Gedicht oder dem Haiku sowie ungewöhnlich kurzen Theatertexten5 (die über lange Jahre von der Wissenschaft als ‘embryonal’ vernachlässigt wurden) abzugrenzen. Ordnet sich der Microrrelato innerhalb der «escala básica de la narratividad»6 unter rein quantitativen Gesichtspunkten am unteren Ende der Abfolge von Romanzyklus, Roman, Novelle, Erzählung und schließlich Mikroerzählung ein, so charakterisiere sich diese Gattung außerdem durch ihren dezidiert nichttransgenerischen Charakter: «en el microrrelato no se produce un cruce de géneros ni un estatuto que los traspasa.»7 Diese sich gewiss in besonderem Maße in den spanischsprachigen Literaturen mit beeindruckender Geschwindigkeit entwickelnde Gattung der Mikroerzählung scheint damit nach formalen Gesichtspunkten ausreichend präzise definiert.8
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Rebecca Martín/Fernando Valls: El microrrelato español: el futuro de un género. In: Quimera (Barcelona) 222 (noviembre 2002), S. 10f.: «Las concomitancias del microrrelato con el poema, la fábula, el aforismo, el artículo o incluso el mensaje publicitario son a veces evidentes, pero éste exige algo que no siempre aparece en textos como los mencionados: la narración de una historia. La acción, si la hay, está sumamente condensada, los personajes, que en muchas ocasiones carecen de nombre, aparecen apenas perfilados, pero es necesario que el autor de microrrelatos le cuente una historia al lector. En todo ello, sin duda, radica la complejidad interpretativa que suscita el género, pero también, y sobre todo, su interés y originalidad.» Vgl. hierzu auch André Jolles: Einfache Formen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969. Vgl. David Lagmanovich: El microrrelato, S. 28–31. Ebda., S. 31. Ebda., S. 30. Vgl. hierzu auch die begrifflichen Präzisierungen von David Lagmanovich im vorliegenden Band.
Was ist Nanophilologie?
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Mag dieser letztgenannte (nicht-transgenerische) Aspekt auch innerhalb der Forschung durchaus umstritten sein – der bereits erwähnte Lauro Zavala etwa spricht mit Blick auf das Kriterium der ‘Diversidad’ gegenläufig davon, dass es in der Forschungsliteratur zum Thema «una coincidencia en el reconocimiento de que su característica más evidente es su naturaleza híbrida»9 gebe –, so können wir doch festhalten, dass wir es in ‘No sé’ zweifellos mit einem fiktionalen und narrativen Text zu tun haben, dessen Kürze erheblich unter der einer traditionellen Form der Erzählung bzw. des spanischsprachigen cuento liegt. Fassen wir also zusammen: Bei ‘No sé’ handelt es sich um eine experimentelle Erzählform, deren konziser Aufbau dem Lesevorgang zumindest auf den ersten Blick eine gewisse Transparenz und Überschaubarkeit vermittelt, deren fiktionaler Grundzug sie deutlich von Maximen und philosophischen Reflexionen abhebt und deren narrative Strukturierung eine klare Scheidung von der (von Lagmanovich ebenfalls ausgeübten) Dichtkunst ermöglicht. So lässt sich die literarische Kleinstform des argentinischen homme de lettres mit guten Gründen jener Gattung des Microrrelato zuordnen, der man im Verbund der Minifiktionen ein hohes Entwicklungspotential zubilligen kann, insofern sie auf die «estrategias de lectura que nos esperan a la vuelta del milenio»10 aktiv reagieren und damit gewiss eine der vielversprechendsten und entwicklungsfähigsten literarischen Gattungen auch jenseits der spanischsprachigen Welt darstellen. Sie sind – und dies wird die Popularität und Verbreitung insbesondere extrem kurzer Texte begünstigen – ebenso für SMS wie für Blogs tauglich und als kurze Cyber-Texte hervorragend auch in mehrsprachigen Varianten zirkulierbar.11
Nicht-Wissen als verdichtetes Lebenswissen Die bislang in aller gebotenen Kürze genannten Kriterien und Definitionen des Microrrelato erlauben zwar die gattungsspezifische Einordnung von David Lagmanovichs ‘No sé’, bieten aber nur generelle und durchweg formale Bezugspunkte für eine eingehendere nanophilologische Analyse dieses Textes an. Denn die spezifische Unbestimmtheit, die diesen Kurztext in seinem Titel wie in seinen beiden Anfangssilben charakterisiert, lässt sich mit Hilfe dieser Kriterien kaum genauer fassen. Nähern wir uns also dem Zusammenspiel von Ausdrucksebene und Inhaltsebene dieser facettenreichen Mikroerzählung an. Hier wäre es durchaus möglich, die Titelwahl, die gleichsam durch die Echowirkung des absoluten incipit zusätzlich verstärkt wird, literaturgeschichtlich mit jenen berühmten lyrischen Wiederholungsstrukturen in Verbindung zu bringen, die eines der sicherlich bewegendsten Gedichte der spanischsprachigen Literaturen des 20. Jhs., César Vallejos Los heraldos negros (1918), so eindrucksvoll bereits in der ersten Strophe prägen:
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Lauro Zavala: Seis problemas para la minificción, S. 3. Ebda., S. 7. Als eines von zahlreichen Beispielen für zwei- oder mehrsprachige Blog-Texte sei genannt: Cien palabras – Hundert Wörter. Blog mit 100-Wort-Texten von Luis Ruby http://www.luis-ruby.de/blog/cien-palabras.
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Ottmar Ette Es gibt Schläge im Leben, so stark … Ich weiß nicht! Schläge wie vom Hass des Gottes; als ob sich vor ihnen die Brandung alles Erlittenen 12 in die Seele grübe … Ich weiß nicht!
Vergleicht man David Lagmanovichs ‘No sé’ mit diesen so berühmten Anfangsversen von César Vallejos Gedicht, so sind die Lexemrekurrenzen («no sé», «sufrir» oder «alma») weder zu überhören noch zu übersehen: Die intertextuelle Bezüglichkeit ist in ihrem (gewiss impliziten) Spiel- und Anspielungscharakter ganz offensichtlich. Die Differenz zum Bezugsgedicht wird freilich nicht weniger rasch erkennbar, lässt sich die Position des lyrischen Ich in seiner fundamentalen Frage nach dem Leben doch deutlich unterscheiden von der narrativen Dynamik eines Erzähler-Ich, das sich nach einem (möglicherweise ebenso banalen wie fatalen) Unfall die Frage nach dem Leben als Frage nach der Grenze zwischen Leben und Tod stellt. Literatur ist zweifellos dafür prädestiniert, die Grenzen des Lebens künstlerisch zu be- und hinterfragen und zugleich ästhetisch überzeugend Anfang und Ende eines Lebens erfahrbar zu machen. Literatur unterläuft damit genau jenes existenzielle Entzogensein, das dem Menschen den Zugang zur Erfahrung des eigenen Geborenwerdens wie des eigenen Sterbens verwehrt. Die ästhetische Erfahrbarmachung der eigenen Geburt, folglich des eigenen incipit, kann mit den Mitteln der Literatur experimentell, das heißt wie in einem Laborversuch, ebenso sinnlich nachvollziehbar modelliert und gestaltet werden, wie dies auch für den Tod, den exitus bzw. das excipit, künstlerisch möglich ist. Genau an dieser Stelle eines Wissens vom Leben im Leben als eines Wissens, das sich der Präsenz wie auch der Grenzen des Todes ständig versichern muss, setzt der Microrrelato von David Lagmanovich an. Er versucht, mit den Mitteln einer Kunstform, in der Anfang und Ende sich in größter Nähe zueinander befinden, die Frage nach den Grenzen, die Leben und Tod voneinander scheiden oder ineinander blenden, auf eine verdichtete, semantisch hochpotenzierte Weise neu zu stellen, um so ein Lebenswissen als ein Wissen vom Leben zum Leben einer (anonymen) Leserschaft als Erlebenswissen sinnlich zugänglich zu machen. Dabei greift der Text bereits in seinem Titel nicht nur auf eine literaturgeschichtliche Referenz und Reverenz, sondern auch auf eine Zirkulationsform von Wissen in der Präsentationsform des Nicht-Wissens zurück, das uns in der abendländischen Tradition im Gewand des ‘Ich weiß, daß ich nichts weiß’ seit der Philosophie und Literatur der Antike13 entgegentritt, mit Montaignes Leitfrage des ‘Que sais-je? ’ seine Übersetzung in die Moderne fand und uns auch in und nach Moderne und Postmoderne in immer neuen Konstellationen begleitet. Dem verdoppelten ‘Ich weiß nicht’ in Titel und incipit entspricht eine Suche nach der Erfahrung
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César Vallejo: Los heraldos negros. In (ders.): Obra poética completa. Introducción de Américo Ferrari. Madrid: Alianza Editorial 1982, S. 59: «Hay golpes en la vida, tan fuertes … Yo no sé! / Golpes como del odio de Dios; como si ante ellos, / la resaca de todo lo sufrido / se empozara en el alma … Yo no sé!» Vgl. etwa Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern - München: Francke Verlag 101984, S. 410–415.
