Sprache und Raum in der Romania: Fallstudien zu Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien 9783110407136, 9783110406924, 9783110407242

The study examines the connections between language and space, focusing on “linguistic territoriality.” The author discu

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German Pages 354 [356] Year 2015

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Fragestellung und Zielsetzung
1.2 Untersuchungsobjekt: assoziative Raumbezüge von Sprache
1.2.1 Sprecher und Sprechergemeinschaft
1.2.2 Raumbegriffe
1.2.3 Sprache und Sprechen
1.3 Aufbau der Arbeit
1.4 Methodologie und Vorgehen
1.5 Forschungsstand
2. Referieren auf «Sprachräume»
2.1 Referenzsemantik und Kognition
2.2 Referieren im Alltag
2.3 Referieren in politisch-juristischen Zusammenhängen
2.4 Referieren im linguistischen Diskurs
2.4.1 Gesamtlinguistisches Panorama
2.4.2 Sprachgeographische Terminologie
2.4.3 Soziolinguistische Begriffe
2.4.4 Zum Dialektbegriff (Exkurs)
2.5 Fazit: Sprachlicher Raumbezogenheit im Denken und in der Sprache
3. Die Indexikalität des Sprechens und ihre Konzeptualisierung
3.1 Indexikalität und Raumbezogenheit
3.1.1 Formen der Indexikalität von Sprache
3.1.1.1 Ortsnamen und Schilder
3.1.1.2 Deixis
3.1.1.3 Karten: Ikonizität und Indexikalität
3.1.1.4 «Markiertes Sprechen»: Indexzeichen
3.1.2 Die «Indexikalität des Sprechens»
3.1.2.1 Sprechereignisse als räumlich-zeitlich verankerte Handlungen
3.1.2.2 Sprechereignisse als indexikalisierbare Handlungen
3.1.2.3 Indexikalisierung in der Schriftkommunikation
3.1.2.4 Zusammenfassend
3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie
3.2.1 Vom indexikalischen Sprechen zur mentalen Repräsentation
3.2.2 Von der gegebenen Realität zum gedachten Zusammenhang
3.2.3 Das menschliche Wahrnehmungsvermögen und die Exteriorität der Sprache
3.2.4 Die Prinzipien der kognitiven Verarbeitung
3.2.4.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen
3.2.4.2 Assoziationsprinzipien
3.2.4.3 Indexikalität und Kontiguität des Sprechens
3.2.4.4 Syntopie und Similarität des Sprechens
3.2.4.5 Diatopie und Kontrast des Sprechens
3.2.5 Weitere wahrnehmungsinterne und -externe Faktoren
3.3 Fazit
4. Die «autochthone Sprache»: Zu den Prämissen sprachlicher Territorialität
4.1 Die gesellschaftlichen Hintergründe der Verknüpfung von Sprache und Gebiet
4.2 Siedlungsgeographie, Raumbezug und Historizität
4.2.1 Die Verknüpfung von Mensch und Boden
4.2.2 Gebietsanspruch und Autochthonie
4.2.2.1 Begriffsgeschichte
4.2.2.2 Relevanz in Gegenwartsdiskursen
4.2.2.3 Zeitliche Problematik
4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache»
4.3.1 Kontexte
4.3.2 «Autochthone» Sprechergemeinschaften
4.3.3 Abgrenzung: «… ni les langues des migrants»
4.4 Fazit
5. Sprachliche Territorialität: Zur Projektion sprachlicher Praxis auf den Raum
5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium
5.1.1 Gegebener, gedachter und repräsentierter Raum
5.1.2 Der Begriff der Territorialität
5.1.2.1 Territorialität als Strategie einer Gemeinschaft
5.1.2.2 Territorialität im individuellen Interaktionsverhalten
5.1.2.3 Territorialität im Handeln von Institutionen
5.1.3 Territorium und Territorialisierung
5.1.4 Operationalisierung
5.1.5 Zusammenfassend
5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium
5.2.1 Sprachliche Territorialität
5.2.1.1 Die Territorialität der Sprechergemeinschaft
5.2.1.2 Die Territorialität der Sprache
5.2.2 Das sprachliche Territorium
5.2.2.1 Diskursive Sprachgebietskonstruktionen
5.2.2.2 Abgrenzung und Markierung des Raums
5.2.2.3 Abgrenzung und Markierung im Raum
5.2.3 Die Perspektive der Sprecher
5.2.3.1 Die Sprecher und die Territorialität der Gemeinschaft
5.2.3.2 Die Sprecher und das sprachliche Territorium
5.2.4 Zusammenfassend
5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace»: Die Konstruktion sprachlicher Arealität (Exkurs)
5.3.1 Sprache und Geographie
5.3.2 Die Konstitution sprachlicher Arealität
5.3.3 Arealität und Territorialität
5.4 Fazit
6. Sprachliche Territorialität und Sprachplanung: Fallstudien zu Sprachgebietskonzepten in der Romania
6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken
6.1.1 Sprachliche Präsenz
6.1.1.1 Die «historische Präsenz» der Sprache
6.1.1.2 Die «aktuelle Präsenz» der Sprache
6.1.2 Präsenz und Markierung in der Sprachenschutzkonzeption der Charta
6.2 Sprachgebietskonzepte und sprachliche Territorialität: Fallstudien
6.3 Belgien: Politisch-juristische Territorialität und sprachliche Realität im Widerstreit
6.3.1 Die Fixierung der Sprachgebiete
6.3.2 Frankophone Mehrheiten und autochthone Flamen
6.4 Frankreich: Regionalsprachen als nationales patrimoine ohne Gebiet?
6.4.1 Französische Staatstheorie und sprachliche Territorialität
6.4.2 Exklusivität der Territorialität des Französischen
6.4.3 Regionalsprachen ohne Sprechergemeinschaften?
6.4.4 Regionalsprachen als nationales Kulturgut
6.4.5 Sprachen ohne Gebiet? – Die langues de la France
6.5 Schweiz: Land «aux zones de diffusion traditionnelles des langues»
6.5.1 Die territoriale Organisation der Viersprachigkeit in der Schweiz
6.5.1.1 Die territoriale Gebietsbezogenheit der Landessprachen und ihre Konstruktion
6.5.1.2 Dynamische Sprachgebiete und «angestammte sprachliche Minderheiten»
6.5.2 Schwindende Sprecherdichte vs. statische Autochthonie: Rätoromanisch
6.5.3 Der Streit um die «terre bilingue»: Fribourg/Freiburg
6.6 Spanien: Politische Regionalisierung und sprachliche Territorialisierung
6.6.1 Die Raumbezogenheit der spanischen Sprachen
6.6.1.1 Identität vs. Alterität: Das Konzept der «llengua pròpia»
6.6.1.2 Die territoriale Gebietsbezogenheit der spanischen Regionalsprachen
6.6.1.3 Die Autochthonie der spanischen Regionalsprachen
6.6.2 Die Reterritorialisierung der spanischen Regionalsprachen
6.6.2.1 Die Restitution der autochthonen Ortsbezeichnungen
6.6.2.2 Die Gestaltung des linguistic landscape
6.6.3 Territorialitäten im Konflikt: Kastilisch vs. Katalanisch
6.6.3.1 Das Problem der llengua d’ús normal i preferent
6.6.3.2 Einsprachige Verkehrsschilder und multas lingüísticas
6.7 Fazit: Sprachliche Territorialität als Konfliktherd
7. Schlussbetrachtung
8. Bibliographie
8.1 Dokumente
8.1.1 Internationale Organisationen
8.1.2 Dokumente zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen
8.1.3 Belgien
8.1.4 Frankreich
8.1.5 Schweiz
8.1.6 Spanien
8.2 Zeitungsartikel
8.3 Literatur
Abbildungsverzeichnis
Sachregister
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Sprache und Raum in der Romania: Fallstudien zu Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien
 9783110407136, 9783110406924, 9783110407242

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Felix Tacke Sprache und Raum in der Romania

Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie

| Herausgegeben von Claudia Polzin-Haumann und Wolfgang Schweickard

Band 395

Felix Tacke

Sprache und Raum in der Romania | Fallstudien zu Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

ISBN 978-3-11-040692-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040713-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040724-2 ISSN 0084-5396 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band stellt die aktualisierte und leicht gekürzte Fassung meiner Dissertation dar, die im Sommersemester 2014 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn angenommen wurde. Das Thema dieser Arbeit ist im Rahmen der Untersuchungen rund um die Anwendung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen entstanden, mit denen ich von meinem Doktorvater und Lehrer Franz Lebsanft zunächst an der Ruhr-Universität Bochum, später hier in Bonn betraut wurde. Nicht nur für die Ermutigung zu diesem Promotionsvorhaben, die Inspiration und den regelmäßigen Austausch, sondern auch für das große Vertrauen und die – in jeder Hinsicht – herausragende Förderung, die ich als sein Schüler und als Assistent am Lehrstuhl genießen durfte, gebührt ihm mein größter Dank. Danken möchte ich auch Daniela Pirazzini für die Erstellung des Zweitgutachtens sowie den Mitgliedern der Prüfungskommission, Wiltrud Mihatsch und Paul Geyer. Der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz danke ich für die Entscheidung, diese Arbeit mit dem Preis der Kurt-Ringger-Stiftung auszuzeichnen. Claudia Polzin-Haumann und Wolfgang Schweickard bin ich für die Aufnahme in die Reihe der Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie dankbar. Ganz besonders möchte ich mich auch bei Ulrike Krauß, Christine Henschel und Lena Ebert für die exzellente Betreuung bei der Drucklegung bedanken. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Für viele anregende Diskussionen, nicht zuletzt auch im Rahmen des Doktorandenkolloquiums, die Hilfsbereitschaft und die schöne gemeinsame Zeit gilt mein Dank darüber hinaus meinen lieben Kolleginnen Désirée Cremer und Anne Real sowie meinem guten Freund Christian Markopoulos. Für die zahlreichen gemeinsamen Schreibstunden und die Hilfe bei der Korrektur der Endfassung danke ich meinem «cher ami» Frank Reza Links. Des Weiteren bin ich Thea Göhring und Sebastian Greußlich für die Unterstützung bei der Korrektur einzelner Kapitel dankbar. Für die zeitaufwendige Korrektur der gesamten Arbeit sowie ihre liebevolle Unterstützung in allen Lebenslagen gilt mein besonderer Dank Sarah Duschka. Schließlich möchte ich meine Dankbarkeit auch gegenüber denjenigen ausdrücken, die mich ideell und aus dem Hintergrund unterstützt haben: Klaus Cordes, der zu Schulzeiten meine Begeisterung für die Romanistik geweckt hat und dem ich mich seither in Freundschaft verbunden fühle, sowie meinen Eltern für ihren Rückhalt und die stetige, bedingungslose Unterstützung auf meinem Weg. Ihnen widme ich dieses Buch. Bonn, im Juni 2015

Felix Tacke

Inhaltsverzeichnis Vorwort | V 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.4 1.5

Einleitung | 1 Fragestellung und Zielsetzung | 1 Untersuchungsobjekt: assoziative Raumbezüge von Sprache | 7 Sprecher und Sprechergemeinschaft | 7 Raumbegriffe | 9 Sprache und Sprechen | 11 Aufbau der Arbeit | 12 Methodologie und Vorgehen | 12 Forschungsstand | 15

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.5

Referieren auf «Sprachräume» | 23 Referenzsemantik und Kognition | 24 Referieren im Alltag | 27 Referieren in politisch-juristischen Zusammenhängen | 32 Referieren im linguistischen Diskurs | 37 Gesamtlinguistisches Panorama | 39 Sprachgeographische Terminologie | 42 Soziolinguistische Begriffe | 45 Zum Dialektbegriff (Exkurs) | 49 Fazit: Sprachlicher Raumbezogenheit im Denken und in der Sprache | 52

3 Die Indexikalität des Sprechens und ihre Konzeptualisierung | 53 3.1 Indexikalität und Raumbezogenheit | 54 3.1.1 Formen der Indexikalität von Sprache | 55 3.1.1.1 Ortsnamen und Schilder | 55 3.1.1.2 Deixis | 58 3.1.1.3 Karten: Ikonizität und Indexikalität | 59 3.1.1.4 «Markiertes Sprechen»: Indexzeichen | 62 3.1.2 Die «Indexikalität des Sprechens» | 63 3.1.2.1 Sprechereignisse als räumlich-zeitlich verankerte Handlungen | 63 3.1.2.2 Sprechereignisse als indexikalisierbare Handlungen | 65 3.1.2.3 Indexikalisierung in der Schriftkommunikation | 66 3.1.2.4 Zusammenfassend | 67

VIII | Inhaltsverzeichnis

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.4.1 3.2.4.2 3.2.4.3 3.2.4.4 3.2.4.5 3.2.5 3.3

Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 69 Vom indexikalischen Sprechen zur mentalen Repräsentation | 69 Von der gegebenen Realität zum gedachten Zusammenhang | 72 Das menschliche Wahrnehmungsvermögen und die Exteriorität der Sprache | 73 Die Prinzipien der kognitiven Verarbeitung | 75 Erkenntnistheoretische Grundlagen | 76 Assoziationsprinzipien | 77 Indexikalität und Kontiguität des Sprechens | 78 Syntopie und Similarität des Sprechens | 79 Diatopie und Kontrast des Sprechens | 81 Weitere wahrnehmungsinterne und -externe Faktoren | 83 Fazit | 84

4

Die «autochthone Sprache»: Zu den Prämissen sprachlicher Territorialität | 87 4.1 Die gesellschaftlichen Hintergründe der Verknüpfung von Sprache und Gebiet | 89 4.2 Siedlungsgeographie, Raumbezug und Historizität | 92 4.2.1 Die Verknüpfung von Mensch und Boden | 93 4.2.2 Gebietsanspruch und Autochthonie | 97 4.2.2.1 Begriffsgeschichte | 97 4.2.2.2 Relevanz in Gegenwartsdiskursen | 100 4.2.2.3 Zeitliche Problematik | 104 4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» | 106 4.3.1 Kontexte | 108 4.3.2 «Autochthone» Sprechergemeinschaften | 110 4.3.3 Abgrenzung: «… ni les langues des migrants» | 116 4.4 Fazit | 119 5

Sprachliche Territorialität: Zur Projektion sprachlicher Praxis auf den Raum | 121 5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 124 5.1.1 Gegebener, gedachter und repräsentierter Raum | 125 5.1.2 Der Begriff der Territorialität | 126 5.1.2.1 Territorialität als Strategie einer Gemeinschaft | 128 5.1.2.2 Territorialität im individuellen Interaktionsverhalten | 130 5.1.2.3 Territorialität im Handeln von Institutionen | 131

Inhaltsverzeichnis | IX

5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.2 5.2.1 5.2.1.1 5.2.1.2 5.2.2 5.2.2.1 5.2.2.2 5.2.2.3 5.2.3 5.2.3.1 5.2.3.2 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 6

Territorium und Territorialisierung | 132 Operationalisierung | 138 Zusammenfassend | 139 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 141 Sprachliche Territorialität | 143 Die Territorialität der Sprechergemeinschaft | 144 Die Territorialität der Sprache | 148 Das sprachliche Territorium | 150 Diskursive Sprachgebietskonstruktionen | 150 Abgrenzung und Markierung des Raums | 157 Abgrenzung und Markierung im Raum | 159 Die Perspektive der Sprecher | 166 Die Sprecher und die Territorialität der Gemeinschaft | 166 Die Sprecher und das sprachliche Territorium | 172 Zusammenfassend | 175 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace»: Die Konstruktion sprachlicher Arealität (Exkurs) | 177 Sprache und Geographie | 180 Die Konstitution sprachlicher Arealität | 190 Arealität und Territorialität | 194 Fazit | 201

Sprachliche Territorialität und Sprachplanung: Fallstudien zu Sprachgebietskonzepten in der Romania | 205 6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 207 6.1.1 Sprachliche Präsenz | 208 6.1.1.1 Die «historische Präsenz» der Sprache | 210 6.1.1.2 Die «aktuelle Präsenz» der Sprache | 211 6.1.2 Präsenz und Markierung in der Sprachenschutzkonzeption der Charta | 216 6.2 Sprachgebietskonzepte und sprachliche Territorialität: Fallstudien | 222 6.3 Belgien: Politisch-juristische Territorialität und sprachliche Realität im Widerstreit | 225 6.3.1 Die Fixierung der Sprachgebiete | 227 6.3.2 Frankophone Mehrheiten und autochthone Flamen | 232 6.4 Frankreich: Regionalsprachen als nationales patrimoine ohne Gebiet? | 243 6.4.1 Französische Staatstheorie und sprachliche Territorialität | 247 6.4.2 Exklusivität der Territorialität des Französischen | 249

X | Inhaltsverzeichnis

6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.5 6.5.1 6.5.1.1 6.5.1.2 6.5.2 6.5.3 6.6 6.6.1 6.6.1.1 6.6.1.2 6.6.1.3 6.6.2 6.6.2.1 6.6.2.2 6.6.3 6.6.3.1 6.6.3.2 6.7

Regionalsprachen ohne Sprechergemeinschaften? | 251 Regionalsprachen als nationales Kulturgut | 252 Sprachen ohne Gebiet? – Die langues de la France | 254 Schweiz: Land «aux zones de diffusion traditionnelles des langues» | 257 Die territoriale Organisation der Viersprachigkeit in der Schweiz | 260 Die territoriale Gebietsbezogenheit der Landessprachen und ihre Konstruktion | 262 Dynamische Sprachgebiete und «angestammte sprachliche Minderheiten» | 267 Schwindende Sprecherdichte vs. statische Autochthonie: Rätoromanisch | 271 Der Streit um die «terre bilingue»: Fribourg/Freiburg | 281 Spanien: Politische Regionalisierung und sprachliche Territorialisierung | 285 Die Raumbezogenheit der spanischen Sprachen | 287 Identität vs. Alterität: Das Konzept der «llengua pròpia» | 288 Die territoriale Gebietsbezogenheit der spanischen Regionalsprachen | 288 Die Autochthonie der spanischen Regionalsprachen | 291 Die Reterritorialisierung der spanischen Regionalsprachen | 293 Die Restitution der autochthonen Ortsbezeichnungen | 293 Die Gestaltung des linguistic landscape | 296 Territorialitäten im Konflikt: Kastilisch vs. Katalanisch | 297 Das Problem der llengua d’ús normal i preferent | 298 Einsprachige Verkehrsschilder und multas lingüísticas | 300 Fazit: Sprachliche Territorialität als Konfliktherd | 303

7

Schlussbetrachtung | 305

8 8.1 8.1.1 8.1.2

Bibliographie | 309 Dokumente | 309 Internationale Organisationen | 309 Dokumente zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen | 309 Belgien | 310 Frankreich | 310 Schweiz | 311

8.1.3 8.1.4 8.1.5

Inhaltsverzeichnis | XI

8.1.6 8.2 8.3

Spanien | 311 Zeitungsartikel | 312 Literatur | 314

Abbildungsverzeichnis | 333 Sachregister | 335

1 Einleitung «Jedesmal, wenn ein Mensch einem anderen etwas sagt, liegt ein Sprechakt vor. Der Sprechakt ist immer konkret, findet an einem bestimmten Orte und zu einer bestimmten Zeit statt» (Trubetzkoy 1939, 5).

Sprachen auf den geographischen Raum, auf bestimmte Gebiete zu beziehen, ist nur abstrakt möglich. Konkret und beobachtbar raumbezogen ist dagegen das Sprechen. Damit sind nicht nur die lokaldeiktischen Bezüge gemeint, die in beinahe jedem Sprechakt hergestellt werden, sondern bereits der Ort seiner Produktion, wie Trubetzkoy in dem oben aufgeführten Zitat aus den berühmten Grundzügen bei seiner Abgrenzung des konkreten Sprechakts (parole) gegenüber dem abstrakten Sprachgebilde (langue) betont. Die Exteriorität der Sprache, die sich aus der Dialogizität ableitet, macht aus der Sprachproduktion eine ortsgebundene Tätigkeit. Eine Arbeit über die Zusammenhänge zwischen Sprache und (geographischem) Raum muss insofern notwendigerweise vom Sprechen ausgehen und kann erst auf dieser Grundlage die Frage nach der Verknüpfung von historischen Techniken des Sprechens (Sprachen, Varietäten) mit bestimmten Gegenden stellen. Diese letzte Frage nach der Raumbezogenheit von Sprachen erweist sich dabei als die schwierigere, denn abgesehen von Artefakten wie beispielsweise Ortsbezeichnungen und Wegweisern sind solche Zusammenhänge nicht unmittelbar beobachtbar, sondern verweisen auf Wahrnehmungen, die jenseits des menschlichen Sinnesapparates ihren Sitz im Bereich gesellschaftlich und kulturell geprägter Wirklichkeitsstrukturierungen haben. Verknüpft mit der Identität von Gruppen und Gemeinschaften werden dabei Sprachgebiete mit Siedlungsgebieten gleichgesetzt; Sprachen gehören demnach ebenso historisch zu einem Gebiet, wie ihre Sprecher dort «traditionell» siedeln. Die Sprachwissenschaft hat darin lange Zeit kein Problem gesehen; als Gilliéron die synchrone geographische Staffelung der sprachlichen Fakten kartographisch beschrieb, ging es ihm bei ihrer Analyse um die «geologische» Schichtung. Die Verknüpfung von Sprache und geographischem Raum wird seither als selbstverständlich vorausgesetzt, was auch die Prämisse der Historizität des Raumbezuges betrifft. Für Gilliéron/Roques (1907, 127s.) war entsprechend klar, dass «sprachgeologisch» betrachtet nur die ältesten Wörter von sich behaupten können: «Je suis d’ici».

1.1 Fragestellung und Zielsetzung Fragestellung und Zielsetzung Fragestellung und Zielsetzung

Der Zusammenhang zwischen Sprachen und geographischen Räumen wird gemeinhin als Sprachraum oder Sprachgebiet (fr. aire linguistique, sp. área lingüí-

2 | 1 Einleitung

stica) bezeichnet, ein durch Sprachgrenzen definiertes Gebiet, das eine Sprache «enthält». Daraus ergibt sich die Frage, wie ein solcher Raum zu denken ist. Oesterreicher (2008, 67) stellt mit Recht fest, dass Sprachen keine Räume «füllen». Sprachraum kann insofern auch kein Wort für eine konkrete Sache sein, sondern denotiert eine wirklichkeitsstrukturierende Vorstellung. Dabei handelt es sich um eine Form der Wirklichkeitsstrukturierung nach sprachlich-geographischen Gesichtspunkten, die gerade nicht nur das Objekt bzw. Resultat der linguistischen Sprachgeographie darstellt, sondern als Teil des sprachbezogenen Allgemeinwissens im erlebten Alltag vieler Menschen präsent und in der konkreten Interaktion erfahrbar ist. Solche Verknüpfungen von Sprache(n) und geographischem Raum als Vorstellung bezeichne ich im Folgenden mit dem analytischen Terminus sprachliche Raumbezogenheit. Als Teil des Alltagswissens manifestiert sich sprachliche Raumbezogenheit in Aussagen wie «Die Menschen im Rheinland sagen nicht Dorf, sondern Dorp», «Ils parlent le ch’timi, ils sont du Nord-Pas-de-Calais» oder Fragen wie «¿Cuáles son los pueblos en que se habla todavía a fala?». Der Gebrauch bestimmter Sprachen, Dialekte oder Varianten, die varietätenlinguistisch als «diatopisch markiert» gelten, verweisen also auf bestimmte Vorstellungen von sprachlich-räumlichen Zusammenhängen. Nicht immer bleibt es für die Sprecher jedoch bei der bloßen Vorstellung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge; bisweilen werden daraus «sprachliche Gebietsnormen» abgeleitet: Eine Sprache wird als «zu verwendende Sprache» in einem bestimmten Gebiet empfunden oder – mit Verweis auf die Sprache der Bevölkerungsmehrheit bzw. auf Identität und Geschichte – zur Norm erhoben und als solche verteidigt. In diesem Sinne sind alle sprachbezogenen Kampagnen der katalanischen Generalitat zu interpretieren. Bereits die erste Kampagne von 1982 («de sensibilització per retornar a la llengua catalana el lloc que li corresponia dins la seva pròpia societat») drückte dies explizit aus, wenn das auf den Plakaten abgebildete Mädchen lächelnd verkündet, «El català, cosa de tots!», während die Zeichenmappe, die es unter dem Arm trägt, mit den Worten beschriftet ist: «sóc la NORMA» (‘Ich bin die Norm’).1

|| 1 Generalitat de Catalunya, Campanyes de foment de la llengua, [letzter Zugriff: 21.01.2014], unter «Informació i difusió». Darüber hinaus versucht die Generalitat, das Katalanische auch juristisch zur Norm zu erklären und gegenüber der spanischen Staatssprache zu privilegieren, wenn es im Autonomiestatut von 2006 heißt, «La llengua pròpia de Catalunya és el català. Com a tal, el català és la llengua d’ús normal i preferent de les administracions públiques i dels mitjans de comunicació públics de Catalunya» (Art. 6,1). Das Katalanische wird dadurch als «Gebietssprache» apostrophiert (cf. 5.2.2, 6.6).

1.1 Fragestellung und Zielsetzung | 3

Gerade dort, wo mehrere Sprachen in Kontakt stehen, wie in diesem Fall das Spanische und das Katalanische, kann nur die Annahme solcher sprachlichen Gebietsnormen ansonsten kaum erklärbare Phänomene und Verhaltensweisen begründen. So werden auch in der zunehmend frankophonen Brüsseler Peripherie immer wieder die französisch- und niederländischsprachigen Ortsbezeichnungen auf Richtungs-, Ortsein- und Ausgangsschildern von Mitgliedern der je anderen Sprechergemeinschaft beschmiert oder durchgestrichen, was man als «Sprachvandalismus» bezeichnen könnte (cf. Abb. 1).2

Abb. 1: «Sprachvandalismus» in Belgien3

Ganz ähnlicher Natur sind direktiv aufzufassende Sprechakte wie «Esto es España y aquí hablamos español»4 bzw. «aquí es parla català» zu bewerten. An solchen Beispielen zeigt sich, dass die Sprecher von einer Strukturierung der Welt in Sprachgebiete ausgehen und einen – in welcher Weise auch immer begründe|| 2 Der dortige Taalstrijd kennzeichnet sich durch den Antagonismus der historischen Präsenz des Niederländischen und einer mehrheitlich frankophonen Realität (cf. 6.3). 3 Graphisch adaptierte Abbildung nach einem Foto von «Flamenc», Titel: «Signpost à FouronSaint-Pierre», Datum: 30.09.2007, Quelle: [letzter Zugriff: 20.05.2013]. 4 El Ministerio de Educación niega información a un alumno que preguntó en inglés, El Periódico (28.03.2013), [letzter Zugriff: 21.01.2014].

4 | 1 Einleitung

ten – Anspruch der «eigenen» Sprache auf das Siedlungsgebiet zu verteidigen versuchen. Mit einigen Ausnahmen ist die Frage nach der Gegebenheit von «Sprachraum» bzw. «Sprachgebieten» nicht naturalistisch oder materiell zu beantworten. Materialistisch gegeben sind das Gebiet und die Sprecher; materiell sind zudem die Äußerungen als Realisierungen der Sprache. Bei Sprachgebieten geht es dagegen um eine Existenz, die in der «Dingwelt» nicht greifbar ist. Denn es gibt Sprachgebiete, insofern Sprecher die Zusammenhänge zwischen ihrer Umgebung und dem Sprachgebrauch als solche wahrnehmen, wodurch diese ein – in Sprachkonfliktsituationen besonders relevantes – Element ihrer Wirklichkeitsstrukturierung darstellen. Da sich dieser Befund auch phänomenologisch im Verhalten dieser Sprecher und Sprechergemeinschaften beobachten lässt, begreife ich «Sprachraum» als eine Gegebenheit, die man als ein Objekt im Sinne von Émile Durkheims fait social betrachten und untersuchen kann («considérer les faits sociaux comme des choses», 1895/1963, 15).5 Auf der Ebene der assoziativen Wahrnehmung könnte man analog auch von einem fait cognitif sprechen. Der Zusammenhang zwischen den materiellen Gegebenheiten und dem fait cognitif sowie dem fait social ist in dem oben von Trubetzkoy zitierten Sinne freilich naheliegend: Einerseits wird Sprache immer an konkreten Orten realisiert, ein Zusammenhang, der beobachtet werden kann; andererseits lässt die Tatsache, dass die prinzipiell mobilen Sprecher vorwiegend siedlungsgeographisch konzentriert leben, auch Vorhersagen darüber zu, welche Sprache(n) an welchen Orten verwendet wird/werden. Diese tatsächlichen Korrelationen bezeichne ich als reale sprachlich-räumliche Zusammenhänge bzw. als sprachlichräumliche Realität. Solche Zusammenhänge zwischen dem Gebrauch einer Sprache und einem bestimmten Ort oder einer Gegend stellen ohne Zweifel für die Sprecher eine gegebene Tatsache (deskriptiv betrachtet) oder eine wünschensund erstrebenswerte Situation (normativ betrachtet) dar, was sich in entsprechenden «gebietsbezogenen» Verhaltensweisen zeigt. Während sprachliche Raumbezogenheit implizit allgegenwärtig ist, manifestiert sich sprachbezogenes territoriales Verhalten explizit vor allem in der mehrsprachigen Koexistenz- bzw. Konfliktsituation. Die Arbeit beinhaltet zwei Schwerpunkte, die Untersuchung der Assoziationen («Sprechen und Ort» und «Sprache und Gebiet») sowie der «gebietsbezogenen» Verhaltensweisen, die ich als sprachliche Territorialität bezeichne (cf. Abb. 2).

|| 5 Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch John Searle (1995; auch 2010), wenn er social oder instituional facts auf dem Substrat von den ihnen logisch vorgeordneten sog. brute physical facts betrachtet.

1.1 Fragestellung und Zielsetzung | 5

Sprachliche Raumbezogenheit

Assoziationen: «Sprechen + Ort» «Sprache + Gebiet»

Sprachliche Territorialität: «gebietsbezogene» Verhaltensweisen

Abb. 2: Sprachliche Raumbezogenheit

Daraus ergibt sich, dass sprachliche Raumbezogenheit eine wahrnehmungspsychologische sowie eine soziologische Dimension innehat. Ziel der vorliegenden Arbeit ist daher (a) die Beschreibung der Wahrnehmung und (kognitiven) Verarbeitung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge; (b) die Analyse der gesellschaftlich konstruierten und in entsprechenden Denkmustern tradierten «Gebietsbezogenheit» von Sprachen durch die systematische Entschlüsselung der wesentlichen Prämissen; (c) die Definition eines – wie sich zeigen wird – erweiterten Territorialitätsbegriffs, welcher das gebietsbezogene Verhalten von Sprechern und Sprechergruppen im Rahmen eines einheitlichen Dispositivs zu erklären vermag; (d) die Darstellung der Kategorien «sprachliche Territorialität» und «sprachliches Territorium» als Elemente von Sprachpolitik und Sprachplanung am Beispiel von Sprachkontaktsituationen in der Romania. Gleichzeitig soll geklärt werden, aus welchen Komponenten sich das individuelle «Wissen» über sprachlich-räumliche Zusammenhänge im Zusammenspiel von individueller Wahrnehmung und gesellschaftlicher Vermittlung zusammensetzt. Eine umfassende Behandlung der skizzierten Thematik liegt bislang nicht vor. Während der Zusammenhang zwischen Sprache und Raum bis vor kurzem – im Alltag wie in der Wissenschaft – schlicht als gegeben vorausgesetzt und insofern nicht hinterfragt wurde, greift Oesterreicher (2008) eine noch junge Debatte auf, in der auch bislang nicht Reflektiertes diskutiert wird. Anlass bietet dazu nicht nur der sog. «spatial turn», sondern auch die Auseinandersetzung mit den Prämissen der vor allem in Europa seit Ende des 20. Jahrhunderts einsetzenden Initiativen, die sprachliche Vielfalt jenseits der etablierten Nationalsprachen unter Schutz zu stellen. So sollen Regionalsprachen bzw. ihre Sprecher nur dort vollumfänglich in den Genuss von Rechten und Fördermaßnahmen kommen, wo diese «immer schon» oder «traditionell» gesprochen wurden und wo die Sprecher nach wie vor in nicht näher definierter Zahl ansässig sind. Aus der Vorstellung des Zusammenhangs zwischen Sprachen und Geographie wird dabei poli-

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tisch und juristisch ein Konzept «Sprachgebiet» geformt und kodifiziert, das in der Folge auch jenseits der mentalen Assoziation konkrete Relevanz erhält. Gerade in Frankreich, das historisch begründet ein schwieriges Verhältnis zur landesinternen Mehrsprachigkeit unterhält, ist im Rahmen der Debatten um eine Ratifizierung der diesbezüglich einschlägigen Europäischen Charta der Regionaloder Minderheitensprachen («die Charta») Kritik an der gesetzlichen Verknüpfung von Sprachlichem und Räumlichem aufgekommen (cf. 6.4): «La conception qui veut qu’une langue soit forcément liée à un sol et ne soit liée qu’à lui, peut être jugée à la fois erronée et dangereuse» (Carcassonne 1998, §8). Eben dieser Debatte kann sich auch die Sprachwissenschaft nicht gänzlich entziehen. So macht sich der Linguist Bernard Cerquiglini in einer vom französischen Kultusministerium in Auftrag gegebenen Studie die mit der Staatsdoktrin konforme Ansicht zu eigen, Sprachen seien nicht mit Gebieten zu assoziieren und meint, die Wissenschaft «comprend mal l’expression ‹territoire d’une langue›», um daraufhin zu urteilen, «le vrai territoire d’une langue est le cerveau de ceux qui la parlent» (Cerquiglini 1999). Anders als Cerquiglini hier suggeriert, besteht in der Linguistik jedoch keine Einigkeit in dieser Frage. Während Oesterreicher (2008) ebenfalls die Auffassung vertritt, die Idee von der Raumbezogenheit sei grundsätzlich abzulehnen, heißt es bei Krefeld: «Die Räumlichkeit der Sprache ist selbstverständlich; sie ergibt sich daraus, dass Idiome in direkter Weise an spezifische Gegenden, d.h. an siedlungsgeographische Räume angebunden sind» (Krefeld 2004, 23).

Als nach wie vor ungelöstes Problem soll die Frage, was sprachliche Raumbezogenheit ist und wie sie kognitiv und kulturell funktioniert, theoretisch durchdacht und beschrieben werden; es geht dabei um eine systematische Aufarbeitung, die auf ein Erklärungsdispositiv ausgerichtet ist, welches der sprachlich-räumlichen Realität, den auf sie projizierten Repräsentationen sowie den daraus abzuleitenden mannigfaltigen Verhaltensweisen der Sprecher gerecht werden kann. Die Darlegung empirischer Daten wird diesem Ziel nachgeordnet: Die Empirie liegt der Theoriebildung zugrunde und dient der Exemplifizierung. Die gewählten Situationen aus der Gallo- und Iberoromania (Belgien, Frankreich, Schweiz, Spanien) eignen sich dabei aufgrund ihrer Differenzen. Frankreich zeichnet sich in dieser Gruppe durch die kritische Hinterfragung ansonsten weitgehend akzeptierter Prämissen aus, während Spanien und die Schweiz sowohl politisch als auch juristisch auf ihnen aufbauen. Belgien ist vor allem durch den virulenten Sprachkonflikt von Interesse. Zugunsten einer Gesamtkonzeption sprachlicher Raumbezogenheit muss die vollumfängliche Untersuchung der jeweiligen Situationen «im Feld» damit als Desiderat formuliert werden. Für die theoretische Grundlegung ist der exemplarische Rekurs auf konkrete Daten ausreichend.

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1.2 Untersuchungsobjekt: assoziative Raumbezüge von Sprache Untersuchungsobjekt

Das Untersuchungsobjekt der vorliegenden Arbeit bilden die Bezüge zwischen Sprache und Raum, die aus der Wahrnehmung und kognitiven Assoziation von räumlich situiertem Sprechen sowie durch entsprechende kulturell tradierte Denkmuster entstehen. Es geht folglich um assoziative Raumbezüge, nicht um materielle bzw. physikalische Bezüge.6 Insofern steht nicht die sprachlichräumliche Realität im Vordergrund, sondern die von den Sprechern bzw. Gemeinschaften wahrgenommene sprachliche Raumbezogenheit, d.h. die gedachte und erlebte Realität (cf. Abb. 3).

gedachte und erlebte Realität

Realität

«Sprachraum» als assoziative Verknüpfung von Sprache und Raum

Sprechen / Sprache(n)

Ort / Gebiet

Abb. 3: Assoziative Raumbezogenheit aus Sicht der Sprecher

1.2.1 Sprecher und Sprechergemeinschaft Geht es um assoziative Raumbezogenheit, so sind als Agens einerseits der einzelne Sprecher als assoziierende Instanz und andererseits, mit Blick auf kulturell tradierte Denkmuster, die Gemeinschaft zu definieren. Während das Subjekt dabei vor allem unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten zu betrachten ist, insofern Assoziation ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen darstellt,

|| 6 Materiell betrachtet manifestiert sich Sprache freilich als in seiner Räumlichkeit beschreibbarer Schall. Die beim Sprechen artikulierten Laute produzieren Schall, der sich in Form einer Longitudinalwelle ausbreitet, einer Druckwelle, bei der sich Zonen mit Überdruck in der Ausbreitungsrichtung verschieben und dabei Atome oder Moleküle der Luft zur Schwingung bringen. Dadurch handelt es sich gewissermaßen um «einen für Sprecher und Hörer gemeinsamen akustischen Raum» (Nöth 2000, 284) bzw. einen «Raum der Stimme» (Oesterreicher 2008, 62), mit dem sich die akustische Phonetik beschäftigt. Eine weitere Form der «Materialität des Zeichengeschehens selbst» (ib.) wäre freilich auch die schriftliche Manifestation der Sprache im «materielle[n] Textraum» (Wenz 2009, 129), der als «begrenzt zweidimensionale[r] visuelle[r] Raum» (Nöth 2000, 284) entsteht. Diese Formen einer physikalisch messbaren räumlichen Ausdehnung von Sprache werden im Folgenden nicht weiter betrachtet.

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geht es bei der Untersuchung bestimmter Denkmuster um kulturell tradierte Konzepte der Wirklichkeitsstrukturierung und Sinnstiftung, die in einer Gemeinschaft angelegt sind, welche über gemeinsame Wissensgrundlagen verfügt. Ungeeignet ist in diesem Sinne der allzu breit angelegte Begriff der «Sprachgemeinschaft»7, bezeichnet dieser doch generell eine Gemeinschaft als abstrakte Summe aller Sprecher (Muttersprachler) einer Sprache, ohne dass die Sprecher – soziologisch betrachtet – notwendigerweise auch in einem gesellschaftlichen, d.h. staatlichen oder regionalen Zusammenhang stehen.8 Vielmehr wird ein Begriff für Siedlungsgemeinschaften mit gemeinsamer Sprache benötigt. Ich spreche daher im Folgenden gerade nicht von Sprachgemeinschaften und verzichte auch auf Begriffe wie «Repertoiregemeinschaft», sondern gehe von Sprechergemeinschaften aus. Sprechergemeinschaften sind nach meiner Auffassung so zu definieren, dass sie sich als konkrete siedlungsgeographische Gemeinschaften mit gemeinsamer Sprache und Identität der abstrakten Sprachgemeinschaft gewissermaßen unterordnen (cf. Abb. 4). So ist die spanische Sprachgemeinschaft, an die sich die Nueva gramática de la lengua española (RAE/ASALE 2009) unter der maximal extensionalen Bezeichnung «los hispanohablantes» (NGLE, xlii) richtet, die über verschiedene Kontinente und Staaten verteilte Gemeinschaft der Sprecher, deren einziges gemeinsames Merkmal die spanische Sprache ist (minimale Intension), ohne dass diese dabei in einem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen.9 Folglich gliedert sich – deskriptiv betrachtet – eine so weit verbreitete Sprachgemeinschaft wie die spanische in eine Vielzahl von – geographisch verschiedenenorts situierten – Sprechergemeinschaften (auch: «Nationen»), die sich jeweils durch diverse identitäre Merkmale wie eine gemeinsame Kultur, bestimmte sprachliche Varietäten und nicht zuletzt eine gemeinsame Siedlungsgeschichte definieren.

|| 7 Dem entspricht auch der amerikanische Begriff der speech community, der sich in ähnlichen Definitionen bei Bloomfield (1933/1962), Chomsky (1965) und Lyons (1970) findet. Zu den verschiedenen Konzepten cf. Raith (2004). 8 In einem solchen Kontext steht dagegen die «Repertoiregemeinschaft», wobei der analytische Begriff spezifisch für die Beschreibung von Mehrsprachigkeitssituationen ausgelegt ist, da er die Gemeinsamkeit eines gemeinsamen sprachlichen oder dialektalen Repertoires betont. Das Konzept geht auf Gumperz (1968) zurück, der jedoch wiederum den Ausdruck speech community verwendete; Kloss (1977) schlug für das Konzept Gumperz’ den Terminus repertoire community vor. In der deutschsprachigen Literatur wird für Gruppen mit einem gemeinsamen Varietätenrepertoire auch der Begriff «Sprechgemeinschaft» verwendet (cf. Raith 2004, 152; cf. auch Pütz 2004). 9 Dies wird auch in der Grammatik vorausgesetzt, wenn es programmatisch heißt: «No es posible presentar el español de un país o de una comunidad como modelo panhispánico de lengua» (NGLE, xlii) bzw. «unas [construcciones gramaticales] son comunes a todos los hispanohablantes y otras están restringidas a una comunidad o a una época» (ib., xliii).

1.2 Untersuchungsobjekt | 9

Was hier am Beispiel des Spanischen veranschaulicht wurde, gilt freilich in gleicher Weise – obschon in kleinerem geographischen Maßstab – auch für die im Folgenden behandelten Regionalsprachen: So bilden die Bewohner des Vall d’Aran eine Sprechergemeinschaft mit eigenem Gebiet, eigener Geschichte und Identität – daher die Eigenbezeichnung aranés für Bevölkerung wie Sprache –, die zur okzitanischen Sprachgemeinschaft gezählt wird (cf. 5.2.2). Gleiches gilt für die katalanische Sprachgemeinschaft, wie man an der Bedeutung ablesen kann, die man der Sprachbezeichnung valencià in der Valencianischen Gemeinschaft beimisst.10 Historische Sprache

Sprachgemeinschaft

Sprechergemeinschaft A

Sprechergemeinschaft … Sprechergemeinschaft B

Abb. 4: Sprachgemeinschaft und Sprechergemeinschaften11

1.2.2 Raumbegriffe Der Begriff des Raums kann in vielfacher Weise ausgedrückt werden. Darunter ist auch der Ausdruck Raum selbst. Raum wiederum kann für viele unterschiedliche Begriffe oder auch Konzepte stehen, die mitunter nur den Zeichenträger gemeinsam haben.12 Davon zeugt insbesondere die philosophische Wort- und Begriffsgeschichte des Raums.13 In dieser Arbeit stehen im Wesentlichen zwei Raumbegriffe im Vordergrund, zum einen der geographische Raum, da es – gegenüber anders || 10 Cf. dazu beispielsweise Doppelbauer (2008); zur Frage der Bezeichnung im Zusammenhang mit der Implementierung der Charta in Spanien cf. Tacke (2012d, 356). 11 Der analytische Terminus Sprechergemeinschaft ließe sich, so definiert, freilich mit dem andere Aspekte fokussierenden Begriff der Nation gleichsetzen. 12 Auch der sog. «spatial turn» ist diesbezüglich sehr viel weniger eine als einheitlich zu betrachtende neue Perspektive auf die Gegenstände der verschiedenen Disziplinen als seine Bezeichnung dies suggerieren mag: Dahinter verstecken sich tatsächlich sehr unterschiedliche «Raumwenden», die teils nicht miteinander vereinbare Raumbegriffe zugrunde legen. Cf. den von Stephan Günzel herausgegebenen Band Raum (2010) insgesamt sowie speziell die darin enthaltene «Kritik der Raumkehren» von Lippuner/Lossau. 13 In der Philosophie wird die Diskussion um die Frage, was Raum ist, seit der Antike geführt. Von einigen Querverweisen abgesehen, entsteht das Konzept des geographischen Raums abseits dieser Debatte, weshalb eine Darlegung der philosophischen Begriffsgeschichte irrelevant ist.

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gearteten «Sprache und Raum»-Untersuchungen – um die assoziative Inbezugsetzung von sprachlichen Praktiken und Orten sowie Gegenden und Regionen geht; zum anderen das Konzept des erlebten Raums, bei dem im Vordergrund steht, wie der als Sprachraum wahrgenommene geographische Raum von den Sprechern erlebt wird. Der geographische Raum bezeichnet gegenständlich einen Ausschnitt der Erdoberfläche. In der Geographie finden sich dafür auch die Bezeichnungen Erdraum, Erdoberfläche, Realobjektraum oder gegenständlicher Raum. Mit der Geographin Heike Egner kann er als «eine Art ‹Adresse›, die relativ unscharf bleibt (Gegend); ein bestimmter und über seine Lage näher bestimmbarer Ausschnitt der sichtbaren, materiellen Erdoberfläche» (2010, 98) definiert werden.14 In Analogie zur Sprachgeographie können Raum und Gebiet auch für die aus der Summe benachbarter Orte abstrahierte Ausdehnung stehen. Unter dem Konzept des erlebten Raums wird dagegen der alltäglich wahrgenommene, vom Individuum konzeptualisierte und von der Gesellschaft gestaltete geographische Raum beschrieben (cf. 5.2.3). Eine Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung von Ort und Raum. Während diese in der Mathematik in der Opposition zwischen Punkt und Fläche unproblematisch ist, gilt dasselbe weder für eine geographische noch für eine sprachliche Trennung beider Konzepte. Mit «Ort» kann auf der niedrigsten Abstraktionsebene die Position des Sprechers beim Sprechen identifiziert werden (cf. 3.1.2); davon ausgehend kann aber auch die bewohnte Ortschaft – als Raum von geringer Ausdehnung – als Ort bezeichnet werden, wie er in den Sprachatlanten auf sogenannten Punktkarten notiert wird.15 Das unscharfe Konzept «Ort» dient dazu, etwas zu verorten und ist folglich nur relational, d.h. bezogen auf einen Raum bzw. ein Gebiet, definierbar.16

|| 14 Der geographische Raum wird aufgrund seiner Relevanz auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskursuniversums synonym oft schlicht als Raum bezeichnet, ebenso wie das Adjektiv räumlich in den meisten Kontexten, sofern es nicht anders definiert wurde, auf den geographischen Raum referiert. Andere Raumbegriffe wie «nationaler Raum» oder «staatlicher Raum» sind dagegen ambig. Sie können sowohl auf durch politische Grenzen definierte geographische Gebiete referieren als auch eine abstraktere Realität bezeichnen, in welcher der Ausdruck Raum metaphorisch, etwa für eine staatliche Handlungssphäre, gebraucht wird. 15 Hier steht das Sprechen eines oder einiger weniger Informanten prototypisch für das in der Gemeinde insgesamt übliche Sprechen, wohinter sich freilich eine Abstraktion der Realität verbirgt (cf. 5.3.2). 16 Unter Ort führt der Duden als erste Bedeutung «lokalisierbarer, oft auch im Hinblick auf seine Beschaffenheit bestimmbarer Platz (an dem sich jemand, etwas befindet, an dem etwas geschehen ist oder soll)». Als relationaler Begriff kann der Ausdruck Ort semantisch entsprechend nur in Bezug zum jeweils gedachten Raum definiert werden. In diese Richtung gehen die

1.2 Untersuchungsobjekt | 11

1.2.3 Sprache und Sprechen Sprache und Sprechen werden mit Coseriu als «eine universelle allgemeinmenschliche Tätigkeit» (1988/2007, 70) aufgefasst, die sich nicht als Naturgegenstand im geographischen Raum verorten lässt, sondern als Kulturgegenstand in Form von Einzelsprachen äußert. Wenngleich der Kulturgegenstand Sprache als «‹idiomatisches Wissen› oder als ‹einzelsprachliche Kompetenz›» (ib., 74) selbstverständlich in den Köpfen der Sprecher situiert ist, wie dies ja mit Recht auch Cerquiglini (1999) betont, manifestiert er sich doch auch außerhalb – und damit im Raum. Es ist die Universale der Exteriorität, mit der das Phänomen beschrieben wird, dass Sprache durch die «biologisch bedingte Sprechtätigkeit» (ib., 70) geäußert und damit in der Welt konkret sinnlich wahrnehmbar (unmittelbar hörund mittelbar sichtbar) wird: «als kulturelle Tätigkeit muß sich das Sprechen materiell manifestieren; sonst kann es nicht in der Welt stehen, von anderen Subjekten übernommen werden» (ib., 69). Sprache kommt in all ihren Erscheinungsformen in Frage, um mit dem geographischen Raum assoziiert zu werden: vom einzelnen, konkret situierten Sprechen über die siedlungsgeographische Verortung diatopischer Varietäten und ganzer Einzelsprachen mittels der sie sprechenden Gemeinschaften. Des Weiteren werden auch einzelne Merkmale einer Einzelsprache konkret mit bestimmten Gegenden oder Orten assoziiert; dabei ist prinzipiell kein Unterschied zwischen der alltäglichen Feststellung, wie ein Wort im Nachbardorf oder die Aussprache in der Nachbarregion vom «hier» des Betrachtenden abweicht und der sprachgeographischen – freilich präziseren – Verortung der Merkmale in Sprachatlanten auszumachen. So ist das Phänomen des seseo (der Zusammenfall der Phoneme /s/ bzw. /θ/ zu einheitlich /s/) in Atlanten genau verortet, während es im Allgemeinwissen der Spanier mit dem Süden, vor allem Andalusien assoziiert und ein Spanier, der – neben anderen Phänomenen – diese Artikulation aufweist, als Südspanier identifiziert wird. Schließlich kommt den zum lexikalischen Inventar der Einzelsprachen zählenden Toponymen eine Sonderrolle zu, denn sie stellen eine besondere Beziehung mit der nicht-sprachlichen Wirklichkeit, d.h. mit geographischen Gegenden, Objekten und Orten, her: «Die Menschen ordnen ihre nähere Umgebung und die für sie wahrnehmbare Welt weitgehend über die Namen, die den identifizierbaren Gegenständen ‹anhaften›; die Namen, die jemand kennt, und die Relationen zwischen den Namen bilden für das Individuum

|| Definitionen der Äquivalente im französischen TLF (s.v. lieu, «Portion déterminée de l’espace») und dem spanischen DRAE (s.v. lugar, «Porción de espacio»), die Ort unpräzise als «Teil des Raums» definieren.

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gewissermaßen die mentale Landkarte (‹mental map›) der sprachlich artikulierbaren Welt» (Wimmer 2008, 373).

1.3 Aufbau der Arbeit Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Kapitel 2 bietet eine Annäherung an den Begriff sprachlicher Raumbezogenheit. Aus einer onomasiologischen Perspektive soll herausgearbeitet werden, mittels welcher Ausdrücke in den Bereichen des Alltags, der Politik und Gesetzgebung sowie der Linguistik auf sprachlichräumliche Zusammenhänge referiert wird. Die Ausdrücke werden dabei als Indizien für die verschiedenen Konzeptualisierungen aufgefasst; gleichzeitig weisen sie nach, in welchem Maße sprachliche Raumbezogenheit als Element der Wirklichkeitsstrukturierung gelten kann. Erst im Anschluss geht es in Kapitel 3 um die Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung sprachlicher Raumbezogenheit. Kapitel 4, 5 und 6 beschäftigen sich mit der gesellschaftlich konstruierten und in Denkmustern tradierten Raumbezogenheit von Sprache, die nicht allein über die kognitive Assoziation funktioniert, sondern durch kulturelle, oft mythologische Konzepte geleistet wird. Dazu werden in Kapitel 4 die Prämissen, insbesondere der Begriff der Autochthonie und seine heutige Relevanz herausgearbeitet, um in Kapitel 5 eine umfassende und systematische Konzeption «sprachlicher Territorialität» vorzulegen. Kapitel 6 stellt schließlich die Anwendung der zuvor herausgearbeiteten Konzeption auf Sprachpolitik und Sprachplanung im Regionalsprachenschutz allgemein sowie konkret in Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien dar. Hier wird in Fallstudien gezeigt, wie sich «sprachliche Territorialität» manifestiert und in verschiedenen Kontexten in historisch kontingenter Form (sprachplanerisch) konfiguriert.

1.4 Methodologie und Vorgehen Methodologie und Vorgehen

Aufgrund der Fragestellung lässt sich die Arbeit nicht innerhalb der Grenzen einer spezifischen linguistischen Theorie und Methodologie verorten. Thematisch im Bereich der sprachlich geprägten Wirklichkeitswahrnehmung und -strukturierung angesiedelt, muss eine systematische Aufarbeitung in dem Maße interdisziplinär angelegt werden, als begriffliche und konzeptionelle Anleihen aus verschiedenen Bereichen zu entlehnen sind. Die Frage, wie konkretes Sprechen räumlich wahrgenommen und mit dem Ort assoziiert wird, rekurriert einerseits auf die philosophische Erkenntnistheorie und verbindet andererseits semantische Ansätze mit wahrnehmungspsychologischen Theorien zu Assoziationsprinzipien. Die Untersuchung der gesellschaftlich konstruierten «Gebietsbezogenheit» von Sprache(n)

1.4 Methodologie und Vorgehen | 13

erfordert hingegen eine vor allem begriffliche und mitunter begriffs- und wortgeschichtliche Analyse bestimmter (mythologischer) Konzepte. Geht es schließlich um das Interaktionsverhalten von Sprechern und Sprechergemeinschaften, ist neben der linguistischen Pragmatik die Einbeziehung ethologischer Theorien aus dem Bereich der Biologie und konstruktivistischer Konzeptionen, welche die moderne Sozialgeographie charakterisieren, notwendig. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf einer in erster Linie theoretischen Aufarbeitung sprachlicher Raumbezogenheit und dem sprachbezogenen territorialen Verhalten der Sprecher (Kapitel 3–5). Diese wird konkret anhand von Beispielen aus der Romania dargestellt. Die Besonderheit der Thematik liegt darin begründet, dass sprachliche Raumbezogenheit nicht oder nur selten (und dann nur ausschnittsweise) unmittelbar beobachtbar ist. Die systematische Analyse eines homogenen Textkorpus schließt sich insofern bereits aus. Tatsächlich lassen sich die heterogenen Manifestationen der von den Sprechern erlebten sprachlichräumlichen Realität auch nicht sämtlich an ein und demselben Ort beobachten. Wie bereits angesprochen, äußert sich gerade auch sprachlich motiviertes territoriales Verhalten vornehmlich in Sprachkontakt- bzw. -konfliktsituationen. Eine gesamtheitliche Darstellung assoziativer sprachlicher Raumbezogenheit erfordert daher die Berücksichtigung ganz unterschiedlicher Sprachkontaktsituationen aus der Romania und mit ihnen jeweils typologisch verschiedener Quellen. Neben der Beobachtung sichtbarer Phänomene wie beispielsweise Ortsmarkierungen oder Hinweisschilder, gilt es vornehmlich, auch (schriftliche) Diskurse zu untersuchen, die von Gesetzestexten und politischen Berichten über Pressetexte bis hin zu Beiträgen in Internetforen reichen können. Im Einzelfall, nämlich dort, wo bestimmte Verhaltensweisen in der Interaktion von Sprechern nicht oder nur schwer beobachtbar sind, wird auch die Konstruktion prototypischer Situationen zur Veranschaulichung einbezogen. Die systematische Analyse sprachpolitischer Dokumente (Gesetzestexte, Verträge, Berichte etc.) der o.g. Länder, der jeweiligen Regionen sowie auch des Europarats mit Blick auf die Kodifizierung von Konzepten sprachlicher Raumbezogenheit bildet schließlich die Grundlage für den anwendungsbezogenen Teil der Arbeit (Kapitel 6). Während die Konzeptionen des Gebietsbezuges von Sprachen im Regionalsprachenschutz und in den genannten Ländern jeweils individuell, dabei jedoch systematisch anhand der genannten Dokumente untersucht werden können, gilt hinsichtlich der Manifestation sprachlicher Territorialität im (individuellen und institutionellen) Interaktionsverhalten, dass diese nur in Abhängigkeit der im Einzelnen beobachtbaren und dokumentierten Fälle veranschaulicht werden kann. Aufgrund der Situierung der Arbeit zwischen linguistischer Theorie, sprachpolitischer Sphäre und gesellschaftlicher wie subjektiver Erfahrung von sprachlichräumlichen Zusammenhängen, ist eine differenzierte terminologische Beschreibung

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unabdingbar. Wesentlich für die Darstellung des Problemkomplexes ist insofern die inhaltliche wie ausdrucksseitige Definition und Abgrenzung von «Konzept/ Konzeption», «Konzeptualisierung», «Begriff», «Ausdruck/Bezeichnung»: – «Konzeptualisierungen» werden definiert als mentale Vorstellungen oder Repräsentationen eines Objektes, eines Phänomens oder eines Zusammenhangs; eine Konzeptualisierung entspringt der menschlichen Kognition und obliegt nicht unbedingt einer bewussten Reflexion; Beispiel: die Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge. – Im Bereich von Vorstellungen, die aus bewusster Reflexion resultieren, ist einerseits der «Begriff» einzuordnen, worunter ich eine aus dem bewussten Denken folgende komplexe Vorstellung eines untersuchten Objekts verstehe; Begriffe unterliegen damit ebenfalls der Kognition und bilden Schemata aus, die Objekte, Phänomene oder Zusammenhänge der Wirklichkeit begreifen;17 Beispiel: der Begriff sprachlicher Raumbezogenheit. Als «Konzept/ Konzeption» bezeichne ich andererseits ausschließlich wissenschaftliche und damit intentionale, der theoretischen Beschreibung oder Analyse dienende Konstrukte, welche sich in fachdisziplinäre Traditionen einordnen, die auch Bezeichnungstraditionen umfassen; Beispiel: das Konzept der «sprachlichen Territorialität» (cf. Kapitel 5). – «Ausdrücke» und «Bezeichnungen» sind – in Abgrenzung zu «Begriffen» – ausschließlich die Zeichenträger, mithilfe derer Konzepte und Begriffe, aber auch Konzeptualisierungen sprachlich ausgedrückt oder verbalisiert werden; Beispiel: Sprachraum, Sprachgebiet, aire linguistique, territoire linguistique, dominio lingüístico etc.18 Typographisch folge ich der allgemeinen Konvention, nach welcher Ausdrücke kursiv gesetzt werden. Zur Hervorhebung eines Begriffs, einer Konzeption oder einer Konzeptualisierung dienen Anführungszeichen « » im Falle der Hervorhebung. Sofern die Rede von Frames bzw. Wissenskontexten ist, die durch be-

|| 17 In der Abgrenzung von Begriff und Bezeichnung folge ich der Definition von Haßler/Neis (2009, 81): «Im umgangssprachlichen Gebrauch wird das Wort Begriff häufig synonym zu Wort oder Bezeichnung verwendet. Von diesem Gebrauch grenzen wir uns ab, wenn wir Begriffe als eine komplexe Gesamtheit von Gedanken über Unterscheidungsmerkmale eines untersuchten Objektes definieren. Begriffe sind somit Einheiten des Denkens, die in Urteilen ausgesprochen werden können und allgemeine und gleichzeitig möglichst wesentliche Eigenschaften des außersprachlichen Objektes angeben». 18 Wie Haßler/Neis (2009, 81) verdeutlichen, besteht eine enge Beziehung zwischen Begriffen und Bezeichnungen: «Durch sprachliche Bezeichnungen werden Begriffe gefestigt und vielfach erst für unser Denken verfügbar».

1.5 Forschungsstand | 15

stimmte Ausdrücke oder eine besondere Wortwahl aktiviert werden, werden diese in KAPITÄLCHEN abgesetzt.

1.5 Forschungsstand Forschungsstand

Da sprachliche Raumbezogenheit bislang keinen genuinen Gegenstand einer Disziplin im sprachwissenschaftlichen Themenkanon darstellt, sondern als Prämisse gewissermaßen quer zu allen Disziplinen liegt, bildet der folgende Forschungsstand notgedrungen einen Überblick über vereinzelte und sehr heterogene Erkenntnisse, die aus unterschiedlichen Themenbereichen erwachsen sind. Eine Sonderstellung nimmt an dieser Stelle Bühlers Sprachtheorie von 1934 und insbesondere die in ihr enthaltene, der Farbenlehre entlehnte Theorie der Umfelder ein, wird in ihr doch eine über frühere Kontexttheorien19 hinausgehende Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Sprechens angeboten, welche die Einbettung von Sprache nicht nur in den sprachlichen Kontext («synsemantisches Umfeld»), sondern – als Tätigkeit begriffen – auch in die interaktionale («sympraktisches Umfeld») und – als Produkt – in die räumliche («symphysisches Umfeld») Umgebung beleuchtet. Daran anknüpfend hat Coseriu (1955/1956) eine begrifflich weitaus differenziertere Umfeldtheorie vorgeschlagen, die er später in seine als «Linguistik des Sinns» konzipierte Textlinguistik (1980/1994) integriert hat.20 Diese beinhaltet Bühlers Begriff des symphysischen Umfelds als «physikalischen Außer-Rede-Kontext» für «die Dinge, denen das Zeichen unmittelbar anhaftet» (1980/1994, 130), nimmt die Kategorie des Raumbezuges jedoch darüber hinaus aus zwei weiteren Perspektiven in den Blick. So berücksichtigt Coseriu (ib., 126) einerseits das Sprechen als Tätigkeit im Typ der «Situation»: «Bei der ‹Situation› geht es […] um die Umstände und Beziehungen in Raum und Zeit, die durch das Sprechen selbst entstehen, durch die Tatsache, daß jemand mit jemandem an einer bestimmten Stelle im Raum und zu einem gewissen Zeitpunkt über etwas spricht. Die Situation ist also das Umfeld, durch das ich und du, hier und dort, jetzt und damals entstehen, das Raum-Zeit-Kontinuum, das durch den Redeakt ‹um den Sprecher herum› aufgebaut wird […]».

Andererseits ist für ihn die historische Einzelsprache bei der Sinnkonstitution von Bedeutung, insofern das einzelsprachliche Zeichen nur in einem bestimmten || 19 Für einen Überblick über (sprachphilosophische) Kontexttheorien cf. Aschenberg (1999, cap. I). 20 Eine umfassende Diskussion der Umfeldtheorien Bühlers und Coserius findet sich bei Aschenberg (1999, 44–63 und 63–76).

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(von «sprachlichen Grenzen, wenn man so will von ‹Isoglossen›» begrenzten) Gebiet, das er unter dem Begriff der «Region» als Zone bezeichnet, «bekannt ist und üblicherweise verwendet wird» (ib., 121). Mit dem Anspruch, die «aus theorieanalytischer Sicht» gegebene «Heterogeneität der Typbegriffe» zu beheben, hat Aschenberg (1999, 73–76) diese Bezüge in ein übersichtlicheres dreigliedriges Klassifikationsschema überführt, das zwischen situationellem Umfeld, Redekontext und Wissen unterscheidet. Hier finden sich die genannten Differenzierungen in den ersten beiden Kategorien wieder. Auf die genannten Umfeldtheorien werde ich in den folgenden Kapiteln zurückkommen, da sie für die linguistische Fundierung sprachlicher Raumbezogenheit fruchtbar gemacht werden können: – Als Tätigkeit bezieht sich Sprache im jeweils konkreten Sprechakt in Coserius «Situation» auf die Interaktion mit der räumlichen (und zeitlichen) Umgebung (Referenz, Deixis, Indexikalität). – Als Tätigkeit auf der historischen Ebene ist Sprache in Coserius «Zone» situiert: Sprache wird als historische Technik in den Grenzen eines Gebietes relevant, in dem sie üblich ist und mit dem sie – im Erkenntnisinteresse dieser Arbeit – assoziiert wird. – Als Produkt kann Sprache im Sinne von Bühlers symphysischem Umfeld bzw. Coserius physikalischem Außer-Rede-Kontext materiell den geographischen Raum markieren (unmittelbar: Ortsschilder; mittelbar: kartographische Einschreibungen). Im Folgenden werden nun die spezifisch auf «Raumfragen» fokussierten Arbeiten diskutiert. Vor dem Hintergrund, dass weder die Sprachgeographie noch die frühe Soziolinguistik die gedachten und sozial konstruierten Zusammenhänge von Sprache und geographischem Raum hinterfragt haben, beschränkt sich die folgende Darstellung auf neuere Arbeiten, welche die Natur des Raumbezuges von Sprache in der ein oder anderen Weise reflektiert haben. Im Sinne einer theoretischen Durchdringungen fokussiere ich in der Diskussion die folgenden Aspekte: Natur und mögliche Typologien von Raumbezogenheit, Rolle der Sprecher/Sprechergemeinschaft, Kategorien von Zeit/Historizität, Bezeichnungen (Metaebene). Den Rahmen des Forschungsstandes kann dabei eine Einteilung bilden, die implizit allen Ansätzen zugrunde liegt. Diese geht von einer Betrachtung sprachlicher Raumbezogenheit unter zwei verschiedenen Vorzeichen aus: Zum einen unter dem Gesichtspunkt der diatopischen Variation, die ausgehend von der Dialektologie des 19. Jahrhunderts im Paradigma der Sprachgeographie untersucht wird. Zum anderen im Feld der Soziolinguistik, die hinsichtlich der Räumlichkeit einer Sprache an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Sprachverwendung und der (staatlichen) Organisation von Mehrsprachigkeit interessiert ist. Diese zweigliedrige Aufteilung nenne ich zusammenfassend den «klassischen

1.5 Forschungsstand | 17

Ansatz». Er entspricht der zuletzt von Thomas Krefeld (2004; 2011) explizit hervorgehobenen Differenzierung; dieser bezeichnet sprachliche Raumbezogenheit allgemein als die «Räumlichkeit der Sprache»21 (2004, 22). Sie sei «selbstverständlich» und ergebe sich daraus, «dass Idiome in direkter Weise an spezifische Gegenden, d.h. an siedlungsgeographische Räume angebunden sind. Dabei ist die von lokalen Dialekten (und sog. Kleinsprachen) bis zu staatlichen Nationalsprachen und unter Umständen weit darüber hinaus reichende topographische Staffelung einerseits und der damit einhergehende politisch-soziologische Status der Idiome andererseits zu berücksichtigen» (Krefeld 2004, 23).

Besonders hervorzuheben ist an dieser Ausführung der en passant eingebrachte Hinweis, dass die Raumbezogenheit von Sprache siedlungsgeographisch begründet ist, da die Verknüpfung mit der Siedlungsgeschichte der eine Sprache sprechenden Gemeinschaft von der Linguistik bislang außer Acht gelassen wurde. Der von Krefeld explizierte klassische Ansatz sieht nun eine Differenzierung in die Arealität und die Territorialität der Sprache vor. Mit seinen Worten bezeichne Arealität die «Bindung sprachlicher, in der Regel dialektaler Merkmale an einen spezifischen Ort. Bedingung [für deren Beschreibung; F.T.] ist die möglichst minutiöse Archivierung diatopischer Daten, deren Auswertung, vor allem bei Kartierung, mehr oder weniger fein differenzierte und gegliederte Sprach- bzw. Dialektareale erkennen lässt» (Krefeld 2004, 23).

Davon unterscheide sich die «sprachsoziologisch zu beschreibende Territorialität, d.h. die staatlich garantierte und nicht selten juristisch sanktionierte Geltung einer Staatssprache in einem administrativ scharf begrenzten Gebiet. Diese Sprachen, die in der Regel über voll ausgebaute und normierte Standardvarietäten verfügen, bezeichnet man als ‹implementiert›» (Krefeld 2004, 23s.).

Hinsichtlich der Raumbezogenheit von Sprache wird also differenziert zwischen einer Bindung von Merkmalen an Orte und einer implizit aus der Souveränität eines Staates abgeleiteten Geltung von Sprachen in politisch kontrollierten und definierbaren Gebieten.22

|| 21 In der Kommunikation sind Krefeld (2004, 22) zufolge neben der «Räumlichkeit der Sprache» auch die «Räumlichkeit des Sprechers» und die «situative Räumlichkeit des Sprechens» als Dimensionen relevant. 22 Die sprachwissenschaftliche Literatur zum Territorialitätsprinzip, das auf Sprachgebrauch bezogene Rechte an einen geographisch definierten Raum bindet, in Abgrenzung zum Personalitätsprinzip, das solche Rechte an Personen bindet, ist sowohl im Allgemeinen, als auch bezüglich der Anwendung auf einzelne Staaten sehr zahlreich; für einen Überblick cf. Labrie (1996). Beson-

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Die areale Raumbezogenheit der Sprache wurde bis heute keiner systematischen Analyse der theoretischen Prämissen unterzogen. Eine explizite Theorie dessen, wie Arealität konzeptualisiert wird, liegt folglich nicht vor (ein Vorschlag findet sich bei Lebsanft 2012, s.u.). Gleichwohl liegt der Sprachgeographie eine implizite Konstruktion des Zusammenhangs zwischen sprachlichen Phänomenen und geographischen Räumen zugrunde, die ich in einem Exkurs (cf. 5.3) herausarbeiten werde. Die im Folgenden zu besprechenden Ansätze und Reflexionen sind sämtlich jüngeren Datums und richten sich teilweise allgemein auf die grundlegende Frage, wie sprachliche Raumbezogenheit aufzufassen ist, teilweise im Besonderen auf die soziolinguistisch relevante «Territorialität der Sprache». Eine der wenigen umfassenden theoretischen Auseinandersetzungen mit der Kategorie des Raums – nicht nur im geographischen Sinn – bietet Oesterreicher (2008) in seinem Versuch, die verschiedenen Tendenzen der sich dem «spatial turn» zuwendenden Sprachwissenschaft zusammenzufassen. Er berücksichtigt – unter den verschiedenen Konzepten – sowohl die Raumbezogenheit des individuellen Sprechens, das er hinsichtlich seiner indexikalischen Bezüge beschreibt (cf. 3.1.1.2),23 als auch die Raumbezogenheit der historischen Einzelsprache, die er in der im Rahmen von Coserius Drei-Ebenen-Modell der Sprache als auf der historischen Ebene angesiedelte sprachliche Techniken definiert. Dabei nimmt Oesterreicher jedoch eine dem Phänomen nicht gerecht werdende, ausschließlich naturalistische Sichtweise ein, der zufolge nur Naturgegenstände Räume «ausfüllen» können; die Vorstellung, dass Einzelsprachen bezogen auf den geographischen Raum Sprachräume konstituieren können, lehnt er kategorisch ab. Wenn Oesterreicher den Begriff «Sprachraum»24 wie auch den Ausdruck Sprach-

|| ders differenziert wurde die Frage, inwiefern die Territorialität von Sprache eine Form sprachlicher Räumlichkeit darstellt, von der französischen Juristin Jordane Arlettaz (2006) behandelt: Ihr zufolge ist der rechtlich sanktionierte Sprachraum ein Gebiet, in dem eine lokale oder regionale Entität Zuständigkeiten – eben auch in Fragen des Sprachgebrauchs – besitzt; Sprache ist somit in erster Linie an Institutionen gebunden: «Le droit ne confère donc pas une langue à un territoire mais à une entité locale, à travers le transfert d’une compétence linguistique. Ce sont les organes de cette autorité publique locale, et subsidiairement les organes centraux de l’État installés sur ce territoire, qui répondent à un régime linguistique spécifique. Le territoire linguistique est donc avant tout le territoire sur lequel une entité locale dispose d’une compétence linguistique» (Arlettaz 2006, 33s.). Für eine weitergehende Auseinandersetzung mit der Territorialität von Sprache cf. 5.2.1.2. 23 Zur Indexikalität von Sprechakten cf. auch Gal (2010). Die Indexikalität des Sprechens und ihre Rolle bei der Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge sowie bei der Wahrnehmung von diatopischer Variation werden ausführlich in Kapitel 3 behandelt. 24 Ich ziehe den Terminus «geographische Raumbezogenheit von Sprache» vor.

1.5 Forschungsstand | 19

raum ablehnt,25 dann blendet er die assoziativ zu begründende geographische Raumbezogenheit als fait cognitif und als fait social aus. Gleichwohl differenziert er zwischen den zwei bereits genannten Typen von Raumbezogenheit: «Sprachliche Techniken haben keinen ‹Raum›: Wenn man nun aber genauer fragt, wie Informationen über historische Sprachtechniken überhaupt auf Räume bezogen werden können, dann kommen wir zu einem […] eigentlich nicht überraschenden Ergebnis. Zuerst einmal ist die Territorialität von Sprachen zu beachten […]. Die Territorialität von Standardsprachen oder die von rechtlich geregelten ‹Sprachgebieten› ist außerdem nicht einfach mit dem zu vergleichen, was traditionell als Räumlichkeit und Raumbezug von Idiomen und Dialekten konzipiert wird» (Oesterreicher 2007, 65s.).

Verglichen werden also Standardsprachen und Dialekte, d.h. hinsichtlich des Raumbezuges stehe eine «nationalsprachlich-verfassungskonform definierte Verbreitung» «dem gewissermaßen naturwüchsigen Typ der Verbreitung eines Dialekts» (ib., 66) gegenüber. Wenn Oesterreicher zu dem Schluss kommt, beide Arten des Raumbezuges würden «traditionell ununterschieden als Sprachraum bezeichnet», weshalb der Ausdruck «in verschiedenen Hinsichten schief und grundsätzlich unbrauchbar» (ib.) sei, so blendet er jedoch sowohl die von Krefeld explizierte Unterscheidung als auch die Tatsache, dass eine Differenzierung in der Regel kontextuell gegeben ist, aus. Lebsanft (2012) stellt die Frage nach der Natur sprachlicher Raumbezogenheit in seiner Analyse der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprache, bei der es ihm um die «soziolinguistische Fundierung und Konsistenz der in dem Vertragstext verwendeten Sprachkonzepte» (ib., 23) geht. Während er den Begriff der Territorialität für unproblematisch hält, «stellt sich hinsichtlich der Arealität allerdings die […] Frage, wie man sich den Zusammenhang zwischen Sprache und Raum denken kann» (ib., 31; meine Hervorhebung). Ein konkret in der Sprachplanung – vor allem bei der Frage, wo eine Sprache zu schützen ist – operationalisierbares «Konzept des ‹Sprachgebiets›», sei über die Sprecher zu definieren: «In der Tat lässt sich das Konzept des ‹Sprachgebiets› durch die Verknüpfung von Raum und Besiedlung linguistisch sinnvoll konstruieren. Leitkriterium ist dabei die Verwendung des siedlungsgeographischen Maßes der Bevölkerungsdichte – definiert als Quotient aus Bevöl-

|| 25 Oesterreichers Anliegen ist dabei offensichtlich ein anderes: Er setzt sich, ausgehend von einem auf (potentielle) Mehrsprachigkeit ausgerichteten Erkenntnisinteresse, für die Verwendung des Konzeptes «Kommunikationsraum» ein. Zwar stellt er mit Recht fest, dass die meisten Sprachen in einem geographischen Gebiet nicht exklusiv gesprochen werden, doch scheint mir die kategorische Ablehnung des – vollkommen legitimen – Interesses an der Räumlichkeit des Gebrauchs einer Einzelsprache (als eine von mehreren «an sich linguistisch ‹fehlerhafte[n]› raumbezogene[n] Konzeptualisierungen», 2008, 73) wissenschaftlich zweifelhaft.

20 | 1 Einleitung

kerungszahl und Fläche eines Raums (Areals) –, das allerdings durch weitere Merkmale ergänzt werden muss. So ist es zwar durchaus möglich, das Kriterium der Bevölkerungsdichte, soziolinguistisch gewendet, als ‹Sprecherdichte› zu interpretieren. Tatsächlich scheint auch ein gewisses Maß an Sprecherdichte die Voraussetzung dafür zu sein, von einem Gebiet reden zu können, in dem ‹indexikalisierte›, raumzeitlich verankerte Sprechereignisse in einer bestimmten Sprache mit einer markanten kommunikativen Austauschdichte überhaupt möglich sind» (Lebsanft 2012, 31).

Mit Blick auf ein juristisch definiertes und politisch operationalisierbares Konzept des Sprachraumes, wie es in der Linguistik bislang nicht gegeben ist, zielt Lebsanft auf die Verknüpfung der Ebene des Sprechens mit einem geographischen Gebiet ab. Die Raumbezogenheit einer Sprache wird von ihm folglich als assoziativ über das Sprechen der siedlungsgeographisch lokalisierten Gruppe konzeptualisiert. Die Siedlungsgeographie ist weiterhin die Brücke zum Verständnis der zeitlichen Relationen bei der Raumbindung von Sprachen. In der Charta wird der traditionelle Gebrauch einer Sprache in einem Gebiet in einen engen Sinn- und Textzusammenhang mit der Autochthonie (oder «Alteingesessenheit», cf. Kapitel 4) der eine bestimmte Sprache sprechenden Menschengruppen gestellt, wie Lebsanft (2012, 27–29) aufzeigt. Während in seiner Analyse der Versuch im Vordergrund steht, über das Kriterium der kommunikativen Austauschdichte zu demonstrieren, dass das in der sprachplanerischen Praxis verwendete Sprachgebiets-Konzept auch linguistisch fundiert werden kann,26 klingt am Rande die Erkenntnis an, dass der Zusammenhang von Sprache und geographischem Raum assoziativ ist, d.h. gedacht wird. Stärker fokussiert wird diese Erkenntnis bei Viaut (2004; 2007) bzw. Viaut/Pailhé (2010). Ebenfalls im Zusammenhang mit der Untersuchung von Minderheitensprachensituationen, d.h. aus einer dezidiert soziolinguistischen Perspektive, geht es ihm gemeinsam mit dem Geographen Pailhé vor allem darum, «d’approfondir la réflexion sur la relation entre langue et espace» (Viaut/Pailhé 2010, 11). Entsprechend konzeptualisieren Viaut/Pailhé (2010, 25) sprachliche Raumbezogenheit über den Sprecher: «l’espace d’une langue est essentiellement composé du réseau

|| 26 Mit der Berücksichtigung der Aspekte Bevölkerungs- und Sprecherdichte sowie der kommunikativen Austauschdichte bezieht sich Lebsanft auf die Bestimmung in Artikel 1b der Charta, wonach ein geographisches Gebiet dann als «Gebiet» einer Regional- oder Minderheitensprache aufgefasst wird, wenn diese dort «mode d’expression d’un nombre de personnes justifiant l’adoption des différentes mesures de protection et de promotion» ist. Die Verknüpfung von Sprache, Sprecherdichte und Raum in der Sprachplanung sowie die konkrete Anwendung dieser Konzeption im europäischen Sprachenschutz habe ich ausführlich in Tacke (2014a) dargestellt.

1.5 Forschungsstand | 21

de ses locuteurs».27 Viaut präsentiert die Raumbezogenheit von Sprachen – und hier liegt m.E. die wichtigste Erkenntnis – als Teil der Vorstellungswelt und erlebten Realität der Sprecher, als Objekt sprecherseitiger mentaler Repräsentationen. Wie sehr sich die assoziative Raumbezogenheit manifestiert, sei insofern geprägt «par le critère du lien ressenti par les locuteurs envers le territoire. Cela renvoie au vécu, directement ou indirectement, le territoire linguistique apparaissant alors au sein d’une représentation triangulaire avec la langue et le locuteur» (Viaut 2010, 30).

Für Viaut ist Raumbezogenheit folglich unter konstruktivistischen Prämissen zu betrachten, d.h. sie wird nicht als etwas Naturgegebenes, sondern als etwas Erlebtes (le vécu) begriffen, das auf der Ebene mentaler Repräsentationen beim Sprecher (lien ressenti) situiert ist.28 In dem Maße, in dem die Raumbindung der Sprachen nicht von objektiv bewertbaren Fakten abhängt, sondern von den Urteilen und Vorstellungen der Sprecher, wird auch der Faktor der Zeitlichkeit bzw. Historizität des Raumbezuges relevant. Dieser erscheint bei Viaut direkt verknüpft mit dem, was er auf der Bezeichnungsebene etwa als Verankerung präsentiert, wenn er die «différents ancrages, débords territoriaux anciens ou récents des langues» (2010, 24) evoziert; ferner ist von Verwachsung die Rede, von «l’implantation linguistique» (ib., 44) oder der «non implantation dans le territoire» (2007, 53); zusammen wird dies unter dem Begriff der «Einschreibung» gefasst: «inscription des langues dans l’espace» (2010, 26). Die von Viaut gewählten Ausdrücke können sowohl die Tätigkeit als auch das Resultat einer Handlung bezeichnen. Im Sinne konstruktivistischer Konzepte unterstreichen sie aber wohl vor allem den Tätigkeitsaspekt unter jeweils spezifischen Gesichtspunkten: Während inscription die Gestaltung des geographischen Raumes durch Sprache betont, ähnlich einer Inschrift auf einen Stein oder in einen Baum, geht es bei ancrage wiederum bildlich um die feste Anbindung der Sprache an den Raum. Die «stärkste» Verbindung wird wohl mit implantation (territoriale) ausgedrückt, denn das Substantiv vermag eine Verbindung zu evozieren, die immerhin an eine organische Verpflanzung erinnert, wenngleich die enthaltene plante ‘Pflanze’ nicht über den metaphorischen Gebrauch hinwegtäuschen sollte.

|| 27 Der Ausdruck espace meint bei Viaut jedoch eine abstrakte Größe, nicht (nur) den geographischen Raum. Die Konzeptualisierung als réseau passt auch zu Lebsanfts (2012, 31) «Sprecherdichte»; zum Begriff des Netzwerks in der Soziolinguistik cf. Schenk/Bergs (2004). 28 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die «Gedanken zu Raum und Territorium als soziolinguistische Kategorien» von Seiler (2008): Bezogen auf die Francophonie konzipiert Seiler die Verbindung von Sprache und Raum wie Viaut konstruktivistisch als ein «Sinnkonstrukt» (ib., 32).

22 | 1 Einleitung

Insgesamt ist festzustellen, dass in der Linguistik kein allgemeiner oder verallgemeinerter Begriff geographischer Raumbezogenheit von Sprache vorliegt. Über den klassischen Ansatz, also die grobe Differenzierung in Arealität und Territorialität hinaus, finden sich bislang zwar einige Ansätze, die Natur des Raumbezuges von Sprache zu hinterfragen, doch sind diese noch nicht in eine konsistente Theoretisierung gemündet. Angesichts der Phänomene, die ich beispielhaft in 1.1 aufgezeigt habe, wird die gegebene Theorie der beobachtbaren Empirie jedoch nicht gerecht. Am ehesten ist dies in der konstruktivistischen Konzeption Viauts der Fall, da er sprachliche Raumbezogenheit als etwas von den Sprechern Erlebtes und Vorgestelltes auffasst. Daran anknüpfend vertrete ich die These, dass sich die Konzeptualisierung des konkreten geographischen Raumes mit dem Kulturobjekt Sprache als zusammenhängend rein naturalistisch-materialistischen Maßstäben entzieht; vielmehr ist die Verknüpfung von Sprache und geographischem Raum jenseits einer solchen Sichtweise auf der subjektiven Wahrnehmungs- (fait cognitif) und gesellschaftlichen Erfahrungsebene (fait social) relevant und sollte insofern kognitiv und soziolinguistisch beschrieben werden, nicht naturwissenschaftlich negiert. Eine umfassende, der beobachtbaren Empirie gerecht werdende Konzeption sprachlicher Raumbezogenheit setzt sinnvollerweise beim Begriff der Territorialität der Sprache an, wobei dieser entscheidend zu erweitern ist. So beschränkt sich der in der Soziolinguistik verwendete Begriff der Territorialität ausschließlich auf gesetzlich geregelte Statusfragen (wo gilt juristisch betrachtet eine Sprache als Amtssprache? wo gelten bestimmte sprachbezogene Rechte?) und erfasst damit nur einen kleinen Teil der für die Sprecher erlebten und mitunter mitgestalteten sprachlich-räumlichen Realität.

2 Referieren auf «Sprachräume» Unter naturalistisch-materialistischen Gesichtspunkten betrachtet sind Sprachen weder ortsgebunden, noch «füllen» sie Räume. Dass sprachliche Raumbezogenheit ein Phänomen, wenn nicht der Natur, so doch des Geistes darstellt, wird jedoch schon daran erkennbar, dass Menschen auf von ihnen wahrgenommene sprachlich-räumliche Zusammenhänge mit sprachlichen Mitteln verweisen. Als Zeugnisse einer entsprechend geprägten Welterfahrung und -strukturierung, lassen sich Referenzmittel unterschiedlicher Natur in den verschiedenen Diskursuniversen identifizieren. Durch die Untersuchung dieser Referenzausdrücke ist es zumindest annäherungsweise möglich, Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie die (assoziative) Verknüpfung von Sprache und Raum konzeptualisiert wird. Die Assoziation von Sprache und geographischem Raum ist alltäglich, sie beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Fachtradition oder eine bestimmte Epoche, sondern sie stellt ein «Element des Denkens» dar, d.h. eine Form, die Wirklichkeit, in der auch ganz objektiv betrachtet Zusammenhänge zwischen Sprachlichem und Räumlichen bestehen, zu begreifen und sie mental zu strukturieren. Wenn wir die Herkunft eines Sprechers heute anhand einer besonderen Aussprache oder auffälliger morphosyntaktischer Varianten bestimmten Regionen zuordnen können, dann manifestiert sich darin eine Strukturierung der uns umgebenden Welt nach sprachlichen Gesichtspunkten, gleichgültig, ob es sich um den Berliner – von Koch (1997, 43) als «schnodderig» bezeichneten – Sprechstil handelt, sich ein Spanischsprecher im Chat durch die Verwendung des Anredepronomens vosotros/as als Spanier zu erkennen gibt oder die Aussprache [mwe] für moi auf eine kanadische Herkunft verweist. Vor allem Aussprachegewohnheiten, also das, was gemeinsprachlich als Akzent (fr. accent, sp. acento) bezeichnet wird, verweisen stets auf eine alltäglich relevante sprachlich strukturierte Geographie, der ein Denkmuster zugrunde liegt, das schon für die Antike überliefert ist und wovon etwa das Alte Testament mit der Frage nach der Aussprache des Wortes Schibboleth (Buch der Richter 12, cf. 3.2.4.5) Zeugnis ablegt. Daraus geht hervor, dass die assoziative Raumbezogenheit von Sprache und Sprechen vorwissenschaftlich ist. Sie beginnt in der alltäglichen Wirklichkeitserfahrung und ist nicht nur zu einer (unhinterfragten) Prämisse der Sprachwissenschaft geworden, sondern stellt gleichermaßen eine Grundlage politischer und juristischer Regulierung von Mehrsprachigkeit sowie von Sprachplanung dar. In diesem Kapitel sollen daher nach einer allgemeinen Betrachtung (2.1) die Referenzausdrücke des Deutschen, Französischen und Spanischen innerhalb der Diskursuniversen des Alltags (2.2), der Politik und Gesetzgebung (2.3) sowie der

24 | 2 Referieren auf «Sprachräume»

Sprachwissenschaft (2.4) betrachtet werden. Abbildung 5 verdeutlicht schematisch, inwiefern der Begriff sprachlicher Raumbezogenheit über den alltäglichen Sprachgebrauch als Spiegel der Wirklichkeitserfahrung den juristischen und linguistischen Diskurs transzendiert. Begriff «sprachliche Raumbezogenheit»

Politisch-juristische Definitionen

Alltagssprachliche Referenz

z.B. «La Belgique comprend quatre régions linguistiques» (Constitution belge, Art. 4)

mittels NPn (da, wo man … sagt; là où on dit …; allí donde se dice …)

«A los efectos de esta Ley Foral, Navarra tiene: a) Una zona vascófona […]. b) Una zona mixta […]. c) Una zona no vascófona» (Ley Foral 18/1986, de 15 de diciembre del vascuence, Art. 5) «territory in which the […] language is used» (Charta, Art. 1b)

hypostasiert durch Ausdrücke wie Gebiet, Grenze, Sprachraum, Sprachgebiet, aire, domaine, territoire, dominio, territorio, limite, frontière, frontera

Linguistische Verwendungen z.B. le domaine du français, dominio lingüístico gallego, im deutschen Sprachraum Areallinguistische Terminologie z.B. aire lexique, área del seseo, Isoglosse Soziolinguistische Begriffe z.B. Territorialität der Sprache, Glossotop, linguistic landscape

Abb. 5: Der Begriff «sprachliche Raumbezogenheit»

2.1 Referenzsemantik und Kognition Zur Betrachtung der sprachlichen Ausdrücke, die zur Referenz auf sprachlichräumliche Zusammenhänge verwendet werden, eignet sich eine referenzsemantische Perspektive und insbesondere ihre Interpretation, wie sie im Zeichen der ordinary language philosophy vor allem von Strawson (1950), Searle (1969) und Kripke (1972; 2013) vertreten wird. So geht es referenzsemantisch um die Beziehung sprachlicher Ausdrücke zur außersprachlichen Wirklichkeit und im Sinne der ordinary language philosophy darum, den (alltäglichen) Sprachgebrauch zum Ausgangspunkt zu nehmen. Die in der Referenzsemantik im Zusammenhang der analytischen Philosophie strittige Frage, ob Eigennamen eine Bedeutung haben,

2.1 Referenzsemantik und Kognition | 25

blende ich dabei aus.1 Potentiell ist es zwar auch denkbar, mittels Eigennamen auf sprachlich-räumliche Zusammenhänge zu verweisen, doch finden sich mit Ausnahme der Gebietsbezeichnung Occitània für das Gebiet, in dem traditionell Okzitanisch gesprochen wird, nur wenige Beispiele. Vielmehr geht es vorwiegend um Referenzausdrücke in Form von (durch Relativsätze spezifizierten) Nominalphrasen oder Lokaladverbialen, bei denen ein Ort oder ein Gebiet mithilfe von Beschreibungen identifiziert wird. Prototypisch sind dies Ausdrücke wie da, wo man … sagt oder in dem Gebiet, wo die Leute … sagen. Solche Zusammenhänge werden darüber hinaus, gerade mit Blick auf ihre politische und juristische Thematisierung und die linguistische Terminologisierung, zu Einzelausdrücken wie Sprachgebiet, aire linguistique, frontera lingüística etc. hypostasiert, wohinter kognitiv betrachtet eine Gruppierung von Phänomenen (z.B. Sprecher, Sprechweisen), die als ähnlich und/oder kontig wahrgenommen werden, steht. Diese «Verdinglichung» bzw. Reifizierung entspricht dabei der kognitiven «ability to manipulate a group [of familiar configurations] as a unitary entity at a higher level of conceptualization» (Broccias 2013). So definiert beispielsweise der Text der Charta des Europarats, was er unter dem «territory in which the regional or minority language is used» (Art. 1b) versteht und kodifiziert damit ein sprachplanerisch operationalisierbares Verständnis des zu schützenden «Sprachgebiets». In der Linguistik stellt sich die Sachlage komplizierter da: Gerade in nicht spezifisch areallinguistischen Texten werden häufig alltagssprachliche Ausdrücke verwendet; darüber hinaus gibt es nur im Bereich der Areallinguistik/Sprachgeographie (z.B. Dialektareal, aire lexique) sowie in Ansätzen auch in der Soziolinguistik (z.B. Territorialität der Sprache, Glossotop) eine definitorisch explizit festgelegte Terminologie. Grundsätzlich gilt dabei die Annahme, dass Sprache(n) und geographische Gebiete in einem Zusammenhang stehen, selbst in linguistischer Literatur meist als selbstverständlich und wird insofern nicht reflektiert. Gerade weil sprachliche Raumbezogenheit nicht «dinglich», sondern kognitiv und soziologisch zu fassen ist und insofern in besonderer Weise der Subjektivität des Zeichenbenutzers sowie gesellschaftlichen Mustern der Weltwahrnehmung obliegt, überrascht es kaum, dass auf sprachliche Raumbezogenheit nur wenig einheitlich und präzise referiert wird. In der Referenzsemantik schlägt Gottlob Frege (1892) eine wichtige Unterscheidung vor, wenn er, mit Bezug auf Eigennamen, zwischen dem Referenten (in

|| 1 Hier stehen im Wesentlichen die Positionen Freges (1892) und Russells (1905), die diese Frage bejahen, der Auffassung Kripkes (1980; 2013) gegenüber, während Strawson (1950) einen Mittelweg geht.

26 | 2 Referieren auf «Sprachräume»

seiner heute missverständlichen Terminologie «Bedeutung», ib., 26) und der Bedeutung als «Art des Gegebenseins» (bei ihm «Sinn», ib.) unterscheidet. Er geht davon aus, das die Bedeutung eines Zeichenträgers objektiv gegeben sein kann («gemeinsames Eigentum von vielen», ib., 29), während die Zeichenbenutzer zugleich über eine subjektive «Vorstellung» verfügen: «meine Vorstellung davon [ist] ein aus Erinnerungen von Sinneseindrücken, die ich gehabt habe, und von Tätigkeiten, inneren sowohl wie äußeren, die ich ausgeübt habe, entstandenes inneres Bild» (ib.). Hinsichtlich der Referenz auf sprachlich-räumliche Zusammenhänge kann beobachtet werden, dass die objektiv gegebene Bedeutung von Zeichenträgern wie etwa Gebiet, territoire und dominio zur Bezeichnung von subjektiv gegebenen Vorstellungen dienen. Die zur Referenz verwendeten Ausdrücke können hierbei belegen, dass sprachlich-räumliche Zusammenhänge analog zu anderen geographischen Phänomenen gedacht werden, insofern ihnen dieselben alltagssprachlichen Ausdrücke zugrunde liegen. So wird die Assoziation einer bestimmten Aussprache mit einem Ort sprachlich kaum anders ausgedrückt als die Zusammenhänge zwischen «dinglichen» Objekten wie bestimmten Pflanzenarten und ihren Verbreitungsgebieten. Da kaum Literatur existiert, die sich mit dem Thema sprachlicher Raumbezogenheit in dem hier intendierten Sinne beschäftigt, sind sprachlich-räumliche Zusammenhänge hypostasierende Ausdrücke vergleichsweise selten und in Korpora lassen sich – wenn überhaupt – nur wenige, kaum repräsentative Textstellen finden. Zur Untersuchung des Wortschatzes dienen zunächst die gebräuchlichen gemeinsprachlichen Wörterbücher, die teilweise bereits Hinweise auf fachsprachliche Verwendungen bieten: Für das Deutsche der Duden und «der Dornseiff», für das Französische der Grand Robert (GR), der Trésor de la langue française (TLF), das Französische Etymologische Wörterbuch (FEW) sowie der Dictionnaire historique de la langue française (DHLF). Für das Spanische der Diccionario de la lengua española der Real Academia Española (DRAE) und der Diccionario de uso del español (DUE). Präzise Korpusanfragen zu Verwendungen und Häufigkeiten über Google hinaus erlauben der Wortschatz der Universität Leipzig sowie die Leipzig Corpora Collection2, Frantext sowie das Corpus Diacrónico del Español (CORDE) und das Corpus de Referencia del Español Actual (CREA). Hinsichtlich der linguistischen Terminologie dienen bei einigen explizit definitorisch fixierten Ausdrücken das Lexikon der Sprachwissenschaft (Bußmann 2008) oder das Metzler Lexikon Sprache (Glück 2000) und schließlich Definitionen und Hinweise in der Sekundärliteratur. Als besonders nützliche Quellen für die Wort- und Begriffsgeschichten erweisen sich das Lexikon der Geographie sowie

|| 2 Universität Leipzig: Wortschatz, .

2.2 Referieren im Alltag | 27

diverse französische (z.B. Lévy/Lussault 2003; Brunet/Ferras/Théry 1992) und spanische Lexika (z.B. Fontanillo Merino 1986; Johnston/Gregory/ Smith 2000) – hier wird die enge begriffliche Verzahnung zwischen Linguistik und (Sozial-)Geographie deutlich.

2.2 Referieren im Alltag Kognitiv betrachtet strukturieren Menschen ihre geographische Umgebung nach diversen Kriterien, etwa topographischen Aspekten (Wälder, Flüsse, Berge), aber auch nach siedlungsgeographischen Gesichtspunkten (Städte, Gemeinden) sowie deren interne Gliederungen durch Grenzen. Des Weiteren spielt – unter anderem bedingt durch die kartographische Bildung – die Strukturierung der Geographie nach politisch definierten Gebieten, also die Kenntnis über Ausdehnung und Begrenzung von Regionen und Ländern, eine wichtige Rolle. Über die genannten Strukturen hinaus soll in diesem Abschnitt am Beispiel der alltagssprachlichen Referenz dargelegt werden, mit welchen Ausdrücken in den behandelten Einzelsprachen auf die geographische Räumlichkeit von Sprachen und Varietäten referiert wird. Konkret soll anhand einer lexikologischen Analyse der hypostasierenden einzelsprachlichen Ausdrücke (Typ: Sprachraum) belegt werden, dass sprachliche Raumbezogenheit im Denken der Sprachbenutzer weder in anderer Weise gedacht noch durch ein gesondertes Vokabular verbalisiert wird als die Weltwahrnehmung von Topographie, Siedlungs- oder politischer Geographie. Dabei sollen im Sinne einer kognitivistischen Betrachtung im Folgenden die durch die jeweiligen Ausdrücke aktivierten Frames bzw. Wissenskontexte berücksichtigt werden. Ausgangspunkt ist also die Annahme, dass die Ausdrücke, insbesondere die Substantive, nicht synonym sind, sondern trotz weitgehender semantischer Übereinstimmung der Zusammenhang von Sprache und Raum durch die verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten auch unterschiedlich nuanciert konzeptualisiert wird, jeweils in Abhängigkeit des Zeichenbenutzers und des (kulturellen) Kontextes.3

|| 3 Die kognitivistische Fragestellung muss allerdings auf die grobe Darlegung der jeweiligen Wissenskontexte beschränkt bleiben, d.h. auf die Frage nach der «Aktivierung des in Frames organisierten verstehensrelevanten Wissens» (Busse 2012, 670). «Sprachräumliche» Ausdrücke bezeichnen bereits Vorstellungen, die von der «mit den Sinnesorganen wahrnehmbaren physischen Dingwelt» (ib., 683) abstrahieren, weshalb sie im Bereich der Abstrakta anzusiedeln sind, welche im Rahmen der Frame-Theorien aufgrund ihrer Komplexität bislang noch nicht ausreichend berücksichtigt worden sind (cf. ib.). Detaillierte Frame-Schemata bleiben daher im Folgenden aus.

28 | 2 Referieren auf «Sprachräume»

Bei der Untersuchung greifen semasiologische und onomasiologische Perspektive ineinander. Während die hier thematisierten einzelsprachlichen Wortfelder unterschiedlich strukturiert sind, resultieren die Ähnlichkeiten – insbesondere zwischen dem Französischen und dem Spanischen – vor allem daraus, dass diese mehrheitlich aus denselben griechischen und lateinischen Etyma gebildet wurden bzw. sich als Internationalismen oder «Europäismen» verbreitet haben. Bei der Frage der Referenz auf sprachlich-räumliche Zusammenhänge im Alltag gilt es zunächst, den «Kernwortschatz» zu identifizieren, der – einzelsprachlich differenziert – dazu dient, geographische Zusammenhänge in hypostasierter Form zu bezeichnen. Dieser lässt sich auf der lexikographischen Grundlage der einsprachigen Wörterbücher herausarbeiten. Daran anknüpfend lassen sich mithilfe von Korpora Aussagen über Häufigkeit und Verwendung der ermittelten Ausdrücke treffen. Bei den Korpora ist die Frage der Datengrundlage mit Blick auf die untersuchte alltagssprachliche Referenz jedoch problematisch. So erweist sich Frantext als wenig brauchbar, da hier vor allem ein literarischer Sprachgebrauch dokumentiert wird. Breiter anwendbar ist indessen das CREA. Insgesamt gewinnbringender sind die im Projekt des Leipziger WortschatzKorpus (Leipzig Corpora Collection) zusammengefassten Recherchemöglichkeiten, da hier neben dem Deutschen für 230 Sprachen, u.a. auch das Französische (Corpus français4) und Spanische, Daten erhoben wurden, die aus dem «allgemeinsprachlichen Kontext» bzw. aus öffentlich zugänglichen Quellen («news texts, random web texts, and Wikipedia texts»5) stammen. Für das Deutsche lässt sich leicht mithilfe des Duden ein auf die geographische Referenz bezogenes Wortfeld über die Auflistung der Synonyme ermitteln: Über den Ausdruck Raum gelangt man u.a. zu Areal, Gebiet, Gegend, Region, Territorium sowie Zone. Hinzu kommt der Ausdruck Grenze. Berücksichtigt man daraufhin die Definitionen der einzelnen Ausdrücke, so lässt sich aus der Lexikographie erschließen, dass sich die Raumreferenz im geographischen Sinne im Deutschen um den Ausdruck Gebiet herum strukturiert. So heißt es zu Raum, «geografisch oder politisch unter einem bestimmten Aspekt als Einheit verstandenes Gebiet», wobei Zone ähnlich definiert wird, nämlich als «nach bestimmten Merkmalen unterschiedenes, abgegrenztes, geografisches Gebiet», während die || 4 «Le Corpus français est une base de données composée de près de 37 millions de phrases, soit environ 700 millions de mots. Il a été extrait et constitué par le groupe de recherche TAL de l’Université de Leipzig / Allemagne, et aménagé avec le concours de Daniel Elmiger et Alain Kamber (Université de Neuchâtel/Suisse)» (, letzter Zugriff: 11.04.2014). 5 Cf. «About the Leipzig Corpora Collection», [letzter Zugriff: 11.04.2014].

2.2 Referieren im Alltag | 29

Gegend ein «im Hinblick auf seine Beschaffenheit oder seinen Bezugspunkt bestimmtes, aber nicht näher abgegrenztes Gebiet» darstelle. Knapper, jedoch ebenfalls auf Gebiet bezogen, sind die Definitionen von Areal («abgegrenztes Gebiet […]») und Territorium («Gebiet, Land, Bezirk; Grund und Boden»). Die Region gilt wiederum als ein «in bestimmter Weise geprägtes, größeres Gebiet».6 Als «Trennungslinie zwischen Gebieten, die […] sich durch natürliche Eigenschaften voneinander abgrenzen» vervollständigt die Grenze dieses um den Ausdruck Gebiet organisierte Netzwerk. Auch quantitativ lässt sich Gebiet als Kernausdruck belegen. Für das Deutsche bietet das Leipziger Wortschatz-Korpus einen Indikator. Zwar ist der Ausdruck Raum aufgrund seiner Polysemie, d.h. angesichts seiner nicht nur auf die Geographie beschränkten Verwendungsweisen, mit 43.331 Vorkommen (Stand: April 2014) der häufigste, doch nehmen nach ihm Gebiet und Grenze mit je über 23.000 Okkurrenzen den zweiten Rang ein. Die übrigen Ausdrücke sind dagegen eher selten: Areal (5.916),7 Gegend (9.790), Territorium (2.253). Korpuslinguistisch sind die syntagmatischen Beziehungen, die zum Zweck der Referenz zwischen diesen geographischen Kernausdrücken und sprachlichen Bezügen hergestellt werden, nicht zufriedenstellend darstellbar. Doch verfügt das Deutsche auch über eine Reihe von allgemeinsprachlichen Ausdrücken, die diese Verknüpfung kompositorisch schaffen. Der Duden verzeichnet dafür Sprachraum, Sprachgebiet und Sprachgrenze, deren Definitionen wiederum um den Ausdruck Gebiet aufgebaut sind: Ersterer sei das «Gebiet, in dem eine bestimmte Sprache oder Mundart gesprochen wird», während die Sprachgrenze die «Grenze zwischen den Verbreitungsgebieten zweier Sprachen» darstelle. Sprachgebiet selbst verweist zurück auf «Sprachraum». Dass laut dem Leipziger Korpus Sprachraum mit 705 Okkurrenzen viel häufiger als Sprachgebiet (53) und Sprachgrenze (48) verwendet wird, dürfte mit der Prominenz des Ausdrucks Raum im Deutschen zusammenhängen. Semantisch lässt sich aufgrund der dort gegebenen Textauszüge auf einen sowohl sprachlichen als auch kulturellen Raumbezug schließen: «Im 12. Jahrhundert entstanden während einer zweiten Gründungswelle die Universitäten von Paris, Oxford, Salamanca und Padua, derweil man im deutschen Sprachraum hinter dieser Entwicklung zurückblieb» (, letzter Zugriff: 15.01.2011).

|| 6 Da die Ausdrücke Region und Zone zudem eine starke politische Konnotation aufweisen, klammere ich sie (wie auch die französischen und spanischen Entsprechungen) im Folgenden aus. 7 Areal ist im Deutschen vor allem fachsprachlich konnotiert; so gibt auch der Duden sogar eine auf die Sprachgeographie bezogene Definition an: «(Fachsprache) Verbreitungsgebiet (besonders von Tieren, Pflanzen, sprachl. Erscheinungen)» (cf. 2.4.2).

30 | 2 Referieren auf «Sprachräume»

«Im angelsächsischen Sprachraum wird der Wettbewerb hochgehalten» (, letzter Zugriff: 23.12.2010). «Von alters her gehörte Bernhard im deutschen Sprachgebiet zu den besonders populären Namen» (, letzter Zugriff: 16.01.2011).

Beim Ausdruck Sprachgrenze stellt sich heraus, dass 33 der 48 Vorkommen aus schweizerischen Pressetexten hervorgehen, was einerseits zweifellos an der kulturell relevanten Viersprachigkeit der Schweiz liegt, andererseits auf die dort auch politisch-juristisch relevante sprachliche Gliederung zurückzuführen ist (cf. 6.5): «Anders als im Kanton Wallis, wo der deutsche und der welsche Kantonsteil ziemlich klar voneinander getrennt sind, gleicht die Sprachgrenze im Freiburgischen eher einer Zone als einer Linie» (, letzter Zugriff: 17.01.2011). «Ich bin in Biel, an der Sprachgrenze, aufgewachsen und wurde erstmals in der Primarschule mit diesem Fachgebiet [d.h. mit der Kartographie] konfrontiert» (, letzter Zugriff: 17.01.2011).

Für das Französische lassen sich die Ausdrücke espace, aire, domaine, (région,) territoire, (zone,) sowie limite und frontière ermitteln. Der Ausdruck espace, der dem deutschen Raum am ehesten entspricht, dient jedoch im Französischen allenfalls in Kombination mit dem Adjektiv géographique der geographischen Referenz – der Grand Robert verzeichnet keinen Bezug zur Geographie. Hier sind die Ausdrücke aire, domaine und territoire klarer. Interessant ist, dass der in der Sprachgeographie etablierte Ausdruck aire recht allgemein definiert wird, nämlich als «Surface plane» (als Beispiel wird u.a. auf die «aire de repos» an Autobahnen verwiesen), während ein Bezug zur Geographie als wissenschaftssprachliche Verwendungsweise markiert wird: «Région plus ou moins étendue (occupée par certains êtres), lieu (d’activités, de phénomènes). → 1. Champ, domaine, zone. – Aire linguistique, propre à un fait ou à un ensemble de faits linguistiques. – Sc. nat. Aire de répartition de la vigne, des forêts. Aire de répartition d’une espèce animale (dite aire spécifique). Aire de distribution (d’un genre, d’une espèce, d’une famille végétale)».

Mit nur 9.077 Okkurrenzen im Corpus français ist aire auch sehr viel seltener als domaine (126.187), das klar geographisch als «Terre possédée par un propriétaire» definiert wird, ebenso wie territoire (86.287), dessen Raumbezug wiederum klar geographisch ist: «Étendue de la surface terrestre sur laquelle vit un groupe humain». Aus den Definitionen und der Häufigkeit lässt sich für das Französische keine Präferenz für einen bestimmten Kernausdruck ablesen, vielmehr konkurrieren territoire und domaine mit dem selteneren aire. Mit limite («Ligne

2.2 Referieren im Alltag | 31

qui sépare deux champs, deux domaines, deux territoires contigus») und frontière («Limite d’un territoire qui en détermine l’étendue») bietet das Französische zwei Grenzausdrücke. Auffällig ist insgesamt, dass die Definitionen auf domaine und territoire ausgerichtet sind, die beide neben der geographischen Denotation die Idee von Besitz und Macht ausdrücken. Im Spanischen lassen sich über den DRAE analog zum Französischen die Ausdrücke área, espacio, dominio, territorio sowie límite und frontera ermitteln. Der geographische Bezugspunkt wird in den gegebenen Definitionen in allen Fällen über Wörter mit dem aus dem lateinischen TERRA(M) abgeleiteten terrhergestellt. So wird área als «Espacio de tierra comprendido entre ciertos límites», espacio (vital) als «Ámbito territorial», dominio als «Territorio sujeto a un Estado» und territorio als «Porción de la superficie terrestre perteneciente a una nación, región, provincia, etc.». definiert. Gleiches gilt für die Grenzausdrücke frontera und límite als «Línea real o imaginaria que separa dos terrenos, dos países, dos territorios». Während anders als im Französischen área quantitativ mit 69.720 Vorkommen deutlich häufiger ist als territorio (37.961) und dominio (10.973), ist territorio den ausschließlich geographiebezogenen Definitionen nach dennoch als Kernausdruck zur Raumreferenz zu werten. Der Ausdruck dominio verhält sich dazu synonym, berücksichtigt man, dass der DRAE hier auch eine sprachbezogene Definition anbietet: «Territorio donde se habla una lengua o dialecto». Hier wird also wiederum die Idee des Besitzes und der Machtausübung semantisch integriert. Syntagmatische Beziehungen lassen sich über die Korpora für das Spanische und Französische im allgemeinsprachlichen Bereich nicht direkt nachweisen. Die Ergebnisse, die das CREA anbietet, beschränken sich auf fachsprachliche Verwendungen. Die lexikographischen Angaben deuten jedoch darauf hin, dass im Französischen domaine, territoire und aire und im Spanischen dominio und territorio die im Deutschen allgemein durch Gebiet und speziell durch Sprachraum besetzte Position einnehmen. Dieser Kernwortschatz, mit dem neben den Nominalphrasen des o.g. Typs im Deutschen, Französischen und Spanischen auf geographische Zusammenhänge und eben auch auf sprachlich-räumliche Zusammenhänge referiert werden kann, zeigt, dass der Raumbezug von Sprache ähnlich konzeptualisiert wird, wie die Räumlichkeit anderer – etwa biologischer, siedlungsgeographischer oder politischer – Phänomene. Der deutsche Ausdruck Gebiet8 evoziert dabei wie das französische aire die Idee einer begrenzten Fläche. Die Ausdruckspräferenzen

|| 8 Ursprünglich leitet sich Gebiet jedoch aus «gebieten» ab, doch ist fraglich, ob diese Bedeutung jenseits der ausdrucksseitigen Konservierung heute alltagssprachlich relevant ist.

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erlauben überdies auch Rückschlüsse auf die jeweiligen kulturellen Kontexte: Der im schweizerischen Kontext prominente Ausdruck Sprachgrenze kann als Indikator für die gleichsam kognitive und soziopolitische Verankerung sprachlich-räumlicher Gliederungen betrachtet werden. Dasselbe gilt für Spanien, wo die Mehrsprachigkeit jedoch noch deutlicher als in der Schweiz unter konfliktiven Vorzeichen betrachtet wird.

2.3 Referieren in politisch-juristischen Zusammenhängen In politischen Texten rechtlicher Relevanz findet sich der Begriff sprachlicher Raumbezogenheit – wie bereits angesprochen – sowohl in konkreten Ausdrücken wie auch in juristischen Definitionen (in Form von Nominalphrasen) kodifiziert. Wenngleich in die Prozesse der Sprachplanung auch Linguisten mit eingebunden werden, handelt es sich dabei jedoch vorwiegend um den Versuch, Sprachen über ihre «traditionelle Verwendung» und die siedlungsgeographische Lokalisierung der sie sprechenden Gemeinschaften mit konkreten Gebieten zu verknüpfen. Ziel ist dabei, die Geltung von Rechten und die Anwendung von Maßnahmen – etwa im Bereich des Sprachenschutzes – geographisch zu begrenzen und zu legitimieren. Auf der Ebene nationaler und regionaler Gesetzgebung wird sprachliche Raumbezogenheit vor allem durch die Statuierung von Amtssprachen juristisch verbindlich kodifiziert. Dies ist der Fall, wenn Verfassungen die «Nationalsprache» zur Sprache des Staates erklären, wie dies etwa in Frankreich («La langue de la République est le français», Art. 2) und Spanien («El castellano es la lengua española oficial del Estado», Art. 3,1) gegeben ist. Die Schweiz erklärt gleich vier Sprachen zu Nationalsprachen («Les langues nationales sont l’allemand, le français, l’italien et le romanche», Art. 4) und lässt die Frage ihrer gebietsbezogenen Geltung im Weiteren auf kantonaler und kommunaler Ebene regeln (Art. 70). Im föderalistischen Belgien wird die Raumbezogenheit der Sprachen expliziter geregelt: «La Belgique comprend quatre régions linguistiques: la région de langue française, la région de langue néerlandaise, la région bilingue de BruxellesCapitale et la région de langue allemande» (Art. 4), wobei régions linguistiques in der amtlichen deutschen und der niederländischen Fassung als «Sprachgebiete» bzw. «taalgebiede» bezeichnet werden. In jedem der genannten Fälle werden die Amtssprachen und damit die Rechte und Pflichten, die mit ihrem offiziellen Gebrauch einhergehen, in juristisch unproblematischer Weise einem Staat oder ihm untergeordneten Verwaltungsgebieten zugeordnet. Sprachliche Raumbezogenheit übersetzt sich folglich in einem spezifischen Konzept von «Sprachgebiet», das nicht an einen Sprachgebrauch de facto gebunden sein muss, sondern prinzipiell zunächst eine Realität de jure schafft.

2.3 Referieren in politisch-juristischen Zusammenhängen | 33

Während die Verknüpfung von Sprache und Gebiet in nationalen Rechtstexten hinsichtlich von Amtssprachen weitgehend unproblematisch erscheint und selten präzise Definitionen umfasst, bedarf es in internationalen Texten, welche den Schutz von bedrohten Sprachen zum Ziel haben, einer genaueren Beschreibung dessen, was in der Anwendung auf unterschiedliche Sprachen und Sprachensituationen als «Sprachgebiet» zu gelten hat. In der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, deren umfassender Schutzmechanismus dezidiert auf gebietsbezogene Maßnahmen abzielt (Territorialitätsprinzip), wird eine solche Definition bereits in der Bestimmung des Schutzobjektes «Regionaloder Minderheitensprache» gegeben. Im Sinne der Charta, so heißt es dort unter Artikel 1, «a.

par l’expression ‹langues régionales ou minoritaires›, on entend les langues: (i) pratiquées traditionnellement sur un territoire d’un Etat par des ressortissants de cet Etat […]; «b. par ‹territoire dans lequel une langue régionale ou minoritaire est pratiquée›, on entend l’aire géographique dans laquelle cette langue est le mode d’expression d’un nombre de personnes justifiant l’adoption des différentes mesures de protection et de promotion prévues par la présente Charte».

