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German Pages 300 [353] Year 2022
Anika Kolster-Sommer Mythos Ägypten – eine kultursemiotische Studie
Public History – Angewandte Geschichte | Band 13
Anika Kolster-Sommer (Dr.) forscht an der Schnittstelle von Ägyptologie und Kulturwissenschaften mit Schwerpunkten auf der Ägyptenrezeption und dem Ausstellungswesen. Sie studierte Ägyptologie, Medienwissenschaft und Ur- und Frühgeschichte in Basel. Ihre Promotion in Ägyptologie erfolgte 2019.
Anika Kolster-Sommer
Mythos Ägypten – eine kultursemiotische Studie
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Max Geldner-Fonds und des Dissertationenfonds der Universität Basel.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: www.pixabay.com (509752, bearbeitet) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5971-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5971-3 https://doi.org/10.14361/9783839459713 Buchreihen-ISSN: 2700-8193 Buchreihen-eISSN: 2703-1357 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Vorwort .................................................................................. 11 Einleitung: Der Mythos Ägypten .......................................................... 15 1. Mythos Ägypten..................................................................... 20 1.1 Kultursemiotik................................................................ 21 1.2 Der Mythos nach Barthes .................................................... 23 1.3 Die Rezeption des Mythos .................................................... 30 1.4 Die strukturalistische Tätigkeit – Das Simulacrum und das Faksimile .......... 34 2. Die Ägyptenausstellung ............................................................. 36 2.1 Objekt und Exponat .......................................................... 39 2.2 Inszenierung ................................................................. 41 3. Ziele, Methode, Aufbau .............................................................. 44 Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung ................ 47 1. Die Wiederentdeckung Ägyptens und der Ägyptenfeldzug Napoleon Bonapartes ...... 48 1.1 Die Savants – Forschung im Sinne der Aufklärung ............................ 50 1.2 Der Stein von Rosetta und die Entzifferung der Hieroglyphen.................. 52 1.3 Belzonis Ägypten ............................................................ 53 2. »Die Mutter aller ägyptischen Ausstellungen« – Die Inszenierung von Belzoni’s Egyptian Tomb ........................................ 56 2.1 Eine absolute Neuheit – Belzoni’s Egyptian Tomb .............................. 60 2.2 Dunkelheit als Form des Mythos – Der Gang ins dunkle Grab ................... 64 2.3 Groteske Götter und symbolhafte Hieroglyphen – Die Inszenierung der Grabkammern ............................................................ 71 2.4 Mumien als Exponate in Belzonis Ausstellung ................................. 74 2.5 Die Mutter der Ägyptenausstellung und die Geburtsstunde der Ägyptologie.............................................................. 77 2.6 Dunkelheit, Entdecker, Mumie – Der Ursprung des Mythos Ägypten in Ausstellungen ............................................................. 79 3. Die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der altägyptischen Kultur ........................................................ 81
3.1
4.
5.
Die Entzifferung der Hieroglyphen und die Etablierung der Ägyptologie als Wissenschaft ............................................ 82 3.2 Museen und Sammlungen – Ausstellungen und Weltausstellungen ............. 87 Das Alte Ägypten auf den Weltausstellungen ......................................... 90 4.1 Das ästhetische Simulacrum – Der Egyptian Court im Crystal Palace........... 90 4.2 Das didaktische Simulacrum – Der Tempel-Pavillon des Parc Égyptien ........ 104 Rückblick: Der Mythos Ägypten im 19. Jahrhundert.................................. 123
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun .........................................................127 1. Tutanchamun – Die Fundsensation ................................................. 129 1.1 Kapitalgesellschaft Tutanchamun ........................................... 132 1.2 Politische und populäre Rezeption Tutanchamuns ........................... 134 1.3 Der Fluch des Tutanchamun ................................................ 136 2. Das Unheimliche im Mythos Ägypten – Sigmund Freud und der Fluch ................ 140 2.1 Der Fluch – Magie, Allmacht der Gedanken und das Gefühl des Unheimlichen........................................................... 143 2.2 Der Tod, die Wiederkehr der Toten, die Belebung des Unbelebten – Momente des Unheimlichen ............................... 146 2.3 Das Unheimliche der Wiederholung und das Unheimliche des Doppelgängers ......................................................... 149 2.4 Das Unheimliche der Dunkelheit............................................. 152 2.5 Das Unheimliche des Kastrationskomplexes ................................. 153 2.6 Der Ort des Unheimlichen – Das altägyptische Grab .......................... 154 2.7 Das Unheimliche in Ägyptenausstellungen ................................... 155 3. Tutanchamun im Vergnügungspark – Die Grabinszenierung auf der British Empire Exhibition.................................................... 156 4. Treasures of Tutankhamun – Die Ära der Großausstellungen ......................... 165 4.1 »Creating Blockbusters« – Museumsboom und Blockbuster-Ausstellung.......167 4.2 King Tut: »the most incredible diplomatic, goodwill exhuman being« – Politik einer Ausstellung .......................... 171 4.3 »Aesthetic overload« – Die Ästhetisierung der Grabbeigaben: universale Kunst, Kulturerbe und der Goldschatz..............................174 4.4 Arbiträre Logik – Das Ausstellungskonzept von Treasures of Tutankhamun .... 184 4.5 »The feeling of entering into the tomb« – Die Inszenierung von Treasures of Tutankhamun .............................................. 192 5. Rückblick: Im »Pantheon von best sellers« – King Tut, der Star des Mythos Ägypten im 20. Jahrhundert ............................................ 205 Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute ........................ 209 1. Mythologie durch Analogie – Hollywood’s Egypt und die Macht des vergleichenden Blicks ..........................................................210
1.1
2.
3.
4.
Der vergleichende Blick – The Mummy’s »Book of the Dead« versus Asetwerets »Buch vom Herausgehen am Tage« .......................216 1.2 Eine revolutionäre Inszenierung – Das dritte semiologische System als Waffe gegen den Mythos..................................................221 Mythologie durch Wiederholung – Kleopatra. Die ewige Diva und die Beständigkeit des Mythos .................................................. 225 2.1 Mythos Kleopatra ........................................................... 226 2.2 Enthüllung des Mythos durch Wiederholung – Die Inszenierung von Kleopatra. Die ewige Diva................................................ 240 Die ewige Wiederkehr des Gleichen – Reaktion und Mythisierung in Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes........................ 244 3.1 Der reaktionäre Mythos des Entdeckers ..................................... 247 3.2 Die reaktionäre Inszenierung von Scanning Sethos ........................... 253 3.3 Mythos Technik – Die Technik als neue Hieroglyphe .......................... 265 3.4 Nachahmungskunst – Faksimiles, originaler als das Original ................. 269 Rückblick: Extrempole und Zirkularität der Ägyptenausstellung ...................... 271
Schlussbetrachtung: Die Ewigkeit des Mythos Ägypten ................................. 273 1. Die Facetten des Mythos Ägypten .................................................. 275 2. Zusammenfassung und Ausblick ................................................... 279 Literaturverzeichnis.................................................................... 283 Filmverzeichnis ........................................................................ 295 Abbildungsverzeichnis ................................................................ 297
Für Marc und Julius
Vorwort
Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die 2019 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel angenommen wurde. Die Recherche für dieses Buch hat mich in zahlreiche Städte auf zwei Kontinenten geführt; geschrieben wurde das Buch in Frankfurt am Main, New York City und Basel. An all diesen Orten haben mich zahlreiche Personen unterstütz, ohne deren Mithilfe dieses Buch nicht in dieser Form existieren würde. Ihnen soll im Folgenden gedankt werden: Meinem Doktorvater, Prof. Dr. Antonio Loprieno, danke ich für das große Interesse, das er gegenüber meiner Arbeit immer gezeigt hat und für die Ermutigung, mich mit dem Thema der Ägyptenausstellung auseinanderzusetzen. Von ihm stammt auch die Idee, sich mit der Ägyptenrezeption und den Ägyptenausstellungen zu beschäftigen. Meinem Korreferenten, Prof. Dr. Markus Krajewski, danke ich für das Interesse, das er meiner Arbeit entgegengebracht hat. Die Arbeit wurde durch seine kritischen Anmerkungen an einigen Stellen geprägt. Der Grundstein des Projektes wurde während einer dreijährigen Projektförderung durch den SNF gelegt. Prof. Dr. Susanne Bickel danke ich für die Betreuung im Rahmen des SNF-Projektes »Mythos oder Wissenschaft. Die Konstruktion des Ägyptenbildes und des Ausstellungswesens«. Prof. Dr. Friederike Seyfried danke ich für ein Gespräch und die Beantwortung meiner Fragen rund um das Ausstellungswesen. Dr. Julia Endrödi danke ich für ihre konstruktive Kritik an meinem Projektantrag und für das Interesse, das sie meiner Arbeit von Anfang an entgegengebracht hat. Ihr danke ich außerdem für die Ermutigung, mich mit der Inszenierung und Rezeption von Ägyptenausstellungen zu beschäftigen. Auf diesem Forschungsgebiet war sie eine der Vorreiterinnen und für mich eine Inspiration. Dr. Miriam Ronsdorf danke ich für ein erhellendes Gespräch über Ägyptologie und Medienwissenschaft und den Hinweis, mir doch einmal Barthes anzuschauen. Den Mitgliedern des Kolloquiums von Prof. Dr. Markus Krajewski und Prof. Dr. Ute Holl sowie den Mitgliedern des Kolloquiums von Prof. Dr. Susanne Bickel danke ich für ihre kritischen Rückmeldungen zu meinen Vorträgen.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Den Metropolitan Museum of Art Archives in New York danke ich für die Möglichkeit, Einsicht in Archivmaterial nehmen zu können. Bei Angela Salisbury und Melissa Bowling möchte ich mich für die kompetente Betreuung vor Ort bedanken. Ich danke den Metropolitan Museum of Art Archives außerdem für die freundliche Genehmigung, das Archivmaterial zu publizieren. Den Bristol Museums, Galleries & Archives, vor allem Lisa Graves, danke ich für die großzügige Bereitstellung von Bildmaterial und für die Abdruckgenehmigung. Der Bundeskunsthalle, vor allem Jutta Frings und Dr. Agnieszka Lulińska, danke ich für ihre freundlichen Bemühungen und für die freundliche Abdruckgenehmigung eines Ausstellungfotos. Der Factum Foundation for Digital Technology in Conservation, vor allem Nicolas Béliard, danke ich für den freundlichen Kontakt und die großzügige Bereitstellung von Bildmaterial und dessen Abdruckgenehmigung. Hans van den Berg danke ich für die wundervolle und inspirierende Ausstellung Hollywoodʼs Egypt, für den freundlichen Kontakt und für die großzügige Bereitstellung von Bildmaterial sowie für die Abdruckgenehmigung. Dem 2015 verstorbenen Rudolf Jaggi danke ich für das große Interesse, das er meiner Arbeit entgegengebracht hat und für den Hinweis auf französische Literatur bezüglich der Belzoni Ausstellung in Paris. Er wird schwer vermisst. Elisabeth Bietenbeck danke ich für die sorgfältige Durchsicht des gesamten Manuskripts. Dem Team des transcript Verlags danke ich für die freundliche und kompetente Betreuung. Mein besonderer Dank gilt Stefanie Hanneken, die mich kompetent durch alle Rechtsfragen navigiert hat, und Isabell Schlömer für die angenehme Zusammenarbeit. Meinen Eltern, Doris und Waldemar Kolster, danke ich für die Freiheit, die sie mir gegeben haben, meine Ziele und Träume zu verwirklichen. Auch danke ich ihnen für die liebevolle Betreuung ihres Enkels, während ich am Manuskript gearbeitet habe. Mein besonderer Dank gilt drei besonderen Menschen, die mein Leben und dieses Buch in positiver Weise bereichert haben: Meiner besten Freundin Sarah Fenner, die mich durch alle Höhen und Tiefen begleitet hat, die der Dissertationsprozess und die Publikation eines Buches mit sich bringen. Ich danke ihr für die bedingungslose Unterstützung und ihre Empathie. Meinem Sohn, Julius Rupert Sommer, danke ich für seine warmherzige Art, dafür, dass er mich immer zum Lachen bringt und für das Verständnis, das er aufgebracht hat, wenn ich am Manuskript gearbeitet habe und nicht bei ihm sein konnte. Mein besonderer Dank gilt Dr. Marc Nicolas Sommer, der die gesamte Arbeit mit kritischem Blick durchgelesen hat. Ich danke ihm außerdem für die vielen Gespräche bezüglich meiner Dissertation, die eine Quelle der Inspiration waren,
Vorwort
und dafür, dass er immer an mich geglaubt hat. Ich danke Marc aber vor allem für seine bedingungslose Unterstützung und Liebe. Anika Kolster-Sommer Basel, 08. November 2021
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Einleitung: Der Mythos Ägypten
Unsere abendländische Kultur hat ein paradoxes Verhältnis zum Alten Ägypten entwickelt, das durch Missverständnisse, Sehnsüchte und Projektionen geprägt ist. Es ist auf einen Tradierungsbruch zurückzuführen: Die letzte hieroglyphische Inschrift wird auf das vierte Jahrhundert n. Chr. datiert und markiert den Zeitpunkt, an dem die Kenntnis zum Verständnis dieser Schrift verloren ging und der Zugang zu den primären Quellen der altägyptischen Kultur versiegte. Die Tradierung altägyptischer Inhalte durch die Jahrhunderte wurde dadurch unterbrochen. Seitdem war die Rezeption Altägyptens vor allem geprägt durch sekundäre Quellen: durch Texte antiker Autoren und biblische Schriften.1 In diesen Texten fungiert Ägypten weitgehend als das Andere des Griechischen, des Römischen oder des Jüdischen. Deshalb ist unser Verhältnis zum Alten Ägypten ein grundlegend anderes als das zur griechisch-römischen Antike; die altägyptische Kultur liegt fernab »unseres abendländischen kulturellen Erinnerungshorizontes«2 . Wir stehen heute in der Tradition Griechenlands und Roms: Werke griechischer und römischer Autoren sind Teil unseres kulturellen Erbes, werden noch heute konsumiert und gelten als Bestandteil höherer Bildung. Das Alte Ägypten gilt vielmehr als Inbegriff des Geheimnisvollen und steht für die Sehnsucht und die Suche nach Wahrheit, Weisheit, Sinn und Erleuchtung. Gleichzeitig wurde dem Alten Ägypten aber auch eine düstere Seite zugeschrieben: die des Exotischen, der Dekadenz und des Fremden, der Magie und des Okkultismus. Diese populäre, vielschichtige und ambivalente Ägyptenrezeption hat von der Spätantike bis heute überdauert und wird gemeinhin als Ägyptomanie bezeichnet.3
1
2 3
Stellvertretend seien hier genannt die Historien von Herodot und das Buch Exodus des Alten Testaments. Herodot: Historien, herausgegeben von H.W. Haussig, übersetzt von August Horneffer, 4. Aufl., Stuttgart 1971; zum im Buch Exodus entworfenen Ägyptenbild und seiner politischen Nachwirkung vgl. Walzer, Michael: Exodus and Revolution, New York 1985, besonders Kapitel 1. Endrödi, Julia: »Die Ewigkeit der Ägyptomanie«, in: Seipel, Wilfried (Hg.): Ägyptomanie. Europäische Konstruktionen Altägyptens von der Antike bis heute, Wien 2000, S. 159-167, hier S. 165. Die vorwissenschaftliche Ägyptenrezeption wurde breit aufgearbeitet durch die Ägyptologen Siegfried Morenz, Erik Hornung und Jan Assmann. Vgl. Morenz, Siegfried: Die Begegnung
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Die Aufklärung läutete indirekt die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Ägypten im 19. Jahrhundert ein, indem sie die esoterische und sibyllinische Beschäftigung mit dieser Kultur problematisierte. Das Symbolische und Geheimnisvolle, mit dem man Ägypten gleichsetzte, wurde vor der Aufklärung zum Grund der Ablehnung. Das Gemälde »Goethe in der Campagna«4 von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein aus dem Jahr 1787 ist bezeichnend für diese Geisteshaltung der Aufklärung.5 Das Gemälde zeigt den Dichter Johann Wolfgang von Goethe auf Gesteinsquadern ruhend inmitten der italienischen Landschaft der Campagna. Im Hintergrund befindet sich ein griechisches Relief sowie daneben ein römisches Kapitell.6 Aufschlussreich für die Beschäftigung mit der Ägyptomanie ist allerdings eine aquarellierte Zeichnung, die vermutlich eine frühere Fassung des Gemäldes darstellt (Abbildung 1).7 In der Zeichnung sehen wir ebenfalls Goethe ruhend auf Gesteinsquadern inmitten der Landschaft der Campagna. Im Gegensatz zum Gemälde Tischbeins erkennen wir aber hier, dass die steinernen Bruchstücke Hieroglyphen tragen und sich somit als Obelisk zu erkennen geben. Neben Griechenland und Rom ist in der Zeichnung auch das Alte Ägypten vertreten. Goethe ruht sozusagen auf den Überresten der vergangenen antiken Welt.8 Dass das Alte Ägypten, dargestellt durch die Hieroglyphen, in dem Gemälde Tischbeins ausgeblendet wurde, lag wohl daran, dass sich die damals noch »angenommene symbolische Weisheit der Hieroglyphen mit dem aufklärerischen Bildungsideal nicht vereinbaren ließ«, da man in ihnen keinen vernünftigen Gehalt erkannte.9 Der Prozess der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der altägyptischen Kultur begann schließlich mit dem Ägyptenfeldzug Napoleons (1798-1801), während dem französische Forscher Informationen über die Altertümer, das Alltagsleben sowie die Tier- und Pflanzenwelt Ägyptens sammelten. Die Forschungsergebnisse wurden später in den elf Bänden der Description de l’Égypte veröffentlicht. Auch der epochemachende Fund des Rosettasteins ist diesem Feldzug zuzuschreiben. Dank des auf ihm in drei Schriften (Hieroglyphen, Demotisch, Altgriechisch) erhaltenen
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Europas mit Ägypten, Berlin 1968; Vgl. Hornung, Erik: Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland, München 2003; Vgl. Assmann, Jan: Erinnertes Ägypten, Berlin 2010; Vgl. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2008. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Goethe in der Campagna, 1787, Öl auf Leinwand, Städel Museum Frankfurt. Für eine ägyptologische Besprechung dieses Gemäldes vgl. Endrödi: »Die Ewigkeit der Ägyptomanie«, a.a.O., S. 159-160; Vgl. Hornung: Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland, a.a.O., S. 133. Für eine detaillierte kunsthistorische Besprechung des Gemäldes vgl. Lenz, Christian: Tischbein. Goethe in der Campagna di Roma, Frankfurt a.M. 1979. Vgl. Ebd., S. 11-13. Vgl. Endrödi: »Die Ewigkeit der Ägyptomanie«, a.a.O., S. 159-160. Ebd.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
Abbildung 1: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Johann Georg Schütz, Friedrich Bury, »Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in der Campagna«, aquarellierte Federzeichnung.
Foto: Sigrid Geske © Klassik Stiftung Weimar.
Dekretes konnte Jean-François Champollion 1822 die Hieroglyphen entziffern; der Zugang zum Verständnis der ägyptischen Primärquellen war wieder gewährleistet. Dieses Ereignis gilt als Geburtsstunde der Ägyptologie, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Ägypten. Gab es vor diesem Stichdatum nur eine einzige Ägyptenrezeption, die vorwissenschaftlich-ägyptomanische, so gab es von nun an – mit der neuen wissenschaftlich-ägyptologischen – eine zweisträngige Ägyptenrezeption. Denn die populäre Ägyptenrezeption, die Ägyptomanie, konnte sich neben der wissenschaftlichen Ägyptenrezeption, der Ägyptologie, weiter erhalten: Sie wurde von einer vor- zu einer außerwissenschaftlichen Rezeption. Das Überleben der Ägyptomanie als außerwissenschaftlicher Ägyptenrezeption im Zeitalter der Ägyptologie ist das Phänomen, das wir in dieser Studie einer Analyse unterziehen werden. Dass die Ägyptomanie neben der Ägyptologie überleben konnte, ist auf den ersten Blick erstaunlich; nicht minder erstaunlich ist das Desinteresse, das die Ägyptologie dem Phänomen der außerwissenschaftlichen Ägyptenrezeption entgegenbringt. Zunächst musste sich die junge Ägyptologie im Laufe des 19. Jahrhunderts
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
von der Ägyptomanie abgrenzen, um sich als ernstzunehmende Wissenschaft zu etablieren. Ziel der Ägyptologie war es, das Alte Ägypten aus seinen eigenen Quellen heraus zu begreifen; Siegfried Morenz bezeichnete dieses Bestreben als »maßstabsgerechtes Begreifen«.10 Mit dem wieder gewonnen Zugang zu den Primärquellen Altägyptens wäre eigentlich eine neue und quellengetreue Auseinandersetzung mit dem Alten Ägypten auf allen Rezeptionsebenen zu erwarten gewesen. Was aber zu dieser Zeit innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigung, der Ägyptologie, für Entwicklungen vorgingen und welche Erkenntnisse gewonnen wurden, gelangte kaum an die Öffentlichkeit, sondern verblieb innerhalb eines kleinen akademischen Kreises. Da sich die Öffentlichkeit wiederum von der Ägyptologie nicht eine nüchterne, quellengetreue Rekonstruktion der altägyptischen Kultur versprach, sondern vielmehr die Aufdeckung jenes erhofften geheimen Wissens, wurde die Ägyptomanie nicht obsolet. Die Öffentlichkeit bezog ihr Wissen über das Alte Ägypten seit dem Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Kultur ab Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem aus populären Reiseberichten, wie zum Beispiel aus demjenigen von Dominique-Vivant Denon, der mit Napoleon in Ägypten war und demjenigen von Giovanni Battista Belzoni, einem Entdecker und Abenteurer. Neben diesen Reiseberichten waren es aber vor allem Ausstellung, die das Alte Ägypten der europäischen Bevölkerung näherbrachten und deren Vorstellungen der altägyptischen Kultur dauerhaft prägten. Diese Ausstellungen richteten sich an ein großes Publikum und waren grundsätzlich für alle sozialen Klassen offen. Aufgrund ihrer Reichweite über die sozialen Klassen hinweg wurden diese Ausstellungen zur hauptsächlichen Quelle der Ägyptomanie. Auffällig ist, dass sich die Abwehrhaltung der Ägyptologie gegenüber der Ägyptomanie auch gehalten hat, als die Ägyptologie längst als Fach etabliert war und die Persistenz der konkurrierenden außerwissenschaftlichen Ägyptenrezeption eigentlich ihr Interesse hätte wecken müssen. Aber die zeitgenössische Ägyptomanie wird von der Ägyptologie nicht als Konkurrent um die Deutungshoheit über das Alte Ägypten wahrgenommen; vielmehr wird sie weitgehend als nicht ernst zu nehmende, unwissenschaftliche Rezeption abgetan oder ihre Existenz wird schlicht verdrängt. Die gängige ablehnende Haltung der Ägyptologie gegenüber der Ägyptomanie unterschätzt diese aber als kulturell etablierten und bestimmenden Faktor der öffentlichen Ägyptenrezeption. Sie hat nicht nur das Ägyptenbild seit der Antike geprägt, sondern bestimmt es bis heute, ungeachtet der bald 200-jährigen Forschungsleistungen der Ägyptologie. Wie alles, was ins Unbewusste verdrängt wird, behält auch die Ägyptomanie als das verdrängte Unbewusste der Ägyptologie eine heimliche Macht über sie. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Ägyptomanie und besonders mit ihrer ungebrochenen Wirksamkeit als außerwissenschaftlicher 10
Morenz: Die Begegnung Europas mit Ägypten, a.a.O., S. 8, 131-132.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
Ägyptenrezeption darf für die Ägyptologie kein Tabu sein. Mag auch die Ägyptomanie unwissenschaftlich, ja irrational sein, so ist das kein Grund, sie zu ignorieren, zu verdrängen oder zu belächeln. Vielmehr muss es der Ägyptologie darum gehen, die Ägyptomanie mit wissenschaftlichen Mitteln zu begreifen. Das ist die Aufgabe, der unsere Analyse gewidmet ist. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Ägyptomanie hat bislang weitgehend auf einer kulturgeschichtlichen Ebene stattgefunden und sich vorwiegend auf ihre vorwissenschaftliche Gestalt beschränkt. So haben Ägyptologen wie Erik Hornung und Jan Assmann die vorwissenschaftliche Ägyptenrezeption breit rekonstruiert.11 Allerdings gibt es bis heute keine systematische Analyse der Ägyptomanie, weder der vor- noch der außerwissenschaftlichen, die ihren Funktionsmechanismus erklären könnte. Diesem Forschungsdesiderat will die Untersuchung nachkommen und damit einen Beitrag zur ägyptologischen Erschließung der Ägyptomanie leisten. Um den Funktionsmechanismus der Ägyptomanie zu entschlüsseln und dadurch ein besseres Verständnis der Ägyptomanie zu gewinnen, wird das Phänomen der Ägyptomanie im Folgenden kultursemiotisch analysiert. So schließt vorliegende Studie zunächst an die kulturgeschichtlichen Darstellungen von Assmann und Hornung an, denn sie wird auch, aber nicht nur, in historischer Perspektive durchgeführt, um die Reproduktion und Entwicklung der Ägyptomanie seit der Geburtsstunde der Ägyptologie und damit die Hartnäckigkeit der außerwissenschaftlichen Ägyptenrezeption zu ergründen. Die kultursemiotische Analyse geht aber über die Untersuchungen von Assmann und Hornung hinaus, indem sie nicht nur eine historische Untersuchung der Ägyptomanie leistet, sondern zugleich systematisch den Funktionsmechanismus der Ägyptomanie ergründet. Diese systematische Analyse fragt danach, wie die Ägyptomanie funktioniert und nicht nur danach was die Ägyptomanie ist. Historisch wie systematisch orientieren wir uns dabei an Ägyptenausstellungen. Diese bestimmen seit dem 19. Jahrhundert weitgehend die öffentliche Wahrnehmung des Alten Ägypten. Ägyptenausstellungen sind, neben Literatur und Film, eine hauptsächliche Quelle der außerwissenschaftlichen Ägyptomanie. Allerdings wird den beiden anderen Medien weniger wissenschaftliche Objektivität zugesprochen als den Ausstellungen. Da die erste Ägyptenausstellung eineinhalb Jahre vor der Geburt der Ägyptologie stattfand, ist die Geschichte der Ägyptenausstellung weitgehend die Geschichte der außerwissenschaftlichen Ägyptomanie. Ausstellungen bilden somit den idealen Untersuchungsgegenstand, um Funktionsmechanismus, Reproduktion, Entwicklung und nicht zuletzt die Persistenz der außerwissenschaftlichen Ägyptomanie zu analysieren. Das gilt insbesondere für die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftauchenden Ausstellungen, hinter denen namhafte Ägyptologen stehen. Insofern 11
Vgl. Hornung: Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland, a.a.O.; Vgl. Assmann: Erinnertes Ägypten, a.a.O.; Vgl. Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis, a.a.O.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
diese Ausstellungsmacher mit profundem ägyptologischem Fachwissen ausgestattet sind, fungieren die von ihnen konzipierten Ägyptenausstellungen als Schnittstellen, an denen wissenschaftliche und populäre Ägyptenrezeption aufeinandertreffen. Gerade an diesen Schnittstellen müssen die Gründe für die Fortdauer der Ägyptomanie im Schatten der Ägyptologie prägnant hervortreten.
1.
Mythos Ägypten
Wir haben die Ägyptomanie zunächst gemeinhin als Sinnsuche nach verborgenem Wissen in der altägyptischen Kultur sowie deren Gleichsetzung mit Okkultismus definiert. Diese klassische Definition bleibt jedoch ungenau; man hat das Gefühl, dass man den Begriff Ägyptomanie zwar nachvollziehen, aber nicht wirklich greifen kann. Dem eigentlichen Problem der Ägyptomanie kommt man nicht näher; man kratzt nur an seiner Oberfläche, wenn man nicht den Mechanismus versteht, nach dem die Ägyptomanie funktioniert. Demgegenüber ist die Frage nach der Bezeichnung zweitrangig. Die Verwendung des Begriffs »Ägyptomanie« für die populäre Ägyptenrezeption wurde oft kritisiert, da die »Manie« in »Ägyptomanie« im eigentlichen Wortsinn ein psychisches Krankheitsbild beschreibt. So gibt es immer wieder Vorschläge für eine offizielle Umbenennung des Begriffs, obwohl sich das Wort »Ägyptomanie«, sowohl im deutschsprachigen, englischsprachigen und französischsprachigen Raum längst durchgesetzt hat.12 Auch ein Neologismus, wie der von Erik Hornung geprägte Begriff »Ägyptosophie«, der die positiven Momente der vorwissenschaftlichen Ägyptenrezeption, vor allem das hermetische Wissen betont, kann letztlich keinen Beitrag zur Analyse des Funktionsmechanismus der populären Ägyptenrezeption leisten, genauso wenig wie die mit ihm einhergehende Neubewertung.13 Weder Wortneubildungen noch Umwertungen kommen der Ergründung des Phänomens näher. Um das Problem der Ägyptomanie schärfer fassen zu können, um ihren Funktionsmechanismus offen zu legen, gehen wir deshalb von folgender neuer Definition aus: Die Ägyptomanie ist der Mythos von Ägypten. Für gewöhnlich wird 12
13
Freilich gibt es innerhalb der verschiedenen Länder unterschiedliche Ansichten wie und auf was der Begriff Ägyptomanie anzuwenden sei. Oft wird die Ägyptomanie lediglich auf kunsthistorische Phänomene angewandt, wie Architektur oder Gegenstände, die im ägyptisierenden Stil gebaut oder nachgebildet wurden. Diese sehr eingeschränkte Begriffsverwendung verkennt allerdings das Potential und Tiefe der Ägyptomanie. Zur Debatte um den Begriff der Ägyptomanie und für eine klare Stellungnahme für die Verwendung dieses Begriffs vgl. Moser, Stephanie: »Reconstructing Ancient Worlds: Reception Studies, Archaeological Representation and the Interpretation of Ancient Egypt«, Journal of Archaeological Method and Theory, 22/4 (2015), S. 1263-1308. Vgl. Hornung: Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland, a.a.O., S. 9-12.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
diese Ausstellungsmacher mit profundem ägyptologischem Fachwissen ausgestattet sind, fungieren die von ihnen konzipierten Ägyptenausstellungen als Schnittstellen, an denen wissenschaftliche und populäre Ägyptenrezeption aufeinandertreffen. Gerade an diesen Schnittstellen müssen die Gründe für die Fortdauer der Ägyptomanie im Schatten der Ägyptologie prägnant hervortreten.
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Mythos Ägypten
Wir haben die Ägyptomanie zunächst gemeinhin als Sinnsuche nach verborgenem Wissen in der altägyptischen Kultur sowie deren Gleichsetzung mit Okkultismus definiert. Diese klassische Definition bleibt jedoch ungenau; man hat das Gefühl, dass man den Begriff Ägyptomanie zwar nachvollziehen, aber nicht wirklich greifen kann. Dem eigentlichen Problem der Ägyptomanie kommt man nicht näher; man kratzt nur an seiner Oberfläche, wenn man nicht den Mechanismus versteht, nach dem die Ägyptomanie funktioniert. Demgegenüber ist die Frage nach der Bezeichnung zweitrangig. Die Verwendung des Begriffs »Ägyptomanie« für die populäre Ägyptenrezeption wurde oft kritisiert, da die »Manie« in »Ägyptomanie« im eigentlichen Wortsinn ein psychisches Krankheitsbild beschreibt. So gibt es immer wieder Vorschläge für eine offizielle Umbenennung des Begriffs, obwohl sich das Wort »Ägyptomanie«, sowohl im deutschsprachigen, englischsprachigen und französischsprachigen Raum längst durchgesetzt hat.12 Auch ein Neologismus, wie der von Erik Hornung geprägte Begriff »Ägyptosophie«, der die positiven Momente der vorwissenschaftlichen Ägyptenrezeption, vor allem das hermetische Wissen betont, kann letztlich keinen Beitrag zur Analyse des Funktionsmechanismus der populären Ägyptenrezeption leisten, genauso wenig wie die mit ihm einhergehende Neubewertung.13 Weder Wortneubildungen noch Umwertungen kommen der Ergründung des Phänomens näher. Um das Problem der Ägyptomanie schärfer fassen zu können, um ihren Funktionsmechanismus offen zu legen, gehen wir deshalb von folgender neuer Definition aus: Die Ägyptomanie ist der Mythos von Ägypten. Für gewöhnlich wird 12
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Freilich gibt es innerhalb der verschiedenen Länder unterschiedliche Ansichten wie und auf was der Begriff Ägyptomanie anzuwenden sei. Oft wird die Ägyptomanie lediglich auf kunsthistorische Phänomene angewandt, wie Architektur oder Gegenstände, die im ägyptisierenden Stil gebaut oder nachgebildet wurden. Diese sehr eingeschränkte Begriffsverwendung verkennt allerdings das Potential und Tiefe der Ägyptomanie. Zur Debatte um den Begriff der Ägyptomanie und für eine klare Stellungnahme für die Verwendung dieses Begriffs vgl. Moser, Stephanie: »Reconstructing Ancient Worlds: Reception Studies, Archaeological Representation and the Interpretation of Ancient Egypt«, Journal of Archaeological Method and Theory, 22/4 (2015), S. 1263-1308. Vgl. Hornung: Das geheime Wissen der Ägypter und sein Einfluß auf das Abendland, a.a.O., S. 9-12.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
der Mythos dem Logos gegenübergestellt. Die traditionelle Bewegung der Aufklärung ist die Bewegung vom Mythos zum Logos.14 Mythische Erzählungen werden ersetzt durch Wissenschaft im Sinne einer auf Vernunft basierenden Erklärung. In der Aufklärung überwindet der Logos den Mythos. Wenn die Ägyptomanie der Mythos von Ägypten ist, hätte die Ägyptologie als Logos von Ägypten die Ägyptomanie überwinden müssen. Das ist, wie wir gesehen haben, nicht geschehen. So sind wir wieder am Ausgangspunkt des Problems angekommen. Benötigt wird ein Mythosbegriff, der das Weiterleben und die Koexistenz des Mythos in unserer heutigen, scheinbar aufgeklärten Gesellschaft erklären kann. Wir greifen deshalb auf den Mythosbegriff von Roland Barthes zurück, den er in seinem 1957 erschienen Buch Mythen des Alltags entwickelt hat.15 Wie wir im Folgenden sehen werden, kann sowohl der Funktionsmechanismus der Ägyptomanie mit Hilfe von Barthes’ Mythosbegriff durchleuchtet, als auch die Produktion und Rezeption der Ägyptomanie in Ausstellungen rekonstruiert werden.