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des Todes im Leben, die zunächst narrativ auf der Basis einer Zeitabfolge – in der Versicherung eines «después»14 – gestaltet wird und ein Körperwissen abfragt, in welchem der Schmerz, der «dolor corporal»15, zum Seismographen des Lebens und der menschlichen Wahrnehmbarkeit des Todes wird. Doch die Mikroerzählung hält alles in der Schwebe. An die Stelle der narrativen Einblendung des erinnerten Autounfalls tritt – nach dem Eingangssatz des incipit und dem zweiten Satz einer möglichen Bejahung der Frage nach dem Eingetretensein des eigenen Todes – im dritten und abschließenden Teil des Microrrelato die Frageform und Infragestellung eines Wissens, das sich als ein Erinnerungswissen an die Zeit vor dem Unfall – «antes de estrellarme»16 – einführt und dem (abwesenden) «dolor corporal» den (anwesenden) «dolor del alma»17 entgegenstellt. Die Aufnahme der Körper-Seele-Dualität jedoch lässt – wie das zwischengeschaltete «Pero»18 unübersehbar markiert – keineswegs den Schluss auf eine abendländisch-christlich unterlegte topische Scheidung zwischen der Sterblichkeit des Körpers und der Unsterblichkeit der Seele zu. Denn am Ende steht jenes Fragezeichen, welches das Ende des Ich noch im letzten Zeichen des Textes, ‘seines’ Textes, in Frage stellt. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage wird nicht gegeben und soll auch nicht gegeben werden. Die Mikroerzählung verweigert jegliche clôture, jegliches Schlusswort. Wir wissen nur, dass das Ich in dieser miniaturisierten und zugleich modellhaften Erzählung allein kraft seines Nicht-Wissens vom Leben und Überleben wissen kann. Wenn Literatur ein sich beständig wandelndes, interaktives und damit zugleich stets produktives Speichermedium von Lebenswissen ist,19 dann steht zu erwarten, dass eine hochverdichtete literarische Schreibform wie der Microrrelato ein semantisch nicht weniger verdichtetes Lebenswissen enthält, das sich innerhalb eines Umfangs, der bei dieser Gattung zwischen einer einzigen Zeile und einer einzigen Seite liegen kann, konzentriert. Sind Mikroerzählungen daher ein ideales Medium von Lebenswissen, ja insbesondere eines Lebenswissens, das sich die radikale Offenheit aller Lebensprozesse bewahrt?
Mikrofiktionales Lebenswissen Diese Frage kann nur bejaht und zugleich verneint werden. Denn das nicht nur konzentrierte, sondern darüber hinaus auch miniaturisierte Lebenswissen der Mikroerzählung – wie übrigens auch jeder Art von minificción bzw. Mikrofiktion – steht in einem komplexen Konkurrenz- und Abgrenzungsverhältnis zu anderen, unverkennbar nicht-fiktionalen Schreib- und Präsentationsformen von Lebenswissen, wie sie sich im Aphorismus und vor allem in Maximen und Sentenzen, außer-
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David Lagmanovich: No sé, S. 110. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Vgl. hierzu Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004.
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halb eines eng gezogenen Literaturbegriffs aber auch in Sprichwörtern, dichos und proverbios niedergeschlagen haben. Diese literarischen Klein- und Kleinstformen weisen eine derart hohe Verbreitung und eine so hohe Konstanz innerhalb der abendländischen Literatur- und Kulturgeschichte auf, dass eine eher junge und im Grunde – sieht man von verschiedenartigen, auch im vorliegenden Band des öfteren erwähnten Vorläufern einmal ab – erst ab der Mitte des 20. Jhs. sich entwickelnde Literaturgattung wie der Microrrelato gar nicht umhin konnte, sich von Maximen, Sentenzen und Aphorismen deutlich auf der Gattungsebene abzugrenzen. Denn diese nicht-fiktionalen literarischen Gattungen situieren sich innerhalb eines sich historisch über lange Jahrhunderte entwickelnden Erwartungshorizonts, der nach expliziten Präsentations- und Repräsentationsformen von Lebenswissen, nach Lebensformen als Lebensnormen, ja nach ‘Lebensweisheiten’ verlangt, die von der Ebene der Schrift möglichst unvermittelt und direkt auf die Ebene eigener Lebenspraxis und eigenen Lebensvollzugs übersetzbar sein sollten. Maximen und Sentenzen, Aphorismen und Lebensweisheiten verbindet mit den unterschiedlichsten Formen von Mikrofiktionen, dass sie sich durch ein miniaturisiertes und damit verdichtetes, kondensiertes Lebenswissen auszeichnen. Die Mikroerzählung grenzte und grenzt sich aber – gerade auch in ihrer historischen Entwicklung – gezielt und deutlich von diesen nicht-fiktionalen literarischen Kleinund Kleinstformen, die man mit Gérard Genette auf der Seite der Diktion verorten könnte,20 dadurch ab, dass sie ihre Literarizität und ihre radikale Polysemie gegen jeglichen Versuch einer Lesart ausspielt, sie im Sinne einer ‘Lebensweisheit’ anzueignen und damit unmittelbar aus dem Reich der Zeichen in ein Reich konkreter gesellschaftlicher Praxis und Lebensführung zu übertragen. Einer solchen direkten Übersetzung setzt beispielsweise ein so einflussreicher und längst kanonisierter Text wie Augusto Monterrosos bekanntester hyperkurzer Microrrelato jeden nur erdenklichen Widerstand entgegen: Der Dinosaurier Beim Aufwachen war der Dinosaurier noch immer da.
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Zum größten Tier der kleinste Text: Die extreme Miniaturisierung, in der Anfang und Ende eines Textes im selben Satz (fast) zusammenfallen, wirft im Kontext einer fiktionalen narrativen Struktur, die über durchaus komplexe Zeitbezüge und Zeitabfolgen, aber auch über eine bewusst konstruierte und konzentrierte Vieldeutigkeit der Sinnpotenzierung verfügt, die Notwendigkeit auf, ein spezifisches und ausdifferenziertes Instrumentarium zu entwickeln, mit dessen Hilfe derartige literarische Kleinsttexte erschlossen und analysiert werden können. Die Schaffung eines solchen Instrumentariums sollte sich der Tatsache bewusst sein, dass die Größenverhältnisse, die sich zwischen einem komplexen Romanzyklus, wie es etwa Honoré de Balzacs Comédie humaine oder Benito Pérez Galdós’ Episodios nacionales darstellen, einer Novelle (wie etwa Heinrich von Kleists Die Verlobung von Santo
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Vgl. Gérard Genette: Fiction et diction. Paris: Seuil 1991. Augusto Monterroso: El dinosaurio. In (ders.): Cuentos. Madrid: Alianza Editorial 1986, S. 51: «El dinosaurio – Cuando despertó, el dinosaurio todavía estaba allí.»