Das Konzept «Sprachgebiet» wird hier folglich aus drei Elementen gebildet: des Raumbezuges einer Sprache, ihrer dort traditionellen Verwendung und einer «Sprecherdichte» (cf. Lebsanft 2012, 31), welche Maßnahmen überhaupt rechtfertigt. «Sprachgebiet» wird also als ein sprachplanerisch operationalisierbarer Begriff kodifiziert, der sich auf unterschiedlichste Sprachen anwenden lässt (cf. Tacke 2014a, 62–67). Hinter dieser Fokussierung von Sprachen, die mit konkreten Gebieten in einem Zusammenhang gesehen werden, steht eine – auch in der Linguistik nicht unübliche – raumbezogene Klassifizierung, nach der es Sprachen mit und Sprachen ohne Territorium gibt.9 Für den Bereich der Sprachplanung ist diese Einteilung gerade dort interessant, wo es um die Bestimmung geht, welche Sprachen für Schutzmaßnahmen in Frage kommen und welche aus dem Raster fallen. In

|| 9 Diese Klassifizierung nach dem Gesichtspunkt der «Raumbindung» ist soziolinguistisch motiviert und insofern auch im Bereich der Sprachplanung eine «praktische», gut operationalisierbare Unterteilung, da sie über die ökolinguistischen Bedingungen der Sprechergemeinschaften und damit der Sprache Aufschluss gibt. Die Klassifzierung steht indessen in keinem direkten Zusammenhang mit den Sprachklassifikationen nach morphologischen und anderen sprachinternen Gesichtspunkten, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert diskutiert wurden (cf. dazu Auroux et al. 2000–2006, cap. XXVII, «Sprachtypologie, die Klassifizierung der Sprachen und die Suche nach sprachlichen Universalien»).

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der Charta wie auch in anderen Texten fällt die in drei Typen gegliederte Sprachenklassifizierung weitgehend analog aus: – Sprachen mit Territorium: Gemeint ist jede Sprache, die traditionell innerhalb eines bestimmten Raumes von dessen Bevölkerung, deren Muttersprache sie ist, gesprochen wird. In diese Kategorie fallen die meisten Sprachen. – Sprachen ohne Territorium: Diese Kategorie umfasst die eher seltener vorkommenden Sprachen wandernder Völker,10 wofür im europäischen Raum meist die Sprache der Roma als Beispiel genannt wird. Die Volksgruppe der Roma, und damit auch ihre Sprache, haben keinen ihnen eigenen Siedlungsraum, weshalb sich ein Raumbezug nur indirekt und in unpräziser Weise etwa als eine übergeordnete «aire de déplacement»11 (Viaut 2010, 41) oder auch als «aire de parcours» (Viaut 2004a, 6), also mit Bezug auf einen geographischen Großraum bestimmen lässt. Viaut bezeichnet den Raumbezug daher als «beaucoup plus lâche» (ib.). – Sprachen von Migranten/Migrantensprachen:12 In diese Kategorie könnte potentiell jede Sprache eingeordnet werden, denn mit der Bezeichnung «Migrantensprache» kann die Sprache jeder Sprechergruppe bezeichnet werden, die geographisch außerhalb des Landes (eventuell auch der Region) lebt, zu dem (oder der) ihre Sprache traditionell zugeordnet wird bzw. in dessen politischadministrativen Raum das Territorium ihrer Sprache liegt. In ihrer Qualität als Migrantensprache ist ein Raumbezug dann wie bei Sprachen ohne Territorium nicht gegeben; gleichwohl kann mit Viaut (2010, 36) der Bezug zum «Ursprungsterritorium» auf eine Referenz reduziert gedacht werden. Die dargestellte Einteilung erfolgt dabei nur vordergründig nach rein räumlichen Kriterien. Im Hintergrund steht nämlich das Kriterium der Zeit, das eine wichti-

|| 10 Mitte des 19. Jahrhunderts prägte der Sanskritist Max Müller den Begriff der «Nomadensprache», wobei dieser nur sekundär raumbezogen definiert wird und sich in den Kontext der Klassifikationen des 19. Jahrhunderts einschreibt (cf. Anm. 9). So werden die innersprachlichen Charakteristika der turanischen Nomadensprache soziolinguistisch begründet, nämlich dadurch, dass es «ein unabweisliches Erforderniss in einer Nomadensprache [ist], dass sie Vielen verständlich bleibe, wenn auch der Verkehr derselben unter einander nur spärlich und unbedeutend sein sollte» (Müller 1866, 251). 11 Diese Formulierung ist – wie auch Viaut angibt – an der Déclaration universelle des droits linguistiques (engl. Linguistic Declaration) angelehnt, die hier von «peuples nomades dans leurs aires historiques de déplacement» (§1.4) spricht. 12 Hinsichtlich des Raumbezuges fallen auch Diasporasprachen in diese Kategorie, wenngleich hier in vielen Fällen der Bezug zur Religions- und Kulturgemeinschaft wichtiger ist als der Bezug auf einen geographischen Raum, der womöglich als lieu de mémoire nur noch eine Symbolfunktion hat (cf. Viaut 2010, 36).

2.3 Referieren in politisch-juristischen Zusammenhängen | 35

ge, wenn nicht sogar entscheidende Rolle spielt. Damit ist jedoch offensichtlich nicht ein einzelner Zeitpunkt, sondern die Zeitdauer zu berücksichtigen, denn gemäß der Indexikalität des Sprechens (cf. ausführlich Kapitel 3) wäre jede Äußerung – und daraus abstrahiert – jeder Sprecher und jede Sprache in gleicher Weise zu einem Zeitpunkt räumlich verortet. Die Zuordnung einer Sprache zu einem bestimmten Raum, der dann als «Territorium der Sprache» aufgefasst wird, geschieht im Rahmen der hier aufgegriffenen Kategorisierung folglich in Abhängigkeit der Dauer bzw. Historizität. Adjektive wie traditionell und historisch, die immer wieder zur Charakterisierung von Sprachräumen verwendet werden, machen diesen Befund nur allzu deutlich. So spricht Viaut beispielsweise von «langue(s), traditionnelle(s) ou plus récente(s)» (2004, 10), vom «territoire traditionnel de la langue» und der «aire traditionnelle» (ib., 11). Im gleichen Kontext sind auch die zitierten Formulierungen des Europarats zu sehen, der eine «Regional- oder Minderheitensprache» auf der Grundlage ihres traditionellen Gebrauchs als «langues pratiquées traditionnellement sur un territoire d’un Etat» (Art. 1a i) definiert und diese mit der Bezeichnung als «langues régionales ou minoritaires historiques de l’Europe» (Präambel) gleichzeitig von Migrantensprachen abgrenzt.13 Eine Sprechergemeinschaft kann also bereits seit langer Zeit – etwa seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden – ein bestimmtes Gebiet besiedeln, woraus ein Bezug zum Boden entsteht, der sich gewissermaßen metonymisch auch auf die Sprache überträgt. Eine «territoriale Sprache» ist dieser impliziten Konzeption zufolge damit eine Sprache, deren Gemeinschaft traditionell ein geographisch definierbares Gebiet besiedelt. Dahinter verbirgt sich der ursprünglich mythologische Begriff der Autochthonie, der in Kapitel 4 ausführlich behandelt wird. Nicht-territoriale Sprachen sind hingegen die Sprachen von Gemeinschaften, die nicht sesshaft sind und folglich in keinem Gebiet traditionell siedeln. Die Präsenz der Sprecher – und damit auch der Sprache – an einem Ort ist stets nur vorübergehend. Eine Raumbindung kann – nach der hier skizzierten Auffassung – aufgrund der zu geringen Verweildauer der jeweiligen Sprechergruppe nicht entstehen: Wie der Sprecher, so wandert auch die Sprache: «la langue accompagne les locuteurs dans leurs déplacements» (Viaut 2010, 26). Auch hier wird folglich metonymisch das Kriterium der Sesshaftigkeit von der Sprechergemeinschaft auf die Sprache übertragen.

|| 13 Zur Sprachkonzeption und zum Zusammenhang zwischen zeitlicher und räumlicher Dimension der Sprache in der Charta cf. Lebsanft (2012), Tacke (2014a) sowie die Erläuterungen zu den entsprechenden Artikeln bei Boysen (2011).

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Dies gilt in gleicher Weise auch für die Sprachen von Migranten. Ein Bezug zum Raum, in dem die Migranten leben, gleichgültig ob in kleinen Gruppen oder aber in größeren Gemeinschaften, ob räumlich konzentriert oder zerstreut, wird in den meisten Fällen schlicht negiert. Selbstverständlich beeinflussen hier politische und ideologische Erwägungen die Beurteilung, doch verdeutlicht gerade die Kategorie der Migrantensprachen, dass ein Raumbezug erst als Folge einer lang anhaltenden Besiedlung konzipiert wird. Wie lang der Zeitraum sein muss bis eine Sprachgemeinschaft und ihre Sprache als traditionell oder historisch angesehen werden, ist jedoch nirgends klar bestimmt und hängt überdies von der Maßgabe der jeweiligen, sie «aufnehmenden» Gesellschaft ab, welcher auch die diesbezügliche Deutungshoheit zukommt. Ein weites Feld eröffnet sich hier, geht es doch auch um Konkurrenzverhältnisse zwischen Sprachen bzw. Sprachgemeinschaften, um Kontrolle und Aneignung. Welche Gesellschaft will schon einen Teil des vermeintlich eigenen Territoriums durch die Anerkennung einer Volksgruppe und ihrer Sprache als «traditionell» gewissermaßen an diese «abtreten»? Hier geht es also längst nicht mehr nur um einen neutralen, gar wissenschaftlichen Blick auf sprachliche Vielfalt, sondern konkret um Sprach- bzw. Geopolitik. In einer Matrix (Abb. 6) konfiguriert sich die Zuordnung nach den Parametern «Gebietsbezug» und «Historizität» wie folgt:

Bezug zu einem Gebiet

Historizität des Gebietsbezuges

Sprachen «mit Territorium»

+

+

Sprachen «ohne Territorium»



(+)

«Migrantensprachen»





Sprachklassifizierung

Abb. 6: Politische Sprachklassifizierung

Insgesamt wird so ersichtlich, dass sich der Begriff sprachlicher Raumbezogenheit im politisch-juristischen Bereich sowohl implizit (Amtssprachen und langues nationales) widerspiegelt, als auch explizit in konkreten Ausdrücken (région linguistique, Sprachgebiet, taalgebied) und schließlich auch in komplexeren Umschreibungen manifestiert. Die Prämissen der Raumbezogenheit von Sprache, insbesondere der Begriff der Autochthonie, werden dabei nicht hinterfragt und näher erläutert.

2.4 Referieren im linguistischen Diskurs | 37

2.4 Referieren im linguistischen Diskurs Der Begriff sprachlicher Raumbezogenheit lässt sich in allen Bereichen des linguistischen Diskurses nachweisen. Die Vorstellung von der Raumbezogenheit von Einzelsprachen wird hier als ebenso selbstverständlich vorausgesetzt, wie sie die alltägliche Weltwahrnehmung strukturiert. Einzelsprachen werden als an den Raum angebunden, Dialekte als in einer spezifischen Region verwurzelt und bestimmte Lexeme und Phoneme als vielerorts verbreitet konzeptualisiert. Kurzum: Einzelsprachen, ebenso wie ihre diatopischen Varietäten und einzelnen sprachlichen Merkmale, werden abstrakt als im geographischen Raum situierte Elemente oder verbreitete Praktiken vorgestellt. Die Sichtweise kann sich dabei in zweierlei Richtung artikulieren: Auf der einen Seite kann die geographische Ausdehnung und die Verwurzelung als Charakteristikum einer Sprache betrachtet werden, auf der anderen Seite ist es möglich, Sprachen als (prägende) Merkmale einer bestimmten Gegend, gewissermaßen als Elemente der Topographie, anzusehen. Die Vorstellung von Sprachräumen findet sich in unterschiedlichem Maße ausdifferenziert wieder. So wird in der Ausformulierung des Gedankens mitunter von Gebieten gesprochen, die durch den Gebrauch einer bestimmten Sprache geprägt sind, wodurch die Räumlichkeit als eine Abstraktion des summierten individuellen Sprechens bzw. des Sprechens einer Gruppe von Menschen analysiert wird. Vielfach werden Sprachen jedoch schlicht als subjektivierte, anthropomorphe Wesen, die sich verbreiten, sich durchsetzen, sich zurückdrängen etc., beschrieben – eine Simplifizierung, die jedoch nicht unbedingt auf eine Verkennung der Realität zurückzuführen ist, sondern bisweilen schlicht sprachökonomische Gründe hat.14 In diesem Sinne kann Rafael Lapesa im folgenden Zitat kaum unterstellt werden, er halte Sprachen für eigenständige (und -willige) Naturwesen, wenn er die sprachräumliche Situation auf der iberischen Halbinsel am Ende des 13. Jahrhunderts beschreibt: «La Península quedó repartida en cinco fajas que se extendían de norte a sur. La central, de dialecto castellano, se ensanchaba por Toledo, Plasencia, Cuenca, Andalucía y Murcia, rompiendo el primitivo nexo que unía antes los romances del oeste con los del oriente hispánico. La cuña castellana – según la certera expresión de Menéndez Pidal – quebró la

|| 14 Cf. Keller (1990, 16–21), der dieses Problem der Beschreibung analog für die Theorie des Sprachwandels thematisiert. Dieses sei dann kein Problem, wenn «mindestens die jeweiligen Fachleute über nicht-hypostasierende, nicht-metaphorisierende oder nicht-anthropomorphisierende Explikationen verfügen» (20). Die «Verdinglichung der Sprache» ziehe «notwendigerweise die Vitalisierung nach sich» und mache aus Sprache ein «animal rationale mit allerhand wundersamen Fähigkeiten». Dieser Befund scheint mir nicht nur im Zusammenhang der Sprachwandelbeschreibung, sondern auch hinsichtlich der geographischen Raumbezogenheit zu gelten.

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originaria continuidad geográfica de las lenguas peninsulares. Pero después el castellano redujo las áreas de los dialectos leonés y aragonés, atrajo a su cultivo a gallegos, catalanes y valencianos, y de este modo se hizo instrumento de comunicación y cultura válido para todos los españoles» (Lapesa 1981/2008, §48; meine Hervorhebung).

Während Sprachen und Dialekte hier zunächst als Subjekte auftreten, die ihre geographische Kontinuität verlieren und das Kastilische die Gebiete des Leonesischen und Aragonesischen reduziert, rücken mit Galiciern, Katalanen und Valencianern Menschengruppen in den Fokus, die Sprachen als Kommunikationsund Kulturinstrumente gebrauchen. Die hinter diesem paradigmatischen Beispiel liegende Vorstellung sprachlicher Raumbezogenheit ist dem fachsprachlichen Diskurs und der alltagssprachlichen Rede gemeinsam. Denn unabhängig von der Ausdifferenzierung dieser Idee lässt sich für beide Diskursuniversen feststellen, dass der Begriff des Sprachraums auf Assoziationen beruht, deren Nebeneffekt, wenn nicht sogar Zweck es ist, die komplexe sprachliche Realität fassbar zu machen. Raumvorstellung dient also auch der Komplexitätsreduktion, eine Feststellung, die mit dem Kognitionswissenschaftler Steven Pinker (2007, 51) als logische Folgerung aus der Strukturierung des menschlichen Denkens nach der Grundkategorie «Raum» gesehen werden mag. Entsprechend konstatieren auch Lakoff/Johnson (1980, 29): «There are few human instincts more basic than territoriality». Von einer etablierten, womöglich in Lexika nachschlagbaren Fachterminologie kann in der Linguistik keine Rede sein. In der Sprachgeographie besteht allenfalls Einigkeit über die Verwendung bestimmter Ausdrücke; explizite Definitionen, welche auch eine Klärung der theoretischen Prämissen mit einschließen, sucht man vergebens. Erst in jüngeren Arbeiten – meist im Rahmen der Soziolinguistik und im großen Zusammenhang des sog. «spatial turn» (cf. z.B. Dolle/ Helfrich 2009) – lässt sich ein zunehmendes Interesse an einer theoretischen Durchdringung sprachlicher Raumbezogenheit feststellen. Insgesamt betrachtet wird der Zusammenhang zwischen Sprache und geographischem Raum mittels unterschiedlicher Ausdrücke bezeichnet, welche dann jedoch gerade nicht als Fachtermini fungieren, sondern sowohl im Fachdiskurs wie auch in der Gemeinsprache gleichermaßen unpräzise verwendet werden. Dies ist ein den Geisteswissenschaften eigenes Problem, das daraus resultiert, dass häufig Wörter der vorwissenschaftlichen Gemeinsprache, oft griechisch-lateinischen Ursprungs, aufgegriffen werden, ohne dass immer eine explizite definitorische Präzisierung vorgenommen wird. Im Bereich des «sprachräumlichen» Wortschatzes wird dieser Befund dadurch bestätigt, dass linguistische Lexika und Handbücher die hier berücksichtigten Ausdrücke in vielen Fällen nicht einmal als Lemmata aufführen oder, falls doch, die Definitionen nicht oder kaum über diejenigen hinausgehen, die sich in den gemeinsprachlichen Wörterbüchern finden.

2.4 Referieren im linguistischen Diskurs | 39

Nachstehend sollen die in der Linguistik verwendeten Ausdrücke einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Systematisch wird dazu zunächst ein Panorama über die allgemeinen Verwendungsweisen im linguistischen Diskurs gegeben (2.4.1), bevor auf die nur zum Teil explizit definierte Terminologie der Sprachgeographie/Areallinguistik (2.4.2) und der Soziolinguistik (2.4.3) eingegangen wird. Abschließend soll die Vorwissenschaftlichkeit der Vorstellung der an ein Gebiet angebundenen Sprache am Beispiel des Dialektbegriffs, wie er schon vor der Zeit der universitären Institutionalisierung der Sprachwissenschaft definiert wurde, dargelegt werden (2.4.4). Während es keine spezifischen Korpora gibt, welche die Verwendung «sprachräumlicher» Ausdrücke in der Linguistik spezifisch quantifizierbar machen lässt, bietet zumindest die sprachgeographische Standardliteratur die Möglichkeit einer «onomasiologischen Lektüre». Das Korpus bilden hier die entsprechenden Artikel der LRL-Bände, der HSK-Band zur Dialektologie (Besch et al. 1982–1983) sowie die jüngeren, jedoch englisch verfassten Teilbände unter dem Titel Language and Space (Auer/Schmidt 2010; Lameli/ Kehrein/Rabanus 2011). Hinzu kommen die Paratexte diverser Sprachatlanten und sprachgeographische Analysen vor allem aus der Frühzeit der Disziplin rund um den ALF und den AIS.15 Neben einer «Inventur» soll dabei auch auf die Querverbindungen zu anderen Fachdisziplinen der mitunter entlehnten Termini hingewiesen werden, welche wiederum Rückschlüsse hinsichtlich der Konzeptualisierungen zulassen.

2.4.1 Gesamtlinguistisches Panorama Wie bereits angesprochen werden im sprachwissenschaftlichen Diskurs nicht selten auch «sprachräumliche» Ausdrücke verwendet, ohne dass diese den Status einer definitorisch explizit festgelegten Terminologie oder auch einer konstanten Verwendungsweise beanspruchen könnten. Bestes Beispiel sind in diesem Zusammenhang die Ausdrücke Sprachraum bzw. – ausgenommen in der spezifisch sprachgeographischen Literatur – aire linguistique und área lingüística oder dominio lingüístico, welche der Gemeinsprache entstammen und nicht ohne weiteres als Fachbegriffe betrachtet werden können.16 Die Ausdrücke lassen sich daher auch nicht in den verbreiteteren sprachwissenschaftlichen Wörterbüchern

|| 15 Zu nennen sind etwa Gilliéron/Edmont (1902), Gilliéron (1904, 1912), Gilliéron/Mongin (1905), Gilliéron/Roques (1907), Jaberg (1908), Jaberg/Jud (1928), Jud (1973). 16 Insofern erscheint die Kritik Oesterreichers (2008), die nicht klar unterscheidet zwischen einem Begriff «Sprachraum» und einem Ausdruck Sprachraum, obsolet.

40 | 2 Referieren auf «Sprachräume»

wiederfinden.17 Lediglich innerhalb anderer Lexikoneinträge finden sich die gemeinsprachlichen Ausdrücke Sprachraum und Sprachgebiet, dann immer in der engeren Bedeutung als ‘Verbreitungsgebiet einer Sprache/eines Dialekts’ bzw. ‘einer Sprachfamilie’.18 Die Vorstellung, d.h. der Begriff der geographischen Raumbezogenheit von Sprache und ihrer damit einhergehenden geographischen Situiertheit und Lage, zeigt sich explizit oder implizit in den Definitionen einer Vielzahl von Lemmata, was wiederum demonstriert, in welchem Maße der vorwissenschaftliche Begriff in die fachwissenschaftliche Konzeption von Sprache und in die linguistische Methodologie integriert ist. An dieser Stelle seien daher einige Lemmata und deren Definitionen in Auszügen aufgelistet: – Sprachgrenze: «Geograph. Raum, in dem zwei Sprachgebiete aneinander grenzen» (Glück 2000, 661). – Isoglosse: «In Anlehnung an die geograph. und meteorolog. Terminologie (z.B. Isotherme) die Grenzlinie zwischen zwei dialektalen Realisationen eines sprachl. Phänomens auf jeder Sprachebene (lautl.: Isoglosse, Isophon, Wortbildung: Isomorph, Wort: Isolex) und damit innerhalb der sprachgeograph. Darstellung die Grenze eines Dialektgebiets» (Glück 2000, 320). – Sprachinsel: «(auch: Enklave, Insel) Teil des Sprachgebiets einer Spr[ache] A, das ganz vom Sprachgebiet einer oder mehrerer anderer Spr[achen] umgeben ist und folglich keinen geograph. Zusammenhang zum Hauptteil des Sprachgebiets der Spr[ache] A aufweist» (Glück 2000, 661). – Sprachbund: «Bez. für Gruppen geograph. benachbarter Spr[achen], die sich, auch ohne daß zwischen ihnen eine genet. Verwandtschaft zu bestehen braucht, durch auffällige Übereinstimmung im grammat. Bau auszeichnen und sich durch dieselben Gemeinsamkeiten von im weiteren Umkreis gesprochenen Spr[achen] abheben» (Glück 2000, 651). – Sprachkarte: «Kartograph. Darstellung der geograph. Verbreitung der Sprachgemeinschaft einer Spr[ache] oder eines Dialekts (Dialektkarte) oder einer Schriftgemeinschaft» (Glück 2000, 661). – Sprachatlas: «Darstellungsform hauptsächlich dialektaler Formen, die aufgrund von Datenerhebungen (Dialektdatenerhebung) gewonnen und wegen ihrer räuml. Bindung (Dialekt) auf Karten übertragen werden» (Glück 2000, 650).

|| 17 So fehlt ein Eintrag Sprachraum z.B. im Lexikon der Sprachwissenschaft (Bußmann 2008) oder im Metzler Lexikon Sprache (Glück 2000). 18 So z.B.: «Die histor. frühesten alphabet. Schriftsysteme entwickelten sich um die Mitte des 2. Jt. v.Chr. im nordsemit. Sprachraum» (Glück 2000, 32).

2.4 Referieren im linguistischen Diskurs | 41

– –

Dialektgeographie: «Dialektolog. (Dialektologie) Forschungsrichtung, die die räuml. Verbreitung der Dialekte zum Gegenstand hat» (Glück 2000, 153). Dialekt: «[…] Aufgrund polit. Staatenbildung gab es nur selten kulturell und sprachl. einheitl. Siedlungsräume von Nationen, so daß Sprachunterschiede innerhalb einer Nation oder eines großen Raums zu den kulturellen Grunderfahrungen gehören und die Bindung von D[ialekten] an Räume eine immer wieder bemühte Bestimmung gewesen ist» (Glück 2000, 151).

Nun demonstrieren die Auszüge aus den zitierten Einträgen, dass die Vorstellung geographischer Raumbezogenheit gewissermaßen eine Grundkategorie sprachwissenschaftlichen Denkens darstellt. Auffällig ist, dass der Ausdruck Sprachraum selbst dabei meist vermieden wird und der – wiederum nicht als selbstständiger Begriff auffindbare – Ausdruck Sprachgebiet wohl aufgrund der eindeutigeren geographischen Referenz präferiert wird.19 Die Konzeptualisierung der Bindung an den geographischen Raum und der Verbreitung findet sich explizit als räumliche Bindung und geographische Verbreitung versprachlicht, wobei die Bindung an den Raum auch mit Konzepten von Dialekt verbunden wird. Implizit findet sich die Räumlichkeit der Sprachen in der Annahme, dass Sprachen geographisch benachbart sein können, wieder.20 Über die genannten Ausdrücke hinaus enthalten auch einige Bezeichnungen von Sprachen implizit einen Raumbezug. Abgesehen vom diesbezüglich prototypischen Dialekt (dazu detailliert 2.4.4) sind hier etwa die wiederum nicht als Fachbegriff definierbaren Ausdrücke Regionalsprache/langue régionale/lengua regional zu nennen. Durch den Bezug auf Region ist es das Kennzeichen einer Regionalsprache, räumlich bestimmt zu sein. Eine eindeutige Definition liegt indessen nicht vor. Für das Deutsche ist ein nach Fachtraditionen differenzierter Gebrauch festzustellen: In der (deutschsprachigen) Germanistik bezeichnet der Ausdruck traditionell regional begrenzte Varietäten des Deutschen; in der Romanistik und anderen Philologien orientiert man sich am Gebrauch der jeweils betrachteten nationalen Traditionen. In der französischen Tradition kann langue

|| 19 Dagegen findet sich in einem geographischen Wörterbuch Sprachgebiet als Lemma und wird dort definiert als «Raum, in dem eine bestimmte Sprache als Muttersprache oder Verkehrssprache gesprochen wird. S[prachgebiete] sind meist, jedoch nicht immer, identisch mit den Wohngebieten bestimmter Völker. In Räumen gemischter Volkstumszugehörigkeit oder in Wohngebieten ethnischer Minderheiten kann es zur Überlagerung mehrerer S[prachgebiete] kommen. S[prachgebiete] werden durch Sprachgrenzen voneinander getrennt» (Leser 2005, 869). 20 Interessanterweise findet sich nur im Eintrag zu Sprachkarte ein Hinweis darauf, dass die Raumbindung einer Sprache nicht per se, sondern mittels einer sie sprechenden oder schreibenden Gemeinschaft zu konzipieren wäre.

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régionale beispielsweise die nicht-französischen Sprachen auf dem französischen Staatsgebiet bezeichnen, wird teilweise jedoch auch für französische Primärdialekte (langues d’oïl) verwendet. Der Ausdruck steht zudem in Konkurrenz zum neueren politischen Terminus langues de France (cf. dazu Bertile 2010; Sibille 2010; 2013 sowie Tacke im Druck). In der spanischen Tradition meint lengua regional eine spanische, vom Kastilischen zu unterscheidende regional begrenzte Sprache bzw. Sprache einer Region.21 Regional-/régionale/regional kann folglich ‘zu einer politischen/kulturellen/historischen Region gehörend’ oder ‘einen regional eingeschränkten Kommunikationsradius besitzend’ bedeuten.

2.4.2 Sprachgeographische Terminologie Eine Terminologie, die über den gemeinsprachlichen Wortschatz klar hinausgeht, findet sich in den sprachwissenschaftlichen bzw. areallinguistischen Disziplinen, die man auch als «raumlinguistisch» bezeichnen könnte, weil sie die räumliche, d.h. vor allem geographische Dimension von Sprache zum Gegenstand haben. Hier offenbart sich ein komplexes und teilweise nur mühsam abgrenzbares Feld von Disziplinen, die den Raumbezug bereits in der Bezeichnung tragen: Dialektgeographie, Sprachgeographie, Geolinguistik, Areallinguistik22, Arealtypologie und einige mehr. In der französischen Tradition sind die Bezeichnungen géographie linguistique, géolinguistique als Bereiche der dialectologie, in der spanischen analog geografía lingüística und geolingüística zu nennen. In diesen wird wiederum eine Reihe von Raumausdrücken verwendet, die nachstehend diskutiert werden sollen.23

|| 21 In der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ist die Unschärfe des Ausdrucks gewissermaßen eingeplant, um sämtlichen nationalen Bezeichnungstraditionen gerecht zu werden und ein potentiell möglichst breites Spektrum an Sprachen einzubeziehen. 22 Das Forschungsfeld der Areallinguistik kann wiederum einerseits eine von Sprach- und Dialektgeographie bzw. Geolinguistik differenzierte Disziplin bezeichnen, andererseits eine alternative Bezeichnung der genannten anderen Disziplin(en) sein. Cf. dazu Löffler, der nicht ohne Ironie darlegt, dass – analog zur Entwicklung von der Mundartforschung zur Dialektologie und von der Sprachwissenschaft zur Linguistik – die älteren Bezeichnungen Sprachgeographie, Sprachraum und Sprachgrenze durch die neueren und moderneren Bezeichnungen Areallinguistik, Sprachareal und Isoglosse abgelöst wurden, ohne dabei etwas anderes zu bezeichnen: «Weder in der Sache noch in der Methode lassen sich […] Unterschiede angeben» (1982, 444). 23 Problematisch ist dabei grundsätzlich die Relation zwischen «sprachräumlichen» Ausdrücken und den Disziplinenbezeichnungen im Englischen und den romanischen Sprachen, da die wörtlichen Übersetzungen teilweise mit anderen Bedeutungen besetzt sind, was bereits am Beispiel der Areal Linguistics deutlich wird, deren Untersuchungsgegenstand bzw. -produkt linguistic areas

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Das Spezifische an den «raumlinguistischen» Bereichen der Sprachwissenschaft ist, dass es hier nicht nur um den geographischen Raum geht, den eine Sprache (als geographisch verbreitete Praxis einer Einzelsprache) oder ein Dialekt einnehmen, also nicht nur um Sprach- oder Dialekträume, denn diese sind meist nicht Gegenstand der Untersuchung, sondern das Ergebnis. Vielmehr geht es um die konkrete Untersuchung und Identifizierung der Areale einzelner sprachlicher bzw. dialektaler Phänomene. Indessen werden sowohl für Räume einer diatopischen Varietät als auch spezifische Merkmalsräume nicht selten dieselben Ausdrücke verwendet. Im Deutschen werden dazu die Ausdrücke Raum, Areal und Gebiet, im Französischen und Spanischen vor allem aire und área verwendet. Wie bereits die Bezeichnungen der einzelnen Disziplinen zeigen, in denen der Bezug zum geographischen Raum entweder durch das griechischstämmige Präfix geo(-graphie) (< gr. γῆ ‘Erde’) explizit gemacht wird, denotiert der Ausdruck Areal ebenfalls ein geographisch bestimmtes Gebiet (für eine Wortgeschichte cf. 5.3.1). Anders als Raum, espace und espacio ist der Bezug zum geographischen Raum eindeutig. Die Präzisierung Distributionsareal suggeriert im selben Zusammenhang, dass Sprachliches gewissermaßen als Teil der Topographie räumlich verteilt ist und so beschrieben werden kann. In dasselbe geographische Bezeichnungsparadigma reiht sich auch der Ausdruck Isoglosse (analog: fr. isoglosse, sp. isoglosa) ein, der die Grenzlinie zwischen zwei Arealen sprachlicher Merkmale bzw. Realisationen bezeichnet und sich dabei vom gemeinsprachlichen Sprachgrenze zu unterscheiden vermag. Sprach- und Dialektgrenzen sind insofern das Ergebnis vieler, sich überschneidender Isoglossen, sogenannter Isoglossenbündel, und damit das Resultat einer Abstraktion. Isoglosse und vor allem Areal finden sich mit einem erdräumlichen Bezug auch im Duden, wo für Areal allgemein die Bedeutungen «Bodenfläche» und «abgegrenztes Gebiet, Gelände, Stück Land, Grundstücke» angegeben werden; im Grand Robert und im DRAE fallen die Definitionen ebenfalls klar erdräumlich orientiert aus, wobei ersterer diese fachsprachlich markiert (s.o.). Welche Frames neben dem deutlichen Geographiebezug mit den terminologisch verwendeten Ausdrücken aktiviert werden (können), muss jedoch im Rahmen des Fachdiskurses betrachtet werden. Hier ließe sich bei einem genaueren

|| sind, ein Ausdruck durch welchen – dem Oxford English Dictionary (OED) zufolge erstmals 1943 – das deutsche Konzept Sprachbund übersetzt wurde (cf. auch Güldemann 2011, 566). Die angelsächsischen Areal Linguistics entsprechen damit eben nicht der deutschsprachigen Areallinguistik, sondern der Arealtypologie; cf. dazu Kapitel XIV «Typological characterization of language families and linguistic areas/Typologische Charakterisierung von Sprachfamilien und Sprachbünden» des HSK-Bandes Sprachtypologie und sprachliche Universalien (Haspelmath et al. 2001) sowie speziell den Artikel von Goebl (2001).

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Blick von einer veritablen Begriffskonstruktion rund um den Ausdruck Areal sprechen, weisen die fachsprachlichen Verwendungen doch spezifische Konnotationen auf, die selbst in allgemeinen Wörterbüchern als solche verzeichnet sind. Der Verweis des Duden und des Grand Robert auf sprachliche Erscheinungen mag überraschen, ist aber wohl der Tatsache geschuldet, dass die sprachgeographische Forschung in beiden Ländern auf eine ähnlich lange Forschungstradition zurückblicken kann und Dialektologisches im populärwissenschaftlichen Bereich von ähnlich großem Interesse ist wie pflanzen- und tiergeographisches Wissen. Die lexikographische Kollokation des Sprachlichen mit dem Biologischen im Zusammenhang mit dem Ausdruck Areal lässt gleichwohl den Verdacht aufkommen, dass Areal gerade keinen bedeutungsneutralen Raumbezug kodiert, wie dies Raum oder Gebiet leisten, sondern hier eine Begriffskonstruktion vorliegt, die aus einer Verschränkung von Sprachwissenschaft und Biologie bzw. Biogeographie resultiert. Während aire im Französischen auch in der Gemeinsprache und in anderen Verwendungen sehr viel verbreiteter ist, gilt dies insbesondere für den deutschen Ausdruck Areal. Erhellend ist diesbezüglich der Eintrag Arealkunde im Lexikon der Geographie, welche – als Teildisziplin von Geographie und Botanik – auch als (Phyto-) Chorologie, floristische Vegetationsgeographie oder floristische Geobotanik bezeichnet wird. Die Definition von Gegenstandsbereich und Erkenntnisinteresse der Arealkunde enthält auch eine Definition des Arealbegriffs: «Lehre von der Verbreitung der Pflanzensippen auf der Erdoberfläche. Innerhalb der Pflanzengeographie stellt die Arealkunde eine besonders traditionsreiche und gut abgrenzbare Teildisziplin dar. Gegenstand sind Sippen auf verschiedener pflanzensystematischer Stufe (z.B. Arten, Gattungen, Familien). Das Areal ist eine Fläche oder eine Gruppe von Einzelflächen, die die Gesamtheit aller geographischen Orte umschreibt, an denen Populationen der Sippe vorkommen (Fundorte). Die Arealkunde befasst sich mit der Methodik der Erfassung und mit der Analyse von Arealen und deren Veränderungen» (LexGeo, s.v. Arealkunde).

Nimmt man nun an, dass der Ausdruck Areal bewusst der Geographie entlehnt wurde (cf. 5.3.1), so ist davon auszugehen, dass mit dem Ausdruck in einem gewissen Maße auch die biogeographische Konzeptualisierung der Raumbindung lebender Organismen auf Sprachliches einherging, um Sprachgeographie nach dem Vorbild von Pflanzen- und Tiergeographie zu betreiben. Daraus lassen sich also nicht nur Rückschlüsse auf den Bedeutungsumfang des Ausdrucks sprachliches Areal ziehen, sondern auch die Konzeptualisierung von Sprache und Sprache im Raum, wie sie – zumindest in ihren Ursprüngen – der Sprachgeographie zugrunde lag. In rein fachwissenschaftlichen Definitionen sucht man Verweise auf die Pflanzengeographie hingegen vergebens:

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«L’aire linguistique […] est la représentation géographique d’un fait de langue d’ordre proprement linguistique, phonologique, phonétique, lexical, morphologique ou autre. C’est l’aire linguistique de la dialectologie, délimitée par une isoglosse» (Viaut 2010, 37).24

Die ursprüngliche Verschränkung von Sprachwissenschaft und Biogeographie auf der begrifflichen Ebene wird noch deutlicher, wenn man den ideengeschichtlichen Kontext der Entlehnung von Areal betrachtet: Während des 19. Jahrhundert hat sich die im Begriff der Institutionalisierung stehende Sprachwissenschaft immer wieder anderer etablierter Fachtraditionen – sogenannter «Leitdisziplinen» – bedient. Dies betrifft neben der Terminologie auch die Methodologie. Stichwortartig sei hier nur die Konzeption von Sprache als Naturorganismus genannt, die August Schleicher 1863 in Anlehnung an die Darwin’sche Lehre entwarf (Schleicher 1873/1977). Mit dem Verweis auf Abschnitt 5.3 dieser Arbeit, in dem die areale Konzeption des Sprache-Raum-Zusammenhangs vertieft wird, sei hier nur festgehalten, dass mit der Übernahme der Begrifflichkeiten aus «Leitdisziplinen» auch die dahinterstehenden Konzepte übernommen wurden, von denen sich die Sprachwissenschaft mit Blick auf ihren spezifischen Untersuchungsgegenstand erst langsam emanzipiert hat.

2.4.3 Soziolinguistische Begriffe In den soziolinguistisch orientierten Disziplinen ist sprachliche Raumbezogenheit vor allem in ihrer Ausprägung als «Territorialität der Sprache» (cf. 1.5) relevant. Darüber hinaus integrieren neuere Begriffsbildungen auch nicht-geographische Raumbegriffe. Nachstehend bespreche ich die Begriffe «Territorium/Territorialität», «linguistic landscape» und «Glossotop». Der Begriff des Territoriums bzw. der Territorialität geht einerseits auf einen intuitiven Gebrauch in der Gemeinsprache zurück; andererseits lassen jüngere Verwendungen des Begriffs auf Entlehnungen aus verschiedenen Fachtraditionen wie der Biologie und Ethologie sowie der Geographie bzw. Sozialgeographie schließen (cf. Kapitel 5). Ausdrucksseitig manifestiert sich der Begriff in mehreren Bezeichnungen: Im Deutschen ist neben der Bezeichnung Territorium der Ausdruck Gebiet üblich. Im Französischen und Spanischen verwendet man neben territoire/territorio

|| 24 Ergänzend dazu sei nur der Versuch Viauts genannt, ausdrucksseitig die Unterscheidung zwischen ‘Raum eines sprachlichen Merkmals’ und ‘Raum einer sprachlichen Varietät/eines Sprachsystems’ mittels aire de langue wiederzugeben: «Dans cette approche, la notion d’aire de langue diffère de celle d’aire linguistique en ce qu’elle rend compte d’une réalité globale et non de l’une de ses caractéristiques. […] elle se définit à partir de la langue […]» (Viaut 2010, 40).

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auch domaine/dominio. Sämtliche Ausdrücke verfügen dabei, sofern sie sich im konkreten Sinne auf einen geographischen abgegrenzten Raum beziehen, über sehr ähnliche Konnotationen und befinden sich im gleichen Wissenskontext. Während der Duden für Territorium die Bedeutungen «1. Gebiet, Land, Bezirk; Grund und Boden; 2. Hoheitsgebiet eines Staates, Herrschaftsbereich» angibt, wird im DRAE ein Besitzaspekt hervorgehoben: «Porción de la superficie terrestre perteneciente a una nación, región, provincia, etc.». Im Grand Robert steht dagegen im Vordergrund, dass mit dem Raum ein Agens verbunden ist, welcher den Raumausschnitt definiert: «1. Étendue de la surface terrestre sur laquelle vit un groupe humain». Ein juristischer Aspekt wird in der zweiten Bedeutung angezeigt: «2. Étendue de pays sur laquelle s’exerce une autorité, une juridiction». Für den Ausdruck dominio hält der DRAE sogar eine sprachspezifische Definition bereit, wenn für diesen als vierte Verwendungsweise «Territorio donde se habla una lengua o dialecto. Dominio lingüístico leonés» angegeben wird – erst im Verbund mit der Definition von territorio wird hier deutlich, dass die Idee des Besitzes auf «una lengua o dialecto» übertragen wird.25 Der Besitzaspekt gilt in gleicher Weise für den französischen Ausdruck domaine, definiert als «Terre possédée par un propriétaire» (Grand Robert) und abgeleitet von spät-lat. dominium ‘Besitzrecht’.26 Das deutsche Gebiet wird vom Duden nur vage definiert als «unter bestimmten Gesichtspunkten in sich geschlossener räumlicher Bereich von größerer Ausdehnung», als Herkunft wird jedoch die mittelhochdeutsche Verwendungsweise «Bereich, über den sich Befehlsgewalt oder Gerichtsbarkeit erstreckt» angegeben.27 In dieser Verwendungsweise liegt auch der gemeinsame Bedeutungsgehalt der genannten Ausdrücke, denn der Besitzaspekt scheint ursprünglich immer mit einer (juristischen) Befehlsgewalt verknüpft zu sein, der sich in den deutschen Komposita Herrschaftsgebiet und Hoheitsgebiet widerspiegelt. Daraus ergibt sich, dass mit dem Begriff des Territoriums, der durch diese – mit Ausnahme von Gebiet < gebieten – aus dem Lateinischen stammenden Ausdrücke repräsentiert wird, bereits im alltagssprachlichen Diskursuniversum die Kontexte HERRSCHAFT und KONTROLLE evoziert werden, die über den Bezug zum geographischen Raum hinaus stets ein (raumgebundenes) Agens implizieren. Für alle Einzelsprachen gilt, dass der jeweilige pragmatische Verwendungsrahmen dabei angibt, ob die Ausdrücke in einem engeren, rein juristischen Sinn (‘Hoheitsgebiet’) oder in einem weiteren Sinn zu interpretieren sind. || 25 Diese Bedeutung gibt auch María Moliner seit der zweiten Ausgabe mit an. 26 Ähnliche Definitionen finden sich im FEW, III, s.v. dominio sowie im DHLF. 27 Cf. Köbler (1995, 143s.). Siehe auch den Eintrag im DWB, vol. 4: «der bereich des gebietens, gebietsbezirk, wie es Schönsleder gut ausdrückt: gebiet, pfleg so weit man zu gebieten hat, territorium, ditio, ager, dioecesis, regionis pars cui civitas aliqua vel princeps dominatur».

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Zwischen diesen Verwendungsweisen oszillieren die Ausdrücke auch in ihren auf Sprache bezogenen Gebräuchen im sprachwissenschaftlichen Diskurs. Den gemeinsprachlichen Bedeutungen und Konnotationen der Ausdrücke entsprechend werden auch hier die genannten Frames evoziert. Auch auf Sprachliches übertragen sind immer der Agensaspekt und die Idee der Inbesitznahme relevant: Im juristischen Sinne liegen diese vor, da eine Behörde sprachspezifische Bestimmungen innerhalb eines Verwaltungsgebietes durchsetzt (cf. 2.3). Im weiteren Sinne wird die Aneignung eines geographischen Raumes durch eine Sprachgemeinschaft bezeichnet, wobei die Ausblendung der Sprecher dann bereits das Ergebnis einer Metonymie darstellt (Bsp.: Gebiet der französischsprachigen Gemeinschaft → Gebiet des Französischen). Die Begriffe des Territoriums und der Territorialität umfassen also auch auf Sprachliches bezogen ein weites Bedeutungsspektrum, das von soziobiologischer und in Analogie zu tierischem Verhalten begriffener Territorialität, über menschliches Territorialverhalten in Form von organisierter Machtausübung über den Raum bis hin zu politisch-juristischer Territorialität reichen kann. Während Verwendungen von dominio lingüístico bzw. domaine de la langue X sich beispielsweise in sprachhistorischen Schriften oder im Rahmen älterer soziolinguistischer Untersuchungen noch deutlich durch einen intuitiven, gemeinsprachlichen Gebrauch kennzeichnen, gehen Soziolinguistiken immer öfter von einem Fachbegriff des Territoriums aus, der wiederum der Geographie, insbesondere dem Bereich der Sozialgeographie entlehnt ist. Auf diesen Fachbegriff wird in Kapitel 5 genauer eingegangen. Mit dem Fachbegriff des linguistic landscape, der von Landry/Bourhis (1997) zur Beschreibung der visuellen Präsenz von Sprache im öffentlichen Raum geprägt wurde (cf. 5.2.2.3), wird eine andere Konzeptualisierung des Raumbezuges von Sprachen in der Linguistik etabliert, die sich Gorter (2006a) zufolge bewusst an gemeinsprachlichen Vorstellung der Landschaft orientiert: «The concept [gemeint ist die gemeinsprachliche Verwendung] of linguistic landscape, however, has been used in several different ways. In the literature the concept has frequently been used in a rather general sense for the description and analysis of the language situation in a certain country […] or for the presence and use of many languages in a larger geographic area […]. An overview of the languages that are spoken is then referred to as the linguistic landscape. In this more or less loose sense of the word linguistic landscape can be synonymous with or at least related to concepts such as linguistic market, linguistic mosaic, ecology of languages, diversity of languages or the linguistic situation» (Gorter 2006a, 1).

Wenn das soziolinguistische Konzept von Landry/Bourhis jedoch den Ausdruck übernimmt, um ihn auf einen speziellen Aspekt von Sprache im Raum einzuschränken, dann werden damit gleichwohl (und bewusst!) auch die entspre-

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chenden Frames übernommen, die bereits gemeinsprachlich evoziert werden. Denn es geht nicht nur um die objektive Präsenz einer oder mehrerer Sprachen im Raum, sondern neben dem Interesse am «Kräfteverhältnis» verschiedener Sprachen in einer Region steht gerade die subjektive Erfahrung dieser visuellen Präsenz im Vordergrund. In Spanien scheint das Konzept zuletzt aus dem Bereich der Soziolinguistik über den Randbereich der Sprachpolitik in die Gemeinsprache zurückzuwirken. Unter der übersetzten Bezeichnung paisaje lingüístico ließ das baskische Regionalministerium für Kultur bzw. ihre sprachpolitische Unterabteilung (Departamento de Cultura, Viceconsejería de Política Lingüística) 2006–2007 «un amplio estudio de investigación sobre el paisaje lingüístico en el ámbito público y privado de la Comunidad Autónoma Vasca»28 anfertigen, in der es explizit und vor allem um die Beschilderungen geht.29 Eine jüngere terminologische Neuschöpfung stellt Krefelds (2004) Begriff des Glossotops dar, welcher wiederum in spezieller Weise den Zusammenhang von Raum und Sprache konzeptualisiert. Mit Glossotop bezeichnet Krefeld «die Gesamtheit der Regularitäten (und damit der kommunikativen Reichweiten), die den lokalen Gebrauch der sprachlichen Varietäten in einer bestimmten lebensweltlichen Gruppe […] steuern» (2004, 25s.), was operationalisiert bedeutet, dass eine Sprechergruppe zum Gegenstand genommen wird, die ähnliche sprachliche Repertoires und Gewohnheiten aufweist. Das soziolinguistische Interesse besteht in der Untersuchung des Gebrauchs verschiedener Sprachen bzw. Varietäten. Nun werden «Glossotope» zwar zunächst über die «lebensweltliche Gruppe» definiert, doch sind diese – siedlungsgeographisch betrachtet – in den meisten Fällen raumgebunden. «Glossotop» kann in der Anwendung damit auf spezifische Formen kleinräumiger Sprachgebiete bezogen werden, bei denen der Gebrauch mehrerer Sprachen oder Varietäten im Vordergrund steht.30 Die Wahl des Ausdrucks vermag wiederum, etwas über die Art der Konzeptualisierung von Sprache-Raum-Zusammenhängen zu verraten. Krefeld wählt ausdrucksseitig bewusst die Analogie zum biologisch-ökologischen Ausdruck Biotop, der den Lebensraum einer Lebensgemeinschaft (Biozönose) bezeichnet.

|| 28 Departamento de Cultura/Viceconsejería de Política Lingüística (ed.), Resultados del estudio del paisaje lingüístico realizado por la Viceconsejería de Política Lingüística en el ámbito público y privado de la Comunidad Autónoma Vasca, [letzter Zugriff: 23.08.2012]. 29 Wiederum überrascht es kaum, dass das Konzept gerade in Spanien Fuß fasst, da es in den dortigen Regionen eine umfassende Sprachgesetzgebung gibt, die auch die Beschilderung im öffentlichen Raum reguliert. 30 Konkret angewendet wird das Konzept z.B. in Postlep (2010); cf. dazu auch meine Besprechung (Tacke 2013a).

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Während die Bezeichnung Glossotop wörtlich Sprache (γλῶσσα) und Ort (τόπος) verbindet, werden mit ihm biologische Wissenskontexte aktiviert.31 Daraus lässt sich schließen, dass auch der gruppenspezifische Gebrauch von Sprachen und Varietäten ökologisch, d.h. bedingt durch die räumliche Umgebung und in Abhängigkeit des Ortes, konzeptualisiert wird. Wie anhand der besprochenen Begriffe zu erkennen ist, liegen verschiedene Konzeptualisierungen vor, die Zusammenhänge von Sprache und Raum aus einer soziolinguistischen Perspektive betrachten. Das soziolinguistische Erkenntnisinteresse bedingt eine stärkere Berücksichtigung der Rolle der Sprecher, Sprechergruppen und Sprachgemeinschaften. Die Begriffe der Territorialität, Territorialisierung und des Territoriums, die aus der Sozialgeographie entlehnt wurden, zielen auf die Verbindung zwischen einer Sprache, einer Gemeinschaft und dem von ihr bewohnten Gebiet ab. Die Betrachtung von linguistic landscapes gilt der Markierung des Raums durch verschiedene Sprechergemeinschaften. Glossotope verweisen schließlich auf den sprachlichen «Lebensraum» kleinerer Gemeinschaften mit ähnlichen sprachlichen Gewohnheiten. Über die rein areale Distribution von Sprachen und sprachlichen Merkmalen hinaus lassen sich Zusammenhänge von Sprache und Raum folglich unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten denken. Wie gezeigt wurde, ist es dabei interessant, die entlehnten Ausdrücke und Begriffe zu ihrem Ursprung zurück zu verfolgen. Bei der Beschreibung der sprachlichen Realität und der Art sie zu denken, stehen ganz unterschiedliche Disziplinen und Wissenskontexte Pate. Die Übernahme spezifischer sprachlicher Mittel ist dafür ein wichtiges Indiz.

2.4.4 Zum Dialektbegriff (Exkurs) Die Vorwissenschaftlichkeit der Vorstellung sprachlicher Raumbezogenheit lässt sich leicht am Beispiel des Dialektbegriffs nachvollziehen, für den sich schon lange vor der universitären Institutionalisierung der Sprachwissenschaft zahlreiche Definitionsversuche nachweisen lassen, denen die Assoziation des Sprechens mit spezifischen Orten zugrunde liegt. Aus heutiger linguistischer Perspektive werden Dialekte als diatopische Varietäten einer historischen Sprache begriffen. Als vollständige Sprachsysteme

|| 31 Cf. Krefeld (2004, 25, Anm. 36). Lebsanft (2012, 34) merkt an, dass der Ausdruck Glossotop daher «zwar sehr positive, doch nicht völlig unproblematische, biologistisch geprägte Assoziationen wecken kann».

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(cf. Coseriu 1980) handelt es sich dabei um Sprachvarietäten mit geographisch eingeschränktem Kommunikationsradius, welcher sich auf einen Ort oder eine Gegend beziehen lässt. Als Bezeichnung für die «nicht standardisierten regionalen Sprachvarietäten» (Haßler 2009, 866) ist der Terminus Dialekt ab dem 17. Jahrhundert gebräuchlich. Seine wortgeschichtliche Herkunft aus dem Griechischen wird dabei schon anhand der verschiedenen neuzeitlichen Definitionen deutlich, die in vielen Fällen als Referenzpunkt die Unterschiede der griechischen Dialekte nennen. Neben Dialekt sind weitere Ausdrücke zu nennen: Im Deutschen wurde etwa die Bezeichnung Mundart eingeführt, in der französischen Tradition existierte das griechische Fremdwort zunächst bei Genusalternanz in den Formen le/la dialecte, despektierlich als niedere Sprachform war (und ist mitunter bis heute) der Ausdruck patois verbreitet (cf. Boyer 2013), während sich in der Formulierung les façons de parler des Provinces nicht nur eine geographische Referenz auf die französischen Provinzen, sondern auch eine mit vielfältigen Konnotationen verbundene Opposition «Paris – Province» spiegelt. Im Spanischen hat sich ebenfalls die Bezeichnung dialecto etabliert, wenngleich sich gerade in frühen Texten eher Umschreibungen finden, wie etwa modos de hablar oder habla local. Der Fokus bei der Betrachtung von Dialekten liegt dabei, wie aus der von Haßler (2009) zusammengestellten Anthologie hervorgeht, stets auf der Abweichung von der vermeintlichen Standardsprache. Räumlich schlägt sich diese Abweichung dabei in einer Opposition «Zentrum – Peripherie» nieder, am deutlichsten wohl in Frankreich, wo die Pariser Norm die Referenz bildet, von welcher die Redeweisen der Provinzen divergieren. Deutlich formuliert findet sich diese Idee bei Vaugelas, der in seinen Remarques von 1647 vor dem Einfluss der Provinzdialekte warnte: «Il ne faut pas insensiblement se laisser corrompre par la contagion des prouinces en y faisant vn trop long seiour»; die Dialekte, so Vaugelas, «corrompent tous les iours la pureté du vray langage François»32. Weniger despektierlich ist die Beschreibung Aldretes (1606) «de los modos de dezir, i generos de hablar, que los Griegos llaman dialectos». Diese Dialekte bestünden «en vna cierta propriedad en el hablar, con la qual no se varia, ni muda la lengua, sino se acomodan los vocablos aun modo recibido […] o por lo menos al vso de la tierra, aunque no sea el mas elegante» (meine Hervorhebung). In Aldretes Ausführungen scheint gewissermaßen die aus den Oppositionen «Zentrum – Peripherie» und «Standard – Abweichung» abgeleitete, sekundäre Bedeutung des Dialektbegriffs durch, namentlich die Verknüpfung von Redeweisen mit

|| 32 Die im Folgenden aus historischen Quellen zitierten Passagen sind sämtlich dem Artikel Dialekt von Haßler (2009) entnommen.

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bestimmten Orten und Gebieten. Der Gebrauch der Sprache unterscheidet sich also von Ort zu Ort, jeweils in einen vso de la tierra: «estos modos de hablar son diuersos en vna lengua conforme la variedad, i diuersidad de los lugares». Variation liegt dabei schon im Kleinen vor, wie auch Muratori 1706 festhält: «non solamente una Provincia dall’altra, ma una Città dall’altra, e una parte della Città da un’altra è differente nel parlar Volgare». Im Dialektbegriff spiegelt sich also die Wahrnehmung diatopischer Variation, wonach das von der Norm abweichende Sprechen der Menschen an einem bestimmten Ort sich seinerseits vom Sprechen der Menschen an anderen Orten unterscheidet. Das Sprechen wird mit den Menschen und die Menschen werden mit dem Ort (vso de la tierra) bzw. den Gebieten (Provinces) assoziiert. In der Definition Adelungs vom Ende des 18. Jahrhunderts ist der Dialekt dann «die besondere Art zu reden, wodurch sich die Einwohner einer Gegend von den Einwohnern anderer Gegenden unterscheiden, die Abweichungen einzelner Gegenden in der gemeinschaftlichen Sprache». Ausdruck dieser Zuordnung sind auch die konkreten Eigennamen der Dialekte, welche bezeichnenderweise nach den Gebietsbezeichnungen gewählt sind: In der Picardie wird – selbstverständlich, so möchte man sagen – Picardisch gesprochen (cf. 5.1). Im historischen Kontext der Sprachreflexion der Neuzeit ist das gesteigerte Interesse und das damit einhergehende Nachdenken über die diatopische Dimension der Sprache und die Zusammenhänge zwischen bestimmten Redeweisen, Formen, Wörtern etc. auf der einen Seite und den Orten und Gegenden auf der anderen Seite folglich als Derivat der Auseinandersetzung mit den aufstrebenden und zunehmend normierten Volks- bzw. Nationalsprachen zu betrachten. Dies macht auch der Dictionnaire de l’Académie française von 1694 in seiner Definition deutlich: «DIALECTE. s. m. Langage particulier d’une ville ou d’une province, dérivé de la Lange generale de la nation». Seit dem 19. Jahrhundert und der Etablierung einer institutionalisierten Beschäftigung mit Sprache kam nun, allerdings weniger an der Universität als bei Gymnasiallehrern (cf. Haßler 2009, 880s.), ein gesteigertes Interesse an der Beschreibung regionaler und lokaler Sprechweisen auf. Neben die Grammatiken der Nationalsprachen gesellten sich in diesem Kontext zahlreiche sog. «Ortsgrammatiken», die also Dialekte als lokal begrenzte Sprachsysteme zu beschreiben versuchten. Zugleich entstand die «Idee, dass Sprachen und Dialekte kartierbar sind» (ib., 879). Spätestens mit der Sprachgeographie werden Sprachen und Sprachformen also als konkret mit dem geographischen Raum verknüpfte Phänomene vorgestellt, die gleichsam anderen Elementen der Topographie kartographisch abgebildet werden können. Die Vorstellung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge ging als festes Gedankengut in die sich institutionell festigende Sprachwissenschaft ein.

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2.5 Fazit: Sprachlicher Raumbezogenheit im Denken und in der Sprache Die Untersuchung der Ausdrücke, die auf sprachlich-räumliche Zusammenhänge referieren, hat verdeutlicht, dass der Begriff sprachlicher Räumlichkeit in sämtlichen Diskursuniversen verankert ist. Wie nachgewiesen wurde, handelt es sich dabei um eine vorwissenschaftliche Vorstellung, die als Prämisse auch in den linguistischen Diskurs unhinterfragt übernommen wurde und somit sämtliche Bereiche transzendiert. Die Verknüpfung von Sprechen/Sprache und Ort/Gebiet manifestiert sich freilich nicht in einer einzigen homogenen Vorstellung. Die besprochenen Ausdrücke zeigen vielmehr, dass – je nach Kontext – ganz verschiedene Konzeptualisierungen möglich sind. Die Unterschiede betreffen dabei vor allem die Berücksichtigung der Sprecher als Bindeglied zwischen Ort/Gebiet und Sprechen/Sprache. Implizit liegt diese siedlungsgeographische Komponente jedoch allen Vorstellungen zugrunde. Nach dieser Annäherung an die Frage, wie sprachlicher Raumbezug gedacht wird, ist es das Ziel der folgenden Kapitel, die Verknüpfung von Sprache und geographischem Raum, welche als ein bekanntes Phänomen gelten kann, mit Coseriu (1980, 106) gesprochen, zu einem erkannten Phänomen zu machen. Kapitel 3 nimmt sich daher vor, in einem ersten Schritt die Raumbezogenheit von Sprache unter dem Prinzip der Indexikalität genauer zu beschreiben und in einem zweiten Schritt die kognitiven Prozesse zu untersuchen, die der Assoziation von Sprechen, Sprache, Ort und Raum zugrunde liegen.

3 Die Indexikalität des Sprechens und ihre Konzeptualisierung Die bereits in der Einleitung angesprochene Aussage Trubetzkoys, jeder Sprechakt «ist immer konkret, findet an einem bestimmten Orte und zu einer bestimmten Zeit statt», bildet auch den Ausgangspunkt dieses Kapitels, denn einerseits sind Vorstellungen der Zusammenhänge zwischen Sprachen und geographischen Gegenden abstrakt, andererseits können sie im Grunde nur konkret und individuell, nämlich in der «Materialisierung» des einzelnen Sprechens beobachtet werden. Gegenstand dieses Kapitels ist es, ausgehend vom konkreten Sprechereignis die Raumbezüge von Sprache herauszuarbeiten, um zu rekonstruieren, wie daraus – auf der Ebene der individuellen Wahrnehmung – Konzeptualisierungen der sprachlich-räumlichen Realität entstehen können. Im Zusammenhang sprachlicher Raumbezogenheit ist die Tatsache, dass jeder Sprechakt an einem spezifischen Ort stattfindet, daher grundlegend, denn mit dieser Erkenntnis lässt sich bereits ganz universell und für jede Sprache und auch jede andere verbale und non-verbale Kommunikationsform in gleicher Weise ein Raumbezug feststellen. Neben der «externen» räumlichen Situierung werden im Folgenden auch andere Möglichkeiten der Raumreferenz berücksichtigt. So nehmen die Sprecher in jeder Kommunikation Bezug auf die mittelbare und unmittelbare zeitliche und räumliche Umgebung, ein Phänomen, das unter dem Begriff der Deixis gefasst wird. Raumbezogenheit manifestiert sich weiterhin in Ortsnamen, Hinweisschildern, beschrifteten Karten oder auch Personen, deren Herkunft sich aufgrund eines markanten dialektalen Akzents verrät (varietätenlinguistisch würde dies als «diatopisch markiert» bezeichnet, cf. 3.2), womit sich eine ganze Palette verschiedener Formen der sprachlichen und allgemein-kommunikativen Raumbezogenheit bietet. Diese mag auf den ersten Blick heterogen erscheinen, eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass den verschiedenen Ansätzen ein «einendes Prinzip» zugrunde liegt, nämlich das der Indexikalität, das aufgrund seines Bedeutungsumfangs jeweils in einem engeren oder weiteren Sinn der theoretischen Erfassung der Zusammenhänge dienen kann. Im folgenden Abschnitt (3.1) wird unter dem Begriff der Indexikalität eine Auflistung der diversen Möglichkeiten des Raumbezuges geboten, die ich integrativ als Indexikalität des Sprechens bezeichne. Diese «globale» Konzeption der Raumbezogenheit, die durch das Sprechen und mit dem Sprechen hergestellt wird, bietet den Vorteil, sich unmittelbar auf den Kommunikationsakt zu beziehen und kann daher als Grundlage für eine theoretische Aufarbeitung der Wahrnehmung und folglich auch Konzeptualisierung der geographischen Raumbezogenheit von Sprache und Sprechen dienen. Ausgehend von der These, dass die

54 | 3 Die Indexikalität des Sprechens und ihre Konzeptualisierung

Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge in einem ersten Schritt bzw. in ihrer grundlegendsten Form aus der Beobachtung und Weltwahrnehmung des Sprechers resultiert, wird in 3.2 der Versuch unternommen, die Prozesse und Faktoren herauszuarbeiten, die – erkenntnistheoretisch betrachtet – von der Wahrnehmung des Sprechens im Raum über deren kognitive Verarbeitung zu mentalen Repräsentationen sprachlicher Raumbezogenheit führen.

3.1 Indexikalität und Raumbezogenheit Der zeichentheoretische Begriff der Indexikalität kann als Brücke fungieren zwischen der Sprache und dem Sprechen einerseits und dem (geographischen) Raum andererseits. Er bietet den Vorteil, mithilfe eines einzigen abstrakten Prinzips die diversen Formen der Raumbezogenheit der Sprache theoretisch erklärbar zu machen. Dazu ist freilich ein weiter bzw. erweiterter Indexikalitätsbegriff notwendig. Was ist also im Folgenden mit Indexikalität gemeint?1 Der Begriff der Indexikalität bezieht sich auf die allgemeine referentielle Funktion der Sprache, also die Referenz auf Personen, Objekte und Sachverhalte der außersprachlichen Wirklichkeit. Als allgemeiner Aspekt der Referenz ist Indexikalität weiter gefasst als das Konzept der Deixis. Wie Nöth (2000, 185) konstatiert, wurde das indexikalische Zeichen am differenziertesten in der Zeichentheorie von Peirce entwickelt, demzufolge «Indexikalität ein Phänomen der Zweitheit [ist], der Kategorie, in der ein Erstes unmittelbar mit einem Zweiten verbunden ist. Es ist die Kategorie des Faktischen, der Realität und Erfahrung in Zeit und Raum». Zwischen Zeichen und Objekt besteht eine dyadische Beziehung: «Die Phänomene, in denen sich solche dyadischen Relationen manifestieren, sind solche der naturgesetzlichen Kausalität, der beobachteten zeitlichen und räumlichen Kontiguität sowie der merologischen (Teil-Ganzes-) Beziehungen» (ib.). In einem engeren Sinne und synonym mit dem Begriff der Deixis liegt Indexikalität in der Sprache bei sprachlichen Ausdrücken vor, «die von sich selbst auf die Sprachsituation oder den Kontext verweisen» (ib., 186). Diese Form der Indexikalität ist damit eine unmittelbar situationsbezogene, da die Ausdrücke nur interpretiert werden können, wenn der Empfänger den Äußerungszeitpunkt und -ort sowie den personalen Kontext kennt. Mittels eines erweiterten Begriffs der Indexikalität lassen sich diverse Arten der geographischen Raumbezogenheit von Sprache und sprachlichen Äußerungen identifizieren: Im einzelsprachlichen Wortschatz einer Sprache stellen To-

|| 1 Ich beziehe mich im Folgenden auf die Überblicksdarstellung bei Nöth (2000, 185–192).

3.1 Indexikalität und Raumbezogenheit | 55

ponyme Bezüge zwischen Sprache und Raum her; auf der Ebene der Grammatik sind einige Verben (z.B. fr. aller – venir, sp. ir – venir) sowie vor allem lokaldeiktische Adverbien zu nennen. Darüber hinaus liegen indexikalische Bezüge auch dann vor, wenn Ortsnamen auf Karten eingezeichnet werden, die ikonisch den geographischen Realraum abbilden. Schließlich kann das Sprechen selbst als Indexzeichen fungieren, wenn es auf die Herkunft des Sprechers hinweist bzw. einer diatopischen Varietät zugeordnet werden kann. Im Folgenden sollen diese Formen der Indexikalität in einem ersten Schritt als Inventar der Möglichkeiten sprachlichen Raumbezuges dargestellt und diskutiert werden (3.1.1). In einem zweiten Schritt geht es darum, aus einem weiten Begriff der Indexikalität das Prinzip der Indexikalität des Sprechens zu extrapolieren (3.1.2).

3.1.1 Formen der Indexikalität von Sprache 3.1.1.1 Ortsnamen und Schilder Der Name Troja steht für eine antike Stadt, deren Name durch die Rolle der Stadt in Homers Ilias bis heute mit allerhand Geschichten, Vorstellungen und Mythen besetzt ist. Was jedoch fehlt bzw. lange fehlte, ist ein gesichertes Wissen über die genaue geographische Lage der Stadt. Seit der Neuzeit gibt diese Frage Anlass zu zahlreichen Hypothesen und auch wenn man heute davon ausgeht, dass sich die Stadt an den Dardanellen der heutigen Türkei befand, bezeugen die Diskussionen innerhalb und außerhalb der Archäologie, dass zu einem Ortsnamen auch die geographische Position gehört – zumindest im Diskursuniversum des Alltags genügen Name und historisch-mythologische Vorstellungen nicht. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Toponyme (vermeintlich) untrennbar mit einem Ort verbunden sind: Der Name zeigt auf einen Ort und vice-versa. Die Kategorie der Eigennamen kann daher als prototypisch für eine Wortart gelten, die primär zeigend, d.h. indexikalisch, funktioniert (cf. van Langendonck 2007, 202). Unter den Eigennamen sind es die Toponyme, die dazu dienen, die für die Zeichenbenutzer relevanten Orte und Gegenden zu bezeichnen und unabhängig vom deiktischen Zeigen auf diese referieren zu können. Ortsnamen haben einen für die Zeichenbenutzer ganz konkreten Nutzen, wie Kremer (2013, 7) betont: «El usuario de los nombres generalmente no piensa en términos histórico-etimológicos, sino que conoce un nombre que le resulta familiar y lo asocia a un lugar concreto». Wie andere Typen von Eigennamen tragen auch Ortsnamen im Unterschied zu Gattungsnamen keine eigene Bedeutung. Zwar ist die Wahl eines Namens beim ersten Benennungsakt meist motiviert, über diesen Akt hinaus hat diese

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Motivation jedoch keine Wirkung.2 Insofern können Toponyme zwar Assoziationen hervorrufen, ihr eigentlicher Inhalt liegt jedoch in dem evozierten Raumausschnitt oder Ort, auf den sie referieren. Im Vordergrund steht also keine Bedeutung, sondern der Ort. Während das sprachliche Zeichen nach Saussure einem Lautbild (signifiant) eine Bedeutung (signifié) gegenüberstellt, evoziert das Lautbild von Toponymen beim Sprecher nicht nur ein einzelsprachlich kodiertes Konzept, sondern einen konkreten, unmittelbar mit der außersprachlichen Wirklichkeit verknüpften Ort bzw. die Vorstellung eines Ortes, die freilich mit weiteren Konnotationen aufgeladen sein kann.3 Ortsnamen sind damit sprachliche Zeichen, die aufgrund eines Namengebungsaktes unmittelbar und unabhängig von konkreten Kommunikationssituationen und deiktischem Zeigen mit dem Raum bzw. dem bezeichneten Ort verbunden sind. Ortsnamen zeigen indexikalisch, jedoch unabhängig von der Kommunikationssituation, auf den Ort. Semiotisch gewendet beruht die Verbindung auf der dyadischen Beziehung zwischen Ortsname (= Zeichen) und Ort (= Objekt). Diese Spezifik betont Bühler (1934) im Rahmen seines symphysischen Umfelds (cf. 1.5). Was Peirce in der Semiotik als dyadische Beziehung bezeichnet hatte, ist für Bühler eine dingfeste Anheftung: «Sie [= die kontextfreien Namen] können dingfest angeheftet an das durch sie Benannte auftreten. Man druckt Markennamen auf Waren, schreibt Ortsnamen auf Wegweiser und ‹signiert› Gegenstände durch Eigennamen der Besitzer oder Erzeuger. Auch Buchtitel und Kapitelüberschriften, lakonisch nennende Bild- und Denkmalunterschriften und -aufschriften sind dingfest verbunden mit und angebracht auf dem Benannten» (Bühler 1934/1999, 159).

Die Anheftung eines Ortsnamens ist also die unmittelbare, d.h. von jedem anderen Kontext und von jedem deiktischen Zeigen unabhängige Anheftung eines

|| 2 Cf. die philosophische Debatte um die Frage, ob Eigennamen mit deskriptiven Informationen (d.h. einer Bedeutung) synonym sind, seit Frege (1892). Dem gegenüber ist Mill (1843) für die Gegenposition bekannt. Berühmt ist sein Beispiel des Ortsnamens Dartmouth, motiviert durch dessen Lage an der Mündung des Flusses Dart, um zu belegen, dass der Name auch dann noch auf die Stadt referieren würde, sollte sich der Flusslauf verändern. 3 Zur Linguistik der Eigennamen cf. allgemein den Band von Eichler et al. (1995–1996), Wimmer (1973) für das Deutsche und die Beiträge in Dahmen et al. (2008) für die Romanistik. Für das Französische verweise ich allgemein auf Gary-Prieur (1994), für das Spanische auf Fernández Leborans (1999). Dass die Nennung von Orten allgemeine und auch individuelle Vorstellungen, Repräsentationen und Assoziationen hervorrufen kann, sei hier ausgeklammert.

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Namens an einen Ort.4 Gegenüber Markennamen auf Waren muss die Verbindung von Ortsnamen und den benannten Orten natürlich nicht immer konkret physisch sein und kann somit mehr oder weniger metaphorisch verstanden werden. Unbeschadet dieser Tatsache erweist sich die Erläuterung Bühlers zum Begriff der Symphyse als erhellend und zugleich symptomatisch für die Bedeutung von Raummetaphern für die Darstellung komplexer Zusammenhänge, die an späterer Stelle noch zu thematisieren sein wird: «Das Fremdwort Symphyse (Verwachsung) ist in der Medizin gebräuchlich; der nachdenkende Leser soll auch bei ‹symphysisches Umfeld› an ‹Zusammenwachsen› denken. Wenn ein flüchtiger Leser aber nur an ‹physischen Zusammenhang› denkt, so schadet das kaum, weil es sachlich nicht daneben trifft und das Wort Physis ja aus derselben Wurzel stammt» (Bühler 1934/1999, 160s., Anm. 2).

Über die wohl eher metaphorisch zu verstehende Verwachsung des Namens mit dem Ort hinaus bringt Bühler auch Beispiele für konkrete physische Manifestationen von Ortsnamen. Zwar spricht er nicht von Ortseingangs- und -ausgangsschildern, die den Ortsnamen entsprechend symphysisch einbetten, er unterstreicht aber die analoge Funktion von Wegweisern: Diese tragen als «dingliche Zeiger» den Ortsnamen «wie ein Fernanhefter» (1934/1999, 159), denn der Name benennt nicht den Wegweiser, sondern den Ort, in dessen Richtung er zeigt und mit dem folglich «die Befolgung einer deiktischen Vorschrift» (ib., 161) verbunden ist. Bühler führt weitere Beispiele an, die Namen mit Orten verbinden, wie «die Eintragungen auf ehernen Tafeln, die den ‹Rundblick› auf Aussichtswarten erläutern» (ib.), oder die Ortsbezeichnungen und graphischen Pfeile auf Fotographien. In allen Fällen handele es sich um das Zeigen dinglich angehefteter Namen «im Gefüge einer demonstratio ad oculos» (ib.). Das Anbringen von Schildern im geographischen Raum, die neben Ortsnamen freilich auch andere Informationen mittels sprachlicher Zeichen vermitteln können, ist noch in einem anderen Zusammenhang von Interesse. Insofern Toponyme zum Lexikon einer Einzelsprache gehören und auch ansonsten alle sprachlichen Informationen auf Schildern jeder Art in einer Einzelsprache realisiert sind, können diese, neben der meist im Vordergrund stehenden informativen Funktion, auch zur Markierung des Raumes dienen. Gerade im Kontext der in der Einleitung angesprochenen Bestrebungen der jüngeren Zeit zum Schutz von Minderheiten- oder Regionalsprachen – teilweise auch als Revitalisierung

|| 4 Cf. wiederum Coseriu (1980/1994, 130), der Bühlers Idee als physikalischen Außer-RedeKontext aufgreift und von Dingen spricht, «denen das Zeichen unmittelbar anhaftet».

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bezeichnet5 – ist man sich im Sinne der ökolinguistischen Bedingungen des Gebrauchs einer Sprache der Bedeutung der visuellen Präsenz der Sprachen im Raum bewusst. Aus diesem Grund werden vielerorts in Europa nicht nur mehrsprachige Bezeichnungen auf Schildern eingeführt, auch die Ortsbezeichnungen sollen in der jeweiligen Sprache angegeben und sowohl konkret auf Schildern als auch auf Landkarten angezeigt werden (cf. Kapitel 5).6 Semiotisch betrachtet lassen sich also zwei Arten der Verbindung von Sprache und geographischem Raum feststellen. Zum einen sind dies Ortsnamen, die als Indexzeichen unmittelbar auf einen Ort verweisen und mit diesem in einer dyadischen Beziehung stehen. Umgekehrt können auch symphysisch in den Raum eingebettete Schilder als Indexzeichen für den Gebrauch einer oder mehrerer Sprachen an einem Ort oder in einem Gebiet fungieren.

3.1.1.2 Deixis Ein weiterer Ansatz, der als raumreferentiell bezeichnet werden kann, betrifft die Indexikalität im engeren Sinne, d.h. das deiktische Zeigen, das Lokal-, Temporalund Personaldeixis umfasst. Im Gegensatz zu Ortsnamen, die nach Bühlers Zweifelderlehre bekanntlich dem Symbolfeld der Sprache zuzuordnen sind, schreibt sich die Referenz auf den Raum durch deiktisches (bzw. indexikalisches) Zeigen in das Zeigefeld der Sprache ein. Der fundamentale Unterschied liegt in der Situationsgebundenheit der beiden Felder. So können Ortsnamen unabhängig von der Kommunikationssituation auf bestimmte Stellen im Raum verweisen, während deiktische Ausdrücke ausgehend vom Sprecher, vom Sprechermoment und von der Position des Sprechers im Raum auf Personen, Zeitpunkte und Orte referieren.7

|| 5 Den Begriff der Revitalisierung verwenden Interessenverbände, aber auch (engagierte) Sprachwissenschaftler (cf. Moretti/Pandolfi/Casoni 2011, cf. auch Tacke 2013b). 6 Das Forschungsfeld, das sich seit Ende der 1990er Jahre diesem Thema widmet, bezeichnet die visuelle Präsenz von verschiedenen Sprachen im öffentlichen Raum als linguistic landscape. In der Romanistik lässt sich dazu ein zunehmendes Interesse erkennen, wovon etwa die Sektion «Paisajes lingüísticos y dinámicas culturales en el mundo hispanohablante contemporáneo» auf dem 19. Deutschen Hispanistentag (Münster, März 2013), die Sektion «Les langues dans l’espace public francophone» auf dem 9. Frankoromanistenkongress (Münster, September 2014) sowie die von Mónica Castillo Lluch und Daniel M. Sáez Rivera betreute «sección temática: Paisajes lingüísticos en el mundo hispánico» in der Revista Internacional de Lingüística Iberoamericana 21 (2013) zeugen. 7 Deixis geht folglich immer vom Zentrum des Sprechers aus, für das Bühler (1934/1999, 102– 120) bekanntlich den Begriff der Origo geprägt hat, der Nullpunkt des Sprechers oder der «Koordinatenausgangspunkt», der prototypisch durch die «Zeigwörter hier, jetzt und ich» (ib., 102) ausgedrückt wird.

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Die verschiedenen Einzelsprachen verfügen über unterschiedliche sprachliche Ausdrucksmittel, um auf den Raum zu referieren, wozu neben Adverbien beispielsweise auch Verben zählen können.8 Dieser Teil des Raumbezuges von Sprachen ist vergleichsweise gut erforscht und hat einen Platz in den deskriptiven Grammatiken gefunden. Überdies ist Lokaldeixis auch kognitionswissenschaftlich interessant, da sie Aufschlüsse über die Raumkognition des Menschen gibt, insofern ihre Wiedergabe mit sprachlichen Mitteln «eine Auflösung der mehrdimensionalen Raumwahrnehmung in eine lineare Struktur voraus[setzt]» und dadurch Erkenntnisse über die «Natur der räumlichen Kognition» (Wenz 2009, 210) möglich werden. Nun steht bei der Erforschung der Lokaldeixis und der damit verbundenen Raumkognition nicht unmittelbar der geographische Raum im Vordergrund, sondern es geht dabei zunächst um den beim Sprecher zugrunde liegenden Wahrnehmungsraum, d.h. seine mentale Repräsentation des ihn unmittelbar umgebenden Raums, die in ähnlicher Weise – als Voraussetzung für den Erfolg der Kommunikation – auch beim Hörer vorhanden sein muss. Der in der Kommunikationssituation gegebene Raum, die räumliche Umgebung der Kommunikationspartner, wird als «Referenzbereich» (Klein 2001) relevant, der im Rahmen einer interaktionalen Linguistik auch als Interaktionsraum untersucht wird.9 Anders gedeutet ließe sich auch von der mentalen Raumvorstellung des Sprechers als Wahrnehmungsraum ausgehen, der sich im Sprechakt durch deiktische Raumausdrücke manifestiert und in der Kommunikation zum gemeinsamen Interaktionsraum von Sprecher und Hörer wird.

3.1.1.3 Karten: Ikonizität und Indexikalität Eine weitere Form der Raumbezogenheit liegt in der Referenz auf den geographischen Realraum mittels kartographischer Abbildungen, die einerseits Bezeichnungen und Namen, andererseits – im Falle von Sprachenkarten – eine Abstraktion des realen Sprechens auf die materiell zweidimensionale Fläche der Karte projizieren.

|| 8 Aus dem Bereich der romanistischen Linguistik kann an dieser Stelle auf den Band von Maaß/Schrott (2010) verwiesen werden. 9 Zu dem von den Interaktionsteilnehmern gemeinsam konstruierten Interaktionsraum cf. Mondada (2005), De Stefani/Mondada (2007), De Stefani (2010). Dieser «Umgebungsraum» ist selbst noch kein Sprachraum oder sprachlicher Raum. Für Oesterreicher (2008, 61) «ist evident, dass Sprecher, Schreiber und Rezipienten in konkreten Kommunikationsräumen agieren, die aber gerade nicht als ‹Sprachräume› konzipiert werden dürfen, da Sprache nichts Räumliches ist und Kommunikationsräume nie einfach ‹sprachlich verfasst› sind».

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Voraussetzung für die Projektion des Sprechens oder, abstrakter, einer Sprache oder eines Dialektes auf eine Karte ist zunächst einmal die Karte selbst, die zeichentheoretisch ein Ikon des geographischen Raumes, des realen Objektraumes, darstellt. Ein Ikon wird als ein Zeichen definiert, «welches das von ihm bezeichnete Objekt auf Grund einer Ähnlichkeitsbeziehung repräsentiert» (Nöth 2000, 193). Die Ähnlichkeit ist dabei ein Kriterium, das nicht objektiv messbar und insofern relativ und graduell ist. Peirce versteht Ähnlichkeit als «Gemeinsamkeit an Merkmalen, Formen oder Eigenschaften, als Analogie oder Isomorphie oder als Gleichheit des Eindrucks, den Zeichen und Objekt beim Interpreten hervorrufen» (ib., 195). Ferner gilt das Kriterium der Relevanz, nach dem nicht alle Merkmale eines Objektes in gleicher Weise relevant sind und folglich nicht sämtlich auch bei einem Zeichen vorhanden sein müssen, damit dieses als Ikon gelten kann. Kritisch setzt sich Umberto Eco (1972, 197–220) mit der ObjektZeichen-Relation des Ikons auseinander, denn für ihn basiert Ikonizität nicht auf der Objektrelation durch ein als naiv beurteiltes Similaritätskriterium, vielmehr gründe sich die Relation auf kulturellen Konventionen. Für die kartographische Repräsentation des geographischen Raumes scheint beides zu gelten: Einerseits sind sie als Repräsentamen durch ihre Ähnlichkeit mit dem Raum verbunden, denn Umrisse von Gebieten, Verlaufslinien von Flüssen und Grenzen sowie die Distanzrelationen der topographischen Merkmale des Raumes finden sich auf ihnen in der Regel in exakter, lediglich im Maßstab verkleinerter Form wieder. Andererseits sind diverse Merkmale von Landkarten, die dem Interpreten selbstverständlich und in Bezug auf den repräsentierten Raum vielleicht auch «natürlich» erscheinen, in kulturellen Konventionen begründet, die analog zu Text- oder Diskurstraditionen auch Karten als «Repräsentationstraditionen» betreffen. Als Beispiel können etwa die Ausrichtung der Karten nach Norden oder ihre rechteckige Form genannt werden.10 Das Prinzip der Indexikalität betrifft nun einerseits die in die Karte eingetragenen Zeichen, andererseits die Karte selbst. Mit Nöth kann die wesentliche Funktion der Karte als eine indexikalische bezeichnet werden, «denn einerseits sind Kartenzeichen durch Gesetzmäßigkeiten der optischen Projektion mit dem dargestellten Territorium (als dem dynamischen Objekt) kausal verbunden, andererseits orientiert eine Karte ihre Benutzer ‹richtungsweisend› in ihrer unmittelbaren geographischen Umwelt oder in ihrem mentalen Vorstellungsraum» (Nöth 2000, 490).

Schließlich kann Sprache über die kartographische Projektion mit dem ikonisch dargestellten geographischen Raum verbunden werden: Beispielsweise befinden || 10 Cf. dazu das Kapitel «Landkarten» aus dem Handbuch der Semiotik (Nöth 2000, 487–490).

3.1 Indexikalität und Raumbezogenheit | 61

sich auf den meisten nicht-spezialisierten Landkarten Ortsnamen, die neben, über oder unter einem den Ort repräsentierenden Punkt situiert sind.11 Bezeichnung und Punkt bilden auf der Landkarte ein Zeichen, wobei der Punkt und seine Situierung auf der Karte dasjenige Element ist, das indexikalisch auf den Ort im Realraum verweist. Bühler spräche hier wieder von einer deiktischen Zuordnung und einer demonstratio ad oculos – die Tatsache, dass sich diese auf einer Repräsentation des Raumes vollzieht, ändert dabei nichts an der Qualität der Zuordnung. Über das Anbringen von Ortsnamen hinaus ist die kartographische Repräsentation auch ein Mittel der Visualisierung der diatopischen Variation von Sprache in der Linguistik. Ziel ist es hier, die räumliche Verteilung von sprachlichen Merkmalen als Phänomene einer Sprache bzw. eines Dialektkontinuums oder auch im Rahmen der sogenannten Sprachbundforschung (Arealtypologie) kartographisch darzustellen und so zu dokumentieren. Entsprechend wird die Sparte der Sprachgeographie, die sich speziell dieser Aufgabe widmet, auch Sprachkartographie genannt (cf. Besch et al. 1982–1983). Es geht darum, das Sprechen an unterschiedlichen Orten zu vergleichen und den Sprachgebrauch in seiner geographischen Distribution sichtbar zu machen. Das auffälligste Produkt dieser Arbeit ist der Sprachatlas, der gerade in der romanistischen Sprachwissenschaft auf eine lange, im 19. Jahrhundert verwurzelte Tradition zurückblicken kann. Die aus der Kartographie resultierende Verbindung von Sprache und Raum spiegelt dabei in aller Regel das reale, sinnlich wahrgenommene Sprechen, also konkrete sprachliche Daten, wider. Es handelt sich jedoch um eine Repräsentation der sprachlich-räumlichen Realität, die das Resultat diverser Abstraktionen ist (u.a. bei der Übertragung auf die Karte und bei ihrer Interpretation durch den Kartenleser): «La cartografia erge di necessità barriere che non posson render conto della complessità» (Giannelli 2008). Schließlich repräsentieren Karten das Sprechen auch in abstrakter Weise in seiner erdräumlichen Strukturierung, nämlich dann, wenn ganze Dialekte, Einzelsprachen oder Sprachfamilien lokalisiert werden. Auf diesem Abstraktionsgrad finden sich in der Sprachwissenschaft nur dem Überblick dienende Karten in Übersichten und Einführungen (cf. 5.3). Dagegen ist es ein genuines Interesse der Ethnologie, Kulturmerkmale – und dazu zählt eben auch Sprachliches – auf thematischen Karten zu repräsentieren; entsprechend finden sich in den meisten volkskundlichen Atlanten auch Informationen über die verwendeten Sprachen (cf. Pailhé 2007).

|| 11 Der Punkt ist hier semiotisch gesehen ein Symbol. Die Größe des Punktes kann ggf. jedoch ikonisch die Größenrelation der Städte untereinander abbilden, man spricht dann von diagrammatischer Ikonizität (cf. Nöth 2000, 490).

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Die Verbindung von Einzelsprachen, diatopischen Varietäten und sprachlichen Merkmalen mit dem geographischen Raum wird dabei zwar einerseits durch die kartographische Projektion erst erzeugt – mit Bühler ließe sich vielleicht auch hier von einer dingfesten Anheftung sprechen; die Darstellung resultiert jedoch andererseits aus der Wahrnehmung des Sprechens im Raum und dient einer ikonischen Repräsentation der sprachlich-räumlichen Realität. Hinzu kommt, dass die kartographische Darstellung ihrerseits Einfluss auf die kognitive Vorstellung dieser Realität bei den Interpretanten ausübt, denn es ist anzunehmen, dass die vermeintlich präzise Abbildung der sprachlichen Realität im geographischen Realraum die Vorstellung im Sinne der mentalen Repräsentation sprachlicher Räumlichkeit prägt. Schlichtmann (1995, nach Nöth 2000, 488) spricht diesbezüglich von zwei Phasen: Die erste bestehe in der Korrelation von Gelände und Karte, also in diesem Fall der Eintragung des Sprechens auf die entsprechende Stelle der Karte; bei der zweiten Phase spricht er von einer «gemäßigten Erfindung»: «die Kartenbenutzer interpretieren den Inhalt durch Einbringen kodifizierten Wissens und Produktion neuen Wissens über das abgebildete Territorium» (ib.).12

3.1.1.4 «Markiertes Sprechen»: Indexzeichen Schließlich können Äußerungen als Indexzeichen aufgefasst werden. So kann die Äußerung eines Sprechers von einem Hörer wahrgenommen und mit einem bestimmten Dialekt, einer bestimmten Einzelsprache oder unmittelbar mit der ihm bekannten Art und Weise, an einem bestimmten Ort zu sprechen, assoziiert werden. Die Äußerung selbst, aber auch der Sprecher werden dadurch örtlich zugeordnet. Das Sprechen funktioniert als Indexzeichen und zeigt auf den Ort, an dem typischerweise so gesprochen wird.13 In Bezug auf den Sprecher sind Ort und Herkunft hier gleichgesetzt. Diese spezielle Form der Indexikalität des Sprechens gilt auch für einzelne sprachliche Formen, die man in der Linguistik metaphorisch als diatopisch markiert bezeichnet. Die «Markierung» entspricht dabei also der Qualität der Sprachform, auf einen Ort oder eine Gegend zu verweisen, wo diese typischerweise verwendet wird. Dazu ist anzumerken, dass jede Form der diasystematischen Markierung dem Bereich der «Wahrnehmung und Beurteilung» (Oesterreicher 2008, 63) von Sprache und sprachlicher Variation und damit den mentalen Repräsentationen der sprachlichen Realität und Variation

|| 12 Zur Kartosemiotik cf. ferner die Beiträge in Schmauks/Nöth (1998). 13 An dieser Stelle sei erneut an die biblische Szene erinnert, in der aufgrund der Aussprache von Schibboleth eine Zuordnung der Sprecher zu den siedlungsgeographisch verorteten Ephraimitern und Gileaditern vorgenommen wird (cf. ausführlich 3.2.4.5)

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(und mithin auch Stereotypen) unterliegt.14 Die Varietätenlinguistik wendet sich zuletzt verstärkt der Wahrnehmung und Repräsentation (nicht nur) der diatopischen Variation der Sprache zu: Forschungsbereiche sind die perzeptive Dialektologie und die perzeptive Varietätenlinguistik.15

3.1.2 Die «Indexikalität des Sprechens» Neben den genannten Formen der indexikalischen Raumbezogenheit von Sprache kann auch das Sprechen als Sprechakt, sowohl im Sinne der Tätigkeit als auch des Produkts, als indexikalisch charakterisiert werden, insofern der Begriff der Indexikalität ausgeweitet wird. Im Folgenden werden dazu die verschiedenen Aspekte dessen dargelegt, was ich als die Indexikalität des Sprechens definieren möchte.

3.1.2.1 Sprechereignisse als räumlich-zeitlich verankerte Handlungen Indexikalische Informationen – im engen, rein deiktischen wie im weiteren allgemein-referentiellen Sinn – sind notwendigerweise in jedem Redeakt enthalten und kennzeichnen jedes Sprechereignis. Dass diese Erkenntnis nicht unwesentlich ist, lässt sich am Beispiel von Sprechereignissen veranschaulichen, die mittels moderner Kommunikationstechnologie unter Bedingungen physischer Distanz stattfinden und in denen ein gemeinsamer «Wahrnehmungsraum» von Sprecher und Hörer als eine gemeinsame Kenntnis des räumlich-zeitlichen Kontextes nicht gegeben ist. Auf diese Problematik, typisch für «spät-moderne», vom Raum gewissermaßen losgelöste kulturelle und kommunikative Praktiken weist Marco Jacquemet (2010) hin: «In the deterritorialized world of late-modern communication, interlocutors can no longer take the spatio-temporal contexts of an interaction for granted, as a result the indexical information of any message becomes problematic» (Jacquemet 2010, 53).

|| 14 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem varietätenlinguistischen Begriff der Markierung findet sich bei Krefeld/Pustka (2010, 20): «Die Markierung sprachlicher Variation als ‹diatopisch›, ‹diastratisch› bzw. ‹diaphasisch› ist nur dann kommunikativ relevant, wenn sie durch Sprecher(gruppen) als solche, d.h. als auffälliger Hinweis auf die regionale und/oder soziale Herkunft bzw. auf die situative (Un)Angemessenheit – bewusst oder unbewusst – wahrgenommen wird». 15 Cf. für die Romanistik etwa den Band von Krefeld/Pustka (2010). Der von den Rezipienten hergestellte Raumbezug ist auf der Grundlage des individuellen Sprecherwissens und der Repräsentationen der diatopischen Variation freilich meist eher unpräzise und vage. Deutlich wird dies in der Untersuchung von Postlep (2010), in der die räumliche Zuordnung einer Äußerung (Stimulus) durch die Informanten mit vagen Kategorien von Nähe und Ferne angegeben wird (cf. Anm. 31).

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Diese Tatsache ist eine Folge des für den Kommunikationspartner nicht mehr beobachtbaren, auf einer räumlichen und zeitlichen Kontiguitätsassoziation beruhenden Zusammenhangs zwischen einem Zeichen und seinem Referenten. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den räumlich-zeitlichen Kontext durch ein «adjustment of one’s phenomenological field» (Jacquemet 2010, 53), d.h. eine Angleichung des Wahrnehmungsraumes des Hörers an den des Sprechers, zu kompensieren: «Nowadays, a considerable amount of interactional work must be spent in aligning the indexical maps of interlocutors, i.e., their spatial references contextualized in the particular environments occupied by the speakers. Consider, for instance, the case of calling a cellular phone, in which the precise location of the call’s recipient is obviously problematic. The caller’s typical opening move (where are you?) in this case is not a simple request for territorial information, but the start of a sophisticated process of matching indexical maps» (Jacquemet 2010, 53).

Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Indexikalität der Sprache, ausdrucksseitig durch indexikalische bzw. deiktische Zeichen realisiert, von wesentlicher Bedeutung für die Kommunikation zweier Gesprächspartner ist und jeder Redeakt in jedem Sprechereignis indexikalische Informationen enthält und durch diese begründet wird. Indexikalität kann damit zu einem Grundprinzip des Sprechens erhoben werden. Unter der Bezeichnung Indexikalität des Sprechens will ich nun die indexikalischen Elemente im Sprechen und die Indexikalität des Sprechens zusammenfassen (cf. Abb. 7). Diese funktioniert in jedem Sprechereignis und wird einerseits erzeugt durch die mittels Indexzeichen hergestellte Relation zum sprachlichen («endophorische Deixis» genannt) und außersprachlichen («exophorischen») Kontext (hier aufgrund der Kontiguität zwischen Objekten und Zeichen). Andererseits, und dies ist entscheidend, ist jedes Sprechereignis und jeder Redeakt räumlich und zeitlich verankert. Diese Verankerung ergibt sich daraus, dass ein Sprecher stets physisch an einem Ort und zu einem Zeitpunkt spricht (oder schreibt). Die Indexikalität des Sprechens als räumlich-zeitlich verankerte Handlung, beruhend auf der Kontiguität zwischen Sprechen, Zeit und Ort, erscheint vielfach selbstverständlich.16 Unter Kommunikationsbedingungen der Mündlichkeit, bei räumlicher und zeitlicher Nähe der Kommunikationspartner, wird diese Kontiguität unbewusst wahrgenommen. Bei räumlicher Distanz wird diese bewusster, wie die Frage «wo bist du?» (cf. Jacquemets 2010, 53) verdeutlicht. Die Information dient dem Gesprächspartner gewissermaßen der «Indexikalisierung» des

|| 16 So hat auch Benveniste (1959) das deiktische Verweisen als im discours, also im Sprechen, verankert beschrieben, während der récit davon abstrahiert ist.

3.1 Indexikalität und Raumbezogenheit | 65

anderen. Explizit angegeben werden Ort und Zeitpunkt entsprechend unter Bedingungen schriftlicher Kommunikation (cf. 3.1.2.3).

Zeit

Ort Gebiet

(Interaktions-) Raum

Sprechen als räumlich-zeitlich verankerte Handlung Objekte

Personen Zeitpunkt

Abb. 7: Die Indexikalität des Sprechens

3.1.2.2 Sprechereignisse als indexikalisierbare Handlungen Die Indexikalisierung von Sprechakten manifestiert sich besonders deutlich im Internet, wo sowohl unter Bedingungen kommunikativer Nähe als auch kommunikativer Distanz interagiert wird. Tatsächlich lässt sich feststellen, dass dort ein Großteil der sich im Rahmen des auf Interaktion der Benutzer ausgerichteten sogenannten web 2.0 vollziehenden Kommunikationsakte nur scheinbar losgelöst von Raum und Zeit ist und heute zunehmend durch automatisierte Informationen zum (Veröffentlichungs-)Zeitpunkt17 ergänzt wird, während räumliche Informationen vom Sender selbst gegeben werden, sofern er diese für die erfolgreiche Dekodierung seiner Botschaft für notwendig hält. Dass die Informationen über den Ort des Sprechers nicht immer sichtbar sind für den Benutzer, bedeutet jedoch nicht, dass diese Informationen nicht ebenfalls vorliegen und technisch gespeichert werden. Beispiele lassen sich dafür leicht finden: So wird der vermeintlich anonyme Besuch einer jeden Webseite des Internets registriert und kann dabei mit einem Zeitpunkt und – mittels der IP-Adresse des zugreifenden Computers – einem Ort und schließlich auch einem Computer und damit mittelbar einem Benutzer zugeordnet werden. Ferner ist bekannt, dass Social Networks jeden Zugang eines registrierten Benutzers einschließlich der über Ort und PC Auskunft gebenden IP-Adresse speichern und auf dieser Grundlage während einer Session für jede (meist schriftliche) Kommu-

|| 17 Dieser schließt in der Regel unmittelbar an die Redaktion des schriftlichen Beitrages an und ist allenfalls technisch bedingt um einige Sekunden nachzeitig zum «Äußerungsakt» selbst.

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nikation die Informationen Sprecher, Ort und Zeit kombinieren können. Das gleiche gilt für Positionsdaten bei der mobilen Telefonie, welche digital gespeichert werden und es so ebenfalls ermöglichen, jedem Sprechereignis geographische Koordinaten zuzuordnen. Analog dazu werden in jüngster Zeit mittels moderner Geräte auch foto- und videographische Aufnahmen nicht mehr nur zeitlich, sondern durch integrierte GPS-Geräte auch räumlich markiert.18 Die Indexikalität des Sprechens hat im Umkehrschluss also zur Folge, dass jedes Sprechereignis auch bezüglich seiner räumlichen und zeitlichen Koordinaten mehr oder weniger genau lokalisierbar ist. Ein Sprechereignis, das man bezüglich dieser Informationen identifizieren kann, könnte man folglich als indexikalisierbar bezeichnen. Zusammengefasst: Jedes Sprechereignis ist per se im Sinne der Tätigkeit indexikalisch und im Sinne des Produkts indexikalisiert, weil es räumlich-zeitlich verankert ist;19 indexikalisierbar ist es, weil die indexikalischen Informationen, die dieses notwendigerweise enthält, wahrgenommen oder rekonstruiert werden können.

3.1.2.3 Indexikalisierung in der Schriftkommunikation Die Indexikalität des Sprechens manifestiert sich auch auf der historischkontingenten Ebene der Kultur. Betrachtet man etwa die traditionelle Briefkultur, so zeigt sich, dass die zeitliche Situierung, d.h. die Angabe des Datums, und die örtliche Situierung – wo ein Schriftstück verfasst wurde – in der Schriftkommunikation offenbar seit jeher für relevante Informationen gehalten werden. Dass diese Angaben nicht zufällig und unmotiviert hinzugefügt werden, lässt sich angesichts der Tatsache, dass sich jedes Sprech- (auch im Sinne von Schreib-)Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort vollzieht, leicht erklären. Es geht letztlich immer darum, ein in der face-to-faceKommunikation gegebenes Umfeld in die Schrift zu überführen. Dies entspricht genau dem, was Coseriu (1980/1994, 126) in Anknüpfung an Bühler (cf. 1.5) unter dem Begriff der Situation als die «Umstände und Beziehungen in Zeit und Raum, die durch das Sprechen selbst entstehen» bezeichnet. Die Verankerung des Sprechakts in Raum und Zeit kann nun in der Schrift gewissermaßen «nachgeholt» werden, also explizit in den sprachlichen Kontext

|| 18 Nicht anders funktioniert die Verfolgung eines Paketes auf dem Weg zum Empfänger, das zeitlich simultan (tracking, Spurbildung) oder zeitlich versetzt (tracing) mit- bzw. nachverfolgt werden kann. 19 Lebsanft (2012, 31) spricht in Anlehnung an Jacquemet von «‹indexikalisierte[n]›, raumzeitlich verankerte[n] Sprechereignisse[n]».

3.1 Indexikalität und Raumbezogenheit | 67

überführt werden. Diese Überführung in den schriftlich fixierten Kontext ist nun freilich keine Universale der Schrift, sondern ein Phänomen, das auf einer historischen bzw. kulturellen Ebene anzusiedeln ist. So ist es zumindest im europäischen Kulturkreis üblich, dass auf Briefen nicht nur das Datum, sondern auch der Ort angegeben wird. Dies betrifft die private Korrespondenz in gleichem Maße wie offizielle Mitteilungen, Geschäftsbriefe etc. Die Loslösung der schriftlichen Kommunikation von Raum und Zeit ist, wie bereits angesprochen, zwar zunächst gegeben, weil der außersprachliche Kontext für den Empfänger nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, kulturell haben sich zu deren Kompensation die Angabe von Ort und Datum aber in den verschiedenen Text- bzw. Diskurstraditionen etabliert. Nicht nur scheint die Angabe von Ort und Datum sich in natürlicher Weise aus der Indexikalität des Sprechens und zum Zwecke einer korrekten Dekodierung der indexikalischen Zeichen, welche die schriftliche Mitteilung enthält, abzuleiten. Auch lässt sich konstatieren, dass gewisse schriftliche Kommunikationen erst dann (juristisch) gültig sind, wenn neben der Unterschrift des Senders – der freilich nicht immer der Verfasser ist – auch Ort und Datum angegeben sind. Um eine solche Geltung geht es immer dann, wenn mit dem Dokument zugleich auch ein performativer Akt, etwa eine Einwilligung, ein Vertragsschluss oder eine Zahlungsaufforderung, vollzogen wird. Die kontextuelle Information wird also zur obligatorischen Angabe. Handeln und Sprechen als Handeln sind damit auch als ortsgebundene Phänomene von Bedeutung.

3.1.2.4 Zusammenfassend Aus der Darstellung ergibt sich, dass durch das «einende» Prinzip der Indexikalität verschiedene Formen der Raumbezogenheit von Sprache erklärt werden können. Zunächst zeigen sich verschiedene Formen der Indexikalität von Sprache im Allgemeinen. So bei Ortsnamen, die situationsungebunden sind und mit Bühler als dingfest angeheftet bezeichnet werden können. Als Elemente der Einzelsprachen sind sie mit dem Raum verbunden und zeigen auf eine konkrete Position im geographischen Raum. Abhängig von der Situation, im Allgemeinen wie im Coseriu’schen Sinn des Begriffs, nämlich gebunden an einen Sprecher, einen Zeitpunkt und einen Ort, funktioniert dagegen das deiktische Zeigen, für das die verschiedenen Einzelsprachen jeweils konkrete Raumausdrücke vorsehen, deren Semantik ausschließlich in Abhängigkeit von der Origo definierbar ist (Ausgangspunkt: ich, jetzt, hier). In einem weiteren Sinne indexikalisch sind zugleich auch alle weiteren Referenzakte auf die außersprachliche Wirklichkeit. Ebenfalls indexikalisch funktioniert die mittelbare Verbindung von Sprache, Sprechen und Raum durch Repräsentationen. Konkret wurde gezeigt, wie diese anhand der Repräsentationsform der kartographischen Abbildung funktioniert,

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wo Sprachliches – zunächst Ortsnamen, dann auch Einzelsprachen, diatopische Varietäten und einzelne sprachliche Merkmale – eingetragen und damit auch gewissermaßen dingfest an den ikonisch dargestellten geographischen Raum angebunden werden, wobei die jeweiligen Sprachzeichen indexikalisch auf eine Position im Raum zeigen. Unabhängig von der sprachlich-räumlichen Realität, von der Sprach- und Merkmalskarten in mehrfacher Weise abstrahiert werden (cf. ausführlich 5.3.2), ist die Verbindung von Sprache und Raum kartographisch und damit materiell bereits rein visuell hergestellt. Darüber hinaus können Sprachformen und sprachliche Äußerungen (und auch die Sprecher) als «diatopisch markiert» wahrgenommen werden und zeigen folglich indexikalisch, wenn auch meist vage und jetzt im Sinne einer «Herkunftsangabe» auf einen Ort im Raum oder eine Gegend.20 Durch die Erweiterung des Begriffs der Indexikalität habe ich aus der räumlich-zeitlichen Referentialität, die den sprachlichen Zeichen anhaftet, den Begriff der Indexikalität des Sprechens abgeleitet, um damit die besondere Qualität eines jeden Sprechereignisses und mit ihm eines jeden Redeakts hervorzuheben: Das Sprechen enthält stets – im Sinne der Raum- und Zeitreferenz – eine räumlichzeitliche Komponente, denn es vollzieht sich physisch aus dem Munde eines Sprechers, der sich an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet. Hinsichtlich des Tätigkeitsaspekts betrachtet ist jedes Sprechen folglich indexikalisch. Steht das Produkt im Vordergrund, kann man jeden Redeakt als indexikalisiert bzw. – metaphorisch gesprochen – als räumlich und zeitlich verankert bezeichnen. Wichtig, auch im Hinblick auf schriftliche Kommunikationsakte, ist diesbezüglich der Hinweis, dass Sprechakte für den Gesprächspartner oder einen Dritten immer auch indexikalisierbar sind, die Kontiguität von Sprecher, Sprechen, Ort und Zeit also entweder unmittelbar sinnlich wahrgenommen, technisch registriert, oder kulturell bedingt durch die zusätzlichen expliziten Angaben von Ort (meist der Stadt) und Zeit (meist das Datum) ergänzt werden kann.21

|| 20 Krefeld (2004, 22) spricht hier unter der Kategorie der Provenienz von der «Räumlichkeit des Sprechers» (cf. auch 5.2.3.1). 21 Das Sprechen und dessen räumlich-zeitliche Situierung stehen damit, analog zum Indexzeichen, in einer unmittelbaren dyadischen Relation, welche in Kommunikationssituationen der Nähe unmittelbar sinnlich wahrgenommen wird und in Situationen von kommunikativer und physischer Distanz – typischerweise in der schriftlichen Kommunikation, heute zunehmend in der computer-mediated communication – nur scheinbar aufgehoben ist, tatsächlich jedoch allenfalls verborgen bleibt. Ein sprachtheoretischer Unterschied zwischen den Kommunikationsformen besteht nicht.

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 69

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie Durch den Begriff der Indexikalität des Sprechens wird deutlich, dass eine reale und konkret sinnlich wahrnehmbare Raumbezogenheit in jedem Sprechereignis gegeben ist. Die gegebene sprachlich-räumliche Realität unterliegt der Wahrnehmung der Sprecher, die – erkenntnistheoretisch gewendet – als erfahrende Subjekte aufgefasst werden können; es stellt sich dabei die Frage, wie genau beim Sprecher auf der Grundlage des wahrgenommenen indexikalischen Sprechens eine Konzeptualisierung der sprachlich-räumlichen Zusammenhänge entsteht, d.h. wie die Wahrnehmung funktioniert und in welcher Weise Sprechen und Ort bzw. Sprache und Raum im Rahmen der kognitiven Verarbeitung assoziiert und als Zusammenhang konzeptualisiert werden. Die Beantwortung dieser Frage ist Gegenstand dieses Abschnittes. Geht es um die Konzeptualisierung der sprachlich-räumlichen Umgebung, dann betrifft diese auch die mentale Repräsentation von sprachlicher Variation bzw. Gemeinsamkeit. Ausgehend von der Indexikalität des Sprechens erlaubt eine theoretische Aufarbeitung folglich auch, die (sprecherseitige) Wahrnehmung von Diatopie und Syntopie zu erklären. Hinsichtlich der Genese der Konzeptualisierungen von sprachlich-räumlichen Zusammenhängen und der daraus resultierenden mentalen Repräsentationen der Realität gilt es dabei zu bedenken, dass diese nicht ausschließlich aus der individuellen Erfahrung resultieren, sondern auch durch kulturell tradierte Repräsentationen beeinflusst werden (cf. Kapitel 5). Im Sinne einer faktorisierenden Darstellung sind solche Einflüsse durch kulturell tradierte Repräsentationen zu berücksichtigen, aufgrund der theoretischen Vorrangigkeit der individuellen Erfahrung wird im Folgenden jedoch zunächst die subjektive Wahrnehmung, kognitive Verarbeitung und Konzeptualisierung behandelt. Die Frage, die es im Sinne einer theoretischen Aufarbeitung zu beantworten gilt, liegt also im Wie der Genese der mentalen Repräsentation beim Sprecher als erfahrendes Subjekt: Aufgrund welcher Voraussetzungen, mittels welcher Prozesse und Verfahren und beeinflusst durch welche Faktoren entsteht die Erkenntnis, d.h. Verknüpfung des indexikalischen Sprechens mit dem Ort oder der Gegend, in welcher die sprachliche Kommunikation stattfindet?

3.2.1 Vom indexikalischen Sprechen zur mentalen Repräsentation Um eine systematische Aufarbeitung der theoretischen Prämissen zu ermöglichen, die ausgehend von der Wahrnehmung indexikalischer Sprechakte zur Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge führt, gehe ich hier zunächst vom Resultat aus, das in den folgenden Abschnitten dann detailliert in

70 | 3 Die Indexikalität des Sprechens und ihre Konzeptualisierung

seiner Genese beschrieben wird. Im folgenden Schema (Abb. 8) ist die zu klärende Frage des Wie der Entstehung mentaler Repräsentationen als Fragezeichen gekennzeichnet:

Sprechereignis Sprechereignis Sprechereignis

Sprechereignis Ort Gebiet

S p r e c h e r e ig n is

Sprechereignis

? mentale Repräsentation der sprachlich-räumlichen Realität als Verknüpfung von Sprecher, Sprechen und Ort Abb. 8: Indexikalisches Sprechen und mentale Repräsentation

Im Rahmen der konkreten Erfahrung nimmt ein Sprecher als Subjekt das indexikalische Sprechen mit und von anderen Sprechern wahr, die sich an einem bestimmten Ort befinden und miteinander kommunizieren. Aus der Wahrnehmung entsteht bei ihm eine Erkenntnis über sprachlich-räumliche Zusammenhänge, mit anderen Worten eine «mentale Repräsentation der sprachlich-räumlichen Realität» als Ergebnis der Verknüpfung der Sprechereignisse mit dem Ort. Im Ergebnis steht beim Sprecher also zunächst – konkret gesprochen – die Feststellung, dass an einem Ort X1 die Sprache S gesprochen wird oder, umgekehrt, dass die Sprache S an den Orten X1, X2 und X3 gesprochen wird. Diese Feststellung wird schließlich im Rahmen des Wissens über Sprachen und wohl zugleich im Rahmen der Kenntnisse über topographische Gegebenheiten in Form einer mentalen Repräsentation abgespeichert. Es ist gewissermaßen die Summe der Feststellungen über einzelne Zusammenhänge von Sprechen und Raum, aus der sich beim Sprecher schließlich eine mentale Vorstellung der ihn umgebenden sprachlich-räumlichen Realität herausbilden kann. Ist hier nun von Sprache die Rede, so ist dies eine Vereinfachung zu schematischen Zwecken. Anstelle von Sprachen kann es sich auch um diatopische Varietäten einer Sprache, die gemeinhin als Dialekte bezeichnet werden, handeln; es kann jedoch auch um die Assoziation einer bestimmten Sprachform mit einem oder mehreren Orten gehen, beispielsweise um die Erkenntnis, in Brüssel sage man huitante und nicht, wie in Frankreich, quatre-vingt. Letztlich kann hier alles

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 71

erfasst werden, was als sprachliches Faktum wahrgenommen wird, von einer spezifischen phonetischen Realisierung über bestimmte syntaktische Strukturen bis hin zur Identifizierung einer Gegend mit dem Gebrauch einer historischen Sprache insgesamt. Alles, was hier unter Sprache subsummiert wird, geht aus der Wahrnehmung des indexikalischen Sprechens hervor. An dieser Stelle zeichnet sich bereits ab, dass die Untersuchung der Genese mentaler Repräsentationen mit einer theoretischen Ergründung der Frage einhergeht, wie diatopische Variation wahrgenommen wird; dadurch stellt sich die Beschäftigung mit dem Begriff sprachlicher Raumbezogenheit in einen breiten linguistischen Zusammenhang, der die Disziplinen Soziolinguistik, Sprachgeographie und (perzeptive) Varietätenlinguistik transzendiert. Ausgangspunkt der im Folgenden skizzierten theoretischen Beschreibung der Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge soll ein erkenntnistheoretischer Zugang sein, der sich in einen kognitionswissenschaftlichen Zusammenhang einschreibt. Von der Erfahrung des indexikalischen Sprechens über den Prozess des Wahrnehmens und die weitere kognitive Verarbeitung bis hin zur mentalen Repräsentation und unter Berücksichtigung externer, außerhalb der individuellen Erfahrung liegender Faktoren soll der gesamte Prozess skizziert werden. Die moderne Erkenntnistheorie in der Tradition Kants scheint geeignet, eine konsistente theoretische Beschreibungsebene zu finden, da klar zwischen Wahrnehmung und kognitiver Verarbeitung differenziert wird. Den Rahmen für die folgende Darstellung bildet daher eine knappe Erläuterung des Erkenntnisprozesses insgesamt (3.2.2), um daran anknüpfend zunächst einen genaueren Blick auf die Bedingungen der Wahrnehmung, d.h. das menschliche Wahrnehmungsvermögen zu werfen (3.2.3), wobei hier insbesondere die Begriffe des Raumes und der Zeit relevant werden. Schließlich verdient die weitere kognitive Verarbeitung des Wahrgenommenen besondere Aufmerksamkeit (3.2.4). Ich vertrete die These, dass sich die Verknüpfung von Sprechen und Ort anhand von Assoziationsprinzipien beschreiben und faktorisieren lässt. Hier liegt zugleich der Kern der theoretischen Betrachtung. Unter den Faktoren, welche die Assoziation des Sprechens mit dem Raum bedingen, können schließlich jenseits der individuellen Wahrnehmung liegende Aspekte wie der bereits erwähnte Einfluss kulturell tradierter Wissensbestände berücksichtigt werden (3.2.5), wenngleich deren Vertiefung Gegenstand von Kapitel 5 sein wird. Methodologisch situiert sich die folgende Darstellung im Felde der interdisziplinären Kognitionswissenschaften. Der linguistische Gegenstand wird zu diesem Zwecke schwerpunktmäßig anhand der Theorien und Methoden der Philosophie (Erkenntnistheorie) und Psychologie (Wahrnehmungspsychologie, Assoziationsprinzipien) erörtert. Aufgrund der Tatsache, dass eine empirische Untersuchung der Genese solcher Konzeptualisierungen beim Sprecher nicht

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möglich ist, lässt sich die folgende Darstellung nicht anhand von Daten verifizieren; das Kriterium anhand dessen die nachstehende Theorie zu bewerten ist, muss daher notwendigerweise das der Plausibilität sein.