1.1
Kultursemiotik
Barthes vollzieht in Mythen des Alltags eine semiologische oder genauer eine kultursemiotische Analyse von – wie der deutsche Titel schon sagt – Mythen des französischen Alltagslebens.16 Nach Barthes ist der Mythos eine Rede oder Erzählung von etwas, deshalb betrachtet er ihn als semiologisches System, als System von Zeichen. Das bedeutet: Der Mythos ist für Barthes ein Mittel der Kommunikation und daher eine Botschaft.17 Diese Botschaft muss aber nicht nur verbal kommuniziert werden, denn sie kann auch aus Bild oder Schrift bestehen. Träger der mythischen Rede sind beispielsweise Fotografie, Film, Reportage, Werbung und auch Ausstellungen.18 Diese Beispiele von Trägern der mythischen Rede umfassen gleichsam Barthes Untersuchungsgegenstände, an denen er die Mythen des französischen Alltagslebens, oder anders ausgedrückt, Mythen der »kleinbürgerlichen Kultur«19
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Vgl. den Titel von Wilhelm Nestles klassischem Werk Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940. Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, übersetzt von Horst Brühmann, Berlin 2010. Die Begriffe Semiotik/Semiologie und semiotisch/semiologisch werden hier synonym verwendet. Barthes benutzt Semiologie und semiologisch durchgehend in seinen Mythen des Alltags. Allgemein gilt der Begriff Semiologie mittlerweile als veraltet. 1967 einigte sich die »Association Internationale de Sémiotique« zwar auf den Gebrauch des Begriffs Semiotik/semiotisch, dennoch sind weiterhin beide Termini in Gebrauch. Vgl. dazu Meier-Oeser, Stephan: »Semiotik, Semiologie«, in: Ritter, Joachim, Gründer, Karlfried und Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1971ff, S. 601-608. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 251. Ebd., S. 252-253. Ebd., S. 9.
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Einleitung: Der Mythos Ägypten
der Mythos dem Logos gegenübergestellt. Die traditionelle Bewegung der Aufklärung ist die Bewegung vom Mythos zum Logos.14 Mythische Erzählungen werden ersetzt durch Wissenschaft im Sinne einer auf Vernunft basierenden Erklärung. In der Aufklärung überwindet der Logos den Mythos. Wenn die Ägyptomanie der Mythos von Ägypten ist, hätte die Ägyptologie als Logos von Ägypten die Ägyptomanie überwinden müssen. Das ist, wie wir gesehen haben, nicht geschehen. So sind wir wieder am Ausgangspunkt des Problems angekommen. Benötigt wird ein Mythosbegriff, der das Weiterleben und die Koexistenz des Mythos in unserer heutigen, scheinbar aufgeklärten Gesellschaft erklären kann. Wir greifen deshalb auf den Mythosbegriff von Roland Barthes zurück, den er in seinem 1957 erschienen Buch Mythen des Alltags entwickelt hat.15 Wie wir im Folgenden sehen werden, kann sowohl der Funktionsmechanismus der Ägyptomanie mit Hilfe von Barthes’ Mythosbegriff durchleuchtet, als auch die Produktion und Rezeption der Ägyptomanie in Ausstellungen rekonstruiert werden.
1.1
Kultursemiotik
Barthes vollzieht in Mythen des Alltags eine semiologische oder genauer eine kultursemiotische Analyse von – wie der deutsche Titel schon sagt – Mythen des französischen Alltagslebens.16 Nach Barthes ist der Mythos eine Rede oder Erzählung von etwas, deshalb betrachtet er ihn als semiologisches System, als System von Zeichen. Das bedeutet: Der Mythos ist für Barthes ein Mittel der Kommunikation und daher eine Botschaft.17 Diese Botschaft muss aber nicht nur verbal kommuniziert werden, denn sie kann auch aus Bild oder Schrift bestehen. Träger der mythischen Rede sind beispielsweise Fotografie, Film, Reportage, Werbung und auch Ausstellungen.18 Diese Beispiele von Trägern der mythischen Rede umfassen gleichsam Barthes Untersuchungsgegenstände, an denen er die Mythen des französischen Alltagslebens, oder anders ausgedrückt, Mythen der »kleinbürgerlichen Kultur«19
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Vgl. den Titel von Wilhelm Nestles klassischem Werk Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940. Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, übersetzt von Horst Brühmann, Berlin 2010. Die Begriffe Semiotik/Semiologie und semiotisch/semiologisch werden hier synonym verwendet. Barthes benutzt Semiologie und semiologisch durchgehend in seinen Mythen des Alltags. Allgemein gilt der Begriff Semiologie mittlerweile als veraltet. 1967 einigte sich die »Association Internationale de Sémiotique« zwar auf den Gebrauch des Begriffs Semiotik/semiotisch, dennoch sind weiterhin beide Termini in Gebrauch. Vgl. dazu Meier-Oeser, Stephan: »Semiotik, Semiologie«, in: Ritter, Joachim, Gründer, Karlfried und Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1971ff, S. 601-608. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 251. Ebd., S. 252-253. Ebd., S. 9.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
analysiert. Was Barthes nach eigener Aussage zu seinen (kultur-)semiotischen Einzelanalyse der Mythen der französischen, kleinbürgerlichen Kultur der 1950er Jahre bewogen hat, war: »ein Unbehagen an der ›Natürlichkeit‹, die von der Presse, von der Kunst, vom gesunden Menschenverstand ständig einer Wirklichkeit zugesprochen wird, die – auch wenn es die unsere ist, in der wir leben – eine durchaus geschichtliche Wirklichkeit ist. Kurz, ich litt darunter, daß in der Erzählung unserer Gegenwart ständig Natur und Geschichte miteinander vertauscht werden, und ich wollte dem ideologischen Mißbrauch auf die Spur kommen, der sich nach meinem Gefühl in der dekorativen Darstellung des Selbstverständlichen verbirgt.«20 Wie wir sehen werden, benutzt Barthes den Begriff des Mythos, um »über diese falschen Evidenzen Aufschluß zu geben«21 . Denn der Mythos ist es, der Geschichte oder, wie Barthes an anderer Stelle sagt, »Kultur in universelle Natur« verwandelt.22 Ausgehend von dieser Gegenüberstellung von Natur und Kultur sowie Barthes Vorhaben, Mythen der französischen Kultur aufzudecken, geht Jana Scholze davon aus, dass Barthes in Mythen des Alltags, wenn auch unabsichtlich, als erster eine Definition für Kultursemiotik abgibt, insofern er den Mythos als semiologisches System betrachtet und ihn als »kulturelles Konstrukt« entlarvt.23 Ausgehend von Scholzes Definition der Semiotik wird deutlich, warum sie Barthes als Kultursemiotiker ansieht. So sagt sie: »Die Semiotik untersucht alle Kommunikationsprozesse. Jeder Kommunikationsakt setzt als notwendige Bedingung ein Zeichensystem voraus und entsteht, wenn ein Zeichen im Empfänger eine Interpretationsreaktion hervorruft. Diese wird durch die Existenz eines Codes ermöglicht.«24 Barthes wiederum untersucht diese Kommunikationsprozesse in der kleinbürgerlichen Kultur, wo er »kulturelle Phänomene als Zeichensysteme« beschreibt.25 Daher ist seine Analyse eine kultursemiotische, seine Mythostheorie aus heutiger Sicht als 20 21 22 23
24 25
Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 9. Scholze, Jana: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, in: Baur, Joachim (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Bielefeld 2010, S. 121-148, hier S. 122-123. Barthes hat seine semiotischen Analysen nie als kultursemiotische bezeichnet; der Begriff taucht erst später auf. Allgemein wird Ernst Cassirer als Begründer einer Kultursemiotik gesehen. Neben Cassirer und Barthes ist Umberto Eco einer der Größen auf dem Gebiet der Kultursemiotik. Auch der russische Kultursemiotiker Jurij Lotman darf hier nicht unerwähnt bleiben. Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Aufl., Darmstadt 1954; Vgl. Eco, Umberto: A Theory of Semiotics, Bloomington/London 1976; Vgl. Lotman, Jurij, Uspenskij, Boris und Mihaychuk, Georg: »On the Semiotic Mechanism of Culture«, New Literary History, 9/2 (1978), S. 211-232. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 121. Ebd., S. 123.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
Kultursemiotik zu verstehen: Er untersucht den Mythos in der Kultur, betrachtet ihn als System von Zeichen und stellt Natur und Kultur einander gegenüber. In die Tradition einer solchen Kultursemiotik im barthesschen Sinn gehört auch die vorliegende Studie, insofern sie die Ägyptomanie, den Mythos Ägypten, in Ausstellungen untersucht. Den Nutzen der Kultursemiotik für eine Analyse wie der unseren betont Scholze: »Als Lehre von den Zeichen und Zeichenprozessen scheint die Nutzung von Semiotik und speziell Kultursemiotik für Museumsanalysen dort sinnvoll zu sein, wo Fragen der Bedeutungsbildung und Kommunikation im Vordergrund stehen und beantwortet werden sollen.«26 So gesehen, bildet eine an Barthes’ Mythosbegriff orientierte Kultursemiotik die geeignete Methode, um die Produktion und Rezeption des Mythos Ägypten in Ausstellungen zu analysieren.27 Auch der Mythos Ägypten ist eine Botschaft, die in Ausstellungen an die Besucherinnen28 kommuniziert wird. Er ist selbst nichts anderes als eine Bedeutungsbildung, die wir mit Barthes’ Mythosbegriff entschlüsseln können. Unser Vorgehen im Folgenden ist im Grunde genommen nichts anderes als »Zeichenlesen in Ausstellungen«29 .
1.2
Der Mythos nach Barthes
Barthesʼ Mythostheorie bildet, wie wir gesehen haben, die Grundlage der Kultursemiotik und somit die Grundlage für eine kultursemiotische Studie der Ägyptomanie, den Mythos von Ägypten. Deshalb wollen wir uns im Folgenden Barthesʼ Mythosbegriff im Detail zuwenden. Indem Barthes den Mythos als Zeichensystem betrachtet, ihn als eine Rede oder Erzählung versteht, lenkt er, wie Stephanie Wodianka argumentiert, den Blick auf die grundsätzliche Medialität des Mythos: Der Mythos, als Form der Kommunikation, verwendet, wie jede Botschaft, primäre Zeichensysteme, wie die Sprache oder Bilder. Er nutzt diese aber nur, um selbst als sekundäres semiologisches System transportiert zu werden.30 Nach Barthes schließt das sekundäre semiologi-
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28
29 30
Ebd. Mieke Bal hat ebenso die Semiotik für ihre Museumsanalyse verwandt, wie auch Jana Scholze für ihre semiotischen Ausstellungsanalysen: Vgl. Bal, Mieke: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, London/New York 1996; Vgl. Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004. Mit Nennung der weiblichen Funktionsbezeichnung sind in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch männliche, nichtbinäre und diversgeschlechtliche Personen mitgemeint. So lautet der Titel eines Aufsatzes von Jana Scholze. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 121-148. Vgl. Wodianka, Stephanie: »Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheoretischen Implikationen«, in: Oesterle, Günter (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis,
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Einleitung: Der Mythos Ägypten
Kultursemiotik zu verstehen: Er untersucht den Mythos in der Kultur, betrachtet ihn als System von Zeichen und stellt Natur und Kultur einander gegenüber. In die Tradition einer solchen Kultursemiotik im barthesschen Sinn gehört auch die vorliegende Studie, insofern sie die Ägyptomanie, den Mythos Ägypten, in Ausstellungen untersucht. Den Nutzen der Kultursemiotik für eine Analyse wie der unseren betont Scholze: »Als Lehre von den Zeichen und Zeichenprozessen scheint die Nutzung von Semiotik und speziell Kultursemiotik für Museumsanalysen dort sinnvoll zu sein, wo Fragen der Bedeutungsbildung und Kommunikation im Vordergrund stehen und beantwortet werden sollen.«26 So gesehen, bildet eine an Barthes’ Mythosbegriff orientierte Kultursemiotik die geeignete Methode, um die Produktion und Rezeption des Mythos Ägypten in Ausstellungen zu analysieren.27 Auch der Mythos Ägypten ist eine Botschaft, die in Ausstellungen an die Besucherinnen28 kommuniziert wird. Er ist selbst nichts anderes als eine Bedeutungsbildung, die wir mit Barthes’ Mythosbegriff entschlüsseln können. Unser Vorgehen im Folgenden ist im Grunde genommen nichts anderes als »Zeichenlesen in Ausstellungen«29 .
1.2
Der Mythos nach Barthes
Barthesʼ Mythostheorie bildet, wie wir gesehen haben, die Grundlage der Kultursemiotik und somit die Grundlage für eine kultursemiotische Studie der Ägyptomanie, den Mythos von Ägypten. Deshalb wollen wir uns im Folgenden Barthesʼ Mythosbegriff im Detail zuwenden. Indem Barthes den Mythos als Zeichensystem betrachtet, ihn als eine Rede oder Erzählung versteht, lenkt er, wie Stephanie Wodianka argumentiert, den Blick auf die grundsätzliche Medialität des Mythos: Der Mythos, als Form der Kommunikation, verwendet, wie jede Botschaft, primäre Zeichensysteme, wie die Sprache oder Bilder. Er nutzt diese aber nur, um selbst als sekundäres semiologisches System transportiert zu werden.30 Nach Barthes schließt das sekundäre semiologi-
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Ebd. Mieke Bal hat ebenso die Semiotik für ihre Museumsanalyse verwandt, wie auch Jana Scholze für ihre semiotischen Ausstellungsanalysen: Vgl. Bal, Mieke: Double Exposures. The Subject of Cultural Analysis, London/New York 1996; Vgl. Scholze, Jana: Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Leipzig, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004. Mit Nennung der weiblichen Funktionsbezeichnung sind in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch männliche, nichtbinäre und diversgeschlechtliche Personen mitgemeint. So lautet der Titel eines Aufsatzes von Jana Scholze. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 121-148. Vgl. Wodianka, Stephanie: »Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheoretischen Implikationen«, in: Oesterle, Günter (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis,
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
sche System des Mythos an das klassische dreiteilige semiologische System an, wie es von Ferdinand de Saussure charakterisiert wurde: Es besteht aus Signifikant, Signifikat und der Gesamtheit der beiden Begriffe, dem Zeichen.31 Um uns zunächst dieses saussuresche Zeichensystem zu veranschaulichen, greifen wir auf ein Beispiel aus dem alten Ägypten zurück: Die berühmte goldene Maske des Tutanchamun hatte eine spezifische Bedeutung, die durch ihre Funktion im ägyptischen Bestattungsritual festgelegt war. Unter anderem, wie religiös-symbolischen Aspekten, diente die Maske als idealisiertes Abbild des Verstorbenen zum Schutz der Mumie des Pharaos. Indem die Maske so eine spezifische Bedeutung erhält, die wir hier aus anschaulichen Gründen auf die Funktion Schutz reduzieren wollen, wird sie zu einem Zeichen. Als solches ist sie Teil eines semiologischen Systems. Dieses semiologische System besteht aus: dem Signifikanten (Lautbild), dem Signifikat (Begriff) und dem Zeichen (Wort oder konkrete Einheit, Botschaft, Bedeutung), das die assoziative Gesamtheit der ersten beiden Terme ist. Am Beispiel der Maske des Tutanchamun erklärt, ist die Maske der Signifikant; das Signifikat ist der Schutz und die assoziative Gesamtheit von Maske und Schutz ist das Zeichen, die schützende Maske. Der Mythos ist ein sekundäres Zeichensystem. Das heißt er bedient sich am primären semiologischen System und nutzt dieses als Material für sein eigenes mythisches System, um seine Botschaft zu kommunizieren. Dieses Material des primären Systems, so Barthes, wird vom sekundären System auf seine reine Bedeutungsfunktion reduziert. Ob es sich dabei um Schrift oder Bild handelt, ist unerheblich: Das Material wird hier nur als Zeichen wahrgenommen, das vom Mythos an den Anfang des sekundären Systems gestellt wird. Was im primären System Zeichen ist, also Endterm, wird im sekundären System zum einfachen Signifikanten und damit zum Ausgangspunkt des mythischen Systems. Der Mythos als Ganzer umfasst somit zwei semiologische Systeme (Abbildung 2).32 Um beide Systeme und ihre Komponenten klar voneinander unterscheiden zu können, führt Barthes eine neue Terminologie für das sekundäre System ein. Wir haben gesehen: Das Zeichen des ersten Systems wird zum Signifikanten des zweiten Systems. Der Endterm des ersten Systems ist der Anfangsterm des zweiten: Dieser Term ist gleichsam der Umschlagspunkt und das Scharnier zwischen den beiden Systemen und gehört als solcher beiden Systemen in jeweils anderer Funktion an. Barthes bezeichnet ihn deshalb als »doppeldeutig«33 : Auf der Ebene des primären Systems
31
32 33
Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Formen der Erinnerung 26, Göttingen 2005, S. 211-230, hier S. 220. Vgl. de Saussure, Ferdinand: Cours de linguistique générale, herausgegeben von Charles Bally und Albert Séchehaye, Paris 2005, S. 97-100; Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 256259. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 258-259. Ebd., S. 262.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
und als dessen Endterm (als Zeichen) nennt Barthes »den Signifikaten Sinn«.34 Mit Blick auf den ganzen Mythos, der aus primärem und sekundärem System besteht, nennt Barthes den Endterm des ersten Systems auch Signifikant, nämlich insofern er den Anfangsterm des sekundären Systems darstellt. Das Zeichen des primären Systems ist somit immer schon Signifikant des sekundären Systems. Gerade das macht seine Doppeldeutigkeit aus. Als Endterm des primären Systems wird er Sinn genannt. Auf der Ebene des sekundären Systems und als dessen Anfangsterm wird der Signifikant dagegen Form genannt. Die weiteren Termini bereiten weniger Probleme. Das Signifikat ist nicht doppeldeutig und kann deshalb auch im sekundären semiologischen System als Begriff bezeichnet werden. Der dritte Term im sekundären System, als Korrelation der ersten beiden Terme, kann dagegen nicht als Zeichen betitelt werden, weil das sekundäre semiologische System bereits aus Zeichen des primären Systems besteht. Barthes nennt den dritten Term im sekundären System deshalb Bedeutung.35 Im Folgenden werden wir den Mythos anhand dieser Bezeichnungen erklären.
Abbildung 2: Mythossystem nach Barthes.
1.2.1
Die Form und der Begriff
Der Signifikant des Mythossystems ist doppeldeutig: Er ist zugleich Sinn und Form. Der Sinn als Endterm des primären Systems ist vollständig: In ihm »hat sich bereits eine Bedeutung herausgebildet«, die aber vom Mythos zur leeren
34 35
Ebd., S. 261. Ebd.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Form umgewandelt wird.36 Der Sinn besteht bereits aus Wissen und aus einer »geordnete[n] Reihe von Tatsachen«, er besitzt eine Geschichte.37 Das alles wird vom Mythos verdrängt, wenn der Sinn zur Form wird. In diesem Prozess verliert der Sinn seinen Zusammenhang. Der Mythos zerstört den Sinn aber nicht; er entleert ihn nur zur Form und bedient sich bei Bedarf an den zurückgedrängten Inhalten des Sinns.38 Die Entleerung des Signifikanten, der Übergang vom Sinn zur Form, öffnet dem Signifikat die Tür zum Signifikanten. Das Signifikat erhält im mythischen System den Namen Begriff. Der Begriff steht in einem »Deformationsverhältnis« zur vollen Seite des mythischen Signifikanten, dem Sinn.39 Der Sinn wird seiner Geschichte beraubt, die durch Gesten ersetzt wird.40 Der Sinn wird durch den Begriff entfremdet.41 Übrig bleibt dann die leere Seite des Signifikanten, die Form, die vom Begriff mit einer neuen Geschichte gefüllt wird. Hier entsteht der Mythos: Es sind die Motive des Begriffs, die »den Mythos hervorwuchern« lassen, das heißt, sie sind der materiale Gehalt, die eigentlichen inhaltlichen Momente des Mythos.42 Barthes charakterisiert den Begriff so: »Durch den Begriff wird dem Mythos eine ganz neue Geschichte implantiert. […] Im Grunde ist das, was sich in diesem Begriff festsetzt, weniger das Reale als eine bestimmte Kenntnis des Realen; beim Übergang vom Sinn zur Form verliert das Bild an Wissen, um desto leichter das des Begriffs aufzunehmen. Allerdings ist das im mythischen Begriff enthaltene Wissen wirr, eine aus unscharfen, unbegrenzten Assoziationen bestehendes Wissen.«43 Das Begriffswissen ist wirr, weil es nur aus Assoziationen besteht, die untereinander selbst assoziativ verknüpft sind. Diese sind unscharf, weil sie nicht klar gegeneinander abgegrenzt sind, sondern ineinander übergehen; sie sind deshalb auch unbegrenzt, weil jede Assoziation eine weitere nach sich ziehen kann, da sie untereinander in einem unentwirrbaren assoziativen Geflecht verknüpft sind. Nach Barthes ist deshalb der Begriff wie »ein formloser, instabiler, nebelhafter Niederschlag«.44 Da der Begriff sich an verschiedene Formen heften kann, durchlaufen die Motive des Begriffs, wie Barthes sagt, eine stetige Wiederholung innerhalb der
36 37 38 39 40 41 42 43 44
Ebd., 262. Ebd. Ebd., S. 262-263. Ebd., S. 268. Ebd. Ebd., S. 269. Ebd., S. 264. Ebd. Ebd.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
verschiedenen Formen. Diese Wiederholung »erlaubt es, den Mythos zu entziffern: die beharrliche Wiederkehr eines Verhaltens enthüllt seine Absicht.«45 Verstehen wir die Ägyptomanie als Mythos von Ägypten, so bedeutet das nun: Der Begriff ist die Gesamtheit der ägyptomanischen Motive, die die Ägyptomanie hervorwuchern lassen. Diese Motive kehren im Verlauf der Geschichte immer wieder; es handelt sich bei ihnen um Assoziationen, die seit der Antike mit dem Alten Ägypten verknüpft werden: Tod, Todesfixierung, Reichtum, Dekadenz, Sklaverei, Despotismus, Geheimwissen, Weisheit, Schätze, Schönheit, Monumentalismus, Magie, Okkultismus, Exotik, sind nur die gängigsten Assoziationen mit dem Alten Ägypten. Der Begriff ist nun die nie klar umrissene und in sich ungeordnete Totalität der bloß assoziativ verknüpften Motive. Die Assoziationen wechseln sich ab, sie sind austauschbar untereinander, so dass selten ein einziges bestimmtes Motiv im Vordergrund steht. Sie kehren in verschiedenen Formen wieder und durchlaufen eine stetige Wiederholung. Insofern der Begriff die eigentlich ägyptomanischen Inhalte enthält, ist die nebulöse Natur des Begriffs, seine Unschärfe und Unklarheit, dafür verantwortlich, dass die Ägyptomanie selbst schwer zu fassen ist, ihre Beschreibung schwammig und nebulös bleibt. Dem mythischen Begriff als Signifikat steht laut Barthes eine Anzahl von Signifikanten zur Verfügung. Diese fungieren, ihres Sinns entleert, als Formen des Mythos. Bezogen auf den Mythos Ägypten umfassen diese Formen unter anderem Tempel, Maske, Pyramide, Statue, Mumie, Grab, Grabbeigaben, Hieroglyphen, Sphinx, Obelisk, Gold, Schmuck, altägyptische Kunst, aber auch Ausstellungen zum Thema Ägypten, die genau diese Formelemente als Exponate inszenieren.
1.2.2
Die Bedeutung
Die Bedeutung als »Verknüpfung« von Form und Begriff im mythischen System wird als einziger Term tatsächlich konsumiert, denn er ist als einziger Term voll und sichtbar. »Die Bedeutung ist der Mythos selbst«.46 Bezeichnet der Begriff den materialen Gehalt der Ägyptomanie, so ist die Bedeutung nichts anderes als die Ägyptomanie, der Mythos von Ägypten. Das ist der springende Punkt: Die Ägyptomanie ist nicht bloß ein Inhalt, sondern ein Komplex aus Inhalt und Form. Sie ist ein sekundäres semiologisches System und ihr Funktionsmechanismus ist die Entleerung des Signifikanten zur leeren Form, die mit den Motiven des Begriffs angefüllt wird. Von hier aus wird das Defizit der gängigen Auseinandersetzung mit der Ägyptomanie deutlich: Alle bisherigen Deutungsversuche der Ägyptomanie sind auf der Stufe des Begriffs stehen geblieben – obwohl der Begriff nur die Motive oder auch Assoziationen aufzeigt, die den Mythos hervorwuchern lassen – und sind nicht weiter auf die Stufe des eigentlichen Mythos vorgedrungen. Das erklärt, 45 46
Ebd., S. 265. Ebd., S. 267.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
warum die Ägyptomanie bisher nur unbefriedigend, oberflächlich und schwammig behandelt und erklärt wurde, da nur auf die Motive des Mythos Ägypten eingegangen wurde, nicht aber auf den Mechanismus selbst. Und wie wir gesehen haben, liegt es in der Natur dieser Motive, das heißt des Begriffs im mythischen System, nebulös und wirr zu sein. Deshalb ist eine Definition der Ägyptomanie, die auf dieser Begriffsstufe stehen bleibt, immer zum Scheitern verurteilt. Nur das Zusammenspiel zwischen Form und den assoziativen Inhalten, die ihr der Begriff liefert, um die leere Form damit zu füllen, ergibt schlussendlich die Bedeutung des mythischen Systems, das heißt den Mythos selbst, der als Botschaft kommuniziert und konsumiert wird. Machen wir uns den Funktionsmechanismus des Mythos Ägypten noch ein wenig klarer, indem wir das mythische System wiederum am Beispiel der Maske des Tutanchamun darstellen. Wir erinnern uns: Als Zeichen des saussureschen semiologischen Systems lag als Gesamtterm die schützende Maske vor. Die schützende Maske wird nun zum Signifikanten des mythischen Systems. Als abschließender Term des ersten Systems wird der Signifikant Sinn genannt. Dieser Signifikant ist aber doppeldeutig; er besteht aus Sinn und Form. Auf der Ebene des mythischen Systems und als ausgehender Term wird der Signifikant Form genannt. Der volle Sinn – die schützende Maske – wird vom Mythos zur leeren Form umgewandelt, und in diesem Vorgang wird der Sinn entleert, er verliert seinen Zusammenhang und seine Geschichte. Das heißt, dass von der schützenden Maske des Tutanchamuns, die ihren Platz im Bestattungsritual der 18. Dynastie im Alten Ägypten hatte, zunächst nur die Maske übrigbleibt. »Der Sinn enthielt ein ganzes Wertesystem: eine Geschichte, eine Geographie, eine Moral, […] eine Literatur. Die Form hat diesen ganzen Reichtum zurückgedrängt: […] Man muss die Geschichte weit zurücktreten lassen, wenn man das Bild freisetzen und für die Aufnahme eines Signifikats vorbereiten will.«47 Das Signifikat, im mythischen System Begriff genannt, deformiert die Inhalte des Sinns und entfremdet dessen Geschichte. Es bleibt die leere Form des Signifikanten, die sich aber immer noch an den deformierten Inhalten des Sinns bedienen kann. Diese leere Form, in unserem Fall die Maske und nicht mehr die schützende Maske, wird nun mit Motiven des Begriffs gefüllt. Die schützende Maske des Tutanchamuns wird ihrer Geschichte beraubt und ihr Sinn wird vom Begriff, den ägyptomanischen Motiven, deformiert. »Doch diese Deformation ist keine Vernichtung«48 ; die Maske bleibt da, »der Begriff braucht sie; halb amputiert man sie, raubt ihr das Gedächtnis, doch nicht die Existenz. Sie ist zugleich störrisch, stumm verwurzelt, und geschwätzig, frei verfügbare Rede im Dienst des Begriffs«49 . Die Motive des Begriffs sind Assoziationen, die mit dem Alten Ägypten 47 48 49
Ebd., S. 263. Ebd., 269. Ebd.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
verknüpft sind und die leere Form, die Maske, auffüllen. In unserem Beispiel sind diese Assoziationen: Reichtum, Schatz, Despotismus, Todesfixierung, Tod, vielleicht auch Geheimwissen und Magie. Die Assoziationsverknüpfungen wechseln sich ab, sie sind austauschbar untereinander, so dass selten ein einziges bestimmtes Motiv im Vordergrund steht. Das liegt daran, dass sie, so Barthes, historisch bedingt sind.50 Je nach Zeitgeist bleiben einige latent, treten hervor, werden obsolet oder kommen neu hinzu und machen den Mythos Ägypten komplexer und auch variantenreicher. Wie Barthes sagt, können sie auch eine stetige Wiederholung innerhalb der verschiedenen Formen durchlaufen. Das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen Sinn, Form und Begriff, also die Bedeutung, die der Mythos selbst ist, könnte in diesem Fall der Maske heißen: die goldene Maske eines despotischen Pharaos, der so todesfixiert war, dass er seinen Reichtum mit ins Grab nahm und diesen nicht teilte. Die Maske wird so im Mythos »mit der Totalität der Welt wieder neu verknüpft«51 . Da sich die Bedeutung aus dem Wechsel- und Zusammenspiel von Sinn, Form und Begriff speist, »kann es keine schlussendliche Bedeutung geben«.52 Denn der mythische Inhalt, die Assoziationen, die die Form anfüllen, können sich, wie wir gesehen haben, je nach Zeitgeist abwechseln, latent werden oder hervortreten aber auch gleichbleiben, so dass eine »eindeutige oder letzte Bedeutung«53 ausbleibt. Allerdings betont Barthes, dass die mythische Bedeutung nie ganz arbiträr ist, dass sie partiell motiviert ist und immer ein Stück Analogie enthält. Er nennt dieses Element seiner Mythostheorie die »Motiviertheit« der Bedeutung.54 »Die Motiviertheit ist für den Doppelcharakter des Mythos notwendig; der Mythos spielt mit der Analogie von Sinn und Form: kein Mythos ohne motivierte Form.«55 Wie wir oben gesehen haben, beseitigt die Form den Sinn nicht; sie lässt ihn nur verarmen, drängt ihn zurück und hält ihn sich zur Verfügung. Das heißt, dass sich die Form bei Bedarf an den Inhalten des Sinns bedient. So wird die Maske trotz der generellen Entleerung ihrer geschichtlichen Wirklichkeit immer noch dem Alten Ägypten zugeordnet werden können. Gerade das ermöglicht es, dass die Form mit den Assoziationen, die mit dem Alten Ägypten verknüpft werden, angefüllt werden kann. Diese Motiviertheit der Bedeutung bleibt jedoch bruchstückhaft, denn die Form greift nur einige Analoga auf und vernachlässigt viele. Daher ist die Analogie zwischen Begriff und Sinn, die, wie oben erwähnt, in einem Deformationsverhältnis zueinanderstehen, nur teilweise gegeben.
50 51 52 53 54 55
Ebd., S. 266. Ebd., S. 264. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 123. Ebd. Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 273. .Ebd.
29
30
Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Was bedeutet das in Bezug auf das von Barthes untersuchte Verhältnis von Natur und Kultur? Er bezeichnet den Umstand, dass der Mythos Geschichte in Natur verwandelt, als eigentliches »Prinzip des Mythos«.56 Weil die Herausstellung dieses Gegensatzes für Barthes Mythosbegriff so essentiell ist, wollen wir im Folgenden kurz auf dieses »Prinzip des Mythos« genauer eingehen, denn: »Die Verwechslung von Natur und Geschichte bzw. Natur und Kultur empfindet Barthes als einen der größten Fehler der modernen Gesellschaft und widmet sich der Aufdeckung dieses Widerspruchs in den meisten seiner Werke.«57 »[D]er Mythos ist eine von der Geschichte gewählte Rede; aus der ›Natur‹ der Dinge kann er nicht hervorgehen.«58 Das heißt, dass der Mythos immer von den Menschen geschaffen wird, er kommt nicht natürlich vor, aber es ist gerade seine Funktion, seine Gemachtheit als natürliche Gewachsenheit zu präsentieren. Der Mythos habe die Aufgabe, »eine historische Intention in Natur, etwas Zufälliges als Ewiges zu begründen«.59 Statt von Geschichte können wir auch, wie wir gesehen haben, von Kultur reden, denn der Mythos ist kulturell bedingt, er ist geschichtlich gewachsen. Es gibt nichts, keinen Gegenstand, kein Medium, das von Natur aus der mythischen Rede angehört, aber alles kann zum Mythos werden, denn man kann alles mehr oder weniger willkürlich mit Bedeutung ausstatten. Die Gegenüberstellung von Geschichte bzw. Kultur und Natur wird von Barthes auch als Gegenüberstellung von Werten und Tatsachen beschrieben. Das mythische System ist »ein System von Werten«. Es wird aber als »ein System von Tatsachen« konsumiert.60 Der Mythos wird als Fakt gelesen. Wie diese Rezeption des Mythos genau erfolgt und welche verschiedenen Rezeptionsarten des Mythos vorhanden sind, werden wir im Folgenden besprechen.