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Domingo oder Guy de Maupassants Le horlà) und einer hyperkurzen Mikroerzählung wie Augusto Monterrosos El dinosaurio sich in gewisser Weise vergleichen lassen mit den Verhältnissen zwischen der Größe der Erde (mit einem Durchmesser von 107 Metern), eines Apfels (mit einer Größe von 10-1 Metern) und der Einheit eines Nanometers (das eine ‘Größe’ von 10-9 Metern und damit 8 Nullen hinter dem Komma aufweist). Auch wenn damit keineswegs behauptet werden soll, dass Monterrosos Mikro-Dinosaurier im Verhältnis zur Comédie humaine nur ein Milliardstel an Textumfang einnimmt, so sollte mit diesem Vergleich doch deutlich gemacht werden, dass die Miniaturisierung ganz wie im Bereich der Nanowissenschaften nicht nach völlig anderen, wohl aber nach spezifischen Methodologien und Verfahren verlangt, um jene Vorgänge zu begreifen, die sich auf morphologischer oder semantischer, aber auch auf lebenswissenschaftlicher – hier also auf die Miniaturisierung von Lebenswissen bezogen – Ebene abspielen; und dies ebenso auf der Produktions- und Distributions- wie auf der Rezeptionsseite. Dies unterstreicht nicht zuletzt die Notwendigkeit, in inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit jenen winzigen Augenbewegungen beim Lesen von Mikrotexten größte Aufmerksamkeit zu schenken, wie sie im Zentrum der Blickbewegungsforschung zu den eye movements stehen.22 Es scheint mir daher sinnvoll, auf dem Gebiet der Philologie eine nanophilologische Spezialisierung voranzutreiben, die sich der wachsenden Bedeutung literarischer Klein- und Kleinstformen nicht nur im spanischsprachigen Raum, sondern auch in vielen anderen Literaturen der Welt, nicht nur im fiktionalen und narrativen, sondern auch im diktionalen, lyrischen und dramatischen Kontext annimmt und dafür den Erfordernissen der Gattung entsprechende Untersuchungsstrategien und Methodologien entwickelt. Aus einer derartigen Perspektive wird geradezu nebenbei deutlich, dass es nicht länger angehen kann, einige wenige europäische Literaturen als den degré zéro der Literaturtheorie und als beständigen (da selbstverständlichen) Referenzpunkt einer Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft zu sehen, während außereuropäische Literaturen dann nur im Rahmen der ‘Besonderheiten’ sogenannter Regionalwissenschaften verhandelt werden können. Die Nanophilologie muss sich auf der Ebene der Literaturen der Welt – und nicht nur eines kleinen Teils derselben – als transareal konzipierte und agierende Wissenschaft begreifen und ansiedeln. Eine so verstandene Nanophilologie wird sich bei aller Spezialisierung freilich nicht der Notwendigkeit entziehen können, ihre Erkenntnisinteressen und Untersuchungsergebnisse stets im Gesamtzusammenhang der Aufgabe(n) der Philologie zu begreifen und damit ebenso auf (kollektive und individuelle) Lebensprozesse wie auf die Erforschung unterschiedlichster Arten von Lebenswissen hin zu öffnen. Formen mikrotextuellen, besonders aber mikrofiktionalen Lebenswissens scheinen mir für die Entwicklung eines spezifischen Analyseinstrumentariums, das neben wichtigen erzählwissenschaftlichen Ansätzen23 auch kognitionswissenschaftliche
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Vgl. hierzu den Beitrag von Christiane Bohn und Reinhold Kliegl zu den Mikrobewegungen des Auges im vorliegenden Band. Vgl. u.a. Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002; Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hg.): Er-
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und psychologische Aspekte etwa der ‘Grounded Cognition’24 miteinzubeziehen hat, besonders geeignet.
Nanophilologie als Grundlagenforschung Vor diesem Hintergrund sollte deutlich geworden sein, dass sich die Nanophilologie weniger die Untersuchung und Entzifferung der kleinsten Bibel der Welt und damit miniaturisierter Schriften und Printtechniken, sondern vorrangig die Erforschung miniaturisierter fiktionaler wie nicht-fiktionaler Schreibformen und Schreibweisen zum Ziel setzt. Dass sich die Naturwissenschaften – und dies ist eine unter metaphorologischen Gesichtspunkten durchaus aufschlussreiche Tatsache – bereits des griechischen Lexems bedient haben, um ihre höchst erfolgreichen und in der Öffentlichkeit stark diskutierten Forschungen zu benennen, sollte uns nicht davon abhalten, die philologische Erforschung winziger Texte – die man deshalb nicht unbedingt in Nanotexte, Nanoerzählungen oder Nanofiktionen umbenennen muss – und damit die Analyse literarischer Klein- und Kleinstformen als Nanophilologie zu bezeichnen. Denn wenn die These richtig ist, dass sich alle technischen Revolutionen der Moderne aus der Fähigkeit ableiten lassen, Objekte immer miniaturisierter herzustellen, birgt die Untersuchung von Formen und Funktionen von Miniaturisierung gerade auch im experimentellen Überschneidungsbereich von Literatur und Philologie (aber auch von Kultur- und Naturwissenschaften) wichtige Erkenntnis- und Entwicklungspotentiale für die Zukunft. Die Miniaturisierung von Displays mobiler Kommunikationsmedien wird zweifellos auch in Zukunft nanophilologisch relevante Phänomene und Prozesse verstärken. Konsequent und vielleicht gar entscheidend aber wäre es, Nanophilologie nicht auf diesen Gegenstandsbereich zu reduzieren, sondern als Laboratorium auch zur Untersuchung makronarrativer und makrotextueller Formen und Verfahren zu nutzen. Diese Überlegungen setzen nicht notwendig die Vorstellung voraus, dass sich die Philologien ähnlich wie die Nanowissenschaften der Möglichkeit versichern müssten, parallel zu den Bauplänen der Natur nun die Baupläne der Literatur in die Hand zu bekommen und sich vergleichbar mit der Suche nach der Weltformel auf die Suche nach der Literaturformel begeben zu müssen. Bekanntlich hatte sich eine strukturalistisch inspirierte Erzähltextgrammatik einst einem ähnlichen Ziel verschrieben und wie die strukturale Anthropologie versucht, den Bauplan des menschlichen Mythos wie den Bauplan menschlichen Erzählens überhaupt herauszuarbeiten und ‘freizulegen’. Betrachten wir diese Bemühungen heute vom Gesichtspunkt ihrer Ergebnisse her, so waren vielleicht weniger die gesteckten Ziele als die durchlaufenen Erkenntniswege erhellend.
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zähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002; (dies., Hg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Unter Mitarbeit von Nadyne Stritzke. Stuttgart - Weimar: Metzler 2004; James Phelan/Peter J. Rabinowitz (Hg.): A Companion to Narrative Theory. Oxford: Blackwell 2005. Vgl. Lawrence W. Barsalou: Grounded Cognition. In: Annual Review of Psychology (Palo Alto) 59 (2008), S. 617–645, http://psych.annualreviews.org.
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Mir scheint daher, dass eine Spezialisierung nanophilologischer Art sich wohl weniger Hoffnungen auf die ‘Entdeckung’ der Literaturformel – die vielleicht (jenseits der Existenz vieler verschiedener Grundformeln zur Verfertigung potentieller Literatur) mit einer gewissen Entzauberung von Literatur einhergehen würde – als vielmehr auf ein besseres Gesamtverständnis des Mikrokosmos literarischer Kleinstformen machen sollte (um damit letztlich auch den literarischen Makrokosmos besser zu begreifen). Denn auf diesem Gebiet könnte der Schlüssel zur Entfaltung jener Poetik der Bewegung liegen, welcher die Philologien bedürfen, um die Literaturen der Welt in ihrem hochdynamischen Zusammenspiel mit den Phänomenen beschleunigter Globalisierungsprozesse nicht länger mit Hilfe vorwiegend statischer Begrifflichkeiten untersuchen zu müssen. Dass die Tradition der antiken Rhetorik mit ihren häufig dynamischen Begrifflichkeiten hierbei hervorragende Dienste leisten kann, steht – ohne dass eine solche Einsicht bisher in dem hier angedachten Sinne genutzt worden wäre – außer Frage. Die hier entwickelte Vorstellung von Nanophilologie begreift diese noch zu schaffende Wissenschaft folglich als eine Grundlagenforschung, in der auf experimentellem Wege entscheidende Aspekte, Bedingungen und Verfahren literarischer Prozesse und ihrer historischen und politischen, wirtschaftlichen und sozialen, kulturellen und ästhetischen Implikationen untersucht werden können. Dabei wird es wie bei jeder Grundlagenforschung letztlich darauf ankommen, das durch diese Forschung erzeugte Wissen in Zirkulation zu bringen und in andere Bereiche der Philologie, aber auch