3.2.2 Von der gegebenen Realität zum gedachten Zusammenhang In der philosophischen Erkenntnistheorie findet sich das notwendige theoretische Gerüst, um auf systematische Weise zu erschließen, wie aus der Wahrnehmung des Sprechens im Raum die Vorstellung bzw. das Wissen über spezifische sprachlich-räumliche Zusammenhänge entsteht. Die Grundbedingung dafür bilden das Wahrnehmungsvermögen des Menschen, für das der Sinnesapparat dient, sowie das durch den kognitiven Apparat bereitgestellte Denkvermögen. Schon in Kants Kritik der reinen Vernunft von 1781/1787 finden sich diese Bedingungen entsprechend formuliert und zugleich mit den Kategorien Raum und Zeit verknüpft, welche jede Wahrnehmung noch vor der weiteren kognitiven Verarbeitung ordnen und strukturieren, wird doch durch sie «eine Erfahrung der Natur überhaupt erst möglich» (Stöckler 2010, Sp. 2211). Bei Kant wird der so differenzierte Erkenntnisprozess wie folgt zusammengefasst: «Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen; so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand. Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d.i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu denken, der Verstand. Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen, (d.i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen,) als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d.i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d.i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d.i. der Logik» (Kant, A51–52/B75–76).22

|| 22 Gemäß der üblichen Zitierkonventionen für die Werke von Kant gebe ich hier und im Folgenden den Ort in den beiden Originalausgaben (A 1781, B 1787) der Kritik der reinen Vernunft

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 73

Erkenntnis bzw. Wissen über ein Objekt oder einen Zusammenhang geht also aus zwei Vorgängen hervor: Geben und Denken. Durch den Wahrnehmungsprozess wird dem Subjekt ein Objekt – übertragen auf Sprache also etwa ein konkretes Sprechereignis – gegeben, insofern es davon auditiv (und visuell) affiziert wird, während es in der Folge der Verstand ist, der ein Objekt denkt. Für die Zusammenhänge zwischen Sprache und Raum kann dies bedeuten, dass das Subjekt sowohl das (vielfache) indexikalische Sprechen als auch den Ort, an dem dieses sich ereignet, wahrnimmt und schließlich im Verstand als zusammengehörende Phänomene gedanklich verknüpft, als «Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen» (B161) bzw. als «ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen» (A97), wie dies bei Kant genannt wird. Das Ergebnis kann schließlich in ein Wissen über oder eine Vorstellung von sprachlich-räumlichen Zusammenhängen münden, was als Konzeptualisierung bzw. Begriffsbildung bezeichnet werden kann. Dies bezieht sich zunächst einmal ausschließlich auf die den wahrnehmenden Sprecher selbst umgebende und von ihm erlebte sprachlich-räumliche Realität, kann jedoch durch erlerntes, nicht der eigenen Erfahrung entsprungenes Wissen ergänzt bzw. kombiniert werden. Wissen über sprachliche Raumbezogenheit («wo spricht man wie?») geht also zunächst aus der Wahrnehmung und kognitiven Verarbeitung auf der subjektiven Ebene hervor und kann sich in der Folge in gesellschaftlich tradierte und vermittelte Formen der Wirklichkeitsstrukturierung einfügen. Die Verknüpfung von Sprechen und Ort kann dabei kognitiv und gesellschaftlich zu einer Verknüpfung von Sprache(n) und ganzen geographischen Gegenden «weitergedacht» werden (cf. Abb. 3).

3.2.3 Das menschliche Wahrnehmungsvermögen und die Exteriorität der Sprache Das Fundament der Erkenntnistheorie gilt es im Folgenden bezüglich der einzelnen Prozesse näher auszuführen. Zunächst seien jedoch noch einige Bemerkungen zu den Voraussetzungen von Wahrnehmung, d.h. zum menschlichen Wahrnehmungsvermögen, gegeben. Diese betreffen insbesondere die Strukturierung des Wahrgenommenen nach räumlichen und zeitlichen Gesichtspunkten. Dabei ist für die vorliegende Betrachtung unerheblich, ob diese Strukturierung der kognitiven Verarbeitung entspricht oder ihr vorgängig ist. Kant etwa spricht bei den Kategorien Raum und Zeit von einer reinen Anschauungsform a priori: Der

|| an, wobei ich hinsichtlich der Hervorhebungen – sofern es Differenzen gibt – der zweiten Ausgabe (B) folge. Verwendet wird die von Jens Timmermann (1998) herausgegebene Edition.

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Kategorie der Zeit obliegt dabei die Funktion, die Wahrnehmung von Erscheinungen in ihrem «diachrone[n] Nacheinander» zu ordnen, der Raum repräsentiert sie in Bezug auf ihr «synchrone[s] Nebeneinander» (Günzel 2006, 31). Von besonderem Interesse ist dabei freilich die räumliche Kategorie:23 «Denn damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden, (d.i. auf etwas in einem andern Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde,) imgleichen damit ich sie als außer und neben einander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde liegen. […] Der Raum ist eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängige Bestimmung angesehen […]» (Kant, A23–24/B38–39).

Wahrnehmung räumlich zu fundieren und darin gewissermaßen einer Universale der Perzeption zu sehen, ist für die Betrachtung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge besonders relevant. Dies bedeutet nämlich, dass der wahrnehmende Sprecher zunächst durch indexikalische Sprechakte affiziert wird, welche im Prozess der Wahrnehmung mittels der Kategorien Raum und Zeit miteinander in Relation gesetzt und strukturiert werden. Das Strukturieren nach räumlichen Gesichtspunkten kann erkenntnistheoretisch demnach kein rein zufälliger und unmotivierter Vorgang sein, sondern entspricht – im Gegenteil – der kognitiven Prädisposition des Menschen, die bei der Wahrnehmung sämtlicher Gegenstände und Erscheinungen wirkt. Die Bedeutung der Kategorie des Raumes für das menschliche Wahrnehmungsvermögen ist bis heute nicht nur unbestritten, sondern wird darüber hinaus auch durch moderne Untersuchungen belegt und zuletzt gleichsam durch die evolutionäre Erkenntnistheorie bestätigt: So geht man davon aus, dass die räumliche Strukturierung des Wahrgenommenen sich in der Phylogenese schlicht als ein «praktisches» Wahrnehmungsmuster herausgestellt hat. Studien belegen

|| 23 Den Ausführungen zu den sog. «reinen Anschauungsformen» Raum und Zeit kommt in der Darlegung der transzendentalen Ästhetik große Bedeutung zu. Raum und Zeit werden von Kant erstmals als Formen der subjektiven Wahrnehmung definiert. In der Begriffsgeschichte zum Raum stellen die Definitionen Kants daher einen wichtigen Einschnitt dar, Günzel (2006, 30) spricht nicht umsonst vom «wohl massivsten Einschnitt in der Begriffsgeschichte des Raums». Die Kantischen Begriffe von Raum und Zeit können folglich nicht gleichgesetzt oder verglichen werden mit den Begriffen Raum und Zeit im Sinne etwa der Relativitätstheorie Einsteins, wo damit die Eigenschaften der Dinge gemeint sind. Es handelt sich vielmehr um Kategorien der subjektiven Wahrnehmung: «Der Raum ist kein diskursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern reine Anschauung» (Kant, A24–25/B39).

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 75

überdies, dass sich die apriorische räumliche Anschauung auch auf alle Bereiche der weiteren kognitiven Verarbeitung auswirkt. Kognitionswissenschaftliche Untersuchungen untermauern dies, wenn etwa in Bezug auf den Zusammenhang von Sprache und Kognition sichtbar gemacht wird, dass selbst abstrakte und komplexe Handlungen und Ereignisse auf sehr basalen räumlich fundierten mentalen Repräsentationen fußen.24 Betrifft die Kategorie des Raumes die Anschauung aller – in Bezug auf das Subjekt – äußeren Erscheinungen, so verwundert es kaum, dass die Wahrnehmung des Sprechens (wie auch vieler anderer Elemente der subjektiven Welterfahrung) kognitiv ebenfalls zum Raum in Bezug gesetzt wird. Sprache und ihre konkrete Realisierung im Sprechen kann freilich nur äußerlich wahrgenommen werden: Es gelten die Universalien der Alterität und, daraus abgeleitet, auch der Exteriorität der Sprache. Das menschliche Wahrnehmungsvermögen und die Exteriorität der Sprache können gemeinsam also als eine tiefere Begründung für die Wahrnehmung der Indexikalität des Sprechens, d.h. die Korrelation von Sprechen und Ort, angesehen werden. In Anbetracht dieser Tatsache vermag eine interessante, im Zusammenhang mit Assoziationsprinzipien getätigte Feststellung Andreas Blanks bereits als Übergang zum nächsten Abschnitt dienen: «Zusammenhänge sind in der Wirklichkeit zuhauf vorhanden (die Welt ist ja ein zusammenhängendes Netz von Einzelphänomenen), unsere Wahrnehmung wählt lediglich bestimmte, relevante Beziehungen aus. Die Partner dieser privilegierten Beziehungen werden als kontig empfunden» (Blank 1997, 143, Anm. 24).

3.2.4 Die Prinzipien der kognitiven Verarbeitung Nachdem nun die Konstitutionsbedingungen geklärt sind, soll im Folgenden die weitere kognitive Verarbeitung des Wahrgenommenen – wiederum nach dem Kriterium der Plausibilität – nachvollzogen und beschrieben werden. Wählt, wie Blank dies angibt, die Wahrnehmung «bestimmte, relevante Beziehungen aus», so mag sich das auf die räumliche und zeitliche Vorstrukturierung beziehen; die Auswahl von «privilegierten Beziehungen» ist im erkenntnistheoretischen Prozess jedoch im Tätigkeitsbereich des Verstandes zu situieren. Die Frage, die es zu stellen gilt, ist nun, inwiefern sich die kognitive Verarbeitung des Wahrgenommenen im Verstand analytisch faktorisieren lässt, d.h.

|| 24 Zusammenfassend und äußerst anschaulich wird dies in Stephen Pinkers The Stuff of Thought. Language as a Window into Human Nature (2009, 25–87) demonstriert. Dort finden sich zahlreiche bibliographische Verweise auf empirische Untersuchungen.

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nach welchen Prinzipien kann eine Verknüpfung von Sprechen und der räumlichen Umgebung funktionieren? Was genau passiert, wenn ein Zusammenhang zweier gegebener Sinneseindrücke gedacht wird?

3.2.4.1 Erkenntnistheoretische Grundlagen Wichtig für die erkenntnistheoretische Betrachtung der Assoziation von Sprache und Raum ist zunächst die Feststellung, dass «Erkenntnis», oder anders ausgedrückt: «Wissen», durch den Vergleich und die Verknüpfung von Wahrnehmungen und Vorstellungen entsteht. Diese Verknüpfung, bei Kant auch als Synthesis bezeichnet,25 obliegt der Tätigkeit des Verstandes, also des kognitiven Apparates. Die Frage ist, welchen Gesetzmäßigkeiten die Assoziation von Sinneseindrücken unterliegt. Schon für Kant war klar, dass Assoziationen als psychologische Denkvorgänge zwar zunächst «bloß subjektive Gültigkeit» (Kant, B142) aufweisen, sich jedoch auch objektive Gründe ermitteln lassen: «Es muß also ein objektiver, d.i. vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehender Grund sein, worauf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle Erscheinungen sich erstreckenden Gesetzes beruht, sie nämlich durchgängig als solche Data der Sinne anzusehen, welche an sich assoziabel, und allgemeinen Regeln einer durchgängigen Verknüpfung in der Reproduktion unterworfen sein. Diesen objektiven Grund aller Assoziation der Erscheinungen nenne ich die Affinität derselben» (Kant, A122).

Bei einer Verknüpfung von Sprechen und Ort im Denken des Subjekts wäre demzufolge also eine Affinität, eine Nähe zwischen den Vorstellungen Sprache und Raum anzunehmen, damit diese assoziabel sind. Ist dies der Fall, so kann es – subjektiv gültig – zur Assoziation beider Vorstellungen und damit zu einem Wissen über den Zusammenhang von Sprache und Raum kommen. Die Gesetzmäßigkeiten der Verknüpfung werden heute als Assoziationsprinzipien oder auch -gesetze bezeichnet.26

|| 25 «Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen. […] allein die Synthesis ist doch dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammlet, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt» (Kant, A77–78/B103). 26 Das vielleicht grundlegendste Assoziationsprinzip (oder -gesetz), das der Kontiguität, findet sich bereits bei Kant – ohne es konkret zu benennen – als empirisches Gesetz beschrieben, «nach welchem Vorstellungen, die sich oft gefolgt oder begleitet haben, mit einander endlich vergesellschaften, und dadurch in eine Verknüpfung setzen, nach welcher, auch ohne die Gegenwart des Gegenstandes, eine dieser Vorstellungen einen Übergang des Gemüts zu der andern, nach einer beständigen Regel, hervorbringt» (Kant, A100). Ähnlich wie in der Lernpsychologie kann ange-

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 77

Aus dem Gesagten wird deutlich, dass eine verstandesgemäße Verknüpfung von Sprechen und Ort nicht unmittelbar stattfindet, sondern die Wahrnehmung des indexikalischen Sprechens eine Reihe von kognitiven Vorgängen in Gang setzt, die schließlich zur Verknüpfung verschiedener Vorstellungen im Denken und damit zu ihrer Konzeptualisierung führen.

3.2.4.2 Assoziationsprinzipien Ziel dieses und der folgenden Unterabschnitte soll es sein, die verschiedenen, bei der Verknüpfung von Sprache und Raum relevanten Assoziationsprinzipien einerseits theoretisch und andererseits im Rahmen der kognitiven Verarbeitung des indexikalischen Sprechens zu betrachten. Nachdem der Vorgang des Assoziierens im Rahmen dessen, was Kant als Synthesis bezeichnet, bereits innerhalb der Erkenntnistheorie situiert worden ist, kann im Folgenden auf die Begrifflichkeiten der ebenfalls zu den Kognitionswissenschaften zählenden Wahrnehmungspsychologie bezüglich der allgemein geltenden Assoziationsprinzipien Rückgriff genommen werden. Die Prinzipien der Assoziation, «eines der ältesten und fruchtbarsten Konzepte zur Beschreibung oder Erklärung von Erfahrungszusammenhängen» (Stäcker 1971, Sp. 551), sind bekanntlich nicht erst im Rahmen einer institutionalisierten Psychologie herausgearbeitet worden, sondern wurden «[d]er Sache nach» (Spanier 1971, Sp. 548) bereits in der Antike diskutiert. In der Psychologie wurde das Prinzip des Assoziierens vor allem im Rahmen des englischen Sensualismus vertieft. Dabei geht es darum, wie Bewusstseinsinhalte sich gegenseitig aktivieren: «Wenn zwei Bewußtseinsinhalte A und B wiederholt gemeinsam in Sinneseindrücken vorkommen und im Gedächtnis eingeprägt sind, dann hat der eine (A) von sich aus die Tendenz, auch den anderen (B) zu aktivieren» (LexPsych, s.v. Assoziation).

Als Assoziationsgesetze bezeichnet man «Regeln […], nach denen sich Verknüpfungen zwischen Vorstellungen, Gefühlen und Bewegungen herausbilden und Reproduktionen von Vorstellungen (urspr. von ‹Ideen›) möglich sein sollen» (LexPsych, s.v. Assoziationsgesetze). Unterschieden wird dabei einerseits zwischen primären Assoziationsgesetzen, worunter die Kontiguität als Nähe, d.h.

|| nommen werden, dass gemeinsam erfahrene Sinneseindrücke auch zusammen gespeichert werden: Die Vorstellung eines bestimmten Ortes (etwa das Nennen eines Ortsnamens) kann die Vorstellung einer bestimmten Sprache oder eines sprachlichen Phänomens hervorrufen; das Hören einer spezifischen Sprachform kann die Vorstellung eines bestimmten Ortes evozieren.

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Berührung in Zeit oder Raum, sowie die Ähnlichkeit fallen. Andererseits spricht man von sekundären Assoziationsgesetzen, «die begünstigende Bedingungen für die Bildung von Assoziationen benennen» (ib.). Letztere beziehen sich auf die Neuheit, die Häufigkeit des Auftretens der Elemente und die Anschaulichkeit. Mit Blick auf eine Faktorisierung der kognitiven Prozesse, die im Verstand des Subjekts zu einer Synthese von durch die Wahrnehmung gegebenen Vorstellungen des Raumes und des Sprechens führen, werden im Folgenden zunächst vor allem die primären Assoziationsgesetze vertieft und hinsichtlich ihres Beitrages zur Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge reflektiert. Während die Anzahl dieser Gesetze strittig ist – mal werden nur die genannten zwei, teilweise werden drei Prinzipien benannt – differenziere ich diese drei Prinzipien:27 – Kontiguität: Basiert darauf, dass zwei Phänomene aufgrund ihres Näheverhältnisses (< lat. CONTIGŬUS ‘angrenzend, anstoßend, zusammenhängend’) miteinander assoziiert werden, ohne dass Kausalität oder andere Prinzipien vorliegen. Die Nähe kann sowohl zeitlich als auch räumlich begründet sein. – Similarität: Beschreibt eine Ähnlichkeitsrelation zwischen zwei Phänomenen. Similarität beruht dabei auf Ähnlichkeitsurteilen: A ist B ähnlich. – Kontrast: Eng verwandt mit dem Prinzip der Similarität, wird dieses Prinzip oft unter diesem subsummiert, da die Ähnlichkeit von Phänomenen oft erst im Unterschied zu anderen evident wird:28 A ist B entgegengesetzt. In der nachstehenden Anwendung auf Assoziationen von Sprechen und Ort bzw. Raum bildet das Kontiguitätsprinzip die Grundlage, während die sich wechselseitig bedingenden Prinzipien der Similarität und des Kontrasts die Wahrnehmung von Syn- und Diatopie erkenntnistheoretisch plausibel zu erklären vermögen.

3.2.4.3 Indexikalität und Kontiguität des Sprechens In 3.1 wurde bereits herausgearbeitet, dass das Prinzip der Indexikalität eine Grundeigenschaft jedes Sprechereignisses darstellt: Sprechen vollzieht sich im Raum und es bezieht sich – besonders deutlich in der nähesprachlichen, insbesondere auch medial mündlichen Kommunikation – auf den Raum. Für das wahrnehmende Subjekt wird überdies auch rein äußerlich betrachtet und visuell

|| 27 Eben diese drei Prinzipien werden in Anlehnung an Raible (1981) auch von Blank (1997) zur Beschreibung semantischer Relationen angesetzt. 28 Schematisch ausgedrückt bedeutet dies, dass die Similarität erst durch Kontrast deutlich wird: A ist B ähnlich, weil A und B sich in gleicher Weise von C unterscheiden.

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 79

ein Bezug des Sprechens zum Raum deutlich, nämlich insofern der jeweilige Sprecher eine Position im geographischen Raum einnimmt, also örtlich situiert ist. Betrachtet man diese Faktoren gemeinsam, so vermag es kaum zu überraschen, dass der Ort des Sprechens und das Sprechen selbst als nah, d.h. als kontig empfunden und assoziiert werden. Das gemeinsame Auftreten beider Eindrücke in der Wahrnehmung kann also bedingen, dass diese gemeinsam gedacht werden und die Wahrnehmung nur eines der Eindrücke (Sprechen oder Ort) den anderen zu evozieren vermag. Das Kontiguitätsverhältnis von Sprecher, Sprechen und Ort ist grundlegend für die Wahrnehmung von Syn- und Diatopie sowie für die «sprachräumliche Begriffsbildung». Alle weiteren Assoziationsprinzipien und -faktoren bauen notwendigerweise auf ihm auf. In Abbildung 9 wird dies schematisch dargestellt, wobei die Sprecher als Bindeglied zwischen Sprechen und Ort ebenso mit dem Ort und dem Gebiet assoziiert werden wie das Sprechen bzw. die sprachliche Technik, derer sie sich bedienen.

Ort Gebiet Kontiguität Sprechereignis

Sprechereignis

Abb. 9: Die Kontiguität von Sprechereignis, Ort und Gebiet29

3.2.4.4 Syntopie und Similarität des Sprechens Das Prinzip der Similarität des Sprechens fußt nun darauf, dass das Sprechen verschiedener Sprecher als ähnlich wahrgenommen wird. Wiederum kann sich dies auf sämtliche Merkmale beziehen, die unter dem Begriff Sprache subsumiert werden können. Diese Ähnlichkeitsassoziation muss jedoch nicht zwangsläufig in einem Zusammenhang mit der räumlichen Position der Sprecher stehen und ist möglicherweise durch ganz andere Faktoren bedingt. Sie kann jedoch mit der örtlichen Position der Sprecher oder deren geographischer Herkunft korreliert werden. Erst wenn dies der Fall ist, stellt das wahrnehmende Subjekt einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sprechern, dem ähnlichen Sprechen (bzw. ähnlichen sprachlichen Merkmalen) und der durch das Kontiguitätsprinzip

|| 29 Die gestrichelten Pfeile kennzeichnen hier und in den folgenden Schemata das Kontiguitätsverhältnis.

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miteinander assoziierten Nähe zwischen dem Sprechen und dem Ort her. Wahrgenommen werden hierbei syntopische Varietäten oder Varianten. Das Prinzip der Similarität ist auf der Ebene der Assoziation folglich das Pendant zum varietätenlinguistischen Begriff der Syntopie, den Coseriu (1980) in der Folge Flydals (1951) verwendete. Es handelt sich dabei um den vergleichsweise selten verwendeten Gegenbegriff zu Diatopie. Nicht der Unterschied und die Heterogenität des Sprechens im Raum, sondern eben die Gemeinsamkeit und Homogenität werden betrachtet: «Den diatopischen, diastratischen und diaphasischen Unterschieden in den historischen Sprachen entsprechen in der jeweils entgegengesetzten Richtung – d.h. was die Homogenität, die sprachlichen Gemeinsamkeiten betrifft – mehr oder weniger einheitliche Sprachtraditionen, d.h. syntopische, synstratische und symphasische Einheiten. Die syntopischen Einheiten sind diejenigen, die man üblicherweise Dialekte oder Mundarten nennt, die synstratischen Einheiten kann man Sprachniveaus, die symphasischen Einheiten Sprachstile nennen» (Coseriu 1980, 112).

Denkbar ist nun auch, dass gerade die Tatsache, dass das Sprechen verschiedener Sprecher als ähnlich wahrgenommen wird und diese Sprecher die gleiche geographische Position oder Herkunft aufweisen, die Kontiguität des Sprechens und des Raumes für das wahrnehmende Subjekt erst deutlich werden lässt. Psychologisch betrachtet mag also erst die Wahrnehmung einer größeren Zahl von Kommunikationsakten und Sprechern den Zusammenhang dieser Sprecher und der von ihnen verwendeten Varietät mit dem Ort salient erscheinen lassen, während ein einzelner Sprechakt dazu noch keinen Anlass gibt (denn Sprecher sind ja mobil). Dies macht deutlich, dass Kontiguität und Similarität bezüglich der Wahrnehmung der sprachlich-räumlichen Realität in einem gewissen Interdependenzverhältnis zueinander stehen und auch der sekundäre Faktor «Frequenz» zu berücksichtigen ist. Ausgehend von der «einfachsten» Situation, in welcher alle Sprecher am selben Ort wahrgenommen werden, stellt Abbildung 10 dieses Verhaltnis dar.30

|| 30 Komplexer wäre die Situation, wenn die Similarität des Sprechens verschiedener Sprecher an verschiedenen Orten wahrgenommen wird und die Ähnlichkeit aufgrund der gemeinsamen Herkunft mit dem Raum assoziiert wird.

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 81

Ort Gebiet Kontiguität

Sprechereignis

Sprechereignis

Sprechereignis

Similarität Abb. 10: Die Similarität von Sprechereignissen an einem Ort

3.2.4.5 Diatopie und Kontrast des Sprechens Wie aus der berühmten Bibelpassage in Richter 12,5–6 hervorgeht, können sprachliche Merkmale und insbesondere sprachliche Unterschiede über den Herkunftsort einer Person Auskunft geben und somit im Rahmen von «der Andersartigkeit geschuldete[n] Ausgrenzungsmodalitäten» (Schmitt 2013, 71) relevant sein. Wenn also die Gileaditer die Frage stellten «Bist du ein Ephraimiter?» und die Flüchtlinge das Wort Schibboleth aussprechen ließen, waren sie sich der Tatsache gewahr, dass derjenige, der «Nein» sagte, jedoch Sibboleth (also [s] anstelle des bei den Gileaditern üblichen [ ʃ ]) aussprach, sehr wohl aus Ephraim stammte. Durch die biblische Geschichte inspiriert ist das hebräische Wort für ‘Getreideähre’ daher heute nicht ohne Grund der Terminus für ein sprachlich salientes Merkmal, das die sprachliche Herkunft eines Sprechers zu erkennen gibt (cf. ib., 71s.). Die biblische Szene vermag als historisch fest verankerte Anschauung dafür dienen, dass Sprecher derselben Sprache ein Bewusstsein über sprachliche Unterschiede besitzen und dieses konkret mit Orten und geographischen Gebieten verbinden. Geht es nun um die Wahrnehmung des Sprechens an je verschiedenen Orten als unterschiedlich, so betrifft dies das Assoziationsprinzip des Kontrasts, das nicht immer eigens aufgeführt wird, sondern mitunter gewissermaßen als Definitionsstütze für das Prinzip der Similarität fungiert. Im Wesentlichen kann damit das zur Similarität Gesagte (s.o.) auch für den Kontrast gelten. Das Sprechen muss nicht notwendig aufgrund des räumlichen Zusammenhangs (Sprechen an Ort A vs. Sprechen an Ort B) unterschiedlich sein; es kann jedoch darauf zurückgeführt werden. Dabei bedingen sich Similarität und Kontrast gegenseitig und sind nicht ohne einander denkbar. In dem angeführten Beispiel ist die Erkenntnis, dass alle, die aus Ephraim stammen, Sibboleth aussprechen und demgegenüber alle Gileaditer Schibboleth sagen, dadurch bedingt, dass Ephraimiter und Gileaditer jeweils über sprachliche Gemeinsamkeiten verfügen. Gleichzeitig drängt sich neben der Volkszugehörigkeit der Zusammenhang mit dem Siedlungsgebiet auf. Wiederum gilt, dass die Feststellung des Kontrasts

82 | 3 Die Indexikalität des Sprechens und ihre Konzeptualisierung

zwischen dem Sprechen an verschiedenen Orten das Bewusstsein über den Zusammenhang von Sprechen und Ort beim wahrnehmenden Subjekt verstärken kann oder es überhaupt erst entstehen lässt. Es besteht also auch hier eine Interdependenz zwischen Kontrast und Kontiguität – das eine Prinzip kann einen Faktor für das andere darstellen.

Ort A Gebiet A Sprechereignis

Sprechereignis

Sprechereignis

Kontrast

Similarität Similarität Kontrast

Sprechereignis Sprechereignis

Sprechereignis Ort B Gebiet B

Abb. 11: Der Kontrast zwischen Sprechereignissen an verschiedenen Orten

Auch das Kontrastprinzip fußt also auf der Kontiguität zwischen Sprechen und Ort, wobei hier die Wahrnehmung von sprachlicher Similarität an einem Ort der Wahrnehmung der sprachlichen Gemeinsamkeiten an einem anderen Ort gegenübergestellt wird (cf. Abb. 11). Der räumlich begründete sprachliche Unterschied wird in der Varietätenlinguistik als Diatopie bezeichnet. In jüngerer Zeit lässt sich in den Einzelsprachenlinguistiken ein verstärktes Interesse an der Wahrnehmung der diatopischen Dimension der sprachlichen Variation feststellen. Untersucht wird die perzeptive Erfassung auf Seiten des Sprechers, also die Frage, wie bestimmte diatopische Varietäten von den Sprechern selbst wahrgenommen werden und inwiefern sich die gewonnenen Daten mit denjenigen der Dialektologie decken.31 In den Untersuchungen geht es zwar darum, was die Sprecher wahrneh|| 31 Zu nennen sind hier die Bereiche der perceptual dialectology und der jüngeren perzeptiven Varietätenlinguistik (Krefeld/Pustka 2010). Ein schönes Beispiel für eine monographische Untersuchung empirischer Daten, bei der den Informanten Stimuli vorgespielt wurden, die nach der empfundenen geographischen Nähe oder Ferne eingestuft wurden, ist Postlep (2010). Hier wird

3.2 Indexikalität, Syntopie und Diatopie | 83

men, nicht jedoch, wie diese Wahrnehmung funktioniert. Die Kombination der Assoziationsprinzipien der Kontiguität, Similarität und des Kontrasts vermögen hier also über die bisherigen Erkenntnisinteressen hinaus ein theoretisches Fundament perzeptionsorientierter Untersuchungen zu schaffen.

3.2.5 Weitere wahrnehmungsinterne und -externe Faktoren Mit den primären Assoziationsprinzipien der Kontiguität und der Similarität sowie dem konträren Prinzip des Kontrasts sind die wichtigsten Elemente einer theoretischen kognitiv basierten Erklärung dafür genannt, wie der individuelle Sprecher als wahrnehmendes Subjekt Sprechen und Ort miteinander assoziiert und daraus Erkenntnisse über die ihn umgebende sprachlich-räumliche Realität erhält. Auf dem Weg zu einer mentalen Repräsentation, also einer zunächst subjektiven Konzeptualisierung der sprachlich-räumlichen Zusammenhänge muss jedoch von weiteren wahrnehmungsinternen und -externen Faktoren ausgegangen werden. Auf der Seite der internen Faktoren ist etwa die in der Wahrnehmungspsychologie zu den «sekundären Asssoziationsgesetzen» gezählte Häufigkeit des Auftretens zu nennen. So ist davon auszugehen, dass nicht eine singuläre Erfahrung zur Assoziation führt, sondern erst das frequente Wahrnehmen von Kommunikationsakten innerhalb eines Gebietes die Assoziation des Sprechens mit dem Ort bzw. dem Gebiet begünstigt, wodurch solche Zusammenhänge salienter werden. Erst bei einem signifikanten Kommunikationsaufkommen in einer bestimmten Sprache oder Varietät wird so die Voraussetzung dafür erfüllt, dass diese mit dem Ort assoziativ verknüpft wird.32 Dabei muss es nicht nur um die Verknüpfung von «seit jeher» an einem Ort gesprochenen Dialekten gehen; so kann auch ein einzelnes Stadtviertel, das vorwiegend von Immigranten bewohnt

|| deutlich, wie ein sprachlicher Stimulus beim wahrnehmenden Subjekt Vorstellungen von Orten bzw. von geographischen Nähe- und Fernerelationen aktivieren lässt. Interessant ist diesbezüglich auch die Feststellung Postleps (2010, 122–131, besonders 128), dass die Sprecher z.T. keinen Unterschied machen zwischen sprachlichem/sprachkörperlichem Abstand und geographischer Ferne, denn offenbar werden Sprachformen, die als unterschiedlich bzw. «kontrastreich» zum eigenen Sprechen wahrgenommen werden, entgegen den Fakten oft als geographisch fern und, umgekehrt, ähnliche Sprachformen häufig als geographisch nah interpretiert. 32 Analog dazu meint Lebsanft (2012, 31) in seiner Überlegung, wie das sprachplanerische Konzept «Sprachgebiet» linguistisch zu erfassen wäre, dass «ein gewisses Maß an Sprecherdichte die Voraussetzung dafür zu sein [scheint], von einem Gebiet reden zu können, in dem ‹indexikalisierte›, raumzeitlich verankerte Sprechereignisse […] in einer bestimmten Sprache mit einer markanten kommunikativen Austauschdichte überhaupt möglich sind» (meine Hervorhebung).

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wird, in der Wahrnehmung der Sprecher selbst und anderer (regelmäßiger) Passanten als durch die «Fremd»-Sprache geprägter Ort empfunden werden. Zu den wahrnehmungsexternen Faktoren zählt dagegen – allgemein gesprochen – kulturell tradiertes Wissen über die diatopische Distribution von Sprachen, Varietäten und sprachlichen Merkmalen, denn der Sprecher als erfahrendes Subjekt erwirbt sein Wissen über die sprachlich-räumliche Realität nicht ausschließlich in der Alltagserfahrung und hinsichtlich der von ihm erlebten Umgebung. Durch den Erfahrungsaustausch mit anderen, durch schulisch und gesellschaftlich vermitteltes Wissen wird die persönliche Erfahrung durch Informationen (und Stereotypen) über die Lokalisierung und Verbreitung von Mundarten, Sprachen und Sprachfamilien angereichert. Besonders sinnfällig zeigt sich am Beispiel von kartographischen Abbildungen – Sprachenkarten –, wie sprachlich-räumliche Zusammenhänge ikonisch und indexikalisch repräsentiert und vermittelt werden. Individuelle Wahrnehmung und das extern erworbene Wissen tragen auf diese Weise also gemeinsam zur mentalen Repräsentation beim Subjekt und schließlich zu ähnlichen Repräsentationen im intersubjektiven Vergleich bei, was schließlich wiederum zu kulturellem oder gesellschaftlichem Wissen summiert werden kann.33

3.3 Fazit Bis hierhin wurde nach dem Kriterium der Plausibilität versucht, eine möglichst detaillierte und faktorisierende Darstellung des individuellen Erkenntnisprozesses zu bieten, der zu einer Konzeptualisierung der sprachlich-räumlichen Realität als zusammenhängend führt. Ausgangspunkt ist die Exteriorität des Sprechens und seine Indexikalität (im erweiterten Sinne), denn eine reale und konkret sinnlich wahrnehmbare Raumbezogenheit ist in jedem Sprechereignis gegeben. Das || 33 Die genannten Faktoren stehen freilich in einem Interdependenzverhältnis. Es ist plausibel anzunehmen, dass die mentalen Repräsentationen jedes Einzelnen sich sowohl aus konkreten Erfahrungen, als auch aus tradiertem und über «Dritte» erworbenem Wissen schöpfen, das seinerseits einen gewissen Einfluss (in Form von Erwartungshaltungen) auf die eigene Wahrnehmung ausübt. So kann extern erworbenes Wissen ebenso wie die Erinnerung an frühere Erfahrungen zu Erwartungshaltungen in Bezug auf zukünftige Erfahrungen führen und damit die Wahrnehmung beeinflussen: Das Subjekt erwartet z.B., ein gewisses Merkmal an einem bestimmten Ort zu hören. Daran dachte Jules Gilliéron, als er für die Datenerhebungen für seinen Atlas linguistique de France (Gilliéron/Edmont 1902) als Linguist mit breiten sprachgeographischen Kenntnissen nicht selbst, sondern an seiner Statt den dialektologisch nicht ausgebildeten Edmond Edmont entsandte, um die Informantenbefragungen durchzuführen.

3.3 Fazit | 85

indexikalische Sprechen in einer ursprünglichen, d.h. mündlichen face-to-faceSituation kann somit als Grundlage für Wahrnehmung und Kognition sprachlicher Raumbezogenheit auf individueller Ebene dienen. Aus linguistischer Perspektive habe ich somit einen theoretischen Ansatz erarbeitet, der in der Lage ist, die Grundlagen der sprecherseitigen Wahrnehmung von Syntopie und Diatopie zu erklären. Mehr noch: Das Zusammenkommen der dargestellten Universalien der räumlich strukturierten Wahrnehmung sowie der Exteriorität des Sprechens auf der einen Seite und des Prinzips der Indexikalität des Sprechens sowie der auf Kontiguität beruhenden kognitiven Verarbeitung im Rahmen der Erfahrung des Einzelnen auf der anderen Seite zeigen, wie der Zusammenhang von Sprechen und Ort und – in weiterer Abstraktion – von Sprachen und geographischen Gegenden ausgehend von der erlebten Welt des einzelnen Sprechers gedacht wird. Die Konzeptualisierung der sprachlich-räumlichen Realität als zusammenhängend lässt sich demnach mithilfe von Assoziationsprinzipien beschreiben. Nach dem Prinzip der Kontiguität wird das Sprechen in einem Näheverhältnis zum Ort wahrgenommen, Similarität beschreibt die Ähnlichkeit bezogen auf Sprache und sprachliche Phänomene an einem Ort (Syntopie), Kontrast die Divergenz zu anderen Orten (Diatopie) (cf. Abb. 12a). Hinzu kommt das sekundäre Assoziationsprinzip der Häufigkeit, nach dem vor allem frequentes Wahrnehmen die genannten Assoziationsprozesse begünstigt. Ein «Wissen» über sprachlich-räumliche Zusammenhänge ergibt sich schließlich, wenn man wahrnehmungsexterne Faktoren miteinbezieht, welche die Konzeptualisierung beeinflussen. Dazu gehören kulturell vermittelte Denkmuster, nach denen Siedlungsgemeinschaften identitär mit Gebieten verknüpft werden, ebenso wie jede Form von Wissen, das nicht der eigenen Erfahrung entstammt (cf. Abb. 12b). Nachdem die Konzeptualisierung sprachlicher Raumbezogenheit nun hinsichtlich der individuellen Erfahrung theoretisch plausibel nachvollzogen werden konnte, soll dazu in den folgenden Kapiteln die Ebene der gesellschaftlichen Vermittlung ergänzt werden. Unter dem Begriff der «sprachlichen Territorialität» geht es nachstehend also um die Untersuchung der kulturellen und mythologischen Grundlagen (Kapitel 4) und die Untersuchung der auf gesellschaftlicher Ebene tradierten «Denkmuster» und «Wissensbestände» sowie die Repräsentationsformen, in denen sich diese manifestieren (Kapitel 5).

86 | 3 Die Indexikalität des Sprechens und ihre Konzeptualisierung

Wahrnehmung (Sinnesapparat)

Ort Gebiet Sprechereignis

Sprechereignis

Sprechereignis

Verknüpfung der Zusammenhänge Assoziation (kognitiver Apparat)

Objekte: Sprechen, Sprecher; Ort, Gebiet Prinzipien: Kontiguität – Similarität – Kontrast, Häufigkeit

(a)

individuelle Erfahrung Sprechereignisse (realer Zusammenhang): «Sprechen + Ort»

(b)

Vermittlung ???

«Wissen» / Konzeptualisierung sprachlicher Räumlichkeit

Abb. 12: Die Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge

4 Die «autochthone Sprache»: Zu den Prämissen sprachlicher Territorialität In einem Essay1 über den belgischen Schriftsteller und Dramatiker Maurice Maeterlinck (1862–1949), bekannt als «Flamand d’expression française» und Nobelpreisträger im Jahr 1911, beschreibt der französische Dichter Franck Venaille diesen als einen Mann «partagé entre deux langues, celle de la culture et celle du sol, de l’animalité»; um Maeterlinck richtig zu verstehen – so glaubt Venaille – solle dieser «sans doute d’abord être lu ‹sur place›», d.h. in Flandern, womit er die besondere Bedeutung von Maeterlincks Herkunftsort für dessen literarisches Werk unterstreicht. Interessant an dieser Darstellung eines Schriftstellers, der sich bei seinem Schaffen der «Kultursprache» Französisch bediente und eben nicht seiner lokalen Muttersprache Flämisch, ist gerade die Bezeichnung letzterer als «Sprache des Bodens, der animalischen Natur». Der Gegensatz zwischen Mutter- und Fremdsprache wird hier also als Gegensatz zwischen einer Sprache präsentiert, die dem Gebiet eigen ist, und einer anderen, die – zumindest implizit – diese Eigenschaft nicht aufweist. Gleichzeitig wird mit der «Kulturalität» des Französischen ein Kontrast mit der als animalité bezeichneten Natürlichkeit und Ursprünglichkeit der «Sprache des Bodens» herausgestellt. Diese literarische Porträtierung eines flämischen Literaten kann als Manifestation einer bestimmten Vorstellung betrachtet werden, der zufolge geographische Gebiete mit bestimmten Sprachen verknüpft sind. Bei dieser Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge handelt es sich jedoch nur bedingt um eine auf konkreter Erfahrung basierende Verknüpfung, als vielmehr um eine gesellschaftlich und kulturell tradierte Vorstellung von «mit dem Boden verbundenen Sprachen». Beide Typen der Verknüpfung von Sprache und Raum ergänzen sich dabei im Blick auf die Welterfahrung des Einzelnen. Wie unterscheiden sich diese Konzeptualisierungstypen und wie passen sie zusammen? Im Gegensatz zu der in Kapitel 3 dargestellten individuellen Eigenerfahrung des Zusammenhangs von Sprechen und Raum und dessen kognitive Strukturierung geht es im Falle der langue du sol um Konzeptualisierungen, die nicht ausschließlich auf der konkret wahrgenommenen sprachlichen Praxis basieren. Bei der Vorstellung einer Sprache als «angebunden» handelt es sich vielmehr um einen vorgestellten und bisweilen konstruierten Zusammenhang. Es geht um die Projektion von Sprache als identitätsstiftende kulturelle Praxis einer Gemeinschaft auf das von ihr besiedelte Gebiet, wobei die Aneignung des Gebietes aus

|| 1 Venaille, Franck, Maeterlinck et ses royaumes, Le Monde diplomatique 694 (2012), p. 27.

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der Sprache der Gemeinschaft zugleich die Sprache des Gebietes macht. Als explizite Konstruktion zeigt sich dies beispielsweise in dem von Katalonien 1998 erlassenen Sprachgesetz,2 das die Förderung des Katalanischen regelt. In der Präambel des Gesetzes heißt es nicht nur, das Katalanische sei «la pròpia del país», wodurch die «eigene» Sprache insbesondere vom ebenfalls in Katalonien gesprochenen Kastilisch abgegrenzt wird, sondern es sei zudem «el testimoni de fidelitat del poble català envers la seva terra i la seva cultura específica». Abgeleitet aus der Territorialität einer Sprechergemeinschaft lässt sich im Einzelnen herausarbeiten, wie sprachliche Territorien oder, synonym, Sprachgebiete als Form der Welterfahrung gedacht werden und sich darüber hinaus im Vorgang der Territorialisierung diskursiv durch Repräsentationen und konkret durch die Gestaltung der Kulturlandschaft materiell manifestieren. Diese Form der Assoziation von Sprache und geographischem Raum zeigt sich in verschieden Bezeichnungen und Formulierungen: Neben der metaphorisch gebrauchten Anbindung3 geben weitere Ausdrücke synonym eine ähnlich abstrakte, weil auf ganze Idiome bezogene Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge wieder, darunter die bereits genannten, von Viaut verwendeten Bilder der Einpflanzung («implantation», 2010, 44), der Verankerung («ancrages», ib., 24) oder der (Gebiets-)Einschreibung («inscription territoriale», 2007, 52). All diese Ausdrücke ebenso wie die Rede von durch eine Sprache geprägten oder gestalteten Gebieten4 haben – passend zum Konzept der Territorialisierung – als substantivierte Vorgangsverben die Gemeinsamkeit, dass sie die Assoziation von Sprache und Gebiet dynamisch konzeptualisieren. Dieses hier zunächst nur skizzenhaft modellierte Konzept sprachlicher Territorialität fußt dabei auf bestimmten siedlungsgeographischen Prämissen: der Verknüpfung von Mensch und Boden, insbesondere dem Begriff der Autochthonie sowie seiner Übertragung auf die Raumgebundenheit von Idiomen. Diese Prämissen äußern sich auch diskursiv, wie anhand desselben Sprachgesetzes nachvollzogen werden kann, wo es heißt: «Forjada originàriament en el territori de Catalunya […] la llengua catalana ha estat sempre la pròpia del país» (meine Hervorhebung).

|| 2 Llei 1/1998, de 7 de gener, de política lingüística, Diari Oficial de la Generalitat de Catalunya, Nr. 2553, 09.01.1998. 3 So die von Krefeld (2004, 23) gewählte Formulierung, Idiome seien «in direkter Weise an spezifische Gegenden, d.h. an siedlungsgeographische Räume angebunden». 4 Lebsanft (2012, 29) drückt dies als «Gebiet, das sozial und kulturell – d.h. eben auch durch eine bestimmte Sprache sprechende Menschen – gestaltet ist» (meine Hervorhebung).

4.1 Die gesellschaftlichen Hintergründe der Verknüpfung von Sprache und Gebiet | 89

Der so auf gesellschaftlicher Ebene gedachte und konstruierte Zusammenhang von Sprache und geographischem Raum ist politisch heute vor allem im regionalen mehrsprachigen Kontext von Bedeutung, wo es um die Abgrenzung der autochthonen, d.h. «gebietseigenen» Sprachen gegenüber Staats- und Nationalsprachen geht. Daran anknüpfend ist er im Kontext des europäischen Sprachenschutzes relevant. Als kulturelles Projekt im europäischen Rahmen bezieht sich Sprachenschutz nämlich nur auf solche Idiome, die als Teil des «kulturellen Erbes» betrachtet werden, wohinter sich die Begriffe der Autochthonie und der Territorialität als Vorstellung von in besonderer Weise mit Europa bzw. speziell mit den jeweiligen Regionen und Gegenden verbundenen Sprachen verbirgt: Eine Sprache wird wie eine Gemeinschaft erst aufgrund der langen Siedlungsgeschichte bzw. aufgrund einer langen Verwendungstradition als mit einem Gebiet verbunden betrachtet. Während das Konzept sprachlicher Territorialität erst in Kapitel 5 konkret modelliert wird, liegt das Ziel des vorliegenden Kapitels darin, zum einen die gesellschaftlichen Hintergründe der Verknüpfung von Sprache und Gebiet zu betrachten (4.1), die siedlungsgeographischen Grundlagen darzulegen (4.2) und schließlich den Begriff der Autochthonie in seiner Übertragung auf sprachlichräumliche Zusammenhänge zu untersuchen (4.3).

4.1 Die gesellschaftlichen Hintergründe der Verknüpfung von Sprache und Gebiet Bewusst wird der Zusammenhang zwischen Sprachen und Gebieten nur in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten. Insofern fällt die «Gebietsgebundenheit» eines Idioms besonders dort auf, wo es mit anderen Sprachen koexistiert oder in Konflikt steht. Generell bekannt und mithin als selbstverständlich betrachtet, liegt eine Gleichsetzung von Sprache und Raum in der Gleichsetzung von Sprache und Nation vor: Das staatliche Hoheitsgebiet und das Sprachgebiet der Nationalsprache werden miteinander identifiziert. Diese in der Folge der Französischen Revolution oft nur ideelle Gleichsetzung ist heute in den meisten Ländern West- und Mitteleuropas mit der Ausnahme einiger mehrsprachiger Staaten wie Belgien und der Schweiz auch zu einer faktischen Kongruenz geworden, insofern die Bevölkerungen beinahe ausnahmslos die jeweiligen Staatssprachen beherrschen und verwenden, was auf die flächendeckende Implementierung der Sprachen in allen Lebensbereichen, v.a. auch in Schulen und Ämtern zurückzuführen ist. Die Staatssprachen können demnach als vollständig «verankert» gelten. Die Verknüpfung von Sprache und Raum erhält in den letzten Jahrzehnten jedoch auf

90 | 4 Die «autochthone Sprache»

einer «niedrigeren» Ebene besondere Relevanz, mithin auch Brisanz: Die Zuwendung zu den in Europa gesprochenen «Regional- oder Minderheitensprachen», wie sie vom Europarat bezeichnet werden, und die Bestrebungen, diese Sprachen als ein kulturelles Erbe vor dem «Aussterben» zu schützen und konkrete Maßnahmen zu ihrem Erhalt zu ergreifen, haben zu einer weiterführenden Auseinandersetzung mit der Frage geführt, wo diese Sprachen gesprochen werden und wo dies traditionell der Fall ist. Die Frage des Spracherhalts geht also einher mit der Frage des Raumbezuges von Sprache, ihrer Territorialität. Bereits der Ausdruck Regionalsprache kann in diesem Kontext also als Verknüpfung von Sprache und Region verstanden werden. Am Beispiel der Regionalsprache wird ersichtlich, wann die «Gebietsgebundenheit» von Sprachen politisch relevant und gesellschaftlich bewusst wird: Während sich die Frage im einsprachigen Kontext kaum stellt, wird sie erst im Falle einer «Grenzüberschreitung» von einem Sprachgebiet zum nächsten und in besonderer Weise dort bewusst, wo am selben Ort und im selben Gebiet zwei oder mehrere Sprachen verwendet werden. Hier stellt sich die Frage, welche Sprache zur (Identität der) Region und traditionell zu den Menschen «gehört» und welche Sprache gewissermaßen «von außen» implementiert wurde.5 Dass sich sprachliche Territorialität vor allem in Konfliktsituationen äußert und den Sprechern gerade dann bewusst wird, wenn es gilt, die Sprache gegenüber dem Gebrauch einer anderen zu verteidigen, ist eine Erkenntnis, die auch verhaltenstheoretisch Gültigkeit hat: «Solange eine Bedrohung fehlt, merkt man oft nichts von territorialer Gebundenheit» (Eibl-Eibesfeldt 1984, 418). Eine solche Bedrohungssituation ist in Europa vielerorts gegeben, denn die unter dem Dach der Staatssprachen regional oder auch nur lokal begrenzt gesprochenen Sprachen befinden sich spätestens seit dem 20. Jahrhundert beinahe ausnahmslos unter Assimilationsdruck. Sozialisierung, Schulbildung, die Kommunikation mit den Ämtern finden weitgehend in den Staatssprachen statt, sozialer Aufstieg ist ebenfalls mit ihnen verbunden und die Bedeutung internationaler Verkehrssprachen wie des Englischen ist ein weiterer Faktor dafür, dass der

|| 5 Die immer wieder als Konflikt dargestellte Situation der katalanisch-kastilischen Zweisprachigkeit in Katalonien vermag diesen Befund besonders gut zu veranschaulichen. Wenn ich hier und auch im Folgenden immer wieder Beispiele aus dem Kontext Kataloniens wähle, dann deshalb, weil sich der kastilisch-katalanische Sprachkontakt in Katalonien als ein Konflikt zweier konkurrierender «Territorialitäten» interpretieren lässt (cf. ausführlich 6.6). Dieser manifestiert sich auf allen Ebenen – von der Interkation von Privatpersonen bis hin zu Streitfällen im legislativen Bereich – auffällig deutlich und in vielen Fällen auch diskursiv explizit, während sich Phänomene sprachlicher Territorialität in anderen Kontaktsituationen oft nur unterschwellig zeigen.

4.1 Die gesellschaftlichen Hintergründe der Verknüpfung von Sprache und Gebiet | 91

Gebrauch und die Tradierung (v.a. die intergenerationelle Weitergabe) regionaler Idiome zurückgeht (cf. Extra/Gorter 2005).6 Soziolinguistisch kann diese Situation mit dem von Ferguson (1959) geprägten Konzept der Diglossie beschrieben werden (cf. auch Kremnitz 2004). So äußert sich die Überdachung durch die Staatssprachen in Situationen von Zweisprachigkeit oder Diglossie: Je nach Perspektive konkurrieren oder koexistieren Regional- oder Minderheitensprachen als low varieties mit einer durch die staatlichen Institutionen durchgesetzten high variety. Während diese Diglossie von Ferguson noch als eine durch relative Stabilität geprägte Sprachkontaktsituation angenommen wurde, ist es bezeichnenderweise die katalanische Soziolinguistik in der Folge Aracils (1965), die diese Situation als einen Konflikt zwischen einer dominanten und einer dominierten Sprache begreift, der unweigerlich zur Verdrängung der low variety, also zu Sprachwechsel, führt (z.B. bei Argemí/Ramon 1996).7 Auf dieser Konzeption von Sprachkontakt und der Absicht, diese Entwicklung abzuwenden, begründet sich entsprechend die gesamte katalanische Normalisierungspolitik (normalització lingüística), die vorsieht, die «gebietseigene» Sprache zur «normalen», d.h. in allen Kommunikationsdomänen üblicherweise verwendeten Sprache zu machen.8 Vor der Drohkulisse von Vereinheitlichung und (Zwangs-)Assimilation wird im Zusammenhang mit einem sog. «Ethnic Revival»,9 einer «Wiedergeburt des Ethnischen», zunehmend versucht, regionale Kulturgüter – darunter auch Spra-

|| 6 Das Bewusstsein darüber, dass lokale und regionale Sprachformen unter dem Dach der Nationalsprachen zu verschwinden drohen, ist freilich schon älter. Für Frankreich lässt sich dieses schon für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nachweisen, führte diese Erkenntnis unter den damaligen Sprachwissenschaftlern doch zu dem Schluss, man müsse sich beeilen, die diatopischen Varietäten des Französischen zu dokumentieren, wie dies im ALF und zahlreichen Regionalatlanten auch geschah. 7 Cf. dazu auch den politischen Diskurs regional-nationalistischer Sprachbewegungen in Galicien und der Valencianischen Gemeinschaft. Wie Sánchez Prieto (im Druck) herausarbeitet, wird die Zweisprachigkeit mehrheitlich abgelehnt. 8 Diese Konzeption von Sprachkontakt hat sich über Katalonien hinaus in ganz Europa weitgehend durchgesetzt, weshalb man heute allgemein davon ausgeht, dass Regionalsprachen als kulturelle Praktiken von (kulturellen und/oder ethnischen) Minderheiten unter dem Assimilationsdruck der Mehrheitskulturen stehen. Dabei stellt sich die Ausgangssituation der verschiedenen Sprachen freilich sehr unterschiedlich dar: So reicht das Spektrum von Idiomen mit nur noch einigen Sprechern bis hin zu Sprachen wie dem Katalanischen, das mehrere Millionen Sprecher zählt. Die Auffassung, dass hier Handlungsbedarf besteht, will man ein Verschwinden der Sprachen verhindern, setzt sich seither auf regionaler, staatlicher und überstaatlicher Ebene zunehmend durch und hat die Entwicklung von sprachplanerischen «Gegenmaßnahmen» zur Folge. 9 Zum «Ethnic Revival» in den USA cf. den einschlägigen Band The Rise and Fall of the Ethnic Revival von Fishman (1985). Cf. auch Allardt (1996) und Zenker (2011).

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chen – zu erhalten.10 Unter (sprachen-)ökologischen Gesichtspunkten betrachtet geht es hier in Analogie zum Tier- und Pflanzenschutz darum, für Sprachen die notwendigen Umweltbedingungen zu schaffen, um ihren Bestand (d.h. ihre Verwendung) zu sichern.11 In diesem Sinne werden Sprachgebiete mitunter als «Schutzzonen» aufgefasst, wobei engagierte Soziolinguisten daraus gar das auf Exklusivität abzielende Prinzip ableiten wollen, «que chaque langue ait son propre territoire sans partage avec une autre langue» (Argemí/Ramon 1996, 354).12

4.2 Siedlungsgeographie, Raumbezug und Historizität Die gesellschaftliche Verknüpfung von Sprache und geographischem Raum fußt zunächst einmal auf der Verknüpfung zwischen Mensch und Boden, die sich wiederum in mythologischen Denkfiguren wiederfindet. Handelt es sich bei der Vorstellung der an bestimmte Gebiete angebundenen Sprachen um eine allgemeine und in aller Regel unhinterfragte Annahme, so ist dies bei der Verknüpfung von Menschen bzw. Menschengruppen und dem besiedelten Boden nicht minder der Fall: Die Raumbindung menschlicher Gemeinschaften wird als natürlich betrachtet. In diesem Abschnitt werden anhand von einigen wenigen Beispielen zunächst einige allgemeine Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Menschen und Boden bzw. Gruppen und Gebieten dargelegt (4.2.1), um in der Folge den Begriff der Autochthonie zu diskutieren (4.2.2).

|| 10 Die Akteure dieser Politik sind dabei unterschiedliche: Zum einen agieren hier die betroffenen Gruppen selbst, zum anderen wirken vereinzelt auch politische Repräsentanten auf die Kultur- und Minderheitenpolitik der Staaten zugunsten einer toleranteren Haltung ein. Schließlich treten europäische Institutionen als weitere Akteure auf supranationaler Ebene auf, insbesondere der nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Initiative Churchills hin gegründete Europarat, der seit den 1980er Jahren nicht nur eine genuine Minderheiten-, sondern auch eine «Regionalund Minderheitensprachen»-Politik ins Leben gerufen hat. Zu der Herausbildung einer «Diversitätsideologie» cf. Brenzinger (2011). 11 Zum Begriff der Ökolinguistik cf. Fill (1993), Haarmann (1996). Cf. dazu ausführlich 6.1.1.2. 12 Man beachte die verblüffende Ähnlichkeit mit dem nordamerikanischen Ansatz, Indianervölker und ihre Kulturen durch die Schaffung von Reservaten zu bewahren. Sprachlich betrachtet kann dieses Bedürfnis eines «eigenen Gebietes» zu den ökolinguistischen Bedingungen gezählt werden. In Bezug auf bedrohte Klein- und Minderheitensprachen ist dies regelmäßig eine wichtige Komponente in allen Versuchen der Faktorisierung der ökologischen Bedingungen, die zum Erhalt einer Sprache notwendig sind und die der Beurteilung der sog. «Vitalität» einer Sprache dienen – man beachte wiederum den anthropomorphisierenden Begriff. Zum Konzept der Vitalität und seiner Faktorisierung zur Untersuchung der ökolinguistischen Bedingungen von (bedrohten) Regionalsprachen cf. zuletzt die Beiträge in Moretti/Pandolfi/Casoni (2011) sowie die Problematisierung des Ausdrucks Vitalität in Tacke (2013b).

4.2 Siedlungsgeographie, Raumbezug und Historizität | 93

4.2.1 Die Verknüpfung von Mensch und Boden Kulturgeschichtlich betrachtet ist die Verbindung des Menschen mit dem Boden in den unterschiedlichsten Gesellschaften relevant. In Europa aber auch darüber hinaus ist sie insbesondere in Schöpfungs- und Gründungsmythen von Bedeutung. So lassen sich Verweise auf die Beziehung, die den Menschen mit dem Boden verbindet, bereits in antiken Texten nachweisen. Über den auf die griechische Antike verweisenden Autochthoniebegriff hinaus findet sich der Boden als Ursprung des Menschen – um nur ein prominentes Beispiel zu nennen – etwa in der biblisch-hebräischen Tradition. So spricht Gott in der Schöpfungsgeschichte zu Adam: «Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden» (1. Mose 3,19).13 Als ein Beispiel für die Bedeutung des Bodens in außereuropäischen Kulturen lässt sich des Weiteren der Gründungsmythos der Inkas heranziehen. Wie etwa der Inka Garcilaso de la Vega im ersten Buch seiner Comentario reales (1609/1995) erzählt, wurde der mythische Gründer und Herrscher der Inkas, Manco Cápac, vom Sonnengott Inti zur Erde entsandt, um an dem Ort einen Tempel zu errichten, wo der goldene Stab, den er bei sich trug, in die Erde einsinken würde. Der Mythos besteht somit aus der Wanderschaft mit göttlichem Auftrag und ebenso göttlich vorhergesehenem Gründungsort. Der Aspekt der Landnahme infolge von Wanderung ist dabei den Gründungsmythen zahlreicher Kulturen auf allen Kontinenten gemein. So beginnt bekanntlich auch der römische Mythos, während die Wanderschaft bzw. Vertreibung bei gleichzeitiger Referenz auf das «gelobte Land» Bestandteil der jüdischen Kultur ist.14 Bereits 1882 stellte Friedrich Ratzel dazu in seiner Anthropogeographie, unter Verweis auf zahlreiche Gründungsmythen, fest: «Wenn die Tradition mancher Völker über den Raum hinaus reicht, auf welchem sie heute wohnen, und in Wandersagen seine Gebiete mit ihrem Wohngebiete zu einem einzigen geschichtlichen Schauplatz verschmilzt, finden wir uns der Wirklichkeit um einen Schritt

|| 13 Noch deutlicher wird dies übrigens in dem von Sebastián de Covarrubias verfassten, besonders das Hebräische berücksichtigenden Tesoro de la lengua castellana o española von 1611. Gemäß der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2,7) definiert Covarrubias Adán (‘Adam’) darin als «Padre universal del género humano, a quien Dios formó del limo de la tierra, que por haber sido roja y encendida de color, salió con la mesma calidad de ser rubio», was sich auch in dessen Namen widerspiegelt: «‫ ׇא ׇדם‬, Adam, que vale terrenus». Diese Bedeutung sei auch das wichtigste Konzept, das aus dem Namen hervorgehe: «El más provechoso de todos es considerar que está formado de tierra y que en ella se ha de convertir». 14 Zu den europäischen Gründungsmythen im Mittelalter cf. den Band von Bernsen/Becher/ Brüggen (2013). Zum Motiv der Wanderung cf. Plassmann (2013).

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näher [der Vorstellung vom ersten Menschen]. Vor allem verlegen viele ihren Ursprung in ein fremdes, fern gedachtes Land, und wenn nicht das ganze Volk aus demselben stammt, so kommen doch von außen bestimmte Schichten desselben oder hervorragende Einzelne. Häufig sind ihre Götter und Halbgötter die Führer auf der Wanderung» (Ratzel 1882, 625).

Die eigentümliche Beziehung zwischen Mensch und Boden, die sich in so vielen – kulturgeschichtlich voneinander auch vollkommen unabhängigen – Mythen wiederfindet, und die auch heute noch große gesellschaftliche Relevanz zeigt, ist ein Phänomen, das bis heute keine allgemeingültige Erklärung gefunden hat. Am Ende des 19. Jahrhunderts sprach Ratzel noch von der spirituellen Verbindung mit dem Boden, welche aus der ererbten Gewohnheit des Zusammenlebens entstehe (cf. Guérin-Pace/Guermond 2006, 289). Seither wird die Verknüpfung unter existentialistischen Gesichtspunkten betrachtet. So sah ein anderer Geograph, der Franzose Éric Dardel, darin fünfzig Jahre später in seinem Buch L’homme et la terre gar eine der Prämissen der Geographie als Wissenschaft: «La science géographique présuppose que le monde soit compris géographiquement, que l’homme se sente et se sache lié à la terre comme être appelé à se réaliser en sa condition terrestre» (1952/1990, 46). Während sich der Sozialgeograph Di Méo daran anlehnt, wenn er einen «rapport a priori, émotionnel de la condition terrestre de l’homme» (1998, 53) evoziert, räumt Yves Guérmond (2006, 292) bezüglich des Konzeptes der identité territoriale ein, dass die Geographie keine Erklärung für diese condition terrestre habe; die Frage verbleibe im Bereich «du sentiment et de l’impression subjective» und man könne nur konstatieren, dass der identitäre Bezug zum Boden «est à l’origine un sentiment individuel, très souvent limité au coin de terre». Die Frage, in welcher Weise die Verknüpfung von Mensch und Raum auch in der modernen Gesellschaft noch von Bedeutung ist, macht eine Differenzierung zwischen der Herkunft und Individuen und der «Angestammtheit» von Gruppen notwendig. So wird die individuelle Herkunft in der Gegenwart, mit der Geburt begründet, während die «Geburt» einer Gemeinschaft in der Vergangenheit, eben über siedlungsgeschichtliche Gründungsmythen konstituiert wird. Die allerorts übliche moderne Praxis, die Geburt einer Person urkundlich festzuhalten, gibt Zeugnis davon, wie die Herkunft des Einzelnen gesellschaftlich konstruiert wird: Die Herkunftskonstruktion umfasst dabei nicht nur die biologische Abstammung (Eltern, Großeltern); durch den amtlich verbrieften Namengebungsakt werden auch Zeitpunkt und Ort in die Identität des Neugeborenen integriert. So umfasst z.B. der Eintrag in das spanische registro civil zunächst die Daten zum Neugeborenen («datos del nacido») und zur Geburt («datos del nacimiento») mit Angaben zur Uhrzeit, zum Tag und zum Ort; weiterhin sind die Daten der Eltern anzugeben, deren Identität jeweils wiederum über den

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Namen, die Abstammung («hijo de … y de …»), den Geburtsort («nacido en») und -tag («el día … del mes … del año») bestimmt wird.15 Ähnlich sieht es der französische Code civil vor: «L’acte de naissance énoncera le jour, l’heure et le lieu de la naissance, le sexe de l’enfant, les prénoms qui lui seront donnés, le nom de famille, suivi le cas échéant de la mention de la déclaration conjointe de ses parents quant au choix effectué, ainsi que les prénoms, noms, âges, professions et domiciles des père et mère et, s’il y a lieu, ceux du déclarant […]» (Livre Ier, Titre II, Chapitre II, Art. 57).

Die Geburtsurkunde konstruiert also die gesellschaftliche Identität des Individuums als eine Herkunft, die aus biologischer Abstammung, Ort und Zeit besteht und mit dem Namengebungsakt besiegelt wird. Das Konzept der Provenienz bzw. der Herkunft ist also kein ausschließlich biologisch begründetes, sondern ein gesellschaftlich konstruiertes. Die Herkunft einer Person ist dabei statisch und wird in der Identität der Person gewissermaßen festgeschrieben. Augenscheinlich wird dies bei Fragen der Identifizierung, etwa in Personalausweisen. Der Geburtsort dient neben Vor- und Nachnamen als Unterscheidungsmerkmal, er wird zu einem prägenden Identifikationsmerkmal. Dass die Herkunft sich als gesellschaftlich konstruiertes Konzept nicht nur auf den Geburtsort bezieht, zeigt sich an Menschen, die trotz ihrer Geburt «im Land» als Ausländer bzw. in Deutschland als «Menschen mit Migrationshintergrund» definiert werden. Einen «Migrationshintergrund» weisen laut Definition der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (2013, 6) «alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer [!] und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil»

auf. Offensichtlich enthält das gesellschaftlich kodierte Konzept der Herkunft also nicht nur den Geburtsort, sondern auch den «Stammbaum» und mit ihm die Migrations- bzw. «Wanderungsgeschichte» einer Person, also die Herkunft der Vorfahren, die ihrerseits als Gruppe einem Ort oder einer bestimmten Region zugeordnet werden. Die Herkunft des Individuums kann sich demnach aufgrund mehrerer Elemente bemessen: dem Geburtsort, der «Abstammung» bzw. Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Volksgruppe, Ethnie, Nation) und der Herkunft der Gruppe. Rechtlich betrachtet wird die darauf aufbauende Nationalität je nach Staat

|| 15 Cf. «Certificado de nacimiento» unter [letzter Zugriff: 28.12.2013].

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durch die Abstammung der Eltern («Abstammungsprinzip» bzw. ius sanguinis) oder dem Geburtsort bzw. -land («Geburtsortsprinzip» bzw. ius soli) definiert. Eine Gemeinschaft kann ebenso wie ein Individuum mit einer geographischen Gegend verbunden sein; es ist sogar gerade der Regelfall, dass Menschengruppen bestimmten Orten oder Gebieten zugeordnet werden. Siedlungsgeographisch ergibt sich diese Zuordnung aus der dauerhaften Besiedlung eines geographischen Raumes oder eines Ortes durch die Menschengruppe. Die Mensch-Boden-Verbindung ist auch in diesem Fall statisch, wird aber im Wesentlichen durch zeitliche Dauerhaftigkeit begründet: Erst eine dauerhafte Besiedlung lässt ein Gebiet zu einem charakteristischen Merkmal einer Gemeinschaft werden. Gemeinschaften verknüpfen sich über ihre Siedlungsgeschichte mit dem geographischen Raum; während der eher seltene Ausdruck Angestammtheit sprachlich auf eine Pflanzen/Boden-Metaphorik und eine entsprechende Konzeptualisierung weist, enthält das im Deutschen gebräuchlichere Wort alteingesessen nicht nur eine Bezugnahme auf einen Ort als «Sitz», sondern auch eine deutliche zeitliche Referenz. Gesellschaftlich wird die Mensch-Boden-Bindung in Bezug auf das Individuum folglich als Herkunft, in Bezug auf Gruppen und Gemeinschaften als Angestammtheit konzeptualisiert. Die Dynamik der realen Beziehungen steht dabei oft der Statik der konstruierten Verbundenheit gegenüber. So stehen die Vorstellungen einer in der individuellen Identität festgeschriebenen Herkunft, ebenso wie die der Raumbezogenheit kollektiver Identitäten, als statische Verbindungen einer in der Realität oft dynamischen Beziehung zwischen Menschen und Geographie klar entgegen. Die in der Realität gegebene Dynamik hat indessen keine oder kaum Auswirkungen auf die Konzeptualisierung der Verbindung, die unhinterfragt als «natürlich», mithin als quasi-biologisch aufgefasst wird. So erscheinen der Mensch als Individuum ebenso wie die Gemeinschaft gewissermaßen «genetisch» mit dem geographischen Raum verbunden – man denke an die spanische Formulierung es natural de … –, wobei das «genetische» Bindeglied in der soziokulturell bedingten Konstruktion individueller und kollektiver Identität zu suchen ist. Während der Faktor Zeit bei der statischen Konzeptualisierung der Raumbindung des Individuums praktisch keine Rolle zu spielen scheint, da «Herkunft» sich nicht zeitlich nach der individuellen Verweildauer an einem Ort bemisst, wird er als «Ursprünglichkeit», «Dauerhaftigkeit» oder «Anfangslosigkeit»16 in

|| 16 Cf. das von Martin Hose geleitete Teilprojekt «Autochthonie: Ausprägungen einer Denkfigur in der griechischen und lateinischen Literatur» im Rahmen der DFG-Forschergruppe «Anfänge (in) der Moderne» einzusehen unter [letzter Zugriff: 09.01.2013].

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den Konzeptionen von Indigenität und Autochthonie für die Gruppe in besonderer Weise relevant.

4.2.2 Gebietsanspruch und Autochthonie Am deutlichsten wird die Idee der Verknüpfung einer Gemeinschaft mit bestimmten Gebieten im Begriff der Autochthonie, der seinen Ursprung in der griechischen Antike hat und bis heute tradiert wurde. Zu seiner Erläuterung wird zunächst auf die Wort- und Begriffsgeschichte von autochthon eigegangen (4.2.2.1), um daraufhin die Relevanz des Begriffs in Gegenwartsdiskursen darzustellen (4.2.2.2) sowie die Problematik der ihm inhärenten zeitlichen Kategorie zu diskutieren (4.2.2.3).

4.2.2.1 Begriffsgeschichte Um das Konzept der Autochthonie zu verstehen, ist es notwendig, seine Ursprünge bis in die Antike zurückzuführen und die Geschichte des Begriffs mit derjenigen des Wortes autochthon zu verknüpfen. Eine solche Geschichte dieser «Denkfigur»17 hat der Altphilologe Rosivach (1987) vorgelegt. Er vermag zu zeigen, dass die Idee der Autochthonie als einer Besiedlung «seit jeher» ihren Ursprung im griechischen Ursprungsmythos hat. Ausgehend von dem Mythos um die Abstammung von Erechtheus, dem archaischen König Athens, der aus der Unterwelt stammte (chthon), wurde die Vorstellung von dessen «Erdgeburt» in der antiken Rezeption bald auf die Athener, die «Söhne des Erechtheus» (Erechtheidai) selbst übertragen: «It was precisely the frequent use of this patronymic, I would suggest, which fostered a habit of thinking that the Athenians as a people were, at least metaphorically, descended from Erechtheus. And if Erechtheus was earthborn, then by this way of thinking so too was the Attic race […] χθονίων is in effect a transferred epithet: the people of earthborn Erechtheus become Erechtheus’ earthborn people» (Rosivach 1987, 295).

In Kombination mit der Tatsache, dass die Athener im Umfeld von zugezogenen Völkern wie den Dorern glaubten, selbst seit jeher Attika zu bewohnen, konnte sich über das Medium des Wortes autochthon das Konzept einer «Erdgeborenheit» und einer «seit jeher»-Besiedlung verfestigen: «these two ideas came to be blended into a single idea» (Rosivach 1987, 301). Diese eigentümliche Verbin-

|| 17 So z.B. in der genannten DFG-Forschergruppe (cf. Anm. 16).

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dung von langer Besiedlung und «Erdgeburt» in einem Wort blieb jedoch auf die Referenz auf das Volk Attikas beschränkt. Bei der Bezeichnung anderer Völker als autochthon diente das Wort, wie Rosivach (ib., 303) zeigt, schon damals primär dazu, die Besiedlung «since time immemorial» herauszustellen. In der neuzeitlichen Verwendungstradition des Ausdrucks spielt die «Erdgeburt» folglich keine Rolle mehr, sofern es nicht um Bewohner Attikas geht. Dies veranschaulicht etwa die erste dokumentierte volkssprachliche Verwendung in einer Glosse des französischen Plutarchübersetzers Amyot (1513–1593) von 1560: «Des premiers habitans qui tindrent le pays d’Attique, lesquels on a depuis apellez autochtones, qui vaut autant dire comme, nez de la terre mesme, pour ce que il n’est point de memoire qu’ils soyent onques venus d’ailleurs» (TLF, s.v. autochtone).

Tatsächlich handelt es sich dabei um die erste neuzeitliche Entlehnung des Ausdrucks, die über das Französische auch ins Englische (autochthonous, seit 1804 belegt, cf. OED) und Spanische (autóctono)18 übernommen wurde. Wie man dem Eintrag autochthōn im FEW, das übrigens mit indigène übersetzt wird, entnehmen kann, beschränkt sich dabei die mit den Griechen verknüpfte und durch die zitierte Glosse belegte Bedeutung («nez de la terre mesme») auf das Mittelfranzösische; für das Neufranzösische wird dagegen die Definition «premiers habitants d’un pays, par opposition aux peuples venus d’ailleurs s’établir dans le même lieu» (FEW, XXV, 1096) angeboten. In der heutigen Verwendung ist sogar noch eine weitere Bedeutungseinschränkung zu verzeichnen: Zwar grenzt der Begriff weiterhin das autochthone Volk von der zugewanderten Gruppe ab, doch unterliegt der Aspekt der Migration einer zeitlichen Gewichtung, d.h. liegt diese weit genug zurück, kann ein Volk trotz einer mythologisch oder siedlungsgeschichtlich erinnerten Wanderung als autochthon bezeichnet werden. Entsprechend stellt Ratzel in seinen Überlegungen zu «Autochthonie und Ursprungssagen» fest: «Gerne sieht man in der Einwanderung eines Volkes eine in der fernsten Vergangenheit liegende Thatsache, weil in den meisten Fällen seine Geschichte erst mit dem Erscheinen auf dem Boden beginnt, den es heute bewohnt. Daher die Neigung in diese unbekannte Tiefe gewagte, halbmythische Vorstellungen hineinzugeheimnissen» (Ratzel 1882, 622).

|| 18 CORDE verzeichnet die erste Verwendung des Adjektivs bereits im Jahr 1863 in einem Essay («Del arcaísmo y el neologismo. ¿Cuándo se debe considerar fijada una lengua?») des Humanisten Pedro Felipe Monlau y Roca: «La base del actual Castellano fueron los dialectos autóctonos ó indígenas, que se hablaban en la Península ibérica». Der DRAE verzeichnet das Adjektiv seit der 12. Ausgabe von 1884.

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Der Begriff der Autochthonie hat sich bis heute folglich auf den Aspekt der «lange in die Vergangenheit zurückreichenden Besiedlung» eines Gebietes durch eine Gemeinschaft reduziert. Weder ist die «Erdgeburt» noch fester Bestandteil des Bedeutungsgehalts, noch wird eine (Ein-)Wanderung ausgeschlossen, sofern sie «vor langer Zeit» stattgefunden hat.19 Von der Referenz auf Völker bzw. Gemeinschaften hat sich die Verwendung von autochthon schließlich weiter ausgedehnt. Der TLF erlaubt es, diese Ausdehnung des Wortes in der Bedeutung einer ursprünglichen Herkunft («Originaire du lieu où il vit») nachzuvollziehen: So wird der Ausdruck seit dem 20. Jahrhundert – wie zuvor bereits indigène – auf Individuen bezogen («Personne née dans le pays même où elle habite, dont les ancêtres ont vécu dans le pays»), oder auch in Wissenschaften wie der Geologie oder der Botanik aufgegriffen («Originaire des lieux mêmes, formé sur place»). Hier findet sich auch ein Hinweis auf die Übertragung des Attributs auf Sprachen: «[En parlant d’un idiome, lang., dial.] Parlé depuis très longtemps dans ce pays, cette région, etc.». Mit dem heutigen Bedeutungsumfang steht autochthon anderen Ausdrücken wie indigen und Aborigine (das im Deutschen kein Adjektiv kennt) sehr nahe, was sich auch anhand zahlreicher lexikographischer Querverweise (Synonymie) nachvollziehen lässt. Seiner mythologischen Konnotation entledigt scheint autochthon dabei heute aufgrund seiner Neutralität als Hyperonym fungieren zu können. Eingeschränkter verwendbar ist dagegen der vor allem in Bezug auf sog. «indigene Völker» verwendete Begriff der Indigenität, demzufolge diese Völker «ursprünglich» zu einem bestimmten Gebiet gehören. Als deutschen Ausdruck führt das Grimm’sche Wörterbuch den Eintrag eingeboren, definiert als «im lande, im ort geboren, indigena: er ist eingeboren, kein fremder, eingezogener», wovon die heutige Definition des Dudens («eingeboren, einheimisch») nicht abweicht. Die spanische und die französische Lexikographie definieren indígena/indigène dazu analog als «Originario del país de que se trata» (DRAE) bzw. «Qui est originaire du pays où il se trouve» (TLF), wobei das erste dokumentierte Vorkommen des Ausdrucks im 6. Kapitel von Rabelais’ Pantagruel von 1532 die zeitliche Komponente noch stärker betonte: «qui appartient depuis longtemps à une région déterminée» (cf. FEW, XXV, 1096; TLF; DHLF).

|| 19 Problematisch ist die Interpretation von «lange». Einen Anhaltspunkt bietet Ratzel (1882, 622), der auf die Zeit der Völkerwanderungen referiert: «Die Wanderzeit, das ist so recht die dunkle Ecke, in welche unklare, unfertige, unbequeme Gedanken weggerückt werden, in deren Dämmerung sie sich auch am besten behagen. Dort hegt der Stolz eines Volkes die nicht zu beweisende Zurückführung seiner Abstammung auf Halbgötter und Helden».

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Hinzu kommt der Begriff des Aborigine, der ebenfalls auf «Ursprünglichkeit» verweist («Originario del suelo en que vive», DRAE, s.v. aborigen; «Qui est originaire du pays où il vit», TLF, s.v. aborigène) und für das Französische als Substantiv (aborigènes, «premiers habitants d’un pays») seit 1488 und als Adjektiv seit 1756 bei Voltaire dokumentiert ist (cf. FEW, XXIV, 45; DHLF). Im Französischen wie im Deutschen verwendet man den Ausdruck vor allem mit Bezug auf die «populations autochtones de l’Australie» (DHLF), die «Ureinwohner [Australiens]» (Duden, s.v. Aborigine), wobei sich hier der Zugang zu weiteren Ausdrücken eröffnet, denn analog wird Ureinwohner als «Angehöriger der Urbevölkerung» definiert, weshalb sich das Präfix ur- als entscheidend erweist. Dieses kennzeichne, so informiert der Duden, «in Bildungen mit Substantiven – seltener mit Adjektiven – jemanden oder etwas als Ausgangspunkt, als weit zurückliegend, am Anfang liegend». Während autochthon rein etymologisch betrachtet also auf die Erde verweist, steckt in indigen die Idee der Geburt und in Aborigine der Aspekt des Ursprungs. Durch die begriffsgeschichtliche Entwicklung sind die Ausdrücke heute im Wesentlichen synonym: Bezogen auf Gemeinschaften beschreiben sie diese als «seit jeher» bzw. «seit langer Zeit» an einem Ort ansässig; Individuen werden ihrerseits als zu einer solchen Gruppe zugehörig charakterisiert. Unterschiede sind dabei allenfalls in den Konnotationen zu verzeichnen, wodurch autochthon neutraler erscheint als das eher auf «Naturvölker» beschränkte indigen und das ausschließlich auf australische Ureinwohner verweisende Aborigine. Dennoch werden alle Ausdrücke heute zur Begründung des besonderen Gebietsanspruchs verwendet, legitimiert die «seit jeher»-Besiedlung doch gemeinhin den Anspruch auf das entsprechende Gebiet.

4.2.2.2 Relevanz in Gegenwartsdiskursen Ausgehend von der Wort- und Begriffsgeschichte gilt es nun, das Konzept der Autochthonie bezogen auf seine Verwendungsweisen und seine Einbettung in gegenwärtige Zusammenhänge zu skizzieren. Wie bereits erläutert, umfasst der Begriff der Autochthonie im Wesentlichen nur noch die zeitlich-räumliche Verknüpfung einer Gruppe mit einem geographischen Gebiet, wobei die Zeitlichkeit in der Historizität der Raumbindung, d.h. der Siedlungsgeschichte, begründet liegt. Autochthonie ist dabei eine Eigenschaft, die sich eine Gruppe zuschreibt (kollektive Identität), um sich von anderen Gruppen abzugrenzen. In diesem Sinne ist es bezeichnend, dass auch bei den Athenern erst im Zuge der Dorischen Wanderung im 5. Jahrhundert v. Chr. ein Bewusstsein über ihre Autochthonie aufkam (cf. Rosivach 1987, 296). Autochthonie wird damit zur Gegenkategorie von Migration: autochthon vs. alloch-

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thon20, «von hier» vs. zugezogen. Das Attribut der Autochthonie erfüllt somit gleich mehrere Funktionen: Nach innen gerichtet dient der Begriff der politischideologischen Instrumentalisierung zur Stärkung der Gruppenidentität. Nach außen gerichtet dient das Merkmal der Autochthonie zur Abgrenzung gegenüber anderen zugezogenen Gruppen oder Individuen.21 Dass eine Gruppe «als erstes» oder «am längsten» ein Gebiet besiedelt, dient dabei freilich dazu, einen exklusiven oder privilegierten Anspruch auf dieses Gebiet zu begründen. Der Begriff der Autochthonie wird folglich immer dann evoziert, wenn es um Ab- oder Ausgrenzung geht. Aufgrund der Vagheit der «Siedlungsdauer», mit welcher der privilegierte Raumanspruch begründet wird, ist Autochthonie ein besonders breit einsetzbares Konzept und daher umso geeigneter für die politische und ideologische Instrumentalisierung. Dies ist überall dort der Fall, wo Ethnizität und Nationalismus miteinander verknüpft werden. Darüber treten «discourses on autochthony and indigeneity» (Zenker 2011, 63) jedoch zunehmend im Zusammenhang mit Minderheitenfragen und im Zusammenhang mit dem Ethnic Revival zutage. Ein herausragendes Beispiel in Europa ist dafür das 1998 in Kraft getretene Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten. Zwar wird der Terminus nationale Minderheit seitens des Europarats bewusst nicht definiert, doch zielt dieser ausschließlich auf in den jeweiligen Staaten angestammte, d.h. autochthone Gruppen und bezieht sich in keiner Weise auf Migranten oder Einwanderergruppen. Der Begriff der Autochthonie ist für das Rahmenübereinkommen jedoch darüber hinaus, wenn auch nur implizit, relevant. So berücksichtigt der Text die Tatsache, dass «nationale Minderheiten» bestimmte Gebiete besiedeln und einen Bezug zum Raum haben, wenn es um weiterreichende Maßnahmen im Bereich der Verwaltungen und der Bildung geht, da diese sich nicht ortsunabhängig (Personalitätsprinzip) in die Praxis umsetzen lassen. Die Pragmatik des Schutzmechanismus greift in diesem Fall daher auf das Territorialitätsprinzip zurück und definiert zu diesem Zweck Kriterien. So heißt es in Artikel 10,2 zum Kontakt mit Verwaltungsbehörden ebenso wie in Artikel 14,2 zu

|| 20 Während das FEW keinen Eintrag verzeichnet, wurde allochthone dem TLF zufolge erstmals 1931 in der Botanik verwendet und analog zu autochthone gebildet, um auf Organismen mit fremder Herkunft zu verweisen. Für das als selten eingestufte Adjektiv wird heute, ebenso wie im Spanischen («Que no es originario del lugar en que se encuentra», DRAE, s.v. autóctono) oder Englischen («denoting a deposit or formation that originated at a distance from its present position», OED, s.v. allochthonous), auf Personen bezogen die Bedeutung «Qui n’est pas originaire du pays qu’il habite» angegeben. 21 Zenker (2011, 71) spricht von einer groben Differenzierung zwischen «‹earlier-comers› and ‹later-comers›».

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Maßnahmen im Bildungsbereich, die Behörden seien zu einer Umsetzung dieser Maßnahmen verpflichtet, «[i]n areas inhabited by persons belonging to national minorities traditionally or in substantial numbers»22 (cf. ferner Art. 11,3). Das Definitionskriterium für eine gebietsspezifische Anwendung, die Besiedlung «in substantial numbers», ist dabei rational leicht nachvollziehbar und der pragmatischen Auslegung des Minderheitenschutzes geschuldet. Anders verhält es sich dagegen beim Kriterium der traditionellen Besiedlung, bedeutet es doch, dass (weitgehend) unabhängig von der Zahl der dort lebenden Mitglieder einer Gruppe, die Umsetzung der Maßnahmen verpflichtend ist, weil diese Gruppe dort einen historischen Bezug zum Boden hat. Die Rekurrenz auf den Autochthoniebegriff charakterisiert jedoch nicht ausschließlich die europäische Politik, sondern ist in gleicher Weise auch im Rahmen der UN verwurzelt, was mit Ceuppens/Geschiere (2005, 387) wiederum im Zusammenhang des «strong interest in the West in ‹disappearing cultures›» und der «defense of local roots» gesehen werden kann. In der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker tritt das Konzept der Autochthonie dabei in der Variante Indigenität auf und bezieht sich auf sog. «indigene», d.h. – mit der deutschen Lehnübersetzung bezeichnet – «eingeborene» Völker, womit Naturvölker bzw. «Ureinwohner» gemeint sind (cf. 4.2.1). Diesen Gruppen sollen durch die Politik der Vereinten Nationen gewissermaßen von außen bestimmte Rechte, darunter das Recht auf das «ursprünglich besiedelte Gebiet», zuerkannt werden. In der Erklärung wird ersichtlich, dass Naturvölker in besonderem Maße durch ihre Verbundenheit mit dem Raum definiert werden: Immer wieder ist in der Erklärung von «their lands or territories» (hier: Art. 10) die Rede. Ferner liegt auch hier eine Verknüpfung über die Kategorie der Zeit im Sinne einer kontinuierlichen Besiedlung vor. Dies wird neben vielfachen Hinweisen am sinnfälligsten in dem in Artikel 26,2 formulierten Recht deutlich: «Indigenous peoples have the right to own, use, develop and control the lands, territories and resources that they possess by reason of traditional ownership or other traditional occupation or use […]».

Gleichzeitig spielt hinsichtlich von «Naturvölkern» auch der Faktor Identität und Spiritualität eine Rolle, wenn «their distinctive spiritual relationship with their

|| 22 Man beachte auch den Wortlaut der anderssprachigen Fassungen des Textes: dt. «[i]n Gebieten, die von Angehörigen nationaler Minderheiten traditionell oder in beträchtlicher Zahl bewohnt werden», fr. «aires géographiques d’implantation substantielle ou traditionnelle», sp. «zonas geográficas habitadas tradicionalmente o en número considerable».

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traditionally owned or otherwise occupied and used lands, territories, waters and coastal seas and other resources» in Artikel 25 evoziert wird. Die Relevanz, die der Autochthoniebegriff auf legislativer Ebene erhält, unterstreicht seine Bedeutung. Bezeichnend ist, dass die Glieder der Verknüpfung von Individuen, Gruppen und geographischen Gebieten durch so vage Kriterien wie Traditionalität verschleiert, jedoch nicht hinterfragt werden. Hier mag ein Beleg dafür gesehen werden, wie tief das Denken von Menschen(gruppen) und geographischen Gebieten als ein zusammengehörendes Phänomen gesellschaftlich und politisch verwurzelt ist. Wie anhand der UN-Erklärung, aber auch an der bereits angeführten Definition von autochthon als «an indigenous person; an earliest known inhabitant» des OED deutlich wird, tritt das Konzept der Autochthonie unter verschiedenen Bezeichnungen auf. Während es etwa im Deutschen mit den Adjektiven angestammt, alteingesessen oder verwurzelt ausgedrückt wird, ist ihm der Begriff der Indigenität – trotz seiner spezielleren Konnotationen – zu- bzw. unterzuordnen. In der Tat haben die Ausdrücke indigen und autochthon ein komplexes Verwendungsprofil mit teilweisen Überschneidungen, was gleichermaßen für das Deutsche, das Englische wie für das Französische und Spanische gilt. Autochthonie funktioniert dabei als Oberbegriff, während das Adjektiv indigen – insbesondere im Deutschen – andere Frames aktiviert, sodass hier tendenziell Völker evoziert werden, denen man eine natürliche Lebensweise unterstellt, pejorativ daher früher oft als «primitive Völker» bezeichnet, heute eher als «Naturvölker». Der Bezug von Menschengruppe und besiedeltem Gebiet über die kollektive Identität und die Siedlungsgeschichte wird dabei ebenso klar kodifiziert wie in autochthon.23 Im Vergleich der verschiedensprachigen Versionen der UN-Erklärung findet sich indigen in der deutschen Fassung genauso wie in der englischen (Indigenous Peoples) und spanischen Version (pueblos indígenas); die französische Fassung ver-

|| 23 Aufgrund der Einschränkung des Indigenitätsbegriffs auf bestimmte Gruppen, argumentiert auch Zenker (2011, 65) dafür, Autochthonie als «root phenomenon» zu betrachten, während «indigeneity» eher als «a particular version of autochthony» (2011, 68) aufgefasst werden sollte. Ceuppens/Geschiere (2005, 386) sehen ebenfalls «similar implications» in beiden Begriffen: «both notions inspire similar discourses on the need to safeguard ‹ancestral lands› against ‹strangers› who ‹soil› this patrimony, as well as on the right of first-comers to special protection against later immigrants». Gerade über die Bestrebungen der UN seit der Gründung der United Nations Working Group on Indigenous Populations im Jahr 1982 habe sich der Terminus indigen stärker verbreitet als autochthon.

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wendet dagegen ausschließlich die Formulierung peuples autochtones, die anders als indigène im Französischen nicht als pejorativ angesehen wird.24 Durch die Verwendungsweisen ergibt sich also, dass indigen zwar eine ähnliche zeitlich-räumliche Verknüpfung mit Menschengruppen kodifiziert, aber spezieller konnotiert ist. Während je nach Begriff ein allgemeinerer (autochthon) oder speziellerer (indigen) Typus von Gruppe gemeint ist und während der Raum eben das jeweils besiedelte oder beanspruchte geographische Gebiet meint, liegt der Schlüssel in der Art und Weise der Definition des zeitlichen Bezuges zwischen Gruppe und Raum. Da die Historizität und damit das Hauptargument eines mit Autochthonie oder Indigenität begründeten Gebietsanspruchs eine nur schwer definierbare Kategorie bildet, liegt hier bereits eine besondere Problematik des Konzeptes, die auch und gerade mit Blick auf «autochthone Sprachen» im folgenden Abschnitt einer genaueren Betrachtung unterzogen werden soll.

4.2.2.3 Zeitliche Problematik Die den verschiedenen Begriffen von Autochthonie inhärente Problematik ist vielschichtig, doch möchte ich hier besonders zwei Aspekte hervorheben, die mir gerade mit Blick auf die Übertragung des Konzeptes auf Sprachliches von Wichtigkeit erscheinen: Zum einen ist die Definition der zeitlichen Kategorie problematisch, insbesondere in Anbetracht ihrer Schlüsselstellung bei der identitären Verknüpfung von Gruppen und geographischen Gebieten. Zum anderen liegt die Problematik des Konzeptes in der Tatsache, dass Autochthonie dazu dient, einen privilegierten Anspruch auf ein Gebiet zu erheben: Autochthonie umfasst also die (hinterfragbare) Prämisse, «that descendants of the original inhabitants of a country should have privileged rights, perhaps even exclusive rights, to its resources» (Kuper 2003, 390). Historizität steht innerhalb des Autochthoniekonzeptes für eine statische Kategorie. Hatte sie in der mythologischen Ausdeutung des Konzeptes bei den

|| 24 Im geographischen Wörterbuch von Brunet/Ferras/Théry (1992, 252) heißt es zu indigène: «Ne s’applique pourtant qu’à des peuples jugés primitifs, dans des régions exotiques, et a pris de connotations péjoratives: on ne l’applique jamais en Europe». Dagegen bezeichne autochtone zwar «les populations indigènes, mais est considérée comme non péjoratif» (ib., 49). Dem gegenüber steht die synonyme Verwendung der Ausdrücke im Zusammenhang mit der Debatte über die zunehmende Einwanderung von Muslimen, in der Europäer nun mitunter als Autochthone oder auch Indigene bezeichnet werden. So lässt Houellebecq (2015, 55, 68) die Figuren in Soumission, seinem utopischen Roman über ein islamisiertes Frankreich, von einer «guerre civile entre les immigrés musulmans et les populations autochtones d’Europe occidentale» und von Anti-IslamBewegungen mit den Namen «Indigènes de la République» und «Indigènes européens» sprechen.

4.2 Siedlungsgeographie, Raumbezug und Historizität | 105

Athenern noch eine Art «Anfangslosigkeit» bedeutet, d.h. eine Besiedlung des Gebietes, die soweit zurückgeht, dass an einen Anfang keine Erinnerungen bestehen (since time immemorial wie es im Englischen heißt), so sind modernere Verwendungen des Begriffs zwar insofern vorsichtiger, als eine Anfangslosigkeit nicht behauptet wird, doch stellt sich die Kategorie auch hier als eine weitgehend statische dar. Die in der mythologischen Denkfigur begründete quasibiologische Vorstellung einer Gruppe als «Abkömmlinge der Erde» ist – wie gesagt – nicht mehr Gegenstand ernsthafter Überlegungen, jedoch spiegelt sie sich eben in der Statik der zeitlichen Raumbezogenheit einer Gemeinschaft, die dann, wie es in der oben zitierten UN-Erklärung heißt, «ihr» Land «traditionell besessen» (Art. 25) hat. Die «Anfangslosigkeit» der Besiedlung wird also modifiziert zu einer traditionellen Besiedlung, die sich auch in deutschen Ausdrücken wie alteingesessen, herkömmlich oder verwurzelt zeigt. Aufgrund der Tatsache, dass der Faktor Zeit also gerade nicht dynamisch, sondern statisch gedacht wird, ist es auch nur schwerlich möglich, autochthon «zu werden». Beispiele von Gesellschaften, die zugezogene Gruppen nach einigen Generationen als im eigenen Land verwurzelt und damit autochthon auffassen und anerkennen, sind in diesem Zusammenhang nicht Belege für die Dynamik des Konzeptes, sondern unterstreichen vielmehr im Vergleich mit analogen Fällen in anderen Gesellschaften, wie willkürlich und wenig objektivierbar die Maßgabe eines historizitären Raumbezuges tatsächlich ist. Daher urteilt auch Allardt (1996, 343) in seinen Überlegungen zu dem Begriff, «questions about autochthonousness [sic] are basically political in nature». Da mit dem Status meist besondere Rechte einhergehen, kann seine Verleihung, Anerkennung oder Verwehrung zu Konflikten führen. Eine nach objektiven Maßstäben begründbare Festlegung, ab wann eine Gruppe sich als autochthon bezeichnen kann, ist damit unmöglich und könnte allenfalls per Konvention politisch (!) geregelt werden. Wissenschaftlich stellt sich dagegen die Frage der Brauchbarkeit solcher Begriffe. Anders als die Athener dies in der Antike von sich glaubten, lässt sich für die meisten Volksgruppen heute nicht mehr feststellen, ob «wahre» Autochthonie vorliegt: «It is only in rare cases possible to say with a reasonable degree of certainty who were the first ones in a place or, in other words, the real aborigines» (Allardt 1996, 342). Bezogen auf Europa kann dies allenfalls auf einige keltische Siedlungsgebiete auf britischem Boden behauptet werden; selbst bei den Basken wird eine Völkerwanderung vermutet. Insgesamt wird die europäische Siedlungsgeschichte von Migrationen geprägt, die nicht von ursprünglichen Bewohnern reden lassen. Rückt man also ab von der Konzeption der Historizität als «immer schon»Besiedlung und fragt sich, ab wann eine Gruppe als autochthon betrachtet werden kann, dann trifft man auf unterschiedliche, meist ungenaue Definitionen. So

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können Zeitspannen gemessen in Generationen, die eine Gruppe in einem bestimmten Gebiet siedelt, gezählt, oder gar mehrere Jahrhunderte als Maß angesetzt werden. Bei den Soziolinguisten Argemí/Ramon (1996, 351) ist etwa zu lesen, autochthone Gruppen seien «communautés enracinées, depuis des siècles, dans des territoires déterminés, par opposition aux groupes d’immigrés récents ou aux nomades». Ungeklärt bleibt vor allem die Frage, aus wessen Perspektive die «Verwurzelung», also die Assoziation der Gruppe mit dem Siedlungsgebiet, festgestellt wird. Ersichtlich wird an diesem Beispiel jedoch, dass es um die Abgrenzung von Migrantengruppen geht, letztlich also um Konkurrenz um ein bzw. die Dominanz in einem Gebiet.25 Die Kategorie der Historizität stellt sich insofern als problematisch hinsichtlich einer zumindest im Ansatz objektiven Anwendung des Begriffs heraus. Allardt (1996, 343) schlägt daher vor, vorsichtiger mit der Verwendung des Attributs zu sein; weitgehend unproblematisch sei dieses nur in Bezug auf Bevölkerungsgruppen, «that in the present world have no competitors for autochthonousness [sic] in their respective states and regions».

4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» Eine Übertragung des Autochthoniebegriffs auf sprachlich-räumliche Zusammenhänge muss zunächst von Menschengruppen im Sinne von Gemeinschaften mit gemeinsamer Sprache ausgehen. Die in diesem Abschnitt zu beantwortende Frage gilt zum einen dem Weg von der alteingesessenen Sprechergemeinschaft zu der Vorstellung einer «autochthonen» Sprache; zum anderen der Problematik, inwiefern der zeitlich-räumliche Zusammenhang noch über die Sprecher gedacht wird oder Sprachen als unmittelbar mit dem Raum in einer zeitlichen Relation stehend vorgestellt werden. Worin genau liegt nun die Raum(an)bindung von Gruppen und Sprachen begründet? Sprecher und ganze Gruppen können mobil sein, Sprachen können überall verwendet werden; dennoch assoziiert man sie meist mit ganz bestimmten Gebieten. Die Antwort kann folglich nur in der Kategorie der Historizität liegen. Menschen, ebenso wenig wie Sprachen oder einzelne Sprachformen, sind – entgegen der bekannten Metaphorik – keine Pflanzen, die Wurzeln schlagen und mit dem Boden physisch verwachsen sind. Die Verbindung mit dem Gebiet konstituiert sich vielmehr über die Aneignung des Siedlungsraumes durch die Gemein-

|| 25 Denkbar wäre also, dass Autochthonie in «konkurrenzloser» Situation bereits nach «kurzer» Zeit vorliegt, wohingegen in anderen Situationen auch viele Hundert Jahre nicht genügen, um einer Gruppe diesen Status gegenüber einer anderen zuzugestehen.

4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» | 107

schaft (cf. Kapitel 5). Die Historizität des Raumbezuges bildet dabei die wichtigste Grundlage der gesellschaftlichen Konzeptualisierung und Konstruktion des Zusammenhangs von Menschen, Sprachen und Siedlungsgebieten. Die Idee der autochthonen Sprache und eines daraus abgeleiteten Gebietsanspruchs findet sich beispielsweise explizit bei den katalanischen Soziolinguisten Argemí/Ramon (1996) formuliert. Ihnen zufolge beanspruchen Sprechergruppen in verschiedenen Staaten bezogen auf «leurs propres territoires d’origine» (1996, 353) die Anwendung «du principe que chaque langue ait son propre territoire sans partage avec une autre langue» (ib., 354); ein Prinzip also, das nicht nur einen privilegierten, sondern gar einen exklusiven Anspruch beinhalten soll und das sich auf die Sprache, nicht die Sprecher bezieht.26 Gleichwohl steht es in dem Artikel von Argemí/Ramon mit dem Titel Groupes autochtones dominés außer Frage, dass die Metonymie von der «eine Sprache sprechenden Gruppe» («les groupes autochtones seront étudiés par rapport à leur propre langue», ib., 351) zu «eine Sprache» zunächst eine ausdrucksseitige ist. Doch offenbart das besprochene Zitat eine Ambiguität zwischen den möglichen Konzeptualisierungen der geographischen Raumanbindung von Sprachen, die als paradigmatisch für die gesamte Problematik der Raumbezogenheit von Sprache gelten kann und die weder in wissenschaftlichen noch in juristischen Texten gänzlich aufgelöst wird, wie ich nachstehend noch an weiteren Texten zeigen werde. Der kognitive Vorgang der Referenz auf die Gruppe mittels der metonymischen Nennung der «Sprache» lässt sich nachvollziehen, wenn man die Theorie von Lakoff/Johnson (1980, 37) heranzieht, die metonymische Konzepte als «part of the ordinary, everyday way we think and act as well as talk» bezeichnen. Demnach ist die Sprache (und analog dazu auch «ihre» Ausbreitung, «ihre» Verdrängung, «ihr» Gebietsanspruch etc.) dasjenige die jeweilige Gemeinschaft kennzeichnende und daher zu fokussierende Element.27 Die Ambiguität, die aus dieser Verschiebung resultieren kann, hängt auch damit zusammen, dass die Verschiebung «Sprecher → Sprache» als solche gewissermaßen konventionalisiert ist und daher nicht immer kognitiv durchschaut wird – es handelt sich hier um ein metonymisches Konzept «in terms of which we organize our thoughts and actions» (ib., 39). In diesem Abschnitt soll dargestellt werden, wie das zunächst und ursprünglich auf Menschengruppen bezogene Konzept der Autochthonie auf Sprechergemeinschaften angewendet und wie das Attribut der Autochthonie auf eine hypo-

|| 26 Argemí/Ramon (1996, 354) urteilen überdies, es handele sich um «la seule solution juste si véritablement on veut attribuer le même respect à toutes les langues». 27 «[Metonymy] allows us to focus more specifically on certain aspects of what is being referred to» (Lakoff/Johnson 1980, 37).

108 | 4 Die «autochthone Sprache»

stasierte, mitunter anthropomorphe Sprache übertragen wird. Ich gehe dazu auf die spezifischen Kontexte (4.3.1) ein, welche den Rahmen für die Entfaltung des Begriffs in für Sprachen relevante Kategorien (4.3.2) und Funktionen (4.3.3) bilden.

4.3.1 Kontexte In Bezug auf Nationalsprachen, deren Dominanz und Fortbestehen als Kommunikationsmittel durch die staatlichen Institutionen ausreichend gesichert ist, findet sich der Rückgriff auf das Argument der Autochthonie meist nur implizit, wenn es etwa darum geht, Immigranten das Erlernen der Nationalsprache zur Integration in die Mehrheitskultur nahezulegen bzw. dieses gesetzlich vorzuschreiben. So verlangt Frankreich von Immigranten in der LOI n° 2007–1631 du 20 novembre 2007 relative à la maîtrise de l’immigration, à l’intégration et à l’asile, dass diese noch vor einer dauerhaften Niederlassung in Frankreich gewisse Kenntnisse der Nationalsprache und der «Werte der Republik» erlernt haben.28 In welcher Weise dagegen die in der Vergangenheit begründet liegende kollektive Autochthonie auf Sprechergemeinschaften Anwendung findet und auf Sprachen übertragen wird, lässt sich am besten am Beispiel seiner Entfaltung in Texten nachvollziehen, die auf die Gewährung sprachlicher Rechte abzielen. Paradigmatisch gehe ich dazu im Folgenden auf zwei Dokumente ein, welche die räumlich-zeitliche Verknüpfung von Sprachen und bestimmten geographischen Gebieten in ganz ähnlicher Weise definieren: Zum einen ist hier die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen zu nennen, zum anderen ist auch die in der Praxis wohl eher irrelevante Universal Declaration of Linguistic Rights29 von Interesse. Unterstützt vom International PEN Club, von Minderheitengruppen und NGOs wurde die kurz Linguistic Declaration genannte Erklärung einige Jahre nach der Charta, 1996, in Barcelona zur Unterzeichnung aufgelegt. Die Charta und die Linguistic Declaration haben dabei zumindest in der Theorie grundsätzlich verschiedene Ansätze: Während die Charta Sprachenschutz ausgehend von der Perspektive der Staaten (des Europarats) betreibt, wählt die Declaration nach eigenem Bekunden «language communities and not states as its

|| 28 Die Anpassung an die Sprache und Kultur der Republik bedeutet dann eine «‹individualized autochthony›» (Zenker 2011, 71), die nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart einer Mehrheitskultur begründet liegt. 29 Der Text ist zu finden unter (15.12.2012). Ausgangspunkt ist die englische Version, diverse Übersetzungen werden angeboten.

4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» | 109

point of departure» (Präambel).30 Die Prämissen, auf denen die Erklärung aufbaut, decken sich dabei mit den Überlegungen zur Territorialität von Minderheiten und der Notwendigkeit «sprachlicher Schutzzonen» mittels regionaler Autonomie innerhalb der von den Nationalstaaten gesteckten Grenzen: «Considering that the majority of the world’s endangered languages belong to nonsovereign peoples and that the main factors which prevent the development of these languages and accelerate the process of language substitution include the lack of selfgovernment and the policy of states which impose their political and administrative structures and their language» (Preliminaries).

Ferner wird versucht, die angesprochene sprachliche Konkurrenzsituation mit dem Ziel aufzulösen, «to correct linguistic imbalances with a view to ensuring the respect and full development of all languages and establishing the principles for a just and equitable linguistic peace throughout the world as a key factor in the maintenance of harmonious social relations» (Preliminaries).

Der Ansatz der Charta ist diesbezüglich vorsichtiger formuliert: Geschützt werden sollen, immer im «unantastbaren» Rahmen der Nationalstaaten,31 die Sprachen Europas, die dort traditionell verwendet werden, wobei die Nationalsprachen selbst und ihre Dialekte nicht zu berücksichtigen sind (Art. 1a ii). Wenn die Charta dabei explizit angibt, dass der Erhalt von «Regional- oder Minderheitensprachen», wie sie vom Dokument bezeichnet werden, nicht zulasten der Staatssprache(n) gehen darf,32 dann wird ersichtlich, dass es wiederum um Rechte und

|| 30 Sie will sich gewissermaßen als Gegenposition zu den genuinen Interessen von Nationalstaaten gerieren, wenn sie dies u.a. mit der «age-old unifying tendency of the majority of states to reduce diversity and foster attitudes opposed to cultural plurality and linguistic pluralism» begründet. Ganz deutlich durch die Bewegung des Ethnic Revival geprägt, will die Linguistic Declaration, die bis heute nicht den erstrebten Rückhalt der UNESCO erhielt, sprachliche Rechte als universelle Grundrechte etablieren, die überall auf der Welt von den Regierungen entsprechend umzusetzen seien. 31 Dazu heißt es explizit in der Präambel: «Realising that the protection and promotion of regional or minority languages in the different countries and regions of Europe represent an important contribution to the building of a Europe based on the principles of democracy and cultural diversity within the framework of national sovereignty and territorial integrity» (meine Hervorhebung). 32 Cf. dazu z.B. Artikel 8 bezüglich der Schulbildung: «With regard to education, the Parties undertake, within the territory in which such languages are used, according to the situation of each of these languages, and without prejudice to the teaching of the official language(s) of the State: […]».

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Maßnahmen geht, die im bestehenden nationalstaatlichen Rahmen auf die Organisation der Mehrsprachigkeit einwirken sollen, ohne diese dabei zugunsten eines national- oder regionalsprachlichen Monolinguismus zu verändern. Die Konkurrenzsituation von Staats- und Regionalsprachen soll also wiederum Regelungen unterworfen werden, die zu einer friedlichen Ordnung führen. Für beide Dokumente bildet die Annahme einer Beziehung zwischen Gebiet und Sprache bzw. Gebiet und Sprechergemeinschaft unter dem Begriff der Territorialität die Grundlage, welche – soll daraus ein Anspruch auf sprachliche Rechte bzw. eine Privilegierung der regionalen Idiome entstehen – sich ihrerseits argumentativ auf die Prämisse einer räumlich-zeitlichen Verknüpfung unter dem Begriff der Autochthonie stützt.

4.3.2 «Autochthone» Sprechergemeinschaften Unter den in Abschnitt 4.2 herausgearbeiteten Kategorien sind die folgenden Punkte aufzuführen: a) die Kategorie der Gruppe, welche mit dem Gebiet verknüpft wird; b) die Kategorie der (kollektiven) Identität, über welche die Verknüpfung funktioniert und c) die zeitliche Kategorie der Historizität des Raumbezuges. Im Zusammenspiel ergibt sich daraus die das Konzept konstituierende zeitlich-räumliche Verknüpfung einer Gruppe mit einem bestimmten geographischen Gebiet mittels der kollektiven Identität. Es leitet sich die Fragestellung ab, wie diese Kategorien im Falle der Übertragung auf die Autochthonie von Sprachen zum Tragen kommen. In der Linguistic Declaration gestaltet sich die Anwendung des Autochthoniebegriffs auf Sprachen äußerst klar, denn es wird explizit von Sprechergruppen bzw. Sprachgemeinschaften gesprochen. Artikel 1,1 definiert als «language community any human society established historically in a particular territorial space, whether this space be recognized or not, which identifies itself as a people and has developed a common language as a natural means of communication and cultural cohesion among its members».

Sämtliche Kategorien von Autochthonie werden hier explizit genannt und auf sprachlich definierte Gruppen angewendet. Im selben Artikel wird die Autochthonie der Gruppe jedoch zusätzlich übertragen auf die Sprache selbst: «The term language proper to a territory refers to the language of the community historically established in such a space». Daraus geht hervor, dass die Autochthonie der Grup-

4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» | 111

pe gewissermaßen aus sich selbst ihr Attribut auf die von der Gruppe gesprochene Sprache überträgt.33 Sie kann daraufhin auch ohne die Sprecher konzeptualisiert werden und manifestiert sich als eine language proper to a territory, eine «gebietseigene Sprache», wie es in der deutschen Version des Textes heißt.34 Die Linguistic Declaration spaltet die Autochthonie der Gruppe also auf in eine Autochthonie der Sprachgemeinschaft und eine Autochthonie der Sprache selbst. Während die Autochthonie der Sprechergemeinschaft schlicht eine Anwendung des Begriffs darstellt, ist die daraus gefolgerte Autochthonie der Sprache eine metonymische Verschiebung, die als solche jedoch nicht analysiert wird: Zwischen beiden Autochthonien bleibt eine gewisse Ambiguität bestehen (cf. Abb. 13). Begriff der Autochthonie

Autochthonie der Sprechergemeinschaft

konzeptuelle Ambiguität

Autochthonie der Sprache

Abb. 13: Autochthone Gemeinschaft und autochthone Sprache

Im Detail etwas anders stellen sich die Definitionen der einzelnen Kategorien in der Charta dar, wobei dennoch stets eine gewisse Ambiguität zwischen der Autochthonie der Sprechergruppe und der Autochthonie der Sprache selbst festzustellen ist. Zunächst einmal wird – aus politischen Gründen – die explizite Rede von Minderheiten oder Sprachgemeinschaften im Text der Charta vermieden,

|| 33 Das Attribut proper to a territory bezieht sich dabei ausschließlich auf die gewissermaßen «ursprüngliche» Sprache der dort siedelnden Gruppe, wie implizit aus Artikel 6 hervorgeht: «a language cannot be considered proper to a territory merely on the grounds that it is the official language of the state or has been traditionally used within the territory for administrative purposes or for certain cultural activities». 34 So wird auch das Szenario denkbar, dass die Sprecher die «gebietseigene» zugunsten einer «gebietsfremden» Sprache wechseln. Nichts anderes ist gemeint, wenn es im bereits erwähnten katalanischen Sprachgesetz heißt, «la llengua catalana ha estat sempre la pròpia del país i, com a tal, s’ha vist afectada negativament per alguns esdeveniments de la història de Catalunya, que l’han portada a una situació precària», denn das Prekariat des Katalanischen als Sprache der Region besteht natürlich darin, dass viele Katalanen das Kastilische als Muttersprache haben, wie das Gesetz nicht verschweigt: «molts dels ciutadans i ciutadanes del territori de Catalunya tenen com a llengua materna la castellana».

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Definitionen von Sprechergruppen oder Sprachgemeinschaften sucht man also vergebens;35 Ausgangspunkt sind vielmehr die als «Regional- oder Minderheitensprachen» bezeichneten Idiome. Dennoch kann die Charta nicht gänzlich auf die Sprecher der zu schützenden Sprachen verzichten. Diese werden in Artikel 1a jedoch unverbindlicher als Staatsangehörige («nationals») angesprochen, die in einem bestimmten Teil des Staatsgebietes «traditionell» eine bestimmte Sprache sprechen und aufgrund dieser Tatsache eine Gruppe bilden; sie werden im selben Artikel – ganz im Sinne des Autochthoniebegriffs – der Kategorie der Migranten («migrants») gegenübergestellt: «‹regional or minority languages› means languages that are traditionally used within a given territory of a State by nationals of that State who form a group numerically smaller than the rest of the State’s population; […] it does not include either dialects of the official language(s) of the State or the languages of migrants» (Art. 1a).

Als zahlenmäßig kleinere Gruppe verklausuliert, überrascht es kaum, dass – anders als in der Linguistic Declaration – von einer kollektiven Identität der Gruppe nicht die Rede sein kann. Bewusst vermeidet die Charta, der «Gemeinschaft der Sprecher der Sprachen, die sie schützen will, präzise Konturen zu geben» (Lebsanft 2012, 33). Die Kategorie der Historizität ist dagegen ganz deutlich gegeben; sie spiegelt sich in der Voraussetzung der «traditionellen Nutzung» («languages that are traditionally used») einer Regionalsprache wider.36 Eine genauere Maßgabe, die zur Bestimmung von Historizität bzw. Traditionalität herangezogen werden könnte, wird auch hier nicht gegeben, sondern muss der Deutung der ratifizierenden Staaten obliegen. Diese bewusst in Kauf genommene Vagheit, wird auch im juristischen Kommentar des Artikels von Sigrid Boysen betrachtet. Sie bezeichnet die Beschränkung auf die «herkömmlicherweise» gebrauchten Sprachen zwar als «auf den ersten Blick leicht verständlich und subsumierbar» (Boysen 2011, Art. 1, Rn. 13), widmet der Frage der Abgrenzung aber dennoch einen ganzen Absatz:

|| 35 Im Explanatory Report heißt es dazu: «The charter sets out to protect and promote regional or minority languages, not linguistic minorities. For this reason emphasis is placed on the cultural dimension and the use of a regional or minority language in all the aspects of the life of its speakers» (Abs. 11). Zur politischen Problematik des Minderheitenbegriffs insbesondere in Frankreich cf. Lebsanft (2004). 36 Man beachte, dass die (nichtamtliche) deutsche Übersetzung die Formulierung «herkömmlicherweise […] gebraucht» wählt, die ausdrucksseitig die Idee des «Herkommens» bzw. der Herkunft beinhaltet.

4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» | 113

«Im Einzelfall kann indes auch das Kriterium des herkömmlichen Gebrauchs zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen. Dies gilt insbesondere für die Sprachen vor langer Zeit zugewanderter zwischenzeitlich aber vollständig integrierter Bevölkerungsgruppen. Zwar kann auch eine Sprache ausländischen Ursprungs im Lauf der Zeit Teil der Kultur eines Staates werden, die entscheidende Frage ist dann allerdings, ab wann man einen solchen Integrationsprozess für abgeschlossen halten soll. Die Antwort hängt wiederum von den spezifischen Gegebenheiten im Einzelfall und insbesondere davon ab, wie stark sich Sprache und Kultur der zugewanderten Bevölkerungsteile von der dort verankerten Sprache und Kultur unterscheiden» (Boysen 2011, Art. 1, Rn. 14).

Noch deutlicher wird die Tatsache, dass die Charta mit dem Begriff der Autochthonie operiert, wenn man sich ergänzend den beiliegenden Explanatory Report zur Charta anschaut. Schon in der Einleitung wird dort zu den Hintergründen des Dokuments angegeben: «Many European countries have on their territory regionally based autochthonous groups speaking a language other than that of the majority of the population» (Abs. 1).37 Daraus könnte abgeleitet werden, dass die Charta nur einen Autochthoniebegriff kennt, nämlich den auf menschliche Gruppen bezogenen, der auf Sprechergruppen angewendet wird. Gleichwohl erzeugt der Text der Charta ausdrucksseitig eine latente Ambiguität (cf. Abb. 13), denn anstelle eines Gebietes der Sprecher wird stets vom «Gebiet der Sprache» gesprochen und eine Kategorisierung in gebietsbezogene Sprachen und gebietslose Sprachen vorgenommen. So wird in Opposition zu den Sprachen, die traditionell bzw. herkömmlicherweise in einem Gebiet gesprochen werden, die Gegenkategorie der sog. «non-territorial languages» (Art. 1c), definiert als «languages […] which, although traditionally used within the territory of the State, cannot be identified with a particular area thereof», ins Feld geführt. Dadurch wird eine Art der Sprachtypologie erzeugt, die aus sprachwissenschaftlicher Perspektive keinerlei theoretisches Fundament aufweist, sondern «ausschließlich über das Begriffsraster Autochthonie/ Allochthonie [erfolgt]» (Lebsanft 2012, 37). Interessant ist wieder der Vergleich der einzelsprachlichen Fassungen: Während das Englische mit non-territorial recht neutral erscheint, ist im Französischen von «langues dépourvues de territoire» die Rede und bringt das Deutsche mit «nicht territorial gebundenen Sprachen» den Ausdruck der Bindung ein. Der Explanatory Report spricht zudem von einer «territorialen Basis»:

|| 37 Die explizite Nennung des Ausdrucks autochthonous findet sich auch in der französischen Fassung («des groupes autochtones»), während die deutsche Übersetzung den Ausdruck «alteingesessene Einwohner» präferiert.