1.3
Die Rezeption des Mythos
Nachdem wir den Mechanismus des Mythos Ägypten durchleuchtet haben, ist für unsere Fragestellung, wie sich die Ägyptomanie reproduziert und entwickelt und warum sie persistiert, die Rezeption des Mythos von besonderer Bedeutung. Die Rezeptionsweise des Mythos erklärt, warum er solch eine große Wirkkraft entfalten kann. Die Kraft des Mythos erklärt sich vor allem aus der Unmittelbarkeit seiner Wirkung. Wie Barthes betont, ist er durch diese Unmittelbarkeit einer rationalen Erklärung immer einen Schritt voraus:
56 57 58 59 60
Ebd., S. 278. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 122. Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 252. Ebd., S. 294-295. Ebd., S. 280.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Was bedeutet das in Bezug auf das von Barthes untersuchte Verhältnis von Natur und Kultur? Er bezeichnet den Umstand, dass der Mythos Geschichte in Natur verwandelt, als eigentliches »Prinzip des Mythos«.56 Weil die Herausstellung dieses Gegensatzes für Barthes Mythosbegriff so essentiell ist, wollen wir im Folgenden kurz auf dieses »Prinzip des Mythos« genauer eingehen, denn: »Die Verwechslung von Natur und Geschichte bzw. Natur und Kultur empfindet Barthes als einen der größten Fehler der modernen Gesellschaft und widmet sich der Aufdeckung dieses Widerspruchs in den meisten seiner Werke.«57 »[D]er Mythos ist eine von der Geschichte gewählte Rede; aus der ›Natur‹ der Dinge kann er nicht hervorgehen.«58 Das heißt, dass der Mythos immer von den Menschen geschaffen wird, er kommt nicht natürlich vor, aber es ist gerade seine Funktion, seine Gemachtheit als natürliche Gewachsenheit zu präsentieren. Der Mythos habe die Aufgabe, »eine historische Intention in Natur, etwas Zufälliges als Ewiges zu begründen«.59 Statt von Geschichte können wir auch, wie wir gesehen haben, von Kultur reden, denn der Mythos ist kulturell bedingt, er ist geschichtlich gewachsen. Es gibt nichts, keinen Gegenstand, kein Medium, das von Natur aus der mythischen Rede angehört, aber alles kann zum Mythos werden, denn man kann alles mehr oder weniger willkürlich mit Bedeutung ausstatten. Die Gegenüberstellung von Geschichte bzw. Kultur und Natur wird von Barthes auch als Gegenüberstellung von Werten und Tatsachen beschrieben. Das mythische System ist »ein System von Werten«. Es wird aber als »ein System von Tatsachen« konsumiert.60 Der Mythos wird als Fakt gelesen. Wie diese Rezeption des Mythos genau erfolgt und welche verschiedenen Rezeptionsarten des Mythos vorhanden sind, werden wir im Folgenden besprechen.
1.3
Die Rezeption des Mythos
Nachdem wir den Mechanismus des Mythos Ägypten durchleuchtet haben, ist für unsere Fragestellung, wie sich die Ägyptomanie reproduziert und entwickelt und warum sie persistiert, die Rezeption des Mythos von besonderer Bedeutung. Die Rezeptionsweise des Mythos erklärt, warum er solch eine große Wirkkraft entfalten kann. Die Kraft des Mythos erklärt sich vor allem aus der Unmittelbarkeit seiner Wirkung. Wie Barthes betont, ist er durch diese Unmittelbarkeit einer rationalen Erklärung immer einen Schritt voraus:
56 57 58 59 60
Ebd., S. 278. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 122. Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 252. Ebd., S. 294-295. Ebd., S. 280.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
»Was von ihm erwartet wird ist ein sofortiger Effekt. Ob der Mythos anschließend wieder abgebaut wird, spielt keine große Rolle; seine Wirkung ist […] stärker als die rationale Erklärung, die ihn kurz darauf wieder dementieren könnte. Das heißt, die Lektüre des Mythos erschöpft sich in einem Augenblick. […] Eine gründlichere Lektüre wird weder die Kraft noch das Scheitern des Mythos verstärken. Der Mythos ist zugleich unübertrefflich und unbestreitbar. Zeit und Wissen können ihm weder etwas geben noch etwas nehmen. […] Jedes semiologische System ist ein System von Werten, doch der Mythenkonsument versteht die Bedeutung als ein System von Tatsachen. Der Mythos wird als Faktensystem gelesen, während er doch nur ein semiologisches System ist.«61 Das bedeutet: Im Augenblick der ersten Wahrnehmung, wenn die Besucherin die Räumlichkeiten einer Ausstellung betritt, werden je nach Inszenierung verschiedene ägyptomanische Motive evoziert und die Lektüre des Mythos durch die Besucherin erschöpft sich in einem Augenblick. Beim Betreten der Ausstellung wird der Mythos Ägypten bereits als Tatsache konsumiert und der weitere Gang durch die Ausstellung forciert diese Lektüre des Mythos nur. Eine gründlichere Lektüre, wie sie durch die didaktischen Maßnahmen, zum Beispiel Ausstellungstexte, erfolgt, hat auf den Mythos keinen Einfluss: Sie wird den bereits konsumierten Mythos nicht abbauen und einen gescheiterten Mythos, einen der nicht als Mythos konsumiert wird, kann sie nicht noch stärker scheitern lassen. Die rationale Erklärung kann dem Mythos nichts anhaben. Das bedeutet für uns: Ob eine ägyptische Ausstellung mit einem didaktischen Ziel auftritt, von Ägyptologinnen gemacht ist und sich bemüht, in Ausstellungstexten die Besucherinnen wissenschaftlich fundiert über das Alte Ägypten zu informieren, spielt für die Rezeption des Mythos keine nennenswerte Rolle. Da der erste Eindruck, der Augenblick der ersten Wahrnehmung einer Ausstellung, in der Rezeption des Mythos eine so zentrale Rolle spielt, werden wir in unseren Ausstellungsbesprechungen den Eingängen in die Ausstellungen jeweils besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Nach Barthes gibt es nun aber drei unterschiedliche Arten der Rezeption des Mythos, die wir auch direkt auf die Besucherinnen und Macherinnen ägyptischer Ausstellungen anwenden können. Für die Rezeptionsanalyse ist es laut Barthes essentiell sich an den Doppelcharakter des Signifikanten des mythischen Systems zurück zu besinnen, der zugleich Sinn und Form ist. Je nachdem ob ich mich als Rezipientin des Mythos entweder auf den Sinn oder die Form oder auf beide zugleich einstelle, praktiziere ich drei verschiedene Arten der Lektüre des Mythos. Diesen drei verschiedenen Lesarten werden drei verschieden Rezeptionstypen zu-
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Ebd., S. 279-280.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
geschrieben, die den Mythos unterschiedlich konsumieren: 1. Mythenleserin, 2. Mythenproduzentin und 3. Mythologin.62
1.3.1
Mythenleserin
Die Mythenleserin rezipiert den Mythos als Faktensystem und nicht als semiologisches System. Das geschieht, indem die Mythenleserin sich »auf den Signifikanten des Mythos als unzertrennliches Ganzes von Sinn und Form« einstellt. Sie durchschaut den »konstitutiven Mechanismus des Mythos« nicht, sondern lässt sich auf ihn ein.63 Die Mythenleserin erlebt den Mythos daher als Realität. Diese Lektüre des Mythos vollzieht sich unbewusst und »in einem Augenblick« über die Assoziationen mit dem Alten Ägypten, die die Motive des Mythos, seine inhaltlichen Momente ausmachen, mit denen die Form gefüllt wird. Das in den Motiven enthaltene Wissen ist »wirr«, »unscharf« und entspricht nicht der Realität, es enthält nur eine »bestimmte Kenntnis des Realen«. Die Mythenleserin rezipiert den Mythos so, wie wir ihn bereits oben anhand der Maske Tutanchamuns betrachtet haben; sie ist diejenige, die Barthes mythisches System vollumfänglich konsumiert. Der Sinn der schützenden Maske wird entleert und als leere Form mit Motiven des Mythos Ägypten, wie etwa Reichtum, Dekadenz, Grabschatz, Todesfixiertheit angefüllt und kann dadurch die Bedeutung erhalten: goldene, dekadente Maske, die den immensen Reichtum der Ägypter64 widerspiegelt, die ihre Schätze mit ins Grab nahmen. Die ägyptomanischen Motive stammen aus einem assoziativen Wissensfundus, den die Mythenleserin bereits mitbringt.
1.3.2
Mythenproduzentin
Die Mythenproduzentin weiß nach Barthes, welche spezifischen Assoziationen die Motive des Begriffs ausmachen und welche Formen sie anfüllen. Demnach geht die Mythenproduzentin von einem Begriff aus und sucht nach einer Form für ihn oder umgekehrt, sie hat eine Form vor Augen und sucht nach einem Begriff, der die Form auffüllen kann. Die Mythenproduzentin und ihre Herangehensweise ist im Fall der Ägyptenausstellung die Ausstellungsmacherin. Was wir als Ausstellungsmacherinnen bezeichnen umfasst nach Scholze zwei Gruppen: die Kuratorinnen und die Gestalterinnen von Ausstellungen.65 Sie produzieren nach Barthes den Mythos bewusst. Für uns ist es aber an dieser Stelle irrelevant, ob die Ausstellungsmacherinnen als Mythenproduzentinnen den Mythos Ägypten bewusst oder unbewusst erzeugen. Von Belang ist einzig: Kraft, Mechanismus und Effekt des My-
62 63 64 65
Ebd., S. 276. Ebd. Wenn wir von der Bevölkerung eines Landes bzw. von einem Kulturkreis reden, verwenden wir im Folgenden die männliche Form. Vgl. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 129.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
thos sind unabhängig davon, ob er unbewusst oder bewusst produziert wird. Die Mythenproduzentinnen ignorieren – geschehe dies bewusst oder unbewusst – die Doppeldeutigkeit des Signifikanten des mythischen Systems: Sie nehmen nur die leere Form und füllen sie mit Motiven des Begriffs an; dabei blenden sie den Sinn des Signifikanten völlig aus. »Ich habe dann ein einfaches System vor mir, in dem die Bedeutung wieder eine buchstäbliche wird.«66 Das beste Beispiel für die Arbeit der Mythenproduzentin sind Ausstellungsplakate, die die Botschaft des Mythos Ägypten in Wort und Bild kommunizieren. Auf ihnen soll das Thema der Ausstellung bereits vor dem Besuch angekündigt werden, aber durch die Zusammenstellung typischer Formen des Mythos Ägypten mit Schlagworten wie »Gold« oder »Grab« und weiteren Elementen, die assoziativ mit bestimmten Motiven des Mythos Ägypten verknüpft werden können, wird in ihnen der Mythos Ägypten (re)produziert.
1.3.3
Mythologin
Die Mythologin entziffert den Mythos und erkennt ihn »als Betrug«, indem sie, im Gegensatz zur Mythenproduzentin und zur Mythenleserin, den Signifikanten des mythischen Systems ganz bewusst als doppeldeutig wahrnimmt und so Sinn und Form klar voneinander unterscheidet.67 Sie kann so die Deformation verfolgen, die die Form am Sinn ausübt und kann infolgedessen den Mechanismus des Mythos demontieren, das heißt den Mythos als Mythos entlarven. Sie liest den Mythos nicht als Fakt, sondern eben als Mythos. Dazu muss sie erkennen, dass die Form mit Motiven der Ägyptomanie angefüllt ist. Das heißt aber, dass die Rezipientin durch analysierende Tätigkeit zuerst einmal zu einer Mythologin werden muss; auch sie ist im ersten Augenblick nicht vor dem Mythos, der einen sofortigen Effekt hat, gefeit. Die Mythologin kann nur lernen, ihre Art und Weise der Betrachtung zu ändern und beide Lesarten des Signifikanten zu rezipieren. Dadurch durchschaut sie den Mechanismus des Mythos und erkennt in ihn ein semiologisches System und nicht ein System von Fakten. Somit können wir sagen: Die Mythologin durchschaut den Prozess der Mythenproduktion. Wir werden im dritten Kapitel sehen, dass dazu nicht unbedingt ägyptologisches Fachwissen erforderlich ist: Mythologie, das Entziffern des Mythos als Mythos, kann auch durch Analogie oder Wiederholung vollzogen werden. Daraus folgt: Nicht nur die Ägyptologin kann zu einer Mythologin werden, sondern auch die Besucherin; aber jede Ägyptologin kann auch eine Mythenleserin sein.
66 67
Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 276. Ebd.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
1.4
Die strukturalistische Tätigkeit – Das Simulacrum und das Faksimile
Die Mythenleserin »konsumiert den Mythos entsprechend seiner strukturellen Bestimmung«; sie konsumiert das gesamte mythische System und »erfährt den Mythos in der Art einer […] wahren […] Geschichte«.68 Die Mythenproduzentin unterstützt, bewusst oder unbewusst, »die Intention« des Mythos, stellt ihn dadurch her oder fördert ihn. Die Mythologin »demaskier[t]« den Mythos; ihre Lesart ist »entmystifizierend«.69 Die Tätigkeitsweise der beiden letztgenannten Typen – Mythenproduzentin und Mythologin – lässt sich anhand des Textes »Die strukturalistische Tätigkeit«70 von Barthes verdeutlichen: Die zwei verschiedenen Rezeptionstypen Mythenproduzentin und Mythologin können wir als »strukturale Menschen« bezeichnen, die einer »strukturalistischen Tätigkeit« nachgehen. Barthes bestimmt den strukturalen Menschen so: »Der strukturale Mensch nimmt das Gegebene, zerlegt es, setzt es wieder zusammen.«71 Seine strukturalistische Tätigkeit besteht demnach aus »zwei Operationen«: »Zerlegung und Arrangement« eines »Objekts«, einer bestimmten Einheit.72 Das Objekt wird in seine strukturellen Bestandteile zerlegt und diese werden dann in neuer Anordnung wieder zusammengesetzt, wodurch aus den neu zusammengesetzten Fragmenten ein völlig neues Objekt entsteht, das dem Original nur ähnelt. Barthes nennt diesen Vorgang »Komposition« und er bezeichnet das arrangierte, neue Objekt als »Simulacrum«.73 Im Simulacrum wird etwas geschaffen, das mit einer ganz neuen Bedeutung ausgestattet ist. Die Neuschöpfung, geschaffen durch Zerlegung und Anordnung, »ist nicht originalgetreuer »Abdruck« der Welt, sondern […] Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopiert, sondern verständlich machen will.«74 Ein Simulacrum ist also keine maßstabsgetreue Kopie des Originals, sondern eine Interpretation und Neuschöpfung, die sich aus verschiedenen Elementen der Realität zusammenfügt, selbst aber nicht der Realität entspricht, weil sie noch nicht einmal Abbild dieser ist, sondern eine Pastiche. Um den Begriff des Simulacrums schärfer fassen zu können, ziehen wir eine Stelle aus Platons Dialog Sophistes hinzu, da die dort verwendete Unterscheidung von Ebenbild und Trugbild der modernen Verwendung des Begriffs des Simulacrums unterliegt. Platon unterscheidet an dieser Stelle zwei Arten der »Nachah-
68 69 70 71 72 73 74
Ebd., S. 277. Ebd., S. 276-277. Barthes, Roland: »Die strukturalistische Tätigkeit«, Kursbuch, 5 (1966), S. 190-196. Ebd., S. 191. Ebd., S. 193. Ebd., S. 192. Ebd.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
mungskunst«: 1. die Herstellung eines Ebenbildes (eikōn) und 2. die Herstellung eines Trugbildes (phantasma). 1. Die erste Nachahmungskunst, »die ebenbildnerische Kunst der Ebenbilder«, beschreibt Platon so: »Diese besteht eigentlich darin, wenn jemand nach des Urbildes Verhältnisses in Länge, Breite und Tiefe, dann auch jeglichem seine angemessene Farbe gebend, die Entstehung einer Nachahmung bewirkt.«75 Ein Ebenbild ist so nichts anderes als eine maßstabsgetreue Kopie von etwas, das heißt eine Kopie, die die Größenverhältnisse und die Farbgebung exakt nachbildet. Es ist eine getreue Nachahmung des Gegenstandes. Im Ausstellungskontext bezeichnen wir das als Replikat oder Faksimile. Reden wir im Folgenden von Replikat oder Faksimile, meinen wir immer ein Ebenbild im Sinne Platons. 2. Im Gegensatz zum Ebenbild ist das Trugbild nicht eine maßstabsgetreue Kopie. Das rührt daher, dass mit ihm nicht eine getreue Nachahmung bezweckt wird, sondern etwas anderes. Platon nimmt als Beispiel die bildenden Künstler, die mit ihrem Bild auf Schönheit abzielen: »Lassen also nicht die Künstler das Wahre gut sein und suchen nicht die wirklich bestehenden Verhältnisse, sondern die, welche als schön erscheinen werden, in ihren Nachbildern hervorzubringen?«76 So entsteht ein Trugbild, das eben nicht die Verhältnisse des Originals übernimmt, sondern diejenigen Verhältnisse wählt, welche als schön erscheinen werden. Das bedeutet: Das Trugbild bildet das Original nicht maßstabsgetreu ab, sondern bedient sich an einzelnen Elementen, die es in einer dem Original nicht entsprechenden Weise anordnet. Ein Trugbild entspricht also dem, was Barthes unter Simulacrum versteht.
Während das Ebenbild dem Original »ähnlich« ist,77 ist das Trugbild nach Platon etwas, was »zu gleichen scheint und doch nicht gleicht«.78 Ähnlich bedeutet für Platon, dass das Nachbild ein getreues Abbild ist. Das Trugbild dagegen ist nicht ähnlich, es scheint nur ähnlich, es scheint nur zu gleichen, obwohl es etwas ist, zu dem es eigentlich kein Original gibt. Das Trugbild scheint ein Ebenbild zu sein, ohne ein solches zu sein. Darin, in der scheinbaren Ähnlichkeit, liegt das Trugmoment des Simulacrums, das es so gefährlich macht: Es ist ein einem bestimmten Zweck dienendes Konstrukt aber es erscheint als zweckfreie Nachahmung, als Ebenbild eines Originals. Was wir allerdings an dieser Stelle nicht auf den Begriff des Simulacrums übertragen dürfen, ist Platons eindeutig negative Bewertung des Trugbildes. Ein Simulacrum ist kein vorsätzlicher Betrug, wie die Übersetzung von phan-
75 76 77 78
Platon: Sophistes, 235d7–e2. Ebd., 236a4-6. Ebd., 236a8-9. Ebd., 236b6-7.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
tasma als Trugbild suggerieren mag. Was wir als Trugmoment des Simulacrums bezeichnen, ist einzig seine Wirkungsweise: dass es zu gleichen scheint und doch nicht gleicht. In dieser Studie werden uns Simulacren in Ägyptenausstellungen begegnen. Zu ihnen gehören nicht originalgetreue oder nicht maßstabsgetreue Kopien von altägyptischen Objekten, aber auch Pastiches von Tempeln. Als Fragmente eines ehemals Ganzen erhalten die Elemente, aus denen diese Objekte zusammengesetzt sind, eine neue Bedeutung in ihrem zweckgerichteten, künstlichen Arrangement. Durch die Art und Weise der Präsentation, der Inszenierung, erfahren die Elemente in ihrem Bezug zueinander eine Interpretation. Dadurch werden neue Sinnzusammenhänge und Neukreationen erzeugt, die es so in der Realität nie gegeben hat. Exponate werden damit zu Simulacren, die als wahre Abbilder der Vergangenheit rezipiert werden, aber immer nur eine zweckgebundene Interpretation, ein Trugbild dieser Vergangenheit sein können. Da das Arrangement der Elemente einem bestimmten Zweck dient, sind Simulacren thematisch motivierte Interpretationen der Vergangenheit. Der Zweck muss dabei keineswegs selbst mythisch sein, damit das Simulacrum zum Trug wird. In unseren Ausstellungsanalysen werden uns als Zwecke von Simulacren sowohl ästhetische als auch didaktische Motive begegnen. Aber da das Simulacrum seiner Natur gemäß – es scheint zu gleichen, ohne dass es gleicht – als Ebenbild, als Faksimile erscheint, wird es als solches rezipiert und damit unabhängig von den bei der Konstruktion verfolgten Zwecken zu einer möglichen Quelle der Ägyptomanie.
2.
Die Ägyptenausstellung
Die Ägyptenausstellung ist der Untersuchungsgegenstand, an dem wir die kultursemiotische Analyse des Mythos Ägypten vollziehen werden. An paradigmatischen Ägyptenausstellungen werden der Mechanismus und die Wirkkraft des Mythos Ägypten aufgezeigt. Deshalb wollen wir im Folgenden zunächst definieren, was eine Ägyptenausstellung überhaupt ausmacht. Genauso zweisträngig wie die Geschichte von Ägyptomanie und Ägyptologie zeigt sich uns auch die Geschichte von Ausstellung und Museum. Um das herauszustellen, müssen wir uns zuerst, im Rückgriff auf die Untersuchung von Anke te Heesen, auf eine kurze Geschichte der Ausstellung im Allgemeinen begeben.79 Das Ausstellen ist eine »nach außen gerichtete Tätigkeit«.80 Das Verb »exponieren« vom lateinischen »exponere« hat die Bedeutung »zur Schau stellen«, »darstellen«.
79 80
Vgl. te Heesen, Anke: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2013. Ebd., S. 22.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
tasma als Trugbild suggerieren mag. Was wir als Trugmoment des Simulacrums bezeichnen, ist einzig seine Wirkungsweise: dass es zu gleichen scheint und doch nicht gleicht. In dieser Studie werden uns Simulacren in Ägyptenausstellungen begegnen. Zu ihnen gehören nicht originalgetreue oder nicht maßstabsgetreue Kopien von altägyptischen Objekten, aber auch Pastiches von Tempeln. Als Fragmente eines ehemals Ganzen erhalten die Elemente, aus denen diese Objekte zusammengesetzt sind, eine neue Bedeutung in ihrem zweckgerichteten, künstlichen Arrangement. Durch die Art und Weise der Präsentation, der Inszenierung, erfahren die Elemente in ihrem Bezug zueinander eine Interpretation. Dadurch werden neue Sinnzusammenhänge und Neukreationen erzeugt, die es so in der Realität nie gegeben hat. Exponate werden damit zu Simulacren, die als wahre Abbilder der Vergangenheit rezipiert werden, aber immer nur eine zweckgebundene Interpretation, ein Trugbild dieser Vergangenheit sein können. Da das Arrangement der Elemente einem bestimmten Zweck dient, sind Simulacren thematisch motivierte Interpretationen der Vergangenheit. Der Zweck muss dabei keineswegs selbst mythisch sein, damit das Simulacrum zum Trug wird. In unseren Ausstellungsanalysen werden uns als Zwecke von Simulacren sowohl ästhetische als auch didaktische Motive begegnen. Aber da das Simulacrum seiner Natur gemäß – es scheint zu gleichen, ohne dass es gleicht – als Ebenbild, als Faksimile erscheint, wird es als solches rezipiert und damit unabhängig von den bei der Konstruktion verfolgten Zwecken zu einer möglichen Quelle der Ägyptomanie.
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Die Ägyptenausstellung
Die Ägyptenausstellung ist der Untersuchungsgegenstand, an dem wir die kultursemiotische Analyse des Mythos Ägypten vollziehen werden. An paradigmatischen Ägyptenausstellungen werden der Mechanismus und die Wirkkraft des Mythos Ägypten aufgezeigt. Deshalb wollen wir im Folgenden zunächst definieren, was eine Ägyptenausstellung überhaupt ausmacht. Genauso zweisträngig wie die Geschichte von Ägyptomanie und Ägyptologie zeigt sich uns auch die Geschichte von Ausstellung und Museum. Um das herauszustellen, müssen wir uns zuerst, im Rückgriff auf die Untersuchung von Anke te Heesen, auf eine kurze Geschichte der Ausstellung im Allgemeinen begeben.79 Das Ausstellen ist eine »nach außen gerichtete Tätigkeit«.80 Das Verb »exponieren« vom lateinischen »exponere« hat die Bedeutung »zur Schau stellen«, »darstellen«.
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Vgl. te Heesen, Anke: Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg 2013. Ebd., S. 22.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
Wie te Heesen feststellt, weisen »das Museum und die Ausstellung zwei verschiedene Präsentationsweisen«81 auf. Die grundlegenden Eigenschaften der Ausstellung, das Ephemere und Mobile, stehen der Beständigkeit des Museums gegenüber.82 Die Ausstellung ist eine grundsätzlich andere Präsentationsform als das Museum, weil sich Ausstellungen unabhängig von und parallel mit den Museen, am Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, entwickelt haben. Die Ausstellung hat ihren Ursprung in den Gewerbeausstellungen und den temporären Kunstausstellungen der Pariser Salons, die beide ihren Ursprung im 18. Jahrhundert haben, sowie in den an ein internationales Publikum gerichteten Weltausstellungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sind.83 Allen drei Ausstellungsformen ist eigen, dass es sich um temporäre Angelegenheiten handelt. Kunst und Waren werden für eine begrenzte Dauer einem Publikum zur Schau gestellt: »Es geht beim Ausstellen um eine Bekanntmachung in der Öffentlichkeit, die sich auf zwei Gegenstandsbereiche bezieht: auf Werke der Bildenden Kunst (Kunstausstellungen) und auf Waren (Gewerbe-, Industrieausstellungen). Anders als beim Museum handelt es sich bei einer Ausstellung im 19. Jahrhundert um eine temporäre Einrichtung, die ihren Ort weniger in einem festen Gebäude haben muss, als vielmehr den Neuigkeitswert in den Vordergrund stellt: ob Kunst oder Waren, beides soll zur ›Kenntniß des Publikums‹ gebracht werden und den Verkauf des Ausgestellten ermöglichen.«84 Ausstellungen entstammen somit der kommerziellen Warenwelt, in der die ausgestellten Dinge auch gleichzeitig käuflich sind; sie sind publikumsorientiert ausgerichtet, da die Besucherinnen auch gleichzeitig als potentielle Käuferinnen der ausgestellten Waren galten. So meint te Heesen: »Parallel zu den Museumsgründungen hatte das sich entwickelnde Medium der Ausstellung das Objekt als Ware präsentiert und damit die Zugänglichkeit des Objekts, ja seine Käuflichkeit in Einklang mit einem Schau- und Präsentationszusammenhang gebracht – und so Besuchermassen anlocken können.«85 te Heesen betont außerdem den »Neuigkeitswert« der ausgestellten Dinge und die Temporarität, die sich ebenfalls in der Örtlichkeit der Ausstellung widerspiegelt: Es muss sich dabei nicht – wie das beim Museum der Fall ist – um ein festes Gebäude handeln.86
81 82 83 84 85 86
Ebd., S. 14. Vgl. Ebd., S. 14-15. Vgl. Ebd., S. 23. Ebd., S. 22-23. Ebd., S. 71-72. Ebd., S. 19.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Da der Ausstellung ihre Temporarität seit ihren Anfängen immanent ist und sie sich über hundert Jahre unabhängig vom Museum entwickelt hat bis beide aufeinandertrafen, wollen wir der Ausstellung ihre Eigenständigkeit zugestehen und diese sogar noch betonen, indem wir im Folgenden nicht von Sonderausstellungen oder temporären Ausstellungen reden, sondern von Ausstellungen; und das unabhängig davon, ob sie nun im Museum stattfinden oder nicht. Den Untersuchungsgegenstand unserer Analyse bezeichnen wir demnach als »Ägyptenausstellung«, »ägyptische Ausstellung« oder sogar einfach als »Ausstellung«. Handelt es sich um eine auf Dauer angelegte Präsentation von Objekten im Museum, so wird explizit von »Dauerausstellung« oder »ägyptischer Dauerausstellung« gesprochen. Als »Ägyptenausstellung« oder »ägyptische Ausstellung« werden temporäre Präsentationen bezeichnet, die das antike Ägypten, das heißt die Kultur des Alten Ägypten von der prädynastischen Zeit bis zum Ende der griechisch-römischen Zeit, thematisieren. Thomas Schneider gibt in seinem Lexikon der Pharaonen für diese 3500 Jahre umspannende Zeit zwei Eckdaten an: Den Anfang kennzeichnet die Regierungszeit des Königs Skorpion um 3150 v. Chr.; das Ende markiert der römische Kaiser Maximinus Daia um 310 n. Chr.87 Ägyptenausstellungen stehen im Spannungsfeld von Ägyptologie und Ägyptomanie, insofern die Ausstellung der Ort ist, an dem beide zusammentreffen. Das gilt nicht nur für die von Ägyptologinnen kuratierten Ausstellungen, sondern in einem gewissen Sinn auch für diejenigen, hinter denen keine fachlich ausgebildete Person steht. Denn, wie Scholze argumentiert, wird Ausstellungen als solchen generell eine bestimmte Objektivität zugesprochen: »Beispielsweise werden Neutralität und Objektivität von vielen Besuchern vorausgesetzt, was zu kritikloser Glaubwürdigkeit der Ausstellungsinhalte führen kann und die Gefahr von Mythosbildung und ideologischer Beeinflussung birgt.«88 Das bedeutet: Generell setzen Besucherinnen die Objektivität und damit auch die Wissenschaftlichkeit einer Ausstellung voraus. Denn die Motive der außerwissenschaftlichen Ägyptenrezeption bleiben in Ausstellungen meist unreflektiert, obwohl sie die Konzeption, Inszenierung und auch die Wahrnehmung der Ausstellung mitsteuern. Ausstellungen werden so zu Quellen des Mythos Ägypten. Aus diesen Gründen sind Ausstellungen zum Alten Ägypten ausgezeichnete Untersuchungsgegenstände, um den Funktionsmechanismus und die Wirkkraft des Mythos Ägypten zu analysieren. Unsere Analyse beginnt mit der ersten, der »Mutter aller ägyptischen Ausstellungen«89 1821 in London, die das Grab Sethos I. thematisierte, und endet im Jahr 2018 mit einer Ausstellung in Basel, die ebenfalls das Grab Sethos I. zum Thema
87 88 89
Vgl. Schneider, Thomas: Lexikon der Pharaonen, 2. Aufl., Düsseldorf 2002, S. 7. Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 142. Loprieno, Antonio: »Von Ägyptologie und Ägyptomanie«, UNI NOVA. Wissenschaftsmagazin der Universität Basel, H. 106 (2007), S. 6-8, hier S. 7.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
hat. Wir widmen uns somit einem Zeitraum, der rund 200 Jahre umfasst. Eine Studie, die solch einen großen Zeitraum untersucht, kann und soll keine vollständige Darstellung aller Ägyptenausstellungen geben. Sie beschränkt sich auf ausgewählte paradigmatische Beispiele, die es erlauben den Mythos Ägypten zu durchleuchten. Paradigmatisch sind die ausgewählten Ausstellungen zunächst in dem Sinne, dass an ihnen einzelne Facetten des Mythos Ägypten besonders deutlich erkennbar sind: Insgesamt sechs Facetten werden wir in unseren Analysen herausarbeiten und dabei auch die barthessche Theorie des Mythos vertiefen und ausbauen können. Diese Facetten beinhalten grundlegende oder bestimmte Inszenierungsweisen, spezifische Rezeptions- und Produktionsweisen des Mythos, Innovationen sowie Rückschritte. Auch werden uns neue oder immer wiederkehrende Motive und Formen des Mythos begegnen. Die einzelnen Ausstellungsanalysen erheben wiederum keinen Anspruch auf Vollständigkeit in dem Sinne, dass die jeweilige Ausstellungsinszenierung und ihr Konzept von Anfang bis Ende besprochen werden; vielmehr werden diejenigen Teile der Inszenierung genauer besprochen und analysiert, in denen die spezifische Facette des Mythos Ägypten hervortritt, um die es uns gerade geht. Im Laufe der Forschung zu Ägyptenausstellungen trifft man unweigerlich auf Begriffe des Ausstellungs- und Museumswesens, deren Bedeutung als allgemein bekannt vorausgesetzt wird und die deshalb kaum oder gar nicht hinterfragt werden.90 Um Missverständnissen vorzubeugen oder diese aus dem Weg zu räumen, halte ich eine Definition der für diese Studie zentralen Begriffe für unumgängliche. Diese Begriffe werden einzig und allein in Hinblick auf ihre Nützlichkeit für die Analyse der Ägyptenausstellungen herbeigezogen und definiert. Nachdem wir uns bereits der Ausstellung als ganzer gewidmet haben, sollen im Folgenden die für das Ausstellungswesen essentiellen Begriffe, »Inszenierung«, »Objekt« und »Exponat«, bestimmt werden.
2.1
Objekt und Exponat
Die Begriffe »Objekt« und »Exponat« stehen in einem engen Zusammenhang: »Objekte […] werden zu Exponaten, wenn sie vorgeführt, ausgestellt, gezeigt werden. Exponate sind Objekte, die in einen Zeigeraum ›ausgesetzt‹ werden und dort mit Präsentationshilfen wie Vitrine oder Sockel ihren Platz finden.«91 Das Exponat ist somit nur ein ausgestelltes, ein exponiertes Objekt.
90
91
Einen hervorragenden Beitrag zu Begriffen im Museum, der dieses Desiderat zur Kenntnis genommen hat, liefern: Gfrereis, Heike, Thiemeyer, Thomas und Tschofen, Bernhard: Museen verstehen. Begriffe für Theorie und Praxis, Göttingen 2015. te Heesen, Anke: »Exponat«, in: Gfrereis, Heike, Thiemeyer, Thomas und Tschofen, Bernhard (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 33-44, hier S. 35.