anderer Wissenschaften und Wissensgebiete zu übersetzen und zu transferieren. Demgemäß zielt der Begriff der Nanophilologie gewiss auf die kritische Untersuchung und methodologisch reflektierte Auseinandersetzung mit literarischen Klein- und Kleinstformen, wobei Mikrofiktionen und Mikroerzählungen ganz selbstverständlich und wesentlich zum mikrotextuellen Gegenstandsbereich der Nanophilologie gehören, aber keineswegs die einzige oder auch nur die dominante Form literarischer Kleinstformen darstellen. Dabei werden Formen, Verfahren und Funktionen unterschiedlichster textueller Kleinstformen erforscht und komplexe Relationen zwischen nanophilologischen und makrophilologischen, aber auch Beziehungen zu vergleichbaren Miniaturisierungsphänomenen auf anderen Gebieten künstlerischer Produktion (wie etwa im Bereich der Musik, des Films oder der Bildenden Künste) untersucht. Eine transdisziplinär angelegte Nanophilologie arbeitet daher ebenso transgenerisch wie inter- und transmedial. Aus dieser Perspektive beschäftigt sich Nanophilologie nicht nur mit den unterschiedlichsten Schreibformen, Schreibweisen und Schreibprozessen, Gattungen, Subgattungen und transgenerischen Phänomenen; und sie bleibt auch nicht auf bestimmte kulturelle Areas, innerhalb derer etwa literarische Genres wie der Microrrelato florieren, beschränkt. Bereits ein Blick in die Mikrotextualitäten der Romanischen Literaturen der Welt – wie er im vorliegenden Band angestrebt wird – zeigt deutlich, dass sich dort überall sehr kreative Formen mikrotextuellen Schreibens herausgebildet haben und somit von einer Bestätigung für die allzu wagemutigen Thesen Zavalas, dass das Spanische längst zur «lengua franca de la minificci-
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ón»25 geworden sei und die hispanoamerikanische ‘Minifiktion’ bereits über einen Vorsprung von mehreren Jahrzehnten über andere Literaturen verfüge,26 nicht die Rede sein kann. Vielmehr sollen gegenüber monolingualen oder nationalphilologischen Betrachtungsweisen stets auch transareale Gesichtspunkte Berücksichtigung finden, welche die Entfaltung spezifischer literarischer Formen etwa in Hispanoamerika mit Hilfe eines vertieften Verständnisses von Bewegungen reflektieren, die unterschiedliche Areas – etwa Kleinstformen in den Literaturen Amerikas und in jenen Europas – miteinander verbinden und verzahnen. Innerhalb einer literaturgeschichtlichen Entwicklung, die auf Grund von beschleunigten wechselseitigen Vernetzungsmöglichkeiten ebenso nationalliterarische wie einzelsprachliche Begrenzungen und Grenzziehungen in stetig wachsendem Maße überbrückt und in ihrer Bedeutung relativiert, sind transareale Forschungshorizonte nicht nur für die Erforschung der immer wichtiger werdenden Literaturen ohne festen Wohnsitz27 (wo AutorInnen wie Emine Sevgi Özdamar, José F.A. Oliver oder Yoko Tawada sich gerne, ja nicht selten mit Vorliebe, mikrotextueller Schreibformen bedienen und für die außerordentliche Bedeutung mikrotextuellen Schreibens in diesen Literaturen des ZwischenWeltenSchreibens einstehen), sondern literarischer Prozesse überhaupt notwendig. Nur so werden wir in der Lage sein, literarische Austauschprozesse als ein hochkomplex rückgekoppeltes dynamisches Multiparameter-System in ihrer Bewegung und Beweglichkeit zu verstehen. Ohne ein derartiges Verständnis aber wird es wohl kaum gelingen, ein so komplexes Ensemble globalisierter und nicht-globalisierter Sprachen und Literaturen wie etwa die europäische Literatur jenseits einer simplen Addition unterschiedlicher (und zumeist recht weniger) Nationalliteraturen zu begreifen. Vor dem Hintergrund dieser hier nur kurz umrissenen Aufgabenstellungen der Nanophilologie lassen sich aus der gewählten Begrifflichkeit zwei Fragenkomplexe ableiten, die nicht nur aus der Blickrichtung des vorliegenden Bandes von grundsätzlicher Bedeutung sind. Der erste Komplex betrifft die Verbindung zwischen der Nanophilologie und den sich weiterhin rasch entwickelnden Nanowissenschaften und Nanotechnologien, eine bislang – wenn ich recht sehe – noch nicht systematisch in Angriff genommene Beziehung, die im Rahmen der hier vorgetragenen Überlegungen nicht weiter verfolgt und diskutiert werden kann, aber keineswegs aus den Augen verloren werden sollte. Wie wichtig diese Austauschbeziehung zwischen naturwissenschaftlichen und kulturellen Phänomenen und Traditionen gerade mit Blick auf kulturell verankerte Metaphorologien ist, scheint auch auf dem Gebiet der Nanowissenschaften offenkundig. Auf diesem überaus spannenden Feld wird es ebenfalls notwendig sein, das in den biowissenschaftlich ausgerichteten Nanowissenschaften erforschte Lebenswissen mit jenen Formen und Funktionen
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Lauro Zavala: Fragmentos, fractales y fronteras: género y lectura en las series de narrativa breve. In: Revista de Literatura (México, D.F.) LXVI, 131 (enero–junio 2004), S. 6. Vgl. Lauro Zavala: Seis problemas para la minificción, S. 1. Vgl. Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005.
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von Lebenswissen in Beziehung zu setzen, die von den Literaturen der Welt, aber auch den sich mit ihnen beschäftigenden Philologien entfaltet wurden und werden. Ein zweiter und nicht weniger spannender und spannungsvoller Komplex betrifft die Frage, inwiefern miniaturisierte Schreib- und Textformen nicht nur den literarischen Gegenstandsbereich, sondern auch die epistemologischen und methodologischen Denk- und Schreibformen der Nanophilologie selbst betreffen. Denn es ist reizvoll, sich der Frage zu stellen, in welchem Maße sich die Nanophilologie selbst einer Kurzschreibweise bedienen und Schreibformen entwickeln kann, die vergleichbar sein können mit der Länge literarischer Kurzformen. Ein somit autoreflexiver Gebrauch des Begriffs Nanophilologie und ein damit einhergehender Transfer von Formen und Strukturen literarischer Kleinstformen hin zu Schreib- und Präsentationsformen nanophilologischer Theoriebildung mag auf den ersten Blick überraschend oder vielleicht gar randständig wirken. Doch gibt es durchaus einige literaturtheoretische Ansätze und Modellierungen, von denen manche sehr wohl epistemologisch relevant sind, modellbildend werden und neue Formen der Literaturtheorie generieren könnten. Daher soll im folgenden ein aus der hier gewählten Perspektive erfolgversprechendes Denk- und Schreibmodell vorgestellt und kritisch reflektiert werden.
Epistemologie der écriture courte – écriture courte der Epistemologie Recht präzise im Zentrum seines 1975 veröffentlichten autobiographischen Versuchs Roland Barthes par Roland Barthes hat der französische Zeichentheoretiker und Schriftsteller unter dem Titel ‘Le cercle des fragments’ eine Abfolge kurzer Texte angeordnet, die man – wie die Reflexionsformen des gesamten Bandes – ohne weiteres als Mikrotexte bezeichnen könnte.28 In diesem Barthes’schen Fragmentkreis wird überwiegend in der dritten Person über die fragmentarische Schreibweise reflektiert, die das gesamte Schaffen des Autors und Wissenschaftlers durchziehe: Sein mehr oder minder erster Text (1942) ist aus Fragmenten gemacht; diese Wahl wird auf Gidesche Manier rechtfertigt, ‘weil die Inkohärenz einer Ordnung vorzuziehen ist, die deformiert’. Seither hat er tatsächlich nicht mehr damit aufgehört, die kurze Schreibweise zu praktizieren: die Vignetten in Mythen des Alltags und Das Reich der Zeichen, die Artikel und Vorworte der Kritischen Essays, die Lexien von S/Z, die beti29 telten Absätze von Michelet, die Fragmente von Sade II und Die Lust am Text.
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Lauro Zavala hat mehrere Texte Roland Barthes’ in den Kontext der «minificciones» gestellt; vgl. Lauro Zavala: Seis problemas para la minificción, S. 5. Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes. In (ders.): Œuvres complètes. Edition établie et présentée par Eric Marty. 3 Bde. Paris: Seuil 1993–1995, hier Bd. I, S. 165 f: «Son premier texte ou à peu près (1942) est fait de fragments; ce choix est alors justifié à la manière gidienne «parce que l’incohérence est préférable à l’ordre qui déforme». Depuis, en fait, il n’a cessé de pratiquer l’écriture courte: tableautins des Mythologies et de L’Empire des signes, articles et préfaces des Essais critiques, lexies de S/Z, paragraphes titrés du Michelet, fragments du Sade II et du Plaisir du Texte.»