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«The languages covered by the charter are primarily territorial languages, that is to say languages which are traditionally used in a particular geographical area. That is why the charter seeks to define the ‹territory in which the regional or minority language is used›. It is not only the territory within which that language is dominant or spoken by the majority, since many languages have become minority languages even in the areas where they have their traditional territorial base» (Abs. 33).

Zunächst legt der Absatz zwar offen, dass die «territorial gebundenen Sprachen» dies aufgrund ihres traditionellen Gebrauchs in dem betroffenen Gebiet sind, im letzten Teil des Absatzes wird die angesprochene Ambiguität gleichwohl über das Possessivpronomen their wieder verstärkt, wie auch im Französischen («dans les zones constituant leur assise territoriale traditionnelle») und im Deutschen («innerhalb ihres angestammten Territoriums»), das in Absatz 34 für denselben Begriff auch den Ausdruck «herkömmlichen Standort» verwendet. Was die Schlüsselkategorie der Historizität anbelangt, so ist es interessant, noch einen weiteren, im Zusammenhang mit der Anwendung der Charta stehenden Text hinzuzuziehen: In dem Handbuch von Chylinski/Hofmannová (2011) werden die Sprachensituationen derjenigen Staaten untersucht, welche die Charta bislang noch nicht ratifizierten. Dabei geht es darum, die mit der Definition von «Regional- oder Minderheitensprachen» kompatiblen Sprachen zu benennen, «by outlining their degree of autochthony as well as the official and/or estimated number(s), and main settlement areas, of the persons belonging to the respective minorities» (ib., 12; meine Hervorhebung). Bemerkenswert ist hier wiederum die Darstellung: Während die Autochthonie den Sprachen zukommt, ist die Sprechergruppe eine entsprechende oder zugehörige Minderheit, die eine gewisse Anzahl an Mitgliedern (kollektive Identität) und konkrete Siedlungsgebiete aufweist. Wiederum entsteht also eine Ambiguität zwischen Sprechern und Sprache. Hinsichtlich der Historizität des Raumbezuges ist jedoch entscheidend, dass diese Kategorie gerade nicht als «Anfangslosigkeit» oder «Ursprünglichkeit» konzeptualisiert wird, sondern Autochthonie in der Praxis offenbar graduell bestimmbar ist. Zwar werden keine konkreten Zahlen gefasst, doch lässt sich anhand einiger nur nach dem Vorkommen des Ausdrucks Autochthonie gewählter konkreter Beispiele ein Spektrum extrapolieren:38

|| 38 Wenn im Handbuch nicht explizit von der «Autochthonie einer Sprache» die Rede ist, so wird synonym von der (mehr oder weniger) traditionellen Präsenz der Sprache gesprochen, z.B. hinsichtlich des Deutschen in Belgien: «In Belgium, German has been traditionally present in the territories of the present Germanspeaking Community, of which it is the official language, and the French Community» (2011, 30).

4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» | 115

Zeit

max. autochthon vor Ort entstanden

min. autochthon viele Jahrhunderte



wenige Jahrhunderte

19. Jhdt.

allochthon 20. Jhdt.

Abb. 14: Grade sprachlicher Autochthonie39

Schlicht als autochthon bezeichnet wird etwa das Wlachische in Makedonien, eine heute meist als Aromunisch bezeichnete Varietät des Rumänischen, «although its origins are disputed» (ib., 134). Ungefähr datieren lassen sich hingegen die historischen Ursprünge des Mirandesischen in Portugal, «an autochthonous distinct language which has existed since the twelfth century» (ib., 108), wodurch ein hoher Grad an Autochthonie zeitlich gesehen mit «vielen Jahrhunderten» zu bemessen wäre, wobei die Sprache hier tatsächlich auch vor Ort entstanden ist.40 Eine jahrhundertelange Präsenz liegt dem Handbuch zufolge auch bereits beim Russischen vor, dem man in Estland immerhin eine «traditional presence since the sixteenth century» (ib., 42) attestiert. Dass Autochthonie jedoch in Zweifelsfällen, im Bereich von nur noch «wenigen Jahrhunderten», weniger als absolute denn als relative Kategorie aufgefasst wird, zeigt der Vergleich zwischen der Präsenz zweier neuaramäischer Sprachen in Georgien: Während das Assyrisch-Neuaramäische auf Einwanderer zurückgeht, die seit 1770 und dann bis ins 19. Jahrhundert nach Georgien kamen, gelangte die Varietät der Bohtan («Bohtan Neo-Aramaic»; die Rede ist von der Sprachvarietät, nicht von den Sprechern) erst während des ersten Weltkrieges in das Land und «is therefore to a lesser degree autochthonous in the country than Assyrian Neo-Aramaic» (ib., 51). Bezüglich des Attributs der Autochthonie qualifizieren die Autoren das erst seit dem 20. Jahrhundert verstärkt in Estland gesprochene Finnische entsprechend als «a borderline case», der eine «language of a ‹newly-emerged national minority›» (ib., 42) betreffe. Russland wiederum werden Möglichkeiten aufgezeigt, im Falle einer Ratifizierung der Charta «controversies about the

|| 39 Die graduelle Einteilung der zeitlichen Achse entspricht der Verwendung des Autochthoniebegriffs in Chylinski/Hofmannová (2011). 40 Die in dem Handbuch gemachten Angaben entsprechen freilich nicht einer sprachwissenschaftlichen Beschreibung. Das Mirandesische ist eine romanische Sprache, die dem Varietätenkomplex des Asturleonesischen zugeordnet wird. Was hier als Ursprung bezeichnet wird, ist dabei der ungefähre Zeitpunkt, von dem an man – ausgehend vom gesprochenen Lateinischen – von der Entwicklung eigenständiger dialektaler Züge (Stichwort: Ausgliederung) sprechen kann.

116 | 4 Die «autochthone Sprache»

completeness of a language list, including controversies relating to dialects or the degree of autochthony of a language» (ib., 128) zu vermeiden. Insgesamt werden an diesen konkreten Beispielen mehrere wichtige Gesichtspunkte offenbar: So ist die Ambiguität zwischen Gruppen und Sprachen stets vorhanden, doch wird die Autochthonie einer Sprache mit der Siedlungsgeschichte der Gruppe begründet. Ferner ist das Attribut der Autochthonie ein graduelles und lässt sich nicht dichotomisch fassen. Die Grade von Autochthonie (cf. Abb. 14) können damit nicht als normativ und allgemeingültig aufgefasst werden, sondern bildet nur ab, welches Beurteilungsspektrum von den Autoren des Handbuchs hinsichtlich der Einschätzung der Schutzwürdigkeit verschiedener Sprachen zugrunde gelegt wird. Wie in dem an Russland gerichteten Hinweis deutlich wird, ist Autochthonie als Attribut insgesamt und insbesondere hinsichtlich der Historizität des Raumbezuges einer Gruppe oder einer Sprache hochgradig politisch und nur schwer objektivierbar. Mit Allardt (1996, 343) mag daher konstatiert werden: «In this sense, descriptions of fights and arguments for being regarded as an autochthonous population are in the field of sociolinguistics more relevant than the mere establishment of autochthonousness». Letztlich entfaltet sich also auch im Text der Charta sowie in dessen Interpretation ein trotz der Ausblendung der identitären Kategorie vollständiger Autochthoniebegriff, der auf sprachliche Gruppen Anwendung findet. Dass die Kategorie der Identität dabei ausgeklammert wird, scheint der Tatsache geschuldet, dass man konzeptionell und aus politischen Gründen nicht Minderheiten, sondern Sprachen zum Schutzobjekt macht.

4.3.3 Abgrenzung: «… ni les langues des migrants» Die Grundfunktionen des Autochthoniebegriffs werden besonders dort manifest, wo es um den Erhalt von Sprachen und die Eingrenzung des «Objektbereichs» entsprechender Sprachenschutzprogramme geht. So stellt Georges Lüdi fest: «Or, lorsqu’il est question, en Europe, de la sauvegarde, des droits ou des revendications des langues minoritaires, on tient en général exclusivement compte des minorités linguistiques anciennes» (1990, 113). Daraus ergibt sich Lüdi zufolge gar die Tatsache, dass der Status einer sprachlichen Minderheit «est actuellement, en France et dans beaucoup d’autres pays européens, réservé aux autochtones et refusé aux immigrés» (ib.). Bezüglich der Abgrenzung Autochthonie/Allochthonie betrifft dies in einem ersten Schritt konkret «alteingesessene Sprechergruppen» in Opposition zu allochthonen Gruppen mit «gebietsfremden» Sprachen. In einem zweiten Gedan-

4.3 Autochthone Sprecher und «autochthone Sprache» | 117

kenschritt findet sich diese Abgrenzung metonymisch nicht selten auf die Sprachen selbst übertragen: So wird eine «autochthone Sprache» abgegrenzt von sog. «Migrantensprachen», d.h. Sprachen, die nicht traditionell im betroffenen Gebiet verwendet werden, sondern von Migrationsgruppen «mitgebracht» wurden. Deutlich wird diese Abgrenzungsfunktion sowohl in der Charta als auch in der Linguistic Declaration. Beide Texte weisen eine klare Ausrichtung auf sog. «autochthone Sprachen» auf, womit in erster Linie «gebietseigene» Sprachen, in zweiter Linie aber eben auch sog. «Nomadensprachen» wie das Romanes gemeint sein können, die einen historischen Bezug zum Staatsgebiet haben, ohne sich bestimmten Gebieten zuordnen zu lassen. Am deutlichsten ist diese Ausrichtung im Text der Charta verankert, die schon in der Sprachdefinition in Artikel 1a unter Punkt (ii) anführt, die Definition von «Regional- oder Minderheitensprachen» «does not include either dialects of the official language(s) of the State or the languages of migrants» (fr. «ni les langues des migrants», dt. «noch die Sprachen von Zuwanderern»). Indem sie den Begriff der Autochthonie für sprachpolitische Zwecke operationalisiert, verweist die Charta explizit auf die Gegenkategorie.41 Ein Blick in den Explanatory Report offenbart eine weitere Typologisierung von Sprachen, die eine Einteilung in Sprachen impliziert, die – nur grob auf Europa bezogen – neu und solche, die alt(eingesessen) sind und folglich das Attribut europäisch verdienen: «The charter does not deal with the situation of new, often non-European languages which may have appeared in the signatory states as a result of recent migration flows often arising from economic motives» (Abs. 15).

Im Kommentar zur Sprachdefinition in Artikel 1 werden die Sprachen von Migranten noch deutlicher als «Fremdsprachen» in einen Gegensatz zu den Sprachen der autochthonen Gruppen Europas gestellt. Ich zitiere den Absatz daher vollständig: «The purpose of the charter is not to resolve the problems arising out of recent immigration phenomena, resulting in the existence of groups speaking a foreign language in the country of immigration or sometimes in the country of origin in case of return. In particular, the

|| 41 Weniger explizit, aber nicht minder deutlich ist diese Grundausrichtung schon in der Präambel, in welcher die «protection of the historical regional or minority languages of Europe» zum Ziel erklärt wird; hier ist übrigens die deutsche Übersetzung in ihrer Wortwahl noch sinnfälliger, wenn sie von «geschichtlich gewachsenen Regional- oder Minderheitensprachen Europas» spricht. Die hypostasierten Sprachen werden an dieser Stelle also diskursiv mit dem Kontinent Europa verknüpft, dem Boden – so suggeriert die im Deutschen gewählte Metapher – dem sie entwachsen und auf dem sie gewachsen sind.

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charter is not concerned with the phenomenon of non-European groups who have immigrated recently into Europe and acquired the nationality of a European state. The expressions ‹historical regional or minority languages of Europe› (see second paragraph of the preamble) and languages ‹traditionally used› in the state (Article 1, paragraph a) show clearly that the charter covers only historical languages, that is to say languages which have been spoken over a long period in the state in question» (Abs. 31; meine Hervorhebungen).

Die Linguistic Declaration präsentiert sich zwar explizit als breiter angelegt, integriert jedoch auch nicht alle Arten von Sprachen in ihr Schutzprogramm. So heißt es in Artikel 1,5 zwar noch: «This Declaration considers as a language group any group of persons sharing the same language which is established in the territorial space of another language community but which does not possess historical antecedents equivalent to those of that community. Examples of such groups are immigrants, refugees, deported persons and members of diasporas».

Gleichwohl, und hier tritt die aus der Abgrenzung von Autochthonen und Allochthonen resultierende zweite Funktion des Autochthoniekonzeptes in den Vordergrund, haben nur die Sprachen autochthoner Gruppen einen umfassenden Anspruch auf die von der Declaration propagierten sprachlichen Rechte: «In defining the full range of linguistic rights, it adopts as its referent the case of a historical language community within its own territorial space, this space being understood, not only as the geographical area where the community lives, but also as the social and functional space vital to the full development of the language» (Art. 1,2).

Trotz der Tatsache, dass die Linguistic Declaration in ihre Definition von «Sprachgemeinschaft» u.a. auch die Sprachen von Einwanderern miteinbezieht, während die Charta an analoger Stelle Migrantensprachen aus ihrer Sprachdefinition ausschließt, wird in beiden Dokumenten das Attribut der Autochthonie argumentativ verwendet, um privilegierte (sprachliche) Rechte innerhalb eines Gebietes zu kodifizieren. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass keine klare Trennung zwischen der Autochthonie menschlicher Gruppen und einer Autochthonie von Sprachen gegeben ist und die Grenzen zwischen beiden konzeptuell verwischen, was sich anhand der hier herangezogenen Texte auch auf diskursiver Ebene gut erkennen lässt (cf. Abb. 13). In der Charta und der Linguistic Declaration wird ein nachweislich vollständiger Autochthoniebegriff entfaltet, der alle herausgearbeiteten Kategorien umfasst: Sprechergruppen (oder metonymisch: Sprachen) werden mit bestimmten geographischen Gebieten in einen Zusammenhang gestellt, der seinerseits

4.4 Fazit | 119

über die Kategorie der Historizität begründet wird. Der modernen Auffassung des Begriffs entspricht es dabei, dass Autochthonie nicht mehr «Anfangslosig-» und «Ursprünglichkeit» meint, sondern eine nicht genau definierbare «lange Dauer» umfasst, die graduell als «mehr oder weniger autochthon» Bewertungen unterliegt (cf. Abb. 14) und folglich zum Gegenstand von Interpretationen und Debatten werden kann. Funktionell, das haben die herangezogenen Dokumente ebenfalls deutlich gezeigt, dient das Attribut der Autochthonie zur Abgrenzung von allochthonen Sprechergruppen bzw. deren Sprachen und kodiert einen privilegierten Anspruch auf das Gebiet, mit dem die historische Verknüpfung gegeben ist, bzw. auf besondere Rechte innerhalb dieses Gebietes.

4.4 Fazit «Nur Sprachen, die eine gewachsene Bindung an einen bestimmten Kulturraum aufweisen, pflegen in diesem Kulturraum auch eine Verbindung mit Institutionen des öffentlichen Lebens, der Bildung, der Presse und des Brauchtums einzugehen» (Boysen 2011, Art. 1, Rn. 47).

Sigrid Boysen sieht darin die Begründung für die von der Charta «billigend in Kauf genommene Privilegierung von Territorialsprachen» (ib.). Die Tatsache, dass die meisten Sprachen generell «territorial» sind, wird – wie bereits erläutert – nicht hinterfragt, sondern einerseits siedlungsgeographisch, andererseits über die Historizität des Raumbezuges der Sprechergemeinschaft begründet. Aufschlussreich ist dabei die reiche Metaphorik, die in diesen Zusammenhängen verwendet wird und die nicht nur Bilder von Verankerung (ancrage), sondern auch von (An-) Bindung, Einschreibung (inscription) oder Einpflanzung (implantation) zeichnet und Sprache wie einen Organismus konzeptualisiert, dessen Zusammenhang mit dem Raum historisch wächst. Der in diesem Kapitel beleuchtete Begriff der Autochthonie weist dabei auf die Rolle der Sprechergemeinschaft und ihre Beziehung zum Siedlungs- bzw. in der Folge zum Sprachgebiet. Dabei wurde bereits verschiedentlich deutlich, dass die Verknüpfung von Gemeinschaften und Gebieten ebenso wie von Sprachen und geographischen Gegenden in einem Zusammenhang mit Raumaneignung, Inbesitznahme und sich daraus ableitenden Ansprüchen steht: Wenn das Katalanische als die «eigene» Sprache Kataloniens und der Katalanen bezeichnet wird, weil sie dort ursprünglich «geformt» (forjada originàriament) wurde, dann wird damit der Anspruch auf das Gebiet historisch begründet und die (Wieder-)Aneignung und Privilegierung der Sprache in der Gegenwart legitimiert. Nicht jeder Gebietsanspruch kann allerdings durch Autochthonie begründet werden. Die Position der Frankophonen in den Brüsseler Randgemeinden

120 | 4 Die «autochthone Sprache»

(cf. ausführlich 6.3.2) demonstriert etwa, dass die Tatsache, sich in der Mehrheit zu befinden, den Anspruch auf weiterführende (sprachliche) Rechte gegenüber den autochthonen Flamen begründen soll. Daraus ergibt sich, dass Gebietsansprüche einerseits geschichtlich, d.h. durch das «Autochthonieprinzip», andererseits in der Gegenwart durch das «Mehrheitsprinzip» begründet werden können (cf. Abb. 15). Gebietsbezug Begründung von Gebietsansprüchen

Autochthonieprinzip (historisch gewachsene Bindung von Gemeinschaft und Sprache)

Mehrheitsprinzip (Dominanzverhältnis gegenüber anderen Gruppen in der Gegenwart)

Abb. 15: Autochthonie- und Mehrheitsprinzip

5 Sprachliche Territorialität: Zur Projektion sprachlicher Praxis auf den Raum 5 Sprachliche Territorialität

Als Spanien nach dem Tod Francos im Jahr 1975 den Weg der Demokratisierung (Transición) einschlug und mit der Diktatur auch die institutionelle Unterdrückung der spanischen Regionalsprachen endete, beeilten sich die Vertreter der Autonomen Gemeinschaften (Comunidades Autónomas), per Gesetz zu veranlassen, dass auf ihrem Gebiet die alten, «ursprünglichen», d.h. respektive baskischen, galicischen und katalanischen Ortsnamen überall dort wieder eingeführt werden, wo sie in Zeiten der Diktatur durch spanische Ortsbezeichnungen ersetzt worden waren. Davon zeugt etwa ein vom damaligen Präsidenten der katalanischen Generalitat, Jordi Pujol, unterzeichnetes Dekret von 1980, das festlegte, dass die unter Franco in kastilischer Tradition als Lérida bezeichnete Stadt künftig (wieder) Lleida heißen solle (cf. 6.6.2.1).1 Bemerkenswert ist dabei die Erläuterung des Namenwechsels: «Article únic. – S’autoritza l’Ajuntament de Lérida a canviar el nom d’aquest Municipi pel del seu origen català, que és el de Lleida, el qual correspon a la seva tradició històrica, cultural i literària».2

Insbesondere hier, wo für jedes Mitglied der Gesellschaft klar erkennbar ist, auf welche Stadt der Name Lérida verweist, stellt sich die Frage, warum die Sprache des Ortsnamens für die Sprechergemeinschaften von Regionalsprachen grundsätzlich von so großer Bedeutung ist. Die Funktion von Eigennamen im Allgemeinen und Toponymen im Speziellen ist es, auf Objekte, zu denen sie in einer 1:1Relation stehen, zu referieren und diese auch ohne Kontext zu identifizieren – eine Funktion, die bei der Verwendung der Namen Lérida und Lleida gleichermaßen erfüllt wird. Doch geht die Frage der Toponyme – und darum geht es hier – über die referentielle Funktion von Eigennamen weit hinaus. Im Vordergrund steht vielmehr die symbolische und repräsentative Funktion, welche die Benennung der Orte bei der Konstitution kollektiver Identitäten erfüllt. So ist ein wesentliches Element der Gemeinschaft der Katalanen die katalanische Sprache, welche sie als autochthone, d.h. «gebietseigene» Sprache ansieht.3 Nach dem jahrzehnte-

|| 1 Decret 103/1980, de 23 de juny, que fa referència al canvi de nom del Municipi de Lérida per Lleida, Diari Oficial de la Generalitat de Catalunya (DOGC), Nr. 74, 16.07.1980. 2 Zur Etymologie von Lleida/Lérida cf. Ruhstaller/Gordón Perál (2013, 25). 3 Interessanterweise bezeichnet das Wort comunidad (bzw. kat. comunità) nicht nur eine (Menschen-) Gruppe, sondern kann antonymisch auch auf ein Gebiet verweisen, wie dies etwa bei der

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lang geltenden Verbot, das Katalanische zu sprechen, und der Er- oder Übersetzung aller Namen ins Spanische soll das Gebiet also wieder als katalanischsprachig sichtbar gemacht bzw. markiert werden. Als «Teil des sprachlichen Inventars einer Gemeinschaft» (Debus 1995, 393) ergibt sich der Stellenwert, welcher der Ortsnamenfrage beigemessen wird, damit aus dem Zusammenhang mit identitären und politischen Fragen. In diesem Sinne schreibt sich die Frage der Toponyme in den größeren Kontext der räumlichen Verankerung oder Angebundenheit einer Sprache ein. Wie in Kapitel 4 bereits erläutert, handelt es sich dabei zunächst um einen nicht gegebenen, sondern gedachten Zusammenhang von Idiomen und geographischen Gebieten. Dieser Zusammenhang kann und wird jedoch von den Sprechergemeinschaften bezogen auf das jeweilige Siedlungsgebiet in unterschiedlich starker Weise – bewusst wie unbewusst – konstruiert. Bereits insofern eine Gemeinschaft selbst «territorialisiert» ist, sind es auch die sie prägenden Eigenheiten und kulturellen, darunter auch sprachlichen, Praktiken. Die Verankerung der Sprache kann dabei aber noch verstärkt werden, der gedachte Zusammenhang mit dem Gebiet kann durch das soziopolitische Handeln von Akteuren weiter expliziert und fixiert werden. Die «Territorialisierung» stellt folglich eine Form der Raumaneignung oder -inbesitznahme dar, wie sie am Beispiel von «Lérida vs. Lleida» in doppelter Weise beobachtet werden kann: In der Folge des spanischen Bürgerkrieges wurde Katalonien unter Franco durch die spanische Bezeichnung als spanischsprachiges Gebiet markiert; erst einige Jahrzehnte später erlaubt es die regionale Autonomie den Katalanen, das Gebiet durch die Rückbenennung wieder «für die eigene Sprache» in Besitz zu nehmen. Als Namen, die symphysisch eingebettet und an den Ort «dingfest angeheftet» (Bühler 1934/1999, 159; cf. 3.1.1.1) sind, stellen die hier nur als Beispiel angebrachten Toponyme freilich die (gerade auch visuell) sichtbarsten und auffälligsten Exponenten der Verknüpfung von Sprache und Raum dar. Wird die Herausstellung des Raumbezugs einer Sprache gesellschaftlich und politisch angestrebt, ist die Aneignung durch toponymische Benennung also von besonderer Bedeutung. Die Verankerung einer Sprache im Gebiet der sie sprechenden Gemeinschaft kann im heutigen Kontext der Nationalstaaten als selbstverständlich betrachtet werden. Bei der insbesondere im Modell des französischen Nationalstaates angelegten Grundidee einer Identifizierung von Bevölkerung, Staatsgebiet und Staatssprache, aber auch darüber hinaus, sind National- und Staatssprachen in ihrer Funktion als Amtssprachen in den meisten Fällen vollständig «territoriali-

|| territorialen Gliederung Spaniens in Autonome Gemeinschaften (Comunidades Autónomas) als entidades territoriales der Fall ist.

5 Sprachliche Territorialität | 123

siert», wiederum am deutlichsten sichtbar an der Toponymik. «Normal» erscheint dies gerade in einsprachigen Kontexten, in denen Staatssprachen die einzigen Sprachen der jeweiligen Bevölkerungen sind. Anders verhält es sich in den Gebieten zweisprachiger Bevölkerungen, wo die Staatssprachen Regionalsprachen überdachen und mit ihnen koexistieren. Hier sind die Orte oft ausschließlich in der Staatssprache, selten in der Regionalsprache oder – zunehmend – in beiden Sprachen bezeichnet. Im Zuge des Ethnic Revival ist die Tendenz erkennbar, die regionalen Idiome als «gebietseigene» Sprachen sichtbar zu machen, d.h. stärker zu «territorialisieren». Historisch betrachtet ließe sich für Europa von zwei Phasen der «sprachlichen Territorialisierung» sprechen: Einer ersten Phase, zu situieren im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, geprägt durch die Etablierung und «Territorialisierung» der Staats- und Nationalsprachen, vielfach bei gleichzeitiger Verdrängung der Regionalsprachen und einer zweiten, noch anhaltenden Phase, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann und in der im Rahmen des Ethnic Revival und der Regionalisierung Europas zunehmend das Lokale und Regionale fokussiert wird. Hier ließe sich auch von einer «(Re-)Territorialisierung» der Regionalsprachen sprechen. Was ich hier am Beispiel der Ortsbezeichnungen als Territorialisierung der Sprache skizziert habe, umfasst tatsächlich nicht nur die Frage, in welcher Sprache Beschilderungen auf Orte referieren. Vielmehr geht es um einen Prozess, der die Konstitution und/oder Verfestigung sprachlicher Territorien beschreibt. Es ist besonders hervorzuheben, dass die Bezugsgröße, um die es in diesem Kapitel geht, das sprachliche Territorium, nicht allein die Idiome und deren Raumbezug umfasst, sondern die Sprechergemeinschaften4 als Akteure auf den Plan ruft. Auf der Grundlage der ethologisch beschreibbaren Territorialität von Identitätsgemeinschaften lassen sich Phänomene der Aneignung, Abgrenzung und Markierung von Gebieten gerade auch in Bezug auf sprachliche Praktiken nachvollziehen, die ich als spezifisch sprachliche Territorialität bezeichne. Ziel dieses Kapitels ist es, einerseits sprachliche Territorialität als identitäre Beziehung zwischen einer Sprechergemeinschaft und dem Siedlungsgebiet sowie als Strategie der Raumaneignung zu definieren; andererseits soll das sprachliche Territorium als soziologisch und soziolinguistisch relevante Größe dargestellt und in seinen wesentlichen Charakteristika beschrieben werden. Vorläufig

|| 4 Wie in 1.2.1 definiert, grenze ich Sprechergemeinschaften vom allgemeineren Begriff der Sprachgemeinschaft ab, da der Fokus auf Gruppen liegt, die eine gemeinsame Sprache sprechen, sich mit dieser identifizieren und über ein gemeinsames Siedlungsgebiet verfügen. Für kleinere Gemeinschaften verwende ich den Ausdruck Sprechergruppe.

124 | 5 Sprachliche Territorialität

definiere ich dieses als wahrnehmbar durch den Gebrauch eines Idioms geprägtes oder gestaltetes Siedlungsgebiet einer Sprechergemeinschaft. Die Darstellung erfordert es, einige Konzepte aus anderen Fachdisziplinen für sprachliche Zusammenhänge fruchtbar zu machen: Zunächst wird daher der ethologische Territorialitätsbegriff und der geographische Begriff des Territoriums ausgehend vom Konzept des geographischen Raumes erläutert (5.1). Teil der Diskussion des Begriffs des Territoriums ist eine Besprechung der Begriffe der Territorialität als Verhaltensprinzip und der Territorialisierung, in der das Prozesshafte (gegenüber dem Territorium als Resultat) im Vordergrund steht. In 5.2 wird darauf aufbauend ein Konzept sprachlicher Territorialität und sprachlicher Territorien modelliert. Schließlich wird – ergänzend zur soziopolitischen Konstruktion der territorialen Raumbezogenheit einer Sprache – in einem Exkurs auf die sprachwissenschaftliche bzw. sprachgeographische Konstruktion und Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge eingegangen (5.3).

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium

Will man verstehen, in welcher Weise ein geographischer Raum von einer Sprechergemeinschaft als Gebiet verstanden werden kann, das durch die «eigene» Sprache5 kulturell gestaltet und dadurch zum «Gebiet der Sprache» gemacht wird, so ist es erforderlich, auch jenseits der Linguistik nach Konzepten Ausschau zu halten, welche die (realen und vorgestellten) Zusammenhänge zwischen menschlichen Gruppen, ihren sozialen und kulturellen Praktiken, sowie dem Raum adäquat erfassen. Der Begriff des Territoriums, den ich zu diesem Zweck einbringen will, entstammt der Geographie, wo er insbesondere für die französische und, mit dieser eng verknüpft, die spanische Fachtradition von besonderer Bedeutung ist, während er in den Geographien deutscher und angelsächsischer Tradition zumindest bekannt ist. Anders als in der Gemeinsprache ist der fachsprachliche Begriff, aufbauend auf denselben Texten, sprachübergreifend unter demselben Ausdruck (territoire, territorio, territory, Territorium) etabliert.6 Des Weiteren kann von einem Begriff des Territoriums auch in Bezug auf Konzepte der Biologie und Ethologie – hier oft durch den Ausdruck Gebiet – gesprochen werden, die unter dem Begriff der Territorialität in der geographischen Begriffsbildung zum Teil

|| 5 Mit «eigene Sprache» beziehe ich mich hier auf die Sprache, mit der sich die jeweilige Gemeinschaft kollektiv identifiziert. Zum Begriff der «eigenen Sprache», wie er ausgehend von der katalanischen Soziolinguistik (llengua pròpia) in Spanien verbreitet ist, cf. Kapitel 6. 6 Zu den gemeinsprachlichen Begriffen cf. 2.2.

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 125

berücksichtigt und integriert wurden. Der geographische Begriff bietet somit den umfassendsten Rahmen und soll daher als Ausgangspunkt dienen. Unter dem Begriff «Territorium» werden entsprechend mehrere Teilbegriffe subsumiert, die unterschiedliche Aspekte fokussieren und miteinander in einer untrennbaren Beziehung stehen: So ist das «Territorium» das Produkt eines handelnden Agens (Individuum oder Gemeinschaft), während «Territorialität» auf das zugrunde liegende Prinzip referiert und «Territorialisierung» die Tätigkeit und den Prozess, einen Raum «zum Territorium zu machen», angibt. Wortgeschichtlich betrachtet folgt der heutige Europäismus Territorium, so heißt es etwa im FEW (XIII, s.v. territorium), dem lateinischen Ausdruck TERRITORĬUM, welcher in der Antike «das ackergebiet, das zu einer stadt gehört, dann das gebiet einer stadt überhaupt» bezeichnete, um schließlich zur Bedeutung «verwaltungsgebiet eines comes» zu gelangen. Im Französischen entwickelte sich der lateinische Ausdruck zunächst volkssprachlich zu terroir, welches bis heute eine (affektive) Bindung zum Boden ausdrückt,7 während die Bedeutung «Verwaltungsgebiet» seit Mitte des 18. Jahrhunderts dem neuentlehnten Ausdruck territoire vorbehalten ist. Auch im Spanischen hat sich diese Bedeutung als erste Wortschatzbedeutung etabliert (cf. DRAE, s.v. territorio). Weitere Bedeutungen scheinen infolge der Terminologisierung des Ausdrucks im fachsprachlichen Gebrauch auf die Gemeinsprache zurückzuwirken – wie in diesem Kapitel noch genauer gezeigt wird. Nach einer epistemologischen Hinführung zu dem Begriff (5.1.1) sollen systematisch die Teilbegriffe Territorialität (5.1.2), Territorium und Territorialisierung (5.1.3) erläutert werden. Methodologische Ansatzpunkte werden in 5.1.4 diskutiert. In 5.1.5 werden schließlich die wichtigsten Elemente und Grundannahmen für die darauffolgende Übertragung auf Sprachliches zusammengefasst.

5.1.1 Gegebener, gedachter und repräsentierter Raum Als Jed Martin, der Protagonist in Michel Houellebecqs Roman La carte et le territoire (2010), seine Kunstwerke – auf besondere Weise inszenierte fotographische Abbildungen von Michelin-Landkarten – betrachtet, macht er die nur scheinbar triviale Feststellung, «la carte est plus intéressante que le territoire» (ib., 82). Während der Ausdruck territoire hier nur gemeinsprachlich verwendet wird und || 7 Das FEW (XIII, s.v. territorium) sowie der DHLF (s.v. terroir) führen als Beispiele die Wendungen goût de terroir (1549), sentir son terroir (1596) sowie sentir le terroir (1669) auf. Das Wort bezeichne heute «une région rurale considérée comme la cause des caractères régionaux de ses habitants (accent du terroir, poètes du terroir)» (DHLF).

126 | 5 Sprachliche Territorialität

eigentlich auf den geographischen Raum verweist, verbirgt sich hinter der Aussage die Tatsache, dass Raum in zweierlei Weise betrachtet werden kann: zum einen als materiell gegebene Realität, als «Realraum» oder geographischer Raum, zum anderen als Vorstellung, als gedachter und repräsentierter Raum. Houellebecqs Protagonist findet die kartographische Repräsentation des Realen, also die künstlerische Abstraktion, interessanter und vielschichtiger als das abgebildete Objekt, den realen Raum selbst. Hinter dem wissenschaftlichen Begriff des Territoriums, um den es hier geht, verbirgt sich ein konstruktivistischer Ansatz: Ausgehend vom geographischen Realraum wird gefragt, wie dieser von menschlichen Akteuren angeeignet wird. Hinter dem Begriff der Aneignung verbirgt sich dabei ein weites Spektrum, das von rein ideeller Aneignung bis hin zu konkreteren Praktiken der Inbesitznahme reicht und sich in Repräsentationen, z.B. kartographischer Art, sowie in Strategien der Abgrenzung und Markierung des Raums auch wieder materiell manifestieren kann. Als Territorium wird der materielle Raum dadurch gleichzeitig zum sozialen Raum einer Gesellschaft und zu ihrem Kulturraum, er wird – wie der Geograph Jean-Paul Ferrier (2003, 912) feststellt – zu einer «interface natureculture». Jacques Lévy (2003, 907) weist entsprechend darauf hin, dass der Begriff des Territoriums, epistemologisch betrachtet, der Abgrenzung von verschiedenen Betrachtungsweisen des Raums dient: «On cherche ici à distinguer le réel du concept. Le ‹territoire› correspond à l’espace socialisé, […], à la construction intellectuelle qui permet de le penser».8

5.1.2 Der Begriff der Territorialität Logisch betrachtet geht die auch aus der Tierwelt bekannte Verhaltensweise menschlicher Gruppen und Individuen, sich Räume anzueignen und gegenüber anderen zu markieren und zu verteidigen, dem Territorium voraus. Das (sozial-) geographische Konzept des Territoriums umfasst daher auch den Begriff der Territorialität und verweist damit gleichzeitig auf die in der Biologie erarbeiteten verhaltenstheoretischen Grundlagen. Territorialität referiert dabei nicht nur auf

|| 8 Während Claude Raffestin (1986, 181) das Territorium in diesem Zusammenhang jedoch im Anschluss an Jurij M. Lotman (1990) im Bereich der Semiosphäre (zu verstehen als «l’univers de la production de sens», Lévy 2003, 908) sieht, da es sich ihm zufolge vor allem um eine «sémiotisation de l’espace, espace progressivement ‹traduit› et transformé en territoire» handelt, betont Bernard Debarbieux (2003, 911) dass zwar der angeeignete und gedachte Raum im Vordergrund steht, im Konzept des Territoriums jedoch das Materielle, der reale Raum, enthalten bleibt.

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 127

Verhaltensprinzipien von Individuen und Gruppen, sondern bezieht auch das Handeln von Institutionen mit ein. So wird Territorialität im Lexikon der Geographie als «Strategie von Individuen, Gruppen oder Organisationen verstanden, Macht über einen Raum und die sich in ihm befindenden Ressourcen und Menschen sowie deren Aktivitäten auszuüben. Die Größe des Raumausschnittes kann dabei vom individuellen Privatraum bis zum Staatsterritorium reichen» (LexGeo, s.v. Territorialität).

Der Begriff «Territorialität» umfasst also mehrere unterschiedliche Ausprägungen: Nur in einem engeren Sinn verweist er als sog. «Territorialitätsprinzip» auf die politisch-juristische Form der Raumkontrolle durch einen Staat oder untergeordnete Gebietskörperschaften. In einem weiteren Sinn umfasst er ein Verhaltensprinzip, das sich auf allen Ebenen – vom Individuum über die Gemeinschaft bis hin zu den sie repräsentierenden Institutionen – manifestiert und sich jeweils in bestimmten Formen der Raumaneignung widerspiegelt. So heißt es bei dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Territorialität finde «kulturell verschiedene Ausdrucksformen, die von den speziellen ökologischen und historischen Bedingungen abhängig sind. Diese betreffen die Form der Abgrenzung, Markierung; die Regeln, nach denen anderen Zutritt gewährt werden kann, nicht aber das Prinzip. Im eigenen Gebiet beansprucht eine Gruppe Vorrechte vor anderen, d.h. Dominanz. Innerhalb der Gruppenterritorien beanspruchen Untergruppen (Familien) und Einzelpersonen ebenfalls Raumbezirke, die sie als ihren Besitz markieren – sei es auf Zeit oder auf Dauer» (Eibl-Eibesfeldt 1984, 443).

Der heute in der Geographie verwendete Begriff des Territoriums und der Territorialität greift diese Auffassung auf, wodurch sowohl die ethologischen als auch die politisch-juristischen Bedeutungen integriert werden. Forschungsgeschichtlich ist der Begriff der Territorialität zunächst ein politisch-juristischer bzw. staatsrechtlicher, der von der Ethologie aufgegriffen wurde und schließlich in der Geographie in erweiterter Form Anwendung findet.9 In dieser Form wird also auch die politisch-juristische Territorialität, etwa die Abgrenzung staatlicher Territorien, wiederum als abstrakte Ausprägung genuiner (mithin tierischer) Verhaltensprinzipien integriert, wie dies etwa Robert Ardrey (1966) in seinem berühmten Buch The Territorial Imperative mit dem Untertitel A Personal Inquiry into the Animal Origins of Property and Nations vorgemacht hat.

|| 9 Cf. Sack (1986), cf. auch Lévy (2003). Eine kurze Geschichte des Territorialitätsbegriffs in der Ethologie bietet Raffestin (1981, 129s.).

128 | 5 Sprachliche Territorialität

Zwei Ideen sind dabei besonders hervorzuheben: einerseits die «relation à l’altérité»,10 andererseits die Idee der Raumaneignung: «La conceptualisation initiale du mot ‹territoire› dans les sciences politiques et juridiques, puis sa formalisation en éthologie, ont fait l’une et l’autre (au-delà de leurs différences) la part belle à l’idée que l’appropriation exclusive d’un espace par un individu ou un groupe était une condition de sa nature territoriale» (Debarbieux 2003, 911).

Im Folgenden soll, geordnet nach dem Agens, die Territorialität von Gemeinschaften, Individuen und Institutionen dargestellt werden. Dabei ist Territorialität – vor dem Hintergrund, dass Sprache nicht isoliert beim Individuum, sondern nur in der Gemeinschaft existiert – als eine gruppenspezifische Eigenschaft bzw. Strategie von Interesse, die sich jedoch nicht nur im Handeln einer Gemeinschaft als solche zeigt, sondern sich einerseits ganz konkret im Interaktionsverhalten von Individuen (als Mitglieder der Gemeinschaft) und andererseits im (politischjuristischen) Handeln von Institutionen als abstrakten Repräsentanten von Gemeinschaften manifestieren kann (cf. Abb. 16). Territorialität als Strategie einer Sprechergemeinschaft

im individuellen Interaktionsverhalten im (politisch-juristischen) Handeln von Institutionen

Abb. 16: Die Territorialität der Sprechergemeinschaft

5.1.2.1 Territorialität als Strategie einer Gemeinschaft Die Territorialität einer Gemeinschaft kann mit dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1975, 54) als «raumgebundene Intoleranz» beschrieben werden. Aus tierischem Revierverhalten abgeleitet, lässt sich dieses Verhalten grundsätzlich auch bei Menschengruppen beobachten, insofern diese die Neigung haben, «Land in Besitz zu nehmen und sich auf verschiedenen Ebenen gegen andere ab|| 10 Raffestin (1977, 130): «le système de relations qu’entretient une collectivité, partant un homme, avec l’extériorité».

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 129

zugrenzen» (1984, 418), wie auch der Ausdruck Landnahme nahelegt. Gruppenspezifische Territorialität meint dabei einerseits das raumbezogene Verhalten der Gruppe, andererseits die Beziehung zwischen der Gruppe und «ihrem» Territorium, die sich auch in affektiven «sentiments d’appartenance» (Brunet/Ferras/Théry 1992, 436) zeigen kann. Dahinter steckt die Verknüpfung der Gruppenidentität mit dem beanspruchten Gebiet, woraus sich die Abgrenzung von anderen, «‹lo nuestro› en oposición a ‹lo vuestro›» (Johnston/Gregory/Smith 2000, 562), ableitet: «Menschengruppen entwickeln ein Wir-Gefühl und grenzen sich von anderen oft in Kontrastbetonung über die Entwicklung kultureller Besonderheiten ab. Die gruppenspezifische Norm wird verteidigt» (Eibl-Eibesfeldt 1984, 417).

Der Gebrauch einer bestimmten Sprache stellt dabei als kulturelle Besonderheit und Teil der Gruppenidentität eine solche gruppenspezifische Norm dar, die es zu verteidigen gilt. Insofern wird hier ersichtlich, dass das Beispiel der Ortsnamen im Kontext eines Verhaltensprinzips zu sehen ist, wenn Eibl-Eibesfeldt erläutert, (menschliche) Territorialität äußere sich auch durch die Markierung des beanspruchten Raums, welche dabei unterschiedliche Funktionen erfülle: Während «Symbole an der Peripherie des Gruppenterritoriums sich gegen Gruppenfremde richten» – die Rede ist hier auch von «aggressive[n] Grenzmarkierungen» – vermitteln Markierungen im Zentrum des Territoriums hingegen «Informationen, die Gruppenloyalität und Gruppenidentität bekräftigen» (1984, 442). Eibl-Eibesfeldt liefert damit eine ethologisch basierte Erklärung für die symbolische Funktion von Ortsbezeichnungen. Nur am Rande sei hier auf den «verhaltenstheoretischen Status» von gruppenspezifischer Territorialität hingewiesen: So hält Eibl-Eibesfeldt (1984, 430) Territorialität zwar für eine «anthropologische Konstante», deren Disposition «kulturell sehr vielgestaltige Ausformungen finden [kann], die direkt als ökologische Anpassungen aufgefaßt werden können» (ib., 431). Gleichwohl – offenbar in Anspielung auf Ardreys territorial Imperative – will er Territorialität nicht «als Ausdruck eines fixierten biologischen Imperativs» (ib., 430) aufgefasst wissen. In diesem Sinne stellt auch der Linguist Harald Weinrich (1976, 25) die Frage, «in welchem Umfang und mit welchen Kautelen der zoologische Verhaltensbegriff auf das Sozialverhalten des Menschen (‹Human-Ethologie›) übertragen werden darf». In der Geographie wird eine biologistische Sichtweise klar abgelehnt und die Rede von «Strategien» bevorzugt: «Algunos estudios sobre conducta animal consideran la necesidad de territorio como un impulso o instinto universal. No obstante, se tiende a ver la territorialidad humana como

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la estrategia a través de la cual los individuos y grupos ejercen su control sobre una parte determinada del espacio» (Johnson/Gregory/Smith 2000, 562).

Es wird betont, dass es sich bei menschlichem Territorialverhalten um ein gesellschaftliches Phänomen handelt, das im Zusammenhang mit der Ausbildung kollektiver Identität zu betrachten ist: «La territorialité [humaine] ne saurait se confondre avec cette défense élémentaire de l’espace animal nécessaire à la survie: l’identification est apprise par le processus de socialisation, elle relève de la psychologie collective et contribue à fonder l’identité du groupe» (Brunet/Ferras/Théry 1992, 436).

Im Vordergrund steht bei der Anwendung des Begriffs in der Geographie das Prinzip, nach dem eine Gruppe durch die Markierung von Grenzen einen Raum in Besitz nimmt, sich mit diesem Raum identifiziert, ihn kontrolliert und in der Folge gegen Fremde verteidigt. Di Méo (1998, 50) folgert daher: «que cette façon expéditive, primaire et violente de réguler le social par l’exclusion dont il porte le germe constitue un héritage bien vivant et bien réel, toujours d’actualité, de la composante éthologique et animale du territoire. Il ne faut chercher rien de plus dans les leçons de l’éthologie».

5.1.2.2 Territorialität im individuellen Interaktionsverhalten Die Territorialität, die eine Gruppe in Bezug auf den von ihr angeeigneten Raum ausübt, zeigt sich auch «im Kleinen», d.h. im Verhalten der Individuen. Individuelle Territorialität kann dabei analytisch betrachtet zweierlei bedeuten: einerseits die Aneignung eines eigenen, individuellen «Reviers», andererseits die Verteidigung des Gebietes der Gemeinschaft, als deren Mitglied sich ein Individuum betrachtet. Ersteres, die individuelle Territorialität, zeigt sich sichtbar im Einzäunen des Grundstücks oder auch in dem Anspruch auf einen Rückzugsraum, etwa ein eigenes Zimmer des Kindes im Elternhaus: «Selbst innerhalb der Familie hat jeder Mensch noch seine kleinen Hoheitsbezirke. Schärfer umgrenzt sind die Gebiete, die jede Familie ihr eigen nennt. Wohnung und Garten sind durchaus Areale, in denen wir Revieransprüche vertreten, und auf dieses natürliche, d.h. in unserer Anlage begründete Recht nimmt auch der Gesetzgeber praktisch überall Rücksicht. […] Zäune und Verbotszeichen verkünden unseren Rechtsanspruch. […] Jede Überschreitung von Reviergrenzen erfordert besondere Zeremonien, soll sie ungestraft erfolgen. Selbst wenn wir Freunde besuchen, befolgen wir bestimmte, im Grunde aggressionsbeschwichtigende Rituale, z.B. des Geschenkeüberreichens, die ihre Parallelen in den beschwichtigenden Grußritualen der Tiere finden» (Eibl-Eibesfeldt 1999, 769).

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 131

Wenn es an anderer Stelle heißt, der Mensch achte unter anderem «auf die Einhaltung von Individualdistanzen» (Eibl-Eibesfeldt 1984, 443), so ist der individuellen Territorialität auch das aus der sprachlichen Pragmatik bzw. der Höflichkeitsforschung bekannte Konzept des face zuzuordnen, den Brown/Levinson (1990) von dem Begriff Goffmans (1967) ableiten und bei dem es ebenfalls um die Einhaltung und Verteidigung von «Individualgrenzen» in der verbalen und nonverbalen Interaktion geht. Dieser Zusammenhang wird explizit, wenn Brown/ Levinson annehmen, das Prinzip des face sei universal, die Ausprägung hingegen kulturell bestimmt: «Furthermore, while the content of face will differ in different cultures (what the exact limits are to personal territories, and what the publicly relevant content of personality consists in), we are assuming that the mutual knowledge of members’ public self-image or face, and the social necessity to orient oneself to it in interaction, are universal» (Brown/Levinson 1990, 61s.).

Höflichkeit (hier: negative politeness) ist in der Folge nichts anderes als ein Verhalten, das darauf abzielt, Grenzüberschreitungen zu vermeiden oder, im Falle von notwendigen Überschreitungen, deren Folgen durch «aggressionsbeschwichtigende Rituale» (Eibl-Eibesfeldt 1999, 769) zu minimieren. Diese Form der Höflichkeit sei in Bezug auf den Interaktionspartner daher «essentially avoidancebased» mit dem Ziel, «to maintain claims of territory and self-determination» (Brown/Levinson 1990, 70). In der Interaktion kann sich in gleicher Weise auch die Verteidigung der gruppenspezifischen Territorialität manifestieren, wenn etwa das Eindringen eines «Fremden» in das Gebiet der Gruppe oder auch die Abweichung von gruppenspezifischen (z.B. sprachlichen) Normen durch Individuen sanktioniert wird, die den Gebietsanspruch der Gemeinschaft oder die Achtung ihrer kulturellen Besonderheiten als verletzt betrachten.

5.1.2.3 Territorialität im Handeln von Institutionen Aus der Territorialität von Gemeinschaften, die sich gesellschaftlich organisieren und Institutionen bilden, leitet sich schließlich auch das Handeln von Institutionen ab. In der staatlichen Ordnung gelten die staatlichen oder regionalen Behörden als Institutionen, welche die territorialen Ansprüche der Gemeinschaft auf der Grundlage der staatlichen Souveränität durchsetzen. Staatliche Souveränität bedeutet, dass der Staat als die die Gemeinschaft repräsentierende Autorität einen exklusiven Gebietsanspruch ausübt, womit sich wiederum von «raumgebundene[r] Intoleranz» (Eibl-Eibesfeldt 1975, 54) sprechen ließe. Das staatlichen Hoheitsgebieten zugrundeliegende politisch-juristische Konzept von Territorialität wird manchmal auch als Territorialität par excellence

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definiert: «Cette définition renvoie au sens le plus ancien et longtemps le plus courant, celui d’un espace correspondant à la logique de l’État, avec son exhaustivité interne et ses frontières externes» (Lévy 2003, 907s.). Entsprechend heißt es bei Di Méo, die «territorialité d’une loi, d’un pouvoir, renvoie au principe d’un contrôle politique exhaustif de l’aire où ils s’appliquent. Elle repose sur l’existence d’une autorité, légitime ou non, continûment effective sur un espace donné» (2003, 919). Das Gebiet wird somit zum Machtraum einer Autorität bzw. zum Geltungsraum eines Gesetzes. Als Agens dieser Form von Territorialität treten also (abstrakte) Institutionen auf, vom Nationalstaat bis hin zu kleineren Gebietskörperschaften, denen die Kontrolle über ein genau definiertes Gebiet bzw. gesetzgeberische Kompetenzen im jeweiligen Gebiet obliegen. Regelt eine Region wie Katalonien den Gebrauch von Ortsnamen, dann macht sie bezogen auf ihren Zuständigkeitsbereich von den Kompetenzen Gebrauch, die ihr in diesem Bereich abgeleitet aus der Souveränität des Staates zugebilligt worden sind, und verteidigt gewissermaßen die gruppen- und damit auch gebietsspezifische Norm: die llengua pròpia.

5.1.3 Territorium und Territorialisierung Zentral mit Blick auf die Beschreibung «sprachlicher Territorien» ist es nun, den Begriff des Territoriums, als «consecuencia de la puesta en práctica de su territorialidad» (Johnston/Gregory/Smith 2000, 562) in seiner vollen konzeptionellen Breite darzulegen und seine wesentlichen Elemente zu benennen. Analog zum Begriff der Territorialität finden sich zum Begriff des Territoriums ethologische wie auch spezifisch juristische Definitionen. Darüber hinaus weisen jedoch die meisten Autoren und Fachlexika auf eine Begriffsbestimmung hin, die das Territorium als ein umfassendes Phänomen beschreibt, welches eine ethologische und eine politisch-juristische Definition nicht als verschiedene Begriffsbildungen, sondern als aufeinander bezogene Perspektiven eines weiten Bedeutungsspektrums konzipieren. Dieser Ansatz entspricht einer geisteswissenschaftlichen Konzeption, die interdisziplinär entstand und ihren Sitz heute in der modernen Sozial- und Regionalgeographie hat. Die wichtigste Charakteristik des Territoriums besteht darin, dass es sich um einen angeeigneten Raum handelt, der von einem Agens kontrolliert wird, wobei Aneignung unterschiedliche Ausprägungen haben kann, um die es im Einzelnen noch gehen wird. Die Gesichtspunkte Aneignung und Raumkontrolle finden sich in sämtlichen Definitionen wieder. So entsteht das Territorium aus dem (geographischen Raum) erst durch Aneignung: «En la apropiación y transformación del espacio, los distintos agentes lo territorializan o producen el territorio»

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 133

(Fontanillo Merino 1986, 387). Hier wird auch der konzeptionelle Unterschied deutlich, der zwischen «Territorium» und «geographischem Raum» gemacht wird. Entsprechend erläutert auch der Dictionnaire critique: «Le territoire implique toujours une appropriation de l’espace: il est autre chose que l’espace. [… I]l y faut quelque chose de plus, et d’abord les sentiments d’appartenance (je suis de là) et d’appropriation (c’est à moi, c’est ma terre, ou mon domaine)» (Brunet/Ferras/Théry 1992, 436).

Metawissenschaftlich konstatiert Debarbieux (2003, 911) diesbezüglich zu Recht, «[l]a référence à l’appropriation constitue un leitmotiv des utilisations du concept de territoire». Doch was bedeutet Aneignung konkret und welche Ausdrucksformen kann sie in einem umfassenden Konzept des Territoriums annehmen? Zwischen ethologischer und politischer Dimension hält Debarbieux verschiedene Konzeptionen von Aneignung fest: «Dans un cas, elle s’exprime au travers de la souveraineté politique, dans l’autre, par l’agressivité [sic]. L’inscription plus récente du concept de territoire dans les autres sciences sociales et en géographie en particulier, s’appuie souvent sur une acception plus ‹molle› et pacifique de la notion d’appropriation: les individus et les collectifs sociaux s’approprient des territoires sur des registres essentiellement cognitifs ou symboliques, sans déployer, le plus souvent, de dispositifs de contrôle et de défense qui définissent le sens ‹dur› de l’appropriation» (Debarbieux 2003, 911).

Als «harte» Form der Aneignung ist zweifellos das offensichtlichste Vorgehen, namentlich die Definition von Grenzen zu nennen, wie sie am deutlichsten bei der Etablierung von Staatsgrenzen zutage tritt. Der Begriff der Grenze kann jedoch auch weiter gefasst werden: «Esta noción [de límite] explica la relación que mantiene un grupo con una porción del espacio. La acción de este grupo genera inmediatamente la delimitación, como ocurre en los estados donde las fronteras son las que determinan el área territorial de estos» (Fontanillo Merino 1986, 387).

«Weichere» Formen der Aneignung und Begrenzung im Rahmen der «registres essentiellement cognitifs ou symboliques» (Debarbieux 2003, 911) sind konzeptionell zwangsläufig weniger konkret fassbar. So stellt Lévy generell fest, «qu’il existe une multitude d’appropriations, individuelles, collectives, communautaires, organisationnelles, institutionnelles», welche ihrerseits «des rapports spécifiques d’appartenance réciproque entre l’habitant et l’espace habité» (Lévy 2003, 908) beinhielten. Lévy bietet damit die weiteste Definition von Aneignung an, die den Vorteil bietet, gerade die von Debarbieux angesprochenen kognitiven und symbolischen Formen zu integrieren. Der Austausch des Ortsnamens Lérida durch Lleida

134 | 5 Sprachliche Territorialität

kann in diesem Sinne als (Wieder-)Aneignung des Raumes interpretiert werden, als puesta en práctica der Territorialität der katalanischen Sprechergemeinschaft, denn – wie Lévy klug anmerkt – «[d]énommer, c’est déjà s’approprier». Die Gesichtspunkte Aneignung und Begrenzung werfen die Frage des Zwecks auf, die indessen nicht von allen Autoren explizit aufgegriffen wird. Hinsichtlich der politischeren Formen der Raumaneignung kann die Absicht, Gebiete durch Grenzziehung in Besitz zu nehmen, ihre Grenzen zu wahren und den Raum zu kontrollieren, unmittelbar auf die Ausübung von Macht bezogen werden.11 In einem ethologischeren Sinn, und hier lässt sich ja auch die Funktion institutioneller Raumkontrolle integrieren, dient die Aneignung und Abgrenzung von Territorien einerseits dazu, «sowohl innerhalb der Gruppe als auch zwischen Gruppen dauernde Konflikte zu vermeiden» (Eibl-Eibesfeldt 1984, 443). Andererseits geht es um die Sicherung der Eigenheiten einer Gruppe. Raumabgrenzung und -kontrolle dienen dann der Exklusion, womit ein «hier vs. dort», «wir vs. die anderen» und «unser vs. deren», also das Gegenüber von Identität und Alterität(en) «in Kontrastbetonung über die Entwicklung kultureller Besonderheiten» (Eibl-Eibesfeldt, 1984, 417) entsteht. Abgrenzung und Kontrastbetonung sowie die Herausbildung von kollektiver Identität sind zwei sich gegenseitig bedingende Phänomene: Durch das Zusammenleben entwickeln sich kulturelle Besonderheiten, welche in der Folge den Kontrast zu «Anderen» verstärken. Gemeinsame kulturelle Praktiken die durch das abgegrenzte Zusammenleben zu den kulturell das Gebiet prägenden Merkmalen werden können, führen schließlich dazu, dass eine Gemeinschaft ihre kulturellen Besonderheiten mit dem Gebiet assoziiert. Deshalb kann das gruppenspezifische Idiom zur Sprache des Gebietes werden, ebenso wie aus der Autochthonie der Gruppe die Autochthonie der Sprache abgeleitet wird (cf. Kapitel 4). Im Dictionnaire critique wird in diesem Fall von «Projektion» gesprochen: «Le territoire tient à la projection sur un espace donné des structures spécifiques d’un groupe humain, qui incluent le mode de découpage et de gestion de l’espace, l’aménagement de cet espace. Il contribue en retour à fonder cette spécificité, à conforter le sentiment d’appartenance, il aide à la cristallisation de représentations collectives […]» (Brunet/Ferras/Théry 1992, 436).

Die Herausbildung kollektiver Identitäten und ihre Verknüpfung mit dem Territorium der Gruppe können schließlich in Repräsentationen einer «territorialen Identität», gar einer «Identität des Territoriums» kulminieren:

|| 11 Dazu Raffestin (1981, 168): «L’espace est un enjeu du pouvoir tandis que le territoire est un produit du pouvoir».

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 135

«On évoque l’identité du territoire quand on cherche à mettre en évidence les données concrètes d’un espace géographique, son site, son patrimoine, les caractéristiques culturelles partagées de ses habitants» (Guérin-Pace/Guermond 2006, 289).

Das Territorium wird dann zum «support identitaire» oder «producteur d’identité» (ib.), wobei die Frage der «territorialen Identität» wissenschaftlich schwer belegbar ist und weitgehend im Bereich «du sentiment et de l’impression subjective» (Guermond 2006, 292) verbleibt. Die Absicherung oder Verteidigung solcher caractéristiques culturelles partagées als gruppenspezifische Normen gegenüber Anderen kann schließlich, auf einer höheren Ebene, durch – freilich von der Gemeinschaft «eingesetzte» – Institutionen wie Staaten oder regionalen Gebietskörperschaften auch politisch kontrolliert und sichergestellt werden:12 «la signification politique du territoire traduit un mode de découpage et de contrôle de l’espace garantissant la spécificité, la permanence et la reproduction des groupes humains qui l’occupent» (Di Méo 1998, 50s.).

Ein solches politisches Territorium «verfestigt» sich, wie Di Méo betont, «dans la durée» (1998, 51) und unterliegt kollektiven Repräsentationen: «les groupes sociaux localisés élaborent dans la longue durée (historique) des représentations territoriales vivaces, fondées sur le substrat de leur espace social et de leur espace vécu. Réactualisées ou plutôt réinventées par les sociétés d’aujourd’hui, héritières des lieux et de leur histoire, ces représentations produisent d’étonnantes médiations identitaires et définissent des rapports à l’altérité qui renforcent incontestablement la cohésion socio-spatiale» (Di Méo 1998, 58).13

Da diese Repräsentationen zudem Objekt von «idéologie et manipulation, représentation, fabrication sociale de caractère politique et épreuve de force» (Di Méo 1998, 51) seien, zeichnet sich hier bereits ab, welche Rolle der Sprache als raumbezogene spécificité für die Verfestigung kollektiver Identitäten, ihre diskursive

|| 12 Dass Nationalstaaten oder regionale Institutionen sich in den Dienst solcher Bestrebungen stellen (sollen) bzw. explizit zu diesem Zweck geschaffen werden, ist keine Seltenheit. Man denke an die Staatsgründungen, Gebietsabspaltungen und Forderungen nach regionaler Autonomie, die durch das Selbstbestimmungsrecht der Völker und/oder ethnische Gründe legitimiert werden. 13 Als Beispiel können hier die von dem französischen Historiker Pierre Nora in seinem dreibändigen Opus beschriebenen Lieux de mémoire (1984–1992) genannt werden. Seiner Idee zufolge ist das kollektive Gedächtnis von sozialen Gruppen besonders sinnfällig mit bestimmten Orten, sog. «Erinnerungsorten», verknüpft.

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Überhöhung und die politische Begründung von Autonomie- oder Unabhängigkeitsansprüchen zukommt. Der Begriff des Territoriums, soviel wird aus dem bisher Gesagten deutlich, referiert materiell betrachtet auf einen geographischen Raum in seiner Bedeutung für eine (Siedlungs-)Gemeinschaft. Als Objekt kollektiver Repräsentationen stellt das Territorium folglich eine gesellschaftliche Konstruktion dar, welche einen «type de rapport à l’espace propre à plusieurs individus, à un groupe ou à plusieurs groupes» (Di Méo 1998, 51) widerspiegelt. Als gesellschaftliches und gerade nicht naturwissenschaftlich beschreibbares naturräumliches Phänomen offenbart sich der konstruktivistische Charakter vor allem in der Prozesshaftigkeit und Dynamik, die der Entstehung und dem Fortbestehen von Territorien zugeschrieben wird. Dem wird mit dem Teilbegriff der Territorialisierung eigens Rechnung getragen. Im Zusammenhang einer «weichen» Aneignung des Raumes bleibt auch hier die Beschreibung des Vorgangs recht unkonkret und wird von Di Méo als «Bedeutungsaufladung» bzw. «Sinnstiftung» (signification) des Raumes durch die Akteure beschrieben: «Pour que ces lieux [= der noch nicht angeeignete Raum] deviennent territoire, il faut que les acteurs les signifient conjointement, à la fois en tant qu’individus (psychés) et qu’êtres sociaux définissant les mêmes enjeux, se livrant aux mêmes usages et formant les mêmes représentations de l’espace» (Di Méo 1998, 55).

Debarbieux (2003, 912) spricht daher ebenfalls von einem «processus donné, toujours singulier et endogène, de construction collective». Hinsichtlich der politischen, «harten» Form der Raumaneignung sind die Maßnahmen seitens der den Raum kontrollierenden Institutionen konkreter fassbar und entsprechen, bezogen auf Nationen, letztlich dem von Benedict Anderson (1983) skizzierten Programm einer ebenfalls konstruktivistisch konzipierten imagined community. Einerseits können sich diese diskursiv, etwa über Schullektüren wie Georges Brunos Le tour de la France par deux enfants von 1877, oder generell in der Propagierung von Ideologien äußern: Beispiele wären etwa die französische Nationalideologie, der zufolge Bevölkerung, Hoheitsgebiet und Nationalsprache gleichgesetzt sind oder der franquistische Leitspruch ¡Una, Grande y Libre!, der die Repräsentation eines geeinten spanischen Territoriums (una), kolonialer Ansprüche (grande) und Unabhängigkeit gegenüber Fremdeinflüssen («Alteritäten», libre) kodierte. Ferner wird der Zusammenhang zwischen Gemeinschaft (Nation) und Gebiet auch über geographische und kartographische Werke vermittelt, wofür in Frankreich die Tradition des Tableau de la France, verkörpert durch Jules Michelet, und das berühmte Tableau de la géographie de la France von Paul Vidal de la Blache stehen, mit denen der Bevölkerung die Diversität und gleichsam der Zusammenhang und die Einheit des nationalen Territoriums

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 137

nahegebracht werden sollten.14 Andererseits kann sich der «processus d’imposition territoriale» (Di Méo 1998, 50) auch ganz konkret in der Etablierung von Grenzmarkierungen wie Zäunen oder Mauern, Übergangszonen, Flaggen und anderen gruppenspezifischen Symbolen manifestieren. Während solche konkreten Äußerungsformen vermeintlich dauerhafter Natur sind, ist gerade die diskursive Territorialisierung eines Siedlungsraumes ein «processus en perpétuelle évolution» (Raffestin 1981, 168), man spricht daher auch von «Aktualisierung» oder «Reproduktion» des Territoriums. Territorium ist folglich nicht gleich Territorium. Vielmehr kann der Grad der Territorialisierung divergieren. Wie deutlich der identitäre Bezug einer Gruppe zu ihrem Siedlungsgebiet zutage tritt und inwiefern sich dieser in expliziten Repräsentationen manifestiert sowie die Frage, ob und in welchem Maße diese Territorialisierung institutionell «gestützt» ist, ist in jedem Fall unterschiedlich. Di Méo spricht daher von «Festigkeit» und «Lesbarkeit»: «C’est bien entendu le nombre, la densité de tels accords, l’intensité de leur conviction partagée qui déterminent la solidité ou la fragilité, la lisibilité plus ou moins nette et la stabilité plus ou moins affirmée d’une construction territoriale» (Di Méo 1998, 55).

Klar «lesbar» und somit Indizien für einen hohen Grad der Territorialisierung sind freilich alle konkret sichtbaren und in den Raum «eingepflanzten» Artefakte, wie die oben genannten. Der Toponymie kommt insofern eine herausragende Rolle bei der Beschreibung von Territorien zu, da es sich um einen greifbaren Bezug handelt. Metaphorisch bezeichnet Di Méo Ortsbezeichnungen daher als «frémissements de sens qui agitent la face de la terre» (1998, 55), welche auf einzigartige Weise den Bezug von Gesellschaften und Boden widerspiegeln: «noms de lieux attribués et mis en scène, créés de toute pièce ou exhumés, signes multiples produits par les sociétés et projetés sur l’espace, discours de tous ordres impliquant ou associant le social et le spatial, enjeux, conflits et projets les concernant d’une quelconque façon… Le territoire se signale souvent à l’observateur éclairé par un bouillonnement autour de certains noms de lieux, par une effervescence sociale aux colorations changeantes, caractérisées selon les circonstances par des dominantes politiques, économiques ou culturelles» (Di Méo 1998, 55).

Mit Raffestin (1977, 32) lässt sich schließlich festhalten, dass Ortsnamen als sichtbare Artefakte eine Landschaft bilden, durch welche sich die Territorialität

|| 14 Die Einheit Frankreichs wird dabei durch ihre Personifizierung zu einem «geographischen Wesen» ausgedrückt: «[…] nous répétons volontiers ce mot de Michelet: ‹La France est une personne›» (Vidal de la Blache 1903, 7).

138 | 5 Sprachliche Territorialität

einer Gemeinschaft zu erkennen gibt: «le paysage est la structure de surface alors que la territorialité est la structure profonde».

5.1.4 Operationalisierung Es stellt sich nun die Frage der konkreten Beschreibung und Operationalisierung des Konzeptes, vor allem mit Blick auf die Fragestellung dieses Kapitels. Es geht mit anderen Worten darum, wie die structures spécifiques d’un groupe humain bzw. bestimmte caractéristiques culturelles partagées als konstitutiver Teil der Gruppenidentität auf den Raum projiziert werden, Sprache damit zum Symbol der Territorialität der Gruppe und die Sprache selbst mithin als «gebietseigen» wahrgenommen, also territorialisiert wird. Ein anschlussfähiger Ansatz findet sich bei Debarbieux: Auf der «double nature, matérielle et symbolique, du territoire» (2003, 911) aufbauend unterstreicht er, dass das Konzept nicht auf die Ebene der Repräsentationen reduziert werden darf. Vielmehr sei zwischen drei caractères bzw. natures des Territoriums zu unterscheiden, nämlich «ses caractères objectifs, subjectifs et conventionnels»: – Das Materielle: «Sa nature objective ou objectivable est celle de sa matérialité et celle de la matérialité des pratiques dont il est tout à la fois, un produit, le support et l’objet» (2003, 912). Dies bezieht sich einerseits auf den geographischen Raum und kann andererseits auf die «Materialität» kultureller und insbesondere sprachlicher Praktiken bezogen werden; die kommunikativen Austausche in der jeweiligen Sprache ebenso wie die Sprecherdichte werden auf diese Weise objektivierbar; ferner sind sprachliche Artefakte, etwa jede Form der Beschilderung und die Toponymik als linguistic landscape (cf. 5.2.2.3) materieller Natur und insofern ebenfalls objektivierbar. – Das Konventionelle: Hierunter ist zu verstehen, dass eine Gruppe ihr Territorium in einem «processus donné, toujours singulier et endogène, de construction collective» (2003, 912) erschafft und das Territorium damit Teil «d’une représentation auto-référencée et identitaire du groupe» (ib.) bzw. «de leur conviction partagée» (Di Méo 1998, 55) wird. Diese Repräsentationen basieren auf Konventionen, also gemeinsamen Vorstellungen über die Beschaffenheit und Charakteristik der Gruppenidentität und des Raumes: «C’est à la faveur des conventions dont il est l’objet et de la très forte charge symbolique dont il est souvent porteur, qu’un territoire acquiert une valeur emblématique pour le groupe dont il est le territoire: le groupe s’affiche par le territoire qu’il revendique» (Debarbieux 2003, 912). In den Bereich des Konventionellen gehören also auch kollektive Repräsentationen der Verknüpfung von gruppenspezifischer Sprache und dem angeeigneten Raum,

5.1 Vom geographischen Raum zum Territorium | 139



der Sprache als Bestandteil der Identität der Gemeinschaft ebenso wie der «Identität des Gebietes». Das Subjektive: Die Untersuchung von Territorien als Untersuchung der Beziehung zwischen einer Menschengruppe und dem von ihr angeeigneten Raum legt es nahe, zusätzlich zu einer Beschreibung «von oben» auch die Perspektive des Individuums bzw. des erfahrenden Kollektivs zu berücksichtigen. Diese subjektive Perspektive auf das Territorium «est celle de l’expérience individuelle (sensible, affective, symbolique) qu’il rend possible» (Frémont 1974, 231). Wenn der französische Geograph Armand Frémont geltend macht, «[l]a région [= le territoire] est aussi, elle est peut-être même essentiellement, une réalité vécue, c’est-à-dire perçue, ressentie» (ib.), dann muss hinsichtlich der Untersuchung sprachlicher Territorien auch die Frage gestellt werden, inwiefern die Sprecher ihre unmittelbare Umgebung als Sprachraum, d.h. als Territorium «ihrer» Sprache wahrnehmen und erleben (können).

5.1.5 Zusammenfassend Das in diesem Abschnitt diskutierte Konzept des Territoriums mit seinen Teilbegriffen Territorialität und Territorialisierung erweist sich durch die jüngere Begriffsbildung als durchaus komplexe Größe, da es verschiedene zuvor getrennt betrachtete Phänomene, v.a. Territorialität als staatliche Raumkontrolle gegenüber Territorialität als Verhaltensprinzip, in einem umfassenden Spektrum integriert und Zusammenhänge zwischen der Beziehung von Mensch und Raum auf mehreren Ebenen (Individuum, Gruppe, Staat) verdeutlicht. Territorialität, verstanden als «territoriale Natur» oder als «auf Raumaneignung ausgerichtete Strategie», setzt dabei stets ein Agens voraus, d.h. es geht nicht um den (geographischen) Raum allein, sondern um die Beziehung, die zwischen diesem und einem Individuum, einer Gemeinschaft oder von ihr eingesetzten Institutionen besteht. Bezogen auf Individuen und Gemeinschaften wird damit die Tendenz beschrieben, Gebiete in Besitz zu nehmen und gegenüber Fremden abzugrenzen bzw. zu verteidigen; gleiches gilt auf der politischen Ebene für institutionelle Akteure wie Nationalstaaten, die ihr Hoheitsgebiet mittels Raumkontrolle und Grenzsicherung verteidigen. Das Territorium als Kernkonzept bezieht sich auf den vom Menschen angeeigneten Raum. Der Ausdruck Territorium kann sich dabei im klassischen Sinne auf das aus der Souveränität eines Staates abgeleitete Hoheitsgebiet beziehen («harte» Aneignung); der Ausdruck dient im Rahmen der jüngeren Begriffsbildung in der Geographie jedoch auch zur Bezugnahme auf durch «weichere» Formen der Aneignung abgegrenzte Räume, die durch die Projektion kultureller

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Besonderheiten seitens einer sich als Gemeinschaft identifizierenden Gruppe auf den Raum und die Integration des Raumes in die kollektive Identität entstehen. Neben den genannten Beispielen aus der Toponymik, zeigt sich die Verknüpfung von Gruppenidentität und territorialisiertem Raum auch anhand der Tatsache, dass das Anthroponym für die Gruppe und für den ihr eigenen Siedlungsraum in vielen Fällen in enger Beziehung zu einander stehen. Die sich mit dem Siedlungsgebiet identifizierenden Gemeinschaften leiten daher oft ihre Eigenbezeichnungen aus dem historisch gegebenen Toponym des Gebietes ab.15 Gleiches gilt meist für die Sprachbezeichnung (cf. Abb. 17). Identifikation Gemeinschaft, Sprache

Gebiet Bezeichnung z.B. Aragón

aragonés (Gemeinschaft) aragonés (Sprache)

Abb. 17: Die onomastische Relation zwischen Gebiet, Gemeinschaft und Sprache

Gemeinschaft, Territorium und gruppenspezifische kulturelle Besonderheiten verschmelzen gewissermaßen zu einer Identität. Eine daraus ableitbare territoriale Identität, die den Raum als «support identitaire» und «producteur d’identité» (Guérin-Pace/Guermond 2006, 289) versteht, umfasst also gerade auch gruppenspezifische Eigenheiten, insbesondere eine gemeinsame Sprache. Der symbolisch angeeignete Raum ließe sich analog zu Andersons imagined community folglich als imagined territory bezeichnen, dem schließlich gar eine eigene Identität zugeschrieben wird,16 worin gerade in Bezug auf Nationalstaaten auch die Anknüpfungspunkte für eine ideologische Vereinnahmung deutlich werden.

|| 15 Zur Wortbildung mit Namenbasis in den romanischen Sprachen cf. Schweickard (1992); zur Bildung von Anthroponymen im Französischen heißt es bei Eggert (2005, 25): «En général, ils [les noms d’habitants ou gentilés] sont formés à partir du nom de lieu, le toponyme, avec lequel ils sont en relation étroite. Ils ont la même forme que les adjectifs toponymiques qui sont des adjectifs relationnels du toponyme associé». 16 Frankreich lässt sich auch hier, wie schon für Anderson, als Beispiel par excellence anführen: So ist dort neben der identité de la France auch die Frage einer identité géographique de la France in Fortsetzung der oben kurz skizzierten Tradition der Tableaus von Michelet und Vidal de la Blache immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Cf. dazu etwa den Vortrag Armand

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 141

Jegliche Form der Abgrenzung erfüllt dabei den Zweck, die Eigenheiten der Gruppe gegenüber anderen zu schützen und damit Konflikte durch räumliche Trennung zu vermeiden, ein Ziel, dem sich auch die Raumkontrolle politischer Institutionen verschreibt. Wie deutlich die Grenzen sichtbar (bzw. «lesbar») sind, inwiefern sich die «raumgebundene Intoleranz» (Eibl-Eibesfeldt 1975, 54) als ein aggressiv verteidigter – und argumentativ mit Autochthonie legitimierter – Exklusivitätsanspruch zeigt und wie beständig ein Territorium und seine Repräsentationen historisch betrachtet sind, hängt dabei vom Grad der Territorialisierung und der «Verfestigung» auf politischer Ebene ab. Bezieht man die Ebene der materiellen Praktiken und die Ebenen der Repräsentationen sowie der individuellen und kollektiven Wahrnehmung methodologisch in eine Beschreibung mit ein, so eignet sich das hier dargelegte geographische Konzept in besonderer Weise zur Analyse der gesellschaftlich konstruierten Zusammenhänge von Sprache und (Siedlungs-)Raum.

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium

5.2

Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium

Aus dem Begriff des Territoriums lässt sich nun ein umfassendes Konzept spezifisch sprachlicher Territorialität und sprachlicher Territorien ableiten. Im Mittelpunkt steht folglich die Projektion von Sprache als kulturelle Besonderheit einer Gruppe auf das Siedlungsgebiet. Solche aus menschlicher Territorialität abgeleiteten Projektionen mit einem eigenen Begriff zu bezeichnen und eigens zu thematisieren, ist dabei durch die Tatsache begründet, dass die Verknüpfung von Sprache und Gebiet hier ganz spezifischen Repräsentationen unterliegt, die den Zusammenhang mitunter unabhängig von den Sprechern konzeptualisieren (cf. Kapitel 4). Zu Beginn dieses Kapitels hatte ich sprachliche Territorien in einer vorläufigen Definition als das «wahrnehmbar durch den Gebrauch eines Idioms geprägte oder gestaltete Gebiet einer Siedlungsgemeinschaft» bezeichnet. Die einzelnen Aspekte dieser Definition – Prägung, Gestaltung und Gebrauch sowie der Bezug zur Siedlungsgemeinschaft – sollen in diesem Abschnitt detailliert behandelt werden, um vor dem Hintergrund gruppenspezifischer Territorialität schließlich zu einer präzisen Definition sprachlicher Territorien zu gelangen.17 Im Vordergrund || Frémonts: La France de 2012 a-t-elle encore une identité géographique?, Université de Toulouse, 2012, [letzter Zugriff: 08.03.2013]. 17 Mit wahrnehmbar spiele ich bewusst auf die individuelle oder auch kollektive Erfahrung an, denn eine Darstellung, die sprachliche Territorien ausschließlich als objektive und objektivier-

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steht dabei stets die Sprechergemeinschaft, welche die eigene gruppenspezifische Territorialität auch auf die eigene Sprache überträgt. Die Verteidigung des Gebietes der Gemeinschaft kann in der Folge auch die Verteidigung der Sprache als Symbol dieser Territorialität miteinschließen. Für dieses Unterfangen bietet es sich an, an Arbeiten anzuknüpfen, welche die Raumbezogenheit von Sprache als soziolinguistische Größe beschreiben (cf. 1.5): Zu nennen ist hier ein Ansatz Falk Seilers (2008) zur Beschreibung der komplexen räumlichen Verhältnisse innerhalb der Francophonie. Seiler (2008, 27) greift dazu auf den geographischen Begriff des Territoriums zurück und definiert die Francophonie als ein sprachliches Territorium, welches er als soziales Konstrukt, als «Sinnkonstrukt» (ib., 31) herausgehobener Art, definiert, das durch den Sprecher in einem «diskursiven Raum» (ib.) erlebt und gestaltet werde. Seilers konstruktivistischer Begriffsentwurf bleibt dabei weitgehend losgelöst vom konkreten, materiellen geographischen Raum. Dagegen zeichnen die Arbeiten des französischen Soziolinguisten Alain Viaut zumindest einige Elemente des hier angestrebten Konzepts sprachlicher Territorien bereits vor. So lässt sich aus Viauts Typologie von «Sprachräumen» und «Sprachgrenzen» ein Begriff des sprachlichen Territoriums zumindest skizzenhaft erkennen. Ohne auf die theoretischen Prämissen der zeitlich-räumlichen Verknüpfung oder des sozialgeographischen Begriffs des Territoriums im Detail einzugehen, kann Viaut die Entlehnung des Konzeptes kaum verbergen. So beschreibt Viaut (2007; 2010) das territoire linguistique als die gesellschaftliche Konstruktion einer Beziehung zwischen Raum und Sprechergemeinschaft, die auf Zugehörigkeitsgefühl und Aneignung beruht. Die Apostrophierung des sprachlichen Territoriums als «réseau territorialisé des locuteurs» (Viaut/Pailhé 2010, 14) weist implizit darauf hin, dass sich auch für Viaut der Raumbezug von Sprache aus der Territorialität der Sprecher ableitet. Schließlich betont er ebenfalls die Prozesshaftigkeit, die dem Territorium als gesellschaftliche Konstruktion zukommt: «Le territoire linguistique apparaît en fait comme le produit de plusieurs types de délinéaments. Il s’agit d’instituer une relation avec l’espace, celui de la langue et celui dans lequel elle évolue. […] Le territoire est alors envisagé comme l’aboutissement d’un processus de territorialisation caractérisant ce qui était auparavant un espace aux limites floues ou découpant en son sein un ensemble distinct» (Viaut 2007, 48).

Viaut bietet mit seinem Entwurf folglich einige Anknüpfungspunkte, wenngleich er darauf verzichtet, die siedlungsgeographischen Prämissen zu hinterfragen und über eine skizzenhafte Darstellung hinauszugehen. Ein übergreifender Ansatz, der || bare Größe präsentiert, ohne diese auch als «réalité vécue» (Frémont 1974, 231) zu betrachten, würde m.E. zu kurz greifen.

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 143

das Ergebnis – den durch Sprache gestalteten Raum – als Ausübung der auf Sprache bezogenen Territorialität einer Gemeinschaft fokussiert und die verschiedenen Ebenen, von der Interaktion des Individuums über das Verhalten der Gemeinschaft bis hin zur institutionellen Raumkontrolle, integriert, fehlt bislang. Ziel dieses Abschnittes ist es, die wesentlichen Elemente sprachlicher Territorien systematisch herauszuarbeiten. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass sich sprachliche Territorialität und sprachliche Territorien aus gruppenspezifischer Territorialität ableiten. Im Folgenden wird zunächst die Spezifik sprachlicher Territorialität in umfassender Weise, d.h. die ethologische und die politischjuristische Territorialität der Sprache integrierend, dargestellt (5.2.1), um daraufhin zu beschreiben, wie das sprachliche Territorium diskursiv sowie durch Abgrenzung und Markierung des Gebietes konstruiert wird (5.2.2). Schließlich gilt es zu zeigen (5.2.3), wie sich sprachliche Territorialität in der Interaktion der Sprecher manifestiert und wie die Sprecher den sie umgebenden Raum als «Sprachgebiet» wahrnehmen.

5.2.1 Sprachliche Territorialität In Abgrenzung zur erdräumlichen Distribution sprachlicher Fakten definiert Krefeld Territorialität entsprechend der linguistischen Verwendungstradition des Begriffs als «die staatlich garantierte und nicht selten juristisch sanktionierte Geltung einer Staatssprache in einem administrativ scharf begrenzten Gebiet» (Krefeld 2004, 23s.). Damit bleibt der Begriff jedoch einer ausschließlich politisch-juristischen Bedeutung von Territorialität verpflichtet, entspricht also der ursprünglichen Definition des Begriffs, wie sie im Staatsrecht und der Politikwissenschaft gängig ist und auf das Feld der Sprachgesetzgebung übertragen wurde. Mit meinem Begriff der «sprachlichen Territorialität» will ich indessen bei einem weiter konzipierten Territorialitätsbegriff ansetzen, der die politischjuristische und die ethologische Perspektive integriert. Dabei konzipiere ich Territorialität nicht als «territoriale Natur der Sprache», denn Sprache ist eine kulturelle Technik und Praxis; vielmehr geht es um die Definition von sprachlicher Territorialität als identitäre Beziehung zwischen einer Gemeinschaft, ihrem Gebiet und ihrer Sprache sowie als Tendenz und Strategie von Sprechergemeinschaften, ihre Sprache als gruppenspezifische Besonderheit auf den Raum zu projizieren. Demnach lässt sich sprachliche Territorialität als «Territorialität der Sprechergemeinschaft» analytisch dreigliedrig betrachten, nämlich als (a) identitäre Beziehung zwischen einer Sprechergemeinschaft und dem besiedelten Gebiet oder, durch Übertragung, als Beziehung zwischen einer Sprache und dem Gebiet, in dem sie gebraucht wird;

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(b) Tendenz von Sprechergemeinschaften, die «eigene» Sprache als gruppenspezifische kulturelle Besonderheit auf den besiedelten Raum zu projizieren sowie, daran anknüpfend, (c) Strategie von Sprechergemeinschaften und Institutionen, die «eigene» Sprache in dem von ihnen kontrollierten Raum sprachlich zu territorialisieren (d.h. gegenüber anderen Sprachen abzugrenzen und zu markieren) und als dominantes Kommunikationsmittel zu etablieren. Diese weite Definition sprachlicher Territorialität vermag nicht nur, die gesellschaftliche Konstruktion des Zusammenhangs von Sprache und geographischem Raum als gedachte Beziehung zwischen einer Sprache und dem Gebiet zu integrieren, sondern sie umfasst gleichermaßen die «Fortsetzung» der gruppenspezifischen Territorialität im z.B. gesetzgeberischen Handeln von Institutionen, wodurch die gedachte Gebietsbezogenheit in Form einer politisch-juristischen Geltung als Amtssprache schließlich de jure hergestellt und in der Folge auch als privilegiertes Kommunikationsmittel im öffentlichen Raum de facto etabliert werden kann. Sprachliche Territorialität umfasst folglich auch, jedoch als Ergebnis ihrer Ausübung, die traditionelle Bedeutung des Begriffs, die «Territorialität der Sprache», als (d) territoriale Geltung einer Sprache als Amtssprache, die durch den Staat oder durch ihm untergeordnete Gebietskörperschaften garantiert wird. Nachstehend soll dieses umfassende Bild sprachlicher Territorialität zunächst in Bezug auf das Territorialverhalten von Sprechergemeinschaften (5.2.1.1) diskutiert werden, um daraufhin speziell die Territorialität der Sprache als aus der Raumkontrolle von Institutionen resultierende amtssprachliche Geltung genauer zu beleuchten (5.2.1.2).

5.2.1.1 Die Territorialität der Sprechergemeinschaft Wenn beispielsweise im Baskenland, Galicien, Katalonien oder auch in Asturien spanischsprachige Orts- und Flurnamen durch regionalsprachliche ersetzt und zu diesem Zweck Toponymie-Kommissionen beauftragt werden; wenn offizielle Hinweisschilder wie lokale und regionale Straßenschilder zunehmend auch oder nur in der Regionalsprache aufgestellt werden, dann handelt es sich um Manifestationen sprachlicher Territorialität, insofern die Sprechergemeinschaften bzw. die sie repräsentierenden – zumindest in Spanien – regional autonomen Institutionen die «eigene» Sprache als Ausdruck der Gruppenidentität auf den Raum projizieren und damit nicht nur diskursiv das Bild der «gebietseigenen» Sprache konstruieren.

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 145

Wenngleich die Bevölkerungen der genannten Regionen größtenteils zweisprachig sind und sich politisch ein exklusiver Gebietsanspruch für die «eigene» Sprache (bisher jedenfalls) nicht durchsetzen lässt, lassen sich Abgrenzungsstrategien gegenüber der (teilweise als allochthon beurteilten) Staatssprache beobachten: So wird auf Straßenschildern des spanischen Baskenlandes oberhalb der allen verständlichen kastilischsprachigen Fassung grundsätzlich die baskischsprachige Fassung aufgeführt. In Katalonien sind offizielle Hinweisschilder mitunter ausschließlich katalanisch beschriftet.18 Als politisch motivierte Abgrenzungsstrategie ist auch zu werten, dass die regionalen Behörden Kataloniens dazu angehalten werden, die Bürger zunächst auf Katalanisch anzusprechen, das im Unterschied zum Kastilischen nicht von allen verstanden wird. Sprachliche Markierung und Abgrenzung des Territoriums sind allgegenwärtig und manifestieren sich umso stärker, je dominanter die jeweilige Gemeinschaft auch politisch ist. Wie lassen sich diese institutionellen Äußerungen gruppenspezifischer Territorialität nun in dem oben skizzierten weit konzipierten Begriff sprachlicher Territorialität situieren? Territorialität hat als Verhaltensprinzip die Funktion, die spécificité einer Gruppe sicherzustellen: Eine Gruppe grenzt sich gegenüber «Anderen» (Alterität) ab und verfestigt ihre kollektive Identität, indem sie das von ihr beanspruchte Gebiet markiert, wobei – wie Eibl-Eibesfeldt (1984, 442) herausstellt – v.a. die Markierung an der Peripherie der Abgrenzung dient, während die Markierung nach innen zur Stärkung der Solidarität und Konstruktion der Gruppenidentität genutzt wird. Sprachlich gewendet kann es in einem mehrsprachigen Gebiet freilich keine Unterscheidung von Peripherie und Zentrum geben, die Markierung dient vielmehr flächendeckend beiden Funktionen gleichzeitig. Die Tätigkeit von regionalen Behörden ist dabei nur die Fortsetzung der gruppenspezifischen Territorialität mit politischen und gesetzgeberischen Mitteln (cf. Di Méo 1998, 50s.); sie zielt gewissermaßen darauf ab, die spécificité linguistique und die Reproduktion der groupes humains en tant que locuteurs zu sichern. Sprachliche Territorialität als ein spezifisches Verhalten menschlicher Gruppen und ihrer Institutionen enthält also eine ethologische Komponente. Diese Konzeption ist nicht gänzlich neu: Der kanadische Soziolinguist Jean A. Laponce hat den Zusammenhang mit ethologischen Prinzipien in einem Aufsatz mit dem

|| 18 Während das Baskische für einen Nicht-Sprecher vollkommen unverständlich ist, kann für das Katalanische aufgrund des geringen sprachimmanenten Abstands zum Kastilischen angenommen werden, dass Hinweise auch für nicht-katalonophone Spanier verständlich sind (cf. 6.6.3.2).

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überspitzten Titel Do languages behave like animals? (1993) wohl am deutlichsten formuliert. Darin knüpft er an die zuvor in seinem Buch Langue et territoire (1984) aufgestellte These an, Sprachgemeinschaften und Individuen wiesen eine natürliche Neigung zur Einsprachigkeit in einem ihnen eigenen Gebiet auf: «Les langues, comme les individus, et comme les États, sont pris, incessamment, dans les conflits de préséance et de dominance qui font et refont sans cesse les hiérarchies où elles trouvent leur place. Or, ces langues, dans la mesure où elles ne vivent que par la communication, ont besoin, pour leur survie et pour leur épanouissement, de niches territoriales qui leur soient propres, niches où la communication se fera dans une seule et même langue qui puisse lier, entre eux, les différents rôles sociaux d’un même individu et les différents individus d’une même société. […] la normale veut que les langues – à l’encontre des espèces animales à quoi elles ressemblent sous d’autres rapports, migratoires par exemple – la normale veut que chaque langue établisse sa dominance et cherche l’exclusivité sur un territoire donné» (Laponce 1984, 1).

Laponce konzipiert Territorialität folglich als Verhalten, das auf die Herstellung oder Sicherung von Einsprachigkeit abzielt. Dahinter steckt ein Bild von (gesellschaftlicher) Mehrsprachigkeit, das Laponce mit der katalanischen Soziolinguistik teilt: Dort werden Situationen der Zweisprachigkeit bzw. Diglossie in der Folge Aracils (1965) als Sprachkonflikte aufgefasst, die langfristig auf die Substitution der einen durch die andere Sprache hinauslaufen (cf. Argemí/Ramon 1996). Etwas eigenartig mutet in Laponces Darstellung die Subjektivierung der Sprache an, die sie wie ein Wesen mit eigenen Absichten und eigenem Verhalten analog zu Tieren erscheinen lässt. Generell ist dazu anzumerken, dass – wie in Bezug auf menschliche Territorialität im Allgemeinen – auch hinsichtlich sprachlicher Territorialität ein Konsens darüber besteht, dass der Vergleich mit der Tierwelt nur bedingt stichhaltig ist und allenfalls als Orientierung für die Herausarbeitung ethologischer Tendenzen dienen kann. So räumt Laponce im Übrigen auch selbst ein, der Vergleich «entre les langues et les animaux ne saurait cependant être poussée trop loin» (1984, 58).19 Eine gewisse Ambiguität bleibt: Wenn er Sprachen mit Tieren vergleicht, gebraucht Laponce Sprachen zwar metonymisch für Sprechergemeinschaften,20 doch knüpft er mit der Rede

|| 19 Zu einem Überblick über die Kritik an der Gleichstellung von Sprache bzw. Sprechergemeinschaft und tierischer Territorialität cf. McRae (1975). 20 «When we analyze the behavior of languages and language groups in contact, we shift easily from the notion of people having languages to that of languages having people. I have already done so in the preceding paragraphs and will continue to do so» (Laponce 1993, 29, Anm. 2).

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 147

vom «language’s territorial imperative» offensichtlich an die biologistische Sichtweise Ardreys (1966) an: «Do language groups behave like animals? Do they need specific territories? The same questions could be asked about practically any human group instituted to endure since social institutions typically need geographical niches of their own. But the question is more particularly relevant in the case of languages […]. In order to survive, languages need to be so concentrated over physical space as to be able to resist the competition of the intruding languages that happen to penetrate ‹their› territory. We can, without being metaphorical, speak of a language’s territorial imperative» (Laponce 1993, 19).

Der «Imperativ» sollte sinnvollerweise nur als Tendenz und kulturell herausgebildete Strategie aufgefasst werden, deren Ideal Exklusivität bzw. Einsprachigkeit darstellt.21 So fasse ich menschliche Territorialität und daraus abgeleitet auch sprachliche Territorialität im Anschluss an Eibl-Eibesfeldt vielmehr als eine Strategie von Individuen, Gruppen und Gemeinschaften auf, die nicht genetisch verankert, sondern insofern kulturell ist, als sie sich kulturell bedingt auch unterschiedlich manifestiert. Wenn Laponce (1984, 2) nun feststellt, dass die Territorialität der Sprachen (gemeint sind also Sprechergemeinschaften) «leur est, dans le monde actuel, assurée d’abord par l’État», dann ist dieser als die politische Vertretung der Gemeinschaft anzusehen. In diesem Sinne gilt die institutionelle Ausübung der Territorialität einer Gemeinschaft auch – und im «Europa der Regionen» sogar zunehmend – für die Ebene regionaler Gebietskörperschaften. Mit der Gewährung regionaler Autonomie durch den Staat sind beispielsweise in Spanien die Autonomen Gemeinschaften und in der Schweiz sogar die Gebietskörperschaften sämtlicher Ebenen in der Lage, die Territorialität ihrer Sprachen bzw. Sprechergemeinschaften in ähnlicher Weise sicherzustellen, wie der Staat dies auf dem gesamten Hoheitsgebiet zu tun vermag, wenngleich hier die institutionell gestützten «Territorialitäten» von Staats- und Regionalsprachen mitunter in Konflikt geraten. Das belgische Modell zeigt dagegen, dass der Staat seinen Gebietskörperschaften auch exklusive, d.h. auf Einsprachigkeit ausgerichtete Territorialität zusichern kann (cf. 6.3–6.6).

|| 21 In der Kontaktsituation, wie sie etwa regional zwischen Staats- und Regionalsprachen vorliegt, äußert sich dieses Streben laut Laponce (1984, 32) in einem Kampf um Dominanz, der zunächst die Kommunikationsdomänen umfasst: «L’idéal, pour une langue, c’est de contrôler tout le terrain. À défaut d’obtenir cet idéal, une langue ‹cherchera› à s’assurer des positions stratégiques dominantes, positions dont la valeur tient typiquement au rôle (qualité sociale), à la connaissance (qualité linguistique) et à la fréquence d’utilisation de la langue (quantité)».

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5.2.1.2 Die Territorialität der Sprache Die Territorialität der Sprache ist das, was in der Linguistik als die räumliche Geltung einer Sprache verstanden wird. Grundlage ist das aus der allgemeinen Staatstheorie und Rechtswissenschaft abgeleitete Territorialitätsprinzip, wonach Gesetze nur innerhalb eines definierten geographischen Gebietes Geltung besitzen. Das geographische Gebiet bezieht sich zunächst einmal auf das Hoheitsgebiet des souveränen Staates, kann jedoch – bezogen auf die Geltung einer Regionalsprache – auch Teilterritorien, d.h. politisch und administrativ definierte Gebiete betreffen. Während beim Hoheitsgebiet der Staat diejenige Institution ist, welche kraft ihrer Souveränität die Kontrolle über den Raum ausübt und die juristischen Normen festlegt und durchsetzt, kann die Kontrolle über den Raum und mit ihr die Zuständigkeit, Normen zu statuieren, vom Staat an ihm untergeordnete regionale oder lokale Gebietskörperschaften weitergegeben werden. Territorialität im rein juristischen Sinne kann dabei die Raumkontrolle durch den Staat oder eine untergeordnete Institution meinen oder auch auf die räumlich begrenzte Geltung eines Gesetzes oder bestimmter gesetzgeberischer Kompetenzen bezogen sein. Sprachlich gewendet bedeutet politisch-juristische Territorialität, wie oben definiert (d), die auf den Staat als Ganzes oder auf ein Teilterritorium bezogene Geltung als Amtssprache. Konkrete Auswirkungen hat das Territorialitätsprinzip wiederum erst in mehrsprachigen Staaten, die ihre Mehrsprachigkeit durch regional begrenzte Einsprachigkeit (Belgien) oder durch die regional begrenzte Anerkennung weiterer Amtssprachen neben der Staatssprache (Schweiz, Spanien) regeln. Die sprachwissenschaftliche Literatur zum Territorialitätsprinzip ist umfangreich,22 Labrie (1996) bietet einen Überblick und definiert, gewissermaßen aus der Perspektive einer Sprechergemeinschaft, wie folgt: «La territorialité correspond à la reconnaissance du droit d’une communauté linguistique sur un territoire donné, délimité par des frontières politiques ou administratives intérieures, d’employer une ou des langue(s) donnée(s) dans les communications institutionnelles reliées aux domaines de juridiction exercée sur ce territoire, et, inversement, à la restriction de la liberté d’employer toute autre langue à ces mêmes fins» (Labrie 1996, 210).

|| 22 Ähnlich die Definition bei Jean-William Lapierre (1988, 35), bei dem «l’usage de telle ou telle langue est prescrit, autorisé ou interdit sur toute l’étendue d’un territoire déterminé et là seulement». McRae (1975, 33) definiert hinsichtlich der sprachlichen Regeln: «The principle of territoriality means that the rules of language to be applied in a given situation will depend solely on the territory in question». Cf. auch Kloss (1965). Weitere Erläuterungen finden sich bei Laponce (1984; 1987), Nelde/Labrie (1991) sowie Nelde/Labrie/William (1992).

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 149

Entscheidend ist, dass sich die Ausübung staatlicher oder administrativer Territorialität bzw. die Geltung einer Sprache heute auf die Bereiche des öffentlichen Lebens bezieht, also nur bestimmte Kommunikationsdomänen rechtlich geregelt werden. In Diktaturen kann freilich auch der private Sprachgebrauch staatlicher Regulierung unterworfen sein. Das Gebiet, das aus der politisch-juristischen Territorialität resultiert, wird allgemein als «räumlicher Geltungsbereich juristischer Normen»23 definiert und ist somit zunächst einmal ein «élément ‹neutre›, se référant à des conditions d’effectivité et de validité de la norme juridique et ne reposant dès lors sur aucun critère factuel», wie die Juristin Jordane Arlettaz (2006, 24) hinsichtlich der Bezeichnung territoire linguistique konstatiert. Von einem solchen kann Arlettaz zufolge nur die Rede sein, wenn nicht nur einzelne Gesetze – etwa über den Schutz oder die Förderung einer Sprache in bestimmten Bereichen – gebietsbezogen gelten, sondern wenn eine Sprache offiziellen Status als Amtssprache der Gebietskörperschaft erhält. Letztlich sei ein politisch-juristisches Sprachgebiet «avant tout le territoire sur lequel une entité locale dispose d’une compétence linguistique» (ib., 34). Wenn in Europa neben den Staatssprachen immer häufiger weitere Sprachen regional oder lokal amtssprachlichen Status erhalten, Situationen der Mehrsprachigkeit also durch das Territorialitätsprinzip gelöst werden, dann schreibt sich diese Tendenz in die allgemeine Regionalisierung Europas ein, im Zuge derer in zunehmendem Maße Kompetenzen und Zuständigkeiten von der staatlichen Ebene an regionale oder lokale Gebietskörperschaften übertragen werden. So stellt, um ein Beispiel zu nennen, das Arantal ein sprachliches Territorium im Sinne einer «aire géographique d’effectivité de la production normative d’une entité locale» (Arlettaz 2006, 32), hier der von Katalonien mit einem Sonderstatus ausgestatteten Comarca Vall d’Aran, dar: Der Generalrat des autonomen Arantals (Conselh Generau d’Aran) besitzt die ihm übertragene Zuständigkeit, Fragen des öffentlichen Sprachgebrauchs lokal zu regulieren und hat entsprechend das Aranesische (im Einklang mit der Politik der Generalitat) zur lokalen Amtssprache24 neben dem Katalanischen als Amtssprache der Region und dem Kastilischen als Amtssprache des Staates erklärt.

|| 23 Cf. Arlettaz (2006) mit Verweis auf die Theorie Hans Kelsens. Einen Überblick über die verschiedenen, in der Vergangenheit diskutierten allgemeinen Staatstheorien, die sich mit dem Territorium auseinandergesetzt haben, findet man bei Barberis (1999). 24 Seit dem reformierten Autonomiestatut Kataloniens von 2006 hat das Aranesische sogar amtssprachlichen Status auf dem gesamten Gebiet Kataloniens, wobei noch unklar ist, wie sich der juristische Status praktisch manifestieren soll (cf. Tacke 2012d, 342–344).

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5.2.2 Das sprachliche Territorium In Anknüpfung an den auf Sprache übertragenen erweiterten Begriff der Territorialität kann im Folgenden nun auch das sprachliche Territorium konzeptionell konkretisiert werden. Das sprachliche Territorium – das ich synonym auch als Sprachgebiet bezeichne – als Objekt und Resultat der «sprachlichen Aneignung» eines Gebietes durch eine Sprechergemeinschaft soll im Sinne einer gesellschaftlichen Konstruktion, also dezidiert unter konstruktivistischen Gesichtspunkten, betrachtet werden. Der Fokus bleibt dabei weiterhin dort, wo sich sprachliche Territorialität am deutlichsten manifestiert: auf der Ebene der Regionalsprachen und im Kontext mehrsprachiger Situationen. Wenn solche Situationen immer wieder als Konflikt erscheinen, so ist dies der Tatsache geschuldet, dass etablierte Nationalsprachen im Zuge der Bemühungen um den Erhalt von Regionalsprachen in eine bisher unbekannte Konkurrenzsituation mit lokalen Idiomen geraten – einer Konkurrenz, die immer auf den Gebrauch der Sprachen im öffentlichen Raum bezogen ist. Eine «alte» Regionalsprache – meist entgegen traditioneller Kommunikationsgewohnheiten – im Bereich des öffentlichen Sprachgebrauchs neu zu etablieren, wirft dabei bis dahin noch nicht relevante Fragen der Abgrenzung auf.25

5.2.2.1 Diskursive Sprachgebietskonstruktionen In einem 2008 von der katalanischen Generalitat herausgegebenen Büchlein mit dem Titel Occitània i l’occità (GenCat 2008) geht es um die Darstellung des politisch zu Katalonien zählenden Arantals als Teil einer staatenübergreifenden okzitanischen Gemeinschaft und eines okzitanischen Sprachgebietes, zu dem auch das katalanische in einer engen Verbindung gesehen wird. Darin wird Jep de Montoya, Präsident des Institut d’Estudis Aranesi mit den Worten zitiert, «Aran ei un territòri delimitat, ua comunitat d’aranesi o ciutadans d’Aran que parlen er occitan» (GenCat 2008, 15). Als wichtigstes kulturelles Merkmal der Aranesen wird also die von ihnen gesprochene Sprache definiert. Wenn Bernat Joan, katalanischer Minister für Sprachpolitik, erklärt, «[l]’occità, llengua pròpia de l’Aran, on popularment s’anomena ‹aranès›, és llengua oficial a Catalunya» (ib., 4), dann wird die Sprache der Gemeinschaft der Aranesen gleich in mehrfacher Weise auf das Gebiet projiziert: Einerseits vollzieht sich die Übertragung

|| 25 Welche Sprache ist zu verwenden? Welche Sprache wird auf der Beschriftung amtlicher Beschilderung prominenter aufgeführt? Welche Sprache wird in der Kommunikation privilegiert gebraucht, welche nur «auf Anfrage»?

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 151

indirekt über die Benennung der Sprache als «aranès» – so wie die Aranesen ihre Sprache selbst bezeichnen («popularment») –, andererseits wird die Sprache hier auch diskursiv ganz explizit als «gebietseigene» Sprache, als Sprache des Arantals, apostrophiert, wofür die Katalanen eigens den Begriff der llengua pròpia geprägt haben.26 Das Beispiel des Aranesischen, einer diatopischen Varietät des Okzitanischen, benannt nach dem Tal, in dem diese von einer kleinen Sprechergemeinschaft gesprochen wird, soll veranschaulichen, wie selbstverständlich die Sprache einer Gemeinschaft als Sprache eines Gebietes definiert wird. Die Sprache der Bewohner wird als ein Charakteristikum des Gebietes konzeptualisiert und diskursiv in die Konstruktion eines Sprachgebietes integriert. Wie kann diese Territorialisierung der Sprache nun objektiv beschrieben werden? Zunächst gilt, dass das «Territorium einer Sprache» nichts anderes ist als das Siedlungsgebiet ihrer Sprecher. Wird die territoriale Raumbezogenheit einer Sprache evoziert, dann handelt es sich um eine Ableitung aus der Territorialität der Sprecher. Die Beziehung, die zwischen einer Sprechergemeinschaft, der Sprache und dem besiedelten Gebiet besteht, wird mit dem geographischen Begriff des Territoriums anschaulich: So lässt sich die Aneignung eines Siedlungsgebietes durch eine Gruppe als Prozess, als Territorialisierung, beschreiben, in deren Rahmen das Gebiet für die Gruppe mit Bedeutung versehen und zu einem Teil der Gruppenidentität wird. Wie passt nun das «sprachliche Territorium» in dieses Bild? Die Konstruktion sprachlicher Territorien resultiert aus der Tatsache, dass das Territorium für die Gruppe als konstitutiver Teil ihrer kollektiven Identität zur Projektionsfläche von Repräsentationen und Symbolen wird. Bedenkt man, dass neben dem gemeinsamen Gebiet die gemeinsame Sprache einen meist ebenso konstitutiven Teil kollektiver Identitäten darstellt, überrascht es nicht, dass die Sprache im Sinne einer kulturellen Besonderheit der Gruppe als solche auf das Gebiet projiziert und mit diesem assoziiert wird. Schematisch dargestellt bedeutet dies, dass die kollektive Identität das mittlere Glied einer Dreiecksbeziehung darstellt, in der Sprache und Gebiet jeweils direkt mit einer sich als Gemeinschaft begreifenden Gruppe verbunden sind (cf. Abb. 18).

|| 26 Zum Begriff der llengua pròpia allgemein und speziell hinsichtlich seiner Relevanz außerhalb Spaniens cf. Viaut (2004b).

152 | 5 Sprachliche Territorialität Identifikation (kollektive Identität)

Sprache (kulturelle Besonderheit)

Gebiet (Siedlungsraum)

Abb. 18: Die Relation zwischen Gemeinschaft, Sprache und Gebiet27

Wird daraufhin das Bild eines Sprachgebietes geschaffen, die indirekte Relation also als eine direkte konzeptualisiert und dargestellt, so handelt es sich dabei um eine gesellschaftliche Konstruktion. Dabei wird nicht mehr nur die kulturelle Besonderheit auf das Gebiet projiziert, sondern dem Gebiet eine eigene Identität zugeschrieben. Aus der «territorialen Identität» der Bewohner wird so die «Identität des Territoriums». Vom Gebiet ausgehend gedacht, ist dieses einerseits durch die Besiedlung durch eine Gemeinschaft geprägt, andererseits durch die mit ihr assoziierte Geschichte und die kulturellen Praktiken gestaltet (cf. Abb. 19). «Identität des Gebietes»

Gemeinschaft (Siedlungsgeschichte)

Sprache, Kultur, etc. (Kulturgeschichte)

Abb. 19: Die diskursive Konstitution der «Identität eines Gebietes»

Zur gesellschaftlichen Konstruktion eines solchen Bildes trägt die katalanische Generalitat in dem o.g. Büchlein als politischer Akteur unmittelbar bei, wenn das sich über mehrere Staatsgebiete erstreckende «Okzitanien» dort als «una terra amb [1.] llengua i història pròpies i [2.] un poble que es perfila al llarg del temps

|| 27 Die durchgezogenen Linien in den Abb. 18 und 19 repräsentieren unmittelbare Beziehungen, während die gestrichelten Linien mittelbare bzw. diskursiv konstruierte Beziehungen darstellen.

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 153

gràcies a l’aportació ètnica de celtes, ibers, lígurs, grecs, romans i visigots» (GenCat 2008, 6) beschrieben wird. Das Gebiet Okzitanien wird also gewissermaßen als eine Siedlungs- und Kulturlandschaft, hervorgegangen aus einer miteinander verknüpften Sprach- und Kulturgeschichte einerseits und einer Siedlungsgeschichte andererseits, konstruiert. In diesem Sinne hat auch Viaut festgestellt, dass das territoire linguistique nicht nur als gesellschaftliche, sondern damit einhergehend auch als geschichtliche Konstruktion aufzufassen ist: «le territoire linguistique demeure un lieu de gestion des faits de langue appréhendés comme des signes d’appartenance et d’appropriation, liés à une sémiosphère de culture et de mémoire linguistiques, et comme des construits de l’histoire et du social» (Viaut 2007, 60).

Bei der Konstruktion einer dem Gebiet, den Sprechern und der Sprache gemeinsamen Geschichte ist freilich auch die Autochthonie der Sprache im Zusammenspiel mit der Siedlungsgeschichte der Gemeinschaft zu sehen. Die von der katalanischen Generalitat propagierte Konstruktion wird entsprechend diskursiv zu «una nació europea mil·lenària» überhöht und in einem Kapitel zur Occitània entfaltet: Dieses umfasst die Abschnitte «El territori», «La història» sowie – im Sinne einer Verknüpfung des Arantals und Kataloniens mit Okzitanien – «L’Aran» und «Occitans i catalans en la història: l’espai occitanocatalà». Eine genauere Betrachtung lohnt: Das territori wird als das Sprachgebiet des Okzitanischen präsentiert, «el territori on es parla occità» (GenCat 2008, 8), um daraufhin die Siedlungs- und Herrschaftsgeschichte darzustellen. Die gemeinsame Sprache wird insofern als autochthon beschrieben, als sie genuin vor Ort, in einem Land «de contactes i passos» entstand, das am Ende des Spätmittelalters – «amb la llengua ja formada» – trotz der politischen Kleingliederung in verschiedene principats kulturell bereits eine Einheit gebildet habe, zu deren Symbol die Troubadours hochstilisiert werden: «Culturalment, els trobadors il·lustren l’avenç de la civilització occitana i l’infonen amb la llengua a Europa» (ib., 11). Die Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte verknüpft also eine Identitätsgemeinschaft ohne politische Einheit mit einer Sprache und kulturellen Symbolen, hier: den Troubadours und ihrer Dichtung. Dass Sprach- und Kulturgeschichte mit der allgemeinen Siedlungs-, Herrschafts- und religiösen Geschichte in einem Zusammenhang gesehen werden, verdeutlicht auf der Textebene auch die parataktische Darstellung der Geschichte seit der Frühen Neuzeit: «L’època moderna comença amb la prohibició de l’occità a l’escrit públic (edicte de Villers-Cotterêts, 1539). El protestantisme troba a Occitània una terra d’implantació. La centralització i l’absolutisme francesos del segle XVII topen amb les institucions pròpies. La Revolució Francesa del 1789 i la III República del 1871 accentuen la lluita contra la

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llengua occitana, en un context de nacionalisme francès exacerbat. Aquesta lluita és al punt més fort quan els vinyaters llenguadocians es revolten el 1907» (GenCat 2008, 12).

Der Text, ebenso wie der darauf folgende zur Geschichte des Arantals, steht dabei im Layout des Büchleins vor dem Hintergrund der Abbildung des sog. «okzitanischen Kreuzes», das auf ein Herrschaftssymbol des Grafen von Toulouse, Raimund VI. (1156–1222), zurückgeht. Bedeutsamer noch als dieses Symbol der kulturellen Einheit, das sich auf diversen Seiten des Büchleins wiederfindet, sind jedoch die Abbildungen, welche die diskursiv konstruierten Sprachgebiete kartographisch repräsentieren. So findet sich einerseits schon zu Anfang des Kapitels eine Darstellung des okzitanischen Sprachgebietes (Abb. 20), in welches das Arantal farblich integriert wird.

Abb. 20: Karte des okzitanischen Sprach- und Kulturgebiets28

Zum anderen wird auch der Zusammenhang der Gebiete der okzitanischen und der katalanischen Sprache, «dues llengües pròximes en la geografia, amb contactes i paral·lelismes històrics i també amb una gran afinitat en les estructures lingüístiques» (ib., 20), durch eine Karte (Abb. 21) veranschaulicht:

|| 28 Quelle: Generalitat de Catalunya (ed.), Occitània i l’occità, 2008, p. 7, [letzter Zugriff: 15.03.2013], unter «Informació i difusió» > «Occità, aranès a l’Aran» > «Occitània».

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 155

Abb. 21: Karte des okzitanischen und katalanischen Sprachgebiets29

Am Medium der Karte wird in besonderer Weise deutlich, wie gesellschaftlich – hier durch die Generalitat als politischer Akteur – ein Zusammenhang zwischen gesprochenen Sprachen und geographischem Raum konstruiert wird. Die kartographische Projektion des Sprechens auf den Raum ist dabei indessen nicht mehr als eine in vielfacher Weise selektive Repräsentation der Realität, «fondée sur une part de réalité que l’on choisit de favoriser», wie Barbara Loyer (2002, 20) in einem anderen Zusammenhang über kartographische Abbildungen schreibt.30 In diesem Fall repräsentieren die Karten nur den Gebrauch des Okzitanischen || 29 Quelle: Generalitat de Catalunya (ed.), Occitània i l’occità, 2008, p. 21, [letzter Zugriff: 15.03.2013], unter «Informació i difusió» > «Occità, aranès a l’Aran» > «Occitània». Die Karte trägt den Untertitel «Territoris de l’occità i el català». 30 Zur Konstruktion des Zusammenhangs zwischen Sprechen und Ort und der Abstraktion von Sprach- und Dialektgebieten im wissenschaftlichen Programm der Sprachgeographie cf. 5.3.

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und Katalanischen, gleichsam so, als handele es sich um die einzigen dort gesprochenen Sprachen. Das Kastilische und Französische als koexistierende, gar dominante Kommunikationsmittel werden systematisch ausgeblendet. Nun bietet es sich an, die diskursive Konstruktion sprachlicher Territorien mit der Materialität der sprachlichen Praxis zu kontrastieren. Vergleicht man entsprechend das farblich als Fläche markierte Sprachgebiet dieser Karten z.B. mit der tatsächlichen Verwendung der Sprachen, so zeigt sich etwa für das Okzitanische schnell, dass die Sprache entgegen der Suggestion alles andere als flächendeckend gebraucht wird: Die exzellente Untersuchung von Fabrice Bernissan (2012) belegt für das Département Hautes-Pyrénées, also einen Teil Okzitaniens, dass von den 134.836 Einwohnern gerade einmal 1,39% das Okzitanische als Muttersprache beherrschen (cf. Bernissan 2012, 483–485), dass in einigen Kommunen kein einziger Okzitanischsprecher mehr, in den meisten weniger als zehn Sprecher leben und dass die wenigen Muttersprachler ihre Sprache in der Praxis kaum verwenden, sondern stattdessen das Französische bevorzugen. Gegenüber der homogen einfarbig gekennzeichneten Repräsentation eines okzitanisch geprägten Gebietes zeichnet die reale Sprecherdichte pro Gemeinde folglich ein ganz anderes Bild. Die Schlüsse, die Bernissan hinsichtlich der tatsächlichen «Präsenz»31 des Okzitanischen in diesem Teil Okzitaniens aus den umfangreichen Daten seiner Untersuchung zieht, lassen die Diskrepanz zwischen Konstruktion und materieller Realität noch eklatanter erscheinen: «La langue occitane n’a plus de place dans l’espace public depuis longtemps. […] La figure des braves paysans portant béret et devisant en occitan sur la place du marché fait partie aujourd’hui de l’imagerie d’Épinal. Lors des assemblées villageoises ou familiales l’emploi du français est partout de rigueur. Les locuteurs sont peu nombreux et isolés. [… U]n grand nombre de locuteurs sont coupés de leur cercle de relation. Nous estimons que la moitié au moins des locuteurs actuels n’ont strictement aucun usage de leur langue native» (Bernissan 2012, 485).