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hat. Wir widmen uns somit einem Zeitraum, der rund 200 Jahre umfasst. Eine Studie, die solch einen großen Zeitraum untersucht, kann und soll keine vollständige Darstellung aller Ägyptenausstellungen geben. Sie beschränkt sich auf ausgewählte paradigmatische Beispiele, die es erlauben den Mythos Ägypten zu durchleuchten. Paradigmatisch sind die ausgewählten Ausstellungen zunächst in dem Sinne, dass an ihnen einzelne Facetten des Mythos Ägypten besonders deutlich erkennbar sind: Insgesamt sechs Facetten werden wir in unseren Analysen herausarbeiten und dabei auch die barthessche Theorie des Mythos vertiefen und ausbauen können. Diese Facetten beinhalten grundlegende oder bestimmte Inszenierungsweisen, spezifische Rezeptions- und Produktionsweisen des Mythos, Innovationen sowie Rückschritte. Auch werden uns neue oder immer wiederkehrende Motive und Formen des Mythos begegnen. Die einzelnen Ausstellungsanalysen erheben wiederum keinen Anspruch auf Vollständigkeit in dem Sinne, dass die jeweilige Ausstellungsinszenierung und ihr Konzept von Anfang bis Ende besprochen werden; vielmehr werden diejenigen Teile der Inszenierung genauer besprochen und analysiert, in denen die spezifische Facette des Mythos Ägypten hervortritt, um die es uns gerade geht. Im Laufe der Forschung zu Ägyptenausstellungen trifft man unweigerlich auf Begriffe des Ausstellungs- und Museumswesens, deren Bedeutung als allgemein bekannt vorausgesetzt wird und die deshalb kaum oder gar nicht hinterfragt werden.90 Um Missverständnissen vorzubeugen oder diese aus dem Weg zu räumen, halte ich eine Definition der für diese Studie zentralen Begriffe für unumgängliche. Diese Begriffe werden einzig und allein in Hinblick auf ihre Nützlichkeit für die Analyse der Ägyptenausstellungen herbeigezogen und definiert. Nachdem wir uns bereits der Ausstellung als ganzer gewidmet haben, sollen im Folgenden die für das Ausstellungswesen essentiellen Begriffe, »Inszenierung«, »Objekt« und »Exponat«, bestimmt werden.
2.1
Objekt und Exponat
Die Begriffe »Objekt« und »Exponat« stehen in einem engen Zusammenhang: »Objekte […] werden zu Exponaten, wenn sie vorgeführt, ausgestellt, gezeigt werden. Exponate sind Objekte, die in einen Zeigeraum ›ausgesetzt‹ werden und dort mit Präsentationshilfen wie Vitrine oder Sockel ihren Platz finden.«91 Das Exponat ist somit nur ein ausgestelltes, ein exponiertes Objekt.
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Einen hervorragenden Beitrag zu Begriffen im Museum, der dieses Desiderat zur Kenntnis genommen hat, liefern: Gfrereis, Heike, Thiemeyer, Thomas und Tschofen, Bernhard: Museen verstehen. Begriffe für Theorie und Praxis, Göttingen 2015. te Heesen, Anke: »Exponat«, in: Gfrereis, Heike, Thiemeyer, Thomas und Tschofen, Bernhard (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 33-44, hier S. 35.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Das lateinische Verb »exponere« (auslegen, darstellen, aussetzen) ist die Wurzel des Begriffs »Exponat«. te Heesen weist darauf hin, dass die erste Silbe des Verbs »exponere« darauf hindeutet, »dass aus etwas heraus ein Gegenstand in einen anderen Zusammenhang gestellt und mithin seiner ursprünglichen Umgebung beraubt wird«92 . Darüber hinaus kann Objekt – der Begriff wird sonst Synonym mit Gegenstand verwendet – im Mittelalterlatein der Scholastik die Bedeutung eines sich den Sinnen darbietenden Gegenstands haben. Die Begriffe »Exponat« und »Objekt« werden in der folgenden Untersuchung demnach weitgehend synonym gebraucht. Der klassische Objektbegriff einer Ägyptenausstellung bezieht sich auf »das authentische Objekt«, das »historische Relikt, »das Original«,93 welches aus dem Ägypten der Zeit zwischen 3150 v. Chr. und 310 n. Chr. stammt und in der Sammlung eines Museums aufbewahrt wird. Diesen mittlerweile veralteten Objektbegriff müssen wir aber für unsere Studie und ihre Ausstellungsbeispiele weiter fassen, denn in Ägyptenausstellungen, die sich zum Beispiel der Ägyptenrezeption widmen, werden auch Exponate ausgestellt, die nicht aus dem Alten Ägypten stammen, sondern etwa aus Hollywood-Produktionen. Diese Requisiten sind auch Exponate einer Ägyptenausstellung; sie gehören entweder zu der Objektkategorie der Replikate beziehungsweise Faksimiles oder zu der des Simulacrums. Wir werden Ägyptenausstellungen begegnen, die maßstabgetreue Kopien ausstellen, aber auch solchen, die Simulacren ägyptischer Gräber oder Tempel zeigen; auch diese Objekte sind Exponate der Ägyptenausstellung. Daher definieren wir alle Objekte einer Ägyptenausstellung als Exponate, unabhängig davon ob sie ausschließlich altägyptische Originale zeigt oder ausschließlich Faksimiles und Simulacren oder eine Kombination aus beiden präsentiert. Dieser Objektbegriff stellt authentisches Objekt und nachgemachtes Objekt gleich. Objekte in Ausstellungen sind aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst. Damit entleert sich ihr ursprünglicher Sinn, sie werden leicht zur Form, zum Signifikanten des mythischen Systems, der anfällig ist für Assoziationen des Begriffs, die die Form anstelle ihres ursprünglichen Sinns anfüllen. Ein Exponat »ist ein Objekt im Raum, bei dem die Art und Weise des Zeigens eine eigene Geschichte hat und dieses Zeigen wiederum Sehgewohnheiten beeinflusst, wenn nicht begründet«.94 Exponate stehen nicht allein im Raum, sie sind immer Teil einer Ausstellungsinszenierung. Die Inszenierung ist es, die bestimmte Assoziationen bei den Besucherinnen hervorruft; sie ist die eigentliche Quelle des Mythos Ägypten in Ausstellungen, die den Mythos produziert und reproduziert. Die Inszenierung
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Ebd., S. 34. Schober, Anna: Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, Wien 1994, S. 78. te Heesen: »Exponat«, a.a.O., S. 44.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
ist der Grundpfeiler unserer Ausstellungsanalysen und wird deshalb im Folgenden genauer durchleuchtet.
2.2
Inszenierung
Nach Thomas Thiemeyer muss man die Ausstellungsinszenierung in ihren Zweck, ihr Merkmal und ihre Wirkung ausdifferenzieren, um sie vollumfänglich verstehen zu können.95 1. Zweck oder Ziel der Inszenierung: »Ziel jeder Inszenierung […] ist es, etwas Abstraktes den Sinnen zugänglich zu machen.« Eine Inszenierung »bringt etwas zur Erscheinung«. »Inszenierungen sind absichtliche Handlungen, die etwas erzeugen, um Wahrnehmung zu lenken und Aufmerksamkeit zu erregen.«96 2. Merkmal der Inszenierung: Ausstellungsinszenierungen sind »räumlich und zeitlich, d.h., sie finden zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort […] in drei Dimensionen statt.« Diese Dreidimensionalität sei eine Besonderheit des musealen Raums und seiner Objekte, lässt sich aber für uns ebenso auf den Ausstellungsraum anwenden. »Da sie [die Inszenierungen, d. Verf.] räumlich organisiert sind, ist die Nachbarschaft der Objekte, die topologische Struktur der Arrangements wichtig.«97 3. Wirkung der Inszenierung: Inszenierungen sind assoziativ: »Sie beziehen sich ebenso auf früher Erlebtes, Gelerntes, Erfahrenes, wie auf […] gültige kulturelle Codes, die der Betrachter verinnerlicht hat, ohne sich ihrer bewusst sein zu müssen.« »Die Inszenierungen sind zwar bewusst hergestellt«, allerdings kann den Ausstellungsmacherinnen nicht bewusst sein, welche Eindrücke, welche Assoziationen bei den Besucherinnen mit ihrer Inszenierung ausgelöst werden können.98
Wie Jana Schober bemerkt, geht die Besucherin immer mit Vorwissen und Erinnerungen in die Ausstellung.99 Aus diesem Vorwissen, diesen Erinnerungen können sich die Assoziationen speisen. Und wie die Inszenierung, so sind auch die Motive des Mythos Ägypten assoziativ, da sie aus Inhalten bestehen, die mit dem Alten 95
96 97 98 99
Vgl. Thiemeyer, Thomas: »Inszenierung«, in: Gfrereis, Heike, Thiemeyer, Thomas und Tschofen, Bernhard (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 45-62, hier S. 54-56. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 55. Vgl. Schober: Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, a.a.O., S. 96.
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Einleitung: Der Mythos Ägypten
ist der Grundpfeiler unserer Ausstellungsanalysen und wird deshalb im Folgenden genauer durchleuchtet.
2.2
Inszenierung
Nach Thomas Thiemeyer muss man die Ausstellungsinszenierung in ihren Zweck, ihr Merkmal und ihre Wirkung ausdifferenzieren, um sie vollumfänglich verstehen zu können.95 1. Zweck oder Ziel der Inszenierung: »Ziel jeder Inszenierung […] ist es, etwas Abstraktes den Sinnen zugänglich zu machen.« Eine Inszenierung »bringt etwas zur Erscheinung«. »Inszenierungen sind absichtliche Handlungen, die etwas erzeugen, um Wahrnehmung zu lenken und Aufmerksamkeit zu erregen.«96 2. Merkmal der Inszenierung: Ausstellungsinszenierungen sind »räumlich und zeitlich, d.h., sie finden zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort […] in drei Dimensionen statt.« Diese Dreidimensionalität sei eine Besonderheit des musealen Raums und seiner Objekte, lässt sich aber für uns ebenso auf den Ausstellungsraum anwenden. »Da sie [die Inszenierungen, d. Verf.] räumlich organisiert sind, ist die Nachbarschaft der Objekte, die topologische Struktur der Arrangements wichtig.«97 3. Wirkung der Inszenierung: Inszenierungen sind assoziativ: »Sie beziehen sich ebenso auf früher Erlebtes, Gelerntes, Erfahrenes, wie auf […] gültige kulturelle Codes, die der Betrachter verinnerlicht hat, ohne sich ihrer bewusst sein zu müssen.« »Die Inszenierungen sind zwar bewusst hergestellt«, allerdings kann den Ausstellungsmacherinnen nicht bewusst sein, welche Eindrücke, welche Assoziationen bei den Besucherinnen mit ihrer Inszenierung ausgelöst werden können.98
Wie Jana Schober bemerkt, geht die Besucherin immer mit Vorwissen und Erinnerungen in die Ausstellung.99 Aus diesem Vorwissen, diesen Erinnerungen können sich die Assoziationen speisen. Und wie die Inszenierung, so sind auch die Motive des Mythos Ägypten assoziativ, da sie aus Inhalten bestehen, die mit dem Alten 95
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Vgl. Thiemeyer, Thomas: »Inszenierung«, in: Gfrereis, Heike, Thiemeyer, Thomas und Tschofen, Bernhard (Hg.): Museen verstehen. Begriffe der Theorie und Praxis, Göttingen 2015, S. 45-62, hier S. 54-56. Ebd., S. 54. Ebd. Ebd., S. 55. Vgl. Schober: Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, a.a.O., S. 96.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Ägypten assoziiert werden und die sich ebenfalls aus einem etablierten Wissensfundus speisen. Außerdem sind Inszenierungen nach Thiemeyer vor allem erlebbar, weil man sie nur in ihrer Ganzheit wahrnehmen kann.100 Sie sind demgegenüber schwer nachzuerzählen. Das liegt an ihrer räumlichen und zeitlichen Ausrichtung, ihrer Vierdimensionalität. Wie Schober argumentiert, sind Ausstellunginszenierungen von »Simultanität gekennzeichnet«. Sie meint damit, dass die Ausstellungsinszenierung in ihrer Gesamtheit auf die Besucherin wirkt. Alle Informationen, alle Botschaften, die die Inszenierung kommuniziert, nimmt die Besucherin gleichzeitig wahr und »nicht Wort für Wort hintereinander wie in der Sprache«.101 Ähnlich verhält es sich beim Mythos, der sich innerhalb eines Augenblickes ergibt. Mythos und Inszenierung ist gemeinsam, dass sie sich vor allem einer sinnlichen Erfahrung erschließen. Inszenierungen bieten »das Nacherleben oder Nachempfinden von Situationen an«.102 Sie ermöglichen das Erfahren, »das Ausprobieren von alternativen Wirklichkeiten«.103 Ausstellungsinszenierungen sind demnach sinnliche Erfahrungswelten, in denen rationale Deutungsversuche fehl am Platz scheinen. Genauso verhält es sich auch mit dem barthesschen Mythos, der gegen rationale Erklärungen resistent bleibt. Abschließend gibt Thiemeyer eine zusammenfassende Definition für die Ausstellungsinszenierung ab: »Inszenierungen sind Strategien, die in einer Ausstellung Exponate mithilfe von Ausstellungsmobiliar, audiovisuellen und atmosphärischen Medien (Licht, Töne) räumlich in Szene setzen, um Deutungen nahzulegen und Objekteigenschaften und -bedeutungen sinnlich erfahrbar zu machen. Sie sind mehr als die Summe ihrer Teile, nur partiell zu verstehen oder in Begriffe zu übersetzen, sondern vor allem erlebbar.«104 Was Thiemeyer atmosphärische Medien nennt, bezeichnet Schober als immaterielle Medien. Das sind Medien wie Licht, Ton aber auch Wärme und Kälte. Für Schober sind diese immateriellen Medien Botschaften, die unsere Sinneswahrnehmungen unabhängig von ihrem Inhalt strukturieren. Als Beispiel nennt sie das Licht, das eine Information ohne Inhalt gebe, denn ein einfacher Punktstrahler genüge, um die Dramatik einer Inszenierung zu erhöhen.105 In ägyptischen Ausstellungen 100 Vgl. Thiemeyer: »Inszenierung«, a.a.O., S. 55. 101 Schober: Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, a.a.O., S. 14. 102 Thiemeyer: »Inszenierung«, a.a.O., S. 56. 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Vgl. Schober: Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen, a.a.O., S. 13.
Einleitung: Der Mythos Ägypten
ist es vor allem die Absenz von Licht, die Dunkelheit, die als atmosphärisches Medium eingesetzt wird und als solches auch zu den Mitteln der Inszenierung gehört. Fassen wir zusammen: Eine Ausstellungsinszenierung besteht aus einem Zusammenspiel zwischen den Exponaten und mehreren Mitteln der Inszenierung. Exponate werden in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit mit Hilfe einer Ausstellungsarchitektur sowie Licht, Farben, Tönen und audiovisuellen Medien zu einem bestimmten Zweck präsentiert. Das Zusammenspiel der Mittel der Inszenierung, wie Schober sie nennt, strukturiert die Wahrnehmung der Besucherin.106 Das heißt, sie lenkt die Wahrnehmung der Besucherin hin zu bestimmten Assoziationen und weg von anderen. Das Zusammenspiel der Mittel der Inszenierung mit den Exponaten, die Ausstellungsinszenierung als solche, ist, wie wir sehen werden, die eigentliche Quelle des Mythos Ägypten in Ägyptenausstellungen. Denn die Inszenierung evoziert bei den Besucherinnen unwillkürlich bestimmte Assoziationen mit dem Alten Ägypten und dadurch wird der Mythos Ägypten in Ägyptenausstellungen produziert und reproduziert. Schober bemerkt, »daß Ausstellungen flüchtige Medien sind. Sie sind einmal abgebaut, meist verschwunden: Inszenierungen werden nur selten abfotografiert, auf Video aufgenommen oder schriftlich dokumentiert. Auch in den Ausstellungskatalogen wird die Ebene der Präsentation selten dokumentiert oder interpretiert.«107 Dieser Mangel erfährt jüngst aber eine Behebung aufgrund der sozialen Medien: Ausstellungen werden mit Hilfe von Videos und Bildern in den sozialen Medien beworben. Besucherinnen dürfen teilweise Fotos und Videos der Ausstellungsräume machen und posten.108 Diese Entwicklung der Ausstellungsdokumentation wird sich im Folgenden auch an unseren Rekonstruktionen der Ausstellungen zeigen. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts muss auf Zeitungsberichte, Berichte von Zeitgenossinnen und Ausstellungskataloge für die Analyse der Ausstellungen zurückgegriffen werden. Für Informationen betreffend der Ausstellung Treasures of Tutankhamun, die in den 1970er Jahren stattfand, wurden die Archive des Metropolitan Museum of Art in New York besucht und
106 Vgl. Ebd., S. 95. 107 Ebd., S. 8. 108 So zum Beispiel geschehen während der Ausstellung Scanning Sethos 2017-2018 im Antikenmuseum in Basel, bei der die Besucherinnen sogar dazu aufgefordert wurden sich in der faksimilierten Grabkammer abzulichten. Außerdem dokumentierte Factum Arte die komplette Ausstellungsinszenierung: www.factumfoundation.org/pag/1015/und www.factumfoundation.org/pag/996/Scanning-Seti-The-regeneration-of-a-Pharaonic-Tomb (zugegriffen am 1.11.2021). Auch ein Rundgang durch die Ausstellung kann angeschaut werden: https://vimeo. com/243133106 (zugegriffen am 3.11.2021). Die Ausstellungsgestaltung, d.h. Inszenierung, der Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva ist auf der Website des Ausstellungsgestalters Thomas Kaiser zu betrachten: https://www.museumsgestaltung.com/portfolio/kleopatra/(zugegriffen am 3.11.2021).
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Archivmaterial gesichtet und ausgewertet. Die Ausstellungen des 21. Jahrhundert wurden von der Autorin besucht und dokumentiert und sind teilweise auch online zu finden und zu rekonstruieren.
3.
Ziele, Methode, Aufbau
Fassen wir abschließend Ziele, Methode und Aufbau unserer Untersuchung zusammen. Das Ziel unserer Studie ist es, die Ägyptomanie mit wissenschaftlichen Mitteln zu begreifen. Dafür haben wir die Ägyptomanie neu als Mythos von Ägypten definiert. Indem wir die Ägyptomanie als Mythos von Ägypten verstehen, machen wir sie einer kultursemiotischen Analyse zugänglich, der wir uns bedienen, um uns wissenschaftlich mit der Ägyptomanie auseinandersetzen zu können. Dabei bedienen wir uns primär der barthesschen Analyse des Mythos als sekundäres semiologisches System, bemühen aber auch die verschiedenen Rezeptionstypen sowie die im Rückgriff auf Barthes und Platon gewonnenen Begriffe des Simulacrums und des Faksimiles. Diese Analyse der Ägyptomanie werden wir anhand von Ägyptenausstellungen durchführen, da es seit dem 19. Jahrhundert vorwiegend Ausstellungen sind, die die populäre Ägyptenrezeption prägen. Wir schränken uns dabei auf die moderne, das heißt außerwissenschaftliche Ägyptomanie ein, da deren Fortdauer in Zeiten der Ägyptologie das eigentlich Rätselhafte an der Ägyptomanie darstellt. Um die Gründe für diese Dauerhaftigkeit aufzudecken, verfolgen wir die Entwicklung der Ägyptomanie in Ausstellungen vom Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Ägypten bis heute. Unsere zugleich systematische und historische Untersuchung orientiert sich an vier Zielsetzungen. Sie möchte zeigen… 1. dass die Ägyptomanie eine spezifische Funktionsweise aufweist und diese Funktionsweise in einer systematischen Analyse erschließen. 2. wie die Ägyptomanie kraft dieser Funktionsweise in Ausstellungen produziert und reproduziert wird. 3. dass die Ägyptomanie sich durch diese Funktionsweise weitgehend unabhängig von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Ägyptologie reproduziert. 4. welche ägyptomanischen Motive, das heißt Motive des Mythos Ägypten, seit der ersten Ägyptenausstellung bis heute persistieren, in welchen Zeitumständen bestimmte Motive in den Vordergrund, andere Motive in den Hintergrund rücken und welche Motive obsolet geworden sind beiziehungsweise neu dazugekommen sind.
Um diese Nachweise zu erbringen, werden wir den Mythos Ägypten zugleich systematisch und historisch erschließen. Die kultursemiotische Betrachtung der Ägyp-
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Archivmaterial gesichtet und ausgewertet. Die Ausstellungen des 21. Jahrhundert wurden von der Autorin besucht und dokumentiert und sind teilweise auch online zu finden und zu rekonstruieren.
3.
Ziele, Methode, Aufbau
Fassen wir abschließend Ziele, Methode und Aufbau unserer Untersuchung zusammen. Das Ziel unserer Studie ist es, die Ägyptomanie mit wissenschaftlichen Mitteln zu begreifen. Dafür haben wir die Ägyptomanie neu als Mythos von Ägypten definiert. Indem wir die Ägyptomanie als Mythos von Ägypten verstehen, machen wir sie einer kultursemiotischen Analyse zugänglich, der wir uns bedienen, um uns wissenschaftlich mit der Ägyptomanie auseinandersetzen zu können. Dabei bedienen wir uns primär der barthesschen Analyse des Mythos als sekundäres semiologisches System, bemühen aber auch die verschiedenen Rezeptionstypen sowie die im Rückgriff auf Barthes und Platon gewonnenen Begriffe des Simulacrums und des Faksimiles. Diese Analyse der Ägyptomanie werden wir anhand von Ägyptenausstellungen durchführen, da es seit dem 19. Jahrhundert vorwiegend Ausstellungen sind, die die populäre Ägyptenrezeption prägen. Wir schränken uns dabei auf die moderne, das heißt außerwissenschaftliche Ägyptomanie ein, da deren Fortdauer in Zeiten der Ägyptologie das eigentlich Rätselhafte an der Ägyptomanie darstellt. Um die Gründe für diese Dauerhaftigkeit aufzudecken, verfolgen wir die Entwicklung der Ägyptomanie in Ausstellungen vom Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Ägypten bis heute. Unsere zugleich systematische und historische Untersuchung orientiert sich an vier Zielsetzungen. Sie möchte zeigen… 1. dass die Ägyptomanie eine spezifische Funktionsweise aufweist und diese Funktionsweise in einer systematischen Analyse erschließen. 2. wie die Ägyptomanie kraft dieser Funktionsweise in Ausstellungen produziert und reproduziert wird. 3. dass die Ägyptomanie sich durch diese Funktionsweise weitgehend unabhängig von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Ägyptologie reproduziert. 4. welche ägyptomanischen Motive, das heißt Motive des Mythos Ägypten, seit der ersten Ägyptenausstellung bis heute persistieren, in welchen Zeitumständen bestimmte Motive in den Vordergrund, andere Motive in den Hintergrund rücken und welche Motive obsolet geworden sind beiziehungsweise neu dazugekommen sind.
Um diese Nachweise zu erbringen, werden wir den Mythos Ägypten zugleich systematisch und historisch erschließen. Die kultursemiotische Betrachtung der Ägyp-
Einleitung: Der Mythos Ägypten
tomanie mit Hilfe von Barthes Mythosbegriff befähigt uns zu einer systematischen Analyse, die es erlaubt, ihren Funktionsmechanismus zu durchleuchten. Diese kultursemiotische Analyse wird in historischer Perspektive durchgeführt, um die Persistenz und Reproduktion der Ägyptomanie verfolgen zu können. Die historischsystematische Analyse wird an Ägyptenausstellungen vorgenommen. Was wir in dieser kultursemiotischen Studie machen werden, ist demnach »Zeichenlesen in Ausstellungen«.109 Obwohl wir unsere Analyse an Ausstellungen vornehmen, gilt unser Interesse nicht den Ausstellungen als solchen, sondern dem Mythos Ägypten. Der Mythos Ägypten ist unser Protagonist und wird uns während dieser Studie konstant begleiten. Es ist seine Funktionsweise, die uns interessiert und die Geschichte, die wir rekonstruieren, ist seine Geschichte. Wir widmen uns demnach einer zugleich synchronen wie diachronen Analyse des Mythos Ägypten. In synchroner Perspektive werden mit den Mitteln der kultursemiotischen Analyse ausgewählte Ausstellungen auf ägyptomanische Mechanismen und Motive hin untersucht. Bei den Ausstellungen handelt es sich um aus systematischen Gründen paradigmatische Ausstellungen, die aus einer Zeitspanne von 200 Jahren ausgewählt wurden. In synchroner Perspektive decken die Analysen der verschiedenen Ausstellungen verschiedene Facetten des Mythos auf: seinen Funktionsmechanismus, seine Wirkung, die wechselnden Motive und auch die verschiedenen Rezeptionsarten. In diachroner Perspektive wird die Entwicklung oder Nichtentwicklung des Mythos Ägypten im Allgemeinen und seiner Facetten im Besonderen von den ersten Ausstellungen im 19. Jahrhundert bis in die heutige Zeit verfolgt. Mit Hilfe der diachronen Untersuchung kann man nachverfolgen, welcher Entwicklung der Mythos unterliegt und welcher nicht. Dadurch wird deutlich, was am Mythos gleichsam dauerhaft ist und was dem herrschenden Zeitgeist unterliegt. Die historische und die systematische Perspektive sind miteinander verzahnt; die eine wird hier nicht ohne Berücksichtigung der anderen untersucht. Denn in der historischen Abfolge von Ausstellungen stellt sich die Systematik des Mythos heraus. Die Auswahl der analysierten Ägyptenausstellungen folgt der synchronen systematischen Perspektive der Untersuchung des Mythos, um möglichst viele Facetten des Mythos Ägypten aufzeigen zu können. Nach diesen Facetten wurden die Ausstellungen ausgewählt, denn nicht in jeder Ägyptenausstellung gibt es neue Seiten des Mythos Ägypten zu zeigen. Die Studie erhebt daher nicht den Anspruch, eine vollständige Geschichte der Ägyptenausstellung nachzuzeichnen. Sie will keine Bestandsaufnahme der Ägyptenausstellung seit ihrem 200-jährigen Bestehen machen. Gleichermaßen will sie auch keine Wissenschaftsgeschichte betreiben: Die Entwicklung der Ägyptologie wird nur soweit nacherzählt, wie es für die Analyse 109 Scholze: »Kultursemiotik: Zeichenlesen in Ausstellungen«, a.a.O., S. 121-148.
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des Mythos Ägypten notwendig ist. Die Analyse des Mythos wird darüber hinaus nicht wertend sein: Es geht nicht darum, das Ausstellungswesen zu kritisieren und eine Anleitung für mythosfreie Ausstellungen zu geben. Es wird sich herausstellen, dass so etwas nicht möglich ist. Die Absicht der Studie ist vielmehr, die Grundlage zu einem reflektierten Umgang mit dem Mythos Ägypten zu legen. Aus der historisch-systematischen Ausrichtung unserer Analyse ergibt sich die Unterteilung der Studie in drei Kapitel, die drei verschiedenen Epochen gewidmet sind und jeweils spezifische Schwerpunkte legen. Insgesamt werden hier mit Hilfe der systematischen Analyse sechs Facetten des Mythos herausgestellt. Das erste Kapitel beginnt mit dem Ägyptenfeldzug Napoleons, der den Anfang mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Ägypten markiert, und endet mit dem Beginn des 1. Weltkriegs 1914. Die Analyse der Ausstellungen beginnt mit der allerersten Ägyptenausstellung überhaupt, derjenigen von Giovanni Battista Belzoni 1821. Danach werden zwei Ausstellungen analysiert, die im Rahmen der ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populären Weltausstellungen entstanden. Das erste Kapitel legt für die folgenden die Grundlage, insofern es den Funktionsmechanismus des Mythos Ägypten analysiert. Das zweite Kapitel folgt dem Mythos Ägypten durch das 20. Jahrhundert. Dieses wird dominiert von der Entdeckung des Tutanchamun 1922 und von Ausstellungen zu diesem Pharao in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit Tutanchamun bekommt der Mythos Ägypten eine neue Form: Tutanchamuns Goldmaske gilt bis heute als bekannteste Ikone des Alten Ägypten und ist gar ein Synonym für das Alte Ägypten. Deshalb untersucht das zweite Kapitel den Mythos Ägypten am Phänomen Tutanchamun. Dabei wird zunächst auf ein neues Motiv des Mythos eingegangen: auf den Fluch. Im Anschluss werden zwei Ausstellungen zum Thema Tutanchamun analysiert: Die erste Tutanchamun-Ausstellung überhaupt, die 1924 in England stattfand, und die Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun, die in den 1970er Jahren durch die USA tourte. Im dritten Kapitel werden drei Ausstellungen der Gegenwart besprochen, die sowohl den Fortschritt als auch den Rückschritt innerhalb der Entwicklung der Ägyptenausstellung und innerhalb der Rezeption des Mythos Ägypten erkennen lassen. Hier werden die verschiedenen möglichen Rezeptionsweisen des Mythos am Material aufgezeigt. Die Studie endet mit einer Ausstellung aus dem Jahr 2018, die die allererste Ägyptenausstellung 1821 in London nicht nur thematisiert, sondern auch deren Konzept und Inszenierung übernimmt. Damit schließt sich der Kreis unserer Untersuchung.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Der Beginn der Ägyptenausstellung fällt in die gleiche Zeit wie der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Ägypten: Die Geburtsstunde der Ägyptenausstellung schlägt im Jahr 1821 mit Giovanni Battista Belzonis Ausstellung in London; ein Jahr später, im Herbst 1822, schlägt die Geburtsstunde der Ägyptologie, als es Jean-François Champollion gelingt, die Hieroglyphen zu entziffern. Die Jahreszahlen zeigen: Die Entwicklung der Ägyptenausstellung setzte mit einem Jahr Vorsprung gegenüber der Ägyptologie ein und der Ursprung der Ägyptenausstellung war somit unabhängig von der Wissenschaft der Ägyptologie. Das ist keine nebensächliche Beobachtung: Denn Belzonis vorwissenschaftliche Ausstellung ist, wie diese Studie zeigen wird, in Bezug auf Konzept und Inszenierung bis heute für jede Ägyptenausstellung maßgebend geblieben; und da ihre Inszenierung den Mythos Ägypten hervorruft, ist Belzonis Ausstellung die bis heute nicht versiegte Quelle des Mythos in Ägyptenausstellungen. Deshalb werden wir ihr eine besonders genaue Analyse widmen. Auf die Entwicklung der Ägyptenausstellung konnte die Ägyptologie so naturgemäß zunächst überhaupt keinen Einfluss nehmen: nicht nur hatte die Ägyptenausstellung ein Jahr Vorsprung; die Ägyptologie musste sich in den folgenden Jahrzehnten zunächst erstmal als Fach etablieren. Als dann die ersten Ägyptologen mit Ausstellungen an die Öffentlichkeit traten, wurden sie, wie wir sehen werden, selbst zu Mythenproduzenten, da sie den Mythos Ägypten in ihren Ausstellungen trotz wissenschaftlicher Grundlagen reproduzierten. Dies werden wir paradigmatisch an der Inszenierung des ägyptischen Pavillons auf der Weltausstellung 1867 zeigen, deren Ausstellungsmacher der Ägyptologe Auguste Mariette war. Das erste Kapitel wird somit nicht nur den vorwissenschaftlichen Ursprung des Mythos Ägypten im Ausstellungswesen aufdecken, sondern auch die Fortdauer des Mythos in von Ägyptologen kuratierten Ausstellungen untersuchen. Um die Geschichte des Mythos Ägypten im 19. Jahrhundert zu verstehen, müssen wir deshalb sowohl die Entwicklung der Ägyptenausstellung als auch die Entwicklung der Ägyptologie verfolgen. Da die historische Voraussetzung beider Entwicklungen die
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Erschließung Ägyptens durch Europa war, beginnt unsere Untersuchung mit dem Ägyptenfeldzug Napoleons.
1.
Die Wiederentdeckung Ägyptens und der Ägyptenfeldzug Napoleon Bonapartes »Egypt was a province of the Roman Republic; she must become a province of the French Republic. Roman rule saw the decadence of this beautiful country; French rule will bring it prosperity. The Romans wrested Egypt from the kings distinguished in arts and science; the French will lift it from the hands of the most appalling tyrants who have ever existed.«1
Dieser Auszug aus einer Rede, gehalten vom französische Außenminister CharlesMaurice Talleyrand vor dem Direktorium am 13. Februar 1798, wirbt für das Vorhaben des Generals Napoleon Bonaparte, einen Feldzug nach Ägypten zu starten. Talleyrand stellt in seiner Rede Frankreich in die Tradition der Ideologie der Großmacht Rom und fordert dazu auf, Ägypten als Provinz der Republik Frankreich einzuverleiben, genauso wie Ägypten eine Provinz Roms war. Des Weiteren sieht er Frankreich als Befreier Ägyptens aus tyrannischer Herrschaft und als Bringer von Wohlstand. Gleichzeitig, aber fast unbemerkt, evoziert Talleyrand unbewusst den Mythos Ägypten: Dekadenz, Schönheit, Reichtum, Künste und Wissen sowie Despotismus sind allesamt Assoziationen mit dem Alten Ägypten. Der Mythos, den Talleyrand hier heraufbeschwört, erzählt vom Land am Nil, schön und reich an Kunst sowie Wissen auf der einen Seite, dekadent und voller despotischer Herrscher auf der anderen Seite. Die negative Seite, dafür wird Frankreich sorgen, wird ersetzt werden: Tyrannei durch Freiheit, Dekadenz durch Wohlstand. Und ganz im Sinne Talleyrands proklamierte sich Napoleon bei seinem Einmarsch in Ägypten, rund fünf Monate nach der Rede im Direktorium, als Befreier Ägyptens von der Fremdherrschaft und dem Despotismus der Mameluken. Damit spielte er nicht nur, wie Talleyrand, auf die Großmacht Rom an, sondern auch auf die Analogie zum Feldzug Alexander des Großen, der 332 v. Chr. Ägypten von der persischen Fremdherrschaft »befreite«.2
1
2
Zitiert nach Gillispie, Charles Coulston und Dewachter, Michel (Hg.): Monuments of Egypt: the Napoleonic Edition: the Complete Archaeological Plates from la »Description de l’Egypte«, Princeton 1987, S. 3. Vgl. Jeffreys, David: »Introduction – Two Hundred Years of Ancient Egypt: Modern History and Ancient Archaeology«, in: Jeffreys, David (Hg.): Views of Ancient Egypt since Napoleon Bonaparte: Imperialism, Colonialism and Modern Appropriations, London 2003, S. 1-18, hier S. 2; Vgl. Hassan, Fekri A.: »Imperialist Appropriations of Egyptian Obelisks«, in: Jeffreys, David (Hg.):
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Erschließung Ägyptens durch Europa war, beginnt unsere Untersuchung mit dem Ägyptenfeldzug Napoleons.