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Der von Barthes bevorzugte Begriff der écriture courte umfasst die unterschiedlichsten Formen einer Schreibweise, die für jedes neue Buchprojekt die verschiedenartigsten Gestaltungs- und Anordnungsformen von Kurz- und Kürzesttexten wählt. Folgt man dem Hinweis von Roland Barthes – und damit dem für sein Schreiben so charakteristischen intratextuellen Verweissystem –, so findet man gleich zu Beginn seines im Sommer 1942 in der Zeitschrift Existences veröffentlichten Beitrags ‘Notes sur André Gide et son ‘Journal’ die folgende Bemerkung: Von der Furcht zurückgehalten, Gide in ein System einzuschließen, von dem ich wusste, dass es mich niemals befriedigen könnte, suchte ich vergeblich nach einer Verbindung für diese Notizen; wohlbedacht aber ist es besser, sie unverändert vorzustellen und ihre Diskontinuität nicht zu maskieren. Die Inkohärenz ist, so scheint mir, einer Ordnung 30 vorzuziehen, die deformiert.
Diese Passage dokumentiert, dass sich der junge Barthes, der sich damals im Sanatorium von Saint-Hilaire-du-Touvet aufhielt, sehr reflektiert gegen eine pensée de système und für die Form der ‘Notes’ entschied, die wir mit guten Gründen nicht nur als Notizen und Anmerkungen, sondern auch als musikalische Noten verstehen dürfen. Die 1942 gewählte Form eines dialogischen, unabgeschlossenen Wechselspiels zwischen kurzen Textauszügen Gides und interkalierten Kurztexten Barthes’ versucht, sich jedweder Versuchung, in ein Systemdenken zurückzufallen, zu entziehen und das Diskontinuierliche nicht durch das Überstülpen einer Maske des Kontinuierlichen – die Barthes später oft als le nappé bezeichnete – zu verbergen. Auch wenn man sich fragen darf, inwiefern Barthes hier nicht bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine andere literarische Maske anlegte, die er zeit seines Lebens weiter ausgestaltete,31 so zeichnet sich doch in diesen Zeilen jene écriture courte ab, die in einem intensiven Verhältnis ebenso zu seiner späteren Praxis des Malens, dessen Ästhetik auf der Schnelligkeit der traits und den «barbouillages tachistes»32 beruht, wie zur Kunst der Musik steht, in der sich Barthes von den gebrochenen Formen der Intermezzi Schumanns immer wieder faszinieren und anregen ließ.33 Kein Zweifel: Musik und Literatur stehen sich in ihrem Ringen um künstlerische Klein- und Kleinstformen sehr nahe. Die Lust an der ständigen Unterbrechung, an der immer wieder neu in Szene gesetzten Diskontinuität, ist bei Barthes aber weit weniger eine Freude am Abbrechen als eine Lust am Anfang und am Anfangen: Er liebt es, Anfänge zu finden, zu schreiben, und so neigt er dazu, diese Lust zu vervielfachen: deshalb also schreibt er Fragmente: so viele Fragmente, so viele Anfänge, so
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Roland Barthes: Notes sur André Gide et son «Journal». In (ders.): Œuvres complètes, Bd. I, S. 23: «Retenu par la crainte d’enclore Gide dans un système dont je savais ne pouvoir être jamais satisfait, je cherchais en vain quel lien donner à ces notes. Réflexion faite, il vaut mieux les donner telles quelles, et ne pas chercher à masquer leur discontinu. L’incohérence me paraît préférable à l’ordre qui déforme.» Vgl. hierzu Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 100f. Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, Bd. III, S. 166. Vgl. hierzu Ottmar Ette: Roland Barthes, S. 412.
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viele Lüste (doch er liebt die Enden nicht: das Risiko eines rhetorischen Abschlusses ist zu groß: Furcht davor, dem letzten Wort, der letzten Replik nicht widerstehen zu kön34 nen).
Die Verbindung des incipit35 mit dem Lustprinzip, das Roland Barthes in seinem 1973 erschienenen – und im Übrigen mikrotextuell verfassten – Band Le Plaisir du texte so einflussreich in die Literaturtheorie einführte, macht dank der Kontrastierung durch die Absage an Textschlüsse und deren Schlussformeln deutlich, dass es dem Autor von Michelet hier um ein Prinzip geht, welches für seine Praxis der verschiedenartigsten Textsorten gilt. Die mit jedem incipit verbundene semantische Verdichtung wird lustvoll als eine Potenzierung von Möglichkeiten erfahren, deren Offenheit durch keinen Schluss, durch keine Abschließung beschnitten werden darf. Damit ist sowohl ein ästhetisch-literarisches (und damit auf die Textproduktion wie auf die Textrezeption beziehbares) als auch ein epistemologischmethodologisches Prinzip benannt, das für Barthes die Voraussetzung dafür bildet, die unterschiedlichen Formen seiner écriture courte ebenso auf theoretische Schriften wie auch auf stärker literarisch akzentuierte Texte anzuwenden. Roland Barthes par Roland Barthes siedelt sich hierbei in einer ganz besonderen Weise zwischen den von Genette benannten Polen von Diktion und Fiktion an, so dass man die den gesamten Band bildenden friktionalen, zwischen diction und fiction oszillierenden ‘Noten’ auch vielleicht am besten als Mikrofriktionen bezeichnen könnte. Zwei weitere von Barthes benannte Aspekte scheinen mir für unsere Überlegungen von Bedeutung. Zum einen spricht der Autor der Mythologies durchaus vom Ideal des Fragments in Begriffen einer «haute condensation»,36 doch fügt er sofort hinzu: «non de pensée, ou de sagesse, ou de vérité (comme dans la Maxime), mais de musique».37 Dieser Verdichtung und Kondensierung, die sofort von der ‘Lebensweisheit’ der Maxime abgegrenzt wird, fügt Barthes zum anderen den Aspekt von Unmittelbarkeit und Beweglichkeit hinzu, die wiederum mit der Lust, ja der Wollust (jouissance) gekoppelt werden: Das Fragment ist (wie der Haiku) taurinisch; es impliziert eine unmittelbare Wollust: es ist ein Phantasma des Diskurses, ein Aufstehen des Begehrens. In der Form des SatzGedankens kommt Ihnen der Keim des Fragments irgendwo: im Café, im Zug, im Ge38 spräch mit einem Freund (beiläufig zu dem, was er sagt oder was ich sage) […].
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Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, Bd. III, S. 166: «Aimant à trouver, à écrire des débuts, il tend à multiplier ce plaisir: voilà pourquoi il écrit des fragments: autant de fragments, autant de débuts, autant de plaisirs (mais il n’aime pas les fins: le risque de clausule rhétorique est trop grand: crainte de ne savoir résister au dernier mot, à la dernière réplique).» Vgl. den Überblick über den Forschungsstand zum incipit und die unterschiedlichen Interpretationsansätze zum Textbeginn in Giuliana Adamo: Twentieth-Century Recent Theories on Beginnings and Endings of Novels. In: Annali d’Italianistica (Chapel Hill) XVIII (2000), S. 49–76. Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, Bd. III, S. 167. Ebda. Ebda., S. 166 f: «Le fragment (comme le haïku) est torin; il implique une jouissance immédiate: c’est un fantasme de discours, un bâillement de désir. Sous forme de pensée-
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Die écriture courte erlaubt ein Schreiben aus der Bewegung, ein Schreiben an unterschiedlichen Orten, die gleichsam laterale, aber vor allem rasch umsetzbare Einflüsse oder Veränderungen hervorrufen. Auch hier spielen Unmittelbarkeit, Geschwindigkeit und Mobilität eine wichtige Rolle bei der beständig wiederholten Lust am Anfang(en) – eine Lust, die im Übrigen auch auf der Ebene der Theorie in den Mikrotexten von Le Plaisir du texte fruchtbar gemacht wird. In diesem Sinne sind nicht nur jene Mikrotexte, mit Hilfe derer Roland Barthes Erlebnisse und Reflexionen seiner Reisen nach Griechenland, Marokko oder Japan festhielt, im Sinne des Titels seiner postum veröffentlichten Incidents Schreibformen des Diskontinuierlichen und des ständig in einen kontinuierlichen Zeitablauf Einschneidenden. Vielmehr sind gerade auch die theoretischen Entwürfe Barthes’ immer als incidents lesbare Mikrotexte der Theorie, die ihre spezifische Wirkung durch ihre von vielen intratextuellen Verweisen gestützte Vielverbundenheit, ihre oft mehrdeutige Form semantischer wie begrifflicher Kondensierung und ihre daraus entstehende mobile Kombinatorik erzeugen. Die écriture courte zielt nicht auf eine kontinuierliche Linie, sondern auf mobile, immer wieder neue Verbindungen und Diskontinuitäten erzeugende dynamische Netzstrukturen. Durch die Kombinatorik kurzer Theorietexte entstehen multirelationale Theorieformen, die sich freilich jeglicher Anordnung zu einem ein für allemal fixierten System widersetzen. Die Epistemologie der écriture courte steht somit in einem spannungsreichen Verhältnis zur écriture courte der Epistemologie.