Welche Beweggründe gibt es nun, diesen Teil der Realität in den Repräsentationen in den Hintergrund zu rücken oder ganz auszublenden? Loyer stellt diesbezüglich fest, dass es hier im Falle von Regionalsprachen nicht zuletzt – und analog zur Funktion von Autochthoniediskursen, einen Gebietsanspruch zu legitimieren – um Argumentationsgrundlagen geht: «Ce n’est pas parce que l’on décrit les représentations territoriales liées à des revendications en faveur d’une langue minoritaire que l’on voit du séparatisme dans ces revendications. Même si l’on pense qu’il n’y aura pas de conflit grave entre locuteurs, ces représen-

|| 31 Zum Begriff der «sprachlichen Präsenz» cf. 6.1.1.

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tations sont un élément de l’analyse dès lors qu’elles font partie des arguments utilisés pour favoriser la pratique d’une langue ou d’une autre» (Loyer 2002, 20; meine Hervorhebung).

Die materielle Praxis der okzitanischen Sprache als herausragendes Element der Konstruktion einer gemeinsamen Identität steht angesichts der wenigen Sprecher, ihrer Isolation und der entsprechend niedrigen kommunikativen Austauschfrequenz im krassen Gegensatz zur sprachpolitisch vereinnahmten, idealisierenden Repräsentation des Sprach- und Kulturgebietes und ihrer diskursiven Überhöhung. Dass der Süden Frankreichs dennoch gemeinhin mit der okzitanischen Sprache und ihren Dialekten assoziiert wird, zeugt vom konstruktivistischen Charakter der Repräsentation von Sprachgebieten, deren Beständigkeit auch von der geschichtlichen Fundierung und der Reproduktion solcher Bilder abhängt.

5.2.2.2 Abgrenzung und Markierung des Raums Im Anschluss an die diskursive Konstruktion sprachlicher Territorien stellt sich weiterhin die Frage, wie sich sprachliche Territorialität als Strategie der Raumaneignung, Abgrenzung und Markierung im Konkreten äußert. Gerade im Kontext einer auch in der materiellen Praxis überall präsenten Staats- oder Nationalsprache ist die Hervorhebung des Regionalen, also die Territorialisierung einer Regionalsprache, zwar schwierig, aber auch von besonderem Interesse. Im Mittelpunkt steht hier der Begriff der Grenze als Abgrenzung nach außen und schließlich die «Markierung des Raumes», die in gleicher Weise als Mittel der dann jedoch flächendeckenden Abgrenzung aufzufassen ist. Ganz konkret grenzen sich Sprachgebiete in erster Linie durch Außengrenzen voneinander ab. Begrifflich stellt sich dabei die Frage, ob die Grenzen sprachlicher Territorien mit Sprachgrenzen im dialektologischen Sinn gleichgesetzt werden können: Während Sprachgrenzen das Ergebnis dialektologischer Feldforschung und wissenschaftlicher Abstraktion sind, insofern sie – außer im Falle der Grenzen zwischen typologisch distanten Sprachen – auf der Interpretation und Bündelung von Isoglossen basieren, handelt es sich bei Territorien um gesellschaftliche Konstruktionen, die aus ganz unterschiedlichen Formen der Abgrenzung entstehen. Sprachliche Territorien als Projektion einer kulturellen Praxis auf den Raum sind, wie gezeigt wurde, nicht unmittelbar an den realen Sprachgebrauch gekoppelt, sondern können von ihm abweichen. Während die Grenzen eines Territoriums in der kartographischen Repräsentation des Gebietes präzise definiert erscheinen, kann der tatsächliche Sprachgebrauch eine ganz andere räumliche Verbreitung aufweisen. So muss die Praxis einer Nationalsprache und damit

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auch ihre Sprachgrenze nicht mit den Grenzen des Staates, in dem sie flächendeckend territorialisiert ist, identisch sein. Ebenso wenig decken sich die heute anzusetzenden Grenzen der Gebiete, in denen das Okzitanische real gebraucht wird, mit dem historischen Gebiet der Okzitania, das weiterhin als Sprachgebiet des Okzitanischen repräsentiert wird – selbst wenn die Umrisse des Gebietes in diesem Fall die Realität des Sprachgebrauchs vom Ende des 19. Jahrhunderts, wie sie von Dialektologen interpretiert wurde, abbilden (cf. 5.3). Wenn dagegen Asturien ein Idiom, das im westlichen, an Galicien grenzenden Teil der Region gesprochen wird, als eine eigenständige Sprache mit der Bezeichnung gallegoasturiano verstanden wissen will, wohingegen Galicien dieselbe Varietät als das «in Asturien gesprochene Galicisch» bezeichnet (cf. Tacke 2012d, 369s.), so wird deutlich, dass explizite politische, d.h. staatliche oder – wie in diesem Fall – innerstaatliche und administrative Grenzen oft mit sprachlichen Grenzen gleichgesetzt werden, ob diese Identifizierung in der Realität der Praxis nun gerechtfertigt ist oder nicht. In der allgemeinen Vorstellung der räumlichen Verbreitung der Sprachen in Spanien ist eine Gleichsetzung des Sprachgebietes des Galicischen mit Galicien, des Asturischen mit Asturien etc. trotz einer de facto komplexeren Realität durchaus üblich, was als weiterer Beleg für den Konstruktionscharakter der Abgrenzung sprachlicher Territorien gelten mag. Als konstitutiver Teil des (sprachlichen) Territoriums ist auch die Grenze gesellschaftlich konstruiert und somit zunächst Teil der Vorstellungswelt einer Gemeinschaft. Entsprechend beschreibt Viaut (2004, 10) sie als «ligne de partage et de passage [qui] marque un franchissement entre deux ensembles identifiés comme étant différents par les représentants des sociétés concernées et/ou leurs membres». In diesem Sinne erscheint es sinnvoll, einerseits zwischen arealen Sprachgrenzen, die auf der geographischen Distribution der Sprecher und des realen Sprachgebrauchs basieren, und andererseits territorialen Grenzen zu unterscheiden, wobei letztere schwächer («weiche» Aneignung) oder stärker («harte», d.h. politisch-juristische Aneignung) sichtbar bzw. «lesbar» sein können: «Une grande lisibilité se traduit théoriquement par l’instauration de frontières qui délimitent clairement le dedans et le dehors, l’intérieur et l’extérieur, ce qui relève du territoire et ce qui lui échappe. L’existence de telles limites suppose une forte injection d’idéologie territoriale et, plus encore, de pouvoir, d’organisation politique» (Di Méo 1998, 55s.).

Bei der Frage der möglichen Arten der Abgrenzung sprachlicher Territorien hat sich Viaut (2004; 2010) daher ausführlich mit den Beziehungen zwischen verschiedenen Typen der Begrenzung, v.a. der Relation zwischen spracharealer und politisch-administrativer Begrenzung beschäftigt. Er bezeichnet die Relation «à plusieurs niveaux entre langue et frontière administrative et/ou étatique au sens

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large, réelle ou imaginaire» als einen der Gründe für die verschiedenen «connotations idéologiques, identitaires et politiques dont peut être porteuse la notion de frontière linguistique» (Viaut 2004, 10). Unter der Bezeichnung «‹exofrontière› linguistique» (2004, 11) konzipiert Viaut einen Begriff der Sprachgrenze, der sich analytisch aus mehreren Komponenten zusammensetzt: Zunächst geht er aus von einer «limite linguistique traditionnelle externe, celle de la langue héritée, transmise sur place ou en rapport avec le territoire linguistique d’origine», welche wiederum in Relation mit einer «limite politico-administrative externe de langue» (ib.) stehen könne, die er wie folgt beschreibt: «[Les limites politico-administratives] qui définissent un cadre administratif, en incluant et gérant, contribuent à en définir les contours et la nature […] d’une langue. Dans quelques cas, tout au moins sur partie de la frontière externe, il pourra y avoir adéquation entre les deux réalités, linguistique et politico-administrative, parce que la langue est à l’origine de cette dernière ou, en tout cas, y exerce une influence repérable» (Viaut 2004, 11).

Schließlich sei die exofrontière linguistique auch als Grenze auf identitärer Ebene zu begreifen, als «limite ‹linguistico-identitaire›, produit de l’imaginaire, du mythe et, plus globalement, de représentations […] dans le cadre d’une logique de construction identitaire, régionale ou nationale» (ib., 12). In jedem einzelnen Fall könne die zu beschreibende Sprachgrenze unterschiedlich konfiguriert sein, «plutôt par une limite que par une autre, ou bien encore par une combinaison de plusieurs d’entre elles» (ib.). Die «Lesbarkeit» der Grenze sprachlicher Territorien hängt insofern von diversen Variablen ab, deren Konfiguration eine stärkere oder schwächere Wahrnehmbarkeit bedingt. Grundsätzlich gilt, dass ein Sprachgebiet dann am deutlichsten nach außen abgegrenzt ist, wenn die Konturen der Verbreitung einer Sprache mit den Grenzen eines politisch-administrativen Gebietes übereinstimmen (oder sich infolge von sprachlichen Konvergenz- und Divergenzprozessen einander angepasst haben, cf. Auer 2004) und dieses Gebiet zugleich einer «historischen Region» entspricht, mit der sich die Bevölkerung identifiziert. Dies mag etwa die räumliche Prägnanz der spanischen Regionalsprachen im Einklang mit den comunidades históricas veranschaulichen.

5.2.2.3 Abgrenzung und Markierung im Raum Die Frage der konkreten Lesbarkeit von Außengrenzen leitet über zu den generellen Abgrenzungsstrategien und der «flächendeckenden» Markierung im Raum. Sprachlich markiert ist ein Gebiet schließlich nicht nur an der Grenze, sondern an allen für die Bewohner relevanten Orten durch Beschilderungen, amtlicher wie privater Natur, die man als konkrete Ausdrucksformen des sozialen Raums einer

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Gemeinschaft und zugleich als Artefakte des Sprachgebrauchs auffassen kann. Gerade im Kontext mehrsprachiger Gesellschaften kann die Beschilderung innerhalb des Gebietes als Mittel der Abgrenzung verstanden werden: Wo mehrere Sprachen in einer Gesellschaft und damit in einem Gebiet koexistieren, muss die Abgrenzung der «gebietseigenen» von der Nationalsprache im Innern des von der Sprechergemeinschaft der Regionalsprache beanspruchten Territoriums funktionieren. Hier gilt also das Motto: «Dénommer, c’est déjà s’approprier (Lévy 2003, 908)». Auch der Geograph Joël Pailhé sieht Sprache und speziell Toponymie in dieser Funktion: «La langue est aussi un marqueur territorial, notamment par la toponymie. Elle désigne les aires de diffusion et d’extension, sans rapport direct avec la situation actuelle des locuteurs. Il s’agit donc d’héritages de pratiques entrant dans le cadre de la géohistoire et de la dimension territoriale des identités historiquement construites» (Pailhé 2007, 66).

In Bezug auf die sprachliche Aneignung von Territorien wurde bereits auf die Rolle der Toponymie hingewiesen, die nun bei der Markierung des Raumes – freilich gleichzeitig als Mittel der Aneignung – wiederum von besonderer Relevanz ist und hier vertieft behandelt werden soll. Toponyme stehen als «Teil des sprachlichen Inventars einer Gemeinschaft» (Debus 1995, 393) nicht nur in einer referentiellen Beziehung zum Raum, sondern repräsentieren zugleich als auch «sozial verankerte sprachliche Zeichen» (ib.) eine Gesellschaft im Allgemeinen und eine Sprechergemeinschaft im Speziellen. Historisch betrachtet wurden Ortsbezeichnungen schon im Mittelalter zum Zweck der Raumaneignung instrumentalisiert, wie etwa die repoblaciones im Zuge der Reconquista unter Alfons dem Weisen belegen.32 Bezogen auf eine primär sprachliche Raumaneignung geht Kühebacher (1996) jedoch davon aus, dass Ortsnamen erst seit dem 19. Jahrhundert, «als ihre Aussagekraft ein wirksames Mittel nationalstaatlicher Bestrebungen wurde» (1996, 1802), diese Bedeutung haben und damit auch eine Funktion für die Territorialität einer Sprechergemeinschaft in mehrsprachigen Kontexten annahmen. Dabei wurden regionale Ortsnamen zunächst inso-

|| 32 So wurde (erfolglos) versucht, per königlichem Dekret die Namen von 60 unter der arabischen Bevölkerung verwendeten Ortsnamen in der Region Sevilla mittels der im Libro de repartimiento überlieferten Formel «X, a que puso el rey nombre Y» durch neue Bezeichnungen zu ersetzen. Ruhstaller/Gordón Peral (2013, 19s.) zufolge ging es Alfons X. dabei darum, «[de] suprimir [las formas tradicionales] para dejar una señal inequívoca del nuevo dominio» (cf. auch Ruhstaller 1990). Wenn es sich hier auch noch nicht um sprachliche Territorialität im hier konzipierten Sinn handelt, so zeigt das Beispiel Alfons’ X. gleichwohl, welche Bedeutung Ortsnamen als Herrschaftssymbolen beim Ausdruck von Gebietsansprüchen schon in früheren Zeiten zukam.

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fern verdrängt, als sie häufig zumindest in der Schreibweise und Lautung in Richtung der prestigereicheren Nationalsprachen verändert wurden: Die flächendeckende Durchsetzung der Nationalsprachen «beeinflußte auch die Lautformen der bodenständigen [!] Namen, besonders in Gegenden, in denen die angestammte [!] Sprache der übergeordneten kulturell unterlegen war» (ib.). Wenn es heute darum geht, die eigene kulturelle und sprachliche Besonderheit auf regionaler Ebene hervorzuheben, dann kann es kaum überraschen, dass Toponyme den ersten Ansatzpunkt bieten, diese sprachliche Eigenständigkeit auch im Raum sichtbar zu machen. So stellt Giblin (2012, 12) fest, «un des premiers moyens d’affirmer une spécificité régionale est de marquer le territoire par des toponymes en langue régionale». Diese Markierung sei je nach Kontext politisch motiviert, also als bewusster Akt der Territorialisierung und Abgrenzung zu interpretieren. Abgrenzung und Aneignung könnten insofern auch die (arealen) Grenzen eines Sprachgebietes überschreiten, wie Giblin am Beispiel bretonischer Toponyme beschreibt, die zur Markierung der historischen Region dienen sollen: «On peut se dire qu’il y a dans ces traductions [en langue régionale] un côté sympathique, couleur locale, mais ce n’est pas toujours le cas. En Corse, au Pays basque, on sait bien que le marquage du territoire par les toponymes est aussi un message politique. On peut d’ailleurs s’interroger sur l’extension des toponymes en breton en pays gallo, où jamais ils n’ont connu d’appellation bretonne. Cherche-t-on à faire coïncider l’aire du néo-breton avec les limites historiques du duché de Bretagne» (Giblin 2002, 11s.)?

Den Stellenwert von Ortsnamen haben aber auch übergeordnete Institutionen, die sich den Erhalt von Regionalsprachen auf die Fahnen geschrieben haben, erkannt. Kühebacher formuliert den Grundsatz dieser Politik deontisch: «Jede Sprachminderheit muß die Möglichkeit haben, sich ihrer sprachlichen Identität bewußt zu werden, zu der auch die geographischen Namen als Teil der Sprache gehören» (1996, 1802) und verweist auf die entsprechenden Empfehlungen der Vereinten Nationen, die 1972 bei der Second United Nations Conference on the Standardization of Geographical Names formuliert wurden: So seien «place names in the minority language in their territory [= Hoheitsgebiete der Staaten]»33 in Absprache mit den Sprechern zu berücksichtigen und in offiziellen Karten und Amtsblättern zu verzeichnen. In der Folge dieser Empfehlungen sieht Kühebacher «in Europa, aber auch außerhalb davon die Tendenz, die Minderheitenspra-

|| 33 United Nations Conference on the Standardization of Geographical Names, Resolutions adopted at the ten United Nations Conferences on the Standardization of Geographical Names, 1967–2012, p. 110, [letzter Zugriff: 25.03.2013].

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chen und ihr Namengut zu schützen, was oft mit einer Aufgabe oder Verminderung der aus der Staatssprache gebildeten Namen verbunden ist» (1996, 1803). Dass dies auch auf den Sprachenschutz im Rahmen des Europarats und andere sprachplanerische Instrumente zutrifft, wird in Kapitel 6 ausgeführt. Inwiefern markieren nun Toponyme als Elemente der Konstruktion einer territorialen Raumbezogenheit der Sprache ein Gebiet? Dies geschieht, systematisch betrachtet, auf mehreren Ebenen gleichzeitig: – In der sprachlichen Interaktion verweisen Toponyme auf den Raum und markieren damit auch den Bezug der Sprache des Toponyms zu dem bezeichneten Raum; – auf Schildern angebracht, d.h. – mit Bühler gesprochen – symphysisch eingebettet und «dingfest angeheftet» (1934/1999, 159), kennzeichnen Toponyme den jeweiligen Ort oder die jeweilige Gegend unmittelbar durch Ortsoder Flurnamen oder sie verweisen als «dingliche Zeiger» auf Wegweisern («Fernanhefter») auf Orte und Gegenden; – in kartographischen Repräsentationen wie Landkarten kennzeichnen Toponyme die Orte in einer bestimmten Sprache und damit als Teil des entsprechenden Sprachgebietes.34 In einem Gebiet, in dem Staats- und Regionalsprachen koexistieren, vollzieht sich die Abgrenzung und Markierung des Raumes am deutlichsten in Form von ausschließlich regionalsprachlichen, d.h. endogenen bzw. als autochthon betrachteten Orts- und Flurnamen. Dies ist in weiten Teilen der sprachlich bis hin zur kommunalen Ebene nach dem Territorialitätsprinzip organisierten Schweiz der Fall, wie Kühebacher beschreibt: «Es gibt in der deutschen Schweiz nur deutsche, in der französischen nur französische, in der italienischen nur italienische und in der rätoromanischen weitgehend nur rätoromanische Namen. Einnamigkeit gilt auch in den mehrsprachigen Kantonen. Der französischsprachige Kanton Jura hat einen einzigen deutschen Ort, dessen amtlicher Name Ederswiler lautet. Ebenso hat im rätoromanischen Vorderrheintal die deutsche Walserkolonie Obersaxen amtlich nur diesen Namen. Durch die offiziellen Ortsnamen wird der Sprachgrenzverlauf innerhalb des Kantons Freiburg markiert: östlich von Freiburg haben wir die deutschen Namen Tafers, St. Ursen, Giffers, westlich die französischen Namen Marly, Granges-Paccot, Praroman» (Kühebacher 1996, 1805).

|| 34 Man beachte in diesem Zusammenhang Teil c) der o.g. Empfehlung der Vereinten Nationen (Anm. 33): «Publish the standardized names [in the minority language] in their [= the countries’] official maps and national gazetteers».

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Ortsnamen tragen insofern dazu bei, Sprachgebiete voneinander abzugrenzen und sie als angeeignete Territorien zu markieren. Ausgehend von diesem Idealfall in Bezug auf die «Lesbarkeit» eines Sprachgebiets kann der territoriale Raumbezug einer Regionalsprache dort, wo auf Schildern und Karten sowohl die staatssprachliche als auch die regionalsprachliche Bezeichnung notiert ist, im Übrigen genauso klar oder noch deutlicher sein, weil gerade bei typologisch ähnlichen Sprachen, wie dies in der Iberoromania der Fall ist, erst das Nebeneinander von zwei Versionen im Vergleich zu einsprachigen Gebieten ein besonderes Bewusstsein über die Existenz einer weiteren, endogenen bzw. «gebietseigenen» Sprache schafft. Werden regionalsprachliche Ortsbezeichnungen indessen ausschließlich mündlich, d.h. in der Interaktion der Bewohner verwendet, bleibt das Gebiet diesbezüglich weitgehend unmarkiert und ist für den «Außenstehenden» unsichtbar. Bei der sprachlichen Markierung eines Territoriums machen Ortsnamen zwar einen bedeutsamen, insgesamt jedoch nur kleinen Teil der öffentlich sichtbaren sprachlichen Artefakte aus. Darüber hinaus ist heute beinahe der gesamte öffentliche Raum sprachlich gekennzeichnet, insofern die moderne Gesellschaft in besonderem Maße durch Schriftlichkeit geprägt ist, wodurch Sprache gewissermaßen omnipräsent und visuell erfahrbar wird: «Il piano della territorialità concreta, fisica, è sanz’altro quello più immediatamente intuibile» (Giannelli 2008). Wiederum gilt, dass die Frage der Sprache, in der solche schriftlichen Äußerungen des Sprachgebrauchs im öffentlichen Raum abgefasst sind, besonders in mehrsprachigen Gebieten sowie an den Grenzen zwischen Sprachgebieten von Relevanz ist. Unter dem von den Kanadiern Rodrigue Landry und Richard Y. Bourhis (1997) geprägten Begriff des linguistic landscape, wird dieser visuell erfahrbare Aspekt sprachlicher Raumbezogenheit zu einem eigenen Untersuchungsgegenstand erhoben: «The language of public road signs, advertising billboards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings combines to form the linguistic landscape of a given territory, region, or urban agglomeration» (Landry/Bourhis 1997, 25).

Die hier gegebene Auflistung wurde dabei in der weiteren Anwendung des Konzepts auf jede Form des sich in der Öffentlichkeit schriftlich manifestierenden Sprachgebrauchs erweitert.35 Wesentlich für das Konzept ist der Aspekt der

|| 35 Cf. dazu die Entfaltung des Begriffs in zahlreichen Einzelstudien v.a. in den Bänden von Gorter (2006) und Gorter/Shohamy (2008).

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Sichtbarkeit und Wahrnehmung der Sprachen. Landry/Bourhis formulieren neben einer Grunddefinition auch Interpretationsansätze: «Linguistic landscape refers to the visibility and salience of languages on public and commercial signs in a given territory or region. It is proposed that the linguistic landscape may serve important informational and symbolic functions as a marker of the relative power and status of the linguistic communities inhabiting the territory» (Landry/Bourhis 1997, 23).

Die Elemente, die in ihrer Gesamtheit die «sprachliche Landschaft» eines Gebietes bilden, erfüllen nach dieser Konzeption im Einzelnen mehrere Funktionen. Als Informationsfunktion bezeichnen Landry/Bourhis die Eigenschaft des linguistic landscape, als Distinktionselement zwischen Sprachgebieten oder auch zwischen Sprechergruppen innerhalb desselben Gebietes zu dienen: «The most basic informational function of the linguistic landscape is that it serves as a distinctive marker of the geographical territory inhabited by a given language community. The linguistic landscape also serves to delineate the territorial limits of the language group it harbors relative to other linguistic communities inhabiting adjoining territories. Consistent use of a single language within the linguistic landscape of a territory can contribute to clear-cut language boundaries between adjoining language groups in a given geographical region. […] Thus the linguistic landscape serves to inform in-group and outgroup members of the linguistic characteristics, territorial limits, and language boundaries of the region they have entered» (Landry/Bourhis 1997, 25).

Die «sprachliche Landschaft» kann gleichsam über das Verhältnis von mehreren Sprechergruppen in demselben Gebiet Aufschluss geben. Als Konfliktsituation betrachtet ist hier die Rede von «the relative power and status of competing language groups» (ib., 26). Des Weiteren üben die Elemente eine symbolische Funktion aus, die Landry/Bourhis vor allem dort ansetzen, wo Sprache das konstitutive Element der ethnischen Identität einer Gemeinschaft repräsentiert: «Thus inclusion of the in-group language on public signs can serve a symbolic function that is affectively charged and that complements the informational function of the linguistic landscape. The symbolic function of the linguistic landscape is most likely to be salient in settings where language has emerged as the most important dimension of ethnic identity» (Landry/Bourhis 1997, 27).

Nach meiner Auffassung sind die hier beschriebenen Funktionen, die informative wie die symbolische, in gleicher Weise Manifestationen der Territorialität von Sprechergruppen, da es in beiden Fällen um die Markierung des beanspruchten Raumes im Wechselspiel von Identität und Alterität (in-group vs. out-group) geht. Damit schreibt sich die Markierung des Raums durch die Etablierung einer

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«sprachlichen Landschaft» in die Territorialität menschlicher Gruppen ein, die – wie Eibl-Eibesfeldt betont (cf. 5.2.1.1) – nach außen zur Abgrenzung und nach innen zur Stärkung der Solidarität und Gruppenidentität dient. Als Element eines Konzeptes sprachlicher Territorialität bietet der Begriff des linguistic landscape einen interessanten Ansatz, lassen sich unter ihm doch nicht nur Ortsnamen, sondern jegliche im öffentlichen Raum präsenten Artefakte des Sprachgebrauchs fassen und in Bezug auf die Territorialisierung einer Sprache untersuchen. Für die Interpretation der Konfiguration einer «sprachlichen Landschaft» ist dabei die Unterscheidung zwischen sog. top-down-Elementen, d.h. Beschilderungen, die durch öffentliche Institutionen reguliert werden, und nicht regulierten, unmittelbar von den Sprechern und Sprechergruppen bzw. privaten Entitäten angebrachten bottom-up-Elementen wichtig (cf. Gorter 2006a, 3). Hier äußert sich die Territorialität einer Sprechergemeinschaft also wiederum unmittelbar im Verhalten der Sprecher(-gruppen) und mittelbar durch das regulierende Handeln von Institutionen. Landry/Bourhis erläutern ihr Konzept selbst am Beispiel des Nebeneinanders rechtlich verankerter, einsprachiger Sprachgebiete in Belgien, wo das Überschreiten der Sprachgrenze unmittelbar im linguistic landscape manifest und erfahrbar wird. Im mehrsprachigen Raum, also innerhalb eines Gebietes, können Abgrenzungsstrategien ebenfalls nachvollzogen werden, wenn man den bei Landry/Bourhis immer wieder erwähnten Begriff der Salienz hinzuzieht. Veranschaulicht wird dies beispielsweise in der Untersuchung der sprachlichen Markierungen im spanischen País Vasco von Gorter (2006b), wo öffentliche Schilder sowohl auf Baskisch als auch auf Kastilisch beschriftet sind. Die Minderheitensprache Baskisch wird hier sprachpolitisch motiviert im öffentlichen Raum präsent gemacht. Obwohl die Sprache soziolinguistisch noch immer im Nachteil ist und ein großer Teil der Bevölkerung sie nicht einmal passiv versteht, wird sie auf Schildern immer zuerst, d.h. noch vor dem eigentlich dominanten Kastilischen aufgeführt. Die Salienz der «gebietseigenen» Sprache wird hier also durch die (vertikale) Reihenfolge erzeugt: Das Baskische ist dadurch gewissermaßen als die «Hauptsprache» der Region, als Sprache des Territoriums gekennzeichnet. Das seitens institutioneller Akteure konstruierte Sprachgebiet findet sich dagegen auf allgemein-gesellschaftlicher Ebene kaum wieder, denn die auf diese Weise von öffentlicher Seite suggerierte gesellschaftliche Position und Bedeutung des Baskischen findet sich in der bottom-up-Beschilderung nicht nur nicht bestätigt, das Baskische ist hier praktisch nicht präsent. Den Grad der Territorialisierung einer Sprache zu bestimmen, erfordert also eine gemeinsame Betrachtung sowohl der amtlich regulierten, als auch der von individuellen Akteuren geprägten «sprachlichen Landschaft».

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5.2.3 Die Perspektive der Sprecher Die bisherige Skizze umfasst die wesentlichen Elemente zur Beschreibung dessen, was hier als sprachliche Territorialität und sprachliches Territorium konzipiert wird. Dabei wurden diese jedoch bislang vor allem aus einer objektiven Perspektive charakterisiert, d.h. die Akteure der Konstruktion des territorialen Raumbezuges einer Sprache – die Sprechergemeinschaften, die individuellen Sprecher und die sie repräsentierenden Institutionen – wurden zwar berücksichtigt, jedoch sozusagen nur «von oben» betrachtet. Dabei ist sprachliches Territorialverhalten auf der einen Seite und das gedachte, diskursiv evozierte und sich in Repräsentationen, in Abgrenzungsstrategien und der Markierung des Raumes manifestierende sprachliche Territorium andererseits ja gerade für die Sprecher ein bisweilen wesentlicher Teil der räumlichen Welterfahrung und Wirklichkeitsstrukturierung. Das Sprachgebiet wird folglich, trotz seines Konstruktionscharakters, zu einem Element der gelebten Realität der Sprecher. Umgekehrt verteidigen die Sprecher die gedachte Territorialität «ihrer» Sprache ganz konkret oder geraten in Konflikt mit der institutionell durchgesetzten politischjuristischen Territorialität einer Sprache. Die Manifestationen sprachlicher Territorialität und das sprachliche Territorium aus einer subjektiven Perspektive als Teil der Lebenswelt der Sprecher – ihres espace vécu – in den Blick zu nehmen, erscheint mir insofern nicht nur legitim, sondern notwendig, will man das Phänomen der Assoziation von Sprache und geographischem Raum umfassend untersuchen sowie gewisse (territoriale) Verhaltensweisen der Sprecher und, übergeordnet, die Hintergrundmotive bestimmter sprachpolitischer Akte richtig verstehen. Dazu sollen im Folgenden zunächst konkrete Manifestationen sprachlicher Territorialität am Beispiel von Sprecherinteraktionen in alltäglichen Kommunikationssituationen dargestellt werden (5.2.3.1). Im Anschluss daran wird das sprachliche Territorium, wie es im vorigen Abschnitt skizziert wurde, noch einmal hinsichtlich seiner Relevanz für die Lebenswelt der Sprecher erörtert, um gleichzeitig das Interesse seitens sprachpolitischer Akteure an der Modifizierung dieses territorialen Umfelds zu erklären (5.2.3.2).

5.2.3.1 Die Sprecher und die Territorialität der Gemeinschaft Sprachliche Territorialität manifestiert sich nicht ausschließlich im sprachplanerischen Handeln von staatlichen oder regionalen Institutionen, das konkret in Form von den Sprachgebrauch regulierenden Gesetzen und Verordnungen nachvollzogen werden kann. Sprachliche Territorialität als Strategie, die «eigene» Sprache im «eigenen» Gebiet zu territorialisieren und als dominante (oder

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exklusive) Kommunikationspraxis durchzusetzen, leitet sich vielmehr aus der identitären Beziehung zwischen einer Sprechergemeinschaft und dem beanspruchten Gebiet ab. Während sich das territoriale Verhalten einer Sprechergemeinschaft nur abstrakt denken lässt, kann sprachliche Territorialität in der kommunikativen Interaktion auf individueller Ebene bei genauer Betrachtung ganz konkret nachvollzogen werden. Dabei zeigt sich der espace vécu den Frémont (1974, 231) als «expérience individuelle (sensible, affective, symbolique)» definiert, auf allen genannten Ebenen, wobei insbesondere auch das emotionale Erleben, die dimension affective, sichtbar wird, wenn es um die Verteidigung (sprachlicher) Gebietsansprüche geht. Dies wird nachstehend am Beispiel von zwei alltäglichen Kommunikationssituationen veranschaulicht, in denen zwei sich unbekannte Sprecher (einer spricht nur die Staats-, der andere spricht sowohl die Staats- als auch die Regionalsprache) miteinander auf dem Gebiet der Region kommunizieren: – Situation A: auf der Straße; zwei Privatpersonen – Situation B: in einer regionalen Behörde; Privatperson und Beamter Situation A, die ich als prototypische Situation zum Zweck der Anschaulichkeit konstruiere, kann als Beispiel für eine sich auf individueller Ebene manifestierende sprachliche Territorialität gelten, die sich so oder so ähnlich z.B. in Teilen der Països Catalans36, vor allem wohl in Katalonien täglich abspielt, wenn kastilischsprachige Spanier aus anderen Teilen des Landes einheimische Bürger auf Kastilisch ansprechen, ihnen jedoch auf Katalanisch geantwortet wird, wovon etwa ein Diskussionsforum im Internet mit dem Titel «¿Si pregunto en español por qué me responden en catalán?»37 zeugt. Solche Situationen erweisen sich nicht selten als Konflikt, denn beide an der Interaktion beteiligten Sprecher verstehen das Kastilische, während das Katalanische meist nur von der einheimischen Person verstanden und gesprochen wird. Anhand dieses Beispiels lassen sich mehrere Aspekte sprachlicher Territorialität erläutern: Zunächst einmal kann das beschriebene Interaktionsverhalten unter rein kommunikativen Prämissen nicht unmittelbar erklärt werden; im Gegenteil, der Katalanischsprecher verstößt vielmehr bewusst gegen das Grice’sche Kooperationsprinzip, wenn er entgegen seiner sprachlichen Kompetenz in der dem Fra-

|| 36 Man beachte, dass es sich bei den Països Catalans um eine weitere, vornehmlich politisch intendierte Konstruktion eines Gebietes handelt, das sich v.a. aufgrund einer gemeinsamen Sprache, Kultur und Geschichte begründet. 37 Zu finden unter: [letzter Zugriff: 26.03.2013].

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genden unverständlichen Sprache antwortet. Hier manifestiert sich vielmehr die individuelle Territorialität des Sprechers als Mitglied einer Sprechergemeinschaft, die den besiedelten Raum als Sprachgebiet beansprucht und verteidigt. Der Katalanischsprecher macht deutlich, dass das Katalanische die vor Ort zu verwendende, weil «gebietseigene» Sprache ist. Die Sprache wird auf diese Weise von der Staatssprache abgegrenzt, deren Legitimität als Kommunikationsmittel man für die eigene Region in Abrede stellt. Daraus lässt sich schließen, dass der Katalane die Verwendung des Kastilischen als «Grenzüberschreitung» empfindet, auf die er zunächst mit der Verweigerung der Kooperation reagiert, die er jedoch – unter bestimmten Voraussetzungen – auch akzeptieren könnte. Ethologisch betrachtet ist es nicht unüblich, «Grenzüberschreitungen» «Fremder» zu tolerieren, sofern diese «aggressionsbeschwichtigende Rituale» (Eibl-Eibesfeldt 1999, 769) einhalten. Auch in Bezug auf sprachliche Territorialität sind solche Rituale naheliegend: In der sprachlichen Interaktion wären hier Phänomene zu nennen, die im Rahmen der Höflichkeitsforschung mit Brown/Levinson (1990, 70) als «essentially avoidance-based» qualifiziert werden können: Prototypisch wäre innerhalb der skizzierten Situation etwa ein mit einer Entschuldigung ansetzender und mit einer höflichen Frage verknüpfter Kommunikationsauftakt seitens des «eindringenden» Kastilischsprechers, so wäre wohl folgende Aussage denkbar: «Lo siento, no hablo catalán. ¿Podría preguntarle en castellano si/dónde/cuándo …?» Dadurch signalisiert der Sprecher, dass ihm bewusst ist, sich im katalanischen Sprachgebiet zu befinden und dass er die Vorrangigkeit, die das von ihm nicht beherrschte Katalanische als autochthone Sprache gegenüber dem Kastilischen in den Augen vieler Katalanen hat, akzeptiert. Die Autochthonie des Katalanischen begründet hier also den privilegierten Gebietsanspruch gegenüber einer spanischen Staatssprache, die historisch betrachtet erst später implementiert wurde. Viele Spanier empfinden es freilich als unhöflich, dass ihnen in Katalonien nicht auf Kastilisch geantwortet wird, obwohl es als Staatssprache von allen verstanden und gesprochen wird. Als misión gibt das o.g. Forum daher aus: «reivindicar la cortesía y la educación por encima de todo», was als weiterer Beleg für die Korrelation von sprachlicher Territorialität und Höflichkeit gewertet werden kann. Die Situation macht deutlich, wie sich das individuelle Territorialverhalten in die Territorialität der Sprechergemeinschaft insgesamt einfügt. Situation B, die ich anhand eines einzelnen, jedoch paradigmatischen Beitrags zu einem anderen Internetforum erläutere, vermag zu zeigen, dass das Verhalten von Privatpersonen ebenso wie das Verhalten von Repräsentanten offizieller Behörden Manifestationen derselben sprachlichen Territorialität auf jeweils unterschiedlichen Ebenen darstellen – wieder spiegelt sich die Territorialität einer Sprechergemeinschaft bzw. einer sie repräsentierenden Institution im

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 169

Handeln der Individuen. Unter dem Pseudonym paisa beschreibt ein das Kastilische präferierender katalanischer Bürger den Kontakt mit Verwaltungsbeamten der Stadtverwaltung Barcelonas wie folgt: «Cuando acudo al Ayuntamiento de Barcelona para alguna gestión, el funcionario de turno me responde en catalán, siendo como es que siempre me dirijo a ellos en castellano […]. Me responden en catalán y yo en mi castellano les pregunto que [sic] es lo que me han dicho. No cejo hasta que me responden en castellano. Si necesito un impreso – siempre todos los impresos están únicamente en catalán – exijo el impreso en castellano y hago que me lo proporcionen en castellano».38

Das beschriebene Verhalten des katalanischen Beamten stand in diesem Fall im Einklang mit den geltenden Verwaltungsdirektiven; er vertritt eine Behörde, die einer entsprechenden Sprachpolitik folgt, welche ganz explizit die Territorialisierung der «eigenen» Sprache und eine im gesetzlichen Rahmen des spanischen Staates möglichst weitreichende Abgrenzung des Katalanischen vom Kastilischen zum Ziel hat.39 Die Territorialität der katalanischen Sprechergemeinschaft äußert sich also einerseits über die gesetzlichen Handlungsmöglichkeiten der regionalen Behörden (politisch-juristische Territorialität) und andererseits im Handeln der Individuen, d.h. der Beamten. Dem Sprecher wird auch auf diesem Wege suggeriert, dass er sich auf dem Territorium der katalanischen Sprache befindet. Die «Grenzüberschreitung» desjenigen, der das Kastilische zu verwenden wünscht, muss – in der amtlich regulierten Interaktion – durch ein explizites Ersuchen («exijo el impreso en castellano») ebenfalls gewissermaßen ritualisiert vollzogen werden. Die entsprechende Verordnung sieht unter Artikel 6 vor: «Els impresos s’han d’oferir en la versió catalana, sense perjudici del dret dels particulars a emplenar-los en castellà. Les versions castellanes estaran a disposició de les persones interessades a petició d’aquestes».40

Interessant ist das Beispiel jedoch auch deshalb, weil die Empörung des Sprechers offenbar aus dem Konflikt zweier «Territorialitäten» resultiert, derjenigen

|| 38 Beitrag des Users paisa vom 04.01.2013, [letzter Zugriff: 26.03.2013]. 39 Tatsächlich wurden die Bestimmungen zum Katalanischen als zu bevorzugende Amtssprache («d’ús normal i preferent») bereits im Mai 2012 vom Tribunal Superior de Justícia de Catalunya mit Verweis auf die Rechtsprechung des spanischen Tribunal Constitucional gekippt (Sentència Nº 316/2012, 23.05.2012) (cf. 6.6.3.1). 40 Reglament d’ús de la llengua catalana de l’Ajuntament de Barcelona, 11.01.2009. Diese Bestimmung wurde ebenfalls kassiert.

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der Gemeinschaft der Katalanischsprecher (ethologisch) sowie des Katalanischen als Amtssprache (juristisch) auf der einen Seite und der Territorialität des Kastilischen als Amtssprache des Staates auf der anderen Seite. Aus der politisch-juristischen Territorialität beider Sprachen leitet sich für den Sprecher das Recht ab, in der von ihm präferierten Sprache bedient zu werden, wie er in seinem Beitrag betont: «Yo soy en esos momentos un usuario de la administración pública y haciendo uso de mis derechos como ciudadano decido yo el idioma de los dos cooficiales de mi comunidad en la que dirigirme a los funcionarios. Que lo hago porque no me sale del ciruelo que en mi comunidad los poderes públicos hayan decidido eliminar por la via [sic] de los hechos el idioma común de todos los españoles».

Wird das sprachliche Territorium wie hier aus der Sicht der Sprecher beschrieben, dann geht es um die Betrachtung des übergreifend konzipierten Territoriums aus subjektiver Perspektive, das Gebiet wird als «gelebter Raum» (Frémonts espace vécu) des erfahrenden Subjekts konzeptualisiert. Jenseits von in diesem Fall kaum nachvollziehbaren kognitiven Wahrnehmungen veranschaulichen die skizzierten Alltagssituationen, wie sprachliche Territorialität in Form von Verhaltensweisen in der konkreten Interaktion der Sprecher gewissermaßen als Spuren sichtbar wird. Zur Beschreibung und Einordnung der individuellen Erfahrung sprachlicher Territorialität kann an dieser Stelle auch an den von Thomas Krefeld konzipierten «kommunikativen Raum» angeknüpft werden, der ebenfalls auf Frémonts Begriff des espace vécu aufbaut. Krefeld beschreibt mit seinem Modell die individuell unterschiedlichen Konstellationen, in denen Sprecher in ihrer alltäglichen Praxis kommunizieren. Dabei berücksichtigt sein Modell die Kommunikationspartner, die Herkunft und das Repertoire der Sprecher, bettet diese «Räumlichkeit des Sprechers» (2004, 22) dabei jedoch in übergeordnete Kontexte bzw. Rahmen ein: einerseits unmittelbar in die «Räumlichkeit des Sprechens», d.h. den konkreten Ort und die Situation der Interaktion, und gleichzeitig in den übergeordneten Rahmen der «Räumlichkeit der Sprache». Sprachliche Kommunikation vollzieht sich, wie Krefeld entsprechend anführt, immer an einem «spezifischen, mehr oder weniger öffentlichen und mehr oder weniger vertrauten» Ort, der «in eine bestimmte […] Umgebung eingebunden [ist], die zu einem bestimmten (sanktionierten) Territorium gehört» (2004, 21s.). Will man Krefelds Modell für die Beschreibung der Korrelationen zwischen Interaktionsverhalten und sprachlicher Territorialität adaptieren, dann ist die Kombination der Variablen des jeweiligen Orts bzw. der Situation und ihrer Einbettung in ein sprachliches Territorium hervorzuheben. So beobachtet Krefeld – wie die Beispiele demonstrieren – zutreffend, dass in einer jeden Kommunikationssituation auch «die Räumlichkeit der Sprache bis zu einem gewissen Grad im

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 171

Diskurs präsent [bleibt]» (2004, 22, Anm. 30). Das oben beschriebene Beispiel (Situation B) ließe sich dann wie folgt erläutern: Der das Kastilische bevorzugende Bürger trifft in der Stadtverwaltung Barcelonas auf einen zweisprachigen Beamten und interagiert mit diesem in einem situativen und örtlichen Kontext (oder auch «Umfeld», cf. 1.5), der spezifischen institutionellen Kommunikationsregeln unterliegt (hier: Reglament d’ús de la llengua catalana de l’Ajuntament de Barcelona, cf. Anm. 40); dieser situative und örtliche Kontext ist seinerseits in den territorialen Rahmen des katalanischen Sprachgebiets eingebettet, das politisch-juristisch durch die kooffizielle Geltung sowohl des Katalanischen als auch des Spanischen als Staatssprache charakterisiert ist. Die anzunehmende Provenienz, Mobilität und das Repertoire («Räumlichkeit des Sprechers») eines katalanischen Beamten würden in Anbetracht des Kommunikationspartners die Verwendung des Kastilischen nahelegen, doch sind es die Territorialität des Katalanischen und die aus ihr abgeleiteten Regeln für die spezifische Situation amtlicher Kommunikation mit den Bürgern, die von dem Beamten für sein eigenes Verhalten als hierarchisch höher stehend interpretiert werden als die «natürliche» Bereitschaft zur Kooperation. Im Vergleich dazu ist in Situation A, der Begegnung eines Kastilisch- und eines Katalanischsprechers auf der Straße, der territoriale Rahmen des katalanischen Sprachgebietes gegeben, jedoch findet die Interaktion gerade nicht in einer durch institutionelle Regeln sanktionierten Kommunikationssituation statt. Das Verhalten des unkooperativen Katalanischsprechers – hier als Privatperson – kann also als individueller Ausdruck der Territorialität der Sprechergemeinschaft bewertet werden. Während sich die Katalanen durch die amtssprachliche Geltung des Katalanischen womöglich in ihren Gebietsansprüchen bestärkt fühlen, leitet sich das Verhalten hier jedoch nicht aus dem offiziellen Status der Sprache ab. Diese Erkenntnis ist nicht unwichtig, zeigt sich darin doch, dass die «Territorialität der Sprache» in einem rein politisch-juristischen Sinne, wie sie Krefeld in Anlehnung an die traditionelle Verwendung des Begriffs konzipiert, zu kurz greift (cf. 5.2.1); die von mir vorgeschlagene weite Konzeption sprachlicher Territorialität vermag auch das Verhalten von individuellen Sprechern als Mitglieder einer Sprechergemeinschaft zu erklären. Die beiden Kommunikationssituationen haben hinreichend veranschaulicht, in welcher Weise sich die Territorialität einer Sprechergemeinschaft unmittelbar individuell und mittelbar durch institutionelle Vertreter manifestiert. Dabei wurde auch deutlich, dass sprachliche Territorialität sich vor allem in der Konfliktsituation äußert, die Sprecher dabei bestimmte Einstellungen vertreten und in besonderer Weise emotional beteiligt sein können. Dass dazu gerade Beispiele aus dem Kontext Kataloniens Anschauungsmaterial bieten, sollte nicht weiter

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verwundern, bedenkt man, dass hier von politischer Seite der Zusammenhang zwischen Regionalsprache und Region über nationalistische Konzepte verfestigt wird und das Konzept einer katalanischen nació, propagiert über Schulbildung und Medien, zu einer sehr starken ideologischen Prägung der Bevölkerung beiträgt (cf. Süselbeck 2006). So wird das Territorium von den Sprechern dort verteidigt, wo der Gebietsanspruch der «eigenen» Sprache von anderen nicht respektiert oder ideologisch abgelehnt wird. Am Beispiel des Kastilischen bzw. des Kastilischsprechers in Katalonien wird ersichtlich, wie ein staatlich sanktioniertes Sprachgebiet und ein regionales («autochthones») Sprachgebiet in der Sprecherwahrnehmung kollidieren, da eine nationalstaatliche Ideologie auf die durch Autochthonie begründete Territorialität einer Sprache trifft, die von Regionalisten ebenso nationalistisch vereinnahmt wird.

5.2.3.2 Die Sprecher und das sprachliche Territorium Nach der im vorigen Abschnitt dargestellten Manifestation und Konfrontation individueller Sprecher mit sprachlicher Territorialität steht nun die sinnliche Erfahrung, die expérience individuelle sensible des sprachlichen Territoriums als erlebte Realität im Vordergrund: Inwiefern nimmt der einzelne Sprecher seine Umgebung als sprachliches Territorium, d.h. als durch eine Sprache und ihren Gebrauch gestaltetes Gebiet wahr? In einem weiteren Sinn geht es dabei folglich um die Präsenz der Sprache im Raum, die sinnlich, d.h. visuell wie auditiv wahrgenommen werden kann. Während in 6.1 ein umfassender Begriff «sprachlicher Präsenz» entfaltet werden soll, beschränkt sich die folgende Darstellung weitgehend auf die visuelle Erfahrung sprachlicher Territorien durch die Sprecher und die Frage, inwiefern diese durch Diskurse und Repräsentationen konditioniert wird. Mit Wahrnehmung ist freilich nicht immer bewusstes Wahrnehmen verbunden: So geht es sowohl um den «Fremden» bzw. den «Reisenden», der sich durch ein bestimmtes Gebiet bewegt und die Sprache seiner Umgebung ganz bewusst wahrnimmt, als auch um den «autochthonen Muttersprachler», der am Heimatort der für ihn selbstverständlichen sprachlich gestalteten Umwelt kaum Aufmerksamkeit schenkt. Im Folgenden sollen dazu skizzenhaft die unter 5.2.2 aufgeführten Elemente sprachlicher Territorien aus der Sprecherperspektive beleuchtet werden. Das vielleicht wichtigste Element, die gesellschaftliche, vor allem diskursive Konstruktion des sprachlichen Territoriums erfährt der in eine Gesellschaft hineingeborene und dort sozialisierte Sprecher zunächst dadurch, dass der Zusammenhang zwischen der «eigenen» Sprache und dem «eigenen» Gebiet als Teil der kollektiven Identität der Gemeinschaft diskursiv immer wieder evoziert wird. Die Vorstellung dieses Zusammenhangs wird ihm üblicherweise mittels spezifischer Repräsentationen, z.B. in Form von Karten, nahegelegt, aus denen sich der Spre-

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 173

cher schließlich seine eigene mental map bildet. Konstruktivistisch konzipiert ist das sprachliche Territorium jedoch kein statisches Objekt, vielmehr basiert es auf einer ständigen Produktion und Reproduktion seiner Vorstellung, wie auch Viaut (2004, 7) im Anschluss an Di Méo (1998) unterstreicht: «c’est la quantité et la nature des adhésions individuelles et socialisées à une même représentation de l’espace qui finit par construire un territoire et une pratique de la territorialité». Das einzelne Mitglied einer Sprechergemeinschaft kann wiederum zur Reproduktion des sprachlichen Territoriums, an das es glaubt, beitragen, wie die folgende Fotographie eines Propaganda-Graffito beispielhaft zeigt (Abb. 22). Dieses für die gewollte Einheit der Països Catalans eintretende Graffito verknüpft Nation, Sprache und Gebiet nicht nur diskursiv, sondern auch bildlich durch die Skizze des Gebietes, das neben dem Text gleichzeitig Sprachgebiet und Territorium aufzeigt:

Abb. 22: Propaganda-Graffito (Països Catalans)41

Die Grenzen sprachlicher Territorien sind für das Individuum nur unter bestimmten Voraussetzungen konkret erkennbar. Handelt es sich um das Sprachgebiet eines ausschließlich mündlich gebrauchten Idioms, das in einer Diglossiesituation als low variety gesprochen wird, dann ist ein entsprechendes Sprachgebiet visuell allenfalls anhand der Ortsnamen erkennbar. Grenzen zwischen Sprachgebieten und die Übergange von einsprachigen Gebieten in zweisprachige Regionen sind wohl vor allem dann visuell erkenntlich («lesbar»), wenn sich das sprachliche Territorium mit einem politisch-administrativen Gebiet deckt, in dem diese Sprache Amtssprache ist: In diesem Fall wechselt die Sprache der Beschilderung ab dem Grenzübergang und kennzeichnet die Grenzüberschreitung. Das Überschreiten von Staatsgrenzen ist diesbezüglich eine typische «Grenzerfahrung», die aber auch || 41 Mural a Vilassar de Mar, El Maresme, Katalonien, 27.07.2007. Quelle: [letzter Zugriff: 27.03.2013].

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zwischen einsprachigen Regionen eines Staates erlebt werden kann, wie das Beispiel Belgien zeigt, wo die Sprachgrenze (!) juristisch fixiert ist (cf. 6.3; cf. auch Tacke 2012a). In jedem Fall können die Grenzen zwischen Sprachgebieten durch kartographische Repräsentationen (cf. Abb. 20) auch mangels Kongruenz zwischen sprachlichem und politisch-administrativem Territorium zu einem Teil der kollektiven Vorstellungswelt über sprachlich-räumliche Zusammenhänge werden. Konkret visuell wahrnehmbar sind freilich sämtliche Formen sprachlicher Raummarkierung. Wiederum gilt: Decken sich politisch-administratives und sprachliches Territorium, so wird schon die Grenzüberschreitung durch die einsprachig regionale oder zweisprachig regional-nationale Beschilderung erkenntlich. Das Konzept des linguistic landscape beinhaltet dabei implizit bereits die subjektive Erfahrung, bedenkt man, dass der Begriff der Landschaft im Gegensatz zu anderen «Raumausdrücken» im allgemeinen Gebrauch die subjektive Raumwahrnehmung und Perspektive bereits integriert (cf. 2.4.3). Die «sprachliche Landschaft», die das Gebiet markiert, ist zweifellos die buchstäblich offensichtlichste Kennzeichnung sprachlicher Territorien. Während die Markierung durch offizielle Beschilderung (top-down) nur bei Sprachen der Fall ist, deren Gemeinschaften auch politischadministrativ zumindest in lokaler Autonomie territorialisiert sind, stellen nichtoffizielle private Kennzeichnungen Äußerungen der konkreten sprachlichen Verhältnisse an einem Ort dar; so kann vom Individuum bereits oberflächlich von Stadtteil zu Stadtteil und von Straße zu Straße erkannt werden, welche Sprachen dort gebraucht werden. Neben Staats- und «autochthonen» Regionalsprachen können so mitunter auch kleinräumig bzw. örtlich betrachtet die Sprachen von Migranten als territorialisierte Praktiken wahrgenommen werden. Das Sprachgebiet wird somit jenseits einer ausschließlich gedachten und gesellschaftlich konstruierten Verknüpfung von Sprache, Identität und Gebiet zu einer konkret erfahrbaren réalité vécue des Sprechers, für den die territoriale Raumbezogenheit der Sprache, d.h. die Territorialität der Sprechergemeinschaft, in der «sprachlichen Landschaft» topographisch manifest wird und der seine Lebenswelt wie auch die allgemeine Geographie nicht zuletzt unter sprachlich-räumlichen Gesichtspunkten konzeptualisiert. Diskursive und kartographische Repräsentationen dieser Topographie prägen dabei die entsprechenden Denkmuster in entscheidender Weise und sind überdies wichtige Faktoren für die Interpretation des individuell wahrgenommenen indexikalischen Sprechens im Raum (cf. Kapitel 2). Dieses Gesamtbild des sprachlichen Territoriums aus der Perspektive der Sprecher vermag insofern, Gegenstand und Motive sprachplanerischen Handelns zu erklären (cf. Kapitel 6). So tragen Regelungen zur Sprache von Ortsbezeichnungen und Maßnahmen, die auf eine flächendeckende Beschilderung in der jeweils «autochthonen» Sprache abzielen, dazu bei, die «eigene» Sprache visuell präsent zu

5.2 Sprachliche Territorialität und das sprachliche Territorium | 175

machen und dadurch dem geographischen – von den Sprechern alltäglich erlebten – Raum eine spezifische topographische Gestalt zu geben. Die Arbeit der Toponymiekommissionen gibt Zeugnis von dieser Motivation (cf. 6.6).

5.2.4 Zusammenfassend Die verschiedenen Elemente des Konzeptes sprachlicher Territorialität und sprachlicher Territorien, das ich hier erörtert habe, ergeben ein kohärentes Bild davon, wie die gesellschaftliche Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen sprachlichen Praktiken und geographischen Gebieten funktioniert und worin sie sich konkret manifestiert. Als konstruktivistisches Konzept wird der Zusammenhang nicht als etwas Gegebenes, sondern als etwas Gedachtes in den Blick genommen. Es wurde gezeigt, dass es sich bei einem Sprachgebiet im Wesentlichen um eine gesellschaftliche Konstruktion handelt, die als Projektion von Sprache als kulturelle Besonderheit einer Gemeinschaft auf das «eigene», d.h. begründet durch die Autochthonie des Raumbezuges beanspruchte Gebiet zu verstehen ist. Wie diese Projektion funktioniert und auf welchen Prinzipien sie – über die in Kapitel 4 diskutierten Prämissen hinaus – fußt, konnte durch die Anwendung des umfassenden Begriffs des Territoriums erläutert werden. Ausgangspunkt sind dabei die Akteure, hier also die Sprecher bzw. Sprechergemeinschaften, die sich durch ihre Territorialität kennzeichnen, welche ich – sprachlich gewendet – (a) als identitäre Beziehung zum besiedelten Gebiet, (b) als Tendenz, die «eigene» Sprache als gruppenspezifische kulturelle Besonderheit auf dieses zu projizieren sowie (c) als Verhalten, dieses Gebiet und die Sprache von anderen abzugrenzen, definiert habe, woraus sich in dieser weiten Konzeption von sprachlicher Territorialität auch (d) die Geltung einer Sprache als Amtssprache ableitet. Ausgehend von der Territorialität von Sprechergemeinschaften konnte in der Folge, vor allem am Beispiel des Aranesischen im Arantal und des okzitanischen Sprachgebietes dargelegt werden, wie die Konstruktion sprachlicher Territorien diskursiv und mittels bestimmter Repräsentationen als identitäre Verknüpfung von Sprache, Gebiet und Gemeinschaft funktioniert und wie dieser konstruierte Zusammenhang in die Projektion der Sprache auf den Raum in der diskursiven Überhöhung gar zu einer «Identität eines Gebietes» verschmolzen werden kann: Aus der Sprache der Gemeinschaft wird die Sprache des Gebietes. Des Weiteren wurde gezeigt, wie dieses Sprachgebiet nicht nur diskursiv, sondern konkret topographisch sichtbar abgegrenzt und markiert wird und inwiefern Grenz- und Raummarkierung als wesentliche Elemente sprachlicher Territorien in Korrelation mit gesellschaftlich konstruierten und politisch-juristisch definierten Territorien zu betrachten sind.

176 | 5 Sprachliche Territorialität

Insgesamt zeigt sich, dass die Territorialität einer Sprache im konstruktivistischen Sinne vor allem auf Konventionen beruht, die zwischen den Mitgliedern einer Sprechergemeinschaft (und den Mitgliedern anderer Gemeinschaften) über die Zusammenhänge von Kultur, Sprache und Raum bestehen. Hier besteht kein typologischer Unterschied zu einer Konvention über die Bezogenheit einer bestimmten Sprache zu einem bestimmten Gebiet und etwa der Konvention über die Anerkennung eines Idioms als «historische Sprache» (cf. Coseriu 1980, 109).42 Wenn das sprachliche Territorium dennoch mehr ist als ein «Sinnkonstrukt» (Seiler 2008, 31), dann weil es auch eine materielle Seite hat: So basiert es auf einer realen – wenngleich nicht immer dominanten – sprachlichen Praxis in einem Gebiet und kann sich im linguistic landscape (ich schließe Ortsnamen mit ein) wiederum ganz konkret topographisch und somit visuell erfahrbar im Raum manifestieren (cf. Abb. 23). Sprachliche Territorialität Sprachliches Territorium (Sprachraum, Sprachgebiet)

materiell gegebene Bezüge: Markierung des Gebiets (Toponymie, linguistic landscape und sprachliche Praxis)

gedachte und repräsentierte Gebietsbezüge: diskursive und kartographische Verknüpfung von Sprache und Gebiet

Abb. 23: Das sprachliche Territorium

|| 42 Insofern kann die Formulierung des Gedankens bei Coseriu hier analog gedacht werden: «Und zwar ist eine historische Sprache ein Gefüge von historischen Traditionen des Sprechens, das eben als autonome ‹Sprache› von seinen eigenen Sprechern und von den Sprechern anderer Sprachen anerkannt wird, was sich normalerweise dadurch zeigt, daß ein solches Gefüge durch ein adiectivum proprium bezeichnet wird, wie z.B. ‹deutsche Sprache›, ‹englische Sprache›, ‹französische Sprache›». Anzumerken bleibt hierbei, was Coseriu nicht mit einbezogen hat: dass ein Status als «historische Sprache» in gleicher Weise (von anderen Gemeinschaften) in Frage gestellt werden kann (und oft wird) wie die Zugehörigkeit einer Sprache zu einer bestimmten Gegend (z.B. durch Infragestellung des historischen Gebietsbezugs einer Sprache, d.h. des Autochthonieprinzip, oder des Anspruchs auf ein Gebiet aufgrund schwindender Sprecherzahlen, d.h. das Mehrheitsprinzip; cf. Kapitel 4).

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace» | 177

Diese Materialität sprachlicher Territorien wurde schließlich aus der Perspektive des erfahrenden Subjekts, aus Sicht der Sprecher, veranschaulicht. So lässt sich die Territorialität von Sprechergemeinschaften in konkreten Kommunikationssituationen anhand der Interaktion der Sprecher insbesondere dort beobachten, wo die Sprecher unterschiedlicher Gemeinschaften aufeinandertreffen und Sprachkontakt sich als Konflikt offenbart. Die Beispiele verdeutlichen dabei, dass ein übergreifender, die ethologische wie juristische Perspektive integrierender Begriff des Territoriums und der Territorialität sinnvoll ist, um den gesellschaftlich konstruierten Zusammenhang von Sprachen und geographischen Gegenden in angemessener Weise zu beschreiben und die unterschiedlichen Phänomene – darunter fasse ich die auf Konventionen beruhenden Repräsentationen, die unterschiedlichen Abgrenzungsstrategien, vor allem die Markierung des Raumes und das individuelle und gruppendynamische Verhalten der Sprecher – zu erklären. Die Sprecherperspektive auf das sprachliche Territorium offenbart überdies, in welchem Maße Abgrenzungsstrategien – die Etablierung oder Wiederherstellung einer «gebietssprachlichen» Toponymie, die Markierung des Gebietes und der bevorzugte Gebrauch der Regional- gegenüber der Staatssprache – für Sprachplanung und sprachpolitisches Handeln von Relevanz sind: Wird auf die Präsenz der Sprache(n) im öffentlichen Raum Einfluss genommen, so geht es darum, das Sprachgebiet als ge- und erlebten Raum des Sprechers zu modifizieren, um auf das Sprachverhalten und die Einstellungen (attitudes) der Sprecher Einfluss zu nehmen (cf. 6.1.1). Eine in der kommunikativen Praxis eines Gebietes immer weniger präsente «autochthone» Sprache soll, so die Intention, durch ihre ideelle Reterritorialisierung schließlich auch als kulturelle Praxis wieder verankert werden.

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace»: Die Konstruktion sprachlicher Arealität (Exkurs)5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace»

Nachdem nun gezeigt wurde, wie der Zusammenhang von Sprache(n) und geographischem Raum gesellschaftlich gedacht und konstruiert wird, soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie in der Sprachwissenschaft auf der Grundlage des empirisch untersuchten indexikalischen Sprechens sprachliche Orts- und Raumbezogenheit im Sinne der Arealität der Sprache konstruiert wird. Die Linguistik verfügt über diverse geographisch orientierte Teildisziplinen, deren Bezeichnungen die Affixe Geo-, Areal- oder -geographie beinhalten oder sich wie die Dialektologie implizit über den Dialektbegriff auf den Raum beziehen; insbesondere in Anbetracht der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition ist der Schluss naheliegend, dass eine explizite theoretische Beschäftigung mit den Prämissen der Konstruktion sprachlicher Arealität vorliegt. Dies

178 | 5 Sprachliche Territorialität

ist indessen, anders als gerade auch jüngere Publikationen, wie das bislang zweibändige Handbuch mit dem Titel Language and Space (Auer/Schmidt 2010; Lameli/Kehrein/Rabanus 2011) oder ein Sammelband mit dem Titel Dialectological and Folk Dialectological Concepts of Space (Hansen et al. 2012), suggerieren, nicht der Fall. Zwar lässt sich in der Tat eine zunehmende Theoretisierung sprachlicher Räumlichkeit beobachten, doch bezieht sich diese unter den Ausdrücken Sprachraum, language/dialect area darauf, wie der – als gegeben betrachtete – areale Sprachraum varietätenlinguistisch zu strukturieren ist und wie diese Strukturierung auch von den Sprechern, also laienlinguistisch, wahrgenommen und bewertet wird (attitudes).43 Fokussiert wird dabei die diatopische Betrachtung der Sprache unter variationslinguistischen Prämissen, d.h. die «mehrdimensionale» Beschreibung der sprachlich-räumlichen Realität und die Frage der kartographischen Abbildung des diasystematisch betrachteten Sprachgebrauchs. Auf die Theoriebildung bezogen wird der Fortschritt in der Sprachgeographie in der Überwindung der als reduktionistisch kritisierten Dialektgeographie gesehen, insofern man versucht, sämtliche Faktoren und Formen der Variation in die diatopische Betrachtung einer Sprache als Diasystem miteinzubeziehen, und nicht mehr nur basilektale Daten abbildet. So heißt es etwa im Atlas Lingüístico Guaraní-Románico (Dietrich/Symeonidis 2009, ii), dass die traditionellen Sprachatlanten aufgrund ihres «peculiar enfoque teórico, no presentaban la totalidad de la realidad lingüística», wohingegen die von Harald Thun über die Grenzen der Romanistik hinaus repräsentierte «geolingüística moderna» versuche, eine «realidad lingüística más completa, incluyendo todos los tipos de hablantes, de todas las generaciones, de ambos sexos, de todos los niveles socioculturales» zu dokumentieren. Während sich die Fragestellungen und Erkenntnisinteressen im Rahmen der jeweiligen Paradigmen (von der historisch-vergleichenden hin zu einer variationsorientierten Sprachwissenschaft) verändert haben, ohne dass dabei notwendigerweise axiomatisch von Fortschritt gesprochen werden muss,44 ist der Grundsatz, d.h. die Verknüpfung

|| 43 Pirazzini (2013, 27) spricht von einer der Sprachgeographie zugrundeliegenden «mentale[n] Konzeption der Sprache(n) im Raum», die beinhaltet, «dass Sprachen – gleich einem Lebewesen – in einem (geographischen) Raum existieren, welcher, insbesondere zu Beginn des 20. Jhs. als einfacher Behälter (von Sprachen und Dialekten) konzipiert wird». 44 Die Kritik an der «traditionellen Dialektgeographie» ist insofern anachronistisch, als sie heutige Erkenntnisinteressen und die entsprechenden theoretischen Modelle zum Maßstab erklärt, wie Goebl (2011, 13s.) konstatiert: «Wenn heute aus den Rängen der VarietätenLinguistik Atlanten wie ALF oder AIS Desinteresse an der an den explorierten Ortschaften (bzw. in den Köpfen der dort wohnenden Sprecher) vorhandenen Mehrsprachigkeit angekreidet bzw. sogar als ex post zu reparierendes Forschungsdesiderat vorgehalten wird, so ist das nicht nur

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace» | 179

sprachlicher Fakten mit dem geographischen Raum und die daraus abgeleitete areale Raumbildung, weitgehend unangetastet geblieben. Durch die Kontrastierung der vom Linguisten untersuchten sprachlich-räumlichen Realität mit den Vorstellungen, die sich die Sprecher von ihr machen, wird in jüngerer Zeit immerhin erkannt, dass «spatial structures are not simply represented but constructed» (Elmentaler 2012, 33). Aufgrund der Tatsache, dass eine explizite Theoretisierung der Verbindung von Sprache und geographischem Raum nicht vorliegt, besteht die Notwendigkeit, die linguistische Konzeptualisierung sprachlicher Arealität aus dem Impliziten herauszuarbeiten. Dies kann nur eine Analyse des «sprachgeographischen Diskurses» ermöglichen. Da an dieser Stelle selbstverständlich keine exhaustive Analyse sämtlicher Atlanten und sprachgeographischer Studien, die in den letzten 150 Jahren entstanden sind, zu leisten ist, stelle ich in nachstehend den Beginn der Beschäftigung mit der Arealität der romanischen Sprachen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den weiteren Verlauf dieser Traditionslinie etwa bis Mitte des 20. Jahrhunderts ins Zentrum, da hier die Fundamente und Prämissen geschaffen wurden, auf denen die Sprachwissenschaft seither aufgebaut hat. Als Beginn identifiziere ich das Jahr 1888, als Gaston Paris in einem Vortrag dazu aufrief, die parlers de France zu dokumentieren, und die dadurch initiierte, mit dem Atlas linguistique de la France (ALF) einsetzende Traditionslinie der «großen» romanistischen Atlanten, in der vor allem der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz (AIS) von Karl Jaberg und Jakob Jud sowie die spanischen Atlasprojekte, repräsentiert durch Tomás Navarro Tomás und Manuel Alvar, stehen und die auch über die romanischen Sprachen hinaus große Strahlkraft hatte.45 Berücksichtigt werden dazu die den Atlanten selbst beiliegenden Erläuterungen, aber auch Einzeluntersuchungen und Schriften insbesondere der genannten Sprachgeographen, die rund um die Atlanten erschienen sind. Da für Gilliéron und seine Schüler die lexikalische Variation im Vordergrund stand und die Geographie der Laute vor allem zum besseren Verständnis der Verbreitung von Wörtern diente, konzentriere ich mich im Folgenden im Sinne eines homogenen Korpus vor allem auf wortgeographische Ausführungen.

|| eine völlig anachronistische Verkennung der den betreffenden Atlanten zu Grunde gelegten methodischen Prinzipien und wissenschaftlichen Ziele, sondern ignoriert auch die bei der Erstellung von ALF und AIS ganz bewusst umgesetzten praktischen Prozeduren». Dazu auch Tacke (2013a). 45 Für einen Überblick über die Geschichte der (romanischen) Sprachatlanten cf. beispielsweise Pop (1950), Werlen (1996), Chambers/Trudgill (1998, 13–31), Thun (2000), Lameli (2010), Swiggers (2011). Zur Rolle des ALF cf. Gauger/Oesterreicher/Windisch (1981, 117–133).

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In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, wie der Zusammenhang von Sprache und geographischem Raum im sprachgeographischen Diskurs konzeptualisiert wird (5.3.1). Hierbei wird auch betrachtet, inwiefern die sprachgeographische Konstruktion der sprachlichen Arealität auf den in diesem Kapitel herausgearbeiteten gesellschaftlichen Prämissen der Assoziation von Mensch und Boden sowie Sprache und Gebiet aufbaut. In einem zweiten Schritt geht es darum, die Abstraktionsprozesse darzulegen, die zwischen der Erfassung des indexikalischen Sprechens an einem Ort und der Konstitution von Dialektarealen auf der Grundlage ihrer kartographischen Projektion auf den geographischen Raum liegen (5.3.2), um so die Frage beantworten zu können, wie sprachliche Arealität linguistisch und kartosemiotisch erzeugt wird. Ergänzt wird der Exkurs in die Sprachgeographie schließlich um Beobachtungen bezüglich des Einflusses, den die sprachgeographische Forschung auf die soziopolitische Konstruktion sprachlicher Territorialität hat (5.3.3).

5.3.1 Sprache und Geographie Die Frage, wie der Bezug von sprachlichen Phänomenen und geographischen Orten konzeptualisiert wird, führt zunächst zum diesbezüglich symptomatischen Begriff des Areals, der bereits in 2.4.2 thematisiert wurde. Der Begriff, welcher ausgehend von der französischen Atlastradition (aire) auch ins Deutsche (Areal) und Spanische (área) übertragen wurde, um die räumliche Distribution sprachlicher Phänomene zu bezeichnen, ist nämlich als Terminus – so meine These – aus der Pflanzen- und Tiergeographie entlehnt worden und legt insofern nahe, dass mit dem Wort auch eine bestimmte Konzeptualisierung der Verknüpfung von sprachlichen Phänomenen mit der Geographie übernommen wurde. Das FEW (XXV, s.v. area) führt fr. aire, das heute vor allem («extension actuelle, frappante») in der abstrakten Bedeutung «zone, domaine» verwendet werde, auf lt. ARĔA zurück, das wortgeschichtlich nicht nur sehr viele spezifische Bedeutungen entwickelt habe,46 sondern darüber hinaus im Französischen phonetisch auch mit diversen Homonymen ähnlicher semantischer Felder zusammengefallen sei, insbesondere mit den Fortsetzern des von Rohlfs (1920) in seiner Dissertation behandelten AGER («Acker, Feld, Grundstück; freies Feld, flaches Land; (Stadt-)Gebiet, Landschaft, Mark»). Für das moderne Französische verweist das FEW unter den spezifischen

|| 46 Das FEW (XXV, s.v. area) fasst «entre autres» diese Verwendungen auf: «place autour d’un autel; emplacement pour bâtir; large espace pour jeux, cour de maison; aire à battre le blé, bordure de jardin; partie d’un champ; bassin d’un marais salant; cimetière, tombeau; halo; calvitie; superficie (t. de géométrie)».

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Verwendungsweisen als erstes auf die Verbreitungsgebiete von Pflanzen- und Tierarten («espace compris entre les limites d’habitation d’une espèce animale ou végétale»), in denen der Ausdruck seit etwa 1820 verwendet worden sei; seit 1833 sei der abstraktere Gebrauch «espace assigné à une activité ou à un phénomène en expansion» zu belegen. Im Anschluss daran sieht das FEW die Verwendung von aire (linguistique), «domaine propre à un fait ou à un ensemble de faits linguistiques», wobei der angegebene Erstbeleg im Jahr 1905 (bei Gilliéron/Mongin 1905) zu spät liegt, da Gaston Paris bereits 1888 von «aires phonétiques et morphologiques» sprach. Daraus lässt sich schließen, dass sich der Ausdruck aire vermittelt durch die Strahlkraft des ALF Gilliérons in den übrigen romanischen (Fach-) Sprachen (sp. área, it. area) und im Deutschen (Areal) erst verbreitet hat (auch Ascoli 1873 kam noch ohne den Ausdruck aus47). Der Ursprung der sprachgeographischen Verwendung in der Pflanzen- und Tiergeographie scheint nur annäherungsweise belegbar. Dazu sei hier exemplarisch auf das mit vier Auflagen recht erfolgreiche, erstmals 1854 – im Geburtsjahr Gilliérons – erschienene Buch La Terre et l’homme ou Aperçu historique de géologie, de géographie, et d’ethnologie générales pour servir d’introduction à l’histoire universelle verwiesen, das L. F. Alfred Maury mit der Absicht schrieb, «de peindre simplement l’homme et la nature dans l’étroite liaison où ils nous apparaissent», wie es in der Préface zur zweiten Auflage von 1861 heißt. Maury verwendet den Ausdruck aire in Kapitel V zur Géographie végétale im Abschnitt «De l’aire des espèces» immer wieder zur Referenz auf die geographische Verbreitung der verschiedenen Arten. So heißt es dort etwa: «Les graines petites et nombreuses étant favorables à l’extension géographique des végétaux, les plantes qui en sont pourvues ont naturellement une aire étendue» (1869, 254). Die These, dass der Ausdruck aire eine direkte Übernahme aus dem geographischen bzw. botanischen Diskurs darstellt, lässt sich zwar nicht durch einen expliziten Beleg nachweisen – der Ausdruck wurde nie Gegenstand einer expliziten definitorischen Fixierung; doch erhärtet sich der Verdacht, wenn man die sprachgeographischen Verwendungen des Ausdrucks betrachtet: Die erste dokumentierte Verwendung findet man in dem berühmten Vortrag «Les parlers de France», den Gaston Paris am 26. Mai 1888 bei einer Sitzung der Sociétés savantes hielt.48 In dem im selben Jahr publizierten Vortrag ruft Paris zur Dokumenta-

|| 47 In Ascolis Saggi ladini (1873) ist stets die Rede von zona oder territorio; so heißt es zum Verbreitungsgebiet des Ladinischen: «chiamo zona ladina il territorio da questi idiomi occupato» (ib., 1). Zur Konzeption von «sprachlichem Verbreitungsgebiet» bei Ascoli cf. Grassi (1981). 48 Gezielte Suchanfragen über Frantext und Google Books lassen vor 1888 keine Verwendungen von aire in Bezug auf sprachliche Phänomene finden.

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tion der französischen Mundarten auf; seiner Vision zufolge sollten nach dem Muster von Gilliérons Debütwerk, dem Petit atlas phonétique du Valais roman, Atlanten zu jeder Region entstehen: «Si on possédait un grand nombre de ces atlas, on verrait, en les juxtaposant, se former de grandes aires phonétiques et morphologiques qui ne se recouvriraient pas l’une l’autre, tout en coïncidant sur une certaine étendue: la constitution de ces aires pourra seule nous fournir des données précises sur les faits essentiels de notre géographie linguistique» (Paris 1888, 170; meine Hervorhebungen).

Die Nähe des Ausdrucks zur landwirtschaftlichen Bestellung des Bodens einerseits und zu einer pflanzengeographischen, botanischen Konzeptualisierung andererseits, offenbart sich, wenn Paris die Notwendigkeit der Dokumentation der parlers locaux erläutert und vor dem Verschwinden dieser als bedroht betrachteten «Flora» warnt: «Mais si nous ne pouvons empêcher la flore naturelle de nos champs de périr devant la culture qui la remplace, nous devons, avant qu’elle disparaisse tout à fait, en recueillir avec soin les échantillons, les décrire, les disséquer et les classer pieusement dans un grand herbier national» (Paris 1888, 168).

Dass der Ausdruck aus der Geographie und Geologie entlehnt wurde und womöglich tatsächlich an der Verwendung im Werk Maurys orientiert ist, den Paris übrigens nicht nur aus diversen Kommissionstätigkeiten, sondern auch vom Collège de France kennen musste,49 ist überdies auch deshalb plausibel, weil diese Disziplinen – insbesondere die Geologie in der Folge von Charles Lyell (1797–1875)50 – zu den Leitdisziplinen des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehörten. Damit passten die Ausdrücke bestens in das Programm einer sich an der «rigueur d’observation qu’exigent les sciences naturelles» (ib., 168) orientierenden Sprachwissenschaft, wie in der Folge Paris’ auch Gilliéron und dessen Schüler nicht müde wurden zu betonen.

|| 49 Gaston Paris hatte dort von 1872 bis 1903 den Lehrstuhl für «Langue et littérature française du Moyen Âge» inne, während Alfred Maury dort von 1861 bis 1892 (de facto wohl bis 1889, von wo an er durch Auguste Longnon vertreten wurde) «Histoire et morale» lehrte (cf. Collège de France 2012). 50 Hier ist Lyells 1830–1933 publiziertes mehrbändiges Werk Principles of Geology: Being an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface, by Reference to Causes Now in Operation zu nennen, in dem die Grundüberlegungen zu einer historisch orientierten Sprachgeographie, welche versucht, die Diachronie der Formen aus der geographischen Synchronie abzulesen, bereits angelegt sind.

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace» | 183

Durch die Beschreibung der geographischen Verbreitung der sprachlichen Phänomene zu Erkenntnissen über die historische Schichtung der Formen zu gelangen, war ohnehin das primäre Interesse der unter dem Epistem der Historizität stehenden Sprachwissenschaft jener Tage.51 Gilliéron gibt davon Zeugnis, wenn er – an die Metaphorik Paris’ anknüpfend – vom «bon engrangement de sa moisson» (Gilliéron/Edmont 1902, 4) spricht und klarstellt, sein Atlas möge dazu beitragen, «d’établir sur une base sérieuse l’histoire linguistique de la France». Dazu trage die geographische Erfassung der sprachlichen Variation insofern bei, als es darum gehe, «de détailler les aires lexicologiques, phonétiques, morphologiques et syntactiques, au point que le linguiste vienne avec confiance interroger leurs contours et le procès-verbal des conditions où ces aires meurent ou naissent, se dilatent ou se contractent» (Gilliéron/Edmont 1902, 3).

In der Folge Gilliérons spricht man daher von der Aufteilung in eine géographie linguistique, welche die synchrone Verbreitung beschreibt, eine géologie linguistique, bei der es um die daraus erkennbare historische Schichtung (stratigraphie) geht und eine biologie linguistique, die diese Schichtung erläutert (cf. Lauwers/Simoni-Aurembou/Swiggers 2002, 7–9). Gilliéron betreibt alle drei Aspekte der geographischen Sprachforschung, die bei genauem Hinsehen auch seine Konzeptualisierung der räumlich-zeitlichen Verknüpfung von sprachlichen Phänomenen offenbart: So bestehe die Arbeit am Atlas darin, die von Edmond Edmont erhobenen Formen, gewissermaßen als topographische Objekte, in die Karte und damit in den Raum einzutragen: «nous reportions […] chacune des formes […] sur la carte muette qui lui était réservée, et à son emplacement topographique» (Gilliéron/Edmont 1902, 9). Dass Gilliéron sprachlichen Phänomenen ein emplacement topographique zuschreibt und Wörter als etwas begreift, dem ein geographischer Ort und ein Verbreitungsgebiet – gleichsam der Verknüpfung von Lautbild und Bedeutung – anhaftet, zeigt sich am Beispiel seiner gemeinsam mit Jean Mongin publizierten Analyse von scier: «Un mot a ses conditions géographiques précises qu’il importe avant tout de déterminer. Un fait géographique est souvent la clef de son histoire. De par les conditions géographiques, une étymologie, possible ailleurs, est impossible là. Si des couches de mots coexistent actuellement sur le sol, il y a lieu de montrer que l’une est par rapport à l’autre un sous-sol et ainsi de suite: nous devons réaliser d’abord une géographie ou géologie du langage qui nous permettra de situer les mots chronologiquement, de définir leurs rapports, de reconstituer leur genèse» (Gilliéron/Mongin 1905, 3).

|| 51 Cf. Foucault (1966, 292–307); cf. auch Brieler (1998, 138–156).

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Die Geologie der couches de mots, die nicht nur den Boden, sondern auch den «sous-sol» bedecken, deutet an, dass das Wort gerade durch die zeitlichräumliche Verknüpfung losgelöst vom synchronen indexikalischen Sprechen konzeptualisiert wird. Insgesamt ist die Konzeptualisierung des Untersuchungsgegenstandes ebenso wie die entwickelte Methodologie eng an die Disziplinen Geologie und Biologie (mit Botanik und Anatomie) angelehnt. Die Entlehnungen aus diesen Disziplinen sind also nicht nur sprachlicher Natur, d.h. sie betreffen nicht ausschließlich die Ebene der metasprachlichen metaphorischen Beschreibung, sondern sie fungieren als Vorbilder auch bei der Beschreibung und Klassifizierung von Sprache(n). In diesem Zusammenhang kann auf die berühmte Prognose Friedrich Schlegels verwiesen werden, demzufolge es «die innere Struktur der Sprachen oder die vergleichende Grammatik [ist], welche uns ganz neue Aufschlüsse über die Genealogie der Sprachen auf ähnliche Weise geben wird, wie die vergleichende Anatomie über die höhere Naturgeschichte Licht verbreitet hat» (1808/1975, 137), wobei er sich auf die Leçons d’anatomie comparée (1799–1805) des Biologen Georges Cuvier beruft (cf. dazu auch Eggers 2009). Man denke auch an August Schleicher, der die Aufgabe der Sprachwissenschaft als «die ermittelung und beschreibung der sprachlichen sippen oder sprachstämme, d.h. der von einer und der selben ursprache ab stammenden sprachen und die anordnung diser sippen nach einem natürlichen systeme» (1861–1862, 1), ansah. Etwa zur gleich Zeit sprach Steinthal von einer Klassifikation «nach Art des Pflanzensystems von Jussieu» (1850, 134).52 Wenn Gilliéron sich hier ebenso wie zuvor Gaston Paris (1888) an einer «geobiologischen» Sichtweise auf Sprache orientiert, dann fügt er sich damit in den Zeitgeist der damaligen Forschung ein, der davon geprägt war, Sprachen als Lebewesen zu konzeptualisieren, sie als solche zu beschreiben und in entsprechenden konzeptuellen Metaphern (im Sinne von Lakoff/Johnson 1980) über sie zu sprechen.53 Diese Art Konzeptualisierung gilt in gleicher Weise auch für Gilliérons Schüler. Karl Jaberg stellt in einer Analyse des «Expansionsgebiet[es]» (1908, 7) von soif beispielsweise fest, dass in Südfrankreich «drei sprachliche Schichten zu Tage [treten]» (ib., 19). Der Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz

|| 52 Einschlägig ist auch die resümierende Äußerung Gauchats (1903, 376): «Das System des Botanikers Linné wurde auf die Dialekte angewandt. Die Forschung ruhte in den Händen von Dilettanten, welche von landläufigen Voraussetzungen ausgehend, die Dialekte als Organismen auffaßten, die innerhalb bestimmter Grenzen eine Einheit bildeten. Die Naturgeschichte wurde vielfach zum Vergleiche herangezogen, und sehr beliebt wurde das Bild vom Stammbaum. Die Mundarten waren Tochtersprachen. Das stand fest. Nur wußte man nicht recht, wer die Mutter gewesen». Zur Klassifizierung der Sprachen im 19. Jahrhundert cf. Ringmacher (2001). 53 Cf. Pirazzini (2013, 132s.).

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(AIS) Karl Jabergs und Jakob Juds setzt die Tradition Gilliérons beinahe nahtlos fort. Unverkennbar ist dies bereits in der Übernahme der Pflanzen- und Ackermetaphorik – wobei letztere freilich auch auf das landwirtschaftlich geprägte Milieu zurückzuführen ist, in dem die Exploratoren zur Erhebung ihrer Daten unterwegs waren; so ernten auch Jaberg/Jud die sprachliche Pflanze, indem sie sie im Atlas geographisch einschreiben und damit einen bestimmten (synchronen) Sprachzustand dokumentieren: «Es ist für uns ein schweres Opfer, hinter dem Pflug zu gehen und uns nicht umzusehen, ob Früchte aus den umgeworfenen Schollen wachsen. Der Acker wird bestellt werden; ob wir selbst ernten können, steht dahin. Daß eine reiche Saat in der Erde liegt, dessen sind wir sicher» (Jaberg/Jud 1928, 12).

Die Konzeptualisierung der geographischen Raumanbindung der Formen, wie sie bei Gilliéron vorliegt, prägte auch dessen Schüler. Das sprachliche Phänomen wird hinsichtlich seiner Raumbindung ähnlich einer dem Boden entwachsenden Pflanze begriffen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Jaberg/Jud in ihrer Methodologie in vorbildlicher Weise die Rolle des Sprechers thematisieren. Die den Sprecher ausblendende Subjektivierung der Wörter bei Gilliéron («plumer a pénétré sur le territoire de peler», Gilliéron/Roques 1907, 112) oder noch bei Jaberg (1908, 6: «Die Wörter wandern») ist hier insofern weiterhin spürbar, als die Sprecher in dieser Frühphase der Sprachgeographie noch ausschließlich als «Auskunftgeber (Gewährsleute)» (Jaberg/Jud 1928, 11) auftreten, d.h. Personen, die über die den Wörtern inhärente Geographie Auskunft geben, Gewähr leisten. Der Idealfall ist also derjenige Sprecher, der über die an einem Ort und in der entsprechenden Mundart übliche Form korrekt informiert: «Der Atlas gibt nicht das Wort die Form oder die Konstruktion, die an einem Orte gebräuchlich sind, sondern das Wort, die Form, die Konstruktion, die ein Repräsentant der Dorfmundart dem Explorator auf seine Frage angegeben hat. Die Antwort des Gewährsmannes kann den Usus der Dorfmundart wiederspiegeln [sic] – und sie wird es, wie wir uns bei tausendfach wiederholter Kontrolle überzeugt haben, in den weitaus meisten Fällen tun –, aber sie kann ihm auch widersprechen» (Jaberg/Jud 1928, 241).

Die Auswahl des «guten» Informanten, des «NORM»-Sprechers54, birgt dabei auch die Antwort auf die Frage in sich, in welchem Maße die allgemein-gesell-

|| 54 Das Akronym wurde von Chambers/Trudgill (1998, 29) geprägt; es steht für die Kriterien der Informantenauswahl in allen großen Atlasprojekten: «No matter how diverse the culture, how discrepant the socioeconomic climate, and how varied the topography, the majority of infor-

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schaftliche Verknüpfung von Mensch und Boden und der Autochthoniebegriff auch als Prämisse der Sprachgeographie anzusetzen ist.55 Jaberg/Jud drücken sich diesbezüglich eindeutig aus: «Wichtig ist unter allen Umständen, daß der Gewährsmann im Dorfe geboren und aufgewachsen sei, und daß er aus einer alteinheimischen Familie stamme. Wir haben stets auch nach der Herkunft von Vater und Mutter gefragt und wenn möglich Sujets gewählt, deren beide Eltern alteingesessen waren» (Jaberg/Jud 1928, 191; meine Hervorhebungen).

Diesen Kriterien weitgehend entsprechend wird ein Bauer aus dem Kreis Ilanz beschrieben: «Vater alteinheimisch, Mutter aus dem benachbarten Duvin. – 59 – Außer dem Militärdienst nie abwesend. Intelligent, zuverlässig, bodenständig» (ib., 39; meine Hervorhebungen). Das sich hinter den Ausdrücken alteinheimisch, alteingesessen und dem auch in der Botanik verwendeten bodenständig sowie in der Herkunftskonstruktion verbergende Autochthoniekonzept, findet sich jedoch nicht nur implizit und hinsichtlich der Mensch-Boden-Verknüpfung wieder. Tatsächlich äußert sich das Begriffsraster Autochthonie/Allochthonie auch ganz explizit, sowohl auf die Menschen, ihre Angaben zum ortsüblichen Sprechen und die sprachlichen Phänomene selbst bezogen: So stießen schon Gilliéron und Mongin in ihren Analysen der Geographie von scier auf «de faux indigènes qui sont des acclimatés, à des mots qui, […], ont emprunté ou leur vie tout entière ou une partie de leur vie» (1905, 26) und Gilliéron stellte «un clavus autochtone» (1912, 18) den drei Typen clouter, cloutrer, clouler als «mots non indigènes et récents» (ib., 21) gegenüber. Die Autochthonie eines Wortes bemisst sich nach seiner Rückführbarkeit auf die tiefste sprachliche Schicht, «à un latin indigène» (ib., 22). Besonders anschaulich liest sich die Übertragung der Autochthonie auf das subjektivierte Wort, wenn Gilliéron in einer Studie mit Mario Roques warnt, «les mots d’un patois pourraient nous mentir géographiquement, il se pourrait qu’aucun n’eût le droit de dire: ‹Je suis d’ici›»56 (Gilliéron/Roques 1907, 127s.). Es ist nun einerseits recht merkwürdig, andererseits aber sehr anschaulich, wie das Begriffsraster von Autochthonie/Allochthonie sich in der Thematisie-

|| mants has in all cases consisted of nonmobile, older, rural males». Sowohl im ALF als auch im AIS wurden dagegen auch Frauen befragt. 55 Anekdotisch kann hier darauf hingewiesen werden, dass die metaphorikverliebten Jaberg und Jud sich sogar selbst, ganz dem griechischen Autochthoniegedanken entsprechend (cf. 4.2.2), als «der Erde entsprungen» bezeichnen: «Trägt unser Werk nicht die Züge einer vergangenen Zeit? Kommt der Pflug nicht rostig aus der Schmiede? Wir glauben es nicht; wir müßten nicht Schweizer sein, wenn wir den Geruch des Erdreichs verleugnen wollten, aus dem wir stammen» (Jaberg/Jud 1928, 11s.). 56 Man beachte die explizite Indexikalität der Aussage.

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rung der Orts- und Informantenauswahl bei Jaberg/Jud nicht nur auf die Gewährsleute, also die Mensch-Boden-Verknüpfung, bezieht, sondern darüber hinaus auch auf ihre Antworten, ihre Wörter, ihre Sprache insgesamt und ihre Kleidungssitten übertragen wird: «Bodenständige Sprache und bodenständige Kleidung gehen gewöhnlich zusammen» (1928, 189). Der Schlüsselausdruck ist hier die Bodenständigkeit: «Mit Rücksicht auf die Bodenständigkeit des Materials wurden mit Vorliebe kleinere und abgelegene Ortschaften aufgesucht» (ib., 168s.). Ihre anekdotische Schilderung des Für und Wider von «spontanen und bodenständigen Antworten» (ib., 176) der ausgewählten Sujets erläutert dies vielleicht am eindrücklichsten: «wenn man am Abend im Wirtshaus mit den Dorfleuten zusammensitzt, kann man die saftigste Auswahl [affektgeladener Wörter] zu hören bekommen – und doch sind beim Abfragen höchstens etwa für ‹geizig›, ‹faul› und ‹furchtsam› ein paar bodenständige Ausdrücke herauszubringen. Das hat verschiedene Gründe. Einmal ist der Druck der in der Mundart ebenfalls vorhandenen schriftsprachlichen Wörter so stark, daß die bodenständigen Konkurrenten dagegen nicht leicht aufkommen. Andrerseits ist zu bedenken, daß das wirklich einheimische Wort nicht selten stark affektisch geladen ist, und daß es besonders schwer fällt, Affektwörter durch die Fragemethode zu erhalten. […] Der Einheimische hat eine natürliche Scheu, einem Fremden affektgeladene Wörter zur Aufzeichnung mitzuteilen» (Jaberg/Jud 1928, 180; meine Hervorhebungen).

Nicht nur werden bodenständige Ausdrücke bzw. einheimische Wörter den gewissermaßen aus der Schriftsprache «zugewanderten» schriftsprachlichen Wörtern gegenübergestellt, die hier um ein «Gebiet», nämlich den ortsüblichen Gebrauch konkurrieren, auch wird diese Dichotomie auf der menschlichen Ebene gespiegelt, wo der Einheimische dem Fremden begegnet. Noch deutlicher wird die Übertragung des Autochthoniebegriffs, wenn Jaberg/Jud (1928, 190) die Vorzüge beruflich Selbstständiger preisen: «Je fester der Bauer auf dem Eigenen sitzt, desto sicherer und bodenständiger ist auch seine Rede». Jaberg/Jud demonstrieren nicht nur besonders anschaulich, wie tief verwurzelt die allgemein gesellschaftlichen Prämissen der Verknüpfung von Mensch und Boden auch im sprachgeographischen Diskurs sind; bemerkenswert ist auch die Reflexion der dem Autochthoniebegriff inhärenten Problematik (cf. 4.2.2.3): «Man spricht gern von den ursprünglichen Verhältnissen einer Mundart. WO fängt die Ursprünglichkeit an? Es gibt in der sprachlichen Betrachtung keine Bretterwand, hinter die man nicht schauen darf. ‹Ursprünglich› kann bloß heißen ‹auf einer älteren Entwicklungsstufe stehend›. Wir wollen aber nicht eine ältere Entwicklungsstufe, also nicht die ‹ursprüngliche› Mundart, sondern die letzte, die jüngste Entwicklungsstufe, die moderne Mundart mit allen modernen Mischungen und Infiltrationen festhalten. Eine genuine Mundart gibt es so wenig wie es eine einheitliche Mundart gibt. ‹Genuin› nennt man das, was zeitlich weit genug von uns entfernt ist, um uns seine Herkunft zu verheimlichen.

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‹Ursprünglich› und ‹genuin› wird morgen sein, was uns heute als ‹jung› und ‹importiert› erscheint» (Jaberg/Jud 1928, 241).

Der Autochthoniebegriff liegt auch in der Folge des ALF und des AIS sämtlichen Atlasprojekten zugrunde; mag hier auch angegeben werden, es ginge um «die moderne Mundart mit allen modernen Mischungen und Infiltrationen», so steht dennoch – wie ja auch die Informantenauswahl belegt – die Dokumentation einer in der Gegenwart noch ermittelbaren möglichst ursprünglichen Sprache im Vordergrund, weshalb noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein ausschließlich der Sprachgebrauch ländlicher Gegenden erfasst wurde. Eine Ausnahme bildet Antoni Grieras Atlas lingüístic de Catalunya, weshalb die von Gerhard Rohlfs formulierte Kritik an ihm paradigmatisch für die nach originellem Sprechen strebende Sprachgeographie steht. Rohlfs moniert, dass «Griera im wesentlichen gebildete Personen (meist Geistliche) als Auskunftspersonen benutzt hat und mehr die größeren Zentren (wo das literarische Katalanisch eine Rolle spielt) zugrundegelegt hat, statt der kleinen und abgelegenen ländlichen Gemeinden, die oft eine ältere und originellere Sprachsituation bewahrt haben» (Rohlfs 1971, 17).

In diese Linie schreibt sich auch die spanische Tradition ein, auf die ich nur kurz eingehe, da hier dieselben Prämissen aus der Tradition Gilliérons und Jaberg/Juds übernommen wurden. So überließ Ramón Menéndez Pidal seinem Schüler Tomás Navarro Tomás die Aufgabe, einen Atlas Lingüístico de la Península Ibérica (ALPI) nach dem Vorbild des ALF zu schaffen. Das aufgrund des Bürgerkriegs nie fertiggestellte Projekt geht von derselben Konstruktion des Zusammenhangs von Mensch und Boden sowie sprachlichen Phänomenen und Orten aus. So heißt es in Band 1: «Para la elección de los sujetos informadores, se requirió siempre que reflejasen, espontáneamente y con toda fidelidad, el habla popular de la localidad. Tenían que ser naturales del pueblo estudiado, y se procuraba que también lo fuesen sus padres y esposas. Eran preferidos los que habían viajado poco y no habían residido fuera del lugar […]» (ALPI, Introducción; meine Hervorhebung).

Vorgezogen wurden folglich die von Fremdeinwirkungen möglichst unbeeinflussten autochthonen Sprecher (naturales del pueblo), die man wiederum in «los pueblos pequeños, en los cuales el habla y la cultura popular tradicionales se mantenían casi incontaminadas» zu finden hoffte. Darüber hinaus wird im ALPI – der ja nicht nur die parlers locaux einer Sprache dokumentieren will, sondern die Abbildung aller iberoromanischen Varietäten zum Ziel hat – besonders klar ersichtlich, dass die Sprachgeographie auf der Prämisse der gesellschaftlich tradierten Assoziation von Sprachen und Gebieten, wie ich sie in diesem Kapitel be-

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schrieben habe, aufbaut, wird diese doch als gegebene Territorialität der Sprachen vorausgesetzt. Entsprechend beziehe man, so heißt es in der Introducción, auch den Roussillon mit ein, «puesto que en él es el catalán la lengua autóctona», ebenso wie die Balearen als Teile des katalanischen Sprachgebietes – in der spanischen Tradition: dominio lingüístico – zu berücksichtigen seien: «Aunque el ALPI se titula peninsular, comprende las adyacentes Islas Baleares, que fueron incorporadas al dominio lingüístico catalán ya en el siglo XIII». Aus dem Dargestellten geht hervor, dass die Konstruktion des Zusammenhangs von Sprache und geographischem Raum – die allgemeine gesellschaftlich gedachte und konstruierte Gebietsbezogenheit der Sprachen – nicht etwa hinterfragt oder theoretisiert, sondern als gegeben vorausgesetzt wird. Innerhalb der von dieser Vorstellung vorgezeichneten Konturen der sprachlichen Territorialität ist es der Gegenstandsbereich der Sprachgeographie, die feingliedrige diatopische Distribution und historische Schichtung der die Sprachen konstituierenden Sprechweisen zu untersuchen. Die Geographie der sprachlichen Phänomene wird dabei gerade am Anfang der Fachgeschichte weitgehend losgelöst von den Sprechern konzeptualisiert; der Sprecher tritt vielmehr als Gewährsperson auf, die Auskunft über die am Ort übliche und gleichzeitig möglichst ursprüngliche – dem Vokabular nach bodenständige/originelle/einheimische, d.h. indigene bzw. autochthone – Form gibt. Das Begriffsraster Autochthonie/Allochthonie erscheint hier nicht nur auf Gemeinschaften und in der Übertragung auf ihre Sprache und Kultur bezogen, sondern wird auf einzelne sprachliche Phänomene projiziert: Ermittelt werden sollen diejenigen Wörter, deren Raumbezug am ältesten ist und im Idealfall auf ein «indigenes» Latein zurückgeführt werden kann. Umgekehrt kann ein autochthoner parler local von nicht indigenen Wörtern unterwandert werden, was zu zeigen die stratigraphie der aus dem geographischen Nebeneinander der Formen ableitbaren Historizität erlaubt. Die von Gilliéron begonnene Tradition romanistischer Sprachatlanten tendiert im Werk von Jaberg/Jud zwar bereits zu einer stärkeren Berücksichtigung des Sprechers und enthält die ersten Wegweiser hin zu einer stärker soziolinguistischen Sprachgeographie, so bedauert Jaberg (1936, 20) schon während der Arbeit an den Bänden des AIS: «Nous n’avons pas pu faire tout ce que nous aurions voulu pour satisfaire les sociologues». Doch ist es diese stark an der Pflanzengeographie orientierte Konstruktion der sprachlichen Arealität der romanischen Sprachen, die bis heute in den großen Atlanten der Romania antiqua festgeschrieben ist und das Bild der an den Raum angebundenen sprachlichen Phänomene bis heute – nicht zuletzt symbolisch durch die Entlehnung des Arealbegriffs – entscheidend prägt.

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5.3.2 Die Konstitution sprachlicher Arealität Wie konstituiert sich nun sprachliche Arealität? Ausgehend vom Begriff der Indexikalität des Sprechens (cf. Kapitel 3) ist in jedem Sprechereignis eine konkrete Raumbezogenheit durch die Position der Sprecher im Raum und durch die Referenz der sprachlichen Zeichen auf den Raum gegeben (cf. Gilliéron/Roques 1907, 127s.: «Je suis d’ici!»). Aus kognitivistischer Perspektive lassen sich daraus Urteile über die Gemeinsamkeiten der Sprechweisen der Menschen an einem Ort im Vergleich zu den Sprechweisen der Menschen an anderen Orten ableiten; die darüber hinausgehende Rede von einem Gebiet, in dem man auf eine bestimmte Art und Weise spricht, einem Dialekt- oder Sprachraum, ist gleichwohl das Resultat einer weitergehenden Abstraktion vom Ort zum Raum. Gleiches gilt demzufolge auch für die von Gaston Paris evozierten aires phonétiques et morphologiques, die erst aus der vergleichenden Abstraktion des Sprechens an einzelnen Orten zu übergreifenden Gebieten entstehen. Dass hier ein Abstraktionsprozess vorliegt, der in der analysierenden Tätigkeit des Sprachgeographen und der kartographischen Darstellungsform der Atlanten begründet liegt, geht implizit schon aus der Äußerung Paris’ hervor, denn erst «en les juxtaposant [on verrait] se former de grandes aires phonétiques et morphologiques» (1888, 170). Während der Umstand, dass es sich hier um Abstraktionen handelt, bei Gilliéron/Edmont nicht eindeutig hervortritt, wenn er einerseits konstatiert, «il s’agit […] de détailler les aires» (1902, 3), diese andererseits jedoch vorausgesetzt werden («ces aires meurent ou naissent, se dilatent ou se contractent», ib.), wird der Abstraktionsprozess von Jaberg in einem Aufsatz über die Geographie der Wörter für ‘Schaukel’ im Portugiesischen bemerkenswert transparent erläutert. Darin definiert er die Grundidee der Sprachgeographie wie folgt: «L’idée fondamentale de la géographie linguistique consiste à transposer l’étude de la langue du point dans l’espace, à ne plus envisager le fait linguistique comme strictement localisé, dans sa création et dans son évolution, mais à le placer dans son entourage géographique, à établir son ‹aire›» (Jaberg 1947, 1s.; meine Hervorhebung).

Es geht mit anderen Worten darum, die sprachlichen Phänomene an den verschiedenen Orten miteinander in Bezug zu setzen («à le placer dans son entourage géographique») und so als Areale, als Verbreitungsgebiete, in den Blick zu nehmen: Der Ortsbezug der einzelnen Merkmale ergibt in der Summe damit den abstrakten Raumbezug bestimmter Phänomene.57

|| 57 Interessant ist an dem Zitat überdies, dass Jaberg den Ausdruck aire besonders hervorhebt, indem er ihn entre guillemets setzt; dies kann als Kennzeichnung der Übertragung des Arealbe-

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Der Abstraktionsprozess, der aus ortsbezogenen Einzelphänomenen sprachliche Areale konstituiert, die sich gleichsam der Verbreitung eines Pflanzentypus durch eine geographische Ausdehnung kennzeichnen, besteht dabei einerseits aus der – wie es heute heißt – areallinguistischen Analyse der geographischen Distribution der Phänomene; andererseits gehen dem jedoch bereits diverse Abstraktionsprozesse voraus, unter denen die kartographische Visualisierung der Daten nur den letzten Schritt bildet. Die Abstraktionen reichen von den sprachlichen Phänomenen, die zur Erschließung der parlers locaux für relevant gehalten werden, über die Festlegung der Orte bis hin zur Auswahl der Sprecher. Das sprachliche Areal setzt sich später gewissermaßen aus dem Netzwerk der einzelnen Punkte, d.h. der Orte zusammen, an denen Daten erhoben wurden. Blendet man, wie dies gerade zu Beginn der Atlastradition der Fall war, den urbanen Raum aus, so ergeben sich daraus freilich andere Areale bestimmter Phänomene als im umgekehrten Fall oder bei Berücksichtigung sowohl größerer Städte als auch ländlicher Ortschaften. Auch die Dichte des in die Untersuchung einbezogenen Ortsnetzes spielt eine Rolle: Je niedriger die Dichte, desto abstrakter die durch das Areal verbildlichte Verbreitung eines Phänomens. Wenn Gilliérons ALF 639 Erhebungsorte aus einer Zahl von insgesamt rund 37.000 Gemeinden auswählt, so bedeutet dies, dass die Sprechweise jedes Erhebungsortes im Durchschnitt – und darin liegt die «suggestive Kraft» kartographischer Darstellungen – jeweils die Sprechweise von 58 benachbarten Gemeinden repräsentiert, sobald man aus der Summe der Punkte Flächen, d.h. Areale, abstrahiert. Ein weiterer Schritt der Realitätsreduktion, besteht darin, dass pro Ort nur wenige bzw. nur ein Sprecher ausgewählt wird, der wiederum die Sprechweise des gesamten Ortes, d.h. aller anderen Sprecher (sowie der benachbarten, nicht in die Erhebung eingeschlossenen Orte) repräsentiert.58 Wie schon gezeigt wurde, lag das Interesse der traditionellen Sprachgeographie dabei darin, jeweils den «bodenständigsten» Sprecher, der eine möglichst «reine» autochthone Sprache spricht, zu identifizieren. Dieser sollte dann – hier setzt bekanntlich die Kri-

|| griffs auf sprachliche Phänomene interpretiert werden, d.h. Jaberg wird sich der Tatsache bewusst gewesen sein, dass der Ausdruck eigentlich der Bezeichnung anderer (z.B. pflanzlicher) Raumzusammenhänge dient. 58 Während zu Beginn der Atlastradition meist nur ein Sprecher als Informant diente, werden heute mehr Sprecher konsultiert, die z.T. – je nach Erkenntnisinteresse – auch unterschiedlichen sozialen Parametern entsprechen (cf. etwa die «pluridimensionale» Sprach- und Sozialgeographie Harald Thuns, zuletzt in Thun 2011). Selbst bei 20 Informanten pro Ort liegt allerdings eine Reduktion der Realität vor, die freilich immer praktischen und finanziellen Einschränkungen geschuldet ist. Zum Problem der Repräsentativität in der Sprachgeographie cf. König (1982).

192 | 5 Sprachliche Territorialität

tik der «modernen» Areallinguistik an – möglichst nur das älteste und «bodenständigste» Wort nennen, wozu die situationelle Variation ausgeblendet wurde.59 Insgesamt bedeutet dies, dass der einzelne, von einem individuellen Sprecher hervorgebrachte Sprechakt an einem bestimmten Ort durch die genannten Abstraktionsprozesse die Grundlage für den Punkt bzw. – im ALF – die Lautform des sprachlichen Phänomens auf der Atlaskarte bildet. Der Punkt repräsentiert in der späteren Interpretation der Karten also abstrakt das Sprechen in einem mehr oder weniger großen Gebiet, obwohl er tatsächlich nur das, was «ein Repräsentant der Dorfmundart dem Explorator auf seine Frage angegeben hat», abbildet, wie Jaberg/Jud (1928, 241) sich sehr wohl bewusst sind. Einen besonderen Akt bei der Konstitution sprachlicher Arealität stellt in der Folge der Datenerhebung die Einschreibung der sprachlichen Phänomene in den geographischen Raum dar. Dieser Akt ist bedeutsam, denn die in Einzelphänomene sezierte sprachliche Realität wird in eine Karte eingeschrieben, die – kartosemiotisch betrachtet – ihrerseits eine «représentation iconique approximative de la situation géographique réelle» (Klippi 2005, 43), also eine ikonische Abbildung des geographischen Raums darstellt. Die eingetragene Lautform bzw. das dafür gewählte Symbol erhalten dadurch eine indexikalische Funktion, denn sie zeigen auf den Ort im Realraum, an dem «so» gesprochen wird bzw. «dieses Wort» oder «diese Form» verwendet wird und auf den man das paradigmatische ici on dit/aquí se dice/hier sagt man … bezieht. Wenn auf dem Ausschnitt der Karte abeille (cf. Abb. 24) aus dem ALF über der Ziffer 696, die laut Register (Gilliéron/Edmont 1902, 47) für den Ort Gerde in der Vallée de Campan steht, die Aussprache [abɛʎo] verzeichnet ist, so verweist die Karte indexikalisch auf diesen Ort und gibt die Information là on dit [abɛʎo], während die Aussprache in diesem Fall tatsächlich den 1899 vernommenen Sprechakt einer 30jährigen «femme d’un employé du casino de Bagnères-de-Bigorre», «originaire de la localité même» angibt.

|| 59 Eine Reflexion dieser Methodologie bieten Jaberg/Jud (1928, 190): «Der Explorator wünscht nicht, daß man ihm zwei Ausdrücke zur Verfügung stellt mit der höflichen Bemerkung: ‹Come crede Lei›. Der sozial Abhängige paßt sich in seiner Rede dem sozial höher Stehenden leichter an als der Unabhängige. Wer annähme, daß die Mundart einer sozialen Schicht um so origineller sei, je tiefer sie in der gesellschaftlichen Hierarchie steht, würde sich täuschen. Der Berner Patrizier spricht ein bodenständigeres Berndeutsch als der Arbeiter in einem Industriequartier. Grobheit ist nicht mit Bodenständigkeit zu identifizieren».

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace» | 193

Abb. 24: Ausschnitt aus «ABEILLE» (ALF, vol. 1, Karte 1)

Karten sind ein herausragendes Mittel der Konstruktion von Raumbezügen und tragen insofern auch in besonderer Weise zur Konstitution von sprachlichen Arealen bei.60 Durch das kartographisch sichtbar gemachte bzw. erzeugte Nebeneinander der Phänomene im Atlas lassen sich Übereinstimmungen feststellen und in der Interpretation durch das Einzeichnen von Grenzen zu Arealen zusammenfassen. Die Karte erlaubt es, den Zusammenhang zwischen den Phänomenen zu erkennen und Rückschlüsse auf die geographische Verbreitung und historische Entwicklung zu ziehen. Gilliéron/Mongin (1905, 3) sehen darin die Überwindung der Etymologieforschung: «Rien de plus imprudent que de spéculer sur un mot isolé: nous voulons dire placé dans l’isolement artificiel du lexique et comme arraché à son milieu naturel». Die Karte ermögliche nun die «conditions géographiques précises» zu erfassen. Betrachtet man daraufhin die Verbreitung der Aussprache [abɛʎo] für ‘Biene’, also die aire phonétique, so würde das Areal einen Großteil Südwestfrankreichs umfassen. Bezogen auf die Hautes-Pyrénées weicht nur der Ort mit der Ziffer 695 hinsichtlich des Auslauts leicht ab. Im angrenzenden Département Haute-Garonne wurde diese Aussprache sogar an allen sieben Orten aufgezeichnet. Den Abstraktionsgrad berücksichti|| 60 Welche Bedeutung Karten auch für die Herausbildung von mental maps spielen, indem sie den Benutzer orientieren, führt Nöth (2000, 490) aus, für den daher auch die indexikalische Funktion von Karten im Vordergrund steht: «Trotz dieser Beispiele für kartographische Ikonizität ist die wesentliche Funktion einer Karte eine indexikalische, denn einerseits sind Kartenzeichen durch Gesetzmäßigkeiten der optischen Projektion mit dem dargestellten Territorium (als dem dynamischen Objekt) kausal verbunden, andererseits orientiert eine Karte ihre Benutzer ‹richtungsweisend› in ihrer unmittelbaren geographischen Umwelt oder in ihrem mentalen Vorstellungsraum. […] Schließlich ist auch die Platzierung der Ortsnamen neben dem bezeichneten Ort ein indexikalisches Verfahren der kartographischen Repräsentation».

194 | 5 Sprachliche Territorialität

gend bedeutet dies, dass die Haute-Garonne aufgrund von sieben ähnlichen individuellen Sprechakten eine aire phonétique bildet. Als Aussprachen desselben Lexems zählen darüber hinaus alle dort notierten Formen zur lexikalischen «aire méridionale apicula > ABEILLE» (Gilliéron 1918, 194). Durch die drucktechnischen und finanziellen Möglichkeiten der Zeit eingeschränkt konnte Gilliéron nur davon träumen, die einzelnen auf den Karten notierten Phänomene zu farblich markierten aires zusammenzufassen: «C’est l’étude des cartes de l’Atlas linguistique qui a fait ressortir à nos yeux l’importance primordiale de ce point de vue négligé jusqu’ici: la distribution géographique du mot. Ces cartes doivent être coloriées comme celles des géologues: abstraction faite des différences secondaires, les vocables patois se groupent par types, et ces types distincts couvrent des aires distinctes qu’il convient de désigner aux yeux par une couleur» (Gilliéron/Mongin 1905, 3).

Die farbliche Markierung von sprachlichen Arealen, wie sie hier vorgeschlagen wird,61 stellte auch für Hermann Suchier ein Ziel dar, das dieser in seinen für Gröbers Grundriss angefertigten Karten aufgrund unzulänglicher Quellen unterließ: «Ich habe einige der wichtigsten Lautunterschiede innerhalb Frankreichs auf Karten dargestellt. […] Da mir nicht aus sämtlichen Orten Sprachproben vorlagen, auch die mir vorliegenden Sprachproben zuweilen befriedigende Auskunft versagten, so habe ich die Grenzen der einzelnen Lauterscheinungen nur annähernd bestimmen können. Man denke sich die mit gleicher Farbe unterstrichenen Orte durch eine Linie verbunden; dann gehören sämtliche von dieser Grenzlinie eingeschlossenen Orte zu der gleichen Farbe» (Suchier 1888, 593).62

Anhand dieser Erwägungen wird der Abstraktionsprozess, der aus dem ortsbezogenen indexikalischen Sprechen sprachliche Raumbezogenheit ableitet und konstruiert, vielleicht am besten veranschaulicht. So resultiert sprachliche Arealität letztlich aus der Konzeptualisierung des Zusammenhangs von Sprechen und Ort und der Abstraktion von der Summe der Orte auf den Raum.

5.3.3 Arealität und Territorialität Die sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit der räumlichen Verbreitung sprachlicher Phänomene baut, wie am Beispiel des Begriffsrasters Autochtho-

|| 61 Verwirklicht findet sich diese Vision übrigens in dem Band Lectures de l’Atlas linguistique de la France de Gilliéron et Edmont (Le Dû/Le Berre/Brun-Trigaud 2005) sowie in den dialektometrischen Abstraktionen bei Goebl, cf. etwa Goebl (1984). 62 Cf. Anm. 67.