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Die Wiederentdeckung Ägyptens und der Ägyptenfeldzug Napoleon Bonapartes »Egypt was a province of the Roman Republic; she must become a province of the French Republic. Roman rule saw the decadence of this beautiful country; French rule will bring it prosperity. The Romans wrested Egypt from the kings distinguished in arts and science; the French will lift it from the hands of the most appalling tyrants who have ever existed.«1
Dieser Auszug aus einer Rede, gehalten vom französische Außenminister CharlesMaurice Talleyrand vor dem Direktorium am 13. Februar 1798, wirbt für das Vorhaben des Generals Napoleon Bonaparte, einen Feldzug nach Ägypten zu starten. Talleyrand stellt in seiner Rede Frankreich in die Tradition der Ideologie der Großmacht Rom und fordert dazu auf, Ägypten als Provinz der Republik Frankreich einzuverleiben, genauso wie Ägypten eine Provinz Roms war. Des Weiteren sieht er Frankreich als Befreier Ägyptens aus tyrannischer Herrschaft und als Bringer von Wohlstand. Gleichzeitig, aber fast unbemerkt, evoziert Talleyrand unbewusst den Mythos Ägypten: Dekadenz, Schönheit, Reichtum, Künste und Wissen sowie Despotismus sind allesamt Assoziationen mit dem Alten Ägypten. Der Mythos, den Talleyrand hier heraufbeschwört, erzählt vom Land am Nil, schön und reich an Kunst sowie Wissen auf der einen Seite, dekadent und voller despotischer Herrscher auf der anderen Seite. Die negative Seite, dafür wird Frankreich sorgen, wird ersetzt werden: Tyrannei durch Freiheit, Dekadenz durch Wohlstand. Und ganz im Sinne Talleyrands proklamierte sich Napoleon bei seinem Einmarsch in Ägypten, rund fünf Monate nach der Rede im Direktorium, als Befreier Ägyptens von der Fremdherrschaft und dem Despotismus der Mameluken. Damit spielte er nicht nur, wie Talleyrand, auf die Großmacht Rom an, sondern auch auf die Analogie zum Feldzug Alexander des Großen, der 332 v. Chr. Ägypten von der persischen Fremdherrschaft »befreite«.2
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Zitiert nach Gillispie, Charles Coulston und Dewachter, Michel (Hg.): Monuments of Egypt: the Napoleonic Edition: the Complete Archaeological Plates from la »Description de l’Egypte«, Princeton 1987, S. 3. Vgl. Jeffreys, David: »Introduction – Two Hundred Years of Ancient Egypt: Modern History and Ancient Archaeology«, in: Jeffreys, David (Hg.): Views of Ancient Egypt since Napoleon Bonaparte: Imperialism, Colonialism and Modern Appropriations, London 2003, S. 1-18, hier S. 2; Vgl. Hassan, Fekri A.: »Imperialist Appropriations of Egyptian Obelisks«, in: Jeffreys, David (Hg.):
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Ägypten, als Mittelmeerland an der Schwelle zu Asien liegend, wurde nur nominell vom osmanischen Sultan in Konstantinopel regiert; reell übten die MamelukBeys die Herrschaft in Ägypten aus.3 Als wichtiger Stützpunkt auf der Handelsroute zwischen Europa und Asien – vor allem nach Indien, der größten Kolonie des British Empire – geriet Ägypten in den Fokus französischer imperialer Interessen: Frankreich wollte England den Landweg über Ägypten nach Asien streitig machen. Daher landete die Armada Napoleon Bonapartes Anfang Juli des Jahres 1798 mit einem Heer von 36.000 Mann vor der Küste Alexandrias. Das Ziel des französischen Generals war die Eroberung Ägyptens. Da das Osmanische Reich als im Verfall begriffen galt, wurde es von Frankreich als schwacher Gegner eingestuft. Als Ausgangspunkt für die imperiale Expansion Frankreichs in Richtung Asien und als direkter Schlag gegen die imperialen Interessen des ewigen Gegners England, der kurz zuvor seine amerikanischen Kolonien verloren hatte, schien Ägypten also ideal.4 Zwei schwerwiegende strategische Fehler Napoleons sollten aber schon bald die französische Niederlage in Ägypten einläuten: Erstens unterschätzte Napoleon die Stärke der englischen Kriegsflotte und besetzte Ägypten in der Annahme, dass die französische Flotte die englische besiegen könne; zweitens unterschätzte Napoleon das Osmanische Reich als Gegner sowie den Widerstand der ägyptischen Bevölkerung. Um vom Osmanischen Reich weniger als Aggressor wahrgenommen zu werden, proklamierte sich Napoleon nicht nur als Befreier Ägyptens, sondern auch als Freund des Sultans und aller Muslime. Die Propaganda stieß jedoch auf taube Ohren. Die Franzosen wurden weder von der ägyptischen Bevölkerung noch vom Osmanischen Reich als Befreier empfangen; die Osmanen sahen die Okkupation Ägyptens als Aggression an und verbündeten sich mit England gegen die französischen Besatzer. Kurz nachdem die Franzosen am 24. Juli 1798 Alexandria, Rosetta und Kairo besetzt hatten, überraschte und vernichtete die englische Kriegsflotte unter Admiral
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Views of Ancient Egypt since Napoleon Bonaparte: Imperialism, Colonialism and Modern Appropriations, London 2003, S. 19-68, hier S. 23. Die Mameluken waren eine Kriegerkaste, die ethnisch nichts mit der indigenen Bevölkerung Ägyptens gemeinsam hatte. Schon seit längerer Zeit waren sie dem Sultan ein Dorn im Auge; jegliche Versuche der Osmanen, Ägypten zurückzuerobern, scheiterten allerdings kläglich. Ursprünglich waren die Mameluken eine Sklavenkaste, deren Mitglieder im Kindesalter gekauft oder entführt wurden, um sie als Krieger einer Eliteeinheit heranzuzüchten. Jahrhundertelang waren sie die beste islamische Kampfeinheit, die besonders zu Pferd ihre Herren bis aufs Blut verteidigen sollte, bis sie eines Tages die Waffen gegen ihre Unterdrücker in Bagdad erhoben und sich später als Herrscher Ägyptens etablierten. Sie blieben weiter ihrer Tradition treu und erneuerten ihre Anzahl mit Jungen, die sie als Sklaven kauften. Vgl. Dykstra, Darrell: »The French Occupation of Egypt, 1798-1801«, in: Daly, M.W. (Hg.): The Cambridge History of Egypt. Modern Egypt from 1517 to the End of the Twentieth Century, Bd. 2, Cambridge 1998, S. 113-138, hier S. 116-117.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Nelson die französische Armada vor der Küste Ägyptens in der Bucht von Abukir. Die französischen Truppen waren fortan vom Mutterland durch eine Seeblockade der Engländer abgeschnitten. Die Kommunikation mit Paris war fast unmöglich und mit Verstärkung nicht zu rechnen. Obwohl die Bemühungen der französischen Truppen um die Vorherrschaft in Ägypten weiterhin anhielten, war das der Anfang vom Ende für Napoleons Feldzug: 1801, nach drei Jahren in Ägypten, wurden seine Truppen von den Briten vernichtend geschlagen. Napoleon selbst hatte sich bereits im August 1799 zurück nach Frankreich abgesetzt und ließ seine Armee im Stich. Die Briten setzten sich nach der französischen Kapitulation für die Wiederherstellung der osmanischen Souveränität ein. Die innenpolitischen Machtkämpfe endeten schließlich 1805 mit der endgültigen Vertreibung der Mameluken aus Kairo und der Machtübernahme durch Mohammed Ali, der vom osmanischen Sultan als Wali und somit als Statthalter Ägyptens eingesetzt wurde und fortan den Rang eines Paschas innehatte.
1.1
Die Savants – Forschung im Sinne der Aufklärung
Die Politik der Französischen Republik, die auf den Prinzipien der Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und den Idealen der Aufklärung beruhte, sah für Ägypten nicht nur militärische Maßnahmen vor, sondern auch den Einfluss auf kulturelle Aspekte. Unter der französischen Okkupation wurden sogleich Modernisierungen im administrativen und politischen Bereich ausgeführt. Dem Zeitgeist entsprechend galt die Wissenschaft als wichtigster Aspekt der Kultur.5 Napoleons Feldzug, ein militärisches Desaster, wurde so zu einem wissenschaftlichen Erfolg. Wie Alexander der Große, das Vorbild Napoleons, der sich auf seinem persischen Feldzug von Philosophen begleiten ließ, nahm Napoleon neben zehntausenden von Soldaten auch eine kleine zivile Gruppe von 161 Wissenschaftlern, Gelehrten, Künstlern und Experten mit nach Ägypten – die Savants.6 Sie waren unter anderem Ingenieure, Philologen, Vermesser und Archäologen. Napoleon gründete außerdem, kurz nachdem er 1798 Kairo besetzt hatte, das Institute d’Égypte, das ganz nach den Prinzipien des Institute de France gestaltet war und in dem die wissenschaftliche Arbeit im Fokus stand: »research, study and the publication of the natural, industrial and historical aspects of Egypt.«7 Das Institut war die Anlaufstelle aller Savants und publizierte unter anderem ein
5 6 7
Vgl. Gillispie, Charles Coulston: »Scientific Aspects of the French Egyptian Expedition 17981801«, Proceedings of the American Philosophical Society, 133/4 (1989), S. 447-474, hier S. 448. Die Zahl der Savants variiert in der Literatur zwischen 151, 161 und 167. Thompson, Jason: Wonderful Things: A History of Egyptology from Antiquity to 1881, Kairo 2015, S. 99.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Nelson die französische Armada vor der Küste Ägyptens in der Bucht von Abukir. Die französischen Truppen waren fortan vom Mutterland durch eine Seeblockade der Engländer abgeschnitten. Die Kommunikation mit Paris war fast unmöglich und mit Verstärkung nicht zu rechnen. Obwohl die Bemühungen der französischen Truppen um die Vorherrschaft in Ägypten weiterhin anhielten, war das der Anfang vom Ende für Napoleons Feldzug: 1801, nach drei Jahren in Ägypten, wurden seine Truppen von den Briten vernichtend geschlagen. Napoleon selbst hatte sich bereits im August 1799 zurück nach Frankreich abgesetzt und ließ seine Armee im Stich. Die Briten setzten sich nach der französischen Kapitulation für die Wiederherstellung der osmanischen Souveränität ein. Die innenpolitischen Machtkämpfe endeten schließlich 1805 mit der endgültigen Vertreibung der Mameluken aus Kairo und der Machtübernahme durch Mohammed Ali, der vom osmanischen Sultan als Wali und somit als Statthalter Ägyptens eingesetzt wurde und fortan den Rang eines Paschas innehatte.
1.1
Die Savants – Forschung im Sinne der Aufklärung
Die Politik der Französischen Republik, die auf den Prinzipien der Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und den Idealen der Aufklärung beruhte, sah für Ägypten nicht nur militärische Maßnahmen vor, sondern auch den Einfluss auf kulturelle Aspekte. Unter der französischen Okkupation wurden sogleich Modernisierungen im administrativen und politischen Bereich ausgeführt. Dem Zeitgeist entsprechend galt die Wissenschaft als wichtigster Aspekt der Kultur.5 Napoleons Feldzug, ein militärisches Desaster, wurde so zu einem wissenschaftlichen Erfolg. Wie Alexander der Große, das Vorbild Napoleons, der sich auf seinem persischen Feldzug von Philosophen begleiten ließ, nahm Napoleon neben zehntausenden von Soldaten auch eine kleine zivile Gruppe von 161 Wissenschaftlern, Gelehrten, Künstlern und Experten mit nach Ägypten – die Savants.6 Sie waren unter anderem Ingenieure, Philologen, Vermesser und Archäologen. Napoleon gründete außerdem, kurz nachdem er 1798 Kairo besetzt hatte, das Institute d’Égypte, das ganz nach den Prinzipien des Institute de France gestaltet war und in dem die wissenschaftliche Arbeit im Fokus stand: »research, study and the publication of the natural, industrial and historical aspects of Egypt.«7 Das Institut war die Anlaufstelle aller Savants und publizierte unter anderem ein
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Vgl. Gillispie, Charles Coulston: »Scientific Aspects of the French Egyptian Expedition 17981801«, Proceedings of the American Philosophical Society, 133/4 (1989), S. 447-474, hier S. 448. Die Zahl der Savants variiert in der Literatur zwischen 151, 161 und 167. Thompson, Jason: Wonderful Things: A History of Egyptology from Antiquity to 1881, Kairo 2015, S. 99.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
jährlich erscheinendes Bulletin, das auch Artikel über Archäologie enthielt.8 Mit den Savants brachte Napoleon die Stellvertreter der Aufklärung nach Ägypten, die das Land – das seit der Eroberung durch die Osmanen nur von einzelnen wagemutigen westlichen Reisenden besucht worden war – in seiner Gesamtheit wissenschaftlich erfassen sollten. Die Kategorisierung und Klassifizierung des gesamten Landes standen dabei im Vordergrund.9 Die Forschung der Savants wurde schließlich in der Description de lʼÉgypte veröffentlicht, die zwischen 1809 und 1828 in elf Bildbänden und neun Textbänden erschien, die das antike Ägypten, das moderne Ägypten und die Natur Ägyptens behandelten.10 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Ägypten im Sinne der Aufklärung durch die Savants bereitete der Wissenschaft der Ägyptologie den Weg. Allerdings war das wissenschaftliche Interesse nur eine Seite ihres Projekts: »The savants who formed an integral part of the expedition were on an Enlightenment quest for knowledge – but they were also engaged in processes of mapping and of visual and verbal representation that would help create both ›ancient‹ and ›modern‹ Egypt and exert both intellectual and actual European control of the country.«11 Christina Riggs erinnert uns daran, dass die Arbeit der Savants nicht nur einem wissenschaftlichen Aufklärungsideal folgte, sondern dass die daraus folgende Description in einem kolonialen Kontext entstand, in dem es um die Inbesitznahme Ägyptens ging.12 Durch die Arbeit der Savants, ihre Memoiren, Zeichnungen und schließlich die Description de lʼÉgypte, übte die französische Okkupation Ägyptens einen riesigen Einfluss auf die europäische Wahrnehmung Ägyptens aus: »the ideas and images of an Egypt so thoroughly and authoritatively ›described‹ would shape European thinking about Egypt for generations.«13 Dominique-Vivant Denons14 8
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Vgl. Siliotti, Alberto: Egypt Lost and Found. Explorers and Travellers on the Nile, London 1998, S. 84; Vgl. Jeffreys: »Introduction – Two Hundred Years of Ancient Egypt: Modern History and Ancient Archaeology«, a.a.O., S. 9. Vgl. Burleigh, Nina: Mirage. Napoleons Scientists and the Unveiling of Egypt, New York 2007, S. xii. Vgl. Gillispie: »Scientific Aspects of the French Egyptian Expedition 1798-1801«, a.a.O., S. 449. Riggs, Christina: »Discussing Knowledge in the Making«, in: Carruthers, William (Hg.): Histories of Egyptology: Interdisciplinary Measures, New York 2015, S. 129-138, hier S. 132. In diesem Sinne sollte man, zumindest im deutschen Sprachraum, wenn man über Napoleons Kampagne in Ägypten schreibt auch besser den Begriff »Feldzug« gebrauchen, der eine aggressive Handlung impliziert, und nicht den Begriff »Expedition«, der eher eine friedliche Entdeckungsreise impliziert. Im Englischen kann »expedition« auch eine aggressive Handlung implizieren, anders als im Deutschen. Daher wohl auch der häufige Gebrauch der Bezeichnung »Bonaparte’s Expedition« anstatt »Bonaparte’s Campaign«. Dykstra: »The French Occupation of Egypt, 1798-1801«, a.a.O., S. 137. Mit den Augen eines Illustrators entdeckte Denon das antike Ägypten. Er hielt auf seiner Erkundung Ägyptens – die er im Schlepptau französischer Soldaten unternahm, die wenig
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
dreibändiger Reisebericht Voyage dans la basse et la haute Égypte, pendant les campagnes du général Bonaparte, der 1802 erschien, war neben der Description die einflussreichste Arbeit eines Savants.15 Denons Voyage wurde in Europa sehr populär, besonders durch die in ihm enthaltenen zahlreichen in Ägypten angefertigten Illustrationen, mit Hilfe derer sich die europäische Bevölkerung ein Bild Ägyptens machen konnten: »That book contributed more than any other item to the vogue for things Egyptian that swept the decorative arts and the world of fashion.«16 Besonderen Einfluss hatte Denons Werk auf die europäische Mode, Kunst und Architektur. So wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreiche Gebäude im ägyptisierenden Stil gebaut, der sich von der Voyage inspirieren ließen.17
1.2
Der Stein von Rosetta und die Entzifferung der Hieroglyphen
Die wohl größte Errungenschaft dieses Feldzuges bleibt der vollkommen zufällige Fund des bedeutendsten Objekts für die Geburt der Ägyptologie: des Steins von Rosetta. Im Juli 1799 fand ein französischer Offizier namens Pierre-François Xavier Bouchard diesen mit Inschriften versehenen Granitblock, der während Befestigungsarbeiten an einem alten Fort in der Nähe der unterägyptischen Stadt Rosetta zu Tage befördert wurde. Durch die drei verschiedenen Schriften, die auf dem Stein erhalten waren, erkannte man schnell, dass es sich hier um ein ganz besonders wichtiges Artefakt handeln musste. Der Orientalist unter den Savants, Jean-Jacques Marcel, identifizierte neben der griechischen Schrift, die allseits bekannt war, die mittlere Schrift als demotisch.18 Er erkannte, dass diese beiden Inschriften womöglich der Schlüssel zur Entzifferung der Hieroglyphen waren, die als dritte Schrift den oberen Teil des Steines bedeckte.19 Nach der Niederlage der Franzosen in Ägypten musste der Rosettastein an die Briten abgegeben werden, die ihn daraufhin nach London verschifften, wo er seit 1802 im British Museum als Exponat ausgestellt wird. Die Franzosen konnten aber
15 16 17 18
19
Verständnis und Geduld für seine schöngeistige Tätigkeit hatten – alle Altertümer, die ihm vor Augen kamen, in Zeichnungen fest. Er beeindruckte Napoleon mit seinem Portfolio so sehr, dass dieser Denon bei seiner vorzeitigen Abreise aus Ägypten 1799 zurück nach Paris mitnahm und ihn bald als Direktor des Louvre einsetzte. Denon, Dominique-Vivant: Voyage dans la basse et la haute Égypte, pendant les campagnes du général Bonaparte, Paris/London 1802. Gillispie/Dewachter (Hg.): Monuments of Egypt, a.a.O., S. 13. Der ägyptisierende Stil bezeichnet hier die Verwendung einzelner oder mehrerer altägyptischer Stilelemente in der Architektur ab dem 19. Jahrhundert. Das Demotische ist eine Kursivschrift, die seit der 26. Dynastie die hieratische Kursivschrift verdrängte, welche sich aus den Hieroglyphen entwickelt hatte. Als Volksschrift war das Demotische die offizielle Schreibart der Verwaltung. Vgl. hierzu Hornung, Erik: Einführung in die Ägyptologie. Stand, Methoden, Aufgaben, 4. Aufl., Darmstadt 1996, S. 28. Vgl. Burleigh: Mirage. Napoleons Scientists and the Unveiling of Egypt, a.a.O., S. 113.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
dreibändiger Reisebericht Voyage dans la basse et la haute Égypte, pendant les campagnes du général Bonaparte, der 1802 erschien, war neben der Description die einflussreichste Arbeit eines Savants.15 Denons Voyage wurde in Europa sehr populär, besonders durch die in ihm enthaltenen zahlreichen in Ägypten angefertigten Illustrationen, mit Hilfe derer sich die europäische Bevölkerung ein Bild Ägyptens machen konnten: »That book contributed more than any other item to the vogue for things Egyptian that swept the decorative arts and the world of fashion.«16 Besonderen Einfluss hatte Denons Werk auf die europäische Mode, Kunst und Architektur. So wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts zahlreiche Gebäude im ägyptisierenden Stil gebaut, der sich von der Voyage inspirieren ließen.17
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Der Stein von Rosetta und die Entzifferung der Hieroglyphen
Die wohl größte Errungenschaft dieses Feldzuges bleibt der vollkommen zufällige Fund des bedeutendsten Objekts für die Geburt der Ägyptologie: des Steins von Rosetta. Im Juli 1799 fand ein französischer Offizier namens Pierre-François Xavier Bouchard diesen mit Inschriften versehenen Granitblock, der während Befestigungsarbeiten an einem alten Fort in der Nähe der unterägyptischen Stadt Rosetta zu Tage befördert wurde. Durch die drei verschiedenen Schriften, die auf dem Stein erhalten waren, erkannte man schnell, dass es sich hier um ein ganz besonders wichtiges Artefakt handeln musste. Der Orientalist unter den Savants, Jean-Jacques Marcel, identifizierte neben der griechischen Schrift, die allseits bekannt war, die mittlere Schrift als demotisch.18 Er erkannte, dass diese beiden Inschriften womöglich der Schlüssel zur Entzifferung der Hieroglyphen waren, die als dritte Schrift den oberen Teil des Steines bedeckte.19 Nach der Niederlage der Franzosen in Ägypten musste der Rosettastein an die Briten abgegeben werden, die ihn daraufhin nach London verschifften, wo er seit 1802 im British Museum als Exponat ausgestellt wird. Die Franzosen konnten aber
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Verständnis und Geduld für seine schöngeistige Tätigkeit hatten – alle Altertümer, die ihm vor Augen kamen, in Zeichnungen fest. Er beeindruckte Napoleon mit seinem Portfolio so sehr, dass dieser Denon bei seiner vorzeitigen Abreise aus Ägypten 1799 zurück nach Paris mitnahm und ihn bald als Direktor des Louvre einsetzte. Denon, Dominique-Vivant: Voyage dans la basse et la haute Égypte, pendant les campagnes du général Bonaparte, Paris/London 1802. Gillispie/Dewachter (Hg.): Monuments of Egypt, a.a.O., S. 13. Der ägyptisierende Stil bezeichnet hier die Verwendung einzelner oder mehrerer altägyptischer Stilelemente in der Architektur ab dem 19. Jahrhundert. Das Demotische ist eine Kursivschrift, die seit der 26. Dynastie die hieratische Kursivschrift verdrängte, welche sich aus den Hieroglyphen entwickelt hatte. Als Volksschrift war das Demotische die offizielle Schreibart der Verwaltung. Vgl. hierzu Hornung, Erik: Einführung in die Ägyptologie. Stand, Methoden, Aufgaben, 4. Aufl., Darmstadt 1996, S. 28. Vgl. Burleigh: Mirage. Napoleons Scientists and the Unveiling of Egypt, a.a.O., S. 113.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
zuvor Kopien der Inschriften anfertigen, die nach Paris gelangten. Nach der Übersetzung der griechischen Inschrift wurde schnell klar, dass es sich beim Rosettastein um eine Stele mit einem Priesterdekret aus dem Jahr 196 v. Chr., der Regierungszeit Ptolemaios V. Epiphanes, handelte. Nun musste nur noch ein Weg gefunden werden, die Hieroglyphen zu entschlüsseln. Schon bald entbrannte ein Wettstreit zwischen französischen und britischen Gelehrten um die Entzifferung der Hieroglyphen. Auf britischer Seite stellte sich der Arzt und Linguist Thomas Young der Herausforderung; auf französischer Seite ein junger Gelehrter namens Jean-François Champollion, der 1822 in seinem Lettre à M. Dacier relative à lʼalphabet des hiéroglyphes phonétiques schließlich verkündete, die Hieroglyphen entziffert zu haben.20 Dieses Ereignis gilt als Geburtsstunde der Wissenschaft Ägyptologie, da nun der Grundstein dafür gelegt war, die primären Quellen des Alten Ägypten lesen zu können.
1.3
Belzonis Ägypten
Mit Mohammed Alis halbautonomer Herrschaft ab 1805 hielten grundlegende Änderungen Einzug in Ägypten: Im Mittelpunkt standen ökonomische Reformen, das heißt Industrialisierung und Modernisierung nach westlichen Standards sowie territoriale Expansion, was eine große militärische Präsenz mit sich brachte. Die Reformen wurden zu einem Großteil auf Kosten der Altertümer Ägyptens verübt. So wurden Gräber und Tempel als Steinbrüche benutzt oder durch neue Gebäude überbaut. Außerdem stieg das Interesse an altägyptischen Artefakten in Europa stark an, so dass sie von Ali als Schenkungen oder Gegenleistungen für Gefälligkeiten in großer Zahl das Land verließen. Von den westlichen Mächten, allen voran wieder England und Frankreich, wurden die Entwicklungen in Ägypten kritisch beäugt, so dass diplomatisches Personal, die so genannten Konsuln, nicht nur zur Beobachtung der politischen Lage nach Ägypten entsandt wurden, sondern auch zur politischen Einflussnahme.21 Die Konsuln begannen bald damit, ägyptische Altertümer mit Genehmigung Alis für sich selbst und ihre jeweiligen Länder zu sammeln und aus Ägypten auszuführen.22 Damit begann die systematische Plünderung des ägyptischen Kulturerbes.23 Sofort entstand ein Wettstreit unter den Konsuln, die
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Champollion, Jean-François: Lettre à M. Dacier relative à lʼalphabet des hiéroglyphes phonétiques, Paris 1822. Vgl. Jeffreys: »Introduction – Two Hundred Years of Ancient Egypt: Modern History and Ancient Archaeology«, a.a.O., S. 3. Unter diesen Ländern befanden sich zum Beispiel: Österreich, Schweden, Norwegen und Italien. Vgl. Siliotti, Alberto und Belzoni, Giovanni Battista: Belzoni’s Travels: Narrative of the Operations and Recent Discoveries in Egypt and Nubia, London 2001, S. 131-133.
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Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
zuvor Kopien der Inschriften anfertigen, die nach Paris gelangten. Nach der Übersetzung der griechischen Inschrift wurde schnell klar, dass es sich beim Rosettastein um eine Stele mit einem Priesterdekret aus dem Jahr 196 v. Chr., der Regierungszeit Ptolemaios V. Epiphanes, handelte. Nun musste nur noch ein Weg gefunden werden, die Hieroglyphen zu entschlüsseln. Schon bald entbrannte ein Wettstreit zwischen französischen und britischen Gelehrten um die Entzifferung der Hieroglyphen. Auf britischer Seite stellte sich der Arzt und Linguist Thomas Young der Herausforderung; auf französischer Seite ein junger Gelehrter namens Jean-François Champollion, der 1822 in seinem Lettre à M. Dacier relative à lʼalphabet des hiéroglyphes phonétiques schließlich verkündete, die Hieroglyphen entziffert zu haben.20 Dieses Ereignis gilt als Geburtsstunde der Wissenschaft Ägyptologie, da nun der Grundstein dafür gelegt war, die primären Quellen des Alten Ägypten lesen zu können.
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Belzonis Ägypten
Mit Mohammed Alis halbautonomer Herrschaft ab 1805 hielten grundlegende Änderungen Einzug in Ägypten: Im Mittelpunkt standen ökonomische Reformen, das heißt Industrialisierung und Modernisierung nach westlichen Standards sowie territoriale Expansion, was eine große militärische Präsenz mit sich brachte. Die Reformen wurden zu einem Großteil auf Kosten der Altertümer Ägyptens verübt. So wurden Gräber und Tempel als Steinbrüche benutzt oder durch neue Gebäude überbaut. Außerdem stieg das Interesse an altägyptischen Artefakten in Europa stark an, so dass sie von Ali als Schenkungen oder Gegenleistungen für Gefälligkeiten in großer Zahl das Land verließen. Von den westlichen Mächten, allen voran wieder England und Frankreich, wurden die Entwicklungen in Ägypten kritisch beäugt, so dass diplomatisches Personal, die so genannten Konsuln, nicht nur zur Beobachtung der politischen Lage nach Ägypten entsandt wurden, sondern auch zur politischen Einflussnahme.21 Die Konsuln begannen bald damit, ägyptische Altertümer mit Genehmigung Alis für sich selbst und ihre jeweiligen Länder zu sammeln und aus Ägypten auszuführen.22 Damit begann die systematische Plünderung des ägyptischen Kulturerbes.23 Sofort entstand ein Wettstreit unter den Konsuln, die
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Champollion, Jean-François: Lettre à M. Dacier relative à lʼalphabet des hiéroglyphes phonétiques, Paris 1822. Vgl. Jeffreys: »Introduction – Two Hundred Years of Ancient Egypt: Modern History and Ancient Archaeology«, a.a.O., S. 3. Unter diesen Ländern befanden sich zum Beispiel: Österreich, Schweden, Norwegen und Italien. Vgl. Siliotti, Alberto und Belzoni, Giovanni Battista: Belzoni’s Travels: Narrative of the Operations and Recent Discoveries in Egypt and Nubia, London 2001, S. 131-133.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
in kürzester Zeit so viele Altertümer wie möglich für ihr jeweiliges Land in Besitz nahmen, um die dort heimischen Museen und ihre ägyptischen Sammlungen aufzubauen und aufzustocken. Allen voran wurde dieser Wettstreit zwischen dem britischen Konsul Henry Salt und dem französischen Konsul Bernardino Drovetti ausgetragen. Sie begaben sich aber nicht selbst auf die Suche nach Artefakten, sondern sandten in ihrem Namen Vertreter aus, die sich in ganz Ägypten auf die Suche nach besonderen antiken Prunkstücken machten. Ihr eigener Gewinn sowie die rasche Auffindung und der schnelle Abtransport der Objekte standen dabei im Vordergrund. Infolgedessen wurden nach ihrem Belieben all diejenigen Artefakte aus Ägypten entfernt, die bis zu einer gewissen Größe nach Europa transportiert werden konnten: zum Beispiel Obeliske und andere architektonische Elemente von Tempeln, Sarkophage und Statuen, Mumien, aber natürlich auch viele kleinere Objekte wie Schmuckstücke, Papyri und Statuetten. Die Sicherstellung und der Abtransport eines außergewöhnlichen Prunkstücks, der Büste einer Kolossalstatue aus Rosengranit, die vor der Entzifferung der Hieroglyphen als Kopf des jungen Memnon24 bekannt war, stellten sich logistisch als äußerst schwierig heraus. Für diese Aufgabe stellte der britische Konsul Henry Salt im Sommer 1816 eine ganz besonders illustre Person in seine Dienste: Giovanni Battista Belzoni, einen italienischen, zwei Meter großen Ex-Entertainer und Circus Strong Man, der in Ägypten bei der Vermarktung seiner eigenen Hydraulikmaschine gescheitert war und sich nun dem Wettlauf um die ägyptischen Altertümer auf englischer Seite anschließen wollte. Belzoni versprach das bisher Unmögliche möglich zu machen: die kolossale Büste von Theben nach Alexandria zu transportieren, um sie von dort nach London zu verschiffen. Es gelang Belzoni tatsächlich diesen riesigen Kopf, der zu einer Statue Ramses II. gehörte, heil nach England zu befördern, wo er heute im British Museum in London ausgestellt wird.25 Nach dieser ersten Begegnung mit ägyptischen Altertümern und der Erkenntnis, dass noch weitere lukrative Geschäfte mit den Hinterlassenschaften aus pharaonischer Zeit zu machen waren, blieb Belzoni zwischen 1816 und 1820 in Ägypten und führte an verschiedenen Orten, zum Beispiel in Abu Simbel, Theben, dem Tal der Könige, Philae und dem Fayum, Ausgrabungen durch. Seine zahlreichen Entdeckungen und Funde notierte er sorgfältig und fertigte Zeichnungen der Tempel, der Gräber und deren Wanddekorationen an. Seine größte Entdeckung war die des
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Die Griechen und Römer, die nach Ägypten kamen, sahen in der Kolossalstatue das Abbild des Memnon, Sohn des Thitonos und der Göttin Eos, der von Achilles im Trojanischen Krieg erschlagen wurde. The British Museum EA19.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Grabes Sethos I.26 im Tal der Könige, im Oktober 1817, welches er vorerst, da die Hieroglyphen noch nicht entziffert waren und daher der Name des Grabinhabers noch nicht gelesen werden konnte, als Grab des Apis, später als Grab des Psammis, bezeichnete. Belzoni fand nämlich im Vier-Pfeiler-Raum, hinter der Sargkammer, einen mumifizierten Stier und wusste, dass der heilige Apis-Stier im Alten Ägypten verehrt worden war.27 Insgesamt entdeckte Belzoni dreizehn Kammern, die, alle aufeinander folgend, immer tiefer in das Felsmassiv des Wüstentales führten. Die Kammern waren zum größten Teil mit sehr feinem erhabenem Relief dekoriert, das bunt bemalt war und dessen Farben noch immer frisch und leuchtend waren.28 Da das Grab schon in der Antike geplündert worden war, fand Belzoni als Teil der Grabausstattung nur noch wenige Uschebtis, Holzstatuetten und den riesigen, wundervoll verzierten Alabastersarkophag Sethos I., den er in der Sargkammer entdeckte.29 Leider fehlte zur Wanne des Sarkophags der entsprechende Deckel, von dem Belzoni nur Bruchstücke vorfand. Belzoni entschloss sich, eine Auswahl der schönsten Wandmalereien des Grabes farbgetreu abzuzeichnen sowie Wachsabgüsse der Reliefs anzufertigen. Auch der Dokumentation der Hieroglyphen des Grabes schenkte er große detailgetreue Aufmerksamkeit, obwohl diese noch immer ein Rätsel darstellten. Auf den Alabastersarkophag, der nach London verschifft werden sollte, hatte der englische Konsul Henry Salt Anspruch erhoben, in dessen Auftrag Belzoni Altertümer für die Briten beschaffte. Er wurde 1824 vom Sammler John Soane angekauft und steht heute als Prunkstück der Sammlung im Sir John Soaneʼs Museum in London.30 Belzoni kehrte schließlich Anfang des Jahres 1820 nach London zurück, wo er bereits vor seiner Abreise nach Ägypten gelebt und als Entertainer gearbeitet hatte. Im Gepäck hatte er die Zeichnungen und Abgüsse, die er in Sethos’ Grab genommen hatte sowie seine kleine Sammlung ägyptischer Altertümer, die er während seiner Zeit in Ägypten angehäuft hatte. Außerdem war es ihm ein tiefes Bedürfnis, der Welt seine Abenteuer und Entdeckungen mitzuteilen, da er Angst davor hatte, dass jemand anderes seine Errungenschaften für sich beanspruchen würde.