Fraktal und Archipel-Wissenschaft Dies bedeutet nicht, dass sich eine als Nanophilologie konstituierende Wissenschaft notwendigerweise einer mikrotextuellen Schreibweise bedienen müsste. Doch scheint es mir von großer Tragweite zu sein, dass sich eine nanophilologisch ausgerichtete Literaturwissenschaft ebenso auf der Objekt- wie auf der Analyseebene jenen Formen der Theoriebildung zuwendet, die sich auch der écriture courte bedienen. Dass es auf diesem Gebiet Hybridformen geben kann, welche die Möglichkeiten des discours continu eines umfangreichen und kontinuierlich zu lesenden Buches mit der strukturellen Offenheit einer vielfältig kombinierbaren Vernetzung mikrotextueller Theorieteile zu verbinden suchen, ist ein wichtiger Aspekt für die (zum Teil experimentelle) Erweiterung der Schreibformen literaturwissenschaftlicher Analysen. Auch auf diesem Gebiet kann eine sich als Literaturwissenschaft verstehende Philologie durchaus auf literarische Modelle zurückgreifen, wie sie etwa ein in unterschiedlichen Kapitelsequenzen und immer wieder umkehrender Lektürerichtung lesbarer Roman wie Julio Cortázars Rayuela darbietet. Gelingt es den Philologien, die ‘Baupläne’ der Literatur nicht nur zu studieren, sondern auch in ihre eigenen Analysemethoden und Darstellungsformen kritisch reflektiert zu ‘übersetzen’, dann eröffnen sich ihnen hier zahlreiche neue methodologische Felder für die Untersuchung literarischer Texte wie für eine dynamische (Selbst-) Reflexion des philologischen Fächerspektrums insgesamt.
––––––– phrase, le germe du fragment vous vient n’importe où: au café, dans le train, en parlant avec un ami (cela surgit latéralement à ce qu’il dit ou à ce que je dis) […].»
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In diesem Sinne ließe sich die Nanophilologie weniger als eine durchgängig systematisierte Teildisziplin denn als ein Ensemble offener und vielfältig miteinander verflochtener Theoriekerne verstehen. Die Tatsache, dass es sich bei den Mikroerzählungen und Mikrofiktionen um literarische Formen handelt, die sich in Hispanoamerika und damit außerhalb Europas in besonders intensiver und kreativer Weise entwickelt haben, bietet die große Chance, einen Theoriebereich nicht wie so oft von bestimmten europäischen Modellen und damit von einer begrenzten Zahl an Nationalliteraturen aus aufzubauen, sondern von Beginn an transareale, das heißt unterschiedliche kulturelle Areas miteinbeziehende und querende Aspekte in den Vordergrund der Forschung wie der Diskussion zu rücken. Insofern sollte es auf diesem Theoriefeld weder vorbildgebende Normierungen noch Hierarchisierungen geben, sondern vielmehr den methodologisch fundierten Versuch, verschiedenartige Logiken der transareal zwar ineinander verwobenen, aber unterschiedlichen Entwicklungssträngen zugehörigen Schreibformen miteinander in Verbindung zu bringen und zusammenzudenken. Dadurch könnten die Grundlagen eines Bewusstseins für das Entstehen multilogischer ArchipelStrukturen geschaffen werden, wie sie das hochkomplexe, durch vielfältigste Übersetzungsprozesse geprägte Verflochtensein der Literaturen der Welt heute charakterisieren. Für ein Selbstverständnis als Archipel-Wissenschaft ist eine sich als transareal begreifende Romanistik zweifellos bereits sensibilisiert: Gerade in dieser im Grunde transversal angelegten Disziplin liegen Potentiale, die es in der äußerst angespannten wissenschafts- und hochschulpolitischen Situation unserer Tage möglichst rasch zu entfalten gilt.39 Um diese großen Chancen zu erkennen, bedarf es – anders als in den Nanowissenschaften – keines Rastertunnelmikroskops: Es ist an der Zeit, die Eigen-Logik der Literatur als komplex verflochtene offene und viellogische Strukturierung zu begreifen. Nanophilologie hat es in grundlegender Weise mit fraktalen Mustern zu tun. Dabei soll – anders als bei Lauro Zavala – das Fraktal nicht mit dem Detail gleichgesetzt und als «unidad narrativa que sólo tiene sentido en relación con la serie a la que pertenece»40 missverstanden werden. Es gilt vielmehr, in Anlehnung an den Mathematiker Benoît B. Mandelbrot eine fraktale Geometrie der Literatur zu durchdenken. Mandelbrot hatte zur Erläuterung fraktaler Strukturen aus gutem Grund vielfach auf das Beispiel der Insel zurückgegriffen, um eine «Morphologie des ‘Amorphen’»41 ins Werk und in Szene zu setzen. Diese sollte es erlauben, jenseits einer euklidischen Geometrie eine fraktale Geometrie zu entwickeln, innerhalb derer die Selbstähnlichkeit und zugleich die virtuelle Unendlichkeit fraktaler
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Vgl. hierzu das Abschlusskapitel ‘Konfigurationen: Sechs Thesen zum Entwurf einer Romanistik als Archipel-Wissenschaft’ in Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben, S. 265–277. Lauro Zavala: Fragmentos, fractales y fronteras: género y lectura en las series de narrativa breve. In: Revista de Literatura (Madrid) LXVI, 131 (enero–junio 2004), S. 19. Benoît B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur. Herausgegeben von Ulrich Zähle. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhilt Zähle und Ulrich Zähle. Basel – Boston: Birkhäuser Verlag 1987, S. 13.
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Strukturen von entscheidender Bedeutung sind. Wie in einem modèle réduit (Claude Lévi-Strauss) oder einer mise en abyme (André Gide) bündeln und enthalten fraktale Muster die Gesamtheit einer Struktur, für die sie zugleich wie ein struktureller und semantischer Schlüssel wirken. Die fraktale Strukturierung von (gelungenen) Mikroerzählungen geht nicht nur über die Kontinuitäten einer gleichsam euklidischen literarischen Geometrie auf Produktions- wie Rezeptionsebene hinaus; sie erzeugt vielmehr dank ihrer höchsten Verdichtung Verweissysteme, bei denen die flashbacks und flashforwards nicht nur auf eine kotextuelle, also innerhalb eines bestimmten Buches angeordnete (z.B. serielle) Gesamtheit von Microrrelatos verweisen. Sie können als fraktale Mikroerzählungen vielmehr zu mises en abyme umfangreicher Erzähltexte werden, die keine fixierte schriftliche Existenz besitzen, sondern dank eines intensiven Leseprozesses von einer aktiven Leserschaft virtuell generiert werden. Selbstähnlichkeit, virtuelle Unendlichkeit und radikale Diskontinuität hochverdichteter Erzählformen schaffen auf diese Weise imaginäre Erzähltexte, die jenseits der eigenen Textgrenzen durch die Anregung und relative Steuerung kreativer Lektüreprozesse geschaffen werden. Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore hat als serielle Struktur unterschiedlicher Romananfänge die kreative Kraft einer Legetik durchgespielt, in der sich mehr oder minder kurze Romananfänge, die alle zentralen Isotopien eines umfangreichen (wenn auch imaginären) Erzähltextes bündeln, im Kopf ihrer Leserinnen und Leser in weitläufige (wenn auch niemals zu vervollständigende) Romanstrukturen verwandeln. So kann die fraktale Dimension von Mikroerzählungen eine narrative Morphologie des Amorphen hervorbringen. Im Sinne einer Grundlagenforschung könnten sich nanowissenschaftliche Untersuchungen durchaus als fraktale Formen der Theoriebildung begreifen, insofern sie in der Lage sein sollten, in hochverdichteten Erzählkernen fraktale (und plurale) Muster des Erzählens überhaupt herauszuarbeiten und hervortreten zu lassen. Dies bedeutet – wie bereits betont – keineswegs, dass sich die Nanophilologie selbst hochverdichteter fraktaler Schreibweisen bedienen müsste, wohl aber, dass sie – zumindest im Sinne einer künftigen Zielstellung – in der Lage sein sollte, derartige fractal patterns auf der Ebene der Theoriebildung argumentativ zu erzeugen und zu entfalten. Insofern könnte die Nanophilologie zu einer transarealen Archipel-Wissenschaft werden, deren Theorie-Fraktale diskontinuierliche und viellogische Strukturierungen bilden. Es ist daher dringlich, eine derartige nanophilologische Grundlagenforschung aufzubauen.