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace» | 195

nie/Allochthonie nachvollzogen werden kann, auf den gesellschaftlichen Prämissen der Verknüpfung von Sprache und Raum auf: Einerseits geht man schon vor der Datenerhebung von existierenden Sprachgebieten aus, wie die Referenz des ALPI auf den dominio lingüístico catalán zeigt; andererseits wird die Vorstellung einer durch Historizität begründeten Raumanbindung von Menschen nicht nur auf Sprachen als kulturelle Merkmale menschlicher Gemeinschaften übertragen, sondern tel quel auch für sprachliche Phänomene angenommen, die unabhängig von ihren Sprechern ähnlich wie Pflanzen als mit dem geographischen Raum verbunden konzeptualisiert werden; über die zum Boden gehörenden «autochthonen» Phänomene kann wiederum nur der alteingesessene Sprecher richtig Auskunft geben. Die Erkenntnisinteressen der heute meist Areallinguistik genannten Sprachgeographie haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Sie liegen längst nicht mehr nur im Bereich der Sprachgeschichte. Die Art und Weise jedoch, wie der Zusammenhang zwischen Sprache und geographischem Raum konzeptualisiert wird, hat sich trotz einer verfeinerten Methodologie kaum gewandelt. Zwar steht die Sprache stärker als kulturelle Technik einer Sprechergemeinschaft im Vordergrund, aber man bezeichnet die Verknüpfung mit dem Raum nach wie vor als selbstverständlich und stellt sich Sprachen als «in direkter Weise an spezifische Gegenden […] angebunden» (Krefeld 2004, 23) vor. Schließlich lässt sich auch umgekehrt eine Beeinflussung der gesellschaftlich gedachten und soziopolitisch konstruierten sprachlichen Territorialität durch die sprachgeographische Arealbildung feststellen. Dies mag ein weiteres Mal am Beispiel des Okzitanischen nachvollzogen werden, über dessen Verbreitungsgebiet heute keine Zweifel bestehen, wie anhand der Karte, die z.B. die katalanische Generalitat propagiert (cf. Abb. 20), ersichtlich wird. Tatsächlich speist sich das Wissen über die räumliche Verbreitung von dialektalen Varietäten und Regionalsprachen aus der in Sprachatlanten fixierten geographischen Distribution von sprachlichen Einzelphänomenen. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet der Atlas linguistique de la France entscheidend dazu beitrug, die zuvor nur vage erahnte Ausdehnung des Okzitanischen in Südfrankreich oder auch die Existenz des von Graziadio Isaia Ascoli «gefundenen» Frankoprovenzalischen zu beweisen und anhand von Isoglossen gewissermaßen kodifizieren zu können, wollte doch Gaston Paris, als er die kartographische Dokumentierung der Galloromania anregte, genau das Gegenteil erreichen, nämlich die sprachliche Einheit Frankreichs belegen.63

|| 63 Paris (1888, 162s.) ging es darum zu zeigen, dass die interne Variation Frankreichs so kleingliedrig und von Dorf zu Dorf minimal sei, dass sich unmöglich eigenständige Dialekte oder gar

196 | 5 Sprachliche Territorialität

Freilich wird die sprachgeographische Erforschung der sprachlichen Arealität nicht unmittelbar von einem breiteren Publikum rezipiert, sondern bleibt zunächst in den Grenzen des Fachs: So sind es Sprachwissenschaftler, welche die in Atlanten über viele Karten verteilten Phänomene bewerten und die Isoglossen gewichten, um schließlich aufgrund von Isoglossenbündeln Sprachund Dialektgrenzen zu abstrahieren. Daraus abgeleitete, sinnvollerweise vielleicht «sekundäre Karten» genannte Repräsentationen der Verbreitung von Idiomen werden schließlich in linguistischen Lehrwerken rezipiert,64 über welche sie wiederum den Weg in allgemeine Lehrbücher und Enzyklopädien finden können, um letztlich für ein «kollektives Wissen» über die sprachliche Topographie fruchtbar und ggf. für die Konstruktion der Territorialität einer Sprache instrumentalisiert zu werden. Dieser Entwicklungsgang von der Atlaskarte, die nur Einzelphänomene ohne jede Grenzmarkierung angibt (cf. Abb. 24), über die Abstraktion von Dialektgrenzen bis hin zur Darstellung klar definierter Sprachgebiete lässt sich besonders gut am Beispiel des Frankoprovenzalischen nachzeichnen. So definiert Walther von Wartburg die «Grenzen des Frankoprovenzalischen» anhand dreier Lautkriterien, wobei die Darstellung dabei, wie schon die Nummern der Ortskennzeichnungen auf der Karte verraten, auf den Daten des ALF fußt (cf. Abb. 25).

|| Sprachen abgrenzen ließen: «Comme l’olivier s’arrête à telle ligne, le maïs à telle autre, la vigne à une autre encore, nous verrons des sons, des mots, des formes couvrir une certaine région et ne pas pénétrer dans une autre. Nous remarquerons, par exemple, que le même verbe se prononce douna ou duna dans tout le midi, doner ou douner dans tout le nord; […] qu’on dit chat dans le centre, mais un cat dans l’extrême nord et l’extrême sud; que le roua ou roué de l’est et du centre a pour pendant un rè ou un ré dans l’ouest et dans le midi, etc. Mais le fait qui ressort avec évidence du coup d’œil le plus superficiel jeté sur l’ensemble du pays, c’est que toutes ces variantes de phonétique, de morphologie et de vocabulaire n’empêchent pas une unité fondamentale, et que d’un bout de la France à l’autre les parlers populaires se perdent les uns dans les autres par des nuances insensibles. [… I]l n’y a réellement pas de dialectes, il n’y a que des traits linguistiques qui entrent respectivement dans des combinaisons diverses, de telle sorte que le parler d’un endroit contiendra un certain nombre de traits qui lui seront communs, par exemple, avec le parler de chacun des quatre endroits les plus voisins, et un certain nombre de traits qui différeront du parler de chacun d’eux. […] Il suit de là que tout le travail qu’on a dépensé à constituer, dans l’ensemble des parlers de la France, des dialectes et ce qu’on a appelé des ‹sous-dialectes› est un travail à peu près complètement perdu». Cf. dazu die einschlägige Diskussion bei Gauchat (1903). 64 Gleßgen (2000, 198–203) zeigt in seiner Untersuchung romanistisch-linguistischer Lehrwerke, dass die «géographie moderne des parlers romans» (ib., 199) in der Tradition der Romanistik von Beginn an, d.h. seit den 1880er Jahren, fester Bestandteil des Fächerkanons ist und insbesondere ab 1966 verstärkt auch um Karten ergänzt wird.

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace» | 197

Abb. 25: «Die Grenzen des Frankoprovenzalischen»65

Während die Karte noch präzise die Grenzen je nach gewähltem Lautkriterium angibt, wobei die Abstraktion hier in der Auswahl der die Dialektgruppe konstituierenden Kriterien liegt, zeigt sich in der weiteren Adaptierung dieser kartographischen Darstellung, wie das in den Atlanten fixierte «Rohmaterial» auf ganz radikale Weise die komplexe sprachliche Realität vereinfacht: Statt durch Übergangszonen wird das Verbreitungsgebiet üblicherweise schlicht mit einer eingezeichneten Grenze definiert, durch Schraffierung oder durch eine farbliche Markierung gekennzeichnet, was eine flächendeckende sprachliche Prägung des Gebietes suggeriert. Eine erste Karte dieses Typus, welche die gesamte Romania abbildet, stammt wiederum aus Wartburgs berühmter Ausgliederung der romanischen Sprachräume (cf. Abb. 26).

|| 65 Quelle: Wartburg, Walther von, Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume, Bern, Francke, 1950, Karte 12. Ich danke dem Narr Francke Attempto Verlag für die freundliche Erlaubnis der Reproduktion.

198 | 5 Sprachliche Territorialität

Abb. 26: «Die Romania von heute»66

Wartburgs berühmte Abbildung der Romania, die nunmehr sowohl das Frankoprovenzalische als auch alle anderen romanischen Sprachen abstrakt als schraffierte Flächen darstellt, hat seither die Vorstellung von den romanischen Sprachgebieten geprägt; beinahe ausnahmslos findet sich diese Karte in allen Einführungen in die romanische Sprachwissenschaft, oft als Reproduktion mit Verweis auf von Wartburg (Gauger/Oesterreicher/Windisch 1981, 313), teilweise auch in adaptierter Form, wobei die Grenzziehung identisch ausfällt (Pöckl/ Rainer 1994, 17). Die Darstellung steht dabei meist für sich, d.h. ihre Genese und die Abstraktionsprozesse, die ihr zugrunde liegen, bleiben unerwähnt. MartinDietrich Gleßgen (2000, 190) stellt bezüglich romanistischer Lehrwerke entsprechend fest: «En effet, ce genre textuel est réducteur – et il faudra en tenir compte» – ein Hinweis, der bei der Interpretation der Karten durch die Kartenbenutzer wohl eher selten beherzigt wird. Dass die zugrundeliegenden Daten meist nur das Sprechen im ländlichen Raum, nur das Sprechen einer bestimmten Sprechergruppe repräsentieren und auch, dass die angegebene Verbreitung nur die

|| 66 Quelle: Wartburg, Walther von, Die Ausgliederung der romanischen Sprachräume, Bern, Francke, 1950, Karte 11. Ich danke dem Narr Francke Attempto Verlag für die freundliche Erlaubnis der Reproduktion.

5.3 «Transposer l’étude de la langue du point dans l’espace» | 199

areale Situation zu einem bestimmten, oft längst vergangenen Zeitpunkt widerspiegelt (im Fall der Galloromania liegen die um 1900 erhobenen Daten des ALF zugrunde), sind Informationen, die schon innerhalb der fachlichen Grenzen nie oder nur in den seltensten Fällen in der Legende genannt werden und die in der soziopolitischen «Verwertung» keinerlei Relevanz mehr haben. Am Beispiel der durch von Wartburg initiierten Abbildungstradition67 zeigt sich, dass die bis heute gültige Vorstellung von der Verbreitung der romanischen Sprachen entscheidend durch eine Karte geprägt ist, die auf mittlerweile über 100 Jahre alten sprachgeographischen Daten basiert und die – womöglich bedingt durch das Temporaladverb heute im Titel der Karte: «Die Romania von heute» – ihre Aktualität nicht einzubüßen scheint.68 Differenzierter, wenngleich noch immer simplifizierend, wenn man die Suggestion eindeutiger Grenzen betrachtet, sind die im LRL abgebildeten Karten. Die letztlich auf Wartburgs Analyse des ALF zurückgehende Arealität des Frankoprovenzalischen findet sich hier als violette Fläche wieder (Abb. 27). Die Darstellung der Galloromania wird durch einen kleinen Hinweistext ergänzt, in dem auch auf Simplifizierungen hinsichtlich der Mehrsprachigkeit hingewiesen wird: «Die vier großen historischen Sprachgebiete Französisch, Okzitanisch, Katalanisch und Frankoprovenzalisch sind durch je einen farblichen Grundton repräsentiert, wobei Varietäten der ersteren drei durch Farbnuancierungen gekennzeichnet sind. […] Auf viele Details, wie zum Beispiel die Zweisprachigkeit in Brüssel oder die Mehrsprachigkeit im Val d’Aran, mußte wegen des Kartenformats verzichtet werden» (LRL V.1).

|| 67 Diese Abbildungstradition betrifft dabei die Darstellung von Flächen. Für die Sprachgeographie der romanischen Sprachen ist es freilich Gilliéron, der schon vor dem ALF mit seinem 1881 erschienen Petit Atlas phonétique du Valais roman (Sud du Rhône) gleichzeitig als Begründer der Tradition der Sprachatlanten wie auch der kartographischen Darstellung sprachlicher Fakten allgemein gelten kann. In der deutschsprachigen Romanistik greift diese Tradition erstmals Hermann Suchier (1888, 593) auf, der seiner Darstellung der französischen Mundarten in Gustav Gröbers Grundriss der romanischen Philologie von 1888 zwölf Karten beilegte: «Ich habe einige der wichtigsten Lautunterschiede innerhalb Frankreichs auf Karten dargestellt. Dabei habe ich die mir zugänglichen lokalisierbaren Texte zu Grunde gelegt und, wo mir mittelalterliche Texte fehlten, die heutigen Patois ergänzend herangezogen». Cf. auch Lebsanft (2013, 665s.), der bezogen auf die kartographische Darstellung bei Suchier von einer «sprachgeogr. Pioniertat» spricht. 68 Gleßgen (2012, «Carte de la Romania continua») führt bei der Adaptierung der Wartburgschen Karte in seiner eigenen Einführung immerhin an, dass die Linienmarkierung die «frontières linguistiques vers 1900» angebe. Zuletzt findet sich die Karte in Pirazzini (2013, 32) als Beispiel für die «übliche Einteilung der Romania in areale Großräume» wieder.

200 | 5 Sprachliche Territorialität

Abb. 27: Ausschnitt aus «Sprachgebiete/Les aires linguistiques» (LRL V.1)

Die Information, dass die farblich markierten Gebiete – entgegen der Suggestion der kartographischen Abbildung – nicht bedeuten, dass die jeweilige Sprache dort exklusiv gesprochen wird, ist nicht unwesentlich. Weiterhin verschweigt die Repräsentation «wegen des Kartenformats» jedoch (u.a.) auch, wie viele der Bewohner der Gebiete die angegebenen Sprachen überhaupt verwenden, wie groß die Sprecherdichte ist. Noch einen Schritt weiter geht die Interpretation solcher Abbildungen dann, wenn sie außerhalb der Grenzen der Sprachwissenschaft adaptiert werden und auf Hinweise, wie die Karte zu interpretieren ist, gänzlich verzichtet wird. Dies kann freilich im Interesse der jeweiligen Herausgeber liegen, wie Gal (2010, 37) feststellt: «Language maps remain remarkably believable despite their elisions because many social institutions support the sociolinguistic picture displayed in such maps». Insgesamt wird so am Beispiel der Galloromania ersichtlich,69 wie die Erhebung von Daten auf der Grundlage recht weniger individueller Sprechakte zur Abstraktion von Dialektgrenzen führt, deren kartographische Abbildung wieder-

|| 69 Was hier für die Galloromania gezeigt wurde, gilt in gleicher Weise auch für die Iberoromania. Im entsprechenden LRL-Band (VI.1) liegt der Karte «Sprachgebiete/Áreas lingüísticas» dabei ein ausführlicher Text bei, in dem zwar einerseits die Kriterien jeder einzelnen Sprachgrenze mit Verweis auf die entsprechende dialektologische Forschung (meist Zamora Vicente 1967) dargelegt werden. Andererseits wird die Frage der ausgeblendeten Mehrsprachigkeit nicht einmal erwähnt.

5.4 Fazit | 201

um durch eine Reihe von vereinfachenden Adaptionen in eine Art kanonisierter Darstellung und damit auch Vorstellung von Dialekt- und Sprachgebieten mündet, die schließlich außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes soziopolitisch instrumentalisiert werden (können) und zur Konstruktion sprachlicher Territorialität beitragen. Die «Macht» der Karte und der so konstituierten sprachlichen Arealität suggerieren dabei die Existenz von fest an den Raum «angebundenen» Sprachen. Die vereinfachende Darstellung lässt die Arealität der einzelnen Phänomene mit der gesellschaftlich gedachten Territorialität verschmelzen.

5.4 Fazit5.4 Fazit

In diesem Kapitel wurde in einem ersten Schritt der gedachte Zusammenhang von Sprache und geographischem Raum – ausgehend von den in Kapitel 4 untersuchten Prämissen der Siedlungsgeographie sowie den Begriffen der Sprechergemeinschaft und der Autochthonie – als gesellschaftlich tradierte und soziopolitisch konstruierte sprachliche Territorialität untersucht. Durch die Anwendung und Übertragung des übergreifenden, sowohl die ethologische als auch die politischjuristische Perspektive integrierenden sozialgeographischen Konzepts des Territoriums war es möglich, den konstruktivistischen Charakter dieser Vorstellung herauszuarbeiten und ein Konzept sprachlicher Territorialität zu skizzieren. So konnte veranschaulicht werden, dass sprachliche Territorien aus der gruppenspezifischen Territorialität von Sprechergemeinschaften abgeleitet werden können, insofern Sprache als kulturelle Besonderheit und wesentliche Konstituente kollektiver Identität auf den besiedelten und beanspruchten Raum projiziert wird; es ließ sich nachvollziehen, dass die diskursive Fortsetzung dieser Projektion kultureller Praktiken auf den Raum schließlich zur Annahme bzw. Zuschreibung einer «dem Gebiet eigenen» Identität führt, sodass die Sprache der Gemeinschaft zur Sprache des Gebietes, zur «gebietseigenen» Sprache wird. In Form eines Exkurses konnte ergänzend dazu gezeigt werden, wie die Sprachwissenschaft einerseits auf den allgemein-gesellschaftlichen Prämissen aufbaut: So wird der als sprachliche Arealität konstruierte Zusammenhang zwischen Idiomen und dem geographischen Raum unhinterfragt als natürlich gegeben konzeptualisiert.70 Andererseits konnte nachvollzogen werden, dass die || 70 Diese an die Pflanzengeographie und den dort entlehnten Arealbegriff angelehnte Konzeptualisierung kennzeichnete sich lange Zeit auch metasprachlich durch die häufige Rekurrenz auf entsprechende Metaphern, die nicht ausschließlich der Veranschaulichung dienten, bedenkt man, dass sprachliche Arealität bis heute mit «dem gewissermaßen naturwüchsigen Typ der Verbreitung eines Dialekts» (Oesterreicher 2008, 66) gleichgesetzt wird.

202 | 5 Sprachliche Territorialität

sprachgeographischen Daten insbesondere durch ihre kartographische Projektion den Weg von der Forschung in die Gesellschaft einschlagen können und somit wiederum zu die Realität vereinfachenden Vorstellungen von Sprachgebieten und ihren Konturen beitragen. Was die Konzeptualisierung von sprachlich-räumlichen Zusammenhängen im Sinne eines «Wissens» anbelangt, lässt sich nun ein vollständiges Bild entwerfen. So wird in Anknüpfung an die in Kapitel 3 kognitionswissenschaftlich betrachtete rein subjektive Konzeptualisierung ersichtlich, wie die subjektive Erfahrung und kognitive Verarbeitung des Sprechens an einem Ort auf der einen Seite und die gesellschaftlich bedingte Vermittlung der gedachten und konstruierten territorialen Raumbezogenheit der Sprachen sowie ihre konkrete topographische Manifestation im linguistic landscape auf der anderen Seite ineinander greifen. Die jeweils individuelle Vorstellung der sprachlich-räumlichen Realität, die mental map des Einzelnen, wird auf mehreren Ebenen und in verschiedener Weise geprägt und beeinflusst. Zunächst über – die sinnliche Erfahrung des visuell wahrnehmbaren linguistic landscape, d.h. der konkreten topographischen Manifestation der sprachlichen Territorialität einer Gemeinschaft, sowie – die sinnliche Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung des gegebenen, faktischen Zusammenhangs von Sprechereignissen und bestimmten Orten, bei der die assoziative Verbindung des Sprechens mit dem Ort sowie das Vergleichen des Sprechens an verschiedenen Orten zu individuellen Repräsentationen und Urteilen über sprachlich-räumliche Zusammenhänge führen (cf. 3.2). Darüber hinaus haben jedoch – diskursive und kartographische Repräsentationen des gedachten und konstruierten Zusammenhangs von Sprachen, geographischen Gebieten und kollektiven Identitäten einen entscheidenden Einfluss auf die Weltwahrnehmung des Individuums. Die «Macht» kartographischer Projektionen bestimmter Zusammenhänge ist dabei in Bezug auf die individuelle Raumwahrnehmung nicht zu unterschätzen. Abgesehen von thematischen (z.B. sprachgeographischen) Karten, die unmittelbar sprachliche Daten auf Gebiete projizieren (cf. 5.3.2), verknüpft schließlich bereits jede Landkarte, semiotisch betrachtet, Bezeichnungen und damit Sprache mit Orten. Vor dem Hintergrund, dass kartographische Darstellungen heute nicht nur im Alltag allgegenwärtig sind, sondern dass auch in der Schulbildung «spezifisch geographische Kompetenzen» gelehrt werden, die – wie der Geograph Fritz-Gerd Mittelstädt aus dem niedersächsischen Curriculum zitiert – «vor allem

5.4 Fazit | 203

Kartenkompetenz, topographisches Orientierungswissen, Orientierung in Realräumen und Reflexion von Raumwahrnehmungen»71 umfassen, ist es nicht weiter überraschend, dass räumliche Zusammenhänge auch mental gewissermaßen «von oben» gedacht und subjektive Erfahrungen durch vermeintlich objektive, kulturell vermittelte Repräsentationen im Rahmen einer Geographie-Didaktik ergänzt und perspektiviert werden.72 Schematisch bringt Abbildung 28 die Komponenten zusammen, die gemeinsam zu dem beitragen, was ich als «Wissen» über sprachlich-räumliche Zusammenhänge bezeichne. individuelle Erfahrung Sprechereignisse (realer Zusammenhang): «Sprechen + Ort»

Toponymie u. linguistic landscape: «Sprache im Gebiet»

gesellschaftliche Vermittlung Repräsentationen (Diskurse/Kartographie): «Sprache + Gebiet»

«Wissen» / Konzeptualisierung sprachlicher Räumlichkeit

Abb. 28: Sprachlich-räumliches «Wissen»

Die beim erfahrenden Subjekt bzw. beim Sprecher entstehende mental map sprachlich-räumlicher Zusammenhänge setzt sich also einerseits aus einem vermeintlichen Wissen zusammen, d.h. mehr oder weniger präzisen, kulturell tradierten Vorstellungen über die Lage und Verbreitung von Sprachen, also über eine sprachliche Topographie,73 in der Sprachen als mit der Erdoberfläche ver-

|| 71 Mittelstädt, Fritz-Gerd, Im Lichte der aufgehenden Sonne. Westwärts geht der Blick: Wie Erdkunde dazu erzieht, sich im Raum zu orientieren, FAZ, 27.03.2013, Nr. 73, p. N5. 72 Dies wird z.B. im Rahmen der perceptual dialectology untersucht, bei der Sprechern zur Untersuchung ihrer individuellen mental maps Karten vorgelegt werden, auf denen diese Dialekte (selten Sprachen) einzeichnen und so über ihre Kenntnisse der sprachlich-räumlichen Realität Auskunft geben, cf. dazu etwa die Beiträge in Anders/Hundt/Lasch (2010). 73 Die Topographie beschäftigt sich mit der Darstellung und Beschreibung der mit der Erdoberfläche fest verbundenen «künstlichen und natürlichen Objekte» (LexKarto, s.v. topographische

204 | 5 Sprachliche Territorialität

bunden konzeptualisiert werden. Andererseits ordnet jeder Sprecher in diesen – gemessen an geographischen Maßstäben – großen topographischen Rahmen seine eigenen Erfahrungen der ihn unmittelbar umgebenden und mit eigenen Augen und Ohren wahrgenommenen sprachlichen Realität ein.74 Diese mentale Geographie des Sprechens kann naturgemäß nicht über den espace vécu des Individuums hinausgehen, bleibt verhältnismäßig kleinräumlich und speist sich zudem aus punktuellen, örtlichen Erfahrungen, die den Wegen und Ortskenntnissen des Individuums entsprechen. Dagegen sind «flächendeckende» Vorstellungen letztlich immer das Ergebnis von Generalisierungen, die ihrerseits wieder durch Denkmuster und Repräsentationen beeinflusst sind.

|| Objekte). Die Konzeptualisierung von Sprachen als «an den Raum angebunden» oder «in den Raum eingeschrieben» betrachtet Sprachen folglich als topographische Objekte. 74 Hinsichtlich der verwendungsorientierten Semiotik von Karten cf. auch Lebsanft (2002, 44): «[Das Kartenwerk] vermittelt dem Betrachter und Leser eine bildliche Vorstellung topographischer Verhältnisse, wobei der Garant für deren richtige und genaue Darstellung die wenigstens punktuell einsetzbare eigene Erfahrung des Lesers ist».

6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung: Fallstudien zu Sprachgebietskonzepten in der Romania Als der vom Europarat eingesetzte Sachverständigenausschuss sich daran machte, die Anwendung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen in Spanien zu überprüfen, befasste er sich auch mit dem Fall einer von geschätzten 40.000 Menschen im Westen Asturiens gesprochenen iberoromanischen Sprache, welche die Behörden Asturiens als gallego-asturiano bezeichneten. Als Teil des dialektalen Kontinuums, das von Linguisten als asturleonés bezeichnet wird, war die Varietät bislang nicht als eigenständige Sprache bekannt, doch entspricht es nicht der Sprachpolitik des Europarats, den Status der ihm zum Schutz benannten Sprachen in Frage zu stellen: Einmal benannt gilt es, das Fortbestehen des benannten Idioms sicherzustellen. Wenngleich der Europarat das Idiom konsequent als Asturian Galician bezeichnet, akzeptiert er die Tatsache, dass Asturien dieses nicht als «Galicisch in Asturien» schützen möchte, sondern – gemäß Artikel 2 des asturischen Sprachgesetzes – als «modalidad lingüística propia» betrachtet. Mehr noch: Der Sachverständigenausschuss fordert, dass die Eigenständigkeit1 des Idioms betont werden möge, wozu «a greater effort to promote the specific identity of Galician in the Asturias seems to be necessary».2 Darunter fällt nun nicht nur, der mündlich tradierten Sprache eine Orthographie zu geben, die sie von den benachbarten Schriftsprachen (Galicisch und Asturisch) differenziert, sondern dies bedeutet im Sinne des Sprachenschutzkonzeptes des Europarats vor allem, «to take measures aimed at increasing the presence and visibility in public life»3. Die zentrale Bedeutung, die der Präsenz und Sichtbarkeit der Sprache im öffentlichen Leben beigemessen wird, lässt sich daran erkennen, dass der Sachverständigenausschuss seither nicht müde wurde, immer wieder auf diesen Punkt hinzuweisen und die «weak presence of the language in the public sphere»4 und den «lack of visibility»5 zu monieren. Was es bedeutet, die Präsenz und

|| 1 Linguistisch gewendet bedeutet dies die (künstliche) Herstellung sprachlichen Abstands. 2 1. Evaluationsbericht zu Spanien, 08.04.2005, Abs. 94. Die im Folgenden zitierten Berichtszyklen (Staatenberichte, Evaluationsberichte des Sachverständigenausschusses, Empfehlungen des Ministerkomitees) sind auf den Seiten des Europarats unter folgender Adresse abrufbar: . 3 1. Evaluationsbericht zu Spanien, 08.04.2005, Abs. 129. 4 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 04.04.2008, Abs. 132.

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Sichtbarkeit der Sprache zu fördern, geht aus der entsprechenden Empfehlung, «to take measures for the facilitation and encouragement of the use of Asturian Galician in public life»6 hervor: Die Präsenz einer Sprache im öffentlichen Raum des Gebietes, in dem sie als autochthon gilt, wird durch ihren Gebrauch gewährleistet. Die Sprache soll als kulturelle Praxis im Raum («presence») territorialisiert und als «gebietseigene» Sprache («specific identity») herausgestellt werden. Das Beispiel des gallego-asturiano deutet bereits an, dass die Maßnahmen, die sprachplanerisch zum Erhalt einer Sprache dienen sollen, konkret mit einer Territorialisierung, also einer stärkeren «Einschreibung» der Sprachen in das mit ihnen assoziierte Gebiet, einhergehen. Dass die Sprachen, um die es im Rahmen des europäischen Sprachenschutzes geht, einen Raumbezug aufweisen, zählt dabei zu den Prämissen, denn nur als autochthon betrachtete Sprachen werden geschützt und auch nur in den Gebieten, in denen sie eine derartige historische Raumbindung aufweisen (cf. 4.3.2). Soll die Präsenz gefördert werden, so werden Maßnahmen ergriffen, die auf den Gebrauch der Sprache im öffentlichen Raum abzielen; geht es um die Sichtbarkeit, so gilt es, regionalsprachliche Ortsnamen anzubringen und auch alle anderen Beschilderungen entsprechend zu übersetzen. Spracherhalt und Territorialisierung gehen, aus dieser Perspektive betrachtet, Hand in Hand. Dem liegt freilich die Annahme zugrunde, dass nur eine in jeder Situation des Alltags, d.h. im espace vécu der Sprecher präsente und sichtbare Sprache als praktisches Kommunikationsmittel wahrgenommen und als «eigene» Sprache soweit wertgeschätzt wird, dass die nächste Generation sie übernimmt. Ziel dieses Kapitels ist es, Sprachplanung und Territorialisierung in einem Zusammenhang zu betrachten. Die Romania bietet dazu ein teilweise außergewöhnlich dichtes Netz an Regionalsprachen. Wie das gallego-asturiano zeigt, handelt es sich dabei – neben den altbekannten romanischen Regionalsprachen wie Galicisch, Katalanisch, Okzitanisch und Rätoromanisch – auch um Idiome, die man bislang nur als Teile von Dialektkontinua betrachtet hat und deren Eigenheiten bislang allenfalls aus sprachhistorischen und dialektologischen Untersuchungen bekannt waren. Ausgehend von der These, dass Spracherhalt, wie er vom Europarat konzipiert wird, zur Schaffung einer sprachlich geprägten Kulturlandschaft, einer sprachlichen Topographie führt,7 und mittels des in Ka-

|| 5 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 04.04.2008, Abs. 133. 6 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 04.04.2008, Abs. 134. 7 Zwar argumentiert Boysen in ihrem juristischen Kommentar der Charta, dass das Ziel des Europarats bei der Festlegung der Schutzgebiete nach dem Kriterium der Autochthonie «nicht die genaue Zuordnung aller Regional- oder Minderheitensprachen zu bestimmten Gebieten, nicht die Erstellung einer sprachlichen Topographie Europas [ist]», sondern «schlicht die Anwendbarkeit

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 207

pitel 5 herausgearbeiteten Konzeptes, soll die Etablierung und Verfestigung sprachlicher Territorialität im Rahmen sprachpolitischer Erwägungen und sprachplanerischen Handelns systematisch am Beispiel romanischer Regionalsprachen nachvollzogen werden. Dies soll durch die Untersuchung der Debatten um eine Anwendung der Charta in Belgien und Frankreich sowie durch die Analyse ihrer Implementierung in der Schweiz und in Spanien veranschaulicht werden. Dazu wird im Folgenden zunächst der Zusammenhang von Sprachplanung und Sprachenschutz auf der einen Seite und dem Begriff der Präsenz auf der anderen Seite beleuchtet (6.1). Daran knüpfen schließlich die Fallstudien zu Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien (Abschnitte 6.2–6.6) an, die eine systematische Darstellung der jeweiligen Konzeptionen sprachlicher Gebietsbezogenheit beinhalten und zeigen, wie sich sprachliche Territorialität in der Romania konkret manifestiert.

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken

In Bezug auf die politische und gesetzliche Regelung der Mehrsprachigkeit der Schweiz schreibt der Jurist Rudolf Viletta (1978, 345), die strikte Anwendung des Territorialitätsprinzips erfülle den Zweck, «für schweizerische Sprachverhältnisse die optimalsten Bedingungen [zu] schaffen, unter denen jeder die gleichen Aussichten hat, die ihm gewährte Sprachfreiheit […] zu verwirklichen». Ziel sei es, präzisiert Viletta, «der einzelnen Person diejenige soziale Umwelt, d.h. denjenigen Lebenskreis zu sichern, die er [dazu] benötigt» (ib.). Darunter wird nach schweizerischer Rechtsauffassung verstanden, dass die Mehrsprachigkeit der Schweiz als territoriales Nebeneinander friedlich organisiert wird, indem «die überlieferten Grenzen der Sprachgebiete gewahrt, die Homogenität der Sprachgebiete erhalten, der Sprachfrieden und die sprachlichen Minderheiten geschützt werden» (Jurt 2008, 215). Es geht mit anderen Worten darum, dem einzelnen Sprecher – allerdings nur dem «autochthonen» Sprecher im «angestammten» Sprachgebiet – eine sprachlich gestaltete Umgebung zu bieten, die es ihm ermöglicht, die «gebietseigene» Sprache in allen Kommunikations- und Alltagssituationen normal zu verwenden. Die Erhaltung dieser Umgebung sichert wiederum die «Homogenität der Sprachgebiete», denn der so geschaffene «erlebte Raum» bestärkt nicht nur die Mitglieder der jeweiligen Sprechergemeinschaft, ihre Sprache in allen Kommunikationssituationen zu verwenden, sondern er wirkt auch auf die

|| der zahlreichen Chartabestimmungen sicherstellen [soll]» (Boysen 2011, Art. 1, Rn. 33), doch scheint mir eine solche Topographie dennoch ein Resultat des Schutzkonzeptes zu sein.

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Sprecher anderer (dort nicht «autochthoner») Sprachen ein, die «gebietseigene» Sprache zu erlernen, zu gebrauchen und sich der Umgebung anzupassen. Wie bereits im vorigen Abschnitt aus der Perspektive der Sprecher dargestellt, zeigt sich hierbei, in welchem Maße die Territorialisierung der Sprache in einem praktischen Sinn für die sprachpolitische Regulierung von Mehrsprachigkeit von Relevanz ist. Die sprachplanerischen Maßnahmen, die im Sinne des Spracherhalts, der «Revitalisierung» einer Sprache und der Sicherung einer Sprache als dominantes Kommunikationsmittel einer Gesellschaft, ergriffen werden, lassen sich insofern gleichzeitig als Territorialisierung sprachlicher Praktiken interpretieren. Im Folgenden soll nun der Begriff der «sprachlichen Präsenz» sowohl historisch als auch aus der Perspektive des aktuellen «Erfahrungsraumes» entfaltet werden (6.1.1), um schließlich anhand der Analyse der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen zu zeigen, inwiefern der Sprachenschutz nach dem Territorialitätsprinzip die Territorialisierung regionaler Idiome umfasst (6.1.2).

6.1.1 Sprachliche Präsenz Das sprachliche Territorium als wahrnehmbar durch den Gebrauch eines Idioms geprägtes Gebiet stellt ein Siedlungsgebiet dar, in dem ein Idiom als Kommunikationsmittel und als «typische» kulturelle Praxis präsent ist. Da der Gebrauch von Sprache als Kommunikationsmittel sowohl auditiv als auch visuell gewissermaßen omnipräsent ist, muss zwischen verschiedenen Situationen unterschieden werden: In Gebieten, deren Bevölkerung einsprachig ist, wo also nur (noch) die Staatssprache gesprochen wird, ist diese exklusiv, d.h. in jedem Kontext präsent und damit territorial konsolidiert. Anders verhält es sich in Gebieten, in denen die Bevölkerung oder Teile der Bevölkerung mehrsprachig sind: Die Koexistenz mehrerer Sprachen kann unterschiedlich, als friedlich oder auch als konfliktiv, beurteilt werden. in jedem Fall handelt es sich um eine Sprachkontaktsituation, in der meist eine Sprache – in aller Regel die offiziell geltende Amtssprache – präsenter ist als die andere(n). Die Frage nach der örtlichen Präsenz einer Sprache bzw. ihrer Wahrnehmbarkeit als kulturelle Praxis ist also insbesondere in mehrsprachigen Zusammenhängen von Relevanz. Der Grad der Territorialisierung leitet sich entsprechend auch aus dem Grad der Präsenz ab. Was umfasst nun die Präsenz einer Sprache? Hier ist zunächst an ihre Verwendung im öffentlichen Raum, der damit gewissermaßen zum «Sprachraum» wird, zu denken; ferner ist dabei auch die visuelle Präsenz als Sichtbarkeit auf Beschilderungen, als topographische Manifestationen der sprachlichen Territorialität, zu berücksichtigen.

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 209

Während Staats- und Nationalsprachen als Sprachen der öffentlichen Sphäre erkennbar sind, handelt es sich bei Regionalsprachen in vielen Fällen um Sprachen, die ausschließlich in Situationen kommunikativer Nähe und häufig nur im Privaten verwendet werden. Die Regionalsprache prägt somit nicht das Territorium der Gemeinschaft im Ganzen als Sprachgebiet, sondern beschränkt sich auf den Raum des Häuslichen, d.h. nur einen Teil des espace vécu der Bewohner. Diese Beschränkung wird dabei nicht ohne Grund häufig als Faktor für den Rückgang des Gebrauchs einer Sprache betrachtet, geht damit doch ein Prestigeverlust einher, der dazu führt, dass die Sprache seltener an nachfolgende Generationen weitergegeben wird. Wenn es in dem Büchlein der katalanischen Generalitat zum Okzitanischen (cf. 5.2.2.1) also heißt, das Territorium des Okzitanischen sei «el territori on es parla occità» (GenCat 2008, 8) dann mag in Anbetracht der Sprecherzahlen (je nach Schätzung 100.000 bis 2 Mio.) im Vergleich zu den allgemeinen Bevölkerungszahlen (ca. 15 Mio.) gleichwohl hinterfragt werden, wie stark das Okzitanische als Kommunikationsmittel in den Orten Okzitaniens als réalité vécu präsent ist und bis zu welchem Grad die Territorialität der Sprache, welche von der Generalitat propagiert wird, jenseits von Repräsentationen (cf. Abb. 20) auch in der Materialität der kulturellen Praxis gegeben und erfahrbar ist. Auch eine vermeintlich hohe Anzahl an Muttersprachlern in einem Ort muss noch kein Beleg für eine hohe Präsenz der Sprache sein; die erlernte Staatssprache wird von den Sprechern mitunter bevorzugt, wie Bernissan (2012) für das Okzitanische anmerkt: «L’appartenance à la catégorie des locuteurs natifs n’implique pas nécessairement l’emploi habituel de cette langue. On remarque, au contraire, qu’une langue seconde se substitue parfois à la langue maternelle. […] On peut observer ce type de phénomène notamment auprès des populations immigrées ou chez les personnes ayant adopté l’usage exclusif de la langue officielle de leur lieu de vie. C’est aussi le cas pour les habitants de territoires où coexistent une langue d’État et une voire plusieurs langues territorialisées en situation de diglossie» (Bernissan 2012, 473).

Es tut daher nicht wunder, dass sprachpolitische Maßnahmen zum Erhalt von Regionalsprachen üblicherweise bei der Diglossiesituation ansetzen, um ihren Gebrauch gewissermaßen aus den Kommunikationsdomänen einer low variety herauszuheben und die Regionalsprache als weitere high variety im öffentlichen Raum zu etablieren. Hieraus erschließt sich die Bedeutung von sprachlicher Präsenz und ihr Zusammenhang mit dem Begriff sprachlicher Territorien: Eine Sprache, die als kulturelle Praxis materiell wahrnehmbar ist, wird als «im Raum präsent» und damit als «zum Gebiet gehörend» wahrgenommen. Idiome, die nur noch von einem Teil der (älteren) Bevölkerung in wenigen, vornehmlich privaten Kommunikationssituationen verwendet werden, verlieren dagegen an Territoria-

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lität, um langfristig zu Elementen der Folklore oder auch zu «Relikten der Sprachgeschichte» einer Gegend zu werden, die – man denke an das Leonesische in Kastilien-León (cf. Tacke 2012d, 371s.) – nur noch für Sprachhistoriker von Interesse sind. Da ich einen engen Zusammenhang zwischen der Territorialität, verstanden als (die gedachte) Beziehung einer Sprache mit einem Gebiet, und der Präsenz einer Sprache sehe, wird im Folgenden der Begriff der «sprachlichen Präsenz» als Korrelat sprachlicher Territorialität genauer definiert. Ich setze hier zunächst zwei Betrachtungsweisen an, eine synchrone und eine historische: Die Konzeptualisierung einer Sprache als an den Raum angebunden und als Teil der Identität eines Gebietes hängt einerseits mit ihrer sog. «historischen Präsenz» in dem betroffenen Gebiet zusammen, d.h. mit der Historizität ihres Gebietsbezuges (6.1.1.1). Zum anderen weist «sprachliche Präsenz» eine rein gegenwartsbezogene, «aktuelle» Dimension auf (6.1.1.2): Wie verbreitet ist ihr Gebrauch in einem Gebiet? Inwiefern ist der espace vécu der Bewohner vom Gebrauch der Sprache geprägt? Steht sie in Konkurrenz zu anderen Sprachen?

6.1.1.1 Die «historische Präsenz» der Sprache Das sprachliche Territorium liegt, ebenso wie die Territorialität der Sprechergemeinschaft, in der Historizität des Raumbezuges begründet, d.h. in der in die Vergangenheit zurückreichenden Präsenz der Sprecher einerseits und des Gebrauchs der Sprache in dem Gebiet andererseits. Wie bereits gezeigt (cf. 4.2.2.2), wird aus der Autochthonie von Sprechergemeinschaft und Sprache ein privilegierter Gebietsanspruch abgeleitet und legitimiert: Eine Sprache die «traditionell» oder «schon immer» an einem Ort gesprochen wurde, rechtfertigt auch besondere Maßnahmen zu ihrem Erhalt oder ihrer «Revitalisierung». Die Frage der historischen Präsenz von Sprachen wird folglich im Zusammenhang des Sprachenschutzes besonders relevant: So heißt es in dem Handbuch von Chylinski/Hofmannová (2011, 143), das Katalanische in Frankreich habe «an old traditional presence where France borders the Spanish Autonomous Community of Catalonia»; ebenso das Deutsche in Belgien, welches «has been traditionally present in the territories of the present Germanspeaking Community, of which it is the official language, and the French Community» (ib., 30). Die Frage, was eine solche historische oder traditionelle Präsenz ausmacht, wird in dem Handbuch nicht explizit behandelt, doch geht es, mit Blick auf die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, um die Kompatibilität mit dem in Artikel 1a formulierten Schutzkriterium des «traditionellen Gebrauchs» («traditionally used») in einem Gebiet – historische Präsenz wird also gleichgesetzt mit der «traditionellen» und gleichsam territorialisierten Praxis eines Idioms. Bemerkenswert ist die Defini-

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 211

tion bzw. Auslegung von «Gebrauch», die das Handbuch im Zusammenhang mit einem Sonderfall, der Kompatibilität des Lateinischen als schützenswerte Sprache des Vatikans, gibt und dabei das Kriterium der Präsenz durch die Beschränkung auf einen schriftlichen Gebrauch vielleicht allzu abstrakt interpretiert: «Latin has a traditional presence in the territory of the Vatican City State and is used by nationals who form a minority. Indeed, the word ‹used› in the definition is broader in scope than ‹spoken› which could have been a problem for Latin which is seldom used orally» (Chylinski/Hofmannová 2011, 60s.).

Während die Prägung eines Gebietes durch den Gebrauch einer Sprache wohl in erster Linie mündlich zu konzipieren wäre, offenbart der Sonderfall des Lateinischen im Vatikanstaat hier gewissermaßen die «Macht der Geschichte» und der traditionellen institutionellen Verknüpfung von römisch-katholischer Kirche und Latein, welche die Vorstellung einer wider jeden Wandel resistenten lateinischen Sprachinsel ermöglichen. Zugleich ist es die Autochthonie bzw. die traditionelle Präsenz, die das Bedürfnis weckt, die Präsenz einer als bedroht betrachteten Sprache an eben dem Ort sicher- oder wiederherzustellen, mit dem man sie in einem durch Kontinuität geprägten historischen Zusammenhang sieht.8 Das Beispiel verdeutlicht, dass zur Territorialität einer Sprache auch die Konstruktion einer die Autochthonie der Sprache betonenden Geschichte gehört. Gleichsam rechtfertigt die historische Präsenz einer Sprache in einem Gebiet in der Logik des kulturell ausgerichteten Sprachenschutzes die Ergreifung besonderer Maßnahmen, um den Gebrauch der Sprache zu fördern und eine schwindende Präsenz wiederherzustellen – die Sprache wird reterritorialisiert.

6.1.1.2 Die «aktuelle Präsenz» der Sprache Die Reterritorialisierung einer Regionalsprache, die – bezogen auf ihre Verwendung im öffentlichen Raum – in Konkurrenz zu einer National- oder Staatssprache steht, bedeutet vor allem die Stärkung ihrer Präsenz im öffentlichen Raum. Ausgehend von der Annahme, dass eine in der Öffentlichkeit verwendete, in allen Kontexten verwendbare und auch auf Beschilderungen sichtbare Sprache an Prestige gewinnt und sich positiv auf die Sprachwahl potentieller Sprecher auswirkt, gilt es, die Bedingungen der Sprachverwender zu analysieren und zu faktorisieren. Dies ist einerseits der Ansatz der Sprachplanung im Allgemeinen und andererseits von sich (teils engagiert) mit der Verwendung von Kleinspra-

|| 8 Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Frage nach dem «sprachlichen Charakter» der (ehemals) rätoromanischen Gemeindem in Graubünden (cf. 6.5.2).

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chen auseinandersetzender Bereiche der Sprachwissenschaft (Ökolinguistik, sprachliche Vitalitätsforschung). So unterhält beispielsweise der Kanton Tessin mit dem Osservatorio linguistico della Svizzera italiana ein eigenes Institut, das den Gebrauch und die Gebrauchsbedingungen des Italienischen in der Schweiz beobachtet und mit Blick auf sprachplanerische Maßnahmen versucht, Entwicklungen vorherzusagen. Im Folgenden sollen die Grundlagen der ökolinguistischen Betrachtung und Vitalitätsforschung dargestellt werden. Wie bereits angesprochen, betrifft die Frage der Präsenz einer Sprache Situationen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit, in denen mehrere Sprachen koexistieren. Unter dem Begriff der Ökologie gibt es Ansätze, solche Sprachkontaktsituationen als Wechselwirkungen zu beschreiben. Eingeführt wurde der Terminus, wie Fill (1993) erläutert, schon 1866 von dem eng mit August Schleicher befreundeten Naturforscher Ernst Haeckel, der damit innerhalb der Biologie eine Disziplin begründen wollte, die sich für die «Wechselwirkungen zwischen den Organismen und zwischen den Organismen und Umwelt» (zit. nach Fill 1993, 1) interessiert. Durch Einar Haugen wurde der Ökologiebegriff erstmals 1970 in einem Vortrag mit dem Titel An Ecology of Language auf die Betrachtung von Sprachen als «the study of interactions between any given language and its environment» (Haugen 1972, 325) übertragen und in der Folge von anderen Linguisten aufgegriffen und weiterentwickelt. Immer wieder wird dabei auf die Parallelen zur Natur hingewiesen, wobei die Schleicher’sche Vorstellung der Sprache als Organismus für die Autoren keine Rolle mehr spielt.9 So stellt Mackey (1980, 35) klar, «[l]anguage is not an organism. Nor is it a thing. […] It is rather a form of behavior – not animal, but human, traditional behavior – not racial but cultural». Dennoch sei das Aussterben von Tierarten in gewisser Weise mit dem «Tod» von Sprachen vergleichbar: «When one thinks of areas on the face of the globe where languages long dead were once spoken, it is an ecological reasoning that springs to mind. It is as if we were contemplating the fossils of pre-historic creatures rendered extinct through changes in their environment. Languages too must exist in environments and these can be friendly, hostile or indifferent to the life of each of the languages. […] Just as competition for limited bio-resources creates conflict in nature, so also with languages» (Mackey 1980, 35; meine Hervorhebung).

|| 9 Fill (1993, 2) verweist darauf, dass sich der Vergleich von Sprachen und Lebewesen metaphorisch schon lange in Ausdrücken wie Sprachtod, Überleben etc. zeigt und sich der Ökologiebegriff «nun in diesen Metaphernkreis ein[reiht]».

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 213

Die Parallelen zwischen Natur und Sprache betreffen für die Vertreter der Ökolinguistik auch den Sprachenschutz. Das geistige Klima einer moralischen Verantwortung des Menschen für seine Umwelt habe laut Denison auch zu der Tendenz geführt, «to extend the feeling for threatened biological species to a similar concern for threatened varieties and traditions of spiritual and material human culture, including linguistic varieties and traditions» (Denison 1982, 8).

Aus dem Gesagten erschließt sich bereits, dass ökolinguistische Ansätze insofern als engagiert gelten können, als es ihren Vertretern meist nicht nur um eine wertneutrale Beschreibung, sondern im Sinne einer ökologischen Bewegung um den Erhalt der Vielfalt geht. So ist die Ökolinguistik nach der Auffassung Fills (1993, 4) «jener Zweig der Sprachwissenschaft, der den Aspekt der Wechselwirkung berücksichtigt, sei es zwischen einzelnen Sprachen, zwischen Sprechern und Sprechergruppen, oder zwischen Sprache und Welt, und der im Interesse einer Vielfalt der Erscheinungen und Beziehungen für die Bewahrung des Kleinen eintritt».

Wenn im Folgenden auf die Erkenntnisse der Ökolinguistik rekurriert wird, weil diese sich für die Betrachtung sprachlicher Territorien im mehrsprachigen Kontext als Anknüpfungspunkt anbieten, muss darauf hingewiesen werden, dass dies nicht – wie auch Krefeld (2004, 21) entgegen der Auffassung Fills nicht ohne Grund zu betonen für nötig hält – «irgendeinen notwendigen Anspruch auf Bestandschutz der beschriebenen Konstellationen» impliziert. Eine engagierte Grundhaltung will ich damit also explizit nicht ausdrücken. Unter den verschiedenen Bereichen der Ökolinguistik10 geht es mir im Folgenden ausschließlich um die von Haugen begründete Ecology of Language, von Fill (1993, 15) auch als «Sprachenökologie» bezeichnet. In dieser Betrachtung der Wechselwirkung zwischen verschiedenen Sprachen, stellt Denison für Europa u.a. auch die geographische Dimension der Wechselwirkungen fest: «There is a sense in which all the languages and varieties in an area such as Europe constantly act in supplementation of each other and in competition with each other for geographical, social and functional Lebensraum» (Denison 1982, 6).

|| 10 Fill (1993, 4) führt diverse Teildisziplinen einer «Ökolinguistik» auf, deren gemeinsamer Nenner sich nur abstrakt als der «Aspekt der Wechselwirkung» formulieren lässt.

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Nachstehend soll es darum gehen, diejenigen Faktoren zu benennen, die in engem Zusammenhang mit der «territorialen Präsenz» einer Sprache in einem mehrsprachigen Kontext, d.h. in Konkurrenz zu einer oder mehreren anderen Sprachen, stehen. Mit Haarmann (1996, 847) verstehe ich darunter die «ökologischen Bedingungen der Sprachgemeinschaft», d.h. «die Umweltfaktoren, die die Lebensumstände ihrer Mitglieder beeinflussen».11 Am Beispiel des Miteinanders einer Regional- und einer Staatssprache sind ausgehend von der Sprache folgende Punkte zu berücksichtigen: – Verhältnis zu anderen Sprachen: Hier geht es zunächst um die allgemeine Zusammensetzung des Gebietes als «linguistisches Ökosystem» (Fill 1993, 27), also die Fragen, mit welchen anderen Sprachen die betrachtete Sprache koexistiert, wie das Verhältnis hinsichtlich des Prestiges der Sprachen ist und inwiefern die verschiedenen Sprachen «historisch verwurzelt» (autochthon) sind. – Status und politische Faktoren: Unter dem Status einer Sprache ist die «Offizialität» zu betrachten: Hat die Regionalsprache den Status der Amtssprache oder einer Amtssprache («Kooffizialität»)? Wird die Regionalsprache als Sprache anerkannt, politisch unterstützt und ihr Gebrauch gefördert? – Daten zur Sprechergemeinschaft: Betrachtet werden demographische und soziolinguistische Daten, um annäherungsweise ermitteln zu können, inwiefern in einem Gebiet die Produktion von Sprechakten in der Regionalsprache möglich und wahrscheinlich ist. Ich greife dazu die Definition von «Sprecher» von Bernissan (2012, 471) auf: «un locuteur est une personne présentant la capacité de produire et de recevoir un discours oral dans une langue donnée».12 In mehrsprachigen Gesellschaften, in denen die Regionalsprache mit einer Staats- oder Nationalsprache koexistiert, ist dann zu fragen, wie viele Menschen als Sprecher der Regionalsprache gelten können und wie ihr zahlenmäßiges und prozentuales Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ist. Diese «Sprecherdichte» muss ferner hinsichtlich der Parameter «ländlich»

|| 11 Dazu ist anzumerken, dass sich in Beiträgen zur Ökolinguistik und zu der mit ihr eng verwandten Vitalitätsforschung zahlreiche Vorschläge für Kataloge von Faktoren finden, ohne dass ein Konsens über ihre Anzahl oder Hierarchisierung bestünde. Vielmehr hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Situation jeder Sprache einzigartig ist und der Gebrauch einer Sprache von derart vielen je unterschiedlich zu gewichtenden Variablen abhängt, dass die Festlegung eines einheitlichen Kataloges nicht möglich ist. Gleichwohl lassen sich hinsichtlich der territorialen Präsenz einer Sprache die wichtigsten Faktoren nennen. Cf. zusammenfassend Tacke (2013b). 12 Man beachte die kluge Problematisierung der Kategorie des «Sprechers» und der Sammlung von Sprecherzahlen bei Bernissan (2012).

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 215

vs. «urban» betrachtet werden.13 Ferner sind die Altersstruktur der Sprecher sowie die Frage der Weitergabe (intergenerationell und durch Schulbildung) relevant, um Aussagen über die Entwicklung treffen zu können. In Ergänzung dieser Faktoren und daran anknüpfend ist die Präsenz einer Regionalsprache im öffentlichen Raum sinnvollerweise ausgehend von den Sprechern zu beurteilen: – Präsenz kommunikativer Partner / Sprecherdichte: Wie viele Sprecher gibt es und wie nah leben sie beieinander? Ist Kommunikation in der Regionalsprache im Alltag unmittelbar möglich? Hier geht es um den «erlebten Raum» (espace vécu) der Sprecher und ihre alltäglichen, individuell unterschiedlichen Kontakte mit anderen Menschen im öffentlichen Raum (Schule, Supermarkt, soziale Einrichtungen etc.). – Präsenz als Sichtbarkeit: Wie ist der die Sprecher umgebende Raum sprachlich gestaltet? Dies betrifft einerseits Toponyme, andererseits geht es hier um jegliche schriftliche Sprachverwendung auf öffentlichen und privaten Beschilderungen (linguistic landscape, cf. 5.2.2.3 und 5.2.3.2). – Präsenz in den öffentlichen Institutionen: Im Zusammenhang mit dem Status einer Sprache geht es darum, ob die Sprecher die Regionalsprache im Kontakt mit den Behörden verwenden können. – Präsenz in den Medien: Verwendung der Regionalsprache in den regionalen und lokalen Medien (TV, Radio, Presse). Schließlich gilt es zusätzlich zu diesen sprachexternen Faktoren auch zu berücksichtigen, ob es eine standardisierte Form der Regionalsprache gibt, die funktional in der Lage ist, über nähesprachliche Gebrauchsdomänen hinaus als Kommunikationsmittel zu dienen. In der Gesamtschau wird ersichtlich, inwiefern die Faktorisierung der ökolinguistischen Bedingungen im Rahmen der Sprachplanung, in der es darum geht, «die natürlichen Bedingungen der Sprachverwendung künstlich zu regulieren» (Haarmann 1996, 843), von Relevanz ist. Geht es um den Erhalt von Regional- oder Minderheitensprachen, so hat Sprachplanung zum Ziel, die Umkehrung von Sprachwechseltendenzen dadurch zu erzielen, dass die ökologischen Bedingungen der Sprachverwendung in einem Gebiet zugunsten der bedrohten Sprachen verändert werden. In der heutigen sozioökonomischen Realität trifft

|| 13 Ammon (2011, 52) geht mit Fishman/Hofman (1966) davon aus, dass die «density of settlement can be even more important for language maintenance than homogeneity of territory, as it enhances direct contact between minority members».

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Sprachplanung dabei immer häufiger auf die Schwierigkeit, dass die Sprecher ihr «angestammtes» Sprachgebiet verlassen und somit nicht von einer Reterritorialisierung profitieren. In der Schweiz, um nur ein besonders augenfälliges Beispiel zu nennen, werden daher teilweise bemerkenswerte Maßnahmen ergriffen, um den Gebrauch des Rätoromanischen zu sichern: Familien und Kinder aus der sog. «rätoromanischen Diaspora» sollen zumindest zeitweise in ein rätoromanisches Umfeld «eintauchen» können, wie Graubünden dem Europarat 2009 berichtete: «Deux camps d’été à l’intention des familles, des enfants et des jeunes de la diaspora se sont tenus en 2009. La Lia Rumantscha a organisé à Vignogn dans la Surselva un camp dans lequel huit familles romanches et bilingues et leurs 21 enfants se sont plongés durant une semaine dans la langue et la culture romanches. A Tschlin, en Basse-Engadine, 19 enfants et jeunes ont suivi un camp de théâtre en romanche organisé par Pro Svizra Rumantscha» (meine Hervorhebung).14

6.1.2 Präsenz und Markierung in der Sprachenschutzkonzeption der Charta Politisch wird der enge Zusammenhang, der zwischen Maßnahmen zum Spracherhalt, der Förderung der Präsenz einer Sprache und ihrer Territorialisierung besteht, nur selten offen benannt. Insbesondere die teils polemisch geführte Debatte, die in Frankreich um den Schutz von Regionalsprachen durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen geführt wurde,15 offenbart die Problematik, welche die Vorstellung einer angebundenen Sprache im Konzept eines Nationalstaats französischer Prägung haben kann (cf. 6.4) – dazu brauchen hier bloß die Worte Carcassonnes aus seinem Bericht über die Kompatibilität der Charta mit der französischen Verfassung wiederholt werden, der diese «conception» als «à la fois erronée et dangereuse» (1998, §8) bezeichnete. Die Ablehnung Frankreichs, die Charta zu ratifizieren, gründet sich in der Tatsache, dass «seul la langue française doit être autorisée sur le territoire national, car elle est à la fois le garant de l’unité nationale et la marque de la souveraineté étatique sur le territoire» (Giblin 2002, 4). Maßnahmen, die zum Erhalt einer Sprache ergriffen werden sollen, werden in einem solchen politischen Kontext zum Problem, sobald Sprachpolitik geopolitische Implikationen enthält:

|| 14 4. Staatenbericht der Schweiz, 04.12.2009, p. 70. 15 Die Literatur zu dieser Debatte ist ausufernd, für eine Übersicht cf. Anm. 64.

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 217

«En effet, la question des langues régionales et minoritaires ne se limite ni à des querelles de linguistes, ni au nombre des locuteurs, ni à la défense d’un patrimoine culturel, même si tous ces aspects ont leur importance, elle est aussi affaire de territoire: sur quel territoire sont-elles parlées, ou le plus souvent, quel est le territoire sur lequel certains partisans de leur renaissance souhaiteraient les remettre en usage et pourquoi» (Giblin 2002, 3s.)?

Es ist in Anbetracht dieser «question délicate» (ib., 3) kaum verwunderlich, dass sprachplanerische Instrumente wie die Charta des Europarats vor allem die kulturpolitische Seite des Spracherhalts in den Vordergrund rücken. Zwar ist die Konzeption des Sprachenschutzes grundsätzlich territorial ausgerichtet: Nicht das Personalitätsprinzip, sondern das Territorialitätsprinzip liegt dem Schutzmechanismus zugrunde. Doch kann die Tatsache, dass die damit einhergehende Förderung der Präsenz der Regionalsprachen im öffentlichen Raum eines Gebietes konkret ihre Territorialisierung bedeutet, nicht explizit im Text der Charta wiedergefunden werden. Im Folgenden soll daher aus dem Sprachenschutzprogramm, das die Charta in ihrem Text entwirft, herausgearbeitet werden, inwiefern die Formel «Spracherhalt = Förderung der öffentlichen Präsenz = Territorialisierung» die Konzeption der einzelnen Bestimmungen prägt. Grundlage der Analyse ist der Text der Charta, der ihr beiliegende Explanatory Report (ER) sowie der zur Interpretation der Bestimmungen äußerst hilfreiche juristische Handkommentar von Boysen et al. (2011). Lediglich am Rande gehe ich ergänzend auf die in der sprachplanerischen Praxis weniger relevante Linguistic Declaration ein. Die Charta geht, wie ich schon hinsichtlich des Autochthoniebegriffs klar herausgearbeitet habe (cf. 4.3.3), bereits im Grundsatz von der historischen Raumgebundenheit der europäischen Regionalsprachen, d.h. von ihrer genuinen Territorialität, aus, was sich auch in der Verwendung des Begriffs der territorial languages deutlich manifestiert. Insofern wird mit Bezug auf die «specific conditions and historical traditions in the different regions of the European States» (Präambel) auch wie selbstverständlich von dem «geographischen Gebiet» («the geographical area», Art. 1b) einer Regional- oder Minderheitensprache gesprochen. Dass Sprachen nach der Sprachauffassung der Charta Gebiete «haben», wird im Explanatory Report noch etwas deutlicher formuliert: «Since the terms used in the charter in this respect are inevitably fairly flexible, it is up to each state to define more precisely, in the spirit of the charter, the notion of regional or minority languages’ territory, taking into account the provisions of Article 7, paragraph 1.b, regarding protection of the territory of regional or minority languages» (ER, Abs. 34; meine Hervorhebung).

An dieser Stelle kann ausgeschlossen werden, dass territory im politischjuristischen Sinne auf ein politisch-administratives Territorium verweist; es geht hier vielmehr um das Gebiet der Regional- oder Minderheitensprache, was be-

218 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

legt, dass die Charta das Konzept sprachlicher Territorialität als Apriori ihres Programmes beinhaltet. Tatsächlich scheint der Gebrauch des Ausdrucks territory im Text der Charta teilweise unscharf, bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass hier sehr wohl zwischen politisch-administrativen und sprachlichen Territorien differenziert wird.16 Dies wird ersichtlich, wenn es um die Existenzbedingungen von Sprechergemeinschaften geht. Entsprechend der Feststellung, dass die Territorialisierung einer Sprache am deutlichsten «lesbar» ist, wenn diese Territorien deckungsgleich sind, gehen die Autoren der Charta davon aus, dass das Gegenteil, ein von administrativen Grenzen zerteiltes Sprachgebiet, negative Auswirkungen auf den Sprachenschutz haben kann und fordern daher «the respect of the geographical area of each regional or minority language in order to ensure that existing or new administrative divisions do not constitute an obstacle to the promotion of the regional or minority language […]» (Art. 7,1b).17

Aus dem Explanatory Report geht dazu noch deutlicher hervor, dass optimale Bedingungen zum Erhalt einer Sprache nur bei Kongruenz von politischadministrativem Territorium und Sprachgebiet vorliegen: «the charter considers desirable to ensure a consistency between the territory of a regional or minority language and an appropriate territorial administrative entity» (Abs. 59). Die Gründe sind nachvollziehbar: Auf regionaler Ebene, dort wo es um die stärkere Territorialisierung dieser Sprachen geht, kann im Rahmen regionaler oder lokaler Autonomie gerade in Sprachenfragen die sprachliche Territorialität auch auf politisch-juristischer Ebene ausgeübt werden. Das Gegenteil, die administrative Fragmentierung von Sprachgebieten wird in Absatz 60 verurteilt, sofern diese den Gebrauch oder das Fortbestehen («survival») der Sprache behindert. Inwiefern umfasst das Sprachenschutzprogramm nun die Förderung der Präsenz einer Sprache und ihre Territorialisierung? Der Grundgedanke aller Maßnahmen, sowohl der allgemein für alle geschützten Sprachen (Teil II, Art. 7), als auch für die Sprachen, die einem umfassenden Schutz (Teil III, Art. 8–14) unterstellt werden sollen, liegt darin, eine Regionalsprache dadurch zu erhalten, dass ihre Sprecher zu ihrem Gebrauch im privaten wie im öffentlichen Bereich

|| 16 Zur kontextuell spezifischen Verwendung des polysemen Ausdrucks territory im Text der Charta cf. Lebsanft (2012, 29–32). 17 Entsprechend beurteilen die Autoren der Linguistic Declaration, dass die Hauptfaktoren, aus denen die Bedrohung für viele Sprachen ausgeht, in dem «lack of self-government and the policy of states which impose their political and administrative structures and their language» (Preliminaries) ausgehen.

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 219

animiert werden, worunter sowohl die schriftliche als auch die mündliche Verwendung fallen (Art. 7,1d). Im Vordergrund steht dabei das Bemühen um die öffentliche Verwendung der Sprache, «in community life, that is to say within the framework of institutions, social activities and economic life» (ER, Abs. 62). Auf ein daraus resultierendes Problem sei hier nur kurz hingewiesen: So geht es zwar um den Schutz sog. «historischer Sprachen» in ihren «traditionellen» Gebieten, doch impliziert der Mechanismus, diese in für zahlreiche der zu schützenden Sprachen mitunter bislang fremden Kommunikationsbereichen zu etablieren, wohinter sich eine bestimmte Sprachauffassung verbirgt,18 deren «Natürlichkeit» hinsichtlich mehrsprachiger Situationen in Frage gestellt werden mag.19 So gehen die Autoren der Charta nicht nur unterschwellig davon aus, dass die Regional- oder Minderheitensprachen Europas historisch betrachtet verdrängt wurden und diese Sprachen heute daher «for unfavourable conditions in the past» (ER, Abs. 10) kompensiert («be compensated») werden sollten. Dabei führt diese Kompensation gerade nicht zum Erhalt von Regionalsprachen, wie sie traditionell verwendet werden, sondern sie schafft einen gänzlich neuen Zustand.20 Dem zum Trotz ist der Stellenwert, welcher der Präsenz der Sprachen im öffentlichen Bereich beigemessen wird, die zentrale Komponente des Sprachenschutzes und zeigt, wie eng Territorialisierung und Spracherhalt zusammenhängen. Der juristische Kommentar von Peter Hilpold zu diesem Artikel macht diesen Zusammenhang in besonderer Weise deutlich und verweist zugleich auf die dahinterstehenden Überlegungen: «Die Präsenz einer Sprache in der Öffentlichkeit und das Bewusstsein um ihre Existenz sind ein wesentlicher Beitrag zu ihrem Schutz. […] Art. 7 Abs. 1 d) ist insofern bedeutend im System der Charta, als er in Erinnerung ruft, dass Regional- oder Minderheitensprachen nur

|| 18 So heißt es im Explanatory Report in Bezug auf die Verwendung von Regional- oder Minderheitensprachen in den Verwaltungsbehörden: «language is a means of public communication and cannot be reduced to the sphere of private relations alone»; impliziert wird ferner, dass jegliche Sprache die Mittel besitzen müsse, «of expressing every aspect of community life» (Abs. 101). 19 Entsprechend sprießen im Gefolge der Anwendung der Charta überall in Europa neue Ausbau- und damit einhergehend auch -standardisierungsprogramme für Sprachen aus dem Boden, die über keinerlei schriftliche Traditionen verfügen. 20 Lebsanft (2012, 36s.) weist in der Folge von Gal (2010) auf diese Aporie des Sprachenschutzes explizit hin, wenn er schreibt, «sprachplanerische Maßnahmen [verändern] eine Sprache, so dass der beabsichtigte Spracherhalt auch im positiven Fall keine Wiederkehr zu einem status quo ante darstellt. […] Die Bildung von Standard- oder Amtssprachen produziert die Stigmatisierung von Regional- oder Minderheitensprachen. Doch bei der Standardisierung dieser letzteren Sprachen wiederholt sich dieser Prozess, denn die Auswahl bestimmter Sprachmittel führt zur Stigmatisierung aller anderen Formen der Sprachen, die man doch fördern möchte».

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überleben, wenn sie nicht nur privat gesprochen werden, sondern auch im öffentlichen Leben fest verankert sind. […] Die Sichtbarkeit der jeweiligen Regional- oder Minderheitensprachen im öffentlichen Leben kann überdies zur Identitätswahrung ihrer Sprecher beitragen und diese so in ihrem Selbstwertgefühl stärken» (Hilpold 2011, Art. 7, Rn. 47; meine Hervorhebungen).

Präsenz wird hier generell als «Sichtbarkeit» interpretiert; der Verweis auf die Identitätswahrung ist nicht uninteressant, begründet sich die Territorialität der jeweiligen Sprechergemeinschaft doch gerade durch die identitäre Verknüpfung von Sprache, Gemeinschaft und Gebiet. Die Rede von der Verankerung «im öffentlichen Leben» impliziert folglich auch die Verankerung im Gebiet. Wenn es der Charta um den Gebrauch einer Regionalsprache «in all the aspects of the life of its speakers» geht und daher – obwohl ausdrücklich Sprachen und nicht Sprecher geschützt werden – eingeräumt wird, dass die Charta «will have an obvious effect on the situation of the communities concerned and their individual members» (ER, Abs. 11), dann steht dahinter ein eindeutig ökolinguistischer Ansatz, der die Bedingungen der Sprachen als die Bedingungen des Sprechers und des Sprechens auffasst. Demgemäß sind die Bestimmungen zum Bildungswesen, zum Gebrauch der Sprache in der Justiz, in der Verwaltung, den Medien, der Kulturförderung sowie im Wirtschafts- und Sozialleben sämtlich auch darauf ausgerichtet, die Präsenz der zu schützenden Sprache im öffentlichen Bereich zu fördern. Während der Bildungsbereich zudem vor allem die Weitergabe der Sprache auch außerhalb der Familie sichern soll, sind die übrigen Bereiche mit Blick auf den Sprecher und dessen Lebenswelt bzw. Erfahrungsraum von Bedeutung. So ist die Möglichkeit, die Sprache im Kontakt mit den Behörden zu verwenden, für die Sprecher wichtig, «to exercise their rights as citizens and fulfil their civic duties» (ER, Abs. 100). Konkret auf Wahrnehmung und Identität wirkt sich in der Interpretation Hilpolds auch die Präsenz der Regionalsprache in den Medien aus: «Medien haben bedeutenden Einfluss auf die Wahrnehmung einer Minderheit durch die Mehrheitsbevölkerung. Indem sie Werte und Leitbilder vermitteln, tragen sie dazu bei, das Selbstwertgefühl nationaler Minderheiten und der Sprecher von Regionalsprachen im Hinblick auf ihren Sprachgebrauch zu stärken» (Hilpold 2011, Art. 7, Rn. 50).

Sprachliche Präsenz wird von der Charta jedoch nicht ausschließlich als Sprachgebrauch im engeren Sinne verstanden. Wie sehr der auf «territoriale Sprachen» ausgerichtete Schutzmechanismus tatsächlich auf die Territorialisierung der Sprache abzielt, wird besonders hinsichtlich der Bestimmungen zu Ortsnamen und Beschilderungen evident. In Teil II der Charta nur implizit enthalten, bezieht sich Teil III unter Artikel 10,2g explizit auf die Etablierung oder Wiederherstellung

6.1 Die Territorialisierung sprachlicher Praktiken | 221

regionalsprachlicher Toponymie: «the use or adoption […] of traditional and correct forms of place-names in regional or minority languages» (meine Hervorhebung). Hier zeigt sich erneut die Vorstellung von der autochthonen Sprache: Die Historizität des Gebietsbezuges bedeutet, dass die tradierten Ortsbezeichnungen zu bevorzugen sind. Noch expliziter ist dieser Gedankengang in Artikel 32 der Linguistic Declaration formuliert: «1. 2.

All language communities have the right to use place names in the language specific to the territory, both orally and in writing, in the private, public and official spheres. All language communities have the right to establish, preserve and revise autochthonous place names. Such place names cannot be arbitrarily abolished, distorted or adapted, nor can they be replaced if changes in the political situation, or changes of any other type, occur» (meine Hervorhebungen).

Der Eifer, mit dem vielerorts versucht wird, die «korrekten» Formen der Ortsnamen in den «gebietseigenen» Sprachen zu ermitteln,21 gerade weil die Sprecher diese Namen oft selbst nicht mehr kennen, zeigt, dass es hier tatsächlich darum geht, den Bezug zwischen Sprache und Gebiet wiederherzustellen und stärker hervorzuheben. Die Funktionen, die einer regionalsprachlichen Toponymie dabei im Rahmen des Spracherhalts zukommen, werden besonders scharfsinnig im juristischen Kommentar zu Artikel 10,2g der Charta von Jutta Engbers aufgezeigt: «Für die Praxis ist die Regelung des Art. 10 Abs. 2 g) von erheblicher Bedeutung, weil die staatliche Akzeptanz der Regional- oder Minderheitensprache darin besonders augenfällig zum Ausdruck kommt, und zwar insbes. gegenüber Bürgern, die dieser Sprache nicht mächtig sind. Die eindeutige Kennzeichnung des geografischen Verbreitungsgebiets einer Regional- oder Minderheitensprache wirkt zudem für die Sprecher identitätsstiftend» (Engbers 2011, Art. 10, Rn. 55; meine Hervorhebung).

Die Regelung zur Toponymie zielt also auch in Engbers Interpretation darauf ab, das Sprachgebiet als solches sichtbar («augenfällig») zu machen. Engbers erkennt überdies die ethologische Funktion (cf. 5.2.2.3), geht es bei der Markierung doch zum einen um die Abgrenzung nach «außen» bzw. gegenüber anderen (Alterität, hier: «Bürgern, die dieser Sprache nicht mächtig sind»), andererseits – nach innen gerichtet – um die Stärkung der Gruppensolidarität (Identität). Die Analyse zeigt: Spracherhalt bedeutet zugleich auch Territorialisierung. Im Text der Charta lässt sich belegen, dass sich hinter den Bestimmungen zur Förderung von Regional- oder Minderheitensprachen eine Sprachauffassung verbirgt, in der sprachliche Territorialität als Grundprinzip angelegt ist. Das Stre-

|| 21 Cf. Engbers (2011, Art. 10, Rn. 58).

222 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

ben nach einer stärkeren öffentlichen Präsenz der Sprachen durch die Markierung und Abgrenzung des Sprachgebietes zeigt, dass der Schutz des europäischen Kulturgutes Sprache auch bedeutet, dass die zuletzt weitgehend einsprachige, vor allem durch die Nationalsprachen geprägte Landschaft des Kontinents durch ein Europa der Regionen und eine dementsprechende sprachliche Topographie abgelöst werden soll.

6.2 Sprachgebietskonzepte und sprachliche Territorialität: Fallstudien6.2 Fallstudien

In den Ländern der Romania leben diverse Sprechergemeinschaften und Sprechergruppen ganz unterschiedlicher Größe unter dem Dach einiger weniger Nationalstaaten mit ihren jeweiligen National- bzw. Staatssprachen. Die Romania bietet damit reichhaltiges Anschauungsmaterial für das Mit- und Nebeneinander von Sprachen und Sprechern auf jeweils begrenztem Raum. Mit der nicht nur kulturellen Besinnung auf die regionale Ebene, befördert auch durch die Politik der Dezentralisierung und Regionalisierung der europäischen Institutionen, sind unterhalb der Ebene der nationalen Kommunikationsmittel zunehmend regionale Sprachformen in den Fokus gerückt. Das Interesse am «Regionalsprachlichen» geht dabei einerseits von den Sprechern selbst aus, die damit ihre Identitäten in den Vordergrund rücken, andererseits vor allem vom Europarat, dem es um den Erhalt eines europäischen Kulturgutes geht. Eine Folge dieser Besinnung auf das Regionalsprachliche sind dabei freilich Definitionsprobleme: Wo zuvor Dialekte der Nationalsprache gesprochen wurden, geht es nun um Regionalsprachen. Wo sich aus Dialekten Regionalsprachen emanzipieren, da geht es auch um den Gebrauch in Kommunikationsdomänen, die bislang der Nationalsprache vorbehalten waren. Gleichzeitig erhalten Regionalsprachen – insbesondere im Rahmen spezifischer Schutz- und Förderprogramme – einen höheren Grad an Explizitheit, der nicht nur ihre Standardisierung durch eine Kodifizierung der als besonders geeignet betrachteten Formen umfasst, sondern auch die geographische Abgrenzung gegenüber der National- sowie weiteren Sprachen betrifft. Die «ursprüngliche», von Kommissionen zunächst zu ermittelnde Toponymie wird restituiert, Straßenschilder werden übersetzt und in den Schulen der als «(traditionelles) Sprachgebiet» identifizierten Gegend wird die Regionalsprache vermittelt, während die lokalen und regionalen Verwaltungen angehalten sind, mit den Bürgern auch in der «Gebietssprache» zu kommunizieren. Anhand der geschilderten Situation lässt sich erkennen, inwiefern die territoriale Räumlichkeit von Sprachen in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend an Relevanz gewonnen hat. Die Frage, was ein Sprachgebiet ist und

6.2 Fallstudien | 223

wie es zu definieren ist, betrifft dabei zahlreiche Sprachen in unterschiedlichen geographischen und staatlichen Kontexten. Zudem gilt es zu ermitteln, wo eine Regionalsprache zu schützen und zu fördern ist. Das Konzept «Sprachgebiet» ist dabei definitorisch keinesfalls fixiert: Während der Europarat als Grundkriterium beispielsweise die Historizität des Sprachgebrauchs in einem Gebiet zum entscheidenden Maß apostrophiert, unterliegt die Abgrenzung der Gebiete in vielen Staaten sehr viel pragmatischeren Kriterien, vornehmlich der auf die Gegenwart bezogenen prozentualen Stärke und geographischen Distribution der jeweiligen Sprechergruppen – die Frage, wo eine Sprache historisch präsent war, rückt gegenüber ihrem faktischen Sprachgebrauch im Hier und Jetzt mitunter in den Hintergrund. Die jeweilige Konfiguration der zur Definition von Sprachgebieten herangezogenen Kriterien differiert dabei von Staat zu Staat und mithin von Region zu Region; spielt die Autochthonie stets eine Rolle, kann die Präsenz der Sprache, gemessen an der «Sprecherdichte» in einem Gebiet, an Prozentwerten festgemacht werden, die sich auf den faktischen Sprachgebrauch beziehen oder auf eine frühere «sprachliche Zusammensetzung». Als Sprachgebiet kann ein Gebiet gewertet werden, in dem 20% der Bevölkerung die betroffene Sprache sprechen, es kann jedoch auch eine absolute Mehrheit, d.h. ein Dominanzverhältnis vorausgesetzt werden. Eine weitere Variable bei der Konstitution von Sprachgebieten, die sich hieraus ableitet, liegt im Verhältnis von faktischem Sprachgebrauch und politisch-juristischer Territorialität bzw. der Frage, inwiefern sich die rechtlich etablierte Geltung einer Sprache in einem bestimmten Gebiet an der Realität des Sprachgebrauchs orientiert, womöglich sogar an sie gekoppelt ist. Neben der Frage, in welcher Weise Sprachgebiete in den verschiedenen Teilen der Romania konstituiert werden, bieten die romanischen Sprachen und Sprachgebiete überdies umfangreiches Anschauungsmaterial, um – ausgehend von dem in Kapitel 5 modellierten theoretischen Gerüst – an konkreten Fallbeispielen zu demonstrieren, wie sich das sprachliche Territorialverhalten einer Gemeinschaft sowohl institutionell, als auch gruppenspezifisch und im Handeln Einzelner manifestiert. Dies betrifft einerseits generelle Strategien der Abgrenzung und Markierung des Territoriums, offenbart sich andererseits aber gerade auch in Sprachkontaktsituationen, die sich durch den Konflikt zweier Sprechergemeinschaften (bzw. ihrer Vertreter) und die Versuche, den jeweiligen Gebietsanspruch durchzusetzen, kennzeichnen. In den nächsten Abschnitten sollen die beiden genannten Fragestellungen die Konstitution von Sprachgebieten und die Manifestation sprachlicher Territorialität betreffend anhand von Fallstudien genauer untersucht werden. Das Korpus umfasst geographisch betrachtet die Staaten Belgien (6.3), Frankreich (6.4),

224 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

Schweiz (6.5) und Spanien (6.6). Während die grundsätzliche staatsrechtliche Architektur des Verhältnisses von Staats- und Regionalsprachen den äußeren Rahmen einer jeden Beschreibung bilden muss, sollen schwerpunktmäßig einzelne Sprachen, ihre geographische und gesellschaftliche Situation sowie auffällige Konfliktszenarien fokussiert werden, in denen sich sprachterritoriales Verhalten besonders deutlich äußert. Historische Erörterungen fließen nur insofern ein, als sie für das Verständnis der heutigen Situation notwendig sind. Die ausgewählten Staaten bieten hinsichtlich ihrer Zusammensetzungen und ihres jeweiligen nationalen Selbstverständnisses vier grundsätzlich unterschiedliche Rahmenbedingungen: Während sich Frankreich als État-nation par excellence über eine einzige Nationalsprache definiert und andere Sprachen allenfalls als wenig konkretisiertes Kulturgut duldet, besteht Belgien schon verfassungsrechtlich aus Sprechergemeinschaften und Sprachgebieten, die sich als einsprachiges Nebeneinander organisieren. Die Schweiz schreibt ihre Gliederung in Sprachgebiete ebenfalls in ihrer Verfassung fest, wobei die Mehrsprachigkeit als Viersprachigkeit zu einer wesentlichen Konstituente des gesamtschweizerischen Selbstverständnisses erklärt wird und die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften im Vordergrund stehen. Ein ganz eigener Fall ist Spanien: Der an sich einsprachig funktionierende Staat sieht sich seit der Demokratisierung gezwungen, den sog. «historischen Gemeinschaften» (comunidades históricas) durch immer weitreichendere Zugeständnisse entgegenzukommen; die nación de nacionalidades schreibt daher schon in ihrer Verfassung die Existenz «weiterer spanischer Sprachen» sowie «verschiedener sprachlicher Eigenheiten» fest und verweist auf die Regionen. Dort artikuliert sich die Territorialität der Regionalsprachen zunehmend deutlich im Konflikt mit der Staatssprache Kastilisch. Als Quellen dient der Untersuchung ein heterogenes Textkorpus bestehend aus: – nationalen Gesetzestexten, die von den jeweiligen Verfassungen, regionalen Statuten, über Gesetze bis hin zu Verwaltungsvorschriften reichen; – offiziellen Dossiers und Studien zur Situation einzelner Sprachen; – den Berichtszyklen zur Implementierung der Charta sowie die unterschiedlich gearteten Dokumente, die mit der Charta, ihrer Ratifizierung und Implementierung in einem näheren Zusammenhang stehen (betriff v.a. die Schweiz und Spanien); – der Berichterstattung der jeweiligen nationalen und regionalen Presse sowie sämtlichen verfügbaren Quellen, in denen sich sprachliche Territorialität manifestiert (Leserbriefe in Printmedien, «User-»Kommentare zu online publizierten Artikeln, Beiträge zu Diskussionsforen etc.).

6.3 Belgien | 225

6.3 Belgien: Politisch-juristische Territorialität und sprachliche Realität im Widerstreit6.3 Belgien

Aus den Kommunalwahlen vom 8. Oktober 2006 gingen François van Hoobrouck d’Aspres in Wezembeek-Oppen, Damien Thiery in Linkebeek und Arnold d’Oreye de Lantremange in Kraainem/Crainhem – alle drei als Vertreter frankophoner Parteien – als Sieger hervor und hätten daraufhin, wie es im belgischen Gesetz vorgesehen ist, von der zuständigen Region zu Bürgermeistern (bourgmestres/ burgemeesters) ernannt werden müssen. Hätten, denn Marino Keulen, damaliger Innenminister der Region Flandern, zu welcher die drei Kommunen gehören, weigerte sich, die Kandidaten zu ernennen und begründete die Ablehnung vor allem mit Regelwidrigkeiten im Wahlverfahren. Konkret ging es darum, dass die drei an Brüssel grenzenden Gemeinden des Vlaamse Rand im Vorfeld der Wahlen nicht die gesamte Bevölkerung auf Niederländisch, der Amtssprache der Region, über die anstehende Wahl benachrichtigt, sondern den die Mehrheit bildenden Teil der Bürger eine französischsprachige Wahlbenachrichtigung geschickt hatten. Damit verstießen die Kommunen gegen geltendes Recht, denn obwohl sie aufgrund des jeweils beträchtlichen Anteils frankophoner Bürger über verfassungsrechtlich verbriefte sprachliche Sonderrechte (facilités linguistiques/taalfaciliteiten) verfügen, bestimmt ein spezielles Rundschreiben von 1997,22 dass die rechtlichen Möglichkeiten, innerhalb der Gemeinden mit sprachlichen Fazilitäten das Französische zu gebrauchen, streng auszulegen sind: «Inwoners uit rand- en taalgrensgemeenten kunnen vragen dat hun contacten met hun gemeentebestuur in het Frans verlopen. De faciliteiten die de S.W.T. [= Samengeordende Wetten Taalgebruik] verleent, moeten echter restrictief worden toegepast, hetgeen impliceert dat de particulier telkens uitdrukkelijk moet verzoeken om het Frans te gebruiken. Uiteindelijk werden de faciliteiten ingesteld om de integratie van Franstaligen in het Nederlandse taalgebied te bevorderen».

Wie in dem Rundschreiben immer wieder betont wird, dienen die «sprachlichen Erleichterungen» gemäß der Auslegung der Flämischen Gemeinschaft dazu, den Frankophonen die Integration zu erleichtern, während sie sich jedoch sprachlich ihrer Umgebung anpassen sollen («om de integratie van Franstaligen in het Nederlandse taalgebied te bevorderen»). Aus diesem Grunde sehe eine restriktive Anwendung der Gesetze vor, dass die Behörden sich nur auf den ausdrücklichen –

|| 22 Omzendbrief BA 97/22 van 16 december 1997 betreffende het taalgebruik in gemeentebesturen van het Nederlandse taalgebied, 16.12.1997, [letzter Zugriff: 15.05.2013].

226 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

und in jeder Angelegenheit neu zu formulierenden – Wunsch eines frankophonen Bürgers an diesen auf Französisch wenden dürfen. Der Verstoß gegen diese Regel sowie weitere ähnlich geartete Verstöße gegen die geltende Sprachgesetzgebung begründen die Sanktionierung der Kandidaten in Form der Nicht-Ernennung. Die nicht ernannten bourgmestres, welche das System der «sprachlichen Erleichterungen» ihrerseits mit den Worten van Hoobrouck d’Aspres nicht als Übergangslösung auf dem Weg zur sprachlichen Integration der Frankophonen, sondern als «pourtant constitutionnel et définitif»23 betrachten, haben sich daraufhin an den Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates, dessen Charta der lokalen Selbstverwaltung Belgien 2004 ratifiziert hatte, gewendet und führten an, die Sanktionen der Flämischen Gemeinschaft seien unangemessen.24 Der Kongress des Europarates gab ihnen damit recht; ein Bericht zweier Kongressmitglieder über den Sachverhalt25 mündete daraufhin in die an Belgien gerichtete Recommendation 258 (2008)26 sowie die Resolution 276 (2008)27, mit welcher ein «general monitoring of local democracy in Belgium» (Punkt 10) beschlossen wurde. Aus einer externen Perspektive mutet der Streit um die Ernennung der Bürgermeister bizarr an, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Versendung französischsprachiger Wahlbenachrichtigungen an frankophone Bürger zu einem Konflikt mit den übergeordneten Behörden Flanderns geführt hat, der schließlich sogar die grundlegende Respektierung lokaler Demokratie in Belgien in Frage stellt. Den Hintergrund betreffend stellen sich weitere Fragen: Wie kann es etwa sein, dass – den Wahlergebnissen zufolge – Gemeinden mit überwiegender frankophoner Mehrheit Teil eines juristisch sanktionierten und als einsprachig definierten niederländischen Sprachgebietes sind? Nach den Reaktionen der Bürger auf seine Nicht-Ernennung gefragt, kann van Hookbrouck d’Aspres von der Unterstützung und Demonstrationen seitens der frankophonen Wähler berichten. Anders verhalte es sich mit der übrigen Be|| 23 Les trois bourgmestres belges non-nommés: «Le Congrès du Conseil de l’Europe ne doit pas abandonner ce dossier», [letzter Zugriff: 15.05.2013]. 24 The Congress examines the situation of local democracy in Belgium, [letzter Zugriff: 15.05.2013]. 25 Council of Europe/Congress of Local and Regional Authorities/Guégan, Michel/Milovanovic, Dobrica, Local democracy in Belgium: non-appointment by the Flemish authorities of three mayors. Explanatory memorandum, CPL(15)8REP, 31.10.2008. 26 Council of Europe/Congress of Local and Regional Authorities, Recommendation 258 (2008) Local democracy in Belgium: non-appointment by the Flemish authorities of three mayors, 02.12.2008. 27 Council of Europe/Congress of Local and Regional Authorities, Resolution 276 (2008) Local democracy in Belgium: non-appointment by the Flemish authorities of three mayors, 03.12.2008.

6.3 Belgien | 227

völkerung: «Les néerlandophones, eux, sont par contre nombreux à soutenir leur gouvernement régional».28 Bemerkenswert ist, dass die kartographisch klar erkennbare Teilung Belgiens sich selbst innerhalb ein und derselben Gemeinde so deutlich manifestiert. Ganz explizit wird hier die Trennung zwischen nous, les francophones als Identitätsgemeinschaft und der Alterität, eux, les néerlandophones. Belgien setzt sich, anders als andere Föderalstaaten, deren Gliederungen diversen historisch begründeten Konfigurationen entsprechen, aus Sprechergemeinschaften zusammen, die sich territorial voneinander abgrenzen. Während das politisch-juristische Territorialitätsprinzip im Ursprung Sprachkonflikte lösen sollte und soll, wird am Beispiel dieses Streits die Virulenz des Streits zweier Sprechergemeinschaften deutlich, die jeweils um die Durchsetzung ihrer Territorialität und ihrer Rechte bemüht sind. Die Verknüpfung von Sprache und geographischem Raum und die Ausübung von Territorialität sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene der Gemeinschaften als auch auf der politisch-juristischen Ebene spielen insofern in Belgien eine besonders große Rolle. Durch die juristische Verankerung sowie die aus der Auslegung der Gesetzgebung und den häufigen Widersprüchen zwischen juristischen Idealen und sprachlicher Realität resultierenden stetigen Grenzkonflikte sind hier expliziter als in anderen Teilen der Romania beobachtbar. Wenngleich Belgien bereits Gegenstand zahlreicher sprachpolitischer und soziolinguistischer Analysen war,29 bietet das Land also ein Szenario, das besondere Beachtung unter den in Kapitel 5 definierten Gesichtspunkten verdient. Dazu gilt es, im Folgenden zunächst kurz auf die historische Entwicklung des Mit- und Nebeneinanders des Niederländischen bzw. der flämischen Dialekte und des Französischen bzw. der wallonischen Dialekte auf gesellschaftlicher und institutioneller Ebene einzugehen (6.3.1). Daraufhin soll in Bezug auf die gegenwärtige Situation und Rechtslage und am Beispiel ganz konkreter Fälle der Streit zwischen Flamen und Wallonen als Konflikt der Territorialitäten zweier Sprechergemeinschaften dargestellt werden, der sich in besonderer Weise in der Brüsseler Peripherie manifestiert (6.3.2).

6.3.1 Die Fixierung der Sprachgebiete Als der belgische Staat 1830 unabhängig wurde, umfasste das Land grob betrachtet bereits wie heute zwei durch die romanisch-germanische Sprachgrenze

|| 28 Cf. Anm. 23. 29 Cf. die bibliographischen Hinweise in Tacke (2012a).

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gegliederte Sprachgebiete. Während die Bevölkerung in der nördlichen, an die Niederlande grenzenden Hälfte des Staatsgebiets flämische Dialekte sprach, war der südliche Teil Belgiens durch den Gebrauch galloromanischer Dialekte geprägt. Die beiden Sprechergemeinschaften können in ihren Gebieten jeweils als autochthon bezeichnet werden. Die sprachliche Situation hat sich bis heute kaum verändert, wenn man den Gegensatz Romanisch-Germanisch betrachtet und davon absieht, dass die flämischen respektive primärdialektalen französischen Dialekte heute in den ruralen Raum zurückgedrängt und weitgehend durch das Französische im Süden und das Niederländische im Norden als Standardsprachen auch in der nähesprachlichen Kommunikation verdrängt worden sind. Veränderungen der geographischen Gebiete lassen sich allenfalls unmittelbar an der Sprachgrenze verzeichnen und sind vor allem durch Binnenmigrationen zu erklären. Eine Ausnahme bildet dabei freilich die Hauptstadt Brüssel und die sie umgebende Region, da hier Niederländisch- und Französischsprecher zusammenkommen. Die jeweilige sprachliche Prägung der Gebiete spiegelt sich seit jeher im faktischen Sprachgebrauch wider, da das Gros der Bevölkerungen jeweils einsprachig war und ist, sowie topographisch in den Toponymen. Da die Sprachgrenze zwei typologisch deutlich verschiedene Sprachen bzw. deren Dialekte voneinander trennt, ist die Grenze konkret erkenn- und der Übergang von Beginn an als explizite Grenzerfahrung wahrnehmbar. Die Unabhängigkeit Belgiens von den bis dato «Vereinigten» Niederlanden und die Staatsgründung hatte auf diese sprachliche Situation insofern Einfluss, als die belgischen Eliten das Französische als alleinige Amtssprache ganz Belgiens durchsetzten. Dies hatte zur Folge, dass das intellektuelle Leben, sozialer Aufstieg und Positionen im Staatsapparat französisch geprägt waren und das Französische dadurch zur Prestigesprache des Landes wurde. Sowohl für Sprecher wallonischer Dialekte als auch für solche, die flämische Dialekte sprachen, wurde das Französische somit unumgänglich, wollte man gesellschaftlich aufsteigen, wohingegen die flämischen Dialekte und das Niederländische prestigelos blieben. Gewissermaßen aus der Mitte der niederländischen Sprechergemeinschaft heraus hat sich daraufhin noch am Ende des 19. Jahrhunderts die Vlaamse Beweging entwickelt, die sich für die politische Gleichstellung des Niederländischen einsetzte: Durch die dominante Stellung des Französischen wurde die Stellung der eigenen Sprache auch in den eigenen Gebieten als bedroht betrachtet. Interessanterweise war der Ansatz der Flämischen Bewegung dabei nicht, eine exklusive Territorialität für das Niederländische zu schaffen, sondern eine staatsweite Gleichstellung beider Sprachen, sodass diese gleichermaßen von den staatlichen Behörden benutzt würden. Tatsächlich wurde die Gleichstellung seit 1898 auf gesetzlicher Ebene schrittweise eingeführt, während die dominante Stellung des Französischen de facto jedoch

6.3 Belgien | 229

erhalten blieb und sich die Diglossie zwischen flämischen Dialekten im Norden und wallonischen Dialekten im Süden in der Funktion von low varieties sowie der französischen Standardsprache als high variety in Nord und Süd weiter konsolidierte. Erst mit der Einführung der Schulpflicht ab 1918 konnte sich das Niederländische auch im Norden als Distanzsprache festigen. Eine institutionelle, staatsweite Zweisprachigkeit ließ sich dennoch nicht durchsetzen und scheiterte am Widerstand der Wallonen (cf. Sonntag 1993). Eine institutionelle Zweisprachigkeit hätte bedeutet, die belgische Sprachenfrage nach dem Personalitätsprinzip zu lösen. Die sprachlichen Rechte eines jeden Bürgers und der Kontakt mit den Behörden wäre dann unabhängig von der jeweiligen «autochthonen Gebietssprache» in der der Muttersprache des Bürgers entsprechenden Standardsprache, also auf Französisch oder Niederländisch, möglich gewesen. Stattdessen wurde das Problem territorial auf der Ebene der Gemeinden gelöst. Die heute gesetzlich fixierten Sprachgebiete haben ihre Ursprünge in der Loi du 31 juillet 1921 sur l’emploi des langues en matière administrative, der zufolge die lokalen Behörden der flämischen Provinzen das Flämische, die der wallonischen Provinzen das Französische verwenden mussten und die Gemeinden der «agglomération Bruxelloise» beide Sprachen im Kontakt mit den Bürgern verwenden konnten. Diese erste Regelung erlaubte es den Grenzgemeinden noch, je nach den Verhältnissen der Sprechergruppen «sprachliche Erleichterungen» zu gewähren, wenn mehr als 20% der Gemeinde anderssprachig war (Art. 4) – ein Fall, der gerade den Raum um Brüssel, das zunehmend frankophon wurde, besonders betraf. Verfestigt wurde die territoriale Lösung des Konflikts mit der Neufassung des Gesetzes vom 28. Juni 193230; von nun an sollten «sprachliche Erleichterungen» erst ab einer 30% der Gemeinde bildenden Sprechergruppe möglich sein (Art. 6,4). Damit konsolidierte sich in Belgien die Teilung des Staates in zwei politisch-juristisch betrachtet einsprachige Gebiete. Das dahinterstehende Prinzip ist klar: Die jeweilige «gebietseigene» Sprache sollte auch Sprache der dortigen Verwaltung sein; «autochthone» Sprache und Amtssprache sollten identisch sein, um sicherzustellen, dass das Verhältnis von sprachlicher Praxis und der traditionellen «gebietseigenen» Sprache konsolidiert wird. In Anbetracht der Tatsache, dass es die Flamen waren (und sind), die eine Französierung Brüssels sowie «ihrer» Gebiete um Brüssel befürchteten, kann die hier etablierte Territorialität als Schaffung sprachlicher Schutzzonen interpretiert werden. Das Gesetz von 1932 sah für die Brüsseler Agglomeration in Artikel 3,1 indessen noch eine flexible Sprachgebietsfestlegung vor, die nicht nach dem Autoch-

|| 30 Loi du 28 juin 1932 sur l’emploi des langues en matière administrative.

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thonieprinzip, sondern nach der sprachlichen Praxis bzw. dem Mehrheitsprinzip (cf. Abb. 15) zu erfolgen hatte: «[…] les communes dont la majorité des habitants parlent le plus fréquemment, d’après le dernier recensement décennal, une langue différente de celle du groupe linguistique auquel lʼarticle 1er les rattache, adopteront pour leurs services intérieurs et pour la correspondance la langue de cette majorité».

Während die generelle Verknüpfung von Sprache und geographischen Raum in Belgien also über die gesetzliche Zuordnung von Gemeinden zu einer Sprache erfolgt, gilt hier die Materialität des ortsspezifischen Sprachgebrauchs als Grundlage («les communes dont la majorité des habitants parlent le plus fréquemment […] une langue différente de celle du groupe linguistique»). Schließlich wurde die Sprachgrenze mit der Loi du 8 novembre 196231 endgültig fixiert, indem einerseits die Artikel 3 und 6,4 außer Kraft gesetzt wurden und – mit den Folgegesetzen bis 1970 – andererseits eine explizite Einteilung Belgiens in «quatre régions linguistiques: la région de langue néerlandaise, la région de langue française, la région de langue allemande et Bruxelles Capitale»32 vorgenommen wurde. Endgültig festgelegt wurden dabei auch die Gemeinden der Brüsseler Peripherie, die, «considérées comme des communes à régime spécial» (Art. 7), von Amtswegen «sprachliche Erleichterungen» gewähren dürfen, obschon sie im niederländischen Sprachgebiet liegen. Das Kriterium, nach welchem die Gemeinden ein régime spécial in diesem Gesetz und in den Folgegesetzen zum Unterrichtswesen und zur Justiz von 1963 erhielten, war noch die faktische sprachliche Zusammensetzung der Gemeindebevölkerungen. Die mit der Verfassungsänderung von 1994 durchgeführte Organisation Belgiens als Föderalstaat basiert auf eben dieser Gliederung in Sprachgebiete. Was ist nun ein Sprachgebiet «belgischer Konstruktion»? Zunächst gründet es auf den traditionellen Verbreitungsgebieten der flämischen und wallonischen Dialekte, also auf dem Maß der Autochthonie der jeweiligen Sprechergemeinschaften. Bei der Fixierung der Zugehörigkeit der einzelnen lokalen Gebietskörperschaften wurde schließlich auch die sprachliche Zusammensetzung der Gemeinden berücksichtigt, d.h. der real gegebene Sprachgebrauch der dort lebenden Menschen ging mit in die geographische Definition der Sprachgebiete ein.

|| 31 Loi du 8 novembre 1962 modifiant les limites de provinces, arrondissements et communes et modifiant la loi du 28 juin 1932 sur l’emploi des langues en matière administrative et la loi du 14 juillet 1932 concernant le régime linguistique de l’enseignement primaire et de l’enseignement moyen, Moniteur Belge/Belgisch Staatsblad, 22.11.1962. 32 Lois sur l’emploi des langues en matière administrative, coordonnées le 18 juillet 1966, Art. 2.

6.3 Belgien | 231

Im Wesentlichen hat sich die belgische Sprachgebietskonstruktion wohl auf der Grundlage flämischer Forderungen herausgebildet, ging und geht es doch vor allem darum, durch das Territorialitätsprinzip das Gebiet des Niederländischen zu schützen, also gewissermaßen einen sprachlichen «Bestandsschutz» durchzusetzen. Die politisch-juristische Territorialität stellt sich folglich in den Dienst der Territorialität der Sprechergemeinschaft, die besonders in den «gefährdeten» Gebieten um Brüssel ihren Anspruch auf das Gebiet zu verteidigen sucht. Aus diesem Grund wurde durchgesetzt, dass die communes périphériques Brüssels als Teil des niederländischsprachigen Gebietes und damit als einsprachig definiert werden; es ist ein Kompromiss, dass die frankophonen Minderheiten «sprachliche Erleichterungen» erhalten, diese sollen jedoch nur ihrer Integration, d.h. Anpassung an die niederländischsprachige Umgebung, dienen – so die Interpretation der Flamen. Die sprachliche Realität, in der von Zweisprachigkeit, mithin sogar von frankophonen Mehr- und niederländischsprachigen Minderheiten auszugehen ist, wird heute systematisch ausgeblendet. Die letzten statistischen Daten wurden 1947 erhoben und bei der Konsolidierung der Sprachgebiete 1962/63 maßgebend berücksichtigt. Da diese jedoch belegten, dass sich die Verhältnisse weiter zugunsten des Französischen veränderten, d.h. weitere Gemeinden zu den communes périphériques zu zählen waren und auch der Anteil der Frankophonen in den bisherigen Grenzgemeinden weiter zugenommen hatte, verhindert die flämische Gemeinschaft seither die Erhebung neuerer Daten.33 Die belgischen Sprachgebiete, per Definition einsprachig, sind mitunter also entkoppelt von der Materialität sprachlicher Raumgebundenheit und konservieren einen idealtypischen, an der Autochthonie bzw. der historischen Präsenz der Sprachen orientierteren Zustand. Der Konflikt zwischen Frankophonen und Flamen ist insofern heute auch ein Konflikt zwischen politisch-juristischer Territorialität und sprachlicher Realität. Dieser fixierte Zustand – es wird auch von «betonierter» Territorialität gesprochen – manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen. Einerseits lässt sich die Gliederung anhand der traditionellen Toponymie nachvollziehen, andererseits ist die Einsprachigkeit auch im linguistic landscape zu sehen, welches nur in den Gebieten mit «sprachlichen Erleichterungen», also in den Übergangszonen zweisprachig ist und in der bottom up-Perspektive durchaus auch die eigentlichen Verhältnisse anzeigt. Diese strikte Anwendung des Territorialitätsprinzips gewährleistet, dass die jeweiligen Sprechergruppen in «ihren» Gebieten die opti-

|| 33 Cf. dazu Francard (2009, 114, Anm. 3). Zur Problematik von Sprecherstatistiken und -schätzungen in Belgien unter dem Einfluss von Politik und Ideologie cf. Levy (1978, 10–16), Nelde (1981), Laponce (1984, 88), Treude (1996, 36s.) sowie Nelde/Darquennes (2001, 95s.).

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malen ökolinguistischen Bedingungen vorfinden, ihr Leben ausschließlich in der eigenen Muttersprache zu führen. Diese Trennung in einsprachige Gebiete ist in der Öffentlichkeit präsent und jedem Belgier bewusst; einprägsam wird sie auch durch die omnipräsenten kartographischen Darstellungen (cf. Abb. 29):

Abb. 29: Die sprachliche Gliederung Belgiens34

Von besonderem Interesse ist folglich die Frage, wie sich die Territorialität der beiden großen Sprechergemeinschaften in den Fazilitätengemeinden um Brüssel manifestiert, also in politisch-juristisch einsprachigen Gemeinden mit frankophonen Sprechergruppen, die de jure in der Minderheit, de facto jedoch in der Mehrheit sind.

6.3.2 Frankophone Mehrheiten und autochthone Flamen Die sprachlichen Rechte und der Amtssprachengebrauch wurden in den Grenzgemeinden und der Brüsseler Peripherie bis zur endgültigen Fixierung der Sprachgrenze nach einem alle zehn Jahre stattfindenden Zensus geregelt. Das oben genannte Gesetz von 1932 sah diesbezüglich vor, dass eine Minderheit, die mehr als 30% der Bevölkerung ausmachte, das Recht hatte, mit den lokalen Behörden in || 34 Eigene Darstellung.

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ihrer Sprache zu kommunizieren, womit es sich um ein frühes Modell «sprachlicher Erleichterungen» handelte. Umfasste eine Sprechergruppe mehr als 50% und wurde zur Mehrheit, so konnte die Gemeinde die Amtssprache wechseln. Das dokumentatiecentrum des Vlaamse Rand stellt die Entwicklung wie folgt dar: «Als gevolg van de resultaten van de talentellingen, breidde Brussel systematisch uit. Tegelijk met een demografische expansie en verstedelijkingsproces, bleken de hoofdzakelijk Nederlandstalige randgemeenten rond de hoofdstad, systematisch te verfransen – de zogenaamde olievlek. Steeds meer omliggende gemeenten werden officieel tweetalig».35

Dieses verfransen (fr. francisation) wurde im letzten Zensus 1947 so eklatant für die Flamen, dass die Ergebnisse erst 1954 veröffentlicht wurden und schließlich zum gesetzlichen Verbot weiterer Sprachzählungen führte.36 Gleichwohl ist die Gliederung Belgiens nicht nur sprachlich, sondern sie manifestiert sich – daraus abgeleitet – auch politisch, sodass auch im allgemeinen öffentlichen Leben Belgiens von zwei37 Sprechergemeinschaften gesprochen werden kann, die sich auch in der Ausübung ihrer demokratischen Rechte durch je eigene Parteien repräsentieren lassen. Die Wahlergebnisse der Kommunalwahlen erlauben daher Rückschlüsse auf die sprachlichen Verhältnisse. Wie schon am Beispiel der nicht ernannten Bourgmestres deutlich wurde, kann davon ausgegangen werden, dass ein Teil der (Fazilitäten-)Gemeinden des Vlaamse Rand – der von frankophoner Seite bezeichnenderweise lieber périphérie bruxelloise genannt wird – mittlerweile zwischen 50 und 70% frankophone Bürger umfassen, was eine Verschiebung der Sprachgrenze bzw. eine Eingliederung in das offiziell zweisprachige Brüssel rechtfertigen würde. Faktisch stehen hier frankophone Mehrheiten einem im Verhältnis immer geringeren Anteil autochthoner Flamen gegenüber. Da die frankophonen Einwohner aus sozioökonomischen Gründen in und um den Brüsseler Großraum siedeln, gelten sie als Zugezogene als allochthon. Aufgrund ihres Mehrheitsverhältnisses zu den Flamen wird der juristisch verfestigte, autochthon begründete Gebietsanspruch der Flamen gleichwohl zunehmend in Frage gestellt.

|| 35 De Vlaamse Rand/Documentatiecentrum, Talentellingen: onderdeel van de volkstelling, [letzter Zugriff: 17.05. 2013]. 36 Cf. Anm. 33. Mit der Loi du 24 juillet 1961 prescrivant l’exécution en 1961 des recensements généraux de la population, de l’industrie et du commerce wurde der sich auf Sprachgebrauch und -beherrschung beziehende Teil des Zensus abgeschafft. 37 Die deutschsprachige Minderheit nimmt innerhalb des belgischen Sprachkonflikts eine untergeordnete, zu vernachlässigende Rolle ein, weshalb ich hier und im Folgenden von zwei Gemeinschaften spreche.

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Wie stellen sich nun die Übergangszonen, als welche die Fazilitätengemeinden bezeichnet werden können, in Bezug auf die sprachliche Markierung und die Präsenz der Sprachen dar? Obschon alle Fazilitätengemeinden verfassungsrechtlich gesehen Teil einsprachiger Sprachgebiete sind, äußert sich die Existenz mehrerer Sprechergruppen auf verschiedenen Ebenen: So erfolgt die offizielle Beschilderung wie in der zweisprachigen Region Brüssel teilweise sowohl auf Niederländisch als auch auf Französisch; auch die Beschilderung von privaten Unternehmen ist teilweise zweisprachig, oft aber auch rein französischsprachig (cf. Sánchez Prieto 2013). Während offizielle Schilder dabei zunächst das Niederländische aufführen, spiegelt sich in den privaten Schildern die reale Hierarchie wider, sie führen vielfach das Französische an oberer bzw. erster Stelle (cf. Abb. 30). Die Mehrsprachigkeit und teilweise auch die Mehrheitsverhältnisse zwischen den Sprechergemeinschaften sind folglich in der Markierung des Raums ablesbar. Betrachtet man darüber hinaus die ökolinguistischen Bedingungen, so sind alle Einrichtungen und Aspekte des öffentlichen Lebens auf Niederländisch möglich, wohingegen den Frankophonen nur teilweise «Erleichterungen» geboten werden. Der amtliche Schriftverkehrt wird dabei teilweise grundsätzlich, teilweise nur auf gesonderte Anfrage auf Französisch an frankophone Bürger gerichtet. Im Schlüsselbereich Bildung sieht das régime spécial die Möglichkeit von frankophonen Vor- und Grundschulen vor, schließt eine weiterführende Bildung in französischer Sprache indessen aus – ein Faktum, dass von flämischer Seite die Auffassung stützt, es handele sich um «Erleichterungen», die eine sprachliche Integration ermöglichen sollen. Ökolinguistisch betrachtet soll der frankophone Bürger im de jure einsprachigen Gebiet zwar minimale Rechte genießen, dabei den bewohnten Raum jedoch als niederländisches Sprachgebiet wahrnehmen: Für umfassende Rechte gilt es, nach Brüssel oder in die Wallonie zu ziehen. Gleichwohl hat die ökonomische Schwäche Walloniens dazu geführt, dass immer mehr Wallonen in die Hauptstadtregion und ihre Umgebung gezogen sind, wodurch die Französierung so weit ging, dass es fraglich ist, inwiefern die Gemeinden des Vlaamse Rand noch ausschließlich neerlandophon geprägt sind und der espace vécu der Sprecher mit der Ausnahme einiger administrativer Angelegenheiten nicht vielmehr frankophon geprägt ist.

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Abb. 30: Private Beschilderung in Sint-Genesius-Rode/Rhode-Saint-Genèse38

Dem fortschreitenden verfransen ihres Gebietes um Brüssel treten die Flamen daher mit einer äußerst restriktiven Auslegung der Sprachgesetzgebung entgegen, die etwa eine Ausdehnung der taalfaciliteiten trotz teilweise deutlicher frankophoner Mehrheiten kategorisch ausschließt. Das dies auf Seiten der Frankophonen nicht immer auf Verständnis stößt, mag die Äußerung des nicht ernannten Bourgmestres von Wezembeek-Oppem van Hoobrouck d’Aspres veranschaulichen: «Il faut savoir qu’outre la question des convocations, nous sommes tenus, dans les communes à facilités, majoritairement francophones, d’organiser tous nos débats en néerlandais. Si un conseiller communal prend la parole en français, nous avons l’obligation de le faire taire».39

Gesetzlich sind nur «Erleichterungen» nach «außen» (daher als bilinguisme externe bezeichnet), d.h. im Kontakt der lokalen Behörden mit frankophonen Bürgern, vorgesehen; das politische Leben ebenso wie interne Vorgänge haben sich nach der Gebietssprache zu richten und entsprechend wird im Gesetz über den Sprachgebrauch in den Verwaltungen40 auch vom Verwaltungspersonal, von den Gemeinderäten und den Bourgmestres eine ausreichende und ausgewiesene Kenntnis des Niederländischen verlangt: «Art. 23 – Tout service local établi dans les communes de Drogenbos, Kraainem, Linkebeek, Rhode-Saint-Genèse, Wemmel et Wezembeek-Oppem utilise exclusivement la langue néerlandaise dans les services intérieurs, dans ses rapports avec les services dont il

|| 38 Ich danke Raúl Sánchez Prieto für die Bereitstellung des Fotos und die freundliche Genehmigung des Abdrucks. 39 Cf. Anm. 23. 40 Lois sur l’emploi des langues en matière administrative, coordonnées le 18 juillet 1966.

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relève ainsi que dans ses rapports avec les services de la région de langue néerlandaise et de Bruxelles-Capitale. Art. 25 – Les mêmes services emploient dans leurs rapports avec un particulier la langue que l’intéressé utilise quand celle-ci est le néerlandais ou le français. Toutefois, à une entreprise privée établie dans une commune sans régime spécial de la région de langue française ou de langue néerlandaise, il est répondu dans la langue de cette commune. Art. 27 – Dans les services locaux des communes périphériques nul ne peut être nommé ou promu à une fonction ou à un emploi s’il ne connaît la langue néerlandaise. Les examens d’admission et de promotion ont lieu dans la même langue. Le candidat n’est admis à l’examen que s’il résulte des diplômes ou certificats d’études requis qu’il a suivi l’enseignement dans la langue susmentionnée. A défaut d’un tel diplôme ou certificat, la connaissance de la langue doit, au préalable, être prouvée par un examen».

Dass diese recht präzisen Regeln zum Sprachgebrauch durch das einleitend bereits erwähnte sog. «Peeters-Rundschreiben» mittels Verwaltungsvorschriften seit 1997 noch restriktiver ausgelegt werden, belegt die Bemühungen der Flamen, entgegen der faktischen sprachlichen Entwicklung die Territorialität der eigenen Sprache kraft der durch den Föderalstaat zugestandenen Souveränität zu verteidigen. Bemerkenswert explizit lässt sich dies im Text des Rundschreibens nachvollziehen: Nachdem Peeters klarstellt, dass der «begrip ‹taalgebied›», wie er in Artikel 4 der Verfassung verwendet wird, sich nicht auf den tatsächlichen Sprachgebrauch in einem Gebiet bezieht («niet op een gebied waar in feite een bepaalde taal wordt gesproken»), sondern «een gebied waar in rechte (bv. door de ambtenaren) een bepaalde taal moet worden gebruikt» meint, und konstatiert, dass die Fazilitätengemeinden der Brüsseler Peripherie (randgemeenten) integraler Bestandteil des niederländischen Sprachgebietes sind («behoren integraal tot het Nederlandse taalgebied»), wird das generelle Prinzip ausgegeben, dass die Gebietssprache, «de taal van het gebied», in allen Amtshandlungen zu gebrauchen sei: Die «sprachlichen Erleichterungen» für Franstaligen stellten dabei nie die Einsprachigkeit des Gebietes («de eentaligheid van het gebied») in Frage. Entsprechend könne nur in ganz bestimmten Ausnahmen («voor een beperkt aantal precies omschreven verrichtingen») von diesem Grundprinzip abgewichen werden und auch nur – dies ist der entscheidende Punkt des Rundschreibens – «op hun uitdrukkelijk verzoek», auf ausdrücklichen Wunsch des Regierten. Das Rundschreiben lässt keine Zweifel an der flämischen Interpretation des régime spécial der Gemeinden offen: Eine Untergrabung der Vorrangigkeit der Gebietssprache durch die Etablierung zweisprachiger Verwaltungen sei abzulehnen, die taalfaciliteiten seien als Übergangslösung konzipiert, «als integratiebevorderende maatregel».