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Sethos I. war der zweite Pharao der 19. Dynastie und regierte von 1290-1279 v. Chr. Sein Grab im Tal der Könige trägt die Nummer: K(ings)V(alley)17. Vgl. Schneider: Lexikon der Pharaonen, a.a.O., S. 270-272. Vgl. Mayes, Stanley: The Great Belzoni, London 1959, S. 194. Für eine detaillierte Beschreibung des Grabes vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Narrative of the Operations and Recent Discoveries within the Pyramids, Temples, Tombs, and Excavations, in Egypt and Nubia; and of a Journey to the Coast of the Red Sea, in Search of the Ancient Berenice, and of Another to the Oasis of Jupiter Ammon, London 1820, S. 231-246. Vgl. Ebd., S. 246. Für weitere Informationen zum Sarkophag und zum Museum vgl. Taylor, John H.: Sir John Soane’s Greatest Treasure. The Sarcophagus of Seti I, London 2017.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Sogleich suchte er sich einen Verleger und schrieb seine Erfahrungen und Entdeckungen in Ägypten in der Form eines Reiseberichts nieder, der Ende November 1820 unter dem Titel Narrative of the Operations and Recent Discoveries within the Pyramids, Temples, Tombs and Excavations in Egypt and Nubia: and of a Journey to the Coasts of the Red Sea, in Search of the Ancient Berenice; and Another in the Oasis of Jupiter Ammon in London bei John Murray erschien und ein Bestseller wurde.31 Belzonis Vergangenheit im Showbusiness half ihm – zeitgleich zur Niederschrift seines Reiseberichts –, eine spektakuläre Ausstellung zu planen, in der er seine im Laufe von vier Jahren zusammengetragenen ägyptischen Altertümer und Entdeckungen zur Schau stellen wollte. Diese Ausstellung werden wir nun näher betrachten.
2.
»Die Mutter aller ägyptischen Ausstellungen« – Die Inszenierung von Belzoni’s Egyptian Tomb
Belzonis Londoner Ausstellung von 1821 ist der Ursprung aller Ägyptenausstellungen: Ihr Konzept und ihre Inszenierung beeinflussen alle nach ihr kommenden Ausstellungen zum Alten Ägypten. Sie war ein absolutes Novum und zeigte die altägyptische Kultur, wie sie noch niemals zuvor in Europa gesehen worden war. Belzoni präsentierte nicht nur altägyptische Objekte; er zeigte zwei Kopien der Grabkammern Sethos I., die seinen Besucherinnen ein räumliches Erleben des Alten Ägypten ermöglichten. Neu an der Ausstellung war zudem, dass sie sich an ein Massenpublikum richtete: Im Zuge der industriellen Revolution, so Susanne Duesterberg, wurde eine neue soziale Klasse geboren, die Arbeiterklasse, die zu Bürgertum und Adel hinzutrat. In Anbetracht dessen war Belzonis Ausstellung eines der ersten Events überhaupt, das sich sowohl an die neue Arbeiterklasse richtete, aber gleichzeitig die Amüsiergewohnheiten der oberen Klassen ansprach. Ägyptische Altertümer waren vorher den oberen Klassen vorbehalten; Belzoni öffnete sie einem breiten Publikum, das nun die materiellen Hinterlassenschaften dieser
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»Books Published This Day«, The Times, (25.11.1820), S. 4; Vgl. Siliotti/Belzoni: Belzoni’s Travels, a.a.O., S. 67-68; Vgl. Hamill, John und Mollier, Pierre: »Rebuilding the Sanctuaries of Memphis: Egypt in Masonic Iconography and Architecture«, in: Humbert, Jean-Marcel und Price, Clifford (Hg.): Imhotep Today: Egyptianizing Architecture, London 2003, S. 207-220, hier S. 212. Belzoni gab sogar eine Anzeige in der London Times auf, in der er verkündete, in John Murray einen Verleger gefunden zu haben und pries nochmals seinen Reisebericht an, indem er detailliert auf Ausmaß und Inhalt seines Buches verweist. Hervorgehoben wird der den Reisebericht begleitende Folioband mit zahlreichen farbigen Abbildungen, vor allem des Grabes, die Belzoni während seines Aufenthaltes in Ägypten anfertigte. Vgl. hierzu: »[Advertisement.]-We are desired to rectify an ambiguity of expression in Mr. FALEUR’S advertisement, announcing his declining«, The Times, (22.7.1820), S. 3.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Sogleich suchte er sich einen Verleger und schrieb seine Erfahrungen und Entdeckungen in Ägypten in der Form eines Reiseberichts nieder, der Ende November 1820 unter dem Titel Narrative of the Operations and Recent Discoveries within the Pyramids, Temples, Tombs and Excavations in Egypt and Nubia: and of a Journey to the Coasts of the Red Sea, in Search of the Ancient Berenice; and Another in the Oasis of Jupiter Ammon in London bei John Murray erschien und ein Bestseller wurde.31 Belzonis Vergangenheit im Showbusiness half ihm – zeitgleich zur Niederschrift seines Reiseberichts –, eine spektakuläre Ausstellung zu planen, in der er seine im Laufe von vier Jahren zusammengetragenen ägyptischen Altertümer und Entdeckungen zur Schau stellen wollte. Diese Ausstellung werden wir nun näher betrachten.
2.
»Die Mutter aller ägyptischen Ausstellungen« – Die Inszenierung von Belzoni’s Egyptian Tomb
Belzonis Londoner Ausstellung von 1821 ist der Ursprung aller Ägyptenausstellungen: Ihr Konzept und ihre Inszenierung beeinflussen alle nach ihr kommenden Ausstellungen zum Alten Ägypten. Sie war ein absolutes Novum und zeigte die altägyptische Kultur, wie sie noch niemals zuvor in Europa gesehen worden war. Belzoni präsentierte nicht nur altägyptische Objekte; er zeigte zwei Kopien der Grabkammern Sethos I., die seinen Besucherinnen ein räumliches Erleben des Alten Ägypten ermöglichten. Neu an der Ausstellung war zudem, dass sie sich an ein Massenpublikum richtete: Im Zuge der industriellen Revolution, so Susanne Duesterberg, wurde eine neue soziale Klasse geboren, die Arbeiterklasse, die zu Bürgertum und Adel hinzutrat. In Anbetracht dessen war Belzonis Ausstellung eines der ersten Events überhaupt, das sich sowohl an die neue Arbeiterklasse richtete, aber gleichzeitig die Amüsiergewohnheiten der oberen Klassen ansprach. Ägyptische Altertümer waren vorher den oberen Klassen vorbehalten; Belzoni öffnete sie einem breiten Publikum, das nun die materiellen Hinterlassenschaften dieser
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»Books Published This Day«, The Times, (25.11.1820), S. 4; Vgl. Siliotti/Belzoni: Belzoni’s Travels, a.a.O., S. 67-68; Vgl. Hamill, John und Mollier, Pierre: »Rebuilding the Sanctuaries of Memphis: Egypt in Masonic Iconography and Architecture«, in: Humbert, Jean-Marcel und Price, Clifford (Hg.): Imhotep Today: Egyptianizing Architecture, London 2003, S. 207-220, hier S. 212. Belzoni gab sogar eine Anzeige in der London Times auf, in der er verkündete, in John Murray einen Verleger gefunden zu haben und pries nochmals seinen Reisebericht an, indem er detailliert auf Ausmaß und Inhalt seines Buches verweist. Hervorgehoben wird der den Reisebericht begleitende Folioband mit zahlreichen farbigen Abbildungen, vor allem des Grabes, die Belzoni während seines Aufenthaltes in Ägypten anfertigte. Vgl. hierzu: »[Advertisement.]-We are desired to rectify an ambiguity of expression in Mr. FALEUR’S advertisement, announcing his declining«, The Times, (22.7.1820), S. 3.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Kultur kennenlernen konnte.32 Die Ausstellung vereinte, laut Duesterberg, spektakuläre Unterhaltung mit Bildung und war so ein wichtiges Ereignis in der Popularisierung des Alten Ägypten.33 Das Wichtigste an Belzonis Ausstellung ist aber: Hier offenbart sich die erste, der insgesamt sechs Facetten des Mythos Ägypten, die wir in den kommenden Ausstellungen herausarbeiten werden. In dieser ersten Ägyptenausstellungen etablieren sich die Formen und Motive des Mythos Ägypten; das Grundgerüst des Mythos, sein Funktionsmechanismus wird hier angelegt. Die Inszenierung der Ausstellung enthält bereits alle Elemente des Mythos Ägypten, die in späteren Ausstellungen immer wiederkehren. Belzonis Ausstellung ist damit nicht nur »die Mutter aller ägyptischen Ausstellungen«34 , sondern auch der Ursprung des Mythos Ägypten in der Ägyptenausstellung. Angesichts ihres grundlegenden Einflusses ist es geboten, sie einer genauen Analyse zu unterziehen, in der nicht nur die von ihr etablierten Paradigmen der Ägyptenausstellung aufgezeigt werden, sondern vor allem die Mechanismen des Mythos Ägypten herausgestellt werden. Als Unternehmer hatte Belzoni ein gutes Gespür dafür, seine Projekte aufmerksamkeitswirksam zu vermarkten und wählte als Werbemedium die Londoner Zeitung The Times, in der er kurz nach seiner Rückkehr aus Ägypten sowohl sein Ausstellungsvorhaben als auch die Publikation seines Reiseberichts ankündigte. Die Times schrieb am 31. März 1820: »Mr. Belzoni’s Journal of his discoveries in Egypt and Nubia and the Oasis, and of his journey on the coast of the Red Sea and the Oasis, will be published as soon as possible. The model of the beautiful tomb discovered by Mr. Belzoni in Thebes will be erected as soon as convenient place shall be found for its reception.«35 In diesem Zeitungsbericht wird bereits das Kernstück der Ausstellung angesprochen: ein Modell, also eine Kopie des Grabes von Sethos I., welches Belzoni im Tal der Könige entdeckte, soll in England errichtet werden. Als Belzonis Reisebericht schließlich im November 1820 erschien, gab dieser mehr Details über sein ehrgeiziges Ausstellungsvorhaben preis:
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Vgl. dazu Duesterberg, Susanne: Popular Receptions of Archaeology. Fictional and Factual Texts in 19th and Early 20th Century Britain, Bielefeld 2015, S. 121-124. Aber nicht nur Belzonis Ausstellung, sondern auch sein Reisebericht richtete sich an ein breiteres Publikum als es zum Beispiel noch die Description der Savants getan hatte, die sich an eine soziale und intellektuelle Elite gerichtet hatte.. Vgl. Ebd., S. 52. Loprieno: »Von Ägyptologie und Ägyptomanie«, a.a.O., S. 7. »WINDSOR, MARCH 30.-Princess Augusta arrived at her mansion-house, left her by the late Queen, her Royal«, The Times, (31.3.1820), S. 2.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
»My next and principal object was […] to take drawings of the tomb of Psammethis, with impressions on wax of all the figures emblems, and hieroglyphics, the whole of which are in basso relievo; noting the colours exactly as in the originals, so as to enable me to erect a facsimile in any part of Europe.«36 »The drawings show the respective places of the figures, so that if a building were erected exactly on the same plan, and of the same size, the figures might be placed in their situations precisely as in the original and thus produce in Europe a tomb, in every point equal to that of Thebes, which I hope to execute if possible.«37 Wir erfahren hier von Belzoni, dass er die Zeichnungen und Wachsabdrücke der Figuren und Hieroglyphen des Grabes mit dem Ziel anfertigte, ein Faksimile des Grabes in Europa zu errichten. Die Zeichnungen dienten Belzoni zur genauen Rekonstruktion der Position der Figuren in diesem Faksimile; auch die Farben kopierte Belzoni genauestens, um eine Grabkopie in Europa errichten zu lassen. Belzoni ist so überzeugt von der Präzision seiner Dokumentation, dass er es für möglich hält, eine exakte Kopie des Grabes zu erschaffen, die dem Original in nichts nachsteht. Nachdem Belzoni im Reisebericht das Grab seinen Leserinnen beschrieben hat, kommt er zu folgendem Schluss: »It is useless to proceed any further in the description of this heavenly place, as I can assure the reader he can form but a very faint idea of it from the very trifling account my pen is able to give; should I be so fortunate, however, as to succeed in erecting an exact model of this tomb in Europe, the beholder will acknowledge the impossibility of doing it justice in a description.«38 Laut Belzoni muss man das Grab oder dessen Kopie sehen, um dessen Pracht überhaupt erfassen zu können; beschreibende Worte könnten dem Grab nicht gerecht werden. Geschickt lenkt Belzoni die Aufmerksamkeit der Leserinnen auf sein Ausstellungsvorhaben und weckt ihre Neugierde auf das Modell des Grabes, indem er bereits von den zukünftigen Betrachtenden der Grabkopie spricht. Wie bereits die Ankündigung seines Ausstellungsvorhabens in der Times für diese zukünftige Veranstaltung werben sollte, so erwähnt auch hier Belzoni ganz kalkuliert seine Pläne, um auf seine im Mai 1821 kommende Ausstellung aufmerksam zu machen.39 Den idealen Ort für seine Ausstellung fand Belzoni schließlich in der Egyptian Hall, die sich im angesagten Viertel Piccadilly befand und 1812 als erstes Gebäu36 37 38 39
Belzoni: Narrative, a.a.O., S. 282. Ebd., S. 240. Ebd., S. 246. Vgl. Pearce, Susan: »Giovanni Battista Belzoni’s Exhibition of the Reconstructed Tomb of Pharao Seti I. in 1821«, Journal of the History of Collections, 12. Jg./H. 1 (2000), S. 109-125, hier S. 111.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
de in London im ägyptisierenden Stil erbaut worden war (Abbildung 3).40 Dabei orientierte sich der Architekt an Dominique-Vivant Denons Zeichnungen des Hathor Tempels von Dendera aus dessen Werk Voyage dans la Basse et la Haute Égypte.41 Die Egyptian Hall war eine Pastiche aus verschiedenen altägyptischen architektonischen Stilelementen: Die Fassade wurde in der Form eines ägyptischen Pylons gestaltet, die mit den verschiedensten ägyptischen Symbolen, wie dem Skarabäus, der geflügelten Sonnenscheibe, Sphingen und Hieroglyphen verziert waren. Eine Hohlkehle mit Rundstab dominierte zusätzlich die Front des Gebäudes. Über dem Eingang befanden sich zwei Statuen von Isis und Osiris, die, ganz im klassizistischen Stil Denons, eher griechischen als ägyptischen Statuen glichen, sowie die Inschrift »Exhibition«, die auf die Zweckmäßigkeit der Egyptian Hall hinwies. Die Räumlichkeiten waren ein beliebter Ort, um die verschiedensten, wechselnden Ausstellungen zu präsentieren. Den Eingang flankierten außerdem Säulen mit Lotoskapitellen und den Türrahmen schmückte oben eine geflügelte Sonnenscheibe. Trat man in das Gebäude ein, sah man, dass der ägyptisierende Stil auch im Inneren der Egyptian Hall konsequent weiterverfolgt wurde: In der größten Halle des Gebäudes, bekannt als Great Room, fand man Säulen vor, die auf eckigen Podesten standen und mit Lotoskapitellen sowie mit Gesichtern verziert waren. Ebenso begegneten der Besucherin im Great Room Pseudohieroglyphen und Girlanden haltende Schlangen. In der Mitte des Raumes befand sich ein großes rundes Oberlicht, das verziert war mit Tierkreiszeichen. Die Ecken der Decke schmückte jeweils ein geflügelter Skarabäus.42 Kein anderes Gebäude hätte also architektonisch und örtlich passender für Belzonis Ausstellung sein können als die Egyptian Hall. Erstens fand sie in einem zentralen und beliebten Viertel Londons statt und, zweitens, wurde sie in einem Gebäude gezeigt, dessen ägyptisierende Architektur nicht nur en vogue war, sondern bereits von außen auf die ägyptische Ausstellung im Inneren referierte. So weckte die mächtige pylonförmige Fassade mit ihren altägyptischen 40
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Der Erbauer der Egyptian Hall hieß William Bullock. Sein Ziel war, ein großflächiges und prächtiges Gebäude zu kreieren, das als Museum für öffentliche Ausstellungen dienen sollte. Er wählte den ägyptisierenden Stil, weil er ihn für ungewöhnlich und fremdartig hielt. Der Architekt war Peter Frederick Robinson, ein Spezialist für historische Architektur. Leider wurde das Gebäude 1905 abgerissen, um einem Bürogebäude Platz zu machen. Statuen von Isis und Osiris überlebten den Abriss und kamen auf Umwegen ins »Museum of London«, dessen Eingang sie von 1994 bis 2002 zu beiden Seiten flankierten. Vgl. Werner, Alex: »Egypt in London – Public and Private Displays in the 19th Century Metropolis«, in: Humbert, Jean-Marcel und Price, Clifford (Hg.): Imhotep Today: Egyptianizing Architecture, London 2003, S. 75-104, hier S. 83. Vgl. Medina-Gonzáles, Isabel: »The 19th Century Archaeological Experience of Mesoamerica«, in: Jeffreys, David (Hg.): Views of Ancient Egypt since Napoleon Bonaparte: Imperialism, Colonialism and Modern Appropriations, London 2003, S. 107-126, hier S. 110. Vgl. Werner: »Egypt in London – Public and Private Displays in the 19th Century Metropolis«, a.a.O., S. 83-84.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Symbolen und Hieroglyphen bereits vor Eintritt in die Ausstellung Assoziationen, das heißt Motive des Mythos Ägypten, wie monumental, beständig und geheimnisvoll, magisch und exotisch. Die Besucherinnen konnten, mit all diesen Assoziationen ausgestattet, durch das Eingangstor der Egyptian Hall schreiten, um deren vermeintliche Geheimnisse und Wunder zu entdecken, die ihnen durch die Architektur suggeriert worden waren.
Abbildung 3: Bullock’s Museum, (Egyptian Hall or London Museum), Piccadilly. Coloured aquatint, attributed to T. H. Shepherd, 1815.
Wellcome Collection, CC-PD Mark 1.0.
2.1
Eine absolute Neuheit – Belzoni’s Egyptian Tomb
Am 1. Mai 1821 öffnete in London die erste Ausstellung über das Alte Ägypten in der Egyptian Hall ihre Pforten.43 Belzonis Ausstellung teilte sich in zwei Sektionen auf, die sich über zwei Stockwerke erstreckten: Im ersten Stock befanden sich Vitrinen mit verschiedenen kleinen Exponaten sowie Modelle im kleinen Maßstab.44 Ebenerdig, im Great Room, jenem Raum der Egyptian Hall, der wie die Fassade im
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Die Presse und ein ausgewähltes Publikum waren bereits am 27. April 1821 zur Vorschau der Ausstellung geladen worden. Vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Description of the Egyptian Tomb, London 1821, S. 13-15.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Symbolen und Hieroglyphen bereits vor Eintritt in die Ausstellung Assoziationen, das heißt Motive des Mythos Ägypten, wie monumental, beständig und geheimnisvoll, magisch und exotisch. Die Besucherinnen konnten, mit all diesen Assoziationen ausgestattet, durch das Eingangstor der Egyptian Hall schreiten, um deren vermeintliche Geheimnisse und Wunder zu entdecken, die ihnen durch die Architektur suggeriert worden waren.
Abbildung 3: Bullock’s Museum, (Egyptian Hall or London Museum), Piccadilly. Coloured aquatint, attributed to T. H. Shepherd, 1815.
Wellcome Collection, CC-PD Mark 1.0.
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Eine absolute Neuheit – Belzoni’s Egyptian Tomb
Am 1. Mai 1821 öffnete in London die erste Ausstellung über das Alte Ägypten in der Egyptian Hall ihre Pforten.43 Belzonis Ausstellung teilte sich in zwei Sektionen auf, die sich über zwei Stockwerke erstreckten: Im ersten Stock befanden sich Vitrinen mit verschiedenen kleinen Exponaten sowie Modelle im kleinen Maßstab.44 Ebenerdig, im Great Room, jenem Raum der Egyptian Hall, der wie die Fassade im
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Die Presse und ein ausgewähltes Publikum waren bereits am 27. April 1821 zur Vorschau der Ausstellung geladen worden. Vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Description of the Egyptian Tomb, London 1821, S. 13-15.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
ägyptisierenden Stil dekoriert war, war der erste Teil – die Hauptattraktion – von Belzonis Ausstellung aufgebaut: Kopien von zwei Kammern aus dem Grab Sethos I. im Maßstab 1:1, die dort von den Besucherinnen betreten und besichtigt werden konnten.45 Bei den beiden faksimilierten Grabkammern handelte es sich um die von Belzoni so benannte Entrance Hall und um die Hall of Beauties.46 Bereits der erste Öffnungstag zeigte, dass die Ausstellung ein großer Erfolg war: Rund 2000 Besucherinnen strömten an diesem einen Tag durch das Eingangstor der Egyptian Hall und schlängelten sich durch die beiden Kammern der Grabkopien. Belzoni verlangte pro Person einen für damalige Verhältnisse hohen Eintrittspreis von zwei Schilling und sechs Pence, den die Besucherinnen aber durchaus willig waren zu zahlen.47 Die Presse, die bereits vor der eigentlichen Eröffnung eingeladen worden war, um die Ausstellung zu begutachten, zeigte sich durchwegs begeistert: »The mechanical ingenuity and indefatigable diligence by which Mr. Belzoni has been enabled thus to transport to the arena of European controversy, the otherwise immovable excavations of Egypt, reflect no less credit upon him as an artist than his sagacity and success in discovering the subject matter of his extraordinary exhibition has distinguished him above all European travelers in modern times.48 « Belzoni wurde für seinen Entdeckergeist in Bezug auf die Auffindung des Grabes und für seinen Erfindungsreichtum in Bezug auf die Faksimiles gelobt. Man begeisterte sich für die großartigen Kopien, sowohl für die Kunstfertigkeit als auch den Arbeitsaufwand, der dahintersteckte. Aber vor allem wurde die Neuartigkeit von Belzonis Ausstellungskonzept und seiner Inszenierung hervorgehoben. Die Times bezeichnete die Ausstellung als »novel and most interesting« und darüber hinaus als »singular combination and skilfull arrangement of objects so new and in themselves so striking«.49 Das Spektakuläre und Neue an der außergewöhnlichen Ausstellung, wie die Times sie bezeichnete, war die Idee, mit Hilfe von Faksimiles eine Ausstellung zu machen, durch die es Belzoni geschafft hatte, ein unbewegliches Monument Ägyptens nach Europa zu bringen. Durch seine Faksimiles ermöglichte er es den Europäerinnen, zum ersten Mal überhaupt, ein ägyptisches Grab zu sehen. Die Besucherinnen vermochten so, sowohl die Dimensionen des Grabes als auch dessen Farben und Formen der Dekoration zu erleben.
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Vgl. Pearce: »Giovanni Battista Belzoni’s Exhibition of the Reconstructed Tomb of Pharao Seti I. in 1821«, a.a.O., S. 112. Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 11-12. Vgl. Siliotti 2001, 322. »The discovery ships are completely ready to leave Deptford, and their departure was to have taken place on Saturday; but in«, The Times, (30.4.1821), S. 3. Ebd.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Bevor wir ins Detail von Belzonis Inszenierung gehen, besprechen wir kurz das Original im Tal der Könige, um zu sehen, wie der heutige Forschungsstand sich vom damaligen Wissen unterscheidet und um zu erläutern, was tatsächlich in den Grabdekorationen abgebildet ist: Das Grab Sethos I. im Tal der Könige ist 137 Meter lang, fast vollständig dekoriert und besteht aus einer Abfolge von Korridoren, Kammern und Hallen. Das Grab ist vor allem durch die Arbeit des Ägyptologen Erik Hornung sehr gut erforscht. Die moderne Einteilung des Grabes in verschiedene räumliche Elemente (Korridore, Kammern, Hallen, Räume), die zur Unterscheidung die Buchstaben A bis P erhalten, erfolgt nach Hornung. Die beiden Kopien Belzonis sind heute bekannt als obere Pfeilerhalle bzw. als Hornungs Raum E und als Vorkammer bzw. Hornungs Raum I.50 Die obere Pfeilerhalle (Entrance Hall), befindet sich, wie ihr Name schon sagt, eher am Anfang beziehungsweise oben im Grab; in ihrer Mitte stehen vier Pfeiler. Die Halle ist dekoriert mit zwei Nachtstunden von insgesamt zwölf aus dem Pfortenbuch, eines der Unterweltsbücher der Ägypter.51 Es handelt sich um die fünfte Stunde, die sich auf den Wänden im linken Teil der Halle befindet, und um die sechste Stunde, die sich auf den Wänden im rechten Teil der Halle befindet. Im unteren Register der fünften Stunde trifft man die wahrscheinlich bekannteste Darstellung des Grabes an, die sich bereits im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreute, oft kopiert wurde und über die die Printmedien anlässlich der Belzoni Ausstellung häufig schrieben. Sie zeigt unterschiedliche Menschengruppen, wie sie die Ägypter äußerlich voneinander unterschieden: ihre Hautfarbe, Haartracht und Kleidung sind jeweils vollkommen anders. Die Ägypter selbst stellten sich mit rötlicher Hautfarbe, Perücke und Schurz dar. Die Gruppe, welche die Ägypter Asiaten nannten, werden mit langen Bärten und Haarband dargestellt; die Nubier mit dunkler Hautfarbe, lockigen Haaren und breiten Ringen an den Handgelenken; und die Libyer mit langen Mänteln, Seitenlocken und zwei Federn im Haar. Nach dieser Szene der verschiedenen Menschen folgt im unteren Register die Darstellung einer Schlange, die die zu ihr gehörigen Hieroglyphen als Lebenszeit kennzeichnen. Die Zeitschlange wird von Göttern getragen, die für die verstorbenen Seelen Lebenszeit abmessen, da diese sich nach dem Tod erneuert und vom Sonnengott nun neu zugewiesen wird. Das Mittelregister über der Lebenszeit zeigt ebenfalls eine Schlange, deren Leib gewunden ist. Es handelt sich um Apophis, den Erzfeind des Sonnengottes Re, der daran gehindert
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Vgl. Hornung, Erik, Burton, Harry und Hill, Marsha: Das Grab Sethos’ I, 2. Aufl., Düsseldorf 1999; Vgl. Hornung, Erik und Staehelin, Elisabeth (Hg.): Sethos – ein Pharaonengrab: Dokumentation zu einer Ausstellung des Ägyptologischen Seminars der Universität Basel im Antikenmuseum (5. Dezember 1991 bis 29. März 1992), Basel 1991. Die Unterweltsbücher begleiten den Sonnengott auf seiner nächtlichen Reise durch die Unterwelt, die zwölf Stunden dauert. Für mehr Informationen zu den Unterweltsbüchern vgl. Hornung, Erik: Die Unterweltsbücher der Ägypter, Düsseldorf 2002.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
wird, die Sonnenbarke des Gottes anzugreifen. Das obere Register zeigt Götter, die ein langes Seil tragen, das als Messstrick zu bezeichnen ist. Der Messstrick dient dazu, die Größe der Äcker im Jenseits abzumessen und so Grundbesitz an die Verstorbenen zu verteilen.52 Die vier Pfeiler der Halle zeigen auf allen Seiten Pharao Sethos I. vor einer Gottheit. Die Decke ist dekoriert mit gelben Sternen auf dunkelblauem Grund. Sie symbolisiert den Nachthimmel und den seit dem Alten Reich bekannten Wunsch des verstorbenen Königs, zum Himmel aufzusteigen, zu den Zirkumpolarsternen, um sich zu den Göttern zu gesellen, die dort lokalisiert werden. Die Vorkammer I, Belzonis Hall of Beauties, die nicht direkt, sondern nach einer weiteren Kammer (F) und zwei Korridoren (G und H) auf die Halle E/obere Pfeilerhalle (Belzonis Entrance Hall) folgt, wies eine besondere Qualität der bemalten Reliefs auf, die wie die Pfeiler der oberen Pfeilerhalle den Pharao Sethos I. vor verschiedenen Gottheiten zeigen. Darunter befinden sich Anubis, Isis, Hathor und Osiris. Auch die Decke dieser Kammer war bemalt mit goldenen Sternen auf dunkelblauem Grund (Abbildung 19 und 20). Wir haben bereits erfahren, dass Belzoni nach eigenen Angaben die oben genannten Dekorationen und Farben des Grabes genauestens kopierte, um sie in seinen Faksimiles exakt wiedergeben zu können. Darüber hinaus gibt Belzonis Ausstellungskatalog Aufschluss über sein Konzept und darüber, wie er seine Kopien der beiden Kammern von Sethos I. in Szene setzte: Die Entrance Hall, die sich, wie wir gesehen haben, zu Beginn des Grabes befindet, wurde von Belzoni aus didaktischen Gründen ausgewählt: Er bezeichnet sie als lehrreich in Bezug auf ihre symbolhaften Darstellungen.53 Die Hall of Beauties befindet sich vor der Sargkammer, zum Schluss des Grabes, und wurde von Belzoni wegen der Schönheit ihrer Darstellungen ausgewählt.54 Belzoni entschied sich für diese beiden Kammern, da sie seiner Meinung nach das Grab am besten repräsentierten.55 Bei einer Gesamtlänge von 137 Meter ist es nicht verwunderlich, dass die Kosten und der Zeitaufwand für eine komplette Reproduktion der gesamten Grabanlage zu hoch gewesen wären. Außerdem wäre es schwierig gewesen, einen geeigneten Ort für diese große Struktur zu finden. In seinem Ausstellungkatalog weist Belzoni seine Besucherinnen darauf hin, dass die beiden Kammern im Tal der Könige nicht benachbart sind.56 Allerdings waren sie in seiner Ausstellung so angeordnet, dass die eine direkt an die andere anschloss: Zunächst betraten die Besucherinnen die Hall of Beauties, auf die die Entrance Hall folgte (Abbildung 5). Belzoni weist die Besucherinnen in seinem Ausstellungskatalog jedoch an, zunächst die erste Kammer hinter sich
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Vgl. Ebd., S. 229-230. Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 5. Vgl. Ebd. Vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Description of the Egyptian Tomb, London 1821, S. 5. Vgl. Ebd.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
zu lassen und mit der Besichtigung in der nachfolgenden, also der Entrance Hall, anzufangen.57 Nach gründlicher Inspektion der Entrance Hall empfiehlt Belzoni, sich zurück in die vorangehende Kammer, die Hall of Beauties, zu begeben.58 Das wäre auch im originalen Grab im Tal der Könige die ursprüngliche Abfolge der Räume gewesen. Es bleibt offen, warum sich Belzoni dazu entschied, die Kammern in der umgekehrten Reihenfolge aufzubauen, so dass er die Besucherinnen anweisen musste, in der hinteren der beiden Kammern zu beginnen. Fakt ist, dass Belzoni durch das Zusammenfügen zweier Kammern, die sonst durch weitere Kammern und Korridore getrennt wurden, ein ganz neues Raumverhältnis schuf, das weder in architektonischer noch in religiöser Hinsicht den ägyptischen Vorstellungen eines Grabes der 19. Dynastie entsprach. Nach diesen Vorstellungen widerspiegelten funeräre Architektur und Dekoration den Jenseitsglauben und sollten selbst Abbild des Jenseits sein. Freilich ist zu berücksichtigen, dass Belzoni und seine Zeitgenossinnen dieses Wissen im Jahr 1821 noch nicht besaßen, da man die Hieroglyphen noch nicht lesen konnte und daher auch die Darstellungen der freien Interpretation oblagen. Nachdem wir einen ersten kurzen Eindruck der Grabkammern erhalten haben, die den Besucherinnen als Faksimiles in Belzonis Ausstellung zur Schau gestellt wurden, werden wir uns im Folgenden auf der einen Seite mit Hilfe zeitgenössischer Bild- und Schriftquellen, die vom Ausstellungspublikum stammen, genauer anschauen, wie diese Inszenierung der beiden Grabkammern aussah und rezipiert wurde. Auf der anderen Seite werden wir anhand der von Belzoni kreierten Plakatwerbung und des von ihm verfassten Ausstellungskataloges sehen, welche Intentionen unser Ausstellungmacher verfolgte und wie seine Ausstellung zu einer Quelle des Mythos Ägypten wurde. Uns interessiert darüber hinaus das Ausstellungserlebnis der Besucherinnen, dem wir uns jetzt zuwenden. Es beginnt nicht erst mit dem Eintritt in die Ausstellung durch die Pylonfassade der Egyptian Hall, sondern bereits mit der Plakatwerbung.