Von der Inzidenz der Incidencias Mikroerzählungen und Mikrofiktionen bevorzugen in der Regel eine in medias resTechnik als narrative Eröffnungsstruktur. Ereignisse und Vorkommnisse schneiden sich oft – wie in Monterrosos ‘El dinosaurio’ – in ein (zeitliches) Kontinuum ein, tauchen in diesem Sinne wie Incidents auf, so dass der von Roland Barthes für seine Sequenz von Mikrof(r)iktionen gewählte Titel sehr wohl eine überzeugende epistemologische Qualität besitzt.
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Es überrascht vor diesem Hintergrund keineswegs, dass sich in David Lagmanovichs Los cuatro elementos auch eine Serie von wiederum 19 Microrrelatos findet, die unter den Titel ‘Incidencias’ gestellt wurden. Die siebte dieser ‘Incidencias’ trägt den Titel ‘Esa mirada’ und sei hier im vollen Textumfang zitiert: Dieser Blick Mich beeindruckte dieser Blick, den mir die Frau – von ihrem Äußeren her indigen, untersetzt, unförmig, schmutzig – zuwarf, als wir uns auf der Straße über den Weg liefen und ich vielleicht eine Sekunde zögerte, ihr den Vortritt zu lassen. Ich dachte: Bin ich schuld daran, weiß zu sein? Ich kenne diese Geste, diesen finsteren, mehr oder minder schrägen Blick, der Verärgerung, Neid, Trostlosigkeit und Hass übersetzt. Es ist der Blick des Kollegen an der Universität, wenn ich ihm erzähle, dass ich soeben ein Buch veröffentlicht habe; des Journalisten, dem es nicht gelingt, mich das sagen zu lassen, was er will; der Frau, die eine näher kommende Frau im Verdacht hat; des Bruders, der sich beiseite gedrängt fühlt; von Kain, letztlich. Mit diesen Blicken, die allesamt todbringend sind, verglichen, ist jener der Indianerin geradezu harmlos. Gleichwohl ließ er 42 mich schaudern.
Das den Microrrelato gleichsam auslösende, das incipit prägende und am Ausgang des Erzähltextes wieder auftauchende einschneidende Ereignis ist der Blick einer wohl indigenen Frau, die dem offenkundig kontrastiv zu ihr konstruierten IchErzähler einen Blick zuwirft, der im Mittelteil des Microrrelato wiederum andere Blicke aufruft – eine Strukturierung, der man eine pointierte Selbstähnlichkeit und potentielle Unendlichkeit kaum absprechen kann. Die fraktal angelegte und daher prinzipiell offene Liste vergleichbarer Blicke entfaltet die Beziehung zwischen dem auf der Ebene der Rahmenerzählung eingeführten Augen-Blick und den (mehr oder minder großen) Gefühlen des Neides, der Eifersucht, des Hasses, der Verzweiflung oder gar des Brudermords. Das sogenannte Rebecca-Motiv der Zufallsbegegnung, das hier jenes in Baudelaires ‘A une passante’ so folgenreich eingeführte Zusammentreffen des lyrischen Ich mit einer schönen jungen Frau in sein noch wiedererkennbares Negativ verkehrt, hinterlässt beim Erzähler-Ich Spuren, die durch die Abfolge vergleichbarer Blicke nicht verwischt, sondern augenblicklich noch vertieft werden. Die Verzögerung der höflichen Geste, mit der das männliche dem weiblichen Subjekt den Vortritt lässt, wird – so scheint der Erzähler sich zu fragen – von der schmutzigen, in der sozialen Hierarchie weitaus tiefer als der Erzähler situierten und durch ihre
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David Lagmanovich: Esa mirada. In (ders.): Los cuatro elementos, S. 39: «Esa mirada – Me impresionó esa mirada, la que me echó la mujer de aspecto indígena, retacona, deforme, sucia cuando nos cruzamos en la calle y tal vez demoré un segundo en cederle el paso. Pensé: ¿tendré yo la culpa de ser blanco? Conozco ese gesto, la torva mirada más o menos transversal, que traduce fastidio, envidia, desolación y odio. Es la mirada del colega universitario cuando le cuento que acabo de publicar un libro; la del periodista que no consigue hacerme decir lo que él quiere; la de la mujer que sospecha de otra mujer que se aproxima; la del hermano que se siente desplazado; la de Caín, en fin. Comparada con esas miradas, todas letales, la de la indígena es hasta inofensiva. Pero igual me hizo estremecer.»
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Difformität gekennzeichneten indianischen Frau als ein Zeichen ihrer Deklassierung gedeutet und mit einem Blick beantwortet. Der Augenblick der Außerkraftsetzung konventioneller ‘Vorfahrtsregeln’ zwischen den Geschlechtern erzeugt mithin den inzidenten, einschneidenden Augen-Blick der anonymen Frau. Das «ser blanco» akzentuiert nicht nur eine ethnische, sondern zugleich eine soziale Differenz, wobei der Weiße zugleich auch zur Zielscheibe (span. blanco) jenes Blickes wird. Die geschlechterspezifische Geste der Höflichkeit markiert eine Semantik des Zusammenlebens, die – wie die «mirada más o menos transversal» belegt – von Differenzen gequert wird, die eine friedliche, auf der Akzeptanz des Anderen beruhende convivencia vorübergehend oder dauerhaft stören (wenn auch nicht gänzlich außer Kraft setzen). Der sich anschließende erste Vergleich mit dem Blick des Kollegen an der Universität, der erfährt, dass das Ich (schon wieder) ein neues Buch veröffentlicht habe, situiert das Erzähler-Ich nicht nur in einem unverkennbar – und wahrlich leicht wiedererkennbaren – universitären Milieu, übersetzt die Frage des Zusammenlebens aber nun in den Raum universitärer Kollegialität. Geht hier die Aktivität (in Form der Publikation) vom Ich aus, so findet sich im folgenden Beispiel das Ich in einer Verweigerungshaltung, da es nicht sagt, was der Journalist von ihm hören will. Eine dritte gleichgeschlechtliche Beziehung baut sich bei der Protagonistin des nachfolgenden Erzählkerns mit der nur angedeuteten aufkommenden Eifersucht auf eine potentielle Rivalin auf. Über die Erwähnung des Stereotyps vom Bruder, der aus der ihm angestammten Stellung verdrängt wird, erfolgt eine geradezu kosmische Ausweitung des Themas hin zum Brudermord des Kain an Abel, in dem das Verfahren semantischer Verdichtung durch explizite intertextuelle Verweisstrukturen deutlich vor Augen tritt. Auch dies ist eine gleichgeschlechtliche und durch keine sozialen oder ethnischen Asymmetrien gekennzeichnete Beziehung, die anders als die zuvor aufgeführten jedoch in einem Blutbad, in einem Brudermord endet. Der in dieser Abfolge intendierte Klimax ist ganz offensichtlich, vermag aber den nunmehr als geradezu ‘inoffensiv’ charakterisierten Blick der Frau nicht in den Hintergrund zu rücken und damit zu verdrängen. Im Gegenteil: Die Bewegung des gesamten an winzigen, fast unmerklichen Blickbewegungen interessierten Microrrelato zielt auf die Bewegtheit, die Emotion des Ich-Erzählers und sein «estremecer» am Ende ab. Motion und Emotion werden am Ausgang der Mikroerzählung vorsätzlich enggeführt. Auf allen Ebenen geht es um Formen und Probleme des Zusammenlebens: im universitären Umfeld, im Kontext einer lesenden Öffentlichkeit, in den Geschlechterbeziehungen oder den internen Familienbeziehungen. Sieht man vom biblischen Brudermörder Kain einmal ab, dann erhält keine der im Text skizzierten Figuren einen Namen. Es handelt sich in einem ganz grundsätzlichen Sinne um Figuren eines problematischen Zusammenlebens, das in David Lagmanovichs Microrrelato zu einem ZusammenLebensWissen – als Wissen von einem defizienten, stets prekären und von Hassgefühlen bedrohten Zusammenleben – gerinnt. In der nur durch die explizite Namensnennung aufgerufenen mythisch-biblischen Erzählung von Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, werden die Gefährdungspotentiale all dieser Formen des Zusammenlebens aufgezeigt. Und mag der Blick der indigenen Frau auch eher «inofensiva» gewesen sein: Da es an Respekt vor dem