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Dieses Rundschreiben, das den Vorteil bietet, die Natur des Konzeptes «Sprachgebiet» im belgischen Kontext sowie die flämische Auslegung der «sprachlichen Erleichterungen» durch seine Explizitheit zu veranschaulichen, eignet sich auch als Ausgangspunkt für eine Beleuchtung des in der Brüsseler Peripherie entbrannten Sprachkonflikts unter territorialen Gesichtspunkten. So löste das Rundschreiben Unmut bei den Frankophonen der Peripheriegemeinden aus, da es festlegte, dass für jede einzelne Angelegenheit gesondert beantragt werden muss, auf Französisch mit der lokalen Verwaltung kommunizieren zu dürfen. Im Kontext sprachlichen Territorialverhaltens ist die flämische Rechtsauslegung im Sinne der Pragmatik dabei freilich nachvollziehbar: Bei jedem einzelnen Verwaltungsakt soll dem «Zugezogenen» deutlich werden, dass er sich im Gebiet des Niederländischen befindet; die Kommunikation mit dem Amt in der ihm eigenen Sprache wird ihm zwar gestattet, diese «Grenzüberschreitung» und Abweichung von der historisch begründeten gruppen- (und gebietsspezifischen) Norm muss jedoch durch die Beantragung ritualisiert erbeten werden. An dieser Stelle kann noch einmal auf den Begriff des politisch-juristischen territoire linguistique verwiesen werden, wie ihn Arlettaz (2006, 25) definiert, nämlich als «domaine spatial de validité normative» innerhalb welcher «une entité locale dispose d’une compétence linguistique» (ib., 34). Hatte die Fixierung der Sprachgrenze durch die Zuordnung der Gemeinden noch dem entsprochen, was Arlettaz als «adéquation du droit aux faits» (ib., 27) bezeichnet, da man sich an den Ergebnissen der Sprachzählungen im Rahmen des Zensus orientierte, so hat sich die sprachliche Realität in einigen Gemeinden des Vlaamse Rand längst umgekehrt, sodass von dem Versuch zu sprechen ist, die (sprachlichen) Gegebenheiten an die rechtliche Festlegung anzupassen und damit – aus flämischer Perspektive – die eigene Sprechergemeinschaft durch Erhalt oder Schaffung einer größtmöglichen Homogenität zu schützen (cf. Tacke 2012a, 98s.). So stellen André Alan und Jan Clement in Bezug auf Belgien fest, «le principe de territorialité est une technique institutionnelle de protection d’un groupe linguistique» (Alen/Clement 2008, 77). Mit anderen Worten: Die institutionell ausgeübte sprachliche Territorialität ist eine Manifestation des gruppenspezifischen Strebens nach Schutz der eigenen kulturellen Besonderheit und Abgrenzung vor «Fremden». Insofern ist es nicht überraschend, dass die restriktive Anwendung der Gesetze auf Seiten der frankophonen Minderheiten im niederländischen Sprachgebiet als Schikanierung empfunden wird. Da vom flämischen Staatsrat, der in der Flämischen Gemeinschaft zuständig ist, rechtlich betrachtet keine Hilfe zu erwarten ist, führte der Konflikt immer wieder vor die Institutionen des Europarats, wovon das unter dem Namen affaire linguistique belge bekanntgewordene Urteil von 1968 ein

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erstes Zeugnis abgibt.41 Dabei ging es um mehrere Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, die sich gegen Verstöße gegen das Recht auf Bildung in den Peripheriegemeinden richteten. In jüngerer Zeit wurde auch das belgische Konzept der einsprachigen Gebiete und die unterschiedliche Auslegung der «sprachlichen Erleichterungen» im niederländischen Sprachgebiet im Allgemeinen zum Gegenstand zweier Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.42 Die Parlamentarische Versammlung trat als Streitschlichter auf und richtete einerseits an die Flämische Gemeinschaft die Empfehlung, «[to] seek to integrate, but not assimilate, speakers of other languages (especially French-speaking Belgian citizens) in Flanders» (Resolution 1172 [1998], Abs. 8i), riet aber andererseits auch der frankophonen Minderheit, «[to] seek to integrate into the region they live in, that is Flanders, by, for example, trying to learn Dutch or improving Dutch language skills» (Abs. 9i) sowie «[to] recognise that they live in communes with linguistic facilities situated in a monolingual region, not a bilingual region» (ii) und «[to] cease trying to enlarge the linguistic facilities into de facto bilingualism» (iii). Während die belgische Konzeption einsprachiger Gebiete und die eingeschränkte Kompromisslösung der «Fazilitäten» hier vom Europarat noch als gegeben akzeptiert und gewissermaßen unterstützt wurde, bezog er anlässlich der Nicht-Ernennung der Bourgmestres eine stärkere Position: In der Recommendation 258 (2008) wird nicht nur die unverzügliche Ernennung der gewählten Kandidaten empfohlen (Abs. 7a), darüber hinaus legt der Kongress der Gemeinden und Regionen den belgischen Behörden nahe «[to] review the language laws and, in particular, the way in which they are applied in municipalities with so-called special language arrangements, to allow the use of both French and Dutch by municipal councillors and by the mayor and aldermen at the meetings of the municipal council» (Abs. 7b).

Das belgische Konzept des Sprachgebiets, insbesondere in seiner Auslegung seitens der flämischen Behörden wird folglich aufgrund der sprachlichen Begebenheiten und Konfliktsituationen in den Peripheriegemeinden immer öfter in Frage gestellt. Ein auf Homogenität ausgelegter Rechtsbegriff kann der sprachlichen Realität offenbar nicht (mehr) gerecht werden.

|| 41 European Court of Human Rights, Judgment of 23 July 1968 in the case relating to «certain aspects of the laws on the use of languages in education in Belgium». 42 Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1172 (1998) 25 September 1998 (Situation of the French-speaking population living in the Brussels periphery); Parliamentary Assembly of the Council of Europe, Resolution 1301 (2002) 26 September 2002 (Protection of minorities in Belgium).

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Doch äußert sich die Territorialität des autochthonen43 Niederländischen im Konflikt mit der frankophonen Sprechergruppe in den Grenz- und Peripheriegemeinden nicht nur juristisch und auf politischer Ebene, sondern lässt sich auch konkret beobachten. Ganz gemäß der Feststellung «[d]énommer, c’est déjà s’approprier» (Lévy 2003, 908; cf. 5.2.2.3), manifestiert sich der Konflikt in der Toponymie, nämlich dort, wo Ortsschilder sowohl auf Französisch als auch auf Niederländisch hinweisen. So werden immer wieder die niederländischen (autochthonen) Ortsbezeichnungen der Brüsseler Peripherie beschmiert, was ebenso als Infragestellung des Gebietsanspruchs gelesen werden kann, wie der umgekehrt beobachtbare Fall (cf. Abb. 1). Diese Art des «Sprachvandalismus» zeigt exemplarisch, inwiefern sich die Territorialität der in diesem Fall frankophonen Sprechergemeinschaft im individuellen Verhalten Einzelner und ganz konkret in Bezug auf die Markierung des Gebietes manifestiert. In der Markierung des Gebietes spiegelt sich womöglich auch der Eindruck wider, dass das Französische die die Gemeinde prägende Sprache ist, welche das Niederländische verdrängt hat – ungeachtet der Tatsache, dass letztere bzw. flämische Dialekte hier historisch präsent waren. Dem gegenüber stehen – abgesehen von der gesetzgeberischen Tätigkeit – verschiedenartige Versuche der flämischen Sprechergemeinschaft, die «eigene» und zugleich «gebietseigene» Sprache zu verteidigen. So wurde in der Gemeinde Overijse eigens ein Büro geöffnet, in dem Beschwerden gegen kommerzielle Hinweis- oder Werbeschilder aufgenommen werden sollten, die nicht niederländischsprachig verfasst sind. Ziel war hier also, die «sprachliche Landschaft» der Gemeinde zu sichern. Ähnlich verhält es sich mit der Anweisung der Gemeindeverwaltung von Merchtem, die Gemüsegärtner mögen die französischen Übersetzungen ihrer «produits du terroir» von den Etiketten und Hinweisschildern entfernen.44 Diese Handlungen setzen ebenfalls bei der Präsenz der Sprache an, betreffen dabei aber die Einflussnahme auf die gegenwärtige Präsenz, also den Sprachgebrauch. Beispielhaft können hier etwa Kampagnen genannt werden, die dazu aufrufen, das Niederländische zu verwenden. Solche Kampagnen können freilich auf die Initiative Einzelner, private Vereine oder auch die Behörden zurückgehen. Im nachfolgenden Beispiel (Abb. 31) geht der Aufruf auf die Regierung der alle Peri|| 43 Genau genommen bezieht sich die Autochthonie dabei auf die flämischen Dialekte, denen das Niederländische als Standardsprache jedoch zugeordnet wird und das nunmehr auch über eine längere Tradition als Distanzsprache verfügt. Zum Verhältnis zwischen Standardsprachen und germanischen sowie galloromanischen Varietäten cf. Kramer (1984, 113–121) und Aunger (1993). 44 Cf. Vanoverbeke, Dirk, Tout ce qu’il faut savoir avant de s’établir au Nord du pays, Le Soir, 18.03.2010, p. 8.

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pheriegemeinden umfassenden Region Vlaamse Rand und den Verein Marnixring45 zurück, dessen Ziel die Förderung der niederländischen Sprache und Kultur ist:

Abb. 31: Plakat zur Förderung des Niederländischen46

Das an einem Schulhof in der Gemeinde Huldenberg angebrachte Plakat mit der Aufschrift «In het belang van uw kind spreken wij hier Nederlands! U toch ook?» (dt. «Im Interesse Eures Kindes sprechen wir hier Niederländisch! Du doch auch?») kann aufgrund des Ausrufezeichens imperativ interpretiert werden, d.h. als Aufforderung, hier im neerlandophonen Gebiet das Niederländische zu verwenden und als gruppen- und gebietsspezifische Norm den Kindern – unabhängig ihrer Herkunft – zu vermitteln. Die Frage «U toch ook?» schafft dabei eine ungewöhnlich deutliche Kulisse sozialer Kontrolle und sozialen Drucks. Einen Schritt weiter ist man in einem in der frankophonen Tageszeitung Le Soir erwähnten Fall gegangen, in dem frankophonen Kindern in der Gemeinde Liede-

|| 45 Der 1968 gegründete Marnixring Internationale Serviceclub ist ein in allen Teilen der niederländischsprachigen Welt tätiger Verein, der als sein primäres Ziel definiert, «de Nederlandse taal- en cultuurgemeenschap te dienen» (, unter «Doelstellingen», letzter Zugriff: 22.05.2013). 46 Urheber: Wouter Hagens, Datum: 05.07.2009, Quelle: [letzter Zugriff: 18.05.2013].

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kerke der Zutritt zu Spielplätzen mit der Begründung untersagt worden sei, sie sprächen nicht Niederländisch.47 Schließlich kann auf die Stärkung oder Konsolidierung der Präsenz der gebietseigenen Sprache auch auf anderen Wegen eingewirkt werden: Zum einen durch die Assimilation Allochthoner, zum anderen durch ihre Aus- oder Abgrenzung. So jedenfalls sind eine Reihe von Maßnahmen interpretiert worden, die den Zugang zum Wohnungsmarkt in Flandern betrafen. Ausgangspunkt der teils polemisch geführten Kontroverse ist die Modifizierung des flämischen wooncode durch ein Dekret vom 15. Dezember 2006.48 Dieses legte fest, dass Kandidaten auf eine Sozialwohnung Kenntnisse des Niederländischen oder zumindest «de bereidheid tonen om Nederlands aan te leren» (Art. 92,3) darlegen müssen. Erwartet wird ein A1-Niveau, das zu erwerben durch kostenlose Sprachkurse ermöglicht wird. Während der zuständige Minister, Marino Keulen, angesichts der Polemik betont, es handele sich um Maßnahmen, die der Integration – gerade auch innerhalb der Sozialwohnungskomplexe –, nicht der Verhinderung einer weiteren Französierung dienen sollen («C’est une des conséquences de ce décret. Mais ce n’est pas son objectif initial»49), wird das Dekret auf frankophoner Seite als Diskriminierung empfunden: «Pour les francophones, ce Code vise l’intégration des allochtones de Flandre, l’homogénéisation de la population de la région flamande et la lutte contre la francisation de la périphérie».50 Das Dekret wird also so aufgefasst, dass es sich konkret gegen das weitere verfransen der Peripheriegemeinden wendet und sicherstellen soll, dass das Niederländische die dominante Sprache bleibt; über den Weg von Sprachkenntnissen soll die Möglichkeit geschaffen werden, die Präsenz der «gebietseigenen» Sprache zu sichern. Eine Klage vor dem Verfassungsgerichtshof scheiterte zwar, dieses schloss jedoch die Fazilitätengemeinden von der Anwendung der Sprachklauseln aus, was der Ministerpräsident der Französischen Gemeinschaft, Rudy Demotte, als Bestätigung der Dauerhaftigkeit der Institution der «sprachlichen Erleichterungen» wertete: «leur pérennité s’est ainsi vue largement confortée».51 Während die Kontroverse um den Zugang zum sozialen Wohnungsmarkt wiederum aus der gesetzgeberischen Tätigkeit und damit gleichsam aus der

|| 47 Cf. Vanoverbeke (18.03.2010), Anm. 44. 48 Decreet van 15 Juli 1997 houdende de Vlaamse Wooncode. Officieuze consolidatie, Versie oktober 2009. 49 Vanoverbeke, Dirk, Keulen: «La langue pour inclure, pas pour exclure». Le ministre flamand du logement répond aux francophones, Le Soir, 09.12.2005, p. 6. 50 Cf. Anm. 44. 51 Vanoverbeke, Dirk, Feu vert au Wooncode. Arrêt de la Cour constitutionnelle, Le Soir, 11.07.2008, p. 7.

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politisch-juristischen Territorialität hervorgeht, ist ein im selben Zusammenhang verorteter Skandal wiederum als Manifestation weitgehend individuellen Territorialverhaltens zu bewerten. Jenseits von Sozialwohnungen geht es dabei um den Kauf von Immobilien. Wie eine am 4. April 2010 ausgestrahlte Reportage des neerlandophonen Fernsehsenders VRT offenlegte, hatten die Bourgmestres der drei Peripheriegemeinden Overijse, Gooik und Vilvorde mündliche Absprachen mit ortsansässigen privaten Immobilienunternehmen getroffen, dass frankophone Interessenten von den potentiellen Käuferlisten zu streichen seien. In der Berichterstattung, zu der auch die französische Zeitung Le Monde beitrug, hieß es, das Ziel «[de] certains élus» sei gewesen, «de défendre le ‹caractère flamand› de la périphérie de la capitale belge, menacé, selon eux, par l’arrivée d’habitants de Bruxelles, majoritairement francophones».52 Explizit wird hier also auf die sprachlich-historische Prägung des Gebietes, die sich durch die Autochthonie bzw. historische Präsenz des Niederländischen begründet und die es zu verteidigen gilt, referiert. Das Vorgehen der Bourgmestres ging über den wooncode, der sich nur auf Sozialwohnungen bezieht, freilich weit hinaus, geht es hier doch weniger um – je nach Interpretation – Assimilation oder Integration, sondern um Abgrenzung und Exklusion, die sicherstellen soll, dass nicht anderssprachige Zugezogene die angestammten sprachlichen Verhältnisse verändern. In diesem Fall sah sich sogar die flämische Seite gezwungen, das Vorgehen als illegal zu verurteilen, was nicht verhinderte, dass sich wiederum überstaatliche Institutionen mit der Angelegenheit befassten und sich besorgt äußerten.53 Die geschilderten Fälle zeigen, dass in der Peripherie um Brüssel, in der zwei Sprechergemeinschaften aufeinandertreffen, eine Konfliktsituation entstanden ist, die daraus resultiert, dass die «alteingesessene» Bevölkerung die Dominanz des Niederländischen, mit dem sie sich identifiziert, gegenüber einer immer zahlreicheren Gruppe frankophoner Sprecher zu verteidigen versucht. Wie in 5.2 erläutert, äußert sich die Beanspruchung des Gebiets dabei auf verschiedenen Ebenen, sowohl in der Gesetzgebung politischer Institutionen wie auch im Handeln individueller Akteure, zugleich ist sie aber immer als Manifestation der Territorialität einer Sprechergemeinschaft aufzufassen. Die Problematik der Französierung und der sich verändernden Mehrheiten im Vlaamse Rand schärft || 52 Belgique: des francophones interdits de logement, Le Monde, 05.04.2010, [letzter Zugriff: 22.05.2013]. 53 Cf. etwa United Nations/Human Rights Committee, Report of the Human Rights Committee, vol. 1, 100th session (11–29 October 2011), New York, 2011 sowie zu den Reaktionen: Les petits arrangements en périphérie globalement condamnés, Le Soir, 06.04.2010, [letzter Zugriff: 22.05.2013]; Thiéry espère que le signal de l’ONU sera pris au sérieux par la Flandre, Le Soir, 30.10.2010, [letzter Zugriff: 22.05.2013].

6.4 Frankreich | 243

dabei das Sprachbewusstsein beider Gemeinschaften.54 Wenngleich die frankophone Gemeinschaft im flämischen Teil Belgiens keine Autochthonie für sich beanspruchen kann, zeigt sich hier am konkreten Fall, dass sie aus ihrer faktischen quantitativen Dominanz heraus, weitreichende sprachliche Rechte, mitunter das Gebiet selbst für sich beansprucht. Immer wieder und schon seit der juristischen Festlegung der Sprachgrenze werden Rufe laut, die Brüsseler Peripherie in die offiziell zweisprachige Region Brüssel zu integrieren,55 während aufgrund der gegenwärtigen sprachlichen Präsenz und Prädominanz in Brüssel gleichzeitig «kritisiert [wird], daß Brüssel weiter als flämische Stadt angesehen wird, obwohl die Mehrheit frankophon ist» und eine «stärkere Verankerung der französischen Sprache in Brüssel»56 gefordert wird. Der Sprachkonflikt in der Brüsseler Peripherie resultiert insgesamt betrachtet aus der allzu rigiden juristischen Festschreibung traditioneller Sprachgebiete und der sozioökonomisch bedingten zeitgenössischen Binnenmigration.

6.4 Frankreich: Regionalsprachen als nationales patrimoine ohne Gebiet?6.4 Frankreich

Frankreich stellt in Bezug auf die Fragestellungen einen Sonderfall dar. Das Land besitzt ein nationales Selbstverständnis, das nicht nur auf Einheit, sondern auch auf Einheitlichkeit fußt. Die Maxime Liberté, Égalité, Fraternité versteht Gleichheit als Negation jeglicher Diversität: In diesem Sinne kann das die Nation bildende Volk keine Gemeinschaften oder Gruppen fassen, die sich durch besondere Eigenheiten unterscheiden. Politisch betrachtet lehnt Frankreich daher seit jeher konsequent den Minderheitenbegriff ab, Minderheiten könne es per Definition auf dem französischen Hoheitsgebiet nicht geben (cf. Pan 2006, 169–172). Dem entgegen steht eine Kultur- und Sprachenlandschaft, die zahlreiche Idiome und regionale Kulturen umfasst. Neben dem bereits mehrfach angesprochenen Okzitanischen, das mit dem gesamten Süden Frankreichs assoziiert wird, lassen sich weitere Sprachen nennen: das Bretonische, das Baskische, das Flämische, die alemannischen und fränkischen Dialekte Elsass-Lothringens, das Katalani-

|| 54 Dies stellte Henri Fayat in Het Brusselse vraagstuk schon 1966 fest (cf. Heckenbach/Hirschmann 1981, Nr. 379). 55 Cf. Heckenbach/Hirschmann (1981, Nr. 391). 56 Zitiert aus der Zusammenfassung von André Wautier, Situation du français à Bruxelles, Culture française 15 (1966), 14–22, in: Heckenbach/Hirschmann (1981, Nr. 395).

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sche, Korsische, das Frankoprovenzalische sowie – je nach den angesetzten Kriterien – weitere Idiome. Frankreichs Sprachenpolitik lässt sich als Duldung der Mehrsprachigkeit unter dem Dach des Französischen beschreiben.57 Durch die seit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 garantierte Meinungs- und Äußerungsfreiheit wird jedem Bürger – zumindest implizit – auch das Recht zugestanden, die Sprache seiner Wahl zu verwenden.58 Dagegen ist der Sprachgebrauch der republikanischen Institutionen streng geregelt: Die Sprache der Behörden und all ihrer Repräsentanten ist ausschließlich das Französische. Entsprechend steht es seit 1992 in der Verfassung festgeschrieben. So heißt es in Artikel 2 unter dem Titel «De la souveraineté», «La langue de la République est le français».59 Die rechtliche Stellung der Regionalsprachen ist dabei weit weniger deutlich geregelt. Erst in jüngerer Zeit hat es eine Anerkennung der Regionalsprachen gegeben, die sich in zwei Etappen beschreiben lässt. Die erste Etappe bezieht sich dabei auf den Schulunterricht: Mit der loi Deixonne60 von 1951 wurde für den Unterricht der zunächst als «langues et dialectes locaux» bezeichneten Idiome erstmals eine rechtliche Grundlage geschaffen, die später in der loi Bas-Lauriol61 von 1975 und von der loi Toubon62 von 1994 aufgegriffen und schließlich in den Code de l’éducation integriert wurde.63 Der Unterricht der Regionalsprachen muss dabei fakultativ bleiben und kann nirgendwo zum obligatorischen Lehrplan gehören. In gleicher Weise ist es mancherorts zwar in der Praxis möglich, sich in einer Regionalsprache an eine Behörde zu wenden, d.h. der Gebrauch einer Regionalsprache ist nicht verboten; gleichwohl entsteht daraus kein verbrieftes Recht. Eine zweite Etappe stellt die kontrovers geführte Debatte um einen möglichen Beitritt Frankreichs zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen dar,64 die zwar nicht – wie von zahlreichen Vertretern der Regionalsprachen erhofft – zur Ratifizierung des Vertragswerkes führte, jedoch zur Folge || 57 Für eine aktuelle Gesamtdarstellung der französischen Sprachenpolitik cf. Tacke (im Druck). 58 Déclaration des droits de l’homme et du citoyen de 1789, Art. 11. 59 Constitution de la Ve République française, Version consolidée au 1 décembre 2009. 60 Loi n° 51–46 du 11 janvier 1951 relative à l’enseignement des langues et dialectes locaux. 61 Loi n° 75–1349 du 31 décembre 1975 relative à l’emploi de la langue française. 62 Loi n° 94–665 du 4 août 1994 relative à l’emploi de la langue française. 63 Zur (parlamentarischen) Diskussion um eine Anerkennung der Regionalsprachen bis 1951 cf. Moliner (2010; 2013). Für eine Rechtsgeschichte cf. Woehrling (2013) sowie Tacke (im Druck). Zur Loi Toubon cf. Becker (2004). 64 Darstellungen der Diskussion um die Charta in Frankreich finden sich in Clairis/Costaouec/ Coyos (1999), ferner Viaut (2002), Langenbacher-Liebgott (2002), Cichon (2003), Conseil de l’Europe (2003), Lebsanft (2004), Willwer (2006, 97–218), Helfrich (2007), Neumann (2009, 156ss.), Woehrling (2011, 58–64) und Alén Garabato (2013, 327–334).

6.4 Frankreich | 245

hatte, dass sich die Regierung zu einem Kompromiss gezwungen sah, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen.65 Dieser Kompromiss bestand darin, die Existenz der Regionalsprachen in der französischen Verfassung festzuschreiben und ihnen damit die lange geforderte formelle Anerkennung zu gewähren. Die Assemblée Nationale verabschiedete am 9. Juli 2008 im Rahmen der Ausarbeitung der Loi constitutionnelle de modernisation des institutions de la Ve République du 23 juillet 2008 die Einführung des Artikels 75,1 in die Sektion zu den «collectivités territoriales»: «Les langues régionales appartiennent au patrimoine de la France». Gleichwohl hatten die vorhergehenden Verhandlungen erneut gezeigt, dass die genannten Vorbehalte gegen eine Anerkennung der sprachlichen Vielfalt nach wie vor aktuell sind. Ein parlamentarischer Beschluss vom 22. Mai 200866, den Verfassungszusatz an prominenterer und symbolträchtigerer Stelle, in Artikel 1 der Verfassung, zu positionieren, war am scharfen Widerstand des Senats gescheitert. Die – von der damaligen Regierungspartei UMP begrüßte – Positionierung des Artikels unter Titel XII wurde von der Opposition so interpretiert, dass der Staat sowohl aus der finanziellen, als auch der politischen Verantwortung seiner Regionalsprachen entlassen wird. Entsprechend lauteten in der Debatte vom 9. Juli67 auch die Vorwürfe der oppositionellen Linken, u.a. repräsentiert durch Jean-Jacques Urvoas: «Nous avions accepté, dans un esprit de compromis, que les langues régionales figurent à l’article 1er; vous nous proposez maintenant qu’elles soient mentionnées dans le titre de la

|| 65 Die Diskussion um eine mögliche Ratifizierung der Charta, ihrer Verfassungskonformität und ihr vorübergehendes Verschwinden von der politischen Agenda hat vor allem den in der Mehrzahl der Franzosen und französischen Politiker verwurzelten und seit der Revolution kaum abgeschwächten Jakobinismus verdeutlicht. Dass sprachpolitischer Jakobinismus nicht nur Merkmal der politischen Rechten Frankreichs, sondern auch der Linken sein kann, insgesamt das Handeln der jeweils in der Verantwortung stehenden Politiker charakterisiert, zeichnet Lebsanft (2004) eben anhand der Diskussion um die Ratifizierung der Charta nach. Zuletzt (Stand: Januar 2015) wurde eine von den Sozialisten ausgehende Initiative, die Ratifizierung durch eine Verfassungsänderung zu ermöglichen, in die Assemblée Nationale eingebracht und führte – mit Erfolg – zur Verabschiedung in erster Lesung der Proposition de loi constitutionnelle visant à ratifier la Charte européenne des langues régionales ou minoritaires (Assemblée Nationale, Texte adopté n° 283 «Petite loi», 28.01.2014, , letzter Zugriff: 18.03.2014). Fraglich ist in der Folge jedoch, ob auch der traditionell den Regionalsprachen ablehnend gegenüberstehende Senat seine Zustimmung gibt und es letztlich zu der angekündigten Revision der Verfassung kommt. Zur öffentlichen Diskussion um die Gesetzesvorlage cf. Polzin-Haumann (2015). 66 Cf. Assemblée Nationale, Compte rendu intégral. 2e séance du jeudi 22 mai 2008, [letzter Zugriff: 02.12.2012]. 67 Cf. Assemblée Nationale, Compte rendu intégral. 2e séance du mercredi 9 juillet 2008, [letzter Zugriff: 02.12.2012].

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Constitution consacré aux collectivités territoriales que dans son article 1er. On pourrait même y voir comme un aveu que la promotion des langues régionales n’est pas une préoccupation du Gouvernement, et qu’il confie simplement cette compétence aux collectivités territoriales, […]. Introduire cet article à cet emplacement, c’est explicitement attribuer une compétence supplémentaire aux collectivités locales, sans leur donner les moyens de l’assumer. […] un problème symbolique est posé. Le passage de l’article 1er à l’article 75–1 est un fâcheux symbole du peu d’intérêt que le Gouvernement porte à ce sujet».68

Aus der Forderung, die regionalsprachliche Vielfalt Frankreichs durch die Verfassung zu einem Wesensmerkmal der Republik zu erklären, ihren Schutz zu gewährleisten und eine wirkungsvolle Grundlage für weitere gesetzliche Vorhaben zu schaffen, wurde auf diese Weise ein Kompromiss, der über die symbolische Anerkennung kaum hinausgeht und die Frage der Regionalsprachen zur Angelegenheit der Regionen erklärt (cf. dazu Sauzet 2009; Carcassonne 2011; Bertile 2011). Umgekehrt kann die Verfassungsänderung auch als Fortschritt in der restriktiven Politik des zentralistischen Frankreichs gesehen werden, da die Frage der Regionalsprachen dorthin delegiert wird, wo diese gesprochen werden, in die Regionen. Die damit verknüpfte Debatte um die Charta kann letztlich als Anlass gesehen werden, die Sprachenfrage neu auszuhandeln. Denn während die Charta in vielen europäischen Ländern (cf. Lebsanft/Wingender 2012b) weitgehend unproblematisch implementiert wird und überall in Europa der Schutz des Regionalen in den Vordergrund rückt, behält Frankreich zwar seine historisch begründete Sonderstellung, verbleibt indessen nicht in einem ahistorischen Raum (cf. Tacke 2014b). Am Ende der Debatte nutzte Jacques Myard, Abgeordneter des konservativen UMP, die Gelegenheit, um noch einmal darauf hinzuweisen, dass «une argumentation politique en se basant sur le critère de la langue peut […] être extrêmement dangereux» und fügte hinzu, dass Vorsicht geboten sei hinsichtlich der «dynamique qui se cache derrière ces mots au regard de la Charte». Myard erzielte die erhoffte Aussage der Regierung: Madame la garde des sceaux (Michèle Alliot-Marie, UMP) quittierte die Debatte mit den Worten: «Il n’y aura pas de ratification de la charte!» Damit werden Frankreichs Regionalsprachen ausschließlich als nationales Kulturgut behandelt. Als solches wird es gemäß der französischen Staatsphilosophie vermieden, die Regionalsprachen mit konkreten Gebieten zu assoziieren. Die Zuordnungen bleiben unpräzise und so ist etwa in Artikel L312–10 der Sekti|| 68 Eine andere Interpretation vertritt das 2013 von der gegenwärtigen Kultusministerin Aurélie Filippetti eingesetzte Comité consultatif pour la promotion des langues régionales et de la pluralité linguistique interne (CLR 2013, 47): Das Parlament habe «posé un principe de responsabilité partagée entre l’État et les collectivités territoriales, en insérant l’article 75–1 dans le titre XII de la Constitution consacré aux collectivités territoriales».

6.4 Frankreich | 247

on 4 («L’enseignement des langues et cultures régionales») des Code de l’éducation lediglich die Rede von «les collectivités territoriales» und «les régions où ces langues sont en usage». Eine konkretere Nennung oder gar die Rede von historischen Regionen oder sprachlichen Identitäten bestimmter Gebiete sind undenkbar. Insofern kann das Urteil Schmitts (2000, 714) weiterhin als gültig betrachtet werden: «Die Sprachgesetzgebung zugunsten der bodenständigen Minoritäten stellte im Grunde immer nur halbherzig eingeräumte Konzessionen dar». Entscheidend bleibt letztlich der oben zitierte Artikel 2 der Verfassung: Wenngleich er der Absicherung des Französischen gegenüber dem Einfluss von Fremdsprachen, insbesondere des Englischen, gedacht und ausdrücklich nicht gegen die französischen Regionalsprachen gerichtet war,69 leitet sich aus ihm gleichwohl die rechtliche Grundlage ab, auf der seither jedwede Diskussion in Bezug auf die sogenannten langues de (la) France geführt wurde und wird.

6.4.1 Französische Staatstheorie und sprachliche Territorialität Inwiefern hat die Frage des Status der Regionalsprachen in Frankreich mit ihrer territorialen Gebietsbezogenheit zu tun? Auf der faktischen Ebene betrachtet, handelt es sich bei den französischen Regionalsprachen nicht weniger um kulturelle Praktiken, die mit bestimmten Gebieten assoziiert werden, als dies in anderen Ländern der Fall ist. Der Grad der Territorialisierung, die Präsenz der Sprachen im öffentlichen Raum und die Frage, wie der Zusammenhang von Sprache und Gebiet diskursiv konstruiert wird, hängt indessen – wie sich am Beispiel Frankreichs deutlich zeigt – in entscheidendem Maße davon ab, wie sich die sprachliche Vielfalt im Konzept des jeweiligen Nationalstaats artikuliert bzw. in ihm denkbar ist. In Frankreich, wo die einzelnen Sprachen weniger visuell wahrnehmbar territorialisiert sind als das Französische, da der öffentliche Raum durch die Staatssprache dominiert wird, sind die Regionalsprachen sowohl diskursiv als auch in der Praxis marginalisiert. In gleicher Weise wie schon am Ende des 19. Jahrhunderts das Verschwinden der (galloromanischen) Dialekte, der patois, befürchtet wurde und Gaston Paris zu ihrer Dokumentation aufrief (cf. 5.3), droht auch den Regionalsprachen gesellschaftlich betrachtet das Verschwinden. Der von Vertretern der Regionalsprachen gesehenen Notwendigkeit konkreter Regelungen und Maßnahmen in den Regionen, steht die französische Staatstheorie bzw. -philosophie ge-

|| 69 Cf. dazu die entsprechende Parlamentsdebatte: Assemblée nationale, Séance du 12 mai 1992, Journal officiel, 13.05.1992, 1019–1022. Cf. ferner Carcassonne (1998, Abs. 35) sowie allgemein Braselmann (1999).

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genüber, der zufolge bereits die Rede von bestimmten «Gruppen» mit dem Verfassungsgrundsatz einer République indivisible unvereinbar ist. Diese Unvereinbarkeit und die sich aus ihr ableitende Unmöglichkeit, zu den Regionalsprachen gehörende konkrete Sprachgebiete zu identifizieren, wie dies etwa für die praktische Umsetzung der Charta notwendig wäre, lässt die Frage, in welcher Form in Frankreich der Zusammenhang von Sprache und Raum konzipiert wird, ganz explizit aufkommen. Im Folgenden sollen dazu unter der genannten Fragestellung zwei Gutachten, die 1998 bzw. 1999 noch mit Blick auf eine mögliche Ratifizierung der Charta im Auftrag des damaligen Premierministers Lionel Jospin verfasst wurden, untersucht werden. Dabei handelt es sich einerseits um das sehr ausführliche Gutachten des Rechtswissenschaftlers Guy Carcassonne, das die Charta in Bezug auf ihre Vereinbarkeit mit der französischen Verfassung hin überprüft; zum anderen ist der Bericht des Linguisten Bernard Cerquiglini zu berücksichtigen, der die konkrete Frage der im Falle eines Beitritts zu benennenden Regional- und/oder Minderheitensprachen behandelt. Carcassonne baut in seinem 130 Seiten umfassenden Gutachten auf den seitens des französischen Staatsrates (Conseil d’État) am 24. September 1996 geäußerten Zweifeln an der Kompatibilität der Charta mit dem französischen Rechtssystem auf.70 Seither stand die Frage der Kompatibilität und einer u.U. notwendigen Verfassungsänderung im Raum, weshalb Carcassonne mit einer ausführlichen Expertise beauftragt wurde. Das wohl wichtigste Resultat, zu der Carcassonne kommt, und die in dem Gutachten an diversen Stellen immer wieder reflektiert wird, liegt in der Erkenntnis begründet, dass Sprachen in Frankreich grundsätzlich nur unter der Prämisse geschützt werden können, dass sie als Kulturgut (patrimoine) aufgefasst werden; Sprachen als Ausdrucksform von konkreten Minderheiten, die sich dadurch in ihrem Selbstverständnis als von der Gesamtheit der französischen Bevölkerung eigenständig oder besonders betrachten, sind dagegen völlig ausgeschlossen. Entsprechend betont Carcassonne, dass der «Geist der Charta», wie er in der Präambel formuliert wird, einerseits den Schutz von Sprachen, nicht jedoch ihrer Sprecher, vorsieht, und Sprachenschutz andererseits auf die Bewahrung eines (europäischen) Kulturgutes abzielt, also dem Grundsatz nach nicht im Widerspruch mit der Verfassung steht. Bekanntlich wurde die Charta bereits mit Blick auf die französische Staatsphilosophie, welche die Existenz von Minderheiten nicht vorsieht, konzipiert; entsprechend geht die Tatsache, dass der Schutz von Sprachen ausdrücklich keine Rechte für ihre Sprecher mit sich bringt, auf diese Erwägung zurück. Gleichwohl enthalten der Text der Charta und die praktische Umsetzung ihrer Bestimmungen zahlrei-

|| 70 Conseil d’État, Avis n° 349461 du 24 septembre 1996.

6.4 Frankreich | 249

che Überschreitungen dieses Prinzips, da die Trennung von Sprache und Sprechern zwar als diskursiver Kunstgriff möglich erscheint, in der Praxis jedoch problematisch ist (cf. 6.1.2). Das Gutachten Carcassonnes setzt sich daher vor allem mit drei nachstehend genauer zu betrachtenden Punkten auseinander: der exklusiven Territorialität des Französischen, der Frage der (Sprecher-) Gruppen vor dem Hintergrund der «unteilbaren Republik» sowie den Regionalsprachen als patrimoine Frankreichs (und nicht der Regionen).

6.4.2 Exklusivität der Territorialität des Französischen Als «celui des principes constitutionnels le plus directement mis en cause [par la Charte, F.T.]» (Abs. 34) untersucht Carcassonne in den Absätzen 34–66 das Französische als «langue de la République». Zu diesem Zweck schaut Carcassonne auf die Gesetzgebung und die diesbezüglichen Entscheidungen des Verfassungsrates. So war der Einführung des Artikels 2 in die Verfassung die Loi n° 94–665 relative à l’emploi de la langue française gefolgt, welche dessen Tragweite näher bestimmt. Entscheidend ist die Interpretation des Conseil constitutionnel,71 denn sie definiert exakt, was mit langue de la République gemeint ist. Carcassonne referiert demgemäß: «si la langue de la République est le français, seule la langue de la République, c’est-à-dire de l’ensemble des autorités et institutions qui l’incarnent, est le français. Ce n’est donc qu’à ces autorités et institutions que l’usage du français peut être imposé à ce titre» (Abs. 38).

«Republik» meint also «nur» die Gesamtheit der staatlichen Institutionen. Gleichwohl kann auch darüber hinaus der Gebrauch des Französischen vorgeschrieben werden; die Souveränität Frankreichs erlaubt es, staatlicherseits auch den Sprachgebrauch von Privatpersonen unter bestimmten Bedingungen zu regulieren: «Ainsi […] les soucis, constitutionnels, de protection de la santé, de l’hygiène ou de la sécurité publiques légitiment-ils pleinement, quitte à limiter quelque peu la liberté d’expression, que l’usage du français soit obligatoire pour la rédaction de toutes sortes de notices ou d’avis destinés au public […]» (Abs. 39).

Damit leitet sich aus Artikel 2 der Verfassung eine territoriale Geltung des Französischen im gesamten öffentlichen Raum des Staatsgebietes ab, für die nur in

|| 71 Conseil constitutionnel, Décision 94–345 DC du 29 juillet 1994.

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den Bereichen der Medien und des Unterrichts Ausnahmen vorgesehen sind. Diese politisch-juristische Territorialität des Französischen ist, anders als in den übrigen hier behandelten Staaten, unter allen Umständen als exklusive Geltung zu verstehen. Dies verdeutlicht die von Carcassonne diskutierte Entscheidung des Verfassungsrates bezüglich eines Polynesien betreffenden Gesetzes,72 in dessen Artikel 115 es heißen sollte: «Le français étant la langue officielle, la langue tahitienne et les autres langues polynésiennes peuvent être utilisées». Der Verfassungsrat befand die Formulierung als nicht verfassungskonform, hätte es den Bürgern Polynesiens doch nicht nur die faktische Möglichkeit, sondern ein verbrieftes Recht eingeräumt, mit den Behörden in einer anderen Sprache als dem Französischen zu kommunizieren: «Énoncer, dans un texte qui porte sur les institutions du territoire, que ‹la langue tahitienne et les autres langues polynésiennes peuvent être utilisées›, aurait eu pour effet, voire pour objet, de garantir aux locuteurs la possibilité, donc de leur reconnaître le droit, de ne s’exprimer qu’en langue polynésienne dans leurs relations avec les autorités publiques. Du même coup […] ils eussent pu aller jusqu’à exiger de ces mêmes autorités qu’elles leur répondissent dans la même langue» (Abs. 57).

Während der Gebrauch des Polynesischen in den regionalen Behörden faktisch nicht unüblich ist, ist es in der französischen Staatsphilosophie undenkbar, gesetzlich eine andere Sprache neben dem Französischen zu dulden: «la possibilité, dans le respect de la Constitution, de s’exprimer en langue régionale dans la sphère publique est réelle, mais elle ne peut être que limitée» (Abs. 63). Zuvor hatte Carcassonne dieses Prinzip wie folgt auf den Punkt gebracht: «Ce qui n’est pas interdit est permis, mais ce qui est permis ne constitue pas pour autant un droit» (Abs. 62). Die Rechtslage und die Interpretationen des Verfassungsrates zeigen, dass Frankreich nach wie vor die Exklusivität des Französischen als einzige rechtlich gültige Sprache der republikanischen Institutionen verteidigt. Daraus kann ein exklusiver Gebietsanspruch interpretiert werden, der auf die Wahrung der territorialen Integrität und der Einheit der Nation abzielt. Wenn die Existenz von Regionalsprachen gleichwohl nicht negiert, sondern symbolisch anerkannt wird, dann nur unter bestimmten Bedingungen und unter der Prämisse, dass es sich nicht um Sprachen handelt, die gewissermaßen auf Augenhöhe mit dem Französischen stehen, sondern um ein immaterielles und – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – gebietsloses Kulturgut.

|| 72 Conseil constitutionnel, Décision 96–373 DC du 9 avril 1996.

6.4 Frankreich | 251

6.4.3 Regionalsprachen ohne Sprechergemeinschaften? Zwei Prinzipien der französischen Staatsphilosophie schließen aus, dass Frankreich auf seinem Gebiet die Existenz von Minderheiten jedweder Art, d.h. auch von Sprechergruppen, anerkennen kann. Dies ist einerseits das Prinzip der Gleichheit, das es verbietet, einer bestimmten Gruppe besondere Rechte einzuräumen (positive Diskriminierung), und andererseits der in vielen Verfassungen angelegte, aber in Frankreich besonders eng ausgelegte Grundsatz der Unteilbarkeit der Nation: «La France est une République indivisible» (Art. 1). Carcassonne betont, dass dieser letzte Grundsatz konsequent verteidigt und auch bei der Ratifizierung internationaler Verträge stets berücksichtigt wurde: «Sur le plan international, il n’est que de rappeler que notre pays a toujours, par des réserves explicites, écarté en ce qui le concerne toutes les dispositions qui l’auraient conduit à reconnaître sur son territoire l’existence de minorités» (Abs. 30).

Die auch interne Tragweite des Grundsatzes machte der Verfassungsrat, wie Carcassonne referiert, deutlich, als er die Bezeichnung «peuple corse, composante du peuple français» als «contraire à la Constitution, laquelle ne connaît que le peuple français, composé de tous les citoyens français sans distinction d’origine, de race ou de religion»73 beurteilte. Der korsische Fall hat aber auch gezeigt, dass die Anerkennung einer Sprache nicht automatisch auch die Anerkennung eines Volkes mit sich bringt. So können eine Sprache und eine Kultur durchaus gefördert werden, etwa im Bildungsbereich, solange der Unterricht «ne revêt pas un caractère obligatoire», denn einem Teil der Bevölkerung eine Pflicht aufzuerlegen, die nicht für alle Franzosen bindend ist, spräche gegen die Prinzipien der Gleichheit und der Unteilbarkeit. In der Auseinandersetzung mit der Charta und der Frage, welche Auswirkungen ihre konkrete Anwendung in Frankreich hätte, untersucht Carcassonne die einzelnen Bestimmungen. Der Ausgangspunkt der Charta, nicht Sprecher oder Sprechergruppen, sondern Sprachen schützen zu wollen, trifft – wie Carcassonne schon in Artikel 7 feststellt – schnell auf die Notwendigkeit, von «Gruppen» zu reden: «A plusieurs reprises (paragraphes 1, e, paragraphes 4 et 5) apparaît la notion de ‹groupes› pratiquant une langue régionale ou minoritaire» (Abs. 86). Der problematische Begriff der Gruppe sei mit der französischen Verfassung nur mittels einer mit der Ratifizierung einzureichenden interpretativen Erklärung in Einklang zu bringen. Carcassonne schlägt eine solche Formulierung vor, der zufolge

|| 73 Conseil constitutionnel, Décision 91–290 DC du 9 mai 1991.

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«Gruppe» als «synonyme d’une addition d’individus, et non comme une entité distincte de ceux qui la composent, pouvant avoir une personnalité propre et jouir de droits dont elle serait titulaire» (Abs. 90) zu interpretieren sei.74 Die französische Staatsphilosophie kann der Expertise zufolge also durchaus den Schutz und die Förderung regionaler Sprachen und Kulturen vertreten, allerdings nur dergestalt, dass diese unabhängig von ihren Trägern betrachtet werden: Regionalsprachen werden von Individuen gesprochen, die ausschließlich französische Bürger sein können, nicht aber kollektive Identitäten, Sprechergemeinschaften oder gar Völker bilden. Was sind Regionalsprachen demnach? Das Fazit, das Carcassonne zur Interpretation von «Gruppe» anbietet, vermag dies zu erhellen: «En d’autres termes, la crainte de l’engrenage, supposé conduire inéluctablement de la reconnaissance d’une langue à celle d’un peuple, serait formellement et efficacement dissipée. La France, pays de culture, prendrait ainsi toute sa part à la préservation d’un patrimoine culturel, sans que la France, pays d’unité, risque de voir la sienne remise en cause» (Abs. 91).

6.4.4 Regionalsprachen als nationales Kulturgut Immer wieder, wenn in der Expertise Carcassonnes von Sprachenschutz die Rede ist, wird neben den Ausdruck langue(s) per Apposition die Erläuterung «richesse culturelle» (z.B. Abs. 91) gestellt und damit unterstrichen, welcher Status den Regionalsprachen in Frankreich eingeräumt werden kann: der eines Kulturgutes. Damit wird zugleich eine weitergehende Bedeutung von Regionalsprache ausgeschlossen: die des Ausdrucksmittels einer Identifikationsgemeinschaft. Dies ist so wichtig, weil Frankreich in der Anerkennung von Sprachen als Elemente kollektiver Identitäten eine Komponente sieht, die durch die Definition eines spezifischen Gebietes ergänzt würde. Entsprechend kann Sprachenschutz weder mit der Identifizierung bestimmter Sprechergruppen einhergehen, noch mit der Definition von Sprachgebieten, deren Existenz zumindest staatstheoretisch in Frankreich explizit zu negieren ist. In diesem Sinne stellt Carcassonne in Ansicht der Ratifizierungsmodalitäten der Charta fest, dass diese in Artikel 3 die Angabe der zu schützenden Sprachen, nicht jedoch der Gebiete verlangt: «Ce paragraphe invite à spécifier des langues. Sagement, il s’abstient de l’exigence de leur tracer des territoires» (Abs. 165). In der Folge, so räumt Carcassonne ein, sei «la dimen-

|| 74 Eine solche interpretative Erklärung wurde tatsächlich zur Voraussetzung einer möglichen Ratifizierung gemacht, wie der Gesetzesentwurf für eine entsprechende Verfassungsänderung es vorsieht (cf. dazu Anm. 65).

6.4 Frankreich | 253

sion géographique» durchaus vielfältig im Text der Charta enthalten, nämlich «chaque fois qu’il est fait allusion au ‹territoire sur lequel ces langues sont pratiquées›» (ib.). Grob falsch ist allerdings Carcassonnes Auffassung, die Staaten seien «nullement sollicités d’indiquer, même sommairement, des lieux auxquels ces langues appartiendraient», ist in der Praxis doch das Gegenteil der Fall.75 Er sieht die französische Staatsphilosophie mit der Charta kompatibel und betont, der Geist der Charta «consiste à voir avant tout dans les langues régionales ou minoritaires une richesse culturelle, [elle] fait de celles-ci un élément du patrimoine» (Abs. 166). Nur unter diesen Bedingungen ist Sprachenschutz auch für Frankreich denkbar. Wiederum spezifisch französisch, doch im Kontext eines Europas der Regionen etwas merkwürdig mutet dagegen die Ergänzung an, «ce patrimoine est la propriété indivise de chaque nation, et non la propriété, fractionnée, de chaque langue au profit de ses seuls locuteurs qui n’en sont, si l’on peut dire, que les usufruitiers» (ib.). Während es gemeinhin durchaus üblich ist, Sprache nicht nur als Teil der Identität einer territorialisierten Gemeinschaft, sondern darüber hinaus auch als Teil der abstrakten Identität eines bestimmten Gebietes, das durch sie geprägt wird, anzusehen (cf. 5.2.2.1), kann die französische Auffassung gewissermaßen als Deterritorialisierung interpretiert werden: Sprachen werden abstrakt einem nationalen Kulturgut zugerechnet, das allen in gleicher Weise gehört und somit weder ein besonderes Charakteristikum einer Gruppe noch Teil der Identität einer bestimmten Region sein kann. Carcassonne betont dies explizit: «Dans cette perspective, si la France adhère à la Charte, ce ne sera pas, compte tenu des termes de celle-ci, pour protéger le patrimoine, par exemple, de l’Alsace, de la Bretagne, du Pays basque ou de la Polynésie, mais bien pour protéger […] le patrimoine linguistique de la France, à travers les différentes langues de la France» (Abs. 166).

Dass die einzelnen Sprachen faktisch nicht überall in gleicher Weise, sondern an bestimmten Orten gesprochen werden, kann freilich nicht negiert werden. So ginge es nicht darum, «de méconnaître l’évidence qui veut que les régions où une langue locale est couramment pratiquée seront plus promptes et plus motivées que d’autres» (Abs. 167), sondern es sei «légitime et nécessaire que les ré|| 75 Caracassonne betrachtet ausschließlich den Vertragstext, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass die Angabe der Gebiete, wo die angegebenen Sprachen «traditionell» verwendet werden («the parts of the territory of your country where the speakers of such language[s] reside», Council of Europe, Outline for Periodical Reports to be submitted by Contracting Parties, Strasbourg, 23.11.1998, , «About monitoring», letzter Zugriff: 24.09.2012), unmittelbar mit Beginn der Implementierung im ersten dem Europarat vorzulegenden Bericht verlangt wird.

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gions qui le souhaitent puissent consentir des efforts particuliers, imaginer des actions innovantes, consacrer des moyens à la vivification de ce patrimoine»; in gleichem Maße sei es jedoch symbolisch wie juristisch von Bedeutung, «que cette responsabilité demeure formellement celle de la Nation» (ib.). In diesem Sinne müsse Frankreich jedoch «toutes les langues de la France» (Abs. 168) schützen.

6.4.5 Sprachen ohne Gebiet? – Die langues de la France Wenn Frankreich keine Regionalsprachen als Sprachen bestimmter Gemeinschaften oder Minderheiten kennt, sondern nur abstrakt auf die gesamte Nation bezogene langues de la France, so sind die Träger dieser Sprachen wiederum keine Gruppen, sondern Bürger.76 Eine langue de la France kann somit nicht nach Kriterien der Autochthonie, also einer auf Historizität beruhenden Raumbindung, bestimmt werden, sondern kann nur an die Staatsbürgerschaft des Einzelnen gekoppelt sein. Der Jurist Carcassonne bietet daher die folgende Definition an: «toute langue historiquement et géographiquement pratiquée par des Français, […], est une langue de la France» (Abs. 174). Lokalisierbar sind Sprachen nach dieser staatsphilosophisch geprägten Auffassung ausschließlich in den Köpfen der Franzosen, nicht aber an bestimmten Orten: «En fait, la seule véritable localisation d’une langue, c’est le cerveau de quiconque la connaît, et elle bouge donc autant que lui. Or les Français ont beaucoup bougé en France, et le feront sans doute encore» (Abs. 8). Diese Ansicht verdeutlicht Carcassonne angesichts einer Realität, in der der Gebrauch bestimmter Sprachen mit bestimmten Gebieten assoziierbar ist, was seine Argumentation umso bizarrer erscheinen lässt: «Il ne s’agit naturellement pas de contester que l’on a plus de chance d’entendre parler alsacien, par exemple, en Alsace qu’en Provence, mais simplement de souligner que l’Al-

|| 76 Der Ausdruck «Regionalsprache» ist in Frankreich zwar gebräuchlich, doch wird eine geographische Definition vermieden. Der Ursprung liegt vermutlich in amtlichen Rundschreiben, Verwaltungsvorschriften und Gesetzestexten ab 1966, wie Bertile (2010, 71–74) belegt (cf. auch Viaut 2002). In der politischen Rede wird dagegen der Begriff der langue de (la) France vorgezogen (zu dem Begriff cf. auch Sibille 2010; 2013). In einem vom Linguisten Cerquiglini herausgegebenen Band mit dem Titel Les langues de France (2003) ist dies daran zu erkennen, dass in der Gliederung zwar «la langue officielle», «[l]es langues régionales» und «[l]es langues sans assise territoriale» (ib., 9) in Opposition zu einander gestellt werden, der Ausdruck langue régionale jedoch über die Kapitelbezeichnung «Langues régionales de France métropolitaine» innerhalb des Bandes keinerlei Erwähnung mehr findet.

6.4 Frankreich | 255

sace n’est pas plus propriétaire de cette langue qu’elle ne l’est de ceux qui la pratiquent» (Abs. 8).

Die Vorstellung von an bestimmte Gebiete angebundenen Sprachen wird von Carcassonne daher kategorisch abgelehnt: «La conception qui veut qu’une langue soit forcément liée à un sol et ne soit liée qu’à lui, peut être jugée à la fois erronée et dangereuse» (ib.). Diese Ablehnung entfaltet sich freilich erst innerhalb des hier skizzierten Kontextes des französischen Dogmatismus vollständig. Die «Gefahr», die von dieser Konzeption ausgeht, wird explizit genannt: «Car cette conception, celle d’une localisation régionale d’une langue, est également dangereuse en ceci qu’elle suggère qu’il y aurait une unité, bientôt une identité, entre ces trois notions qui doivent demeurer très distinctes, que sont un terroir, une langue et un peuple» (Abs. 9).

Die Verbindung von Gebiet, Sprache und Volk ist in Frankreich nur in Bezug auf die Nationalsprache, das Französische, möglich, deren Territorialität exklusiv sein muss. Während Carcassonne die Aufgabe oblag, ein juristisches Gutachten zur Kompatibilität der Charta mit der französischen Verfassung anzufertigen, wurde die darin bereits evozierte Aufgabe, eine Liste der zu schützenden Sprachen zu erstellen (cf. Abs. 168–179), dem Sprachwissenschaftler Bernard Cerquiglini übertragen. Cerquiglini knüpft in seinem Gutachten von 1999 explizit an Carcassonne an, indem er ihn vielfach zitiert und immer wieder betont, dass die Sprachen Frankreichs zum unteilbaren Kulturerbe der Nation gehören. Wie Carcassonne sieht er denn auch einen in der Charta vorliegenden Widerspruch zwischen der Idee eines sprachlichen Kulturerbes und der Vorstellung territorialer Sprachen: «Cette insistance sur la localisation géographique est fort explicite; elle va de pair avec l’idée d’enracinement historique; […]. Ce désir d’une assise géographique des langues régionales n’est pas sans contradiction avec l’intention culturelle que la Charte affiche».

Merkwürdig wirkt seine Rückführung der Vorstellung auf die deutsche Romantik, der die Idee einer «territorialisation systématique» entstamme und welche die Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts angeregt habe. Eine solche Territorialisierung sieht er nicht nur im Widerspruch mit dem Prinzip des nationalen Kulturerbes («le corse n’est pas propriété de la région de Corse, mais de la Nation»), sondern er sieht die Formulierung «territoire d’une langue» auch als wissenschaftlich problematisch an:

256 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

«Ceci ne peut désigner la zone dont la langue est issue: en remontant le cours de l’histoire, on constate que toutes les langues parlées en France ont une origine ‹étrangère›, – y compris le français, qui fut d’abord un créole de latin parlé importé en Gaule. La seule justification scientifique est d’ordre statistique, et de peu d’intérêt: elle revient à distinguer la zone qui, à l’heure actuelle, connaît le plus de locuteurs d’un parler donné».

Cerquiglini zieht daraus denselben Schluss wie der Jurist Carcassonne, «le vrai territoire d’une langue est le cerveau de ceux qui la parlent», um anzufügen, «la mobilité sociale contemporaine est telle que l’on parle les différentes langues ‹régionales› un peu partout. Le créole est une réalité linguistique bien vivante de la région parisienne». Damit wird deutlich, dass ein Konzept «Sprachgebiet» nach dem französischen Dogma mit allen auffindbaren Argumenten negiert wird. Einerseits wird das Kriterium der Autochthonie, das – wie gezeigt wurde – zeitlich betrachtet recht variabel anwendbar ist, dermaßen eng interpretiert, dass es schlicht unbrauchbar wird; andererseits wird auch das quantitative Kriterium, das in anderen Ländern maßgeblich herangezogen wurde (Belgien) oder wird (Schweiz), abgelehnt, als hätte die sozioökonomisch bedingte Binnenmigration Frankreich in ein einziges sprachverwirrtes Babel verwandelt. Cerquiglini zieht aus alledem ebenfalls den Schluss, dass die langues de la France nur als Kulturgut geschützt werden können; die mit einem umfangreichen Sprachenschutz verbundenen ökolinguistischen Maßnahmen, die mit einer gewissen Territorialisierung einhergehen (cf. 6.1), passen dazu freilich nicht: «Signant puis ratifiant la Charte, la République française aurait donc intérêt, dans sa déclaration, à insister sur la vocation culturelle de la Charte, en minorant la tendance à la territorialisation». Dass dies nur schwer möglich ist, mag erklären, warum eine Ratifizierung des Textes bislang (und endgültig?) abgelehnt wurde. Anders als Belgien, die Schweiz und Spanien erkennt Frankreich seine Regionalsprachen weder auf staatlicher Ebene noch auf regionaler oder lokaler Ebene als Amtssprachen an. Während schon die Anerkennung von Minderheiten, also auch von nicht-französischen Sprechergemeinschaften in Frankreich unmöglich ist, so ist auch die Gewährung weitreichender sprachpolitischer Kompetenzen an lokale Gebietskörperschaften, innerhalb derer eine Sprechergemeinschaft ihre Territorialität politisch-juristisch ausüben könnte, undenkbar. Die Anerkennung der Regionalsprachen durch ihre Berücksichtigung im Bildungssystem und ihre Festschreibung in der Verfassung könnten zwar als Fortschritt interpretiert werden, doch bedeutet die Deklarierung als «patrimoine de la France», wie auch die Argumentation von Carcassonne und Cerquiglini gezeigt hat, dass die Sprachen als «Besitz» der Nation und als nicht lokalisierbare Sprachen, die nur in den Köpfen ihrer (heute mobilen) Bürger («les Français») existieren, politisch deterri-

6.5 Schweiz | 257

torialisiert werden. Im Zusammenhang der französischen Staatsphilosophie kann diese Politik als Kunstgriff angesehen werden, weder Sprechergemeinschaften unter den französischen Bürgern, noch Sprachgebiete auf dem nationalen Hoheitsgebiet ausmachen zu müssen. Auf regionaler Ebene steht dieser nationalen Interpretation freilich eine Sicht auf die Realität entgegen, der zufolge die Regionalsprachen durchaus konstitutiver Teil der Identität bestimmter Regionen und ihrer Gemeinschaften darstellen. Besonders manifestiert sich dies etwa auf Korsika, in der Bretagne und im französischen Teil des Baskenlandes, wo Interessengruppen eine Kooffizialität ihrer jeweiligen Sprachen fordern. Während Korsika als Insel eine Identifizierung von Sprache und Gebiet leicht macht, verweisen die letztgenannten auf historische Regionen: «Dans les deux cas, en effet, la revendication linguistique est très souvent liée à la question territoriale, comme si le mouvement pour la défense de la langue était plus efficacement médiatisé par ceux qui veulent aussi la reconstitution d’un territoire historique, aux limites de l’ancien Duché de Bretagne et à la réunion des sept provinces basques» (Loyer 2007, 91).

Weniger stark fallen diese Forderungen in anderen Regionen aus: Im Falle des Elsass erklärt sich dies historisch, im Falle der «Okzitanie» gibt es geschichtlich betrachtet keine politische Einheit, auf die man sich berufen könnte. Sämtliche Forderungen und Gesetzesentwürfe, die eine Anerkennung als Amtssprache und somit ein Vordringen einer Regionalsprache in die politisch-juristisch sanktionierte Territorialität des Französischen vorsehen, scheitern spätestens am Verfassungsrat. Frankreich will seine Sprachen in der Form schützen, wie sie auch ihre Monumente pflegt: als patrimoine, das an die Geschichte erinnert. Ein umfangreiches Schutzprogramm wie das der Charta des Europarats, das bei den ökolinguistischen Bedingungen und vor allem dem öffentlichen Gebrauch der Sprachen ansetzt, passt dazu nicht.

6.5 Schweiz: Land «aux zones de diffusion traditionnelles des langues»6.5 Schweiz

«Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch» heißt es in Artikel 4 der schweizerischen Bundesverfassung von 1999, der damit bereits deutlich macht, dass die Schweiz keinen Nationalstaat französischen Zuschnitts darstellt. Das Land versteht sich als Konföderation aus weitgehend souveränen Kantonen. Neben der politischen Gliederung in Kantone teilt sich das Land in vier Sprachgebiete, die den oben genannten Landes-

258 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

sprachen entsprechen. «Diese Viersprachigkeit gehört seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unverrückbar zum Schweizer Selbstverständnis» (Lüdi/Werlen 2005, 7). So heißt es im ersten Bericht über die Anwendung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, den die Schweiz dem Europarat am 2. Dezember 1999 übermittelte,77 dass Artikel 4 der soeben verabschiedeten Verfassung «exprime que le quadrilinguisme est une caractéristique essentielle de la Suisse» (6).78 Wie im Folgenden noch im Einzelnen zu erläutern sein wird, stellt die Annahme, dass Sprachen und geographische Gegenden miteinander in Bezug stehen, im Rahmen dieser – wiederum ganz spezifischen – Staatsphilosophie eine Prämisse dar, die nicht einmal ansatzweise Anlass zu Zweifeln bietet. In diesem Sinne erläutert die Schweiz bezüglich der Auslegung von Artikel 4: «Il comporte également l’obligation implicite, pour la Confédération et les cantons, de prendre des mesures pour sauvegarder le quadrilinguisme de la Suisse». Was mit der Bewahrung der Viersprachigkeit gemeint ist, wird im Artikel 70 («Sprachen») ersichtlich, wenn Absatz 2 die Kantone dazu verpflichtet, «die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete [zu achten]» und «auf die angestammten sprachlichen Minderheiten [Rücksicht zu nehmen]». Diese Viersprachigkeit wird dabei nicht im Sinne einer vier- oder mehrsprachigen Gesamtbevölkerung konzipiert, sondern als das Miteinander von vier Sprechergemeinschaften, die einen Bund bilden. Absatz 3 desselben Artikels hebt dies hervor: «Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften». Die Schweiz gliedert sich demnach in vier Sprechergemeinschaften, denen konkrete geographische Gebiete nach dem Kriterium der Autochthonie zugeordnet werden können. Das somit in der Verfassung festgeschriebene Autochthonieprinzip manifestiert sich im deutschen Text bezogen auf die einzelnen Landesteile als «herkömmliche sprachliche Zusammensetzung», in der französischen, italienischen und rätoromanischen Fassung respektive als «répartition territoriale traditionnelle des langues», «composizione linguistica tradizionale» und «cumposiziun linguistica istorica». Unproblematisch ist nach der schweizerischen Rechtsauffassung auch der Begriff der Minderheit, der demselben Artikel zufolge auf Sprechergruppen zutrifft, die siedlungsgeographisch in einer anderssprachigen Umgebung situiert sind; auch hier wird Autochthonie als Prinzip zugrunde gelegt, wenn diese im Deutschen als «angestammt», im rätoromanischen als «tra-

|| 77 1. Staatenbericht der Schweiz, 02.12.1999, p. 6. 78 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [SR 101], Amtliche Sammlung des Bundesrechts (AS) 42, 26.10.1999, pp. 2556–2611.

6.5 Schweiz | 259

diziunalas» und in der französischen und italienischen Fassung jeweils explizit als «autochtones» bzw. «autoctone» bezeichnet werden. Sprachenrechtlich kombiniert die Schweiz das Personalitäts- mit dem Territorialitätsprinzip, wobei der Schwerpunkt, wie schon die Gliederung in Sprachgebiete zeigt, auf letzterem liegt. Doch zunächst zum Personalitätsprinzip: In der Verfassung wird dieses durch Artikel 18 garantiert. Demnach genießt jeder Bürger unabhängig des Sprachgebietes, in dem er sich befindet oder wohnhaft ist, «Sprachfreiheit»; die Schweiz erläutert dem Europarat die gültige Auslegung des Artikels wie folgt: «En tant que droit individuel, la liberté de la langue n’est toutefois pas limité à une aire géographique déterminée, mais elle appartient à toute personne où qu’elle se trouve. D’après la doctrine récente, la liberté de la langue a un contenu différent selon qu’elle s’applique aux relations entre particuliers ou aux rapports entre les particuliers et l’Etat».79

Diese betrifft also einerseits den privaten Sprachgebrauch, andererseits die Kommunikation mit den Bundesbehörden, die überall in allen vier Landessprachen gleichermaßen möglich ist. So legt Artikel 70,1 die Amtssprachen des Bundes als «Deutsch, Französisch und Italienisch» fest, ergänzt jedoch: «Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes». Anders verhält es sich dagegen bezüglich der Beziehungen zwischen Bürgern und kantonalen und kommunalen Behörden: Hier gilt das Territorialitätsprinzip in hierarchischer Weise: Kantone und Gemeinden sind in der Wahl ihrer Amtssprachen autonom und werden von Seiten des Bundes nur durch die o.g. Pflicht, die «herkömmliche sprachliche Zusammensetzung» zu berücksichtigen, eingeschränkt. Konkret heißt es zur territorialen Geltung der Sprachen seitens der Behörden: «Cette composition d’essence territoriale n’empêche évidemment pas l’usage d’une langue en dehors de sa zone de diffusion traditionnelle. Mais dans ce contexte, la langue ne bénéficie alors, en principe, d’aucun support juridique ou politique. A titre d’exemple, les italophones sont très nombreux à l’extérieur de leur propre région linguistique».80

Die Schweiz hat sich also bereits in ihrer Verfassung vollumfänglich der in den Kapiteln 4 und 5 beschriebenen Konzeptualisierung des Zusammenhangs von Sprache und geographischem Raum verschrieben: Sprachen werden mit konkreten Gebieten assoziiert, deren Zusammensetzung als historisch konstituiert betrachtet wird und sich an autochthone Siedlungsgemeinschaften knüpft. Ausge-

|| 79 1. Staatenbericht der Schweiz, 02.12.1999, p. 5. 80 1. Staatenbericht der Schweiz, 02.12.1999, p. 10.

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hend von den dargelegten rechtlichen Bestimmungen in der Verfassung soll im Folgenden untersucht werden, wie sich das Konzept «Sprachgebiet» einerseits entsprechend der schweizerischen Ausprägung in untergeordneten Gesetzen und in der konkreten Definition der Gebiete manifestiert und wie sich die Sprachenlandschaft andererseits diskursiv und in Bezug auf Markierung und Abgrenzung der einzelnen Sprachen konstituiert (6.5.1). Statik und Dynamik des schweizerischen Konzeptes werden daraufhin am Beispiel des Rätoromanischen dargestellt (6.5.2), bevor anhand eines Fallbeispiels, der Sprachenfragen der «Grenzstadt» Fribourg/Freiburg, gezeigt werden soll, wie sich die Territorialität der Sprechergemeinschaften konkret manifestiert (6.5.3).

6.5.1 Die territoriale Organisation der Viersprachigkeit in der Schweiz Das in der Schweiz zugrunde gelegte Konzept des Sprachgebiets lässt sich mit der belgischen Konzeption vergleichen, insofern dieses auf dem Autochthoniegedanken aufbaut und vorsieht, Sprechergemeinschaften durch politischjuristische Territorialität die notwendigen ökolinguistischen Bedingungen zur Bewahrung und Absicherung der eigenen sprachlichen Eigenheit zu bieten. Die Mehr- bzw. Viersprachigkeit der Schweiz artikuliert sich also wie in Belgien grundsätzlich in der Abgrenzung einsprachiger Gebiete, deren Homogenität und Grenzen entsprechend einer «ursprünglichen» Distribution der Gemeinschaften erhalten werden sollen. An dieser Sinngebung besteht wenig Zweifel, leitet sich das Territorialitätsprinzip doch – wie die Schweiz in ihrem Bericht an den Europarat erläutert – bereits aus der Statuierung der Landessprachen in der Verfassung (Art. 4) ab.81 Zur Interpretation des Artikels zitiert die Schweiz einen diesbezüglich eindeutigen Kommentar des Schweizer Juristen Giorgio Malinverni, der feststellt: «En vertu de ce principe, les cantons sont compétents pour adopter les mesures nécessaires pour sauvegarder l’homogénéité et l’étendue des territoires linguistiques de la Suisse».82 Dass es bei den Sprachgebieten der Schweiz darum geht, diese nach dem Bonmot «Die Schweiz ist mehrsprachig, die Schweizer sind es nicht» als möglichst homogen einsprachige Sprachräume zu erhalten

|| 81 Die Schweiz bezieht sich in ihrem ersten Staatenbericht noch auf den inhaltlich mit dem Artikel 4 der neuen Bundesverfassung identischen Artikel 116,1 der vor 1999 gültigen Bundesverfassung (Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874). 82 Malinverni, Giorgio, Commentaire de l’art. 116, in: Aubert, Jean-Francois, et al. (ed.), Commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 29 mai 1874, Basel/Zürich, 1987, zitiert nach: 1. Staatenbericht der Schweiz, p. 4.

6.5 Schweiz | 261

und mit den durch die politisch-juristische Territorialität gegebenen Mitteln den jeweiligen «Bestand» zu sichern, zeigt sich in zweierlei Hinsicht. Einerseits daran, dass die sog. «Ortssprachendichte», d.h. das Verhältnis zwischen Sprechern der (Amts-)Sprache des Ortes und Sprechern der anderen Landessprachen, statistisch genau beobachtet wird (cf. Lüdi/Werlen 2005, 13ss.); andererseits an der Tatsache, dass die Schweiz bemüht ist, «Allochthone» – ob sie nun aus anderen Teilen der Schweiz oder dem Ausland stammen – sprachlich zu integrieren und zu assimilieren. Zwar kann niemand verpflichtet werden, die Gebietssprache zu gebrauchen, doch kann gesetzlich sichergestellt werden, dass jeder Zugezogene zumindest die Voraussetzungen dazu erfüllt. So dekretiert etwa das Tessin,83 dass sowohl confederati als auch stranieri, die sich um die «cittadinanza cantonale e l’attinenza comunale» (Art. 1) bewerben, ein «esame orale sulle sue conoscenze della lingua italiana» (Art. 3)84 bestehen müssen. Grundsätzlich geht es wie in Belgien darum, durch das Territorialitätsprinzip die notwendigen ökolinguistischen Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, den Bewohnern einen sprachlichen espace vécu zu gewährleisten, in dem die ausschließliche Verwendung der «gebietseigenen» Sprache möglich und üblich ist, während Zugezogene möglichst bald integriert und schließlich assimiliert werden sollen. Dazu heißt es bei Lüdi/Werlen (2005, 32): «Es genügt, dass die Ortssprache ins sprachliche Repertoire aufgenommen wird. Dies beginnt in der Regel mit der Verwendung der Ortssprache am Arbeitsplatz, später wird die Ortssprache dann auch im privaten Umfeld gesprochen. […] Wenn keinerlei Spuren der Herkunftssprache mehr vorhanden sind, kann kaum mehr von ‹Integration› sondern muss wohl eher von ‹Assimilation› gesprochen werden».

Die spezifische Zuordnung der einzelnen Gemeinden zu den Sprachgebieten und damit die Festlegung der Sprachgrenzen ist dabei gleichwohl weniger rigide als in Belgien, sondern wird – wie in der Folge noch zu zeigen ist – zeitlich betrachtet dynamisch, d.h. regelmäßig neu geregelt.

|| 83 Regolamento della legge sulla cittadinanza ticinese e sull’attinenza comunale (RLCCit) del 10 ottobre 1995, Bollettino Ufficiale delle leggi e degli atti esecutivi del Cantone Ticino (BU), 01.01.1996. 84 Artikel 7 legt dies im Wortlaut auch für Ausländer fest, verlangt überdies aber Kenntnisse der «principi di civica, storia e geografia svizzere e ticinesi».

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6.5.1.1 Die territoriale Gebietsbezogenheit der Landessprachen und ihre Konstruktion Zunächst ist indessen die territoriale Organisation der schweizerischen Sprachenlandschaft nach dem Kriterium der Autochthonie von Relevanz. In Erläuterung der geographischen Distribution der geschützten Sprachen bzw. Sprecher gemäß dem Outline for Periodical Reports85 zur Charta gibt die Schweiz an, «[n]otre pays connaît en effet un établissement territorial des langues qui correspond aux zones de diffusion traditionnelles de ces langues»86, um die Sprachgeschichte unmittelbar mit der allgemeinen Siedlungs- und Herrschaftsgeschichte des Landes zu verknüpfen: «Cette situation est étroitement liée à l’histoire de la formation de la Suisse, dès le Moyen-Age, comme ligue de républiques urbaines et paysannes». Autochthonie und Siedlungsgeschichte können dem Konzept (cf. 4.2.2) entsprechend mit Gebietsaneignung und -anspruch gleichgesetzt werden, so ist in Bezug auf die Italienischsprecher von «leur propre», hinsichtlich der rätoromanischen Gemeinschaft von «sa propre région linguistique» die Rede – Sprechergemeinschaften und Gebiete werden also in einen engen Zusammenhang gestellt, der durch die Possessivpronomen sprachlich markant gemacht wird. Insofern ist es naheliegend, dass die Schweiz sich – ganz im Gegensatz zu Frankreich (cf. 6.4.5) – explizit zum «Geist» der Charta und über die allgemeine Referenz zum europäischen Kulturerbe hinaus auch konkret zu den historischen Traditionen der europäischen Regionen bekennt: «D’ailleurs, la définition adoptée par la Charte (‹langue pratiquée traditionnellement sur un territoire d’un Etat›) ainsi que la référence dans le Préambule aux ‹traditions historiques propres à chaque région d’Europe› recouvrent parfaitement la pratique suisse en matière de politique linguistique».87

Die Kantone der Schweiz können ebenso wie die Gemeinden Teil eines Sprachgebietes und damit einsprachig oder aber Teil mehrerer Sprachgebiete sein, da sich die Gebiete überschneiden und gerade in den Grenzgebieten «traditionell» Gruppen unterschiedlicher Sprechergemeinschaften leben. Der Reihung der (im Deutschen und Französischen auch alphabetischen) Nennung der Sprachen entspricht die zahlenmäßige Stärke der einzelnen Sprechergemeinschaften und flächenmäßige Größe ihrer Gebiete. Dies spiegelt sich in den Amtssprachen der Kantone wider: Während Deutsch, das von 65,6% der Bevölkerung als Hauptsprache angege-

|| 85 Cf. Anm. 75. 86 1. Staatenbericht der Schweiz, 02.12.1999, p. 10. 87 1. Staatenbericht der Schweiz, 02.12.1999, p. 11.

6.5 Schweiz | 263

ben wird,88 alleinige Amtssprache in 17 Kantonen ist, das Französische (22,8%) in vier Kantonen und drei Kantone beide Sprachen als Amtssprachen führen, ist das Italienische (8,4%) nur Amtssprache im Tessin und in Graubünden. Ausschließlich im letztgenannten ist auch das Rätoromanische Kantonalsprache, teilt sich diesen Status jedoch außer mit dem Italienischen auch mit dem Deutschen. In den Verfassungen der teilsouveränen Kantone wird der Zusammenhang von autochthonen Sprachen und einer gebietsspezifischen Identität mitunter noch deutlicher. Die Kantone verstehen sich als Nationen mit eigenem Volk und besonderen, gerade auch sprachlichen Traditionen, die es als solche zu erhalten gilt. So beginnt die Präambel der Kantonalverfassung Graubündens89 mit der Selbstreferenz «Wir, das Volk Graubündens» und verschreibt sich u.a. der Absicht, «die Dreisprachigkeit und kulturelle Vielfalt zu fördern und als Teil des geschichtlichen Erbes zu bewahren». Noch eindeutiger fällt die Verknüpfung in der Verfassung des einsprachigen Kantons Tessin aus: Hier bekennt sich das «popolo ticinese» in der Präambel zum «compito storico di interpretare la cultura italiana nella Confederazione elvetica» und bezeichnet sich in Artikel 1,1 selbst als «repubblica democratica di cultura e lingua italiana». Im ersten Staatenbericht der Schweiz erläutert das Tessin sein Selbstverständnis als italienische Republik und die Zugehörigkeit der eigenen Sprechergemeinschaft zur italienischen Sprach- und Kulturgemeinschaft: «Parallèlement à la mention de la forme démocratique et au renvoi à la langue italienne, en tant qu’élément qui caractérise notre Canton, on a aussi introduit une référence explicite à la culture italienne: le fait que le Canton du Tessin appartient non seulement à l’aire linguistique italienne, mais aussi à l’aire culturelle italienne est en effet un élément primordial de son histoire et une composante essentielle de son identité. Par ailleurs, cette claire référence à la langue et à la culture italiennes n’est pas une simple déclaration rhétorique, mais elle représente un important engagement que les autorités et le peuple tessinois doivent assumer, pour promouvoir toujours plus efficacement leur identité propre».90

Ähnlich wie das Arantal von Seiten der katalanischen Generalitat diskursiv in den größeren Rahmen eines okzitanischen Sprach- und Kulturraumes eingeschrieben wird, betont auch das Tessin seine Zugehörigkeit zum italophonen Raum. Die Beispiele Graubünden und Tessin zeigen, dass sich die sprachliche Territorialität

|| 88 Cf. den Zensus von 2000 (BfS 2003). 89 Verfassung des Kantons Graubunden vom 18. Mai 2003/14. September 2003 [SR 131.226], Bundesblatt (BBl.) 11, 23.03.2004, 1121–1141. 90 1. Staatenbericht der Schweiz, p. 36; meine Hervorhebung. Der Bericht zitiert dabei den Wortlaut des auf Artikel 1,1 bezogenen «Message du 20 décembre 1984 concernant la révision totale de la Constitution cantonale du 4 juillet 1830, au commentaire de cet article constitutionnel».

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in der Schweiz in besonderes expliziter Weise und auf allen Ebenen in der diskursiven Verknüpfung von autochthoner Gemeinschaft, kollektiver Identität und angeeignetem Raum manifestiert und sich daraus auch die Übertragung von der Sprache der Gemeinschaft zur «eigenen» Sprache des Gebietes ableitet. Solche Identitätskonstruktionen, die sich sprachlich, kulturell und damit gleichzeitig räumlich konstituieren, werden auch schulisch vermittelt, um sich auf diese Weise gesellschaftlich zu reproduzieren und zu aktualisieren. Die Schweiz tritt in diesem Bereich besonders hervor, da es hier darum geht, nicht nur die Kenntnis der eigenen Identität gegenüber ausländischen Alteritäten zu vermitteln, sondern schon die Schweizer Identität aus unterschiedlichen Sprechergruppen und Sprachgebieten besteht. Artikel 70,3 verpflichtet dazu Bund und Kantone, «die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften» zu fördern. Auch in diesem Punkt ist die Schweiz ganz auf der Linie der Politik des Europarats, dem es im Konzept eines friedlichen sprachlichen Miteinanders gerade um die gegenseitige Kenntnis von Sprache, Kultur und Geographie geht. So hatte der Sachverständigenausschuss die Wichtigkeit hervorgehoben, «to raise the awareness among the German-speaking population of Romansh and Italian in the Canton of Graubünden»91 und konstatiert in seinem Bericht von 2010 zufrieden: «In the field of education, Canton of Graubünden produced a new school book in 2008 on regional history and geography for the fourth to the sixth grades in the three official languages. The second volume of this publication will be printed in 2010. The book, whose use by schools is obligatory, deals with linguistic and cultural diversity in the canton and provides concrete examples».92

Gleiches gilt auch im Bereich der Medien: «Concerning the media, the Swiss Broadcasting Company SRG is charged to promote understanding and exchanges between the linguistic groups. In accordance with its license, the SRG broadcasts regional programmes which inform the German-speaking population about the other language areas».93

Schließlich wird die Verknüpfung von Gemeinschaften, Gebieten und Sprachen in der Schweiz auch kartographisch in den Blick genommen. Durch die zehnjährig aktualisierten Zensusdaten publiziert einerseits das Bundesamt für Statistik

|| 91 4. Evaluationsbericht zur Schweiz, 08.12.2010, Abs. 36. 92 4. Evaluationsbericht zur Schweiz, 08.12.2010, Abs. 38. 93 4. Evaluationsbericht zur Schweiz, 08.12.2010, Abs. 37.

6.5 Schweiz | 265

(BfS) regelmäßig zahlreiche sprachenthematische Karten, wie die folgende, auf dem Zensus von 2000 basierende Abbildung exemplarisch zeigt (Abb. 32):

Abb. 32: Sprachgebiete der Schweizer Landessprachen94

Andererseits werden auch von den Massenmedien immer wieder kartographische Adaptionen der geographiebezogenen Sprachendaten in Ergänzung ihrer Berichte und Artikel propagiert. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass den Sprechern die Vorstellung von den Verbreitungsgebieten der Sprachen stets präsent ist und eine ausgeprägte Kenntnis der gegenwärtigen Sprachenlandschaft vorliegt. Die Einteilung des Landes in vornehmlich einsprachige Sprachgebiete selbst ist freilich auch visuell in situ erfahrbar. Wie Kühebacher (1996, 1804–1806) darstellt, wird die Toponymie in der Schweiz in Übereinstimmung mit der übrigen Gesetzgebung territorial geregelt, wobei die jeweiligen geographischen Bezeichnungen dann für das gesamte Bundesgebiet offiziell gelten. In den einzelnen

|| 94 «Wohnbevölkerung nach Hauptsprache 2000: Landesprachen», Quelle: Lüdi, Georges/ Werlen, Iwar, Eidgenössische Volkszählung 2000. Sprachenlandschaft in der Schweiz, Neuchâtel, Bundesamt für Statistik, 2005, p. 12, Karte 1.

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Gebieten herrscht – außer in wenigen Gemeinden mit signifikanten sprachlichen Minderheiten – das Prinzip der Einnamigkeit: «Es gibt in der deutschen Schweiz nur deutsche, in der französischen nur französische, in der italienischen nur italienische und in der rätoromanischen weitgehend nur rätoromanische Namen» (Kühebacher 1996, 1805).

Amtlich gelten zudem nur «historisch gewachsene und im Sprachgebiet selbst übliche Namen» (ib.). Durch die Ortsnamen wird schließlich auch der Sprachgrenzverlauf «markiert». Was sich in der Toponymie zeigt, spiegelt sich auch im linguistic landscape wider: So übt das Tessin seine politisch-juristische Territorialität zugunsten des Italienischen aus, indem es den öffentlich sichtbaren Sprachgebrauch gesetzlich vorschreibt und genaue Angaben zu eventuell zusätzlich angebrachten Übersetzungen macht. In einem bis 2000 gültigen Gesetz von 1954 hieß es dazu zunächst: «Le insegne permanenti e non permanenti devono essere redatte in lingua italiana». «Alle insegne potrà essere aggiunta, in caratteri non superiori a quelli del testo, né più appariscenti, la traduzione in una o più lingue nazionali o straniere, presentata in guisa che manifesti sempre il carattere di traduzione».95

Gerade die Vorschriften zur Übersetzung zeigen, dass es hier um eine visuell sichtbare Unterscheidung zwischen «gebietseigener» und «fremden» Sprachen geht. Etwas abgeschwächt findet sich dieselbe Bestimmung im seit 2000 gültigen Gesetz wieder: «Le scritte pubblicitarie devono essere in lingua italiana. È ammessa la traduzione in altre lingue, purché non a caratteri superiori o più appariscenti» (meine Hervorhebung).96 Das Gesamtbild und die Beispiele machen deutlich, dass die geographische Räumlichkeit der Schweizer Landessprachen sich sowohl diskursiv und kartographisch als auch ganz konkret visuell manifestiert. Besondere Aufmerksamkeit verdient diesbezüglich auch das Gegenüber von gegenwartsbezogener, aktueller Präsenz der Sprachen, die sich etwa in der oben aufgeführten Karte im Dominanzverhältnis der Sprachen widerspiegelt, und der historischen Präsenz der Sprachen, d.h. ihrer traditionellen Gebietsbezogenheit.

|| 95 Legge sulle insegne e scritte destinate al pubblico del 29 marzo 1954, Art. 5 (meine Hervorhebung). 96 Legge sugli impianti pubblicitari del 28 febbraio 2000, Bollettino Ufficiale delle leggi e degli atti esecutivi del Cantone Ticino (BU), 01.10.2001, p. 170.

6.5 Schweiz | 267

6.5.1.2 Dynamische Sprachgebiete und «angestammte sprachliche Minderheiten» Wie bereits angesprochen, unterscheidet sich die schweizerische Anwendung des Territorialitätsprinzips gegenüber Belgien in dem Maße, in dem diese sich als dynamisch erweist: Während die Schweiz ebenfalls das Autochthonieprinzip zugrunde legt und eine Politik betreibt, welche die ursprüngliche geographische Verteilung und die ursprünglichen Grenzen zu erhalten versucht, geht es gerade nicht darum, einen einst gegebenen Zustand – in Belgien sind dies die sprachlichen Verhältnisse um 1960 – in Stein zu meißeln und die sich verändernde sprachliche Realität zugunsten einer juristisch definierten Idealsituation auszublenden. Die Dynamik der schweizerischen Sprachgebiete liegt einerseits darin begründet, dass die Gemeinden in der Wahl Ihrer Amtssprache(n) autonom sind und sich so – politisch betrachtet – dem einen oder anderen sprachlichen Territorium zuordnen können; andererseits werden die realen sprachlichen Gegebenheiten und mit ihnen auch die etwa aus sozioökonomischen Binnenmigrationen entstehenden Veränderungen mit berücksichtigt. Die Grundlage für die Bestimmung dieser Realität bilden die alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählungen und die Auswertungen durch das BfS. Fragen zum Sprachgebrauch ermöglichen die Zuordnung jedes Bürgers zu einer Hauptsprache, d.h. «die Sprache, in der die betreffende Person denkt und die sie am besten beherrscht» (BfS 2003, 7).97 Zu unterscheiden sind hier nun zwei verschiedene Definitionen von Sprachgebiet: Das politische Sprachgebiet umfasst die Gemeinden, in der eine Sprache politisch-juristische Geltung als Amtssprache genießt; das statistische Sprachgebiet entspricht dagegen den Gebieten, in denen eine Sprache quantitativ dominant ist, d.h. in dem eine Mehrheit der Bevölkerung die betroffene Sprache als Hauptsprache angegeben hat. Entsprechend ermittelt das BfS alle zehn Jahre die Umrisse der Sprachgebiete der schweizerischen Landessprachen neu. Diese sog. «Analyseregionen»98 definieren sich dann freilich nicht mehr am Kriterium der Autochthonie, sondern einzig nach der Frage, welche Sprache von der Bevölkerung einer Gemeinde «am häufigsten gesprochen wird» (Lüdi/Werlen 2005, 13), es geht also ausschließlich um

|| 97 Bis 1980 wurde die Bezeichnung Muttersprache verwendet, wie am selben Ort angegeben wird. 98 «Analyseregionen werden gebildet, weil wichtige räumlich-soziale Phänomene eines Landes und die daraus resultierenden regionalen Disparitäten durch die institutionellen und regionalpolitischen Gliederungen nicht optimal zum Ausdruck gebracht werden können» (BfS Internet). In diesem Sinne werden «Sprachgebiete» als «die älteste nicht-institutionelle Gliederung der Schweizer Statistik» angegeben.

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die gegenwärtige, nicht die historische Präsenz der Sprachen, die zu der «am stärksten fühlbaren [N.B.!] Unterteilung des Landes» (BfS Internet) führt: «Das BFS scheidet die Räume der Bevölkerung mit mehrheitlich deutscher, französischer, italienischer oder rätoromanischer Hauptsprache aus, wie sie sich durch die Resultate der Volkszählungen ergeben […]» (BfS Internet).

Die Gemeinden werden also entsprechend der «absolute[n] oder relative[n] Sprachmehrheit» (BfS 2003, 7) einem Sprachgebiet zugeteilt, was es analytisch ermöglicht, die Veränderung der schweizerischen Sprachenlandschaft in regelmäßigen Abständen nachzuvollziehen, manifestiert sie sich doch – unabhängig von Autochthonie und amtssprachlicher Geltung – im «Wechsel» der Gemeinden von einem zum anderen Sprachgebiet. Dies veranschaulichen Georges Lüdi und Iwar Werlen in einer Auswertung der Zensusdaten von 2000. Es komme vor, «dass Gemeinden nach den neuen Volkszählungsdaten wegen veränderter Einwohneroder Sprecherzahlen das Sprachgebiet wechseln. Nach den Daten der eidgenössischen Volkszählung 2000 hat die Tessiner Gemeinde Bosco-Gurin erstmals eine italienischsprachige Mehrheit. Sie wird also neu zum italienischen Sprachgebiet gezählt. Fünf rätoromanische Gemeinden […] zählen neu zum deutschen Sprachgebiet» (Lüdi/Werlen 2005, 13).99

Ohne die mit dem Verweis auf «rätoromanische Gemeinden» selbst evozierte historische Komponente anzusprechen, konstatieren Lüdi/Werlen, dass es so «in einigen wenigen Fällen zu einer Divergenz zwischen der politischen und der statistischen Definition der Sprachgebiete» (ib.) kommen könne. Daran anknüpfend stellt sich die Frage nach der sprachpolitischen Relevanz der durch Zensus erhobenen Daten und der daraus abgeleiteten analytischen Sprachgebiete: Inwiefern induziert die reale sprachliche Zusammensetzung der Gemeinden bzw. eine veränderte Mehrheitskonstellation Änderungen der Sprachgesetzgebung, d.h. insbesondere der Amts- und Schulsprachen? Diese Fragestellung betrifft vor allem die auf die Gesamtschweiz bezogenen Minderheitensprachen Italienisch und Rätoromanisch, ist jedoch auch in den Grenzzonen zwischen französischem und deutschem Sprachgebiet, wo sich diese Sprachen mitunter in Minderheitensituationen befinden, von konkreter Relevanz. Im Rahmen der Implementierung der Charta liegt hier aus diesem Grund auch ein besonderes Interesse seitens des Europarats, weshalb sich die politische und gesetzliche Sachlage anhand der Berichtszyklen nachvollziehen lässt (cf. Tacke 2012c). Hierbei geht es um die Umsetzung der den Kantonen in Artikel 70,2 der Verfassung auferlegten

|| 99 Zur Situation des Walserdeutschen in der Tessiner Gemeinde Bosco-Gurin cf. Stähli (2011), im Zusammenhang mit der Implementierung der Charta cf. Tacke (2012c, 277s.).

6.5 Schweiz | 269

Pflicht, bei der Bestimmung der Amtssprachen die «herkömmliche sprachliche Zusammensetzung Gebietszusammensetzung, sprachliche der Gebiete» zu achten und «auf die angestammten sprachlichen Minderheiten [Rücksicht zu nehmen]», welche sich unterhalb der eidgenössischen Verfassung wiederum in den Verfassungen einiger Kantone widerspiegelt. So etwa nahezu wortgleich in Artikel 6,2 der neuen Verfassung des offiziell zweisprachigen Kantons Fribourg/Freiburg von 2004, wozu in Absatz 3 präzisiert wird: «Die Amtssprache der Gemeinden ist Französisch oder Deutsch. In Gemeinden mit einer bedeutenden angestammten sprachlichen Minderheit können Französisch und Deutsch Amtssprachen sein».

Der Sachverständigenausschuss des Europarates (SVA) erfragte diesbezüglich,100 wie nach schweizerischer Rechtsauffassung «traditionell», «herkömmlich» bzw. «angestammt» definiert und was unter «bedeutende angestammte sprachliche Minderheit» verstanden werde. In ihrer Antwort erwähnen die Schweizer Behörden zwar einen konkrete Kriterien enthaltenden Vorschlag von 1993, dieser sei jedoch schon bei seiner Veröffentlichung abgelehnt worden.101 Das geltende Recht sieht keinerlei Präzisierung von Autochthonie oder notwendiger Sprecherdichte (Sprecheranteil/Bevölkerung einer Gemeinde) vor: «Aucune réglementation ne précise ce qu’on entend par là».102 Die Gründe werden im 4. Staatenbericht von 2009 genauer erläutert: «Au vu des rapports complexes qui règnent dans la zone de la frontière linguistique (allemand-français) et des diverses sensibilités, on a préféré renoncer à légiférer en la matière, à la demande aussi des présidents des communes concernées».103

Während der SVA des Europarats in seinen Evaluationsberichten von 2008 und 2010 eine genauere Definition offenbar für unabdingbar hält,104 übt er zugleich an der konkreten Festlegung von Prozentschwellen im Kanton Graubünden Kri-

|| 100 Addendum 1, 24.10.2006 (= Fragen an die Schweiz nach dem 3. Zyklus), Frage 4. 101 So wäre Autochthonie schon nach 20 Jahren Wohnhaftigkeit gegeben und sollte, je nach Sprecherzahl, bei unter 1000 Sprechern erst ab 35–40%, bei mehr als 5000 Sprechern hingegen schon ab 25% Bevölkerungsanteil einen amtssprachlichen Status der Minderheitensprache zur Folge haben. 102 Addendum 2, 26.01.2007 (= Antworten der Schweiz nach dem 3. Zyklus), Question 4, p. 3. 103 4. Staatenbericht der Schweiz, 04.12.2009, p. 50. 104 Im Bericht von 2008 heißt es: «The cantonal authorities have not yet implemented Article 6.3 as the definition of the concept of a ‹significant traditional linguistic minority› is pending» (3. Evaluationsbericht zur Schweiz, 12.03.2008, Abs. 12). Diese Beurteilung wird im Bericht von 2010 (4. Evaluationsbericht zur Schweiz, 08.12.2010, Abs. 28) beibehalten.

270 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

tik. Graubünden legt seit seinem Sprachgesetz von 2006 fest, dass eine Gemeinde – bezogen auf autochthone Sprechergruppen – ab einer Sprecherdichte von 40% als «einsprachig» zu betrachten ist und die Sprache als Amtssprache zu verwenden hat; ab mindestens 20% gelte eine Gemeinde als «mehrsprachig», weshalb die autochthone Minderheitensprache «in adäquatem Umfang» zu nutzen sei (cf. Abb. 34).105 Diese Einschränkung der Autonomie der Gemeinden von Seiten des Kantons betrifft in der Praxis ausschließlich den Status des Rätoromanischen, wie der SVA in seinem dritten Bericht feststellte (Abs. 26), um zugleich zu monieren, dass die angesetzten Prozentschwellen für den Schutz des Rätoromanischen zu hoch angesetzt seien und um zu betonen, dass die Charta «is based on flexibility rather than on rigid an partly arbitrary numerical requirements» (Abs. 27), was in einem gewissen Widerspruch zur Forderung nach genauen Definitionen im Kanton Fribourg/Freiburg gesehen werden kann.106 Unabhängig von der Festlegung genauer Definitionen in Fribourg/Freiburg und Graubünden handelt es sich offenkundig um Definitionen eines juristisch sanktionierten Konzeptes «Sprachgebiet», das die Kriterien Autochthonie und Sprecherdichte miteinander verknüpft: Eine Sprache wird dann zur Amtssprache eines Gebietes, (a) wenn sie/ihre Sprecher vor Ort «historisch präsent» ist/sind und (b) wenn die Sprecher im Gebiet einen bestimmten Anteil ausmachen, d.h. «aktuell präsent» sind. Die schweizerische Rechtslage entspricht damit erstaunlich genau den von der Charta vorgesehenen Kategorien zur Bestimmung der Gebiete, die konkrete sprachpolitische Maßnahmen rechtfertigen.107 Dies entspricht auch dem Prinzip der Autochthonie, da hier den Sprechern der Minderheitensprachen aufgrund ihrer Siedlungsgeschichte besondere Rechte in «ihrem» Gebiet zugestanden werden.

|| 105 Sprachengesetz des Kantons Graubünden (SpG) vom 19. Oktober 2006 [BR 492.100], Amtsblatt des Kantons Graubünden, 4014–4022; in Kraft seit 01.01.2008. 106 Graubünden verteidigt die Festlegungen gleichwohl als «une des innovations importantes de la loi» und unterstreicht, dass das Rätoromanische auch dadurch abgesichert werde, dass bei einem Absinken der Sprecherzahlen nur per Volksentscheid ein amtssprachlicher Statuswechsel («changement qui ferait d’une commune soit une entité bilingue, soit monolingue [allemande]») möglich sei (4. Staatenbericht der Schweiz, 04.12.2009, p. 71s.). 107 Den Zusammenhang zwischen der Definition des Konzepts «Sprachgebiet» in Abhängigkeit der Kategorie Sprecherdichte habe ich in Bezug auf den Text und die Anwendung der Charta bereits an anderer Stelle am Beispiel Südosteuropas genauer behandelt (cf. Tacke 2014a).

6.5 Schweiz | 271

6.5.2 Schwindende Sprecherdichte vs. statische Autochthonie: Rätoromanisch Wie sich die geographische Räumlichkeit zwischen dem dynamischen Konzept eines nach Sprecherdichte bzw. statistischer Dominanz bemessenen Sprachgebiets und der Territorialität einer autochthonen Sprechergemeinschaft konkret konfiguriert, kann im Folgenden am konkreten Beispiel des sowohl bezogen auf die Schweiz als auch auf das eigene «Stammland» Graubünden als Minderheitensprache zu definierenden Rätoromanischen, das dazu in Bezug auf seine Territorialität betrachtet werden soll.108 Das Rätoromanische gilt, anders als das ebenfalls als Minderheitensprache bezeichnete Italienische, als bedroht. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung der Schweiz gaben zuletzt nur noch 0,48%, dies sind 35.095 Einwohner, die Sprache als Hauptsprache an. Wirklich deutlich wird die Situation der Rätoromanen jedoch erst, wenn man die geographische Verteilung der Sprecher vor dem Hintergrund der eigentlich einsprachig konzipierten territorialen Organisation der Schweiz betrachtet. Den Daten des Zensus zufolge lebten im Jahr 2000 48,4% außerhalb des statistischen Sprachgebietes, d.h. des Gebietes, in dem Rätoromanisch von einer Mehrzahl der Wohnbevölkerung als Hauptsprache angegeben wurde. 25,5% leben in anderen Gebieten des Kantons Graubünden, die nicht oder nicht mehr zum Sprachgebiet gezählt werden. Die übrigen Rätoromanen leben in anderen Teilen der Schweiz und werden als «romanische Diaspora» bezeichnet; sie sei «im Wesentlichen das Ergebnis der Mobilität der Romanen» (Furer 2005, 63). Dies bedeutet, dass lediglich 51,6% der Sprecher in einem politisch wie statistisch rätoromanischem Gebiet leben, in dem auch ökolinguistisch betrachtet der Gebrauch der Sprache in allen Zusammenhängen möglich ist. Während die Sprecher in den anderen Teilen Graubündens mit dem Kanton in ihrer eigenen Sprache kommunizieren können und teilweise auch von Minderheitenregelungen ähnlich den «sprachlichen Erleichterungen» in der Brüsseler Peripherie profitieren, dürften die übrigen Sprecher ihre Sprache kaum bewahren können. In seiner Analyse der Situation des Rätoromanischen auf der Grundlage des Zensus und weiterer Daten unterscheidet Jean-Jacques Furer (2005, 59) sinnvollerweise zwischen einem «traditionell romanischsprachigen Gebiet (TR)» und der «statistische[n] Definition einer romanischen Sprachregion (RR)». Das traditionell romanischsprachige Gebiet ist einerseits das Gebiet, in dem die Sprecher der Sprache als «alteingesessen» gelten können, andererseits ist dieses wiederum

|| 108 Zur Umsetzung der Charta in der Schweiz im Allgemeinen cf. Tacke (2012c); zum Rätoromanischen cf. pp. 268–272.

272 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

auf diejenigen Gebiete beschränkt, in denen das Rätoromanische traditionell die dominante Sprache war, wofür der erste Schweizer Zensus von 1880 maßgeblich ist. Das traditionelle Sprachgebiet hat bei einer Sprache, die stetig an Sprechern verliert, freilich einen größeren Umfang als das statistische, weshalb letzteres «als jeweils stärkster Kern des TR» (ib.) verstanden werden kann (cf. Abb. 33).

Abb. 33: Das traditionelle Sprachgebiet des Rätoromanischen109

Aus einem zusammenhängenden Gebiet, das einstmals 120 Gemeinden umfasste, sind heute vier geographisch nicht mehr zusammenhängende Gebiete geworden, die statistisch betrachtet nur noch 66 Gemeinden zählen (cf. Furer 2005, 61). Das statistische Kriterium zur Bestimmung der Sprachgebiete fußt auf der Dominanz und damit der aktuellen Präsenz der Sprachen. In Bezug auf das Rätoromanische erlaubt die ständige Redimensionierung des «rätoromanischen Sprachgebiets» einerseits eine regelmäßige Messung der Lage des Rätoromanischen, wie Furer einräumt. Andererseits führt es zunehmend zu der Situation,

|| 109 Quelle: Furer, Jean-Jacques, Eidgenössische Volkszählung 2000. Die aktuelle Lage des Romanischen, Neuchâtel, Bundesamt für Statistik, 2005, p. 22, Karte 3.

6.5 Schweiz | 273

dass sich Teile der autochthonen rätoromanischen Bevölkerung, also der Sprecher innerhalb des traditionellen Sprachgebietes, außerhalb des vom BfS ermittelten Gebiet ihrer Sprache wiederfinden und folglich unter der Rubrik «Fremdsprachige» bzw. Sprecher der «anderen Landessprachen» geführt werden müssen (cf. Furer 2005, 59). Sie werden gewissermaßen zu «Fremden im eigenen Land». Bei einer stetig abnehmenden Sprecherzahl zeigt die regelmäßige Aktualisierung des statistischen Sprachgebietes die Tendenz zu einer zukünftigen Aufgabe des Rätoromanischen. Doch sind die sprachlichen Mehrheitsverhältnisse in den Gemeinden alleine nicht maßgeblich, will man die territoriale Raumgebundenheit des Rätoromanischen betrachten. Denn hier ist die historische Komponente zu berücksichtigen. In welchem Maße die historische Präsenz des Rätoromanischen weitgehend losgelöst von der ausschließlich aktuellen Präsenz der Sprache im konkreten Sprachgebrauch relevant ist und ein Gebiet auch über die statistische Zugehörigkeit zum Sprachgebiet hinaus als «rätoromanisch geprägt» gelten kann, lässt sich an einer Reihe von Indizien ablesen. Zunächst ist hier die toponymische Markierung des Gebietes zu nennen: Nachdem das Rätoromanische als Landessprache statuiert und der Förderbedarf erkannt wurde, hat man nach 1938 die deutschen Ortsnamen durch «die autochthonen rätoromanischen ersetzt» (Kühebacher 1996, 1805). Dass hier das Kriterium der Autochthonie im Vordergrund stand, sieht man auch daran, dass der Kanton dem Europarat gegenüber von Authentizität spricht: «Dans le canton des Grisons, bien des noms de localité d’arrondissements et de commune étaient naguère indiqués en allemand dans la région romanche. Les choses ont changé, de sorte que la majorité des arrondissements, communes et localités portent aujourd’hui leur nom authentique».110

Ein weiteres Indiz für die historische Dimension der sprachlichen Territorialität des Rätoromanischen liegt in der Frage der statuierten und verwendeten Amtssprachen. Mit seinem neuen Sprachengesetz von 2006111 legt der Kanton Graubünden in Artikel 16 fest, dass «Gemeinden mit einem Anteil von mindestens 40 Prozent von Angehörigen einer angestammten Sprachgemeinschaft» (Abs. 1) als «einsprachig» gelten, während eine Gemeinde mit einem Anteil von mindesten 20% als «mehrsprachig» gilt (Abs. 2). Die folgende schematische Darstellung (Abb. 34) verdeutlicht den Konstruktionscharakter dessen, was als «ein-» bzw. «mehrsprachig» gilt:

|| 110 1. Staatenbericht der Schweiz, 02.12.1999, p. 22; meine Hervorhebung. 111 Cf. Anm. 105.

274 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

Rätoromanisch «Hauptsprache» (% der Bev.)

sprachlicher Status der Gemeinde (Art. 16)

Amtssprachenregelung (Art. 17)

0 – 19,9

«deutschsprachig»



20 – 39,9

«mehrsprachig» (rätoromanisch/deutsch)

Rätoromanisch «in angemessener Weise» zu nutzen

≥ 40

«einsprachig» (rätoromanisch)

Rätoromanisch verpflichtend als Amtssprache zu gebrauchen

Abb. 34: Regelung der amtssprachlichen Geltung des Rätoromanischen112

Zukünftig, d.h. nach einer Übergangszeit, soll dies als spracherhaltende Maßnahme im Sinne der ökologischen Bedingungen zu Verpflichtungen in Bezug auf die ausschließliche oder kooffizielle Geltung der Gebietssprache als Amts- sowie Schulsprache führen. Bislang obliegt die Wahl der Amtssprache jedoch ausschließlich den lokal autonomen Gemeinden, weshalb sich in der folgenden Übersicht die Zahlen zum Anteil der Rätoromanischsprecher in den jeweiligen Gemeinden mit dem Amtssprachenstatus korrelieren lassen, um Rückschlüsse auf die Relevanz der «historischen Prägung» zu ziehen: Inwiefern behält das Rätoromanische seinen Status als Amtssprache auch in Gemeinden, in denen die rätoromanische Sprechergruppe in der Minderheit (d.h. unter 20%) ist? Inwiefern kann das Rätoromanische als Schulsprache das Erlernen der früheren Gebietssprache ermöglichen? In der dazu angeführten Auflistung (Abb. 35) führe ich sämtliche Gemeinden des traditionellen Sprachgebietes geordnet nach den Dialektgebieten von West nach Ost auf; weiß bleiben die Gemeinden, die als «deutschsprachig» (0–19,9% der Bevölkerung mit Rätoromanisch als «Hauptsprache») klassifiziert werden; hellgrau markiert sind die als «mehrsprachig» geltenden (20–39,9%) und dunkelgrau markiert die «einsprachig» rätoromanischen Gemeinden (≥ 40%). Zudem werden Amts- und Schulsprachen angegeben:

|| 112 Die Tabelle spiegelt die im Sprachengesetz des Kantons Graubünden (SpG) vom 19. Oktober 2006 kodifizierte Regelung wider.

Rätoromanisch «Hauptsprache» (% der Bev.)

Breil / Brigels

R

D, R

80,5

2

Disentis / Mustér

R

D, R

75,3

Amtssprache(n)

1

Gemeindename Deutsch/ Romanisch

Schulsprache(n)

6.5 Schweiz | 275

Dialekt: Sursilvan

3

Medel / (Lucmagn)

R

D, R

92,8

4

Schlans

R

D, R

81,5

5

Sumvitg

R

D, R

88,0

6

Tujetsch

R

D, R

66,2

7

Trun GR

R

D, R

79,0

8

Camuns

R

D, R

78,3

9

Cumbel

R

D, R

85,1

10

Duvin / (Duin)

R

D, R

48,8

11

Degen

R

D, R

73,7

12

Lumbrein

R

D, R

89,5

13

Morissen / (Murissen)

R

D, R

91,5

14

Pitasch

R

D, R

60,2

15

Riein

R

D, R

63,4

16

Surcasti

R

D, R

86,7

17

Tersnaus

R

D, R

74,3

18

Uors-Peiden

R

D, R

66,7

19

Vignogn

R

D, R

88,8

20

Vella

R

D, R

83,9

21

Andiast

R

D, R

85,8

22

Castrisch

R, D

D, R

48,5

23

Falera

R

D, R

67,5

24

Flond

R

D, R

50,8

25

Ilanz / (Glion)

D

D, R

29,9

26

Laax / (Lags)

R, D

D, R

40,1

27

Ladir

R, D

D, R

57,0

28

Luven

R

D, R

59,6

29

Pigniu

R

D, R

91,1

30

Rueun

R

D, R

72,0

31

Ruschein

R, D

D, R

69,4

32

Sagogn

R, D

D, R

57,1

33

Schluein

R

D, R

53,2

Gemeindename Deutsch/ Romanisch

Amtssprache(n)

Schulsprache(n)

Rätoromanisch «Hauptsprache» (% der Bev.)

276 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

34

Schnaus

R, D

D, R

45,5

35

Sevgein

R, D

D, R

59,6

36

Siat

R

D, R

82,5

37

Surcuolm

R

D, R

44,6

38

Vrin

R

D, R

95,6

39

Waltensburg / Vuorz

R

D, R

63,4

D

D

Dialekt: Sursilvan / Sutsilvan 40

Bonaduz / (Panaduz)

5,4

41

Domat / Ems

D

D, R

11,0

42

Rhäzüns / (Razén)

D

D, R

10,1

43

Trin

R, D

D, R

19,8

44

Flims / (Flem)

D

D, R

6,7

45

Almens / (Almen)

D

D

2,8

46

Feldis / Veulden

D

D

14,0

47

Fürstenau GR / (Farschno)

D

D

3,2

48

Paspels / (Pasqual)

D

D

3,7

49

Pratval

D

D

4,2

50

Rodels / (Roten)

D

D

3,9

51

Rothenbrunnen / (Givòlta)

D

D

7,6

52

Scharans / (Scharàns)

D

D

2,1

53

Scheid / (Sched)

D

D

19,4

54

Trans / (Tràn)

D

D

8,7

55

Tumegl / Tomils

D

D

4,0

56

Cazis / (Tgazas)

D

D

4,7

Dialekt: Sutsilvan

57

Flerden / (Flearda)

D

D

3,8

58

Portein / (Purtagn)

D

D

0,0

59

Präz / (Preaz)

D

D

2,8

60

Sarn

D

D

0,0

61

Tartar

D

D

0,6

62

Andeer

(R), D

D, R

9,1

63

Ausserferrera / (Farera)

D

D, R

2,1

64

Casti-Wergenstein / (Casti-Vargistagn)

R, D

D, R

55,4

65

Clugin / (Clugen)

D

D, R

3,0

Gemeindename Deutsch/ Romanisch

Amtssprache(n)

Schulsprache(n)

Rätoromanisch «Hauptsprache» (% der Bev.)

6.5 Schweiz | 277

66

Donath / (Donat)

R, D

D, R

56,4

67

Innerferrera / (Calantgil)

D

D, R

4,1

68

Lohn GR / (Lon)

R, D

D, R

52,0

69

Mathon GR / (Maton)

D

D, R

53,8

70

Patzen-Fardün / (Pazen-Farden)

R, D

D, R

48,4

71

Pignia

D

D, R

19,8

72

Zillis-Reischen / (Ziràn-Reschen)

D

D, R

12,7

51,0

Dialekt: Surmiran 73

Cunter

R

D, R

74

Bivio / (Beiva)

I

D, I

12,3

75

Marmorera / (Murmarera)

R, D

D, R

34,7

76

Mulegns

R

D, R

57,6

77

Riom-Parsonz

R

D, R

63,9

78

Salouf

R

D, R

77,6

79

Savognin / (Savognin / Suagnign)

R

D, R

53,1

80

Sur / (Sour)

R

D, R

75,3

81

Tinizong-Rona

R

D, R

50,1

82

Alvaneu / (Alvagni)

D

D, R

16,9

83

Alvaschein / (Alvaschagn)

R, D

D, R

40,3

84

Brienz / Brinzauls

D

D, R

31,6

85

Lantsch / Lenz

R

D, R

36,7

86

Mon

R

D, R

52,3

87

Stierva

R

D, R

66,4

88

Surava

D

D, R

10,8

89

Tiefencastel / (Casti)

R, D

D, R

37,8

90

Vaz / Obervaz

(R), D

D, R

9,0

91

Bergün / Bravuogn

D

D, R

10,6

92

Filisur

D

D

Dialekt: Surmiran / Putér 3,0

Dialekt: Putér 93

Bever GR

D

D, R

94

Celerina / Schlarigna

D

D, R

18,9 12,8

95

Madulain

D

D, R

22,2

96

Pontresina / (Puntraschigna)

D

D, R

7,9

Gemeindename Deutsch/ Romanisch

Amtssprache(n)

Schulsprache(n)

Rätoromanisch «Hauptsprache» (% der Bev.)

278 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

97

La Punt-Chamues-ch

R, D

D, R

20,6

98

Samedan

D

D, R

16,7

99

St. Moritz / (San Murezzan)

D

D, R

4,7

100

Schanf

R

D, R

51,8

101

Sils im Engadin / Segl

D

D, R

12,0

102

Silvaplana / (Silvaplauna)

R, D

D, R

10,6

103

Zuoz

R, (D)

D, R

25,8

73,8

Dialekt: Vallader 104

Ardez

R

D, R

105

Ftan

R

D, R

57,8

106

Guarda GR

R

D, R

62,5

107

Lavin

R

D, R

75,9

108

Ramosch

R

D, R

84,1

109

Scuol

R

D, R

49,4

110

Sent GR

R

D, R

68,3

111

Susch

R

D, R

65,3

112

Tarasp

R

D, R

38,4

113

Tschlin

R

D, R

71,4

114

Zernez

R

D, R

61,1

115

Fuldera

R

D, R

74,8

116



R

D, R

82,3

117

Müstair

R

D, R

72,9

118

Santa Maria Val Müstair

R

D, R

69,7

119

Tschierv

R

D, R

77,3

120

Valchava

R

D, R

80,7

Rätoromanisch «Hauptsprache» von 0–19,9% der Gemeindebevölkerung (Status: «deutschsprachig») Rätoromanisch «Hauptsprache» von 20–39,9% der Gemeindebevölkerung (Status: «mehrsprachig») Rätoromanisch «Hauptsprache» von mehr als 40% der Gemeindebevölkerung (Status: «einsprachig») Datengrundlage: Zensus 2000 Abb. 35: Gemeinden des traditionellen Sprachgebiets und heutiger Status

6.5 Schweiz | 279

Während der amtliche Gebrauch des Rätoromanischen nur in zwei Gemeinden mit weniger als 20% Rätoromanischsprecher vorgesehen ist, nämlich in Silvaplana (Nr. 102, 10,6%) und Trin (Nr. 43, 19,8%) sowie in zwei Gemeinden noch teilweise möglich ist (Vaz/Obervaz, Nr. 90, 9%; Andeer, Nr. 62, 9,1%), verwenden die übrigen Gemeinden ausschließlich das Deutsche (Bivio, Nr. 74, das Italienische). Bei der Wahl der Amtssprachen scheint das Kriterium der Autochthonie folglich nur eine geringe Rolle zu spielen. Anders sieht es diesbezüglich mit der – freilich im Kontext der Förderpolitik zu betrachtenden – Möglichkeit, das Rätoromanische in der Schule zu erlernen, aus:113 Immerhin 21 der 41 definitorisch weder «einsprachigen» noch «mehrsprachigen» Gemeinden bieten Rätoromanisch in der Schulbildung an. Hier spielt die Frage der «Angestammtheit» des Rätoromanischen offenbar eine größere Rolle. Bemerkenswert sind dabei einige Diskrepanzen: So liegt der Anteil der Rätoromanischsprecher in den Gemeinden, die die Sprache nicht anbieten, in den meisten Fällen deutlich unter 10 oder auch unter 5%. Ausnahmen sind hier Bivio mit einem Anteil von 12,3% (Nr. 74), Feldis/Veulden mit 14% (Nr. 46) sowie Scheid (Nr. 53), wo der Anteil sogar bei 19,4% liegt – die Minderheit und der historische Bezug zum Rätoromanischen werden ignoriert. Umgekehrt wird die Sprache aber in manchen Gemeinden mit sehr niedriger Sprecherdichte angeboten, so in den Gemeinden Innerferrera (Nr. 67) und Ausserferrera (Nr. 63) der Region Schons mit nur 4,1 bzw. 2,1% Bevölkerungsanteil. Schließlich sind die Ergebnisse der Umfragen hinzuzuziehen, die Furer 1992 und 2003 in Kooperation mit der rätoromanischen Organisation Lia Rumantscha durchgeführt hat (cf. Abb. 36). Dabei ging es darum, Informationen über den Gebrauch des Rätoromanischen sowie – und dies ist für die Frage der historischen Dimension der Territorialität besonders interessant – über die Bewertung des sprachlichen Charakters der eigenen Gemeinde zu befragen. Letztere wurde über die Frage «Wie betrachtet sich die Gemeinde sprachlich?» eruiert. Die Antworten zeigen, dass bei den Bewertungen die historische und die aktuelle Präsenz der Sprache gleichsam Faktoren sind. Furer (2005, 77) nennt dazu einige Beispiele, die auch für die hier behandelte Fragestellung sehr aussagekräftig sind: So bezeichnet sich die Gemeinde Tarasp (Nr. 112, 38,4%), die mehrheitlich eigentlich deutschsprachig ist (52,4%), als ausschließlich «romanisch». Ähnlich liegt der Fall in Laax (Nr. 26, 40,1%), das sich trotz deutschsprachiger Mehrheit als «romanisch mit mittlerer Zweisprachigkeit» betrachtet. Andersher-

|| 113 Ich blende dabei die unterschiedlichen Schultypen, die das Rätoromanische in unterschiedlichem Umfang integrieren, aus, wobei anzumerken ist, dass es keinen Schultyp gibt, der ausschließlich das Rätoromanische vorsieht, sondern immer auch auf Deutsch unterrichtet wird.