2.2
Dunkelheit als Form des Mythos – Der Gang ins dunkle Grab
Peripatetic placards, wandelnde Plakatträger, die mit großen Plakaten, befestigt an langen Stangen, durch die Straßen Londons gingen, warben für die Ausstellung.59 Auf dem Werbeplakat waren der Schriftzug »Belzoniʼs Egyptian Tomb at the Egyptian Hall« und Informationen zum Eintrittspreis und den Öffnungszeiten der Aus-
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Vgl. Ebd., S. 11. Vgl. Ebd., S. 12. Das Aquarell von George Scharf zeigt das Plakat von Belzonis Ausstellung, auf dem ein reduzierter Eintrittspreis von 1 Schilling zu lesen ist.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
zu lassen und mit der Besichtigung in der nachfolgenden, also der Entrance Hall, anzufangen.57 Nach gründlicher Inspektion der Entrance Hall empfiehlt Belzoni, sich zurück in die vorangehende Kammer, die Hall of Beauties, zu begeben.58 Das wäre auch im originalen Grab im Tal der Könige die ursprüngliche Abfolge der Räume gewesen. Es bleibt offen, warum sich Belzoni dazu entschied, die Kammern in der umgekehrten Reihenfolge aufzubauen, so dass er die Besucherinnen anweisen musste, in der hinteren der beiden Kammern zu beginnen. Fakt ist, dass Belzoni durch das Zusammenfügen zweier Kammern, die sonst durch weitere Kammern und Korridore getrennt wurden, ein ganz neues Raumverhältnis schuf, das weder in architektonischer noch in religiöser Hinsicht den ägyptischen Vorstellungen eines Grabes der 19. Dynastie entsprach. Nach diesen Vorstellungen widerspiegelten funeräre Architektur und Dekoration den Jenseitsglauben und sollten selbst Abbild des Jenseits sein. Freilich ist zu berücksichtigen, dass Belzoni und seine Zeitgenossinnen dieses Wissen im Jahr 1821 noch nicht besaßen, da man die Hieroglyphen noch nicht lesen konnte und daher auch die Darstellungen der freien Interpretation oblagen. Nachdem wir einen ersten kurzen Eindruck der Grabkammern erhalten haben, die den Besucherinnen als Faksimiles in Belzonis Ausstellung zur Schau gestellt wurden, werden wir uns im Folgenden auf der einen Seite mit Hilfe zeitgenössischer Bild- und Schriftquellen, die vom Ausstellungspublikum stammen, genauer anschauen, wie diese Inszenierung der beiden Grabkammern aussah und rezipiert wurde. Auf der anderen Seite werden wir anhand der von Belzoni kreierten Plakatwerbung und des von ihm verfassten Ausstellungskataloges sehen, welche Intentionen unser Ausstellungmacher verfolgte und wie seine Ausstellung zu einer Quelle des Mythos Ägypten wurde. Uns interessiert darüber hinaus das Ausstellungserlebnis der Besucherinnen, dem wir uns jetzt zuwenden. Es beginnt nicht erst mit dem Eintritt in die Ausstellung durch die Pylonfassade der Egyptian Hall, sondern bereits mit der Plakatwerbung.
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Dunkelheit als Form des Mythos – Der Gang ins dunkle Grab
Peripatetic placards, wandelnde Plakatträger, die mit großen Plakaten, befestigt an langen Stangen, durch die Straßen Londons gingen, warben für die Ausstellung.59 Auf dem Werbeplakat waren der Schriftzug »Belzoniʼs Egyptian Tomb at the Egyptian Hall« und Informationen zum Eintrittspreis und den Öffnungszeiten der Aus-
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Vgl. Ebd., S. 11. Vgl. Ebd., S. 12. Das Aquarell von George Scharf zeigt das Plakat von Belzonis Ausstellung, auf dem ein reduzierter Eintrittspreis von 1 Schilling zu lesen ist.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
stellung zu lesen (Abbildung 4).60 Wie das Plakat zeigt, war das Grab Sethos I. allgemein als »Belzoni’s Tomb« bekannt.61 Ein Umstand, der Belzoni gewiss enorm schmeichelte, da ganz London nun von »Belzoniʼs Tomb« sprach und somit sein Name in aller Munde war. Über dem Schriftzug des Plakates war das Bild eines Eingangs zu einem ägyptischen Grab zu sehen.62 Allerdings handelte es sich nicht um den tatsächlichen Eingang des Grabes Sethos I., welches Belzoni im Tal der Könige entdeckte. Die Fassade zum Grab Sethos I. weist nämlich keinerlei Dekoration auf und gleicht daher nur marginal dem idealisierten Bild eines ägyptisch aussehenden Grabes mit farbiger, reich dekorierter Front, welches das Plakat zeigte.
Abbildung 4: Peripatetic placard, der für Belzonis Ausstellung wirbt. Aquarell von George Scharf (1788-1860).
© The Trustees of the British Museum.
Als Vorlage des Plakates diente ein selbstgemaltes Aquarell Belzonis: Es zeigt die Fassade des Grabes mit geflügelten Maatgöttinnen, die zu beiden Seiten der
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Die Besucherinnen konnten die Ausstellung täglich von zehn Uhr bis sechzehn Uhr bewundern und nach einiger Zeit wurde dann auch der Eintrittspreis auf einen Schilling reduziert. Vgl. dazu Perger, Anton: Catalogue of the Various Articles of Antiquity, to be Disposed of, at the Egyptian Tomb, by Auction or by Private Contract, London 1822, S. 2. Vgl. Siliotti/Belzoni: Belzoni’s Travels, a.a.O., S. 42, 59. Vgl. Hume, Ivor Noël: Belzoni. The Giant Archaeologists Love to Hate, Charlottesville/London 2011, S. 218, S. 248-249.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Titulatur Sethos I. platziert sind. Diese Dekorationen befinden sich aber erst weiter hinten im Grab, am Ende des ersten Korridors, so dass das Aquarell und Plakat nicht der Realität entsprechen.63 Der schlicht gehaltene Grabeingang schien nicht den ästhetischen Vorstellungen der Londoner von einem ägyptischen Grab zu entsprechen, so dass sich Belzoni genötigt fühlte, den Eingang entsprechend zu verschönern. Der idealisierte Grabeingang auf dem Werbeplakat mit seinem immer dunkler werdenden und in die Tiefe führenden Gang ins Ungewisse konnte sicher mehr Besucherinnen anziehen als das farblose Original. Unweigerlich ruft das Plakat bestimmte Assoziationen mit dem Alten Ägypten hervor. Das Motiv des Todes, das das Grab als Form anfüllt, ist die erste dieser Assoziationen; dann die Motive des Geheimnisses, das auch in der Betrachtung der Hieroglyphen zu beiden Seiten des Eingangs mitschwingt, des Verborgenen, Exotischen, der Schätze und der Gefahr sowie des Ungewissen. Allein Belzonis Plakatwerbung evozierte daher bereits den Mythos Ägypten: Der Gang hinab ins dunkle Grab weckte in den Betrachtenden das Bedürfnis, das Geheimnis zu lüften, das sich am Ende dieses Gangs befinden muss. Den Spuren des Entdeckers Belzoni folgend, können sie sich auf die Suche nach Erkenntnis begeben, die sich in den exotischen Gefilden und dunklen Gräbern einer untergegangenen Kultur zu verbergen scheint, die dem Tod – so der allgemeine Glaube – mehr Bedeutung zumaß als dem Leben. Das Motiv der zeitlosen, exotischen Schönheit, insbesondere zutreffend auf die Göttin Maat mit ihren Geierschwingen, die durch die Mischform aus Mensch und Tier zudem mit dem heidnischen Götterglauben assoziiert werden konnte, ist auf dem Plakat ebenfalls vorhanden. Schon vor ihrem Ausstellungsbesuch, durch die Ausstellungswerbung und durch das Ausstellungsgebäude, durch das Plakat und die Fassade der Egyptian Hall, die beide – wie wir gesehen haben – zu Trägern des Mythos Ägypten werden, wurden die Besucherinnen auf zweifache Art auf Belzonis Ausstellung eingestimmt: Erstens spielte das Plakat visuell auf den Gang ins dunkle Grab Belzonis an; zweitens konnte die Egyptian Hall – nach dem visuellen Versprechen – den Besucherinnen den Übertritt von den Straßen Londons ins ägyptische Grab mit allen Sinnen ermöglichen. Das bedeutet: Bereits vor dem Betreten der eigentlichen Ausstellung waren die Besucherinnen auf den Mythos Ägypten eingestimmt und erwarteten, seine Formen und Begriffe in der Ausstellung präsentiert zu bekommen. Folgen wir ihnen nun auf dem Gang ins Grab. Nachdem die Besucherinnen die Eingangspforte der Egyptian Hall durchschritten hatten, traten sie in das Grab Sethos I. ein. Somit diente der ägyptisierende Eingang in die Egyptian Hall für die Besucherinnen gleichzeitig als Tor in eine andere Welt, wie der folgende Bericht belegt:
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Vgl. Hornung/Staehelin (Hg.): Sethos – ein Pharaonengrab, a.a.O., S. 44-45.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
»The chambers are lighted by lamps; and immediately succeeding the broad glare of day, it seems as if the spectator had been suddenly, by some magical influence, planted in another region – all around him is so different. The European countenances and dresses, and the modern manner of a London street, are in an instant exchanged for the gloom of an Egyptian sepulcher, the swarth visages and primeval costumes of an African people, the grotesque forms of strange deities and all the symbols of unexplored antiquity.«64 Aus diesem Ausstellungbericht aus der Literary Gazette erfahren wir, dass die Kammern von Belzonis Grabkopie mit Hilfe von Lampen – somit durch künstliches Licht und nicht durch Tageslicht – beleuchtet waren. Wir erfahren aber auch, dass die Kammern keineswegs gut ausgeleuchtet waren, sondern nur spärlich beleuchtet wurden, da die Besucherinnen einen starken Kontrast zwischen dem grellen Tageslicht und dem »gloom«, der Dunkelheit, des ägyptischen Grabes wahrnahmen. Die Dunkelheit, die Absenz von Licht, assoziieren die Besucherinnen sofort, aber nicht nur mit dem ägyptischen Grab, sondern generell mit einem Grab. In Gräbern, so der allgemeine Konsens, ist es immer dunkel. Die von Belzoni als Mittel der Inszenierung eingesetzte Dunkelheit in seiner Grabkopie erzeugt eine Grabesatmosphäre. Aber die Dunkelheit ist nicht nur ein Mittel der Inszenierung der Ausstellung; sie ist auch eine Form des barthesschen Mythossystems. Als Form ruft sie Assoziationen mit dem Alten Ägypten, die Motive des Begriffs, hervor, die sich allesamt um den Themenkomplex Grab im Allgemeinen und ägyptisches Grab im Besonderen bewegen: Assoziationen wie Tod und Todesfixiertheit, Geheimwissen, Geheimnis des Lebens und des Todes lüften und Geheimnis entdecken, Unsterblichkeit sowie Magie werden hervorgerufen. Die Dunkelheit ist die herausragende Form des Mythos Ägypten, die in beinahe jeder Ägyptenausstellung reproduziert wird und uns daher immer wieder begegnen wird.65 Als Mittel der Inszenierung wird sie zumeist dort eingesetzt, wo die Ausstellung Gräber zeigt oder Exponate aus Grabkontexten ausgestellt werden.66 Der Grund für den Einsatz von Dunkelheit in den Ausstellungen ist zumeist didaktischer Natur. Die Ausstellungsmacherinnen wollen die Grabobjekte 64 65
66
»Egyptian Antiquities«, The Literary Gazette: A Weekly Journal of Literature, Science, and the Fine Arts, 223 (28.4.1821), S. 268-269, hier S. 269. Wenn in der Inszenierung der Ägyptenausstellungen nicht auf die Dunkelheit und dunkle Farben zurückgegriffen wird, dann werden helle, sandige Töne zum Einsatz gebracht, die auf die ägyptische Wüste verweisen sollen. Die meisten Hinterlassenschaften der altägyptischen Kultur stammen aus dem funerären Kontext, also aus Gräbern. Viele stammen auch aus dem sakralen Kontext, z.B. aus Tempeln. Das liegt an der auf Dauerhaftigkeit angelegten Bauweise dieser Strukturen, bei der Stein als dauerhaftes Baumaterial verwendet wurde. Als Mittel der Inszenierung und Form des Mythos Ägypten kann die Dunkelheit aber auch eingesetzt werden, ohne dass ein solcher Grabkontext vorliegen muss.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
durch das dämmrige Licht in ihren ursprünglichen Kontext, einen Grabkontext, stellen. Dieser didaktisch motivierte Einsatz der Dunkelheit in Ausstellungen beruht allerdings auf einer Fehleinschätzung: Es kann durch die Grabesatmosphäre kein Erkenntnisgewinn stattfinden, sondern vielmehr ein sinnliches Erleben, das begleitet wird von der sofortigen Rezeption des Mythos Ägypten und zwar in dem Moment, in dem die Besucherin die Ausstellung betritt.67 Die durch Dunkelheit evozierte Grabesatmosphäre wird aber nicht nur mit einem ägyptischen Grab assoziiert, sondern mit dem Alten Ägypten allgemein, denn es scheint der allgemeine Konsens zu herrschen, dass die altägyptische Kultur im Wesentlichen eine Grabkultur war, eine Kultur, die vollkommen auf den Tod und das Jenseits fixiert war. Wie wir im zweiten Kapitel sehen werden, wird die durch die Dunkelheit erzeugte Grabesatmosphäre in Ausstellungen von den Besucherinnen sogar erwartet, insofern beim Fehlen der dämmrigen Lichtverhältnisse große Enttäuschung und Kritik an der Inszenierung laut wird. Den Grundstein für diese Erwartungshaltung legte Belzoni mit seiner düsteren Inszenierung der Grabkammern Sethos I. Aus dem oben zitierten Ausstellungsbericht der Literary Gazette erfahren wir außerdem, dass der Übertritt aus den Straßen Londons in eine andersartige Region als »magical influence« bezeichnet wird und damit einer magischen Grenzüberschreitung gleichkommt, bei der die Besucherin vom bekannten London ins unbekannte ägyptische Grab hinabsteigt. Die Assoziation Magie mit dem Alten Ägypten wird direkt genannt, gleichzeitig schwingt auch die Assoziation Exotik in der Andersartigkeit mit. Der Kontrast zwischen hell und dunkel, zwischen dem modernen, das heißt aufgeklärten, London und dem urtümlichen Alten Ägypten, wird hier deutlich gemacht: Die Grabkopie und deren Reliefs werden mit Wörtern wie »gloom«, »swarth«, »primeval«, »grotesque«, »strange« und »unexplored« beschrieben. Sie benennen allesamt Assoziationen mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und dem altägyptischen Grab im Besonderen. So wird der Mythos von einem urtümlichen, fremdartigen, exotischen Land evoziert, von einem Land, das groteske Götter verehrte, eine rein symbolische Schrift hatte und dessen Geheimnisse unentdeckt in den dunklen Gräbern verborgen liegen. Diesem dunklen, urtümlichen und geheimnisvollen Alten Ägypten wird das im Sinne der Aufklärung erhellte und daher moderne London gegenübergestellt. In der Rolle des Entdeckers Belzoni steigt die wagemutige Besucherin hinab in das dunkle Grab, um auf Belzonis Spuren die noch unentdeckten Geheimnisse Ägyptens zu lüften; sie will Licht ins Dunkle bringen. Betrachten wir eine zeitgenössische Lithographie von Thomas Kelly, die Besucherinnen in Belzonis Ausstellung zeigt, so bestätigt diese unseren Eindruck ei67
Falls die Dunkelheit einer Ausstellung aus konservatorischen Gründen eingesetzt wird, z.B. weil gewissen Materialien lichtempfindlich sind, ändert dieser Umstand nichts an der Rezeption des Mythos.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
ner dunklen Ausstellungsinszenierung (Abbildung 5). Wir sehen, dass die Decken der kopierten Grabkammern mit goldenen Sternen bedeckt waren, genau wie im Original. An der Decke sehen wir, neben dieser Sternendekoration, die bereits erwähnten Gaslampen, mit denen die Faksimiles beleuchtet wurden und von denen die Times sagt: »To give the exact effect to this splendid excavation, as seen by the traveler Belzoni, the apartments will be illuminated by artificial lights.«68
Abbildung 5: Blick in Belzonis Ausstellung. Lithographie von Th. Kelly.
© Bristol Culture.
Wie wir bereits festgestellt hatten, wählte Belzoni für seine Grabkopien künstliches Licht, um die Kammern zu beleuchten. Auf Tageslicht verzichtete er komplett. Ausstellungsbesucher Alfred Thornton beschreibt, dass »every gleam of daylight […] carefully excluded«69 war; und das obwohl die beiden Kopien in einem Teil der Egyptian Hall ausgestellt wurden, der von Tageslicht durchflutet wurde, das in der Mitte der Decke durch ein großes rundes Oberlicht eintrat. Belzoni 68 69
»EGYPTIAN TOMB, discovered, by Mr.BELZONI.-About the middle of April, a MODEL of this ANCIENT«, The Times, (29.3.1821), S. 1. Zitiert nach Lowe, Adam: Two Hundred Years in the Life of the Tomb of Seti I. Changing Attitudes to Preservation and the Role of Non-Contact Recording in the Production of Facsimiles for Heritage Management, herausgegeben von Factum Foundation for Digital Technology in Conservation, Madrid 2017, S. 18, http://www.factum-arte.com/resources/files/ff/publications_PDF/17p0006 _w_pamphlet_all_withcover.pdf (zugegriffen am 27.10.2021).
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
machte sich dieses Tageslicht nicht zu Nutze, obwohl die Dekorationen des Grabes im Tageslicht viel besser zu betrachten gewesen wären. Doch eine entsprechend helle Inszenierung mit Hilfe von Tageslicht, um seinen Besucherinnen eine genaue Betrachtung der Dekorationen zu gewährleisten, war nicht das Ziel Belzonis. Die insgesamt dunkle Inszenierung dieser in sich geschlossenen Räume mit niedrigen, dunklen Decken, dunklen Böden und dämmriger, künstlicher Beleuchtung war vielmehr darauf ausgerichtet, eine Grabesatmosphäre zu erzeugen, so dass die Besucherinnen sich wie Belzoni bei der Entdeckung des Originals im Tal der Könige fühlen konnten. Die Besucherinnen sollten die Grabkammern »exactly as they appeared to M. Belzoni on entering them«70 erleben. Auch im Gentleman’s Magazine wird der Eindruck deutlich, den das durch Gaslampen erhellte Grab auf die Besucherin hat: »In order to produce a more imposing effect, these two chamber are lighted with lamps, and the visitor, at first entrance, is deeply impressed with the awful solemnity that surrounds him.«71 Erlebnis und Emotionen, die durch die dunkle, klaustrophobische Inszenierung bei der Besucherin hervorgerufen werden, stehen im Vordergrund. Das zeigen deutlich die Wörter, mit denen die Ausstellung beschrieben wird: »magical«, »different«, »gloom«, »unexplored«, »solemn«, »strange«, »grotesque« usw.; sie alle sind Motive des Mythos Ägypten. Belzoni hatte in seinem Reisebericht seine Leserinnen und potentiellen Besucherinnen der Ausstellung bereits auf das Erlebnis, ein Grab zu entdecken und zu erforschen, vorbereitet, indem er genau jenen Gang in ein ägyptisches Grab beschrieb, den die Besucherinnen seiner Ausstellung ebenfalls nachempfinden sollten: »The blackness of the wall, the faint light given by the candles or torches for want of air, the different objects that surround me, seeming to converse with each other«.72 Dunkelheit und spärliches, künstliches Licht begleiten Belzoni auf seinem Gang hinab ins dunkle Grab. Das Grab und seine Grabobjekte, eigentlich Unbelebtes, scheinen lebendig um ihn herum; sie scheinen sich miteinander zu unterhalten, während Belzoni nichts von dieser Konversation versteht. Belzoni erläutert nicht, was genau er als lebendig wahrnimmt: Vielleicht meint er Mumien oder auch die Darstellungen an den Wänden, deren anthropomorphe Gestalten miteinander zu sprechen scheinen. An diesem Auszug aus Belzonis Narrative sehen wir erneut, dass die Formen Grab und Dunkelheit miteinander verwoben sind. Die Assoziationen, die hier auftauchen, sind Geheimnis und Magie. Das Grab scheint auf magische Weise lebendig; seine Objekte sprechen miteinander, ohne dass Belzoni etwas versteht, das heißt: Sie hüten ihre Geheimnisse.
70 71 72
»Egyptian Antiquities«, The Kaleidoscope: or, Literary and Scientific Mirror, 45 (8.5.1821), S. 358359, hier S. 358. »Antiquarian Researches«, a.a.O., S. 447. Belzoni: Narrative, a.a.O., S. 156.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Sowohl die dunkle Ausstellungsinszenierung, durch die eine Grabesatmosphäre erzeugt wird, als auch die Inszenierung des Ausstellungseingangs als Grabeingang, durch den die Besucherin eintreten und sich fühlen kann, als ob sie auf den Fußspuren des Entdeckers ins dunkle Grab hinabsteigt, werden uns in Ägyptenausstellungen noch oft begegnen. Der Topos, oder besser, der Mythos des Entdeckers, nimmt in Belzonis Ausstellung seinen Anfang und zieht sich bis heute unverändert durch viele Ägyptenausstellungen.
2.3
Groteske Götter und symbolhafte Hieroglyphen – Die Inszenierung der Grabkammern
Wir haben bereits erfahren, dass die Besucherinnen der Ausstellungen dunkle Grabkammern voller »grotesque forms of strange deities and all the symbols of unexplored antiquity«73 zu sehen bekamen. Über die Details der Dekoration der Faksimiles und deren Inszenierung gibt der Ausstellungsbesucher Thornton Auskunft. Thornton beschreibt sein Erleben der Faksimiles als »solemn in the extreme« und ist davon überzeugt, dass die ägyptischen Gräber der abergläubischen Hoffnung dienten, Unsterblichkeit zu erlangen.74 Gleich zu Beginn macht hier Thornton seine Assoziationen mit dem ägyptischen Grab klar. Er assoziiert es mit Aberglauben und dem Wunsch nach Unsterblichkeit und empfindet eine ernste Feierlichkeit. Im Weiteren beschreibt er die Inszenierung der Grabkopien so: »Faithful to the actual appearance of the Tomb when first visited by Belzoni, the floors of the Exhibition Chambers are covered with black cloth, and the walls thickly decorated with numerous groups of figures, slightly raised, on a milk white ground, and painted in every aspect like the originals, which are generally a sort of brown-red; but some are darker, and others nearly black. These figures consist of deities, men, animals, and symbols, representing processions, religious ceremonies, &c. The groundwork of the roof is nearly black, thickly studded with minute stars, resembling gold, and every gleam of day-light being carefully excluded, the whole is lighted up with lamps, part of which are placed on the heads of curious antique statues, […], having the bodies of women, and the heads of lions, rudely sculptured from blocks of granite.«75 Die Faksimiles der Grabkammern sind, laut Thornton, in sich abgeschlossene Räume mit Böden, Decken und Wänden. Neben der Dunkelheit der Räume, die dadurch entsteht, dass kein Tageslicht eindringt, ist auch die Farbe des Bodens im
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»Egyptian Antiquities.«, The Literary Gazette: A Weekly Journal of Literature, Science, and the Fine Arts, 223 (28.4.1821), S. 268-269, hier S. 269. Zitiert nach Lowe: Two Hundred Years in the Life of the Tomb of Seti I, a.a.O., S. 18. Zitiert nach Lowe: Two Hundred Years in the Life of the Tomb of Seti I, a.a.O, S. 18.
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Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Sowohl die dunkle Ausstellungsinszenierung, durch die eine Grabesatmosphäre erzeugt wird, als auch die Inszenierung des Ausstellungseingangs als Grabeingang, durch den die Besucherin eintreten und sich fühlen kann, als ob sie auf den Fußspuren des Entdeckers ins dunkle Grab hinabsteigt, werden uns in Ägyptenausstellungen noch oft begegnen. Der Topos, oder besser, der Mythos des Entdeckers, nimmt in Belzonis Ausstellung seinen Anfang und zieht sich bis heute unverändert durch viele Ägyptenausstellungen.
2.3
Groteske Götter und symbolhafte Hieroglyphen – Die Inszenierung der Grabkammern
Wir haben bereits erfahren, dass die Besucherinnen der Ausstellungen dunkle Grabkammern voller »grotesque forms of strange deities and all the symbols of unexplored antiquity«73 zu sehen bekamen. Über die Details der Dekoration der Faksimiles und deren Inszenierung gibt der Ausstellungsbesucher Thornton Auskunft. Thornton beschreibt sein Erleben der Faksimiles als »solemn in the extreme« und ist davon überzeugt, dass die ägyptischen Gräber der abergläubischen Hoffnung dienten, Unsterblichkeit zu erlangen.74 Gleich zu Beginn macht hier Thornton seine Assoziationen mit dem ägyptischen Grab klar. Er assoziiert es mit Aberglauben und dem Wunsch nach Unsterblichkeit und empfindet eine ernste Feierlichkeit. Im Weiteren beschreibt er die Inszenierung der Grabkopien so: »Faithful to the actual appearance of the Tomb when first visited by Belzoni, the floors of the Exhibition Chambers are covered with black cloth, and the walls thickly decorated with numerous groups of figures, slightly raised, on a milk white ground, and painted in every aspect like the originals, which are generally a sort of brown-red; but some are darker, and others nearly black. These figures consist of deities, men, animals, and symbols, representing processions, religious ceremonies, &c. The groundwork of the roof is nearly black, thickly studded with minute stars, resembling gold, and every gleam of day-light being carefully excluded, the whole is lighted up with lamps, part of which are placed on the heads of curious antique statues, […], having the bodies of women, and the heads of lions, rudely sculptured from blocks of granite.«75 Die Faksimiles der Grabkammern sind, laut Thornton, in sich abgeschlossene Räume mit Böden, Decken und Wänden. Neben der Dunkelheit der Räume, die dadurch entsteht, dass kein Tageslicht eindringt, ist auch die Farbe des Bodens im
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»Egyptian Antiquities.«, The Literary Gazette: A Weekly Journal of Literature, Science, and the Fine Arts, 223 (28.4.1821), S. 268-269, hier S. 269. Zitiert nach Lowe: Two Hundred Years in the Life of the Tomb of Seti I, a.a.O., S. 18. Zitiert nach Lowe: Two Hundred Years in the Life of the Tomb of Seti I, a.a.O, S. 18.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Grab in schwarz gehalten. Auch die Decke ist fast schwarz und ist – wie im wirklichen Grab – übersäht mit Sternen, deren Ton Thornton an Gold erinnert. In den Reliefs sieht er Götter, Menschen, Tiere und Symbole, die religiöse Zeremonien und Prozessionen repräsentieren. Nicht weiter erstaunlich ist, dass er eher wenig zur Polychromie der Wanddekorationen zu sagen hat. Er erwähnt lediglich den weißen Grundton der Wände und bräunlich bis schwarze Farben, mit denen er wohl die Hautfarbe der Figuren beschreibt. Vermutlich konnte die Polychromie gar nicht richtig zur Geltung kommen, da die Faksimiles auf Grund der dunklen Inszenierung zu spärlich beleuchtet waren. Eine weitere interessante Beobachtung Thorntons sind die beiden Sachmet-Statuen mit Frauenkörper und Löwenkopf, die sich in den Faksimiles befanden und die er als »rudely sculptured« bezeichnet. Thornton macht mit dieser abschätzigen Bemerkung über die mangelnde Finesse und Kunstfertigkeit der ägyptischen Bildhauerei deutlich, dass der ägyptischen Kunst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den meisten Europäerinnen noch jegliche Eigenständigkeit und jeglicher ästhetische Charakter abgesprochen wurde. Mit ästhetischem Charakter ist gemeint, dass sie nicht als Kunst bezeichnet wurde, wie etwa die Artefakte der Griechen und Römer. An der Schönheit wie etwa der Polychromie der ägyptischen Hinterlassenschaften, wurde sich, wie wir gesehen haben und sehen werden, aber durchaus erfreut. Belzoni hatte die beiden SachmetStatuen aus dem Totentempel Amenophis III. in Theben mitgebracht.76 Sie gehören eigentlich in einen Tempelkontext, jedoch nicht in einen Grabkontext. Anscheinend dienten die beiden Statuen Belzoni als Lampenständer, denn laut Thornton sollen sie Lampen auf den Köpfen getragen habe. Im christlich geprägten London der 1820er Jahre mag diese Symbiose zwischen Mensch und Tier, dargestellt in den Sachmet-Statuen, den Gedanken an Götzenverehrung in der heidnischen altägyptischen Kultur evoziert haben. Daher konnten die Sachmet-Statuen leicht mit dem Okkulten, Magischen und Grotesken assoziiert werden. Diese Assoziationen wurden verstärkt durch den dunklen, die Grabesatmosphäre hervorrufenden Effekt des dämmrigen Lichtes und ihren Aufstellungsort in der Grabkopie Sethos I., mit dem diese Statuen zeitlich und örtlich wenig gemeinsam hatten. Auf der bereits erwähnten Lithographie von Thomas Kelly, die einen visuellen Einblick in Belzonis Ausstellungsinszenierung bietet, ist eine der von Thornton erwähnten Sachmet-Statuen am linken Bildrand zu erkennen (Abbildung 5).77 Dort sieht es so aus, als ob sie in der Hall of Beauties aufgestellt sei, von der man links einen kleinen Ausschnitt zu sehen bekommt. Der Fokus der Lithographie liegt allerdings auf der Entrance Hall, die man anhand ihrer mittig positionierten Pfeiler erkennen kann. In beiden Kammern halten sich Besucherinnen und Besucher auf, 76 77
Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 12. Die Lithographie befindet sich heute in den World Cultures (Foreign Archaeology) Collections der Bristol Museums, Galleries and Archives unter der Inventarnummer H5040.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
die, allein oder in Paaren, die Wanddekorationen in Augenschein nehmen, sich miteinander unterhalten oder einfach nur dort verweilen. Auf einer Bank, die zwischen zwei Pfeilern aufgestellt ist, ruht ein junger Gentleman mit Zylinder, halb sitzend, halb liegend, den Rücken gestützt an einen der Pfeiler. Solche Bänke trifft man noch heute in jedem Kunstmuseum an. Sie laden dazu ein, vor den Kunstwerken länger zu verweilen, um diese eingehender betrachten zu können. Eine Brüstung, die sich vor den Wänden der Kammern entlangzieht, soll die Besucherinnen davon abhalten, zu nahe an die Wanddekorationen zu kommen. Solche Maßnahmen zum Abstandhalten von den Kunstwerken finden wir heute zumeist auch in Ausstellungen und Museen wieder. Diese Vorsichtsmaßnahme scheint in Anbetracht dessen, dass es sich bei den Grabkammern um Faksimiles und nicht um ein Original handelt, übertrieben. Allerdings wollte Belzoni die gesamte Ausstellung verkaufen und achtete deshalb darauf, seine Exponate möglichst unbeschadet zu lassen. Auffällig ist, dass der Künstler der Lithographie sehr detailliert seine Zeitgenossinnen in ihrer entsprechenden Kleidung und Manier wiedergibt, dafür aber die Wandmalereien und die in ihnen agierenden Figuren äußerst abstrakt lässt: Die Figuren, Götter und der Pharao Sethos I., auf den Pfeilern wirken aufgequollen und grotesk, die Hieroglyphen sind nur durch Striche angedeutet. Die Figuren der übrigen Reliefs werden als gesichtslose anthropomorphe Gestalten endlos wiederholt. Sie wirkten auf die Besucherinnen wie »curious and grotesque figures on the walls«78 und wie »grotesque forms of strange deities«79 . Die Grabdekoration weckte bei den Besucherinnen die Assoziation grotesk und konnte außerdem Assoziationen mit dem Alten Ägypten wie exotisch, fremdartig und okkult auslösen. Darüber hinaus spiegelt die Darstellung der Hieroglyphen als abstrakte, willkürliche Abfolge von Strichen genau die Art und Weise wider, wie die Hieroglyphen zu dieser Zeit gesehen wurden: als unlesbare, geheimnisvolle und symbolhafte Zeichen, die verborgene Weisheit enthalten und Auskunft geben können über verlorenes Geheimwissen. So schreibt die Literary Gazette über die Hieroglyphen in »Belzoni’s Tomb«: »We are, by ascending a short staircase, transported back 3000 years; we are in the tomb of a monarch of the most ancient times, we are surrounded by the characters of an unknown language, the visible signs of a lost religion, hieroglyphics which unintelligibly denote to our sense the learning of the primal world.«80
78 79 80
»Antiquarian Researches«, The Gentleman’s Magazine: and Historical Chronicle, Jan. 1736-Dec. 1833, (5.1821), S. 447-450. »Egyptian Antiquities«, a.a.O., S. 269. »Egyptian Antiquities«, a.a.O., S. 268.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
In der übrigen Presse wurden die Hieroglyphen, im Gegensatz zu den figürlichen Darstellungen des Grabes, nicht erwähnt. Zu den Figuren gab es Deutungsmöglichkeiten und sogar eine Interpretation Belzonis in dessen Ausstellungskatalog.81 Da aber die Hieroglyphen noch vollkommen unverständlich waren, daher keinerlei Deutung zuließen, konnten sie auch nicht in den Ausstellungsberichten besprochen werden. Kehren wir zur Lithographie zurück. Die abstrakte Darstellung der Ausstellungsinszenierung im Gegensatz zur deutlichen Darstellung der Besucherinnen, könnte darauf schließen lassen, dass der Künstler auf genau das fokussierte, was ihm wichtig erschien: seine Zeitgenossinnen, die einer schöngeistigen Aktivität nachgehen und an einer Veranstaltung teilnehmen, die im Jahr 1821 in London en vogue war, da sie etwas Neues, noch nie Dagewesenes präsentierte. Wie wir gesehen haben, sprach die gesamte Presse positiv über diese neuartige, interessante Ausstellung und suggerierte den Londonern, dass alle, die etwas auf sich hielten, »Belzoniʼs Tomb« gesehen haben mussten. Wichtig war demnach nur, dass die Betrachtenden auf der Lithographie erkennen mussten, welche Veranstaltung hier abgebildet war. Die abstrakte Wiedergabe der ägyptischen Darstellungen war diesem Zweck mehr als dienlich, denn man erkannte trotzdem sehr gut, dass es sich um »Belzoniʼs Tomb« handelte. Es war nicht wichtig, was genau dargestellt wurde – also nicht die altägyptische Kultur –, sondern deren Einbettung als Kulisse in den zeitgenössischen kulturellen Kontext des 19. Jahrhunderts. Die Szenen der menschlichen Handlungen, die hier in der Ausstellung dargestellt werden, scheinen außerdem beliebig austauschbar mit anderen Freizeitaktivitäten an Orten des öffentlichen Raumes wie Parks oder Einkaufsstraßen. Es scheint, als ob das soziale Element, die Zusammenkunft in den Räumen der Ausstellung und das gemeinsame Erleben der Inszenierung, wichtiger war als eine Erkenntnis über die altägyptische Kultur zu erlangen.