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Anderen und vor der Differenz des Anderen mangelt, ist das Umschlagen in große zerstörerische Gefühle – und damit die Aufkündigung einer friedvollen convivencia – jederzeit möglich. Brudermord ist überall. Wie das Rebecca-Motiv der Zufallsbegegnung, die sich als flüchtiges Zusammentreffen zu keinem Zusammenleben hin öffnet, blendet auch das biblisch tradierte Kainszeichen nicht nur eine lange literarhistorische und kulturgeschichtlich zu präzisierende Filiation ein, sondern macht in narrativer Form auf die Grenzen des Zusammenlebens aufmerksam. Die Frage nach der Schuld daran, zur Zielscheibe eines virulent gewordenen Bewusstseins der Differenz geworden zu sein, scheint sich nicht zu stellen: Nicht viel mehr als eine Geste, nicht viel mehr als ein Blick vermögen es, ein gewaltfreies Miteinander aufzuheben und hinein in eine Spirale eventueller Eskalation zu treiben. Die Möglichkeiten gewaltsamen Eingreifens deuten sich nur durch kleine Blicke, winzige tropismes, unmerkliche (Augen-) Bewegungen an. Und doch scheint der Mensch mit dem Kainszeichen markiert und aus der geschichtslosen Zeit eines paradiesischen Zusammenlebens für immer vertrieben zu sein. So lässt sich die Erschütterung des Ich verstehen: Jedes Zusammenleben ist notwendig geschichtlich, sozial, kulturell und geschlechtlich konnotiert, und jedes Zusammenleben lässt sich allein auf der Basis einer solchen Geschichte denken. Der Katalog der unterschiedlichen Räume, Institutionen und Formen eines möglichen Zusammenlebens enthält die Erzählkerne möglicher umfangreicher Erzähltexte, die uns von einem Dozenten künden mögen, der umgebracht wurde, weil er zuviel veröffentlichte, oder uns von einer Frau berichten, die die imaginäre Geliebte ihres Mannes schließlich niederstach. Die eine Geschichte mag so banal und alltäglich scheinen wie die andere: Eben dies ist intendiert. Das narrative, von Mikrobewegungen angestoßene Grundmuster, das letztlich im immer gleichen erzähltechnisch orchestrierten alltäglichen Zusammenleben zum Ausdruck kommt, entfaltet stets eine Selbstähnlichkeit der Beziehungen und der Geschichten, die in einem doppelten Sinne in eine mise en abyme führen: in die fraktale Struktur und in den Abgrund eines menschlichen Zusammenlebens im Zeichen Kains. Wozu dann noch die Erzählkerne entfalten, die Geschichten erzählen, die doch längst, seit jener von «Caín, en fin», erzählt sind? Und doch erzählt David Lagmanovichs Microrrelato eine neue Geschichte, die allerdings weiß, dass sie uns alte Geschichten zu Gehör bringt. Eben darum erzeugt ihr fraktales Muster eine Art mikrotextueller Projektion, die darauf abzielt, uns das Alte in höchster Konzentration und Dichte so zu erzählen, dass es zu einer neuen, fraktalen Geschichte gerinnt und zugleich ein mögliches Grundmuster des menschlichen Zusammenlebens freilegt: Ein Blick, aus dem der Hass spricht, steht für alle Blicke – oder um es mit einer abgewandelten Formel Julio Cortázars zu sagen: Todas las miradas la mirada. So wird aus der Inzidenz eines zufälligen Blickes ein fraktaler Augen-Blick konstruiert, aus dem sich gleichsam alle anderen parallelen Augen-Blicke und Augenblicke generieren lassen. Der Microrrelato – und mit ihm eine sich in ihm verdichtende Literatur – zeichnet seismographisch jene winzigen Zeichen auf, die nach dem Augenblick der Zufallsbegegnung im ‘wirklichen Leben’ unausweichlich wieder verloren gegangen wären. Die Aufzeichnung der Blickbewegungen aber
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legt die komplexen Verstehensbewegungen der so unterschiedlichen Protagonisten wie der Erzählerfigur frei. Auf diese Weise entstehen aus einem Leben viele parallele Leben, die erst dadurch, dass sie gleichsam übereinandergelegt werden, zu verstehen geben, welche Potentialitäten sich in ihnen – und hinter so alltäglichen Situationen wie den in diesem Microrrelato dargestellten – verbergen. Die Literatur vermag es, von einem einzigen Augen-Blick ausgehend gleichsam experimentell ihr Lebenswissen zu entfalten und die winzigsten Blickbewegungen ins Bewusstsein ihrer Leserschaft zu heben. Die in ‘Esa mirada’ entfalteten Blicke lassen jenes ÜberLebensWissen und ZusammenLebensWissen der Literatur entstehen, das die in Argentinien geborene Autorin Esther Andradi, die in einer gemeinsam mit David Lagmanovich durchgeführten Lesung das Potsdamer Mikro-Symposium zur Nanophilologie beschloss, in der Eröffnung ihres zweisprachigen Miniaturen-Bandes Sobre Vivientes / Über Lebende mit Blick auf die Rückkehr zum Ursprung wie folgt formulierte: Allein die Rückkehr vervollständigt das Leben, sagen die altehrwürdigen Bücher. Darum sprechen diese Texte – jetzt, da es angesagt ist, aufzubrechen – von der Rückkehr. Von Schmerz, von Kummer, von Sarkasmus, von Freude und dem Rätsel der Rückkunft. Denn wer könnte mit Gewißheit sagen, wie viele Leben es braucht, um das Abenteuer 43 einer Rückkehr zum Ursprung zu runden?
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Esther Andradi: Sobre Vivientes/Über Lebende. Miniaturas/Miniaturen. Übersetzt von Margrit Klingler-Clavijo. Nachwort der Autorin. Klappentext von Osvaldo Bayer. Zürich: teamart Verlag 2003, S. 8: «Sólo el retornar nos completa la vida, dicen los libros antiguos. Por eso, ahora que está de moda partir, estos textos hablan del volver. Del dolor, la desazón, el sarcasmo, la alegría y el enigma del regreso. Porque, ¿quién podría saber con certeza cuántas vidas se necesitan para redondear la aventura de una vuelta al origen?»
Autoren Esther Andradi Argentinische Schriftstellerin und Essayistin. Wohnhaft in Berlin. Email: [email protected] http://www.andradi.de/ Anja Bandau Junior-Professorin für Lateinamerikanistik. Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Email: [email protected] http://www.lai.fu-berlin.de/institut/mitarbeiterinnen Christiane Bohn Promotions-Studentin am Lehrstuhl für Kognitive Psychologie. Institut für Psychologie, Universität Potsdam. Email: [email protected] http://www.psych.uni-potsdam.de/people/bohn/index-d.html Ottmar Ette Professor für französisch- und spanischsprachige Literaturen. Institut für Romanistik, Universität Potsdam. Email: [email protected] http://www.uni-potsdam.de/romanistik/ette Andreas Gelz Professor für Romanische Philologie. Romanisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Email: [email protected] http://www.romanistik.uni-freiburg.de/gelz Reinhold Kliegl Professor für Kognitive Psychologie. Institut für Psychologie, Universität Potsdam. Email: [email protected] http://www.psych.uni-potsdam.de/people/kliegl Tobias Kraft Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für französisch- und spanischsprachige Literaturen. Institut für Romanistik, Universität Potsdam. Email: [email protected] http://www.uni-potsdam.de/romanistik/ette/kraft David Lagmanovich Professor (em.) für hispanoamerikanische Literaturen. Departamento de Letras, Universidad Nacional de Tucumán. http://www.filo.unt.edu.ar/deptos/depto_letras.htm Julio Prieto Literaturwissenschaftler, Alexander-von-Humboldt-Stipendiat am Institut für Romanistik, Universität Potsdam. Email: [email protected] http://www.malescribir.de
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Autoren
Yvette Sánchez Professorin für Spanische Sprache und Literatur. Kulturwissenschaftliche Abteilung, Universität St. Gallen. Email: [email protected] http://www.kwa.unisg.ch/org/kwa/web.nsf/wwwPubInhalteGer/Spanische+Sprache+und+ Literatur?opendocument Fernando Valls Professor für spanische Literatur. Departamento de Filología Española, Universitat Autónoma de Barcelona. Email: [email protected] http://seneca.uab.es/files/index.html Marcel Vejmelka Postdoc-Stipendiat am International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-LiebigUniversität Giessen. Email: [email protected] http://www.vejmelka.de/marcel/