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um kann mit abnehmender Sprecherdichte die Eigenbewertung auch weniger stark in Bezug auf das Rätoromanische werden, wie Furer für zahlreiche sursilvanische und sutsilvanische Gemeinden feststellt, die sich nach 1993 «selbst einen ‹Punkt› weniger in ihrem Romanischsein» (ib.) gaben. Dass Gemeinden mit nur wenigen Sprechern des Rätoromanischen wie St. Moritz (Nr. 99, 4,7%), Surava (Nr. 88, 10,8%) und Flims (Nr. 44, 6,7%), die sich 1992 noch als ausschließlich «deutsch» bewertet hatten, 2003 wieder die Präsenz des Rätoromanischen wahrnahmen («deutsch mit mittlerer Präsenz des Romanischen»), zeigt überdies, welche Rolle Spracheinstellungen (attitudes) bei der Bewertung der «sprachlichen Charakteristik» eines Ortes spielen können und mag ein Indiz für die seither verstärkte Politik zugunsten der Minderheitensprachen seitens der Schweiz, des Kantons und der seit 1998 angewendeten Charta des Europarats sein.

Abb. 36: Bewertung des «sprachlichen Charakters» der Gemeinden114

Insgesamt stellt Furer (2005, 79) fest, dass das Romanische «dort, wo es noch stark präsent ist, vorsichtshalber [durch eine amtliche Einführung] gefestigt [wurde], während es dort, wo es bereits schwach ist, allmählich eliminiert wird». Wenn auch die aktuelle Präsenz der Sprache, also die Sprecherdichte und ihr

|| 114 Quelle: Furer, Jean-Jacques, Eidgenössische Volkszählung 2000. Die aktuelle Lage des Romanischen, Neuchâtel, Bundesamt für Statistik, 2005, p. 78, Karte 12.

6.5 Schweiz | 281

tatsächlicher Gebrauch, allmählich nachlässt, bleibt das Rätoromanische als «angestammte Sprache», wie es im Sprachengesetz Graubündens (s.o.) heißt, weiterhin präsent, um schließlich zu einem Element der Erinnerung und der Folklore zu werden. Furer (ib.) sieht diesen Punkt erreicht, wenn eine Gemeinde amtlich ausschließlich deutsch verfährt: «Ist schliesslich eine Gemeinde amtlich deutsch, so kann das Romanische an symbolischer Stelle (Strassenbezeichnungen, Briefkopf oder wo es für den Tourismus interessant ist) durchaus noch erscheinen».

Das Territorialitätsprinzip, das auch in der Schweiz dazu dient, Gebiete möglichst als einsprachige Schutzzonen voneinander abzugrenzen und auf diese Weise die notwendigen ökologischen Bedingungen zur «Bestandsicherung» zu bieten, greift in Bezug auf das Rätoromanische nur bedingt, da es keine Gebiete gibt, in denen es nicht in Konkurrenz zum überregional viel bedeutenderen Deutschen steht. In diesem Sinne sind die gesetzlichen Maßnahmen des Kantons, die Wahl der Amts- und Schulsprachen an Prozentschwellen zu knüpfen und bei nachlassender Sprecherdichte Statuswechsel («einsprachig» > «mehrsprachig» bzw. «mehrsprachig» > «deutschsprachig») nur infolge von Volksabstimmungen zuzulassen,115 als Versuche zu deuten, das autochthone Rätoromanische möglichst lange im öffentlichen Raum präsent zu halten und so seinen Gebrauch zu fördern.

6.5.3 Der Streit um die «terre bilingue»: Fribourg/Freiburg «Die Entkrampfung der Sprachenfrage» titelte ein NZZ-Artikel am 25. Oktober 2010 mit Bezug auf einen Sprachkonflikt,116 der vor allem das Miteinander von Frankophonen und Deutschsprachigen in der zweisprachigen Kantonshauptstadt Fribourg/Freiburg kennzeichnet. Anlass für die «Entkrampfung» war dabei die Tatsache, dass der Freiburger SBB-Bahnhof nach jahrelangem Bemühen zweisprachige Schilder erhalten hatte und fortan «Fribourg/Freiburg» anzeigt. Die Reaktionen auf die neue Beschilderung seitens der Deutschsprachigen zei-

|| 115 Cf. dazu die Bestimmungen des Sprachengesetztes (Anm. 105). Eine Diskussion der Prozentschwellen findet sich im Bericht des Sachverständigenausschusses des Europarats von 2008 (Abs. 26/27), eine Replik Graubündens im 4. Staatenbericht der Schweiz (2010), pp. 71s., 78s. 116 Büchi, Christophe, Entkrampfung in der Sprachenfrage, Neue Zürcher Zeitung, 25.10.2012, [letzter Zugriff: 01.06.2013].

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gen, welche Bedeutung dieser Schritt hat. Martin Tschopp, Präsident der sich für das Deutsche im Kanton Freiburg einsetzenden Deutschfreiburgischen Arbeitsgemeinschaft, wird von den Freiburger Nachrichten mit den Worten zitiert: «Dass der Bahnhof endlich auch auf Deutsch angeschrieben ist, zeigt, dass wir auf gutem Weg sind».117 Er schränkt jedoch ein: «Die Zweisprachigkeit [wurde] noch nicht realisiert. Wir Deutschfreiburger wollen ernst genommen werden». Während ein Gemeinderat von einer «grossen symbolischen Bedeutung» und eine Passantin von einem «Zeichen für die deutsche Sprache» sprechen, können andere die Aufregung nicht nachvollziehen. So verlautbart eine andere Reisende: «Ich glaube nicht, dass zweisprachige Schilder einen grossen Unterschied machen. Die Bezeichnung ‹Fribourg› versteht ja jeder Deutschschweizer». Bezogen auf die rein referentielle Funktion der Beschilderung hat diese Passantin freilich recht, doch manifestiert sich hier die Territorialität der Deutschsprachigen, die ihren Anspruch auf eine Stadt geltend machen, in der sie traditionell ansässig sind. Der Streit mit den Welschfreiburgern bietet insofern Anschauungsmaterial für den Konflikt zweier Territorialitäten, der sich fast ausschließlich auf der Ebene der Markierung des Raumes abspielt. Während die seit ihrer Gründung zweisprachige Stadt Fribourg/Freiburg etwa ab Beginn des 19. Jahrhunderts mehrheitlich französisch ist, machte die deutschsprachige Minderheit in der Stadt den Zensusdaten von 2000 zufolge immerhin einen Anteil von 29,2% gegenüber 63,3% Frankophonen aus. Gemäß der Politik des Bundes und des Kantons rechtfertigt dieses Verhältnis, Fribourg/ Freiburg als zweisprachige Stadt entsprechend zu kennzeichnen, was auf Gemeindeebene jedoch lange abgelehnt wurde. Die Ursache für diese ablehnende Haltung beschreibt Christophe Büchi wie folgt: «Das Hauptproblem lag darin, dass die Freiburger Sprachensituation eine Art ‹Umkehrfilm› der eidgenössischen Verhältnisse darstellt. Während auf nationaler Ebene die Deutschschweizer die grosse Mehrheit und die Romands die Minderheit bilden, ist es in Freiburg umgekehrt: Hier stellen die Welschen rund 70 Prozent, die Deutschsprachigen rund 30 Prozent der Bevölkerung. Dies hat zur Folge, dass in Freiburg beide Sprachgruppen das Gefühl haben, sich wehren zu müssen und der anderen Seite keine allzu grossen Konzessionen machen zu dürfen».118

|| 117 Dubois, Jessica, Mit den neuen Namensschildern ist der Freiburger Bahnhof nun zweisprachig, Freiburger Nachrichten, 21.08.2012, [letzter Zugriff: 01.06.2013]. 118 Cf. Anm. 116.

6.5 Schweiz | 283

Die Welschfreiburger lehnten es bis vor kurzem konsequent ab, in «ihrer» Stadt, deren Beschilderungen immerhin seit etwa 1839 beinahe ausschließlich französisch sind, deutschsprachige Markierungen zuzulassen. Altermatt (2005) zeichnet den Streit um die Beschilderungen nach: So forderte die deutschsprachige Minderheit seit Mitte des 20. Jahrhunderts, dass das Deutsche auf Beschilderungen berücksichtigt wird. Die seit jeher frankophon dominierte Stadtregierung reagierte darauf stets ausweichend, wie anhand eines Zeitungsartikels von 1982 nachvollzogen werden kann. Dort las man: «A Fribourg, le problème du bilinguisme n’existe pas, affirme quant à lui le syndic. [...] Les problèmes importants pour le magistrat radical sont d’ordre scolaire, culturel, de relation entre administration et administrés: mais pas l’appellation des rues en deux langues!»119

Das Territorialverhalten, dass sich in beiden Gemeinschaften manifestiert – in der offiziellen Politik der frankophon dominierten Gemeinde und in der Arbeit von Vereinen seitens der deutschsprachigen Minderheit – zielt darauf ab, den Raum sprachlich anzueignen, wobei es den Frankophonen um einen exklusiven Gebietsanspruch geht, während auf deutschsprachiger Seite nur eine Anerkennung ihres Gebietsanspruchs (Koexistenz) begründet durch ihre Angestammtheit angestrebt wird. Bisweilen manifestiert sich die Territorialität beider Gruppen auch in individuellen Aktionen. So dokumentiert Altermatt (2005, 72) den Fall Franz Aebischers, der 1986 das Schild «Place de l’Hôtel de ville» durch ein deutschsprachiges Schild mit der Aufschrift «Rathausplatz» ergänzte. Wie Aebischer selbst andernorts angibt,120 wurde das Schild zweimal in nächtlichen Aktionen wieder entfernt – die Exklusivität des Französischen gewissermaßen verteidigt –, von Aebischer jedoch immer wieder angeschraubt. Das Beispiel zeigt, dass die Frage der visuellen Sprachlichkeit eines Gebietes eine herausragende Rolle für die Mitglieder einer Sprechergemeinschaft haben kann und Nährboden für Konflikte bietet. In diesem Fall scheint der Konflikt abzuschwellen, da die deutschsprachige Minderheit zunehmend sichtbar und die Stadt zweisprachig markiert wird. Allerdings: Während die deutschsprachigen Artikel zum Thema vor allem die Anerkennung der Zweisprachigkeit fokus-

|| 119 Beaumont, Schoenberg ou Jolimont, La Liberté, 08.01.1982, p. 9, zitiert nach: Altermatt (2005, 71). 120 Sterchi, Beat, Dichter zwischen den Welten. «Wir kiä hie eifach zwüsche Stu und Bank», Reportagen aus der Schweiz und aus Spanien, [letzter Zugriff: 14.06.2013].

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sieren und als Fortschritt präsentieren, titelt die frankophone Tageszeitung Le Temps nüchtern: «Ce qu’il en coûte d’être bilingue à Fribourg».121 Wohl in keinem anderen Land ist die geographische Räumlichkeit von Sprache so fest verankert wie in der Schweiz. Die Annahme, dass sprachliche Territorialität gerade dann offensichtlich und bewusst erfahrbar wird, wenn mehrere Sprachen bzw. verschiedene Sprechergemeinschaften – ob nun friedlich oder in Konfliktsituationen – koexistieren und die Notwendigkeit besteht, diese Mehrsprachigkeit (rechtlich) zu organisieren, wird hier bestätigt. So spiegelt sich die verbreitete Auffassung, dass jede Sprache (lies: Sprechergemeinschaft) ein eigenes, ihr möglichst exklusives Gebiet benötigt, in der schweizerischen Anwendung des Territorialitätsprinzips wider. Dieses findet sich in der Verfassung und in allen ihr untergeordneten Ebenen des Schweizer Rechts bzw. in der Gesetzgebung der Kantone kodifiziert, nach welcher die Schweiz sich in Sprachgebiete gliedert. Der Anspruch auf sprachliche Rechte leitet sich im Schweizer Recht aus den Mehrheitsverhältnissen (Sprecherdichte) ab, welche die Zugehörigkeit einer Gemeinde zum einen oder anderen Sprachgebiet bestimmt. Wie selbstverständlich verleiht dagegen das Prinzip der Autochthonie, auf das in der Verfassung und in untergeordneten Texten explizit – d.h. mit den für die Einzelsprachen üblichen Ausdrücken (angestammt, fr. autochtone, it. autoctone, rätor. tradiziunal) – referiert wird, auch Minderheiten sprachliche Rechte. Der Fall des Rätoromanischen vermochte überdies zu zeigen, wie sich das Verhältnis zwischen der aktuellen Präsenz einer Sprache, abgeleitet aus der Sprecherdichte, und der historischen Präsenz einer Sprache in Bezug auf die Wahrnehmung eines Gebietes konfiguriert: So prägt – in der Wahrnehmung der Bewohner – das Rätoromanische auch heute noch Orte, in denen es mangels Sprechern bisweilen kaum noch verwendet wird, wenngleich das Fortbestehen einer solchen «Prägung» stark davon abhängig ist, in welchem Maße die rätoromanische Sprache als Teil des Kulturerbes bewahrt und letztlich erinnert wird. Hier konnte der Einfluss von sprachpolitischen Schutz- und Fördermaßnahmen nachvollziehbar gemacht werden, wenn man den Begriff der historischen Präsenz bzw. sprachlichen Prägung als einen Wert bestimmt, der sich konkret erfragen lässt. Die Ergebnisse der Umfragen von Furer und der Lia Rumantscha («Wie betrachtet sich die Gemeinde sprachlich?») ließen sich in diesem Sinne interpretieren, um nachzuweisen, dass in die Bewertungen nicht nur die konkrete Wahrnehmung realer Sprechereignisse (kognitive Ebene, cf. 3.2), sondern eben auch sprachliches bzw.

|| 121 Signorell, Mathieu, Ce qu’il en coûte d’être bilingue à Fribourg, Le Temps, 15.11.2012, [letzter Zugriff: 01.06.2013].

6.6 Spanien | 285

sprachtopographisches, geschichtliches und kulturelles Wissen mit eingehen, also insbesondere solche Wissensbestände, die durch Schulbildung und mediale Beeinflussung, etwa auch kartographische Darstellungen beeinflussbar sind und zur Konstruktion territorialer Raumgebundenheit beitragen. Dass Sprachkonflikte aus Territorialverhalten entstehen und erklärbar sind, konnte schließlich am Beispiel des Streits um die Einführung zweisprachiger Beschilderungen in Fribourg/Freiburg dargestellt werden.

6.6 Spanien: Politische Regionalisierung und sprachliche Territorialisierung6.6 Spanien

Gegenüber dem «Schweizer Modell» der Vielsprachigkeit präsentiert sich Spanien, geprägt durch die Koexistenz mehrerer historischer Sprachen sowie zahlreicher weiterer dialektaler Varietäten, die linguistisch als primäre und sekundäre Dialekte zu bewerten sind, deutlich weniger als harmonisches Miteinander, sondern vielerorts bisweilen als konfliktives Gegeneinander, das nur historisch erklärt werden kann. Der spanische Staat ist keine Konföderation verschiedener (Sprach-)Gemeinschaften, die sich als Bund zusammengeschlossen haben; vielmehr handelt es sich bei der heutigen staatlichen Organisation um die Fortsetzung eines monarchischen Modells, das sich seit dem Zusammenschluss Kastiliens mit der Krone von Aragón im 15./16. Jahrhundert und vor allem durch die Machtübernahme der Bourbonen in der Folge der Erbfolgekriege mit der Anwendung der Decretos de Nueva Planta zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Zentralstaat konstituiert hat. Als solcher wurde seither nicht auf Vielsprachigkeit, sondern auf Einsprachigkeit gesetzt, bei der das Spanische bzw. Kastilische als Sprache des Staates in allen Landesteilen durchgesetzt wurde. Infolge der politisch radikalsten Umsetzung dieser Einsprachigkeitspolitik unter der Diktatur Francisco Francos (1939–1975) wird der mehrsprachigen Realität in den Regionen der sog. nacionalidades históricas erst seit dem Übergang zur Demokratie (Transición, 1975–1978) politisch und rechtlich Rechnung getragen, indem es den Provinzen ermöglicht wurde, Autonome Gemeinschaften zu bilden bzw. sich als solche zusammenzuschließen. Die in der spanischen Verfassung von 1978 und in den Autonomiestatuten verbriefte politische Autonomie der Regionen bildet seitdem die rechtliche Grundlage, die regionale Mehr- bzw. (meist) Zweisprachigkeit in allen Bereichen, die der öffentlichen Regulierung unterliegen, zu etablieren und zu fördern. Aufgrund der langen Geschichte der Unterdrückung der nichtkastilischen Sprachen sind die seither initiierten Sprachenpolitiken jedoch oftmals durch Auseinandersetzungen geprägt, die ich als «Konflikt der Territorialitäten» bezeichne.

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Die Mehrsprachigkeit wird im Spanien der Gegenwart strikt nach dem Territorialitätsprinzip organisiert.122 Während die Staatssprache, das Kastilische, auf dem gesamten Hoheitsgebiet den Status als Amtssprache innehat, können die Sprachen der nacionalidades históricas ausschließlich in den Regionen, in denen diese traditionell gesprochen werden, als zweite Amtssprache gelten, sofern dies in den jeweiligen Autonomiestatuten bestimmt wird. Die spanische Verfassung123 formuliert dies mit Blick auf diese Gemeinschaften umsichtig, denn anders als in Frankreich ist es nicht möglich, von einer homogenen, aus Gleichen bestehenden nación auszugehen.124 Stattdessen konzipiert sich Spanien als nación de nacionalidades, also als Vielvölkerstaat, der versucht, das Prinzip einer spanischen Nation mit dem von historisch gewachsenen kollektiven Identitäten zu verknüpfen. Das Individuum kann dieser Konzeption zufolge gleichzeitig Spanier und Baske, Galicier, Katalane, Valencianer, Baleare etc. sein (cf. dazu Lebsanft 2000, 653–655). Bezogen auf den Status der Sprachen, die nun alle als «spanische Sprachen» (auf den Begriff der Nationalsprache wird verzichtet) bezeichnet werden, heißt es unter Artikel 3 der Verfassung: «1.

El castellano es la lengua española oficial del Estado. Todos los españoles tienen el deber de conocerla y el derecho a usarla.

«2.

Las demás lenguas españolas serán también oficiales en las respectivas Comunidades Autónomas de acuerdo con sus Estatutos.

«3.

La riqueza de las distintas modalidades lingüísticas de España es un patrimonio cultural que será objeto de especial respeto y protección».

|| 122 In der Präambel des Gesetzes zur Einsetzung eines «Rates der Amtssprachen» heißt es dazu: «El establecimiento por la Constitución del carácter oficial de las lenguas de las comunidades autónomas, junto con el castellano, lengua oficial del Estado, en los respectivos territorios de aquéllas se ha vinculado, en la interpretación realizada por el Tribunal Constitucional, a lo que se conoce como principio de territorialidad de su carácter oficial (Real Decreto 905/2007, de 6 de julio, por el que se crean el Consejo de las Lenguas Oficiales en la Administración General del Estado y la Oficina para las Lenguas Oficiales, Boletín Oficial del Estado, Nr. 172, 19.07.2007, 31373–31375)». 123 Constitución Española, Boletín Oficial del Estado, Nr. 311, 29.12.1978, 29313–29424. 124 Gleichwohl wird auch die spanische Nation als unteilbar definiert, nämlich, wie Lebsanft (2000, 655) unterstreicht, als eine «Gemeinschaft, die sich in dem Willen manifestiert, ihr Zusammenleben nach den Grundsätzen der bürgerlichen Demokratie zu regeln. Das ‹allen Spaniern gemeinsame und unteilbare Vaterland› (‹patria común e indivisible de todos los españoles›, Artikel 2) wird gerade nicht im Rückgriff auf die gemeinsame Geschichte und Kultur definiert, wenn auch geschichtliche Kontinuität in der Person des Staatschefs, des Bourbonen Juan Carlos 1., als dem ‹legitimen Erben der historischen Dynastie› (‹legítimo heredero de la dinastía histórica›, Artikel 57) gewahrt ist».

6.6 Spanien | 287

Dass die «weiteren spanischen Sprachen», bei denen es sich um das Baskische, das Galicische, das Katalanische/Valencianische sowie seit kurzem um das Aranesische handelt,125 nicht explizit genannt werden, gilt dabei als Kunstgriff, da es den Autonomen Gemeinschaften eine offene Auslegung und eigene Definition ermöglicht sowie potentiellen Konflikten (z.B. der Frage Katalanisch oder Valencianisch?) aus dem Weg geht. Die Umsetzung der Bestimmungen in Absatz 3, der lange Zeit kaum mehr als Symbolcharakter hatte, nimmt wohl erst durch die Anwendung der 1992 unterzeichneten, aber in Spanien erst 2001 ratifizierten und in Kraft getretenen Charta konkretere Formen an.126 Nachstehend soll zunächst dargelegt werden, inwiefern die sprachliche Vielfalt Spaniens diskursiv bzw. in politisch-juristischen Dokumenten mit dem geographischen Raum verknüpft wird und auf welchen Prämissen die Sprachgebietskonzepte dabei basieren (6.6.1). In Abschnitt 6.6.2 sollen daraufhin die Reterritorialisierungsprozesse, vor allem in Bezug auf die Markierung des Raumes, gezeigt werden, die seit dem Übergang zur Demokratie aus den Verbreitungsgebieten der Regionalsprachen erfahrbare Sprachgebiete gemacht haben. Schließlich soll dargestellt werden, wie das Streben nach der Exklusivität des Raumbezuges insbesondere in Katalonien zu einem Sprachkonflikt auf politischjuristischer Ebene geführt hat (6.6.3).

6.6.1 Die Raumbezogenheit der spanischen Sprachen Die Frage, wie sich sprachliche Territorialität in Spanien manifestiert und nach welchen Prinzipien Sprachgebietskonzepte konfiguriert werden, ist auf der Ebene der Regionen zu beantworten, also dort, wo die Territorialität der Regionalsprachen gegenüber der von allen Bürgern beherrschten und überall geltenden Staatssprache ausgehandelt wird. Die oben geschilderte politische Organisation des Staates in Autonome Gemeinschaften, ähnlich, wenn auch nicht identisch mit dem Konzept eines Föderalstaates, ermöglicht es, die diskursive Konstruktion (regional-)sprachlicher Territorialität ganz explizit anhand der einzelnen Autonomiestatute nachzuvollziehen. Dabei geht es in sämtlichen Statuten zunächst um eine generelle Abgrenzung der Sprachen: Während das Kastilische die Staatssprache bzw. «offizielle» Sprache bildet, werden die jeweiligen Regionalsprachen als «eigene» Sprachen benannt. Im Folgenden soll daher in einem

|| 125 Zum Hintergrund der Erklärung des Aranesischen als Amtssprache Kataloniens im Jahr 2006 cf. Tacke (2012d, 342–344). 126 Cf. dazu meine ausführliche Analyse in Tacke (2012d).

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ersten Schritt das Konzept der «eigenen Sprache» erläutert werden (6.6.1.1), um daraufhin durch eine Analyse der Autonomiestatute zu zeigen, wie sprachliche Territorialität auf politischer Ebene diskursiv konstituiert wird (6.6.1.2). In Abschnitt 6.6.1.3 geht es um die Rolle des Autochthonieprinzips bei der Konstitution sprachlicher Gebietsbezogenheit.

6.6.1.1 Identität vs. Alterität: Das Konzept der «llengua pròpia» Da es die Verfassung erlaubt, auf der Ebene der Autonomen Gemeinschaften neben dem Kastilischen weitere Amtssprachen zu gebrauchen, obliegt es den «historischen Nationalitäten», dies in ihren Autonomiestatuten zu bestimmen und entsprechend in die Tat umzusetzen. Um jedoch die Differenz deutlich zu machen, die zwischen der dominanten Staatssprache und der regionalen, mit der eigenen nacionalidad verknüpften Sprache hinsichtlich des Gebietsbezuges besteht, wurde – ausgehend von Katalonien – das Konzept der «eigenen Sprache» (llengua pròpia) entwickelt. Die Evozierung des «Eigenen» erschafft dabei gewissermaßen die Abgrenzung vom «Fremden», das wiederum nicht mehr explizit ausgedrückt werden muss. So entspricht die «eigene Sprache» der kollektiven Identität der Gemeinschaft, die mittels ihrer Statuten eine eigene, autonome Gebietskörperschaft etabliert. Die Staatssprache, die in den Regelungen bezüglich der Amtssprachen (s.u.) stets zu nennen ist, wird dadurch implizit zur «fremden» Sprache, zur Sprache einer Alterität gemacht. Dies hat auch zur Folge, dass «in Spanien Nationalität und Sprache in einem weit engeren Zusammenhang als Nation und Sprache [stehen]» (Lebsanft 2000, 656). Während der Ausdruck eigene Sprache grundsätzlich in vielen Kontexten auch außerhalb Spaniens verwendet wird, hat seine konsequente Verwendung in den politischen Diskursen und in sämtlichen Rechtstexten auf regionaler und bisweilen auch staatlicher Ebene aus ihm ein festes Konzept geschmiedet, das in Spanien heute als etabliert gelten kann und darüber hinaus auch auf sprachpolitische Diskurse und Regionalsprachenpolitik außerhalb Spaniens Einfluss ausübt (cf. Viaut 2004).

6.6.1.2 Die territoriale Gebietsbezogenheit der spanischen Regionalsprachen Wie wird nun auf rechtlicher Ebene der Gebietsbezug zwischen den Regionen und den jeweiligen Regionalsprachen hergestellt? Dazu werden zunächst Bestimmungen hinsichtlich der Regionalsprachen betrachtet, die gemäß Artikel 3,2 der Verfassung den Status einer Amtssprache innehaben, um in der Folge auch die weiteren Sprachen und «sprachlichen Modalitäten» zu berücksichtigen, die laut Artikel 3,3 zu schützen sind.

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Am deutlichsten wird der Gebietsbezug heute im katalanischen Autonomiestatut von 2006 formuliert.127 Dort heißt es zunächst in Artikel 6, Absatz 1, «La llengua pròpia de Catalunya és el català», bevor der Status als Amtssprache («llengua oficial de Catalunya») in Absatz 2 bestimmt wird. Detaillierter wird der Gebietsbezug des Katalanischen jedoch im Sprachgesetz von 1998 dargelegt.128 Diesem zufolge stellt das Katalanische «un element fonamental de la formació i la personalitat nacional de Catalunya» (Präambel) dar und steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gebiet: «ha estat el testimoni de fidelitat del poble català envers la seva terra i la seva cultura específica». An dieser Konstruktion orientiert sich offenbar auch das 2007 reformierte Statut der Balearen, in welchem das Katalanische ebenfalls zur «eigenen» Sprache erklärt wird (Art. 4,1) und in dessen Präambel es heißt: «La llengua catalana, pròpia de les Illes Balears, i la nostra cultura i tradicions són uns elements identificadors de la nostra societat i, en conseqüència, són elements vertebradors de la nostra identitat».129 Der Begriff der «eigenen» Sprache findet sich auch in den meisten der übrigen Autonomiestatuten. Im bislang nicht reformierten Statut des Baskenlandes findet sich bereits seit 1979 der Verweis auf das Baskische (el euskera) als «lengua propia del Pueblo Vasco» (Art. 6,2), womit zunächst die Verknüpfung mit der Siedlungsgemeinschaft gemeint ist; erst in Absatz 5 wird auch der Zusammenhang mit dem Boden hergestellt: «Por ser el euskera patrimonio de otros territorios vascos y comunidades […]».130 Das benachbarte Navarra erklärt das Baskische dagegen erst in einem Sprachgesetz vom 15.12.1986 (Ley Foral del Vascuence) und dabei gemeinsam mit dem Kastilischen zur eigenen Sprache («El castellano y el vascuence son lenguas propias de Navarra», Art. 2), da es dort nur von einer Minderheit gesprochen wird.131 In den Autonomiestatuten Galiciens und Valencias heißt es schlicht: «La lengua propia de Galicia es el gallego» (Art. 5) bzw. «La lengua propia de la Comunitat Valenciana es el valenciano»

|| 127 Ley Orgánica 6/2006, de 19 de julio, de reforma del Estatuto de Autonomía de Cataluña, Boletín Oficial del Estado, Nr. 172, 20.07.2006, 27269–27310. 128 Llei 1/1998, de 7 de gener, de política lingüística, Diari Oficial de la Generalitat de Catalunya, Nr. 2553, 09.01.1998. 129 Ley Orgánica 1/2007, de 28 de febrero, de reforma del Estatuto de Autonomía de las Illes Balears, Boletín Oficial del Estado, Nr. 52, 01.03.2007, 8703–8728. 130 Ley Orgánica 3/1979, de 18 de diciembre, de Estatuto de Autonomía para el País Vasco, Boletín Oficial del Estado, Nr. 306, 22.12.1979, 29357–29363. 131 Ley Foral 18/1986, de 15 de diciembre del vascuence, Boletín Oficial de Navarra, Nr. 154, 17.12.1986.

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(Art. 6).132 Seit der Reform des katalanischen Autonomiestatuts im Jahr 2006 hat auch das Aranesische, trotz seiner nur 8.000 Sprecher den Status einer Amtssprache, der in der Theorie ganz Katalonien betrifft, in der Praxis jedoch vor allem im Arantal gilt. Im Statut wird das Aranesische als «eigene» Sprache des Arantals bezeichnet («és la llengua pròpia d’aquest territori», Art. 6,5) und zugleich mit der Geschichte, Kultur und Geographie der Okzitanen in einen Zusammenhang gestellt: «l’Aran com una realitat occitana dotada d’identitat cultural, històrica, geogràfica i lingüística, defensada pels aranesos al llarg dels segles». Darüber hinaus wird die Verknüpfung auch im Gesetz über das Aranesische von 2010 diskursiv konstruiert, ist hier doch von der «identitat lingüística de l’Aran» (Präambel) die Rede, wobei das Aranesische ein «element fonamental de la identitat pròpia de l’Aran» bilde.133 Grundsätzlich wird der Gebietsbezug der hier genannten «eigenen» Sprachen jeweils nicht näher definiert oder eingegrenzt, da sie zugleich als Amtssprachen auf dem gesamten Territorium der Autonomen Gemeinschaften gelten. Die politisch-juristische Territorialität steht dabei klar im Vordergrund, die Frage nach der realen geographischen Distribution der Sprecher stellt sich insofern nicht. Etwas anders ist die Sachlage nur in Navarra und in Valencia, da dort das Baskische bzw. Katalanische schon historisch betrachtet nur in Teilen der Regionen verwendet werden. Navarra definiert in Artikel 5 seines Sprachgesetzes daher drei «Zonen», die sich an der «realidad sociolingüística» (Abs. 3) orientieren sollen.134 Dort heißt es: «A los efectos de esta Ley Foral, Navarra tiene: a) Una zona vascófona […]. b) Una zona mixta […]. c) Una zona no vascófona». Im Sinne einer politisch-juristischen Sprachgebietskonstitution werden diesen Zonen Gemeinden zugeordnet. Als problematisch hat sich dabei erwiesen, dass viele Sprecher aus sozioökonomischen Gründen den Norden (Zone A), in dem sie aufgrund ihrer Autochthonie volle Rechte erhalten, verlassen und nach Pamplona ziehen, das in Zone B liegt, wo sie nur noch eingeschränkte Rechte genießen. Trotz der Kritik, die der Europarat im Zuge der Anwendung der Charta in Spanien

|| 132 Ley Orgánica 1/1981, de 6 de abril, Estatuto de Autonomía de Galicia, Boletín Oficial del Estado, Nr. 101, 28.04.1981, 8997–9003; Ley Orgánica 5/1982, de 1 de julio, de Estatuto de Autonomía de la Comunidad Valenciana, Boletín Oficial del Estado, Nr. 164, 10.07.1982, 18813– 18820. 133 Llei 35/2010, de l’1 d’octubre, de l’occità, aranès a l’Aran, Diari Oficial de la Generalitat de Catalunya, Nr. 5745, 29.10.2010, 79058–79085. 134 Ley Foral 18/1986, de 15 de diciembre del vascuence, Boletín Oficial de Navarra, Nr. 154, 17.12.1986.

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seit Jahren an dieser Einteilung äußert,135 haben sich die Behörden bislang geweigert, die Statik der geltenden Gebietseinteilung der Dynamik der mobilen Sprechergemeinschaft anzupassen. Valencia gibt bereits in seinem Autonomiestatut an, dass die amtssprachliche Geltung des Valencianischen nicht auf dem gesamten Gebiet gleichermaßen gilt, sondern sprachgeographisch differenziert wird. Als Kriterium wird ebenfalls die soziolinguistische Realität herangezogen, wie Artikel 6,7 zeigt, in dem von «territorios en los que predomine el uso de una u otra lengua» die Rede ist. Der Gebietsbezug der spanischen Regionalsprachen stellt sich insgesamt statischer dar, als dies etwa in der Schweiz der Fall ist. Während die autonomen Gebietskörperschaften jeweils eine amtssprachliche Geltung ihrer Regionalsprachen etablieren und Maßnahmen zur Förderung ihres Gebrauchs ergreifen, endet die statische politisch-juristische Territorialität an den Grenzen der Autonomen Gemeinschaften und schafft jenseits dieser Grenzen Minderheiten. Der Sachverständigenausschuss des Europarats fragt daher immer wieder nach katalanischsprachigen Minderheiten in Aragón136 und Valencianischsprechern in Murcia.137 Zudem gibt es autochthone Sprechergruppen des Galicischen in Kastilien-León und in Extremadura138 sowie Galicischsprecher in Asturien.139 Die Kontinuität der Sprachgebiete dieser Sprechergemeinschaften ist dabei oft nicht mehr gegeben, sei dies aus Gründen des Sprachverlustes (Galicisch) oder aufgrund der politisch-juristischen Grenzziehung (Katalanisch/Valencianisch).

6.6.1.3 Die Autochthonie der spanischen Regionalsprachen Die Frage der Autochthonie der spanischen Regionalsprachen wurde und wird vornehmlich im Rahmen der Anwendung der Sprachencharta des Europarats regelmäßig beleuchtet. Die Frage, wo diese Sprachen traditionell gebraucht werden, stellt sich dabei nicht in Bezug auf die oben genannten Sprachen in den Autonomen Gemeinschaften, wo diese als «eigene» Sprache bezeichnet werden

|| 135 So fordert der SVA des Europarats seit seinem zweiten Evaluationsbericht vom 11.12.2008 eine Überarbeitung der Grenzziehung im Sinne einer Anpassung an die gegebene sprachlichgeographische Realität: «Navarra is still divided into three linguistic areas and there have been no legislative changes since the first monitoring round. Despite several attempts to adopt new language legislation with the aim of changing the internal boundaries between the ‹zones›, no change has taken place so far» (Abs. 80). 136 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 11.12.2008, Abs. 137s. 137 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 11.12.2008, Abs. 47, 140–142. 138 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 11.12.2008, Abs. 44–46, 139. 139 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 11.12.2008, Abs. 36s., 132–134; cf. 5.2.2.2.

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und amtssprachlichen Status besitzen, sondern jenseits dieses Geltungsbereichs in den benachbarten Regionen sowie hinsichtlich der in Artikel 3,3 der spanischen Verfassung als «patrimonio cultural» evozierten «distintas modalidades lingüísticas de España», welche «objeto de especial respeto y protección» sein sollen. Da Spanien die zu schützenden Sprachen entgegen der Vorgaben140 des Europarats in seinem Ratifizierungsinstrument 2001 nicht explizit benannte,141 stellte der Europarat wiederholt fest, dass «some languages that are not referred to in the instrument of ratification, seem nevertheless to have a traditional presence in Spain».142 Aufgeführt wurde vom SVA des Europarats, dass «there was also a traditional presence of Galician in Extremadura and Valencian in Murcia». Zudem habe der Ausschuss Kenntnis über galicische Sprechergruppen in Kastilien-Léon und das Portugiesische in Extremadura erhalten, letzteres habe «a traditional presence in Olivenza and Táliga since the 18th century», wobei Informationen zu seinem «actual use» fehlten.143 Fragen stellten sich darüber hinaus auch in Bezug auf die «very limited visibility of Catalan» im öffentlichen Leben Aragóns und den Zuschnitt der «areas where the language is traditionally used»144. Für das Valencianische stellte der SVA später fest, dass die Sprache auch in Murcia das Kriterium der Autochthonie erfülle, da es dort seit dem 18. Jahrhundert gesprochen werde und insofern zu schützen sei.145 Am Beispiel Aragóns lässt sich nachvollziehen, in welchem Maße das Autochthonieprinzip zur Bestimmung der Sprachgebiete herangezogen wird. Mit Verweis auf die Charta des Europarats verabschiedete das Regionalparlament 2009 ein Sprachengesetz, welches die historische Verknüpfung des Aragonesischen und des Katalanischen mit der Autonomen Gemeinschaft expliziert.146 Dort heißt es in Artikel 2 (Las lenguas propias de Aragón) unter Absatz 2, «El aragonés y el catalán son lenguas propias originales e históricas de nuestra Comunidad Autónoma», womit nicht nur ein identitärer Bezug («propias») der Sprachen zur Region («Aragón») und zur Gemeinschaft («nuestra Comunidad Autónoma») hergestellt, sondern auch die historische Bindung («originales e históricas»)

|| 140 Cf. Anm. 75. 141 Declaration contained in the instrument of ratification, 09.04.2001, einsehbar unter: , «Declarations and reservations» [letzter Zugriff: 15.10.2012]. 142 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 11.12.2008, Abs. 12. 143 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 11.12.2008, Abs. 44, 49. 144 2. Evaluationsbericht zu Spanien, 11.12.2008, Abs. 137, 165. 145 3. Evaluationsbericht zu Spanien, 24.10.2012, Abs. 66. 146 Ley 10/2009, de 22 de diciembre, de uso, protección y promoción de las lenguas propias de Aragón, Boletín Oficial de Aragón, Nr. 252, 30.12.2009, 30327–30336.

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betont wird. Die konkreten Gebiete werden in Artikel 7 jedoch auch unter dem Gesichtspunkt ihrer heutigen Verwendung bestimmt. Daran orientiert, schafft das Gesetz dabei per deklarativem Sprechakt («A los efectos de esta Ley […] existen») die Sprachzonen, welche als Zonen «de utilización histórica predominante» bezeichnet werden. Es wird, insbesondere mit Blick auf die jüngere Gesetzgebung deutlich, dass das Kriterium der Autochthonie auch in Spanien im Zusammenspiel mit dem heutigen Gebrauch der Sprachen zur Konfiguration der Sprachgebiete in entscheidender Weise hinzugezogen wird. Das aragonesische Sprachgesetz zeigt überdies, in welchem Maße man sich dabei an der Konzeption von «Sprachgebiet» orientiert, die von der Charta vorgegeben wird.

6.6.2 Die Reterritorialisierung der spanischen Regionalsprachen Wie in Kapitel 5 bereits angesprochen, sind die spanischen Regionen das beste Beispiel dafür, wie mittels Sprache Territorien neu angeeignet werden können. Dies betrifft in erster Linie die Markierung des öffentlichen Raumes, um dem Individuum in seinem espace vécu den Eindruck eines sprachlich geprägten Gebietes zu vermitteln. In den Autonomen Gemeinschaften mit «eigener» Sprache zeigt sich dies vor allem in der Toponymie, die bis 1978 ausschließlich kastilisch war, sowie in der Gestaltung des linguistic landscape, wie nachstehend dargestellt werden soll.

6.6.2.1 Die Restitution der autochthonen Ortsbezeichnungen Als exemplarisch für die Restitution der autochthonen Ortsbezeichnungen, die sich in analoger Weise in sämtlichen Autonomen Gemeinschaften der nacionalidades históricas vollzogen hat, soll in diesem Abschnitt Galicien dargestellt werden. Der Abschnitt ergänzt und kontextualisiert dabei in systematischer Weise die in Kapitel 5 einleitend angesprochenen Restituierungen der Ortsnamen Lleida und Girona für Lérida und Gerona. Bereits durch das régimen preautonómico das Galicien 1979 erhielt,147 wurde die Bildung einer Kommission für Ortsnamen (Comisión de Toponimia) ermöglicht, deren Aufgaben jedoch erst mit dem Autonomiestatut von 1981 und das

|| 147 Real Decreto-Ley 7/1978, de 16 de marzo, por el que se aprueba el régimen preautonómico para Galicia, Boletín Oficial del Estado, Nr. 66, 18.03.1978, 6502s.

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daran anknüpfende Sprachgesetz von 1983148 übergeordnet festgelegt wurden. Letzteres bestimmte in seinem Artikel 10,1: «Os topónimos de Galicia terán como única forma oficial a galega»; Absatz 2 übertrug diese Aufgabe formal der Xunta de Galicia. Die Regionalregierung bildete daraufhin die Toponymiekommission um.149 Die Gründe für diese bereits vor der eigentlichen Übertragung der politischen Autonomie an Galicien beginnenden Bemühungen um die Zuständigkeiten im Bereich der Ortsbezeichnungen werden im Decreto 132/1984150 ausführlich dargelegt und sind ein Beleg dafür, dass die «eigene» Sprache eine herausragende Rolle bei der (Wieder-)Aneignung des Raumes spielt. Dort heißt es in der Präambel, «a toponimia forma parte esencial do patrimonio dun pobo ao tempo que fai patente a orixe ou as vicisitudes do decorrer histórico dos seus asentamentos humanos». Als Spiegel der Siedlungsgeschichte sieht man dabei gerade die eigenen Ortsbezeichnungen als Opfer eines historischen Auf und Abs: «por diversas circunstancia [sic] [os topónimos] perderon ou viron desvirtuada ao longo do tempo súa propia forma ou a correcta transcrición cando a lingua dun pobo busca a súa normalización en todas as manifestacións colectivas». Die Orte Galiciens haben demnach Namen mit einer ihnen eigenen Form, die verloren gegangen sind oder entstellt wurden. Als Gründe dafür wird explizit auf den «influxo do centralismo lingüístico e do descoñecemento da nosa realidade polos poderes públicos» verwiesen. Daraus ergibt sich für Galicien die (dringende!) Notwendigkeit («urxencia»), die eigentlichen Ortsbezeichnungen wiederherzustellen: «Cómpre, polo tanto, facer un esforzo de recuperación, fixación e conservación da toponimia galega». Die seit Anfang der 1980er Jahre in Galicien wie auch im Baskenland, Katalonien, Valencia und den Balearen betriebene Restitution der «eigentlichen» autochthonen Ortsbezeichnungen, mit denen die jeweiligen Gemeinschaften ihre identitäre Verknüpfung und ihren Anspruch auf ihre Regionen sichtbar machen, wird seit kürzerer Zeit auch in Bezug auf die kleineren Sprachminderheiten der anderen Regionen Spaniens versucht. Hier erweist sich der SVA des Europarats als Motor, da die Charta dies in ihrem Programm regulär vorsieht (cf. 6.1.2). Dieses sichtbarste Merkmal zur Kennzeichnung eines Sprachgebietes steht insofern noch vor allen anderen Maßnahmen im Vordergrund, wenn es heißt, dass die jeweili-

|| 148 Lei 3/1983, do 15 de xuño, de normalización lingüística. 149 Decreto 43/1984, do 23 de marzo, polo que se regulan as funcións e a composición da Comisión de Toponimia. 150 Decreto 132/1984, do 6 de setembro, polo que se establece o procedemento para a fixación ou recuperación da toponimia de Galicia, Diario Oficial de Galicia, 21.09.1984.

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gen Minderheitensprachen im öffentlichen Raum nicht sichtbar bzw. präsent seien. Die Frage der Ortsbezeichnungen ist allein aufgrund ihrer großen symbolischen Bedeutung für die Bewohner innerhalb wie außerhalb dieser reterritorialisierten Sprachgebiete von besonderer Wichtigkeit. Einige Aussagen, die sich Leserbriefen vom Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre entnehmen lassen, geben einen Einblick in die Einstellungen der Sprecher gegenüber der Verwendung von exonymen und endonymen Ortsbezeichnungen.151 Hier lassen sich bisweilen zwei Perspektiven nachvollziehen: einerseits die Sicht der monolingualen Kastilischsprecher, die den zunehmenden Gebrauch der «autochthonen» Formen ablehnen, andererseits den Blickwinkel derjenigen, die sich mit den Regionalsprachen identifizieren und für deren Gebrauch einsetzen. Auf Kritik stieß etwa der Sprachgebrauch der landesweit seit 1976 erscheinenden Tageszeitung El País, der von Konservativen immer wieder vorgeworfen wurde, sich insbesondere für die Forderungen der Katalanen stark zu machen, da sie bisweilen Texte auf Katalanisch publizierte und auch im kastilischsprachigen Kontext exonyme Schreibungen verwendete: «como si con ello pretendieran mostrar mayor benevolencia hacia las reivindicaciones lingüísticas de los catalanes», wie es Amando Hurtado in einem Leserbrief vom 9.10.1976 formulierte.152 Dem Leser erscheint es dabei lächerlich, dass «sin más ni más, se denomine a Cataluña Catalunya» und erläutert dazu: «En castellano, Cataluña se escribe con ‹ñ› y Lérida será siempre Lérida, aunque en catalán se llame Lleida». Eine andere Lesergruppe begrüßt gerade diesen Sprachgebrauch («Aplaudimos fervorosamente la aplicación de la lengua autóctona para las denominaciones geográficas»), beschwert sich jedoch darüber, dass dieser nicht konsequent angewendet werde und in einer Liste mit Wahlergebnissen einige valencianische Ortschaften falsch geschrieben worden seien: «se omite, la toponimia correcta que para algunas ciudades fue aprobada hace ya algún tiempo por el Consell».153 Auf der anderen Seite äußern sich auch die politischen Verfechter der Reterritorialisierung bzw. der Durchsetzung eines (zunächst einmal) administrativen Bilinguismus im öffentlichen Raum. So macht sich der Leser und Vertreter der

|| 151 Die im Folgenden zitierten Leserbriefe konnten über die von Lebsanft (1990) bereitgestellte analytische Bibliographie leicht ermittelt und über das Onlinearchiv von El País unter eingesehen werden. 152 Hurtado, Amando, Topónimos en catalán, El País, sección «cartas al director», 09.10.1976, p. 8 / Lebsanft (1990, Nr. 9); cf. auch den Leserbrief von Romero Romero, Jaime Gil, La jerigonza de EL PAIS, El País, sección «cartas al director», 15.01.1983, pp. 9s. / Lebsanft (1990, Nr. 229). 153 Máñez Aliño, Salvador/Máñez Aliño, Gabriel/Asensi Bertomeu, Rosa M., Toponimia correcta, El País, sección «cartas al director», 16.05.1983, p. 12 / Lebsanft (1990, Nr. 262).

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Toponymiekommission der Real Academia de la Lengua Vasca, José Luis Lizundia, dafür stark, der Bezeichnung der baskischen Stadt Bilbao zukünftig auch das Endonym Bilbo beizufügen («la versión bilbo, que es la que usamos siempre al hablar o escribir en euskera») und stellt sich damit gegen einen kurz zuvor, am 18.3.1983 veröffentlichten Leserbrief, der genau dies abgelehnt hatte.154 Er rechtfertigt das Streben nach der Verwendung der endonymen Bezeichnungen ausführlich: «Como el euskera ha salido de su secular marginación, cuando no persecución, y es oficial, de acuerdo con el Estatuto de Autonomía, debiera ser lógico que también se oficialice la forma euskérica Bilbo. Por eso resulta asombroso que haya quienes se resistan a un uso normalizado del bilingüismo administrativo […]. Finalmente, me causa tristeza que quienes posiblemente han estado tan allegados a los que han impuesto una lengua, y no precisamente el euskera, consideren imposición lo que no es más que un sencillo equiparamiento oficial de dos versiones de un topónimo […]».

6.6.2.2 Die Gestaltung des linguistic landscape Hierarchisch geregelt ist in Spanien auch die Art, öffentliche Beschilderungen sprachlich zu gestalten. So legt ein Gesetz von 1990 fest, dass die Straßenbeschilderung im öffentlichen Raum mindestens in der Sprache des Staates zu kennzeichnen ist, überlässt es darüber hinaus hingegen den Autonomen Gemeinschaften, die Schilder zusätzlich ggf. auch in der jeweiligen zweiten Amtssprache zu markieren: «Las indicaciones escritas de las señales se expresarán al menos en el idioma español oficial del Estado» (Art. 56).155 Die Möglichkeit, zweisprachige Schilder aufzustellen, wird im Sinne der sprachlichen Gebietsmarkierung seither von allen Autonomen Gemeinschaften mit Regionalsprache genutzt. Bisweilen übertreten die Regionalregierungen oder Gemeinden jedoch ihre gesetzlichen Möglichkeiten, indem sie die kastilischsprachigen Kennzeichnung zugunsten einer exklusiv regionalsprachlichen Markierung abschaffen (cf. 6.6.3.2).

|| 154 Lizundia, José Luis, Bilbao o Bilbo, El País, sección «cartas al director», 04.04.1983, pp. 9s. / Lebsanft (1990, Nr. 246) als Replik auf de Uriarte, Manual María, El nombre de Bilbao, El País, sección «cartas al director», 18.03.1983, p. 12 / Lebsanft (1990, Nr. 239). 155 Real Decreto Legislativo 339/1990, de 2 de marzo, por el que se aprueba el texto articulado de la Ley sobre Tráfico, Circulación de Vehículos a Motor y Seguridad Vial, Boletín Oficial del Estado, Nr. 63, 14.03.1990, 7259–7270.

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6.6.3 Territorialitäten im Konflikt: Kastilisch vs. Katalanisch Der Grundgedanke der Sprachenregelung in der spanischen Verfassung ist es, neben der landesweiten Einsprachigkeit eine jeweils regional begrenzte Zweisprachigkeit zu ermöglichen und somit einen historischen Kompromiss zu finden, welcher es den nacionalidades históricas erlaubt, die «eigene» kollektive Gemeinschaft in die spanischen Nation zu integrieren. Die Autonomen Gemeinschaften haben seit 1978 von ihren Möglichkeiten, die Mehrsprachigkeit in ihrem Einflussbereich zu gestalten und zu regulieren, Gebrauch gemacht, wobei die Tragweite der jeweiligen Maßnahmen unterschiedlich ausgefallen ist. Am radikalsten hat sich dabei die Sprachenpolitik Kataloniens entwickelt. Wie Süselbeck (2006) herausgearbeitet hat, verknüpfen die Repräsentanten Kataloniens in den dortigen politischen Diskursen einerseits Sprache und Nation in besonders enger Weise und versuchen andererseits, die Zuständigkeiten im Bereich der Sprachpolitik zu nutzen, um über die Gleichstellung des Katalanischen mit dem Kastilischen hinaus die llengua pròpia langfristig als einziges Kommunikationsmittel durchzusetzen. Die Maßnahmen, die Katalonien seither ergriffen hat, gehen in diese Richtung. Unter den wichtigsten dürfte dabei die Durchsetzung des Katalanischen als alleinige Unterrichtssprache sein, wodurch das Kastilische zur Fremdsprache wird; im Regionalparlament wird das Spanische nicht mehr verwendet, die Ämter benutzen – außer auf Anfrage – ebenfalls ausschließlich das Katalanische. Darüber hinaus wird die Beschilderung zunehmend durch einsprachig katalanische Schilder ersetzt. Den Sprechern wird damit verdeutlicht, dass Katalonien Sprachgebiet des Katalanischen ist. Die etwa ebenso frequente Verwendung des Kastilischen in der alltäglichen interpersonellen Kommunikation, d.h. die faktische Präsenz der Staatssprache, wird hier zugunsten eines Idealzustandes ausgeblendet. Es ist dabei erst das Streben nach diesem Zustand der exklusiven Verwendung des Katalanischen, welches die Koexistenz der Sprachen zu einem Konflikt werden lässt. So argumentiert auch Carmen Leal, Vertreterin des Vereins Asociación por la Tolerancia (der nach eigenen Angaben gegen die «política del nacionalismo excluyente»156 eintritt) in einem klugen Artikel über den «Conflicto lingüístico en Cataluña», den die Zeitung La Voz de Barcelona am 16.4.2013 publizierte.157 Der Konflikt zwischen dem Kastilischen und dem Katalanischen («presentes en Cataluña desde siempre») entsteht ihr zufolge erst daraus, dass

|| 156 Cf. Asociación por la Tolerancia, unter «Quienes somos», [letzter Zugriff: 12.01.2014]. 157 Leal, Carmen, Conflicto lingüístico en Cataluña, La Voz de Barcelona, 16.04.2013, [letzter Zugriff: 12.01.2014].

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versucht werde, eine der Sprachen von oben als exklusives Kommunikationsmittel durchzusetzen: «Este [conflicto lingüístico] surge cuando en los espacios sociales de prestigio regidos por el poder político, el Parlamento autonómico, la Administración autonómica, la escuela y, en general, en todos aquellos ámbitos sociales de poder, se obliga a utilizar en exclusividad la lengua catalana relegando el español a lengua de uso familiar, íntimo, afectivo […]».

Gegenüber der Situation vor 30 Jahren sieht Leal heute nicht das Katalanische, sondern das Kastilische als unterdrückte Sprache und als low variety in einer Diglossiesituation. Dabei stünden sich zwei Sprechergemeinschaften mit je eigenen Interessen gegenüber: «El conflicto lingüístico será un enfrentamiento entre intereses de las dos comunidades lingüísticas de las dos lenguas oficiales de Cataluña, catalán y castellano, al constatar que los hablantes de castellano no gozan de los mismos derechos lingüísticos que los hablantes de catalán […]».

Der Konflikt besteht also vor allem durch die politische Regulierung der Mehrsprachigkeit, aus der ein Widerspruch der Territorialitäten, d.h. der politischjuristischen Geltung zweier Amtssprachen, entstanden ist.

6.6.3.1 Das Problem der llengua d’ús normal i preferent In 5.2.3.1 hatte ich bereits beispielhaft dargestellt, dass ein Kastilischsprecher im Kontakt mit den öffentlichen Behörden Kataloniens bisweilen gezwungen ist, durch einen formellen Antrag um Dienstleistungen in der Staatssprache zu bitten, während von Amts wegen das Katalanische als die übliche, «normale» Sprache bevorzugt wird. Dass das Katalanische, als «eigene» Sprache bzw. Gebietssprache Kataloniens, auch die bevorzugte, mithin einzige Sprache und in diesem Sinne «normale» (lies: der Gebiets- bzw. Gruppennorm entsprechende) Sprache werden soll, ist das politische Ziel der katalanischen Sprachpolitik. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung sollte die Reform des Autonomiestatuts im Jahr 2006 darstellen: Dort sollte die rechtliche Grundlage dafür geschaffen werden, dass das Kastilische faktisch aus der amtlichen Sprachverwendung verdrängt wird, indem man die Hürden für dessen Benutzung eben durch die Notwendigkeit von Anträgen etc. höher legte. Artikel 6,1 leitet aus der Qualität als llengua pròpia daher unmittelbar den Grund für die privilegierte Verwendung der Regionalsprache ab: «Com a tal, el català és la llengua d’ús normal i preferent de les administracions públiques i dels mitjans de comunicació públics de Catalunya […]». Die Verwaltungsvorschriften auf lokaler Ebene leiten sich, wie am

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Beispiel des Reglament d’ús de la llengua catalana de l’Ajuntament de Barcelona vom 11.1.2009 gezeigt, aus dieser Bestimmung ab. Was ein Ärgernis für viele Bürger wurde, die sich in ihren Rechten als Kastilischsprecher beeinträchtigt sahen, stellte daraufhin auch einen Fall für die Gerichte dar. Auf höchster Ebene sorgt in Spanien das Tribunal Constitucional (TC) dafür, dass die Gesetzgebung mit der Verfassung und dem dort begründeten Territorialitätsprinzip in Einklang bleibt; die Gerichte auf regionaler Ebene folgen in der Regel der Rechtsprechung des TC. Als das TC im Juni 2010 sein lang erwartetes Urteil über die Verfassungskonformität zahlreicher Artikel des reformierten Autonomiestatuts Kataloniens fällte, wurde auch der oben zitierte Passus «d’ús normal i preferent» für nichtig erklärt.158 Einer Klage gegen den analogen Passus in der Verwaltungsvorschrift Barcelonas vom 24.3.2010 wurde vom Tribunal Superior de Justícia de Catalunya (TSJC) daraufhin ebenfalls stattgegeben.159 Bemerkenswert ist dabei die Urteilsbegründung, die zunächst Verständnis für beide Sprechergemeinschaften ausdrückt: «En abordar aquesta qüestió, convé tenir present que la llengua és socialment percebuda com una part molt significativa de la cultura i la identitat col·lectiva, de forma que el sentiment de menysteniment de la llengua que cadascú considera pròpia ocasiona un greuge subjectiu que és comprensible. En aquest sentit, la llengua catalana ha patit un greuge històric que ha justificat l’esforç de reconeixement i normalització en la recent etapa constitucional. Alhora, els recurrents palesen un sentiment paral·lel de greuge davant el que entenen una imposició del català a l’Administració amb el correlatiu desplaçament de la llengua castellana. Una i altra posició responen a sentiments legítims».

Vor dem Hintergrund eines Konflikts, «que té una naturalesa essencialment política», ginge es jedoch darum, die gesetzlichen Vorgaben unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des TC zugrunde zu legen. Der Fall, um den es gehe, sei dabei ein Problem der Amtssprachlichkeit: «Segons el que s’ha esmentat, el motiu de fons que informa aquest recurs es refereix a la vulneració del règim d’oficialitat de les llengües, específicament la marginació o exclusió del castellà tant en les activitats internes com externes de l’Ajuntament».

Das TSJC sah eine solche Benachteiligung und Exklusion des Kastilischen als gegeben an und erklärte daher analog zum TC die Bestimmungen, nach welchen der Gebrauch des Katalanischen «preferent» oder «de manera preferent» sei, für

|| 158 Tribunal Constitucional, Sentencia 31/2010, de 28 de junio de 2010, Boletín Oficial del Estado, Nr. 172, 16.07.2010. 159 Tribunal Superior de Justícia de Catalunya, Sentència 316/2012, de 23 de maig de 2012.

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ungültig. Gleichermaßen für ungültig erklärte das Gericht auch die Bestimmungen, nach denen das Kastilische nur auf Antrag verwendet werden könne («la càrrega del ciutadà d’explicitar la seva opció lingüística mitjançant una petició formal expressa»). Im Streit um die Dominanz zwischen zwei politisch-juristisch territorialen Sprachen lässt sich an diesen Vorgängen gut nachvollziehen, wie die politischen Akteure der sich als autochthon betrachtenden Gemeinschaft immer wieder versuchen, den eigenen Gebietsanspruch als privilegiert durchzusetzen und die «eigene» Sprache, das Katalanische, als exklusives Kommunikationsmittel zu etablieren. Indem die Möglichkeit, das Spanische zu verwenden, immer eingeschränkter wird, soll dem «exogenen» Spanier deutlich gemacht werden, dass er sich an die sprachliche Norm der Katalanen anzupassen hat. Je lückenloser diese Territorialisierung des öffentlichen Raumes gelingt, desto sichtbarer prägt das Katalanische das Gebiet.

6.6.3.2 Einsprachige Verkehrsschilder und multas lingüísticas Die katalanische Sprachenpolitik manifestiert sich zunehmend auch in der sprachlichen Markierung des Gebietes. Während die Restitution der katalanischen Toponymie bereits von Beginn der Autonomie an verfolgt wurde, setzen die Generalitat und die untergeordneten Stadtverwaltungen verstärkt auch auf die Beschilderung, darunter die Verkehrsbeschilderung im öffentlichen Raum. Dass das Katalanische als exklusive Sprache durchgesetzt werden soll, zeigt sich zunehmend in der Montage einsprachiger katalanischer Schilder. Dass es tatsächlich darum geht, das Kastilische auszuschließen, ist daran abzulesen, dass die Behörden ganz bewusst gegen geltendes Recht verstoßen, demzufolge die Beschilderung mindestens in der Staatssprache angebracht werden muss, also der Sprache, die von allen Verkehrsteilnehmern des Landes beherrscht und verstanden wird (cf. 6.6.2.2). Wie der Presse zu entnehmen ist, hat dies zu der recht bizarren Situation geführt, dass gegen Bußgelder, etwa wegen Falschparkens, mit Erfolg Einspruch eingelegt werden kann, wenn die entsprechende Beschilderung nur auf Katalanisch angebracht war. Im Internet ist in zahlreichen Foren und in Zeitungsartikeln nachlesbar, auf welches Gesetz bzw. welche Artikel beim Einspruch gegen das Bußgeld zu verweisen ist. So titelt die konservative spanische Tageszeitung ABC etwa «Las señales de tráfico en catalán, una baza segura para burlar las multas. El Ayuntamiento de Barcelona prefiere no cobrar las sanciones de tráfico recurridas por motivos lingüísticos a rotular las señales en castella-

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no»160. Das sprachpolitische Ziel eines einsprachig markierten Sprachgebietes wird damit noch über das Interesse an der Ordnung der Verkehrssituation gestellt. Im Rahmen dieser Bemühungen um einen einsprachig markierten linguistic landscape geht die Generalitat hingegen konsequent gegen Verstöße gegen die gruppenspezifische sprachliche Norm vor. Dazu hat sie spezifische sog. multas lingüísticas eingeführt. Seit einigen Jahren erhebt die zuständige Agencia Catalana de Consumo Bußgelder von bis zu 1.200 Euro, wenn Läden ihre nach außen hin sichtbaren Bezeichnungen nicht (auch) auf Katalanisch anzeigen. Damit wird Artikel 32,2 des katalanischen Sprachgesetzes von 1998 in radikaler Form zur Umsetzung gebracht; dort heißt es: «La senyalització i els cartells d’informació general de caràcter fix […] dels establiments oberts al públic han d’ésser redactats, almenys, en català». Die multa lingüística trifft dabei nicht ausschließlich Kastilischsprecher, der Presseberichterstattung zufolge trifft sie in vielen Fällen katalanischsprachige Ladenbesitzer. Auch die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft sollen, so kann interpretiert werden, gezwungen werden, die gruppenspezifische Norm durchzusetzen. Der Unternehmer Manuel Nevot, dem ein Bußgeld von 400 Euro auferlegt wurde, wird mit den Worten zitiert, das Spanische würde in Katalonien zwar nicht verfolgt, «pero los políticos intentan arrinconarlo. Nunca hemos tenido problemas con el catalán y el castellano. Son los políticos que quieren imponer el catalán para que prevalezca. En el Ayuntamiento de Vilanova y la Generalitat no me contestan en castellano. He protestado por ello y siguen sin hacerlo. Los catalanes queremos ser libres, pero el Gobierno y esta norma está zahiriendo nuestra libertad».161

Gegen die Sprachbußgelder hat sich ein beachtlicher Widerstand gebildet, neben Einzelnen, die erwägen, gegen die Generalitat vor das TC zu ziehen, wurde etwa eigens eine Internetplattform mit dem Namen «No Multas Lingüísticas. Por una Cataluña en libertad. No a las multas lingüísticas»162 gegründet. Auffällig, jedoch keineswegs überraschend ist, dass in Spanien vor allem konservative Zeitungen, die traditionell einer zentralstaatlichen Konzeption Spaniens nahestehen und damit auch tendenziell gegen eine zu weit reichende Mehrsprachigkeit sind, über die Probleme der multa lingüística berichten. Die meistverkaufte unter ihnen, die

|| 160 Las señales de tráfico en catalán, una baza segura para burlar las multas, ABC, 07.12.2009, [letzter Zugriff: 12.01.2014]. 161 Un comerciante lleva a los juzgados la imposición lingüística de la Generalidad, La Voz de Barcelona, 03.02.2010, [letzter Zugriff: 13.01.2014]. 162 Zu finden unter: [letzter Zugriff: 12.01.2014].

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Tageszeitung El Mundo, berichtet regelmäßig über die Konsequenzen der regionalen Sprachpolitik. Bisweilen ruft sie sogar ihre Leserschaft zu einer Dokumentation von Verstößen gegen die rechtliche Zweisprachigkeit auf. Als Beispiel kann hier ein Aufruf von 2008 genannt werden, die Leser mögen Fotographien von Straßenbeschilderungen schicken, die gegen die Zweisprachigkeit verstoßen, weil sie nur in einer Sprache anzeigen: «Este verano, en tus viajes por el territorio español, envíanos tus fotos con aquellos rótulos oficiales que, según tú, vulneren el bilingüismo en Cataluña, País Vasco, Galicia, Comunidad Valenciana, Baleares y Navarra».163 Dass die Zeitung hier für die Rechte der Kastilischsprecher eintritt, deren landesweit geltende politisch-juristische Territorialität sie zu unterstützen versucht, wird auch dadurch deutlich, dass neben dem Aufruf auch ein Verweis auf das Manifiesto por una lengua común164 mit der Aufforderung «Adhiérase» steht. Sprachliche Territorialität manifestiert sich in Spanien folglich vor allem politisch-juristisch in den Regionen der nacionalidades históricas. Dort wird die Reterritorialisierung des Raumes am intensivsten verfolgt und manifestiert sich im (visuell) erfahrbaren öffentlichen Raum bei der Markierung des Gebietes durch die Toponymie und den linguistic landscape am deutlichsten. Die dargestellten Konfliktfälle unterstreichen die Problematik, die aus dem Streben noch sprachlicher Exklusivität in einem Territorium resultiert. Zurückhaltender sind die Bestrebungen hinsichtlich der in Artikel 3,3 der Verfassung erwähnten weiteren Sprachen und «sprachlichen Modalitäten», deren Schutz erst seit der Implementierung der Charta des Europarats stärker in den Fokus geraten ist. Auch hier werden in jüngerer Zeit immer öfter die autochthonen Ortsbezeichnungen wiederhergestellt,165 doch zeugen diese Maßnahmen weit weniger von der Aneignung des Raumes durch die jeweiligen Sprechergruppen im Sinne des Territorialverhaltens, als vielmehr von einer Kulturpolitik, die «von oben» versucht, Erinnerungsorte zu schaffen. Sichtbar wird das etwa am Galicischen in Extremadura, dort als a fala bezeichnet: Der SVA berichtet, «bilin-

|| 163 Buscamos rótulos oficiales que vulneren el bilingüismo, El Mundo, 07.2008, [letzter Zugriff: 14.01.2014]. 164 In dem von bekannten Persönlichkeiten (u.a. Mario Vargas Llosa) gezeichneten Manifest von 2008 wird die oben dargestellte zunehmende Benachteiligung des Spanischen kritisiert; die Unterzeichnenden sprechen sich für einen Bilinguismus aus, in dem das Spanische weiterhin als Gemeinsprache aller Spanier funktionieren kann. 165 Cf. etwa den 3. Evaluationsbericht zu Spanien, 24.10.2012, in Bezug auf das Asturische: «During the on-the-spot visit the Committee of Experts was informed that place names in Asturian are currently being restored» (Abs. 160).

6.7 Fazit: Sprachliche Territorialität als Konfliktherd | 303

gual street signs have been erected and local authorities use bilingual information signs», doch offenbart das Vorhaben der lokalen Behörden, ein «Museum about ‹a fala› Galician in San Martín de Trevejo» zu errichten, dass es hier um Symbolpolitik geht, die auf ein folkloristisches Erinnern abzielt.166

6.7 Fazit: Sprachliche Territorialität als Konfliktherd6.7 Fazit: Sprachliche Territorialität als Konfliktherd

Die Untersuchung sprachlicher Territorialität als wichtiges Element der Sprachplanung und anhand ihrer konkreten Manifestation in Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien hat gezeigt, dass bei der Konstruktion des Zusammenhangs von Sprachen und Gebieten überall die gleichen Prämissen, das Prinzip der Autochthonie und das «Mehrheitsprinzip» (cf. Abb. 15), zugrundegelegt werden. Gleichzeitig zeigt sich, ganz im Sinne der in Kapitel 5 dargelegten Ethologie gruppenspezifischer Territorialität, dass sich die Konfiguration dieses Zusammenhangs in national bzw. regional unterschiedlichen Konzepten von Sprachgebiet ausformuliert. Diese erklären sich in erster Linie aus der jeweiligen historischen Konstitution der Staaten und den damit einhergehenden Konzeptionen von Nation. Belgien ist hier das deutlichste Beispiel für einen Staat, der mit dem Konzept der Nation Probleme hat, insofern sich das Land aus Gemeinschaften zusammensetzt, die mit einer gemeinsamen kollektiven Identität (als Belgier) hadern; vielmehr handelt es sich um ein Nebeneinander von jeweils einsprachigen Sprechergruppen, die sich voneinander über eben dieses identitäre Element abgrenzen. Die Territorialität der Gruppen manifestiert sich daher vor allem in der Abgrenzung und der Verteidigung des je «eigenen» Gebietes. Das Autochthonieprinzip steht dabei im Vordergrund, während die Berücksichtigung der tatsächlichen sprachlichen Zusammensetzung der Gebiete politisch ausgeblendet wird. In der Schweiz handelt es sich ebenfalls (mit Ausnahme der rätoromanischen Sprecher) um jeweils einsprachige Gemeinschaften, die jedoch historisch bedingt einen Bund eingegangen sind und die regionale Identität mit einer vielsprachigen nationalen Identität zu verknüpfen wissen. Die Tendenzen zur Abgrenzung sind daher schwächer ausgeprägt, das Mehrheitsprinzip wird entsprechend berücksichtigt, wenngleich auch hier die je autochthonen Gebiete als «Schutzzonen» konzipiert werden und politisch betrachtet die lokale und regionale Autonomie der Landesteile eine differenzierte sprachliche Landschaft begünstigt. Frankreich und Spanien sind dagegen in ihrer Geschichte zentralistischer organisiert. Während Frankreich diesen Zentralismus bis heute fortsetzt und sprachliche Territori-

|| 166 3. Evaluationsbericht zu Spanien, 24.10.2012, Abs. 172s.

304 | 6 Sprachliche Territorialität und Sprachplanung

alität unterhalb der Nationalsprache durch eine reine Kulturpolitik mit Kompromisscharakter zu unterdrücken versucht, ist Spanien seit 1975 durch schrittweise erweiterte Zugeständnisse an seine nacionalidades históricas geprägt. Sprachliche Territorialität manifestiert sich hier in teils radikaler Weise auf der Ebene der Autonomen Gemeinschaften. Besonders deutlich versucht Katalonien, seinen Einflussbereich als Sprachgebiet des Katalanischen zu markieren und setzt dabei langfristig auf die Verdrängung des Kastilischen, was umso bemerkenswerter ist, als die eigene Bevölkerung (traditionell) beide Sprachen als Muttersprache beherrscht. Die beschriebenen Konflikte erweisen sich so als Konsequenz einer teilweise sehr rigiden Anwendung politisch-juristischer Territorialität, bei der die faktische sprachliche Zusammensetzung der Gebiete zugunsten eines politisch gewollten, juristisch etablierten Idealzustandes vernachlässigt wird. Es wird durch die Beschreibung der genannten Situationen deutlich, dass sprachliche Territorialität sowohl als Element der Sprachplanung als auch als Erklärungsdispositiv für Konflikte in Sprachkontaktsituationen zu berücksichtigen ist.

7 Schlussbetrachtung Die vorliegende Untersuchung des Phänomens sprachlicher Raumbezogenheit erlaubt eine abschließende systematische Darstellung der Ergebnisse (cf. Abb. 37). Zunächst lässt sich sprachliche Raumbezogenheit in zwei wesentliche, in den Kapiteln 3 sowie 4 und 5 systematisch erarbeitete Untersuchungsfelder einteilen, welche (a) die assoziative Wahrnehmung des Sprechens mit Orten und der Sprachen mit Gebieten sowie (b) das gebietsbezogene Verhalten von Sprechern, Sprechergemeinschaften und Institutionen betreffen.

Sprachliche Raumbezogenheit

Assoziationen: «Sprechen + Ort» «Sprache + Gebiet»

Sprachliche Territorialität: Verhalten von Individuen, Gruppen und Institutionen

Sprachliches Territorium: (Sprachraum, Sprachgebiet)

materiell gegebene Bezüge: Markierung des Gebiets (Toponymie, linguistic landscape) und sprachliche Praxis

gedachte und repräsentierte Gebietsbezüge: diskursive (auch juristische) und kartographische Verknüpfung von Sprache und Gebiet

Konzeptualisierung: sprachlich strukturierter espace vécu und «Wissen» über sprachlich-räumliche Zusammenhänge Abb. 37: Sprachliche Raumbezogenheit als Gesamtphänomen

Wie ich dargelegt habe, stellt sprachliche Raumbezogenheit im Sinne von (a) in erster Linie ein Element des Denkens dar, das sich in einer sprachgeographischen

306 | 7 Schlussbetrachtung

Form der Wirklichkeitsstrukturierung und Konzeptualisierung der Lebenswelt äußert. Dies ließ sich durch die Identifizierung und semasiologische Analyse der zahlreichen hypostasierenden Ausdrücke nachweisen, die zur Referenz auf sprachlich-räumliche Zusammenhänge dienen und insofern auf einen Benennungsbedarf seitens der Sprachbenutzer hinweisen, der Rückschlüsse auf die kognitive Verankerung solcher Zusammenhänge zulässt. Über den Alltagswortschatz hinaus transzendiert diese sprachlich fundierte Wirklichkeitsstrukturierung auch die Bereiche der rechtlichen Regulierung sprachlicher Gegebenheiten (verfassungsrechtliche Bestimmungen, Sprachgesetze, supranationale Verträge wie etwa die Charta) sowie der Sprachwissenschaft. Daran anknüpfend ließ sich durch die Kombination von erkenntnistheoretischer Herangehensweise und wahrnehmungspsychologischen Konzepten (v.a. Assoziationsprinzipien) plausibel erklären, wie die Konzeptualisierung der sprachlich-räumlichen Realität (das verortete Sprechen) als zusammenhängend funktioniert: Die in einem Näheverhältnis zur Situierung der Kommunikationsteilnehmer wahrgenommenen indexikalischen Sprechakte (Prinzip der Indexikalität des Sprechens) werden demnach als in einem Zusammenhang stehend konzeptualisiert (Prinzip der Kontiguität). Durch die Gemeinsamkeit mit anderen Kommunikationsakten am selben Ort (Similarität → Syntopie) und Unterschiede zum Sprechen an anderen Orten (Kontrast → Diatopie) entsteht ein Verständnis für diatopische Variation. Die Wahrnehmung des Sprechens trägt insofern zur Herausbildung von sprachlich geprägten mental maps bei, die sich in den größeren Rahmen eines «Wissens» über sprachlich-räumliche Zusammenhänge einfügen (cf. 3.3). Dieses «Wissen» speist sich dabei einerseits aus der Wahrnehmung der sprachlichen Praxis, wobei auch die Erfahrung des sprachlich markierten Gebiets (Toponymie, linguistic landscape) zu berücksichtigen ist; andererseits basiert es in entscheidendem Maße auf den Generalisierungen und den im Rahmen der Sozialisierung gesellschaftlich vermittelten Vorstellungen von mit Gebieten verknüpften Sprachen (cf. 5.4). Solche Kenntnisse über die Situierung und Verbreitung von Sprachen und Dialekten werden über diskursive und kartographische Repräsentationen vermittelt, die sich wiederum in den Kontext sprachlicher Territorialität einordnen. In Ermangelung eines Konzeptes, das die mannigfaltige Empirie gebietsbezogenen Verhaltens in einem Dispositiv zu fassen und zufriedenstellend zu erklären vermag, habe ich den Begriff der sprachlichen Territorialität geprägt. Dieser baut auf den kulturellen Prämissen der Mensch-Boden-Bindung auf (Kapitel 4), bei der es darum geht, dass Menschen(gruppen) sich mit «ihrem» Siedlungsgebiet verbunden fühlen und – begründet durch Mehrheits- und/oder Autochthonieprinzip – einen Anspruch auf das Gebiet geltend machen. Über die rein politisch-juristische Bedeutung der «Territorialität der Sprache» hinaus

7 Schlussbetrachtung | 307

habe ich damit den Verhaltensaspekt in den Vordergrund gerückt (Kapitel 5): Territorialität bezeichnet das gebietsbezogene Verhalten einer Gemeinschaft, das sich auch in den Handlungen von Individuen und Institutionen manifestiert und insbesondere in Sprachkontakt- bzw. -konfliktsituationen zeigt. Sprachliche Territorialität bedeutet, dass eine Sprechergemeinschaft ihre «eigene» Sprache als kulturelle Eigenheit auf das von ihr besiedelte Gebiet projiziert («Gebiet der Sprache», Identitätskonstruktion) und aus dem eigenen Anspruch auf das Gebiet gleichermaßen das Bestreben ableitet, die «eigene» Sprache möglichst als dominantes Kommunikationsmittel zu etablieren und zu verteidigen. Die Projektion der Sprache auf das Gebiet beinhaltet einerseits seine konkrete Markierung durch Ortsbezeichnungen und Beschilderungen (linguistic landscape), andererseits äußert sie sich in Diskursen und wird in kartographischen Repräsentationen sichtbar. Der Gebietsanspruch realisiert sich seinerseits in Strategien der Abgrenzung gegenüber anderen Sprachen und Gemeinschaften (Alteritäten). Sprachliche Territorialität geht folglich mit einer Territorialisierung der jeweils «eigenen» Sprache einher und schafft für die Sprecher nicht nur gedachte, sondern auch konkret materiell erfahrbare «sprachliche Territorien» (synonym: Sprachräume, Sprachgebiete). Als operationalisiertes Dispositiv wurde das Konzept sprachlicher Territorialität in Kapitel 6 zur Anwendung gebracht. In einen Zusammenhang mit Sprachpolitik, Sprachplanung und dem eigens herausgearbeiteten Begriff der «sprachlichen Präsenz» gestellt, konnte ich hier am Beispiel der Sprachencharta des Europarats nachweisen, in welchem Maße die Territorialisierung einer Sprache Mittel und Ziel von sprachplanerischen Maßnahmen ist, die auf den Erhalt oder die (Wieder-)Herstellung der (dominanten) Verwendung einer Sprache in einem bestimmten Gebiet abzielen. Stellt sprachliche Territorialität ein allgemeingültiges Verhaltensprinzip dar, so unterliegt die jeweilige einzelsprachen- und gruppenspezifische Ausdifferenzierung historisch kontingenten Entstehungsprozessen, die jeweils mit nationalen und regionalen Identitätskonzepten verknüpft sind (Stichwort: Sprache und Nation). Dies konnte durch die Analyse sprachlicher Territorialität in Belgien, Frankreich, der Schweiz und Spanien gezeigt werden, in denen sich die Konstruktion der Verknüpfung von Gemeinschaft(en), Sprache(n) und Gebiet(en) jeweils unter verschiedenen historischen Vorbedingungen und in spezifischen Konfigurationen des Autochthonie- und des Mehrheitsprinzips äußert. Die thematisierten Sprachgebietskonzeptionen wurden dazu systematisch untersucht, ebenso die Markierung des Raumes und die Konstitution eines sprachlich geprägten espace vécu in den betrachteten Regionen. Gleichzeitig war die Beschreibung der darüber hinausgehenden Abgrenzungsstrategien und der Verteidigung des Gebietes gegenüber anderen Sprachen und Sprechern nur am Beispiel ausgewählter Konfliktsituatio-

308 | 7 Schlussbetrachtung

nen möglich, die jedoch zusammengenommen ein Bild davon ergeben, wie sich sprachliches Territorialverhalten in der Romania manifestiert, nämlich vor allem als Streben nach sprachlicher Exklusivität im «eigenen», angestammten Gebiet. Es ist überraschend, dass die Frage, wie und warum Sprache und geographischer Raum miteinander verknüpft werden, von der Sprachwissenschaft bislang nicht eigens aufgegriffen und theoretisch vertieft worden ist. Dieses Theoriedefizit wird dadurch evident, dass zahlreiche, insbesondere soziolinguistisch interessante Phänomene, die in Sprachkonfliktsituationen auftreten, nur unbefriedigend und nur auf der Ebene des Einzelfalls erklärt werden konnten und es bis jetzt an Ansätzen mangelte, die diese als Manifestationen übergreifender (ethologischer) Tendenzen begreifen. Mit der vorliegenden Arbeit habe ich den Versuch unternommen, der mannigfaltigen Empirie von mit sprachlicher Raumbezogenheit zusammenhängenden Phänomenen durch eine möglichst umfassende Konzeption sprachlicher Territorialität gerecht zu werden. Die Anwendung des erweiterten Territorialitätsbegriffs ermöglicht nun, das Verhalten von einzelnen Sprechern wie auch die Handlungen politischer Institutionen durch die Perspektive eines einzigen kohärenten Dispositivs zu betrachten. Dadurch werden auf den ersten Blick so diverse Phänomene wie der an Ortsschildern begangene «Sprachvandalismus» und das Verbot von Sprachstatistiken in Belgien, die diskursive Loslösung der Regionalsprachen von ihren Regionen in Frankreich, der symbolische Wert zweisprachiger Bahnhofsschilder im schweizerischen Fribourg/Freiburg, die Verwaltungsvorschriften zu einer über die Maßen umständlichen Aushändigung von kastilischsprachigen Formularen in Barcelona, die Erhebung von multas lingüísticas und die «urxencia», die Galicien bei der Wiederherstellung seiner Toponyme empfand, nun als Äußerungen eines gleichsam sprach- und raumbezogenen Verhaltensprinzips nachvollziehbar.

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36: Abb. 37:

«Sprachvandalismus» in Belgien | 3 Sprachliche Raumbezogenheit | 5 Assoziative Raumbezogenheit aus Sicht der Sprecher | 7 Sprachgemeinschaft und Sprechergemeinschaften | 9 Der Begriff «sprachliche Raumbezogenheit» | 24 Politische Sprachklassifizierung | 36 Die Indexikalität des Sprechens | 65 Indexikalisches Sprechen und mentale Repräsentation | 70 Die Kontiguität von Sprechereignis, Ort und Gebiet | 79 Die Similarität von Sprechereignissen an einem Ort | 81 Der Kontrast zwischen Sprechereignissen an verschiedenen Orten | 82 Die Konzeptualisierung sprachlich-räumlicher Zusammenhänge | 86 Autochthone Gemeinschaft und autochthone Sprache | 111 Grade sprachlicher Autochthonie | 115 Autochthonie- und Mehrheitsprinzip | 120 Die Territorialität der Sprechergemeinschaft | 128 Die onomastische Relation zwischen Gebiet, Gemeinschaft und Sprache | 140 Die Relation zwischen Gemeinschaft, Sprache und Gebiet | 152 Die diskursive Konstitution der «Identität eines Gebietes» | 152 Karte des okzitanischen Sprach- und Kulturgebiets | 154 Karte des okzitanischen und katalanischen Sprachgebiets | 155 Propaganda-Graffito (Països Catalans) | 173 Das sprachliche Territorium | 176 Ausschnitt aus «ABEILLE» (ALF, vol. 1, Karte 1) | 193 «Die Grenzen des Frankoprovenzalischen» | 197 «Die Romania von heute» | 198 Ausschnitt aus «Sprachgebiete/Les aires linguistiques» (LRL V.1) | 200 Sprachlich-räumliches «Wissen» | 203 Die sprachliche Gliederung Belgiens | 232 Private Beschilderung in Sint-Genesius-Rode/Rhode-Saint-Genèse | 235 Plakat zur Förderung des Niederländischen | 240 Sprachgebiete der Schweizer Landessprachen | 265 Das traditionelle Sprachgebiet des Rätoromanischen | 272 Regelung der amtssprachlichen Geltung des Rätoromanischen | 274 Gemeinden des traditionellen Sprachgebiets und heutiger Status | 278 Bewertung des «sprachlichen Charakters» der Gemeinden | 280 Sprachliche Raumbezogenheit als Gesamtphänomen | 305

Sachregister a fala 2, 303 Abgrenzung 89, 112, 116–119, 123, 126, 127, 129, 134, 141, 145, 157–165, 169, 221, 222, 237, 260, 288, 303, 307, passim, cf. Identität, kollektive ~; Ausgrenzung; Territorialisierung Aborigine 99–100, cf. Autochthonie; Indigenität Abstammung 94–96, 97, cf. Provenienz; Angestammtheit; Herkunftskonstruktion Abstammungsprinzip, s. ius sanguinis Abstand, sprachlicher ~; s. Sprachabstand Ackermetaphorik, s. Metaphorik, Acker~ affaire linguistique belge 237 aire linguistique, s. Sprachgebiet Akzent 23, 53 Alemannisch 243 Allochthonie 97–119, 145, 186, 189, 195, 233, 241, 261, passim, cf. Autochthonie Alterität 134, 136, 145, 164, 221, 227, 264, 288, 307, cf. Abgrenzung; Ausgrenzung; Identität, kollektive ~ Alterität (Universale) 75 Anatomie 184 Aneignung, sprachliche ~; s. Territorialisierung Angestammtheit 93–97, 279, 283, cf. Autochthonie; Provenienz Anthroponyme 140, cf. Eigennamen; Toponyme Aragonesisch 38, 140, 292–293 Aranesisch 9, 149, 150, 175, 287, 290 área lingüística, s. Sprachgebiet Areal 17, 24, 25, 29, 42–45, 130, 180– 182, 201 Arealität 17, 20, 22, 49, 158, 195–201, cf. Sprachgeographie; Sprachatlanten; Territorialitätsprinzip Areallinguistik, s. Sprachgeographie Arealtypologie, s. Sprachbundforschung Aromunisch (Rumänisch) 115

Artenschutz 92, 212, cf. Ökolinguistik; Sprachenschutz Assimilation, sprachliche ~ 90, 237–242, 261 Assoziationsprinzipien 12, 71, 75–84, 306 – Häufigkeit 78, 83, 85 – Kontiguität 25, 54, 64, 68, 75, 76–86 – Kontrast 78, 81–83, 85 – Similarität 25, 60, 78, 79–82, 83 Asturianisch, s. Asturisch Asturisch 115, 158, 205, 302 Asturleonesisch 115, 205 Atlas lingüístic de Catalunya, s. Sprachatlanten Atlas Lingüístico de la Península Ibérica, s. Sprachatlanten Atlas Lingüístico Guaraní-Románico, s. Sprachatlanten Atlas linguistique de France, s. Sprachatlanten Ausbau, s. Sprachausbau Ausgliederung (der romanischen Sprachen) 115, 197 Ausgrenzung 81, 92, 101, 134, 228, 241, 242, 300 Aussprache 11, 23, 26, 192–194, cf. Akzent Austauschdichte, kommunikative ~; s. Sprecherdichte Autochthonie 35, 97–120, 141, 153, 185– 194, 210–211, 227–243, 257–278, 291–296, passim, cf. Angestammtheit; Allochthonie – ~prinzip 120, 230, 258, 267, 288, 292, 303, 306 Baskisch 48, 121, 145, 165, 243, 287, 296 Bedingungen, ökolinguistische ~ 33, 58, 92, 214, 215, 220, 232, 234, 256, 260, 271, cf. Ökolinguistik Begriff 14, passim Beschilderung 48, 123, 138, 150, 159– 165, 173–175, 206, 208, 211, 215,

336 | Sachregister

220, 234, 281–285, 296, 297, 300– 302, 307, cf. linguistic landscape Bewohnernamen, s. Anthroponyme Bibel 23, 81, 93 Bildung, – kartographische ~ 27 – Schul~ 90, 101, 119, 172, 202, 215, 220, 234, 238, 250, 251, 256, 279, 285 Bilinguismus 32, 90–92, 110, 123, 145, 171, 173, 199, 216, 229, 231, 233, 235, 238, 269, 270, 279, 281–285, 285, 295, 297, 302, 300–302, 308, cf. Diglossie; Monolinguismus Biologie 11, 13, 31, 44, 45, 47–49, 94, 96, 105, 124, 126, 129, 147, 182–189, 212 Biotop 49, cf. Biologie Boden 93–97, 98, 106, 117, 125, 137, 161, 182–189, 192, 195 Botanik 44, 99, 101, 181–186 Bretonisch 161, 243 ch’timi 2 Charta der lokalen Selbstverwaltung 226 Charta, s. Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen Comisión de Toponimia (Galicien) 293 Comité consultatif pour la promotion des langues régionales et de la pluralité linguistique interne 246 computer-mediated communication 65, 68 comunidades históricas 159, 224 Deixis 16, 53, 54, 58–59, 64 – Lokal~ 1, 25, 55, 59 – Personal~ 58 – Temporal~ 58 Deterritorialisierung 63, 253, 257, cf. Territorialisierung; Reterritorialisierung Deutsch 210, 257, 259, 262–284 Diachronie 74, 182, cf. Synchronie Dialekt (Begriff) 49–52, 177 Dialektareal, s. Areal Dialektgeographie, s. Sprachgeographie Dialektkontinuum 61, 205

Dialektologie 17, 39, 41, 82, 177, cf. Sprachgeographie; Ortsgrammatik Diaspora 118 – ~sprachen 34 – rätoromanische ~ 216, 271 Diasystem 178 Diatopie 49–52, 69, 78, 80, 81–83, 85, 306, cf. Markiertheit, diatopische ~; Diasystem; Syntopie Diglossie 91, 146, 173, 209, 229, 298, cf. Mehrsprachigkeit; Bilinguismus; Sprachkontakt; Sprachkonflikt Diskursuniversum 23, 38, 46, 52, 55 Distributionsareal, s. Areal dominio lingüístico, s. Sprachgebiet Eigennamen 51, 55–58, 121, 140, cf. Anthroponyme; Toponyme Eigenständigkeit (einer Sprache), s. Sprachabstand Einnamigkeitsprinzip 266, cf. Toponyme; Markierung (des Raums) Einsprachigkeit, s. Monolinguismus Einstellungen, s. Spracheinstellungen Englisch 90, 176, 247 Erde, s. Boden Erinnerungsorte, s. lieux de mémoire Erkenntnistheorie 7, 12, 69, 71–78, 306 Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker 102 Erleichterungen, sprachliche ~; s. Fazilitätengemeinden espace vécu, s. Raum, erlebter ~ Ethnic Revival 91, 101, 109, 123 Ethnizität 91, 101, 164, cf. Ethnic Revival; Nationalismus Ethologie 45, 123, 124, 126–134, 143, 145–147, 168, 170, 221, 308 Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen 33, 42, 108– 119, 205, 206, 210, 216–222, 244– 246, 251–255, 258, 262, 270, 291, passim, cf. Europarat Europarat (Politik des) 92, 108, 162, 205, 217, 222, 226, 237, 264, 268 Exklusion, s. Ausgrenzung Exteriorität 11, 73–75, 85

Sachregister | 337

face (Begriff) 131, cf. Höflichkeit, sprachliche ~ fait cognitif 4, 19, 22 fait social 4, 19, 22 Fazilitäten, sprachliche ~; s. Fazilitätengemeinden Fazilitätengemeinden cap. 6.3, passim, cf. Territorialitätsprinzip; Bilinguismus Flämisch 87, 227–232, 239, 243 Folklore 210, 281, 303 francisation, s. Französierung Fränkisch 243 Frankismus 121, 285 Frankophonie 21, 142 Frankoprovenzalisch 195, 244 Französierung 229, 232–243 Französisch 91, 156, 162, 176, 199, 225– 243, 243–257, 257, 263, 269, 281–285 Galicisch (gallego) 121, 158, 205, 206, 287, 291, 292, 303 – gallego-asturiano 158, 205–207 gallego-asturiano, s. Galicisch Gebiet passim – Verwaltungs~ 32, 47, 125 Gebietsanspruch 97–119, 120, 131, 145, 156, 168, 172, 210, 223, 233, 250, 283, 300, 307, cf. Autochthonie, ~prinzip; Mehrheitsprinzip Gebietsbezogenheit (von Sprachen) passim Gebietszusammensetzung, sprachliche ~ 214, 223, 224, 230, 257–260, 303 Geburtsortsprinzip, s. ius soli Geburtsurkunde 95, cf. Abstammung; Provenienz; Herkunftskonstruktion Gegend passim Geltung (einer Sprache), s. Territorialitätsprinzip Geltungsbereich (einer Sprache), s. Territorialitätsprinzip Generalitat, katalanische ~ 2, 88, 121, 149, 150, 152, 195, 209, 263, 300 Geographie – Anthropo~ 93 – Pflanzen~ 44, 182, 189, 201

– Regional~ 132 – Siedlungs~ 4, 6, 8, 11, 17, 20, 27, 31, 32, 48, 52, 62, 88, 96, 119, 258 – Sozial~ 13, 45, 47, 49, 94, 142, 191, 201 – Tier~ 44, 180, 181 Geolinguistik, s. Sprachgeographie Geologie 1, 99, 182, 184, cf. Schichtung, sprachliche ~ Glossotop 24, 25, 45, 48–49, cf. Raum, kommunikativer ~ Grenzerfahrung, s. Sprachgrenze Grenzüberschreitung, s. Sprachgrenze Griechisch 50 Gründungsmythen 93–94, 97, 98 Gruppenidentität, s. Identität, kollektive ~ Herkunft, s. Provenienz Herkunftskonstruktion 94, 186, cf. Abstammung; Provenienz; Angestammtheit Historizität (des Raumbezugs), s. Autochthonie Höflichkeit, sprachliche ~ 168, cf. face (Begriff) Homogenität (eines Sprachgebiets) 156, 207, 215, 237, 260 Identität – ~ eines Gebiets 139, 151–157, 201, 206, cf. Sprache, gebietseigene ~ – ethnische ~ 164, cf. Ethnizität – kollektive ~ 96, 101, 110, 112, 114, 121, 128–130, 134–136, 138, 140, 144– 147, 151, 165, 172, 201, passim Ikonizität 55, 59–62, 68, 84, 192, 193 imagined community 136, 140 imagined territory 140 Indexikalität 16, 35, 53–86, 174, 180, 184, 186, 190, 192–194, cf. Deixis Indigenität 97, 99–100, 101–104, 189, cf. Autochthonie Individualitätsprinzip, s. Personalitätsprinzip Institut d’Estudis Aranesi 150 Interaktion, sprachliche ~ 13, 15, 16, 59, 65, 143, 162, 166–171, 177 Interaktionsraum, s. Raum, Interaktions~

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Intoleranz, raumgebundene ~ 128, 131, 141, cf. Territorialität Isoglosse 16, 24, 40, 42–43, 45, 157, 195, cf. Sprachgrenze Italienisch 162, 212, 257, 262–263, 266, 268, 271, 279 ius sanguinis 96, cf. Herkunftskonstruktion ius soli 96 Kartographie 16, 40, 51, 59–62, 68, 84, 126, 136, 154–156, 157, 162, 174, 178, 190–200, 201–203, 232, 265, 285, 306, cf. Sprachatlanten; Sprachenkarten; mental maps Kartosemiotik 59–62, 192–194, cf. Kartographie Kastilisch 8, 38, 42, 88, 90, 111, 121, 145, 156, 165, 166–172, 224, cap. 6.6, passim, cap. 6.6, passim Katalanisch 9, 88, 90, 111, 119, 121, 134, 150–156, 166–172, 188, 210, 244, cap. 6.6, passim, cap. 6.6, passim Kodifizierung, s. Sprachkodifizierung Kognition, räumliche ~ 38, 59, 71, 75, 78, 85 Kommunikation (face-to-face) 66, 85, 167 Kommunikationsereignis, s. Sprechereignis Kommunikationsraum, s. Raum, Kommunikations~ Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarates 226 Kontexttheorien, s. Umfeldtheorie Kontiguität, s. Assoziationsprinzipien Kontrast, s. Assoziationsprinzipien Konzeptualisierung 14, passim, cf. Repräsentation; mental maps Kooffizialität (koffizielle Geltung einer Sprache), s. Territorialitätsprinzip Kooperationsprinzip (Grice) 167, 171 Kulturgeschichte 93, 153 Kulturlandschaft, s. Landschaft, Kultur~ Landessprachen cap. 6.5, passim, cf. Nationalsprachen; Staatssprachen; Deutsch; Französisch; Italienisch; Rätoromanisch

Landkarten 58, 59–62, 125, 162, 202, cf. Kartographie; mental maps Landnahme 93, 129, cf. Territorialisierung Landschaft 47, 137, 153, 180, 222 – Kultur~ 88, 153, 206, 243 – Siedlungs~ 153 – Sprachen~ 243, 260, 262, 265, 268, 303 – sprachliche ~; s. linguistic landscape langue 1, cf. parole langues d’oc, s. Okzitanisch langues d’oïl 42 langues de (la) France 42, 247, 253–256 Latein 115, 189, 210–211 Leben, öffentliches ~; s. Raum, öffentlicher ~ lengua común (Spanisch) 302 Leonesisch 38, 46, 115, 205, 210 Lesbarkeit (von Räumen und Grenzen) 137, 141, 158–159, 163, 173, 218, 234, cf. Sprachgrenze; Territorialisierung lieux de mémoire 34, 135 linguistic landscape 24, 47–48, 58, 138, 159–165, 174, 176, 202, 215, 231, 239, 266, 281–285, 296, 300–302, 301 llengua pròpia 2, 88, 132, 150–154, 288– 291, 297, 298, cf. Sprache, eigene ~ Lokaldeixis, s. Deixis, Lokal~ Manifiesto por una lengua común 302 Markiertheit, diatopische ~ 2, 23, 53, 62– 63, 68, 70, 79, 81, 85, cf. Diatopie; perceptual dialectology; Varietätenlinguistik Markierung (des Raums), s. linguistic landscape Medien 172, 215, 220, 224, 250, 264 Mehrheitsprinzip 120, 230, 303, 306, 307, cf. Gebietsanspruch; Autochthonie, ~prinzip Mehrsprachigkeit passim, cf. Bilinguismus mental maps 12, 173, 193, 202, 203, 306, cf. Kartographie Metaphorik 37, 62, 97, 137, 147, 212 – Acker~ 183, 185

Sachregister | 339

– Pflanzen~ 22, 88, 96, 106, 117, 119, 185, 195, 201 – Raum~ 10, 57, 68, 88 Metonymie (Sprecher → Sprache) 35–36, 47, 107, 111, 117, 118, 146 Migrantensprachen 34–35, 36, 84, 112, 116–119, 174, cf. Sprache, gebietsfremde ~ Migration 34, 83, 98, 100–101, 105, 108, 112, 116–119, 228, 243, 256, 267, cf. Migrantensprachen; Mobilität Migrationsgeschichte, s. Wanderungsgeschichte; Gründungsmythen Migrationshintergrund 95 Minderheiten 101, 108, 109, 111, 114, 116, 220, 231, 232, 237, 238, 243, 248, 251, 254, 256, 258, 266, 267, 274, 279, 281–185, 289, 291, cf. Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten; Minderheitensprachen Minderheitensprache (Begriff) 111–112 Minderheitensprachen 6, 21, 33, 90, 91, 114, 117, 162, 165, 205, 215–222, passim Mirandesisch 115, cf. Asturleonesisch Mobilität 4, 34, 66, 80, 106, 186, 256, 271, 291 Monolinguismus 90, 110, 123, 145–147, 148, 163, 165, 173–174, 208, 222, 224, 226, 228, 229–232, 234–236, 238, 260, 262, 265, 270, 271, 281, 285, 295, 297, 300–302, 303, cf. Bilinguismus; Homogenität (eines Sprachgebiets) multas lingüísticas 300–302, 308, cf. Territorialität, Konflikt der ~en Mündlichkeit 64, 78, 85, 163, 173, 205, 211, 219, passim, cf. Kommunikation (face-to-face) Namen, s. Eigennamen Namengebungsakt 94–96, cf. Herkunftskonstruktion Nationalismus 95, 101, 136, 172, cf. Ethnizität Nationalsprachen 5, 17, 32, 51, 89, 91, 108–110, 123, 136, 150, 157, 160, 209, 211, 214, 222, 255, 286, 304,

passim, cf. Staatssprachen; Landessprachen; Deutsch; Französisch; Italienisch; (Katalanisch;) Spanisch Netzwerk, sprachliches ~ 21, 142, 191 Niederländisch 3, cap. 6.3, passim Nomadensprachen 34, 106, 117, cf. Sprache, nicht-territoriale ~ Nominalphrase 25, 31, 32 Norm – Gebiets~ 2, 237, 240, 298, cf. Territorialität – gruppenspezifische ~ 129, 131, 132, 135, 207, 237, 240, 298, 301, cf. Territorialität; Ethologie – juristische ~ 148–149, 237, cf. Territorialitätsprinzip – sprachliche ~ 17, 50, 51 Normalisierung 2, 91, 169, 207, 293–296, 297–303, cf. Territorialisierung; llengua pròpia; Norm, Gebiets~ Occitània 25, 151–157, 257, 263, 290, cf. Okzitanisch; Aranesisch; Katalanisch Ökolinguistik 92, 211–116, 220, cf. Bedingungen, ökolinguistische ~ Okzitanisch 9, 25, 151–157, 158, 175, 195, 206, 209, 243, 263 Onomastik 140, cf. Eigennamen; Anthroponyme; Toponyme ordinary language philosophy 24–25 Origo 58, 67, cf. Deixis; Indexikalität; Zeigefeld; Umfeldtheorie Ort (Begriff) 10, cf. Raum Orthographie 205 Ortsgrammatik 51, cf. Dialektologie Ortsnamen, s. Toponyme Ortssprachen 260–261, 267, cf. Landessprachen; Amtssprachen; Sprachgebiet, politisches ~; Territorialitätsprinzip Ortssprachendichte 261, cf. Sprecherdichte; Sprachstatistiken Països Catalans 167, 173 parole 1, cf. Sprechereignis; langue

340 | Sachregister

patois 50, 186, 194, 247, cf. Dialekt (Begriff); Regionalsprache (Begriff) perceptual dialectology 63, 82, 203, cf. Varietätenlinguistik, perzeptive ~; Spracheinstellungen Personaldeixis, s. Deixis, Personal~ Personalitätsprinzip 18, 101, 217, 229, 259, cf. Territorialitätsprinzip Perzeption 1, 4, 7, 11, 25, 27, 51, 53, 59, 62, 69–84, 124, 139, 141, 159, 164, 170, 172–174, 202, 220, 228, 234, 247, 284, 305, passim, cf. Wahrnehmungspsychologie; Assoziationsprinzipien; perceptual dialectology; Varietätenlinguistik, perzeptive ~ Petit Atlas phonétique du Valais roman (Sud du Rhône), s. Sprachatlanten Pflanzengeographie, s. Geographie, Pflanzen~ Pflanzenmetaphorik, s. Metaphorik, Pflanzen~ Philosophie der normalen Sprache, s. ordinary language philosophy Phytogeographie/-chorologie, s. Geographie, Pflanzen~ Picardisch 51, cf. langues d’oïl Polynesisch 249–250 Portugiesisch 190, 292 Pragmatik, sprachliche ~ 13, 46, 131, cf. Kooperationsprinzip (Grice); Höflichkeit, sprachliche ~ Präsenz, sprachliche ~ 3, 35, 47, 58, 115– 116, 156, 172, 207–223, 231, 239– 243, 266, 268, 272–273, 284, 307, passim Prestige, s. Sprachprestige Provenienz 23, 46, 53, 55, 62, 68, 79, 80, 81, 87, 94–97, 99, 101, 170, 171, 186, cf. Abstammung; Angestammtheit; Herkunftskonstruktion; Räumlichkeit, ~ des Sprechers Provenzalisch, s. Okzitanisch Punktkarten, s. Sprachatlanten

Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten 101–102, cf. Europarat Rätoromanisch 162, 206, 211, 216, 303, cap. 6.5, passim, cf. Diaspora, rätoromanische ~ Raum 9–10, passim – akustischer ~ 7 – diskursiver ~ 142 – erlebter ~ (espace vécu) 7, 9–10, 13, 21, 73, 84, 85, 135, 142, 166–171, 177, 207, 215, 234, 261, 293, 306 – geographischer ~ 9–10, passim – Interaktions~ 59, 63–65 – Kommunikations~ 19 – kommunikativer ~ 170 – Merkmals~ 43, 68 – nationaler ~ 10 – öffentlicher ~ 149, 173–175, 205, 211– 212, 215, 220, 234, 292–296, 300– 302 – staatlicher ~ 10 Raumbezogenheit, sprachliche ~ 1–7, passim Raumdeixis, s. Deixis, Lokal~ Raumkognition, s. Kognition, räumliche ~ Räumlichkeit – ~ der Sprache 6, 17, 170, cf. Arealität; Territorialitätsprinzip – ~ des Sprechens 17, 170 – ~ des Sprechers 17, 170–171 – sprachliche ~; s. Raumbezogenheit, sprachliche ~ Real Academia de la Lengua Vasca 296 Real Academia Española 8 Realität – erlebte ~; s. Raum, erlebter ~ (espace vécu) – sprachlich-räumliche ~ 4, 7, 13, 69, 73, 83, 84, passim Realraum, s. Raum, geographischer ~ Reconquista 160, cf. Territorialisierung; Toponyme Rede/Redeakt, s. parole; Sprechereignis Redeuniversum, s. Diskursuniversum Referenzsemantik 24–25, cf. ordinary language philosophy

Sachregister | 341

Region 10, 16, 29, 37, 41–42, 48, 90, passim, cf. Gebiet; Gegend; Raum Regionalgeographie, s. Geographie, Regional~ Regionalsprache (Begriff) 41–42, 90, 111– 112, cf. Minderheitensprache (Begriff) Regionalsprachen passim Repertoire, sprachliches ~ 48, 170, 171, 261, cf. Repertoiregemeinschaft Repertoiregemeinschaft 8, cf. Repertoire, sprachliches ~ Repräsentation passim, cf. Erkenntnistheorie; Kartographie; mental maps Reterritorialisierung 177, 211–112, 216, 293–296, 302, cf. Territorialisierung Revier, s. Territorium; Territorialität Revierverhalten, s. Ethologie; Territorialität Revitalisierung, s. Vitalität, sprachliche ~ Rituale, aggressionsbeschwichtigende ~ 130–131, 167–169, 237, cf. Ethologie; Grenzüberschreitung Romanes 117, cf. Nomadensprachen; Sprache, nicht-territoriale ~ Rumänisch, s. Aromunisch Russisch 115 Salienz 80, 81, 83, 164, 165, cf. Assoziationsprinzipien; Erkenntnistheorie; Schibboleth Schibboleth 23, 62, 81, cf. Markiertheit, diatopische ~ Schichtung, sprachliche ~ 1, 183–189, cf. Geologie; Sprachgeographie; Diatopie; Diachronie Schöpfungsgeschichte, s. Bibel; Gründungsmythen Schriftlichkeit 65, 66–67, 68, 163, cf. Mündlichkeit Schutzzone, sprachliche ~ 92, 109, 229, 281, 303 Semantik, s. Referenzsemantik Semiosphäre 126 Seseo 11, 24, cf. Aussprache Sichtbarkeit (einer Sprache), s. Präsenz, sprachliche ~ Siedlungsgeographie, s. Geographie, Siedlungs~

Siedlungsgeschichte 8, 17, 89, 94, 96, 98, 100, 103, 105, 116, 152, 153, 262, 270, 294 Siedlungslandschaft, s. Landschaft, Siedlungs~ Similarität, s. Assoziationsprinzipien, Similarität Sinnesapparat 1, 72–75, 85, cf. Perzeption; Erkenntnistheorie Sozialgeographie, s. Geographie, Sozial~ Soziolinguistik 16–22, 25, 33, 34, 38, 45– 49, 71, 91, 106, 123, 145, 189, 214, 227, 308, passim Spanisch, s. Kastilisch spatial turn 5, 9, 18, 38 Spiritualität 102 Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, s. Sprachatlanten Sprachabstand 83, 145, 158, 161, 205 Sprachatlanten cf. Kartographie; Sprachenkarten – Atlas lingüístic de Catalunya 188 – Atlas Lingüístico de la Península Ibérica 188 – Atlas Lingüístico Guaraní-Románico 178 – Atlas linguistique de France 39, 179, cap. 5.3 – Petit Atlas phonétique du Valais roman (Sud du Rhône) 182, 199 – Punktkarten 10, 61, 191–192 – Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz 39, 179, cap. 5.3 Sprachausbau 219 Sprachbewusstsein 243, cf. Spracheinstellungen Sprachbund 40, 43 Sprachbundforschung 61 Sprachbußgelder, s. multas lingüísticas Sprache passim, cf. Diasporasprachen; Landessprachen; Migrantensprachen; Minderheitensprachen; Nomadensprachen; Nationalsprachen; Ortssprachen; Regionalsprachen; Staatssprachen – eigene ~; s. llengua pròpia – gebietseigene ~ 150–154 – gebietsfremde ~ 111, 116

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– historische ~ 176 – nicht-territoriale ~ 35–36 Spracheinstellungen 177, 178, 280, cf. perceptual dialectology; Varietätenlinguistik, perzeptive ~ Sprachenkarten 59, 84, 196–201, cf. Kartographie; Sprachatlanten Sprachenlandschaft, s. Landschaft, Sprachen~ Sprachenökologie, s. Ökolinguistik Sprachenschutz 89, 108, 116, 162, 208– 222, 252, 253 Spracherhalt, s. Sprachenschutz Sprachfreiheit 207, 259 Sprachfrieden 110, 207, 208, 264, 284, cf. Sprachkontakt; Sprachkonflikt Sprachgebiet passim – politisches ~ 267–268, 271 – statistisches ~ 261, 267–268, 271–281, cf. Ortssprachendichte; Sprachstatistiken Sprachgemeinschaft, s. Sprechergemeinschaft; Repertoiregemeinschaft Sprachgeographie 24, 42–45, 195–201 Sprachgeschichte 210, 262 Sprachgrenze 2, 29–30, 40, 42, 43, 142, 157–159, 162, 165, 174, 200, 227– 233, 261, 266, passim, cf. Isoglosse – Grenzerfahrung 173, 228 – Grenzüberschreitung 90, 131, 168, 169, 173, 237 Sprachinsel 40, 211 Sprachklassifikationen 33–36, 184, 274 Sprachkodifizierung 222, cf. Norm, sprachliche ~ Sprachkonflikt 4, 146, 227, 237, 243, 281, 297–303, 307, 308, passim, cf. Sprachkontakt; Diglossie; Sprachfrieden Sprachkontakt 5, 13, 89–92, 177, 208, 212, 223, 304, 307, passim, cf. Sprachfrieden; Sprachkonflikt; Diglossie Sprachnorm, s. Norm, sprachliche ~ Sprachnormierung, s. Sprachkodifizierung; Norm, sprachliche ~

Sprachplanung 5, 20, 23, 32–34, 83, 91, 174, 177, cap. 6.1, passim, cf. Sprachpolitik; Sprachenschutz; Europäische Charta der Regionaloder Minderheitensprachen Sprachpolitik 5, 13, 48, 117, 150, 165, 169, 177, cap. 6, passim, cf. Sprachplanung; Europarat; Generalitat Sprachprestige 161, 209, 211, 214, 228, 298 Sprachraum passim Sprachrepertoire, s. Repertoire, sprachliches ~; Repertoiregemeinschaft Sprachstatistiken 231, 256, 261, 264, 267–268, 271–281, 308, cf. Sprachgebiet, statistisches ~; Ortssprachendichte; Sprecherdichte; Zusammensetzung, sprachliche ~ Sprachtod, s. Sprachverlust Sprachtypologie, s. Sprachklassifikationen Sprachvandalismus 3, 239, 308 Sprachverlust 91, 111, 212, 215, 291, cf. Diglossie Sprachwechsel, s. Sprachverlust Sprachzustand 185, 219, 231, 267, 304, cf. Sprachgeographie; Synchronie; Diachronie Sprechakt, s. parole; Sprechereignis Sprechen, s. parole; Sprechereignis Sprecher 7–9, 209, passim, cf. Sprechergemeinschaft Sprecherdichte 19–21, 138, 157 Sprechereignis 1, 20, cap. 3, cap. 5.3, passim Sprechergemeinschaft 7–9, 128, 144–147, 167, passim Sprechergruppen, s. Sprechergemeinschaft Staatssprachen 2, 17, 89–92, 109, 122, 143, 145, 148, 162, 168, 177, 208, 222, 224, 247, 257, 286, 287, 288, 298, 300, passim, cf. Nationalsprachen Staffelung (sprachlicher Fakten), s. Schichtung, sprachliche ~ Standardisierung, s. Sprachkodifizierung; Norm, sprachliche ~

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Symbolfeld 58, cf. Umfeldtheorie Synchronie 1, 74, 182, 183, 184, 185, 210, cf. Sprachzustand; Diachronie Syntopie 69, 79–82, 85, 306, cf. Diatopie; Markiertheit, diatopische ~ Taalstrijd 3, cf. Sprachvandalismus; Sprachkonflikt Tableau de la France 136 Tableau de la géographie de la France 136 Temporaldeixis, s. Deixis, Temporal~ Territorialisierung cap. 5.1 – sprachliche ~ cap. 5.2, cap. 6.1, passim Territorialität cap. 5.1, passim, cf. Ethologie – ~ der Sprache, s. Territorialitätsprinzip – Konflikt der ~en 90, 147, 169, 227, 232–243, 281–285, 285, 297–303 – sprachliche ~ 88, cap. 5.2, cap. 6, passim, cf. Territorium, sprachliches ~ Territorialitätsprinzip 6, 17, 33, 101, 127, 148–149, 162, 207, 217, 227–232, 259–261, cf. Territorialität, sprachliche ~ Territorialverhalten, s. Ethologie; Territorialität Territorium cap. 5.1, passim, cf. Territorialität – sprachliches ~ cap. 5.2, cap. 6, passim, cf. Territorialität; Territorialisierung, sprachliche ~ Tiergeographie, s. Geographie, Tier~ Topographie 17, 27, 37, 43, 51, 60, 70, 174–176, 183, 185, 196, 202–204, 206, 208, 222, 228, 285 Toponyme 53, 55–58, 58, 61, 67, 121–122, 129, 132, 133, 137, 159–163, 176, 193, 206, 220, 266, 273, 281–285 Transición 121, 285 Umfeldtheorie 15–16, 56–57, 58, 171 UNESCO 109 Universal Declaration of Linguistic Rights 108, 110–111, 117–119, 218, cf. Europäische Charta der Regionaloder Minderheitensprachen

Universalien, s. Alterität; Exteriorität; Kognition, räumliche ~ Unterdrückung (von Sprachen) 121, 285, 298, 304 Ureinwohner 100, 102, cf. Indigenität; Aborigine Ursprungsmythen, s. Gründungsmythen Valencianisch 9, 38, 286, 287, 289–291, 292, 295, 302, cf. Katalanisch Varietätenlinguistik 2, 11, 17, 37, 48, 50, 53, 55, 62, 63, 71, 82, 178, 199, 285 – perzeptive ~ 82 Verbreitungsgebiet, sprachliches ~ passim, cf. Arealität Verdinglichung 25, 37, cf. Kognition, räumliche ~ Vereinten Nationen 102, 161, 162 verfransen, s. Französierung Verhaltenstheorie/-forschung, s. Ethologie Verwaltung 101, 169, 219, 220, 222, 229, 235–237, 298 Vitalität, sprachliche ~ 57, 208, 210, cf. Bedingungen, ökolinguistische ~ Vlaamse Beweging 228 Wahrnehmung, s. Perzeption; Wahrnehmungspsychologie; Erkenntnistheorie Wahrnehmungspsychologie 5, 7, 12, 71, 77–85, 306, cf. Assoziationsprinzipien Wahrnehmungsraum, s. Raum, Wahrnehmungs~ Wallonisch 227–232, cf. langues d’oïl Wirklichkeitserfahrung 12, 24 Wirklichkeitsstrukturierung 1, 2, 8, 12, 73, 166, 306, cf. Kognition, räumliche ~ Wissen, sprachlich-räumliches ~ 5, 72, 73, 76, 84, 85, 195, 203, 306, cf. Realität, sprachlich-räumliche ~; mental maps Wlachisch (Rumänisch), s. Aromunisch Zeigefeld 58, cf. Umfeldtheorie; Deixis; Origo; Indexikalität

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Zone 16, 28, 30, 114, 256, 262, 269, 290, cf. Raum Zusammensetzung, sprachliche ~; s. Gebietszusammensetzung, sprachliche ~

Zweisprachigkeit, s. Bilinguismus; Diglossie