2.4
Mumien als Exponate in Belzonis Ausstellung
Neben diesen beiden Grabkammern war ein Stockwerk höher der zweite Teil von Belzonis Ausstellung zu bewundern, in dem einige skalierte Modelle ägyptischer Monumente sowie Vitrinen mit Belzonis Fundstücken aus Ägypten ausgestellt wurden. Hervorzuheben ist vor allem ein Modell der gesamten Grabanlage Sethos I. im Maßstab 1:6. Belzoni erwähnt im Katalog, dass er es bevorzugen würde, wenn die Besucherinnen dieses Modell zuerst, das heißt vor den beiden Kopien der Kammern im Erdgeschoss, sehen würden, was aber durch die Anordnung der Räumlichkeiten in der Egyptian Hall nicht zu bewerkstelligen war.82 Die anderen Modelle 81 82
Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 11-12. Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 11.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
In der übrigen Presse wurden die Hieroglyphen, im Gegensatz zu den figürlichen Darstellungen des Grabes, nicht erwähnt. Zu den Figuren gab es Deutungsmöglichkeiten und sogar eine Interpretation Belzonis in dessen Ausstellungskatalog.81 Da aber die Hieroglyphen noch vollkommen unverständlich waren, daher keinerlei Deutung zuließen, konnten sie auch nicht in den Ausstellungsberichten besprochen werden. Kehren wir zur Lithographie zurück. Die abstrakte Darstellung der Ausstellungsinszenierung im Gegensatz zur deutlichen Darstellung der Besucherinnen, könnte darauf schließen lassen, dass der Künstler auf genau das fokussierte, was ihm wichtig erschien: seine Zeitgenossinnen, die einer schöngeistigen Aktivität nachgehen und an einer Veranstaltung teilnehmen, die im Jahr 1821 in London en vogue war, da sie etwas Neues, noch nie Dagewesenes präsentierte. Wie wir gesehen haben, sprach die gesamte Presse positiv über diese neuartige, interessante Ausstellung und suggerierte den Londonern, dass alle, die etwas auf sich hielten, »Belzoniʼs Tomb« gesehen haben mussten. Wichtig war demnach nur, dass die Betrachtenden auf der Lithographie erkennen mussten, welche Veranstaltung hier abgebildet war. Die abstrakte Wiedergabe der ägyptischen Darstellungen war diesem Zweck mehr als dienlich, denn man erkannte trotzdem sehr gut, dass es sich um »Belzoniʼs Tomb« handelte. Es war nicht wichtig, was genau dargestellt wurde – also nicht die altägyptische Kultur –, sondern deren Einbettung als Kulisse in den zeitgenössischen kulturellen Kontext des 19. Jahrhunderts. Die Szenen der menschlichen Handlungen, die hier in der Ausstellung dargestellt werden, scheinen außerdem beliebig austauschbar mit anderen Freizeitaktivitäten an Orten des öffentlichen Raumes wie Parks oder Einkaufsstraßen. Es scheint, als ob das soziale Element, die Zusammenkunft in den Räumen der Ausstellung und das gemeinsame Erleben der Inszenierung, wichtiger war als eine Erkenntnis über die altägyptische Kultur zu erlangen.
2.4
Mumien als Exponate in Belzonis Ausstellung
Neben diesen beiden Grabkammern war ein Stockwerk höher der zweite Teil von Belzonis Ausstellung zu bewundern, in dem einige skalierte Modelle ägyptischer Monumente sowie Vitrinen mit Belzonis Fundstücken aus Ägypten ausgestellt wurden. Hervorzuheben ist vor allem ein Modell der gesamten Grabanlage Sethos I. im Maßstab 1:6. Belzoni erwähnt im Katalog, dass er es bevorzugen würde, wenn die Besucherinnen dieses Modell zuerst, das heißt vor den beiden Kopien der Kammern im Erdgeschoss, sehen würden, was aber durch die Anordnung der Räumlichkeiten in der Egyptian Hall nicht zu bewerkstelligen war.82 Die anderen Modelle 81 82
Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 11-12. Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 11.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
zeigten den Tempel von Philae im Maßstab 1:15, den Tempel von Abu Simbel, die Ruinen von Armant und den Grabeingang des Grabes in Qurna. Daneben waren zwei Modelle der Pyramide des Chephren im Maßstab 1:120 zu betrachten, wobei das eine Modell einen Querschnitt der Pyramide zeigte und das andere eine Außenansicht.83 Leider sind uns keine Abbildungen oder genauen Beschreibungen der Modelle erhalten. Neben den Replikaten und Modellen stellte Belzoni ebenfalls die Antiquitäten aus, die er während seiner Jahre in Ägypten gesammelt hatte. Darunter befanden sich vier Statuen der Göttin Sachmet aus Karnak und eine Sitzstatue Sethos I. aus Karnak, der Sarkophagdeckel Ramses III., zwei Mumien, eine davon in ihrem Sarkophag liegend und die andere ausgewickelt, und 14 Vitrinen, die viele kleinere Objekte wie Papyri, Uschebti, Skarabäen, Tiermumien, Schuhe und ein Seil, das Grabräuber hinterlassen hatten, zur Schau stellten.84 Auch ein Zeh jener kolossalen Statue Ramses II., die Belzoni für Henry Salt nach London ins British Museum hatte schaffen lassen, wurde ausgestellt.85 Belzonis Ausstellungskatalog erwähnt unter den Exponaten, die im zweiten Teil der Ausstellung im ersten Stock der Egyptian Hall präsentiert wurden, auch zwei Mumien. Noch bevor seine Ausstellung im Mai 1821 eröffnete, nutzte Belzoni eine dieser Mumien, um Aufmerksamkeit auf seine Ausstellung zu lenken. Er veranstaltete, zusammen mit dem Mediziner Thomas Pettigrew, der einer der führenden Mumienforscher werden sollte, eine Mumienauswicklung.86 Die Auswicklung fand vor einem handverlesenen Publikum aus Medizinern und Wissenschaftlern statt und hatte generell zum Ziel, Werbung für Belzonis Ausstellungsprojekt zu machen.87 Am Eröffnungstag der Ausstellung nutzte Belzoni abermals die ägyptische Mumie, um Aufmerksamkeit zu erregen. Belzoni, ganz der Entertainer, zeigte sich als Mumie verkleidet den Schaulustigen.88 Das heißt, noch bevor die Besucherinnen durch das ägyptisierende Eingangstor der Egyptian Hall Schritten, um in das dunkle ägyptische Grab vorzudringen, wurden sie mit einer der bekanntesten Formen des Mythos Ägypten konfrontiert: der Mumie. Die Mumie und das ägyptische Grab sind Formen des Mythos Ägypten, die untrennbar miteinander verknüpft sind. Denn bekanntermaßen werden Mumien in Gräbern gefunden. Beide Formen wecken Assoziationen, die sich um den Themenkreis Tod bewegen. Die
83 84 85 86 87 88
Vgl. Pearce: »Giovanni Battista Belzoni’s Exhibition of the Reconstructed Tomb of Pharao Seti I. in 1821«, a.a.O., S. 119. Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 14-15. Vgl. Ebd., S. 14-15. Vgl. Werner: »Egypt in London – Public and Private Displays in the 19th Century Metropolis«, a.a.O., S. 86. Vgl. Mayes: The Great Belzoni, a.a.O., S. 260. Vgl. Robinson, Andrew: Wie der Hieroglyphencode geknackt wurde. Das revolutionäre Leben des Jean-François Champollion, übersetzt von Josef Billen, Darmstadt 2014, S. 7.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Mumie weckt Assoziationen wie Tod, Todesfixierung, Geheimwissen und Unsterblichkeit. Der gut konservierte Leichnam lässt außerdem Zweifel daran aufkommen, ob die Mumie wirklich für immer bewegungsunfähig ist. Auf diesen Zweifel setzt Belzoni, wenn er als wandelnde Mumie seine Besucherinnen begrüßt. Den Mythos Ägypten bedient Belzoni, indem er die Erwartungshaltung der Besucherinnen befriedigt, die damit rechnen, in Belzonis ägyptischem Grab eine Mumie zu sehen, bereits bevor sie die Grabkopien überhaupt zu Gesicht bekommen. Das heißt: Die Rezeption der Mumie als Form des Mythos Ägypten in Ausstellungen beginnt mit Belzonis erster Ägyptenausstellung 1821. Wie wir erfahren haben, war eine Mumie bereits ausgewickelt worden. Sie wurde daher ohne ihre Mumienbinden in der Ausstellung präsentiert. So war die gesamte Anatomie des konservierten Körpers sichtbar. Belzoni nennt sie »the most perfect« aller Mumien, die er ausgewickelt habe.89 Laut Ausstellungskatalog wurde sie in einer Vitrine präsentiert, die nicht nur die Mumie, sondern auch ihren Sarkophag enthielt, von dem Belzonis sagt, dass er über ihr platziert war.90 Laut Alex Werner ist diese Art der Präsentation, bei der der Sarkophag zusammen mit der Mumie in der Vitrine ausgestellt wird, typisch für das British Museum. Nach Werner könnte Belzoni der erste gewesen sein, der Mumien auf diese Art und Weise präsentierte.91 Das würde bedeuten, dass die Inszenierung von Mumien in der ersten Ägyptenausstellung Einfluss hatte auf die Präsentationsweise mumifizierter Körper im British Museum, aber auch auf die Inszenierung aller weiteren Ägyptenausstellungen. Freilich wurden Mumien bereits vor Belzonis Ausstellung in Kuriositätenkabinetten und Museen gezeigt, aber seit der ersten Ägyptenausstellung gehörte die Mumie als Exponat fest zum Repertoire dieses Ausstellungstyps. Denn seit dieser Ausstellung bildet die Mumie einen festen Bestandteil der Erwartungshaltung der Besucherinnen an eine klassische Ägyptenausstellung sowie an eine ägyptische Sammlung eines Museums.92 Die Erwartung beinhaltet auch, nicht nur Mumien in ihren Mumienbinden, sondern ausgewickelte Mumien in ihrer ganzen Nacktheit geboten zu bekommen.
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Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 15. Vgl. Ebd. Vgl. Werner: »Egypt in London – Public and Private Displays in the 19th Century Metropolis«, a.a.O., S. 86. Vgl. Day, Jasmine: The Mummy’s Curse: Mummymania in the English-Speaking World, London/ New York 2006, S. 130-131.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
2.5
Die Mutter der Ägyptenausstellung und die Geburtsstunde der Ägyptologie
Seit seiner Entdeckung des Grabes im Jahre 1817 beschäftige Belzoni die Frage nach dem Grabinhaber. Da die Hieroglyphen noch nicht entziffert waren, konnte er nicht wissen, dass es sich dabei um das Grab König Sethos I. handelte.93 Wir haben erfahren, dass er das Grab zunächst Grab des Apis nannte, weil er die Überreste eines mumifizierten Stieres in einer der Kammern auffand. Belzoni änderte seine Meinung jedoch auf Anraten Thomas Youngs, jenes britischen Gelehrten, der sich im Wettstreit um die Entzifferung der Hieroglyphen mit Champollion befand. Das Grab wurde daher, sowohl in Belzonis Narrative als auch im Ausstellungskatalog, als Grab des Psammis bezeichnet. In seinem Reisebericht schreibt Belzoni, dass Young sogar die Namen zweier Pharaonen in den Aufzeichnungen des Grabes ausmachen könne: den des Necho94 und den seines Sohnes Psammis: »I have the satisfaction of announcing to the reader, that, according to Dr. Young’s late discovery of a great number of hieroglyphics, he found the names of Nichao and Psammethis, his son, inserted in the drawings I have taken of this tomb. It is the first time, that hieroglyphics have been explained with such accuracy, which proves the doctor’s system without doubt to be the right key for reading this unknown language; and it is to be hoped, that he will succeed in completing his arduous and difficult undertaking, as it would give to the world the history of one of the most primitive nations, of which we are now totally ignorant.«95 Darüber hinaus ist Belzoni von der Korrektheit der Übersetzung Youngs so überzeugt, dass er sich für dessen System zur Entzifferung der Hieroglyphen ausspricht. Damit lehnt Belzoni implizit Champollions Ansatz der Entzifferung der Hieroglyphen ab. Das Zitat zeigt, dass sich Belzoni außerordentlich für die aktuelle Debatte und das Wettrennen um die Entzifferung der Hieroglyphen interessierte. Zusätzlich zu Youngs Übersetzungen nimmt Belzoni in seinem Ausstellungskata-
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Erst Auguste Mariette konnte das Grab Sethos I. zuweisen. Vgl. dazu Hornung/Staehelin (Hg.): Sethos – ein Pharaonengrab, a.a.O., S. 8. Necho I. war Pharao von ca. 672-664 v. Chr., sein Sohn Psammetich I., der Begründer der 26. Dynastie, der so genannten Saitenzeit, regierte von 664-610 v. Chr. Psammetich I. wird hier fälschlicherweise als Grabbesitzer vermutet, obwohl ihn und Sethos I. über 600 Jahre trennen. Den Namen und die Person Necho kannte man aus der Bibel, wo seine Armee bei Megiddo in Syrien die gegnerischen Truppen des Josia von Judea vernichtend schlagen. Allerdings handelt es sich beim biblischen Necho um den Sohn Psammetichs I., Necho II., der von 610595 v. Chr. regierte. Vgl. hierzu Schneider: Lexikon der Pharaonen, a.a.O., S. 169, S. 200-201. Belzoni: Narrative, a.a.O., S. 242.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
log Bezug auf antike Autoren, vor allem auf Herodot96 und auf Bibelstellen97 , die Auskunft über den vermeintlichen Besitzer des Grabes, Psammis, geben.98 Wir wissen allerdings heute, dass nur kurze Zeit später, im Herbst 1822, Champollion den Grundstein für die Entzifferung der Hieroglyphen legen konnte. Belzoni zog aus dieser Entwicklung in der hieroglyphischen Sache die Konsequenz, sich von Young abzuwenden und für seine kommenden Ausstellungspläne in Frankreich die Hilfe von Champollion in Anspruch zu nehmen. Denn nachdem Belzonis erste Ägyptenausstellung ihre Tore am 1. April 1822 geschlossen hatte, lancierte er im Herbst des gleichen Jahres eine sehr ähnliche Ausstellung mit Grabfaksimiles in Paris.99 Die Pariser Ausstellung präsentierte nicht dieselben Faksimiles, da nach der Londoner Ausstellung alle Ausstellungstücke, sowohl die Rekonstruktionen als auch die Originalobjekte, zum Verkauf standen. So wurde ein neues Set angefertigt.100 Belzonis erste Ägyptenausstellung zeigt damit ihren Ursprung in der Gewerbeausstellung des 18. Jahrhunderts, auf der die Exponate die Waren darstellten, die für die Besucherinnen käuflich zu erwerben waren. Die Pariser Ausstellung wurde zur gleichen Zeit – im Herbst 1822 – in Räumlichkeiten auf dem Boulevard des Italiens in Paris eröffnet, in der Champollion seinen berühmten Lettre à M. Dacier relative à l’alphabet des hiéroglyphes phonétiques schrieb, in dem er ein erstes, noch unvollständiges hieroglyphisches Alphabet beschreibt, welches auf der Analyse von Königsnamen basierte. Der 22. September 1822, auf den der Brief datiert ist, gilt als Geburtsstunde der Ägyptologie. Im Dezember des gleichen Jahres erschien eine Art Katalog für Belzonis Ausstellung mit dem Titel: Description du tombeau dʼun Roi Égyptien101 , dessen Autor ein gewisser L. Hubert war, ein Pseudonym, das von Champollion benutzt wurde.102 Auf Anfragen Belzonis hatte Champollion diesen Katalog verfasst, der auf die Hieroglyphen des Grabes fokussierte. Das Pseudonym hielt Champollion wohl für notwendig, da es ihm bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gelungen war, den Namen des Pharaos zu
Vgl. Herodot: Historien, a.a.O., S. 99-179. 2 Chr 35, 20-24; 2 Chr 36, 1-4; Jer 36. Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 12. Für weitere Informationen betreffend der Pariser Ausstellung vgl. Humbert, Jean-Marcel: L’Égypte à Paris, Paris 1998, S. 116; Vgl. Pearce: »Giovanni Battista Belzoni’s Exhibition of the Reconstructed Tomb of Pharao Seti I. in 1821«, a.a.O., S. 114. 100 Vgl. Pearce: »Giovanni Battista Belzoni’s Exhibition of the Reconstructed Tomb of Pharao Seti I. in 1821«, a.a.O., S. 12-13. 101 Hubert, L.: Description du Tombeau d’un Roi Égyptien, Paris 1822. 102 Vgl. Siliotti/Belzoni: Belzoni’s Travels, a.a.O., S. 322; Vgl. Robinson: Wie der Hieroglyphencode geknackt wurde. Das revolutionäre Leben des Jean-François Champollion, a.a.O., S. 12.
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Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
übersetzen, der in Belzonis Grab bestattet worden war.103 Champollion vermutete aber, dass der Grabinhaber den Namen Ousirei tragen musste.104 Wir sehen, dass die Geburtsstunde der Ägyptenausstellung und die Geburtsstunde der Ägyptologie zeitlich sehr nahe beieinander liegen, dass aber nichtsdestotrotz die Ägyptenausstellung einen Vorsprung von eineinhalb Jahren vor der Ägyptologie hatte. Und obwohl Belzoni mit den führenden Gelehrten auf dem Gebiet der Entzifferung der Hieroglyphen zusammenarbeitet, hatte diese philologisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Ägypten keinerlei Einfluss auf das Konzept, die Inszenierung und die Rezeption der ersten Ägyptenausstellung. Belzonis Ausstellungsinszenierung wurde so ungehindert zu einer Quelle des Mythos Ägypten.
2.6
Dunkelheit, Entdecker, Mumie – Der Ursprung des Mythos Ägypten in Ausstellungen
Fassen wir die Ergebnisse unserer Analyse zusammen. Belzonis Ausstellung war bahnbrechend auf mehreren Ebenen: Nicht nur war sie die erste ägyptische Ausstellung überhaupt; indem Belzoni maßstabsgetreue Kopien zweier Grabkammern in London errichtete, zeigte er zum ersten Mal einem Publikum in Europa Impressionen des Inneren eines altägyptischen Pharaonengrabes. In seiner Inszenierung geht es Belzoni zwar, nach eigenen Aussagen, um einen didaktischen Effekt, den er sich durch die Betrachtung der Entrance Hall bei den Besucherinnen erhofft; allerdings erschöpft sich dieser Lerneffekt bereits darin, dass die Besucherinnen überhaupt zum ersten Mal mit altägyptischen Darstellungen und Hieroglyphen konfrontiert werden. Hauptsächlich ging es Belzoni um eine ästhetische Ausstellungsinszenierung, die alle Vorzüge des von ihm entdeckten Grabes, wie die farbige Dekoration, seinem Publikum zur Schau stellen sollte. Gleichzeitig sollte diese für den ästhetischen und dramatischen Effekt gestaltete Ausstellungsinszenierung der Dramaturgie von Belzonis eigenen Erlebnissen in Ägypten folgen: dem Entdecken von Gräbern und dem Gang ins Grab.105 Dabei wählte Belzoni eine dunkle Ausstellungsinszenierung, die eine Grabesatmosphäre erzeugte, durch die sich die Besucherinnen wie in einem echten ägyptischen Grab fühlen konnte und imaginieren konnten, dass sie selbst, in der Rolle des Entdeckers Belzoni, dessen Geheimnisse lüften. Paradoxerweise konnte gerade durch diese dunkle Inszenierung 103 Vgl. Robinson: Wie der Hieroglyphencode geknackt wurde. Das revolutionäre Leben des JeanFrançois Champollion, a.a.O., S. 12. 104 Vgl. Hornung/Staehelin (Hg.): Sethos – ein Pharaonengrab, a.a.O., S. 8. 105 Ergänzend ist zu den Intentionen Belzonis anzumerken, dass es ihm ebenso wichtig war, sich selbst zu inszenieren, das heißt, einem europäischen Publikum seine Errungenschaften in Ägypten zu präsentieren und sich selbst als einen der wagemutigsten, besten und erfolgreichsten Entdecker des Alten Ägypten darzustellen und feiern zu lassen.
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Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
übersetzen, der in Belzonis Grab bestattet worden war.103 Champollion vermutete aber, dass der Grabinhaber den Namen Ousirei tragen musste.104 Wir sehen, dass die Geburtsstunde der Ägyptenausstellung und die Geburtsstunde der Ägyptologie zeitlich sehr nahe beieinander liegen, dass aber nichtsdestotrotz die Ägyptenausstellung einen Vorsprung von eineinhalb Jahren vor der Ägyptologie hatte. Und obwohl Belzoni mit den führenden Gelehrten auf dem Gebiet der Entzifferung der Hieroglyphen zusammenarbeitet, hatte diese philologisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Ägypten keinerlei Einfluss auf das Konzept, die Inszenierung und die Rezeption der ersten Ägyptenausstellung. Belzonis Ausstellungsinszenierung wurde so ungehindert zu einer Quelle des Mythos Ägypten.
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Dunkelheit, Entdecker, Mumie – Der Ursprung des Mythos Ägypten in Ausstellungen
Fassen wir die Ergebnisse unserer Analyse zusammen. Belzonis Ausstellung war bahnbrechend auf mehreren Ebenen: Nicht nur war sie die erste ägyptische Ausstellung überhaupt; indem Belzoni maßstabsgetreue Kopien zweier Grabkammern in London errichtete, zeigte er zum ersten Mal einem Publikum in Europa Impressionen des Inneren eines altägyptischen Pharaonengrabes. In seiner Inszenierung geht es Belzoni zwar, nach eigenen Aussagen, um einen didaktischen Effekt, den er sich durch die Betrachtung der Entrance Hall bei den Besucherinnen erhofft; allerdings erschöpft sich dieser Lerneffekt bereits darin, dass die Besucherinnen überhaupt zum ersten Mal mit altägyptischen Darstellungen und Hieroglyphen konfrontiert werden. Hauptsächlich ging es Belzoni um eine ästhetische Ausstellungsinszenierung, die alle Vorzüge des von ihm entdeckten Grabes, wie die farbige Dekoration, seinem Publikum zur Schau stellen sollte. Gleichzeitig sollte diese für den ästhetischen und dramatischen Effekt gestaltete Ausstellungsinszenierung der Dramaturgie von Belzonis eigenen Erlebnissen in Ägypten folgen: dem Entdecken von Gräbern und dem Gang ins Grab.105 Dabei wählte Belzoni eine dunkle Ausstellungsinszenierung, die eine Grabesatmosphäre erzeugte, durch die sich die Besucherinnen wie in einem echten ägyptischen Grab fühlen konnte und imaginieren konnten, dass sie selbst, in der Rolle des Entdeckers Belzoni, dessen Geheimnisse lüften. Paradoxerweise konnte gerade durch diese dunkle Inszenierung 103 Vgl. Robinson: Wie der Hieroglyphencode geknackt wurde. Das revolutionäre Leben des JeanFrançois Champollion, a.a.O., S. 12. 104 Vgl. Hornung/Staehelin (Hg.): Sethos – ein Pharaonengrab, a.a.O., S. 8. 105 Ergänzend ist zu den Intentionen Belzonis anzumerken, dass es ihm ebenso wichtig war, sich selbst zu inszenieren, das heißt, einem europäischen Publikum seine Errungenschaften in Ägypten zu präsentieren und sich selbst als einen der wagemutigsten, besten und erfolgreichsten Entdecker des Alten Ägypten darzustellen und feiern zu lassen.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
die von Belzoni vielgepriesene Polychromie der Grabdekoration nicht zur Geltung kommen. Belzonis Ausstellung erweist sich so als ästhetische Präsentation der altägyptischen Kultur, die an die Erwartungen eines europäischen Publikums angepasst war, wie auch Antonio Loprieno festhält: »Bei der Präsentation der Grabanlage des König Sethos I. […], war die implizite Erwartung nicht, den ägyptischen ästhetischen Sinn in seinen kulturellen Kontext einzubinden, sondern eine ästhetische Nachempfindung des westlichen Mythos Ägypten zu ermöglichen.«106 Erhärtet wird dieser Umstand, wie wir gesehen haben, durch die optisch verschönerte, das heißt ästhetisierte Darstellung des Grabeingangs auf den Werbeplakaten der Ausstellung. Belzoni ermöglichte den Besucherinnen eine Erlebnisausstellung, in der sie das Alte Ägypten ästhetisch nachempfinden konnten. Die Inszenierung dieser »Mutter aller ägyptischen Ausstellungen« war so einflussreich, dass sie bis in die heutige Zeit nachwirkt. Allerdings haben wir gesehen: Der Ursprung der Ägyptenausstellung ist auch der Ursprung für den Mythos Ägypten in Ägyptenausstellungen. Quelle des Mythos ist die spezifische Ausstellungsinszenierung, die Belzoni gewählt hatte. Hier kristallisiert sich die erste Facette des Mythos Ägypten in Ausstellungen heraus. Sein Grundgerüst, sein Funktionsmechanismus wird in dieser Inszenierung angelegt und wird seitdem beinahe unverändert reproduziert. Im Folgenden seien nochmals die wichtigsten Formen und Assoziationen des Mythos Ägypten genannt, die uns in den späteren Ausstellungen immer wieder begegnen werden. 1. Bei Belzoni stoßen wir zum ersten Mal auf die Dunkelheit als zentrales Mittel der Inszenierung. Ziel der dunklen Inszenierung ist, eine Grabesatmosphäre zu erzeugen. Mythologisch betrachtet ist die Dunkelheit eine Form des Mythos Ägypten, die zusammen mit der Form Grab Assoziationen wie Tod, Magie, Geheimnis, Geheimwissen, Okkultismus und Unsterblichkeit auslöst. Die Wahl der Dunkelheit als Mittel der Inszenierung lässt die Ausstellungsinszenierung so unweigerlich zu einer Quelle des Mythos Ägypten werden. Die Dunkelheit, es sei nochmals daran erinnert, ist eine der wichtigsten Formen des Mythos Ägypten in Ägyptenausstellungen, die bis in die Gegenwart in Ausstellungen reproduziert wird. 2. Die Grabesatmosphäre, die durch die Dunkelheit erzeugt wird, begünstigt bei den Besucherinnen das Gefühl, sich auf den Spuren des Entdeckers zu befinden, der den Gang ins dunkle Grab wagt, um dessen Geheimnisse zu lüften. Belzoni erweckt dieses Gefühl bereits durch seine Darstellung eines fiktiven Grabeingangs auf den Werbeplakaten zur Ausstellung. Der dadurch evozierte 106 Loprieno: »Von Ägyptologie und Ägyptomanie«, a.a.O., S. 7.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Mythos des Entdeckers wird uns auch im 20. und 21. Jahrhundert als Moment von Ausstellungen begegnen. Der Entdeckermythos folgt demselben Mechanismus wie der Mythos Ägypten und ist eng mit ihm verbunden, da er meist zusammen mit Formen wie Dunkelheit und Grab sowie der durch sie erzeugten Grabesatmosphäre auftritt. Im Kontext ägyptischer Ausstellungen gehört der Entdecker als weitere Form zum Mythos Ägypten, die mit Motiven wie Geheimnisse lüften, Abenteuer und Wagemut assoziiert wird.107 3. Die Mumie wird mit Belzonis Ausstellung zum festen Bestandteil von Ägyptenausstellungen. Bis heute erwarten Besucherinnen, in ägyptischen Ausstellungen und in ägyptischen Sammlungen eine Mumie zu Gesicht zu bekommen. Zugleich ist die Mumie eine zentrale Form des Mythos Ägypten in Ausstellungen. Ähnlich wie die Formen Grab und Dunkelheit wird sie mit dem Tod, mit Geheimwissen, Magie und Unsterblichkeit assoziiert. Neben der Dunkelheit ist die Mumie eine der wichtigsten Formen des Mythos Ägypten, deren Wirkmacht sich mit dem Fund des Tutanchamun und dem mit ihm assoziierten Fluch nur noch vergrößern wird. Abschließend ist nochmals zu betonen, dass die Entzifferung der Hieroglyphen und die damit einhergehende Geburt der Ägyptologie keinerlei Einfluss auf die mythische Inszenierung Belzonis und daher auch keinen Einfluss auf die Ausformung des Mythos Ägypten in der Ägyptenausstellung hatte. Die erste Ägyptenausstellung und der in ihr inszenierte Mythos hatte eineinhalb Jahre Vorsprung, und diesen Vorsprung hat der Mythos Ägypten bis heute nicht eingebüßt.
3.
Die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der altägyptischen Kultur
Im Anschluss soll ein kurzer Überblick über die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der altägyptischen Kultur im 19. Jahrhundert gegeben werden. Er dient der Erörterung unserer Frage, warum sich die Ägyptomanie weiterhin neben der Ägyptologie hält. Wir werden hier auch zukünftige Protagonisten unserer Untersuchung, das heißt Ausstellungsmacher und Ägyptologen, kennenlernen, die, wie wir sehen werden, zur Produktion und Rezeption des Mythos Ägypten in 107 Außerhalb des Kontexts von Ägyptenausstellungen und Ägypten kann der Entdeckermythos auch für sich stehen, denn er existiert freilich auch außerhalb ägyptischer Entdeckungen. Wenn wir vom Entdecker und vom Entdeckermythos reden, verwenden wir hier die männliche Form, da die Entdecker, die die großen ägyptischen Funde machten und die hier besprochen werden, historisch bedingt alle männlich sind. Außerdem wird der Entdecker überwiegend mit einer bestimmten Art von Männlichkeit assoziiert, die wir im dritten Kapitel, in der Ausstellung Scanning Sethos, besprechen werden.
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Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Mythos des Entdeckers wird uns auch im 20. und 21. Jahrhundert als Moment von Ausstellungen begegnen. Der Entdeckermythos folgt demselben Mechanismus wie der Mythos Ägypten und ist eng mit ihm verbunden, da er meist zusammen mit Formen wie Dunkelheit und Grab sowie der durch sie erzeugten Grabesatmosphäre auftritt. Im Kontext ägyptischer Ausstellungen gehört der Entdecker als weitere Form zum Mythos Ägypten, die mit Motiven wie Geheimnisse lüften, Abenteuer und Wagemut assoziiert wird.107 3. Die Mumie wird mit Belzonis Ausstellung zum festen Bestandteil von Ägyptenausstellungen. Bis heute erwarten Besucherinnen, in ägyptischen Ausstellungen und in ägyptischen Sammlungen eine Mumie zu Gesicht zu bekommen. Zugleich ist die Mumie eine zentrale Form des Mythos Ägypten in Ausstellungen. Ähnlich wie die Formen Grab und Dunkelheit wird sie mit dem Tod, mit Geheimwissen, Magie und Unsterblichkeit assoziiert. Neben der Dunkelheit ist die Mumie eine der wichtigsten Formen des Mythos Ägypten, deren Wirkmacht sich mit dem Fund des Tutanchamun und dem mit ihm assoziierten Fluch nur noch vergrößern wird. Abschließend ist nochmals zu betonen, dass die Entzifferung der Hieroglyphen und die damit einhergehende Geburt der Ägyptologie keinerlei Einfluss auf die mythische Inszenierung Belzonis und daher auch keinen Einfluss auf die Ausformung des Mythos Ägypten in der Ägyptenausstellung hatte. Die erste Ägyptenausstellung und der in ihr inszenierte Mythos hatte eineinhalb Jahre Vorsprung, und diesen Vorsprung hat der Mythos Ägypten bis heute nicht eingebüßt.
3.
Die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der altägyptischen Kultur
Im Anschluss soll ein kurzer Überblick über die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der altägyptischen Kultur im 19. Jahrhundert gegeben werden. Er dient der Erörterung unserer Frage, warum sich die Ägyptomanie weiterhin neben der Ägyptologie hält. Wir werden hier auch zukünftige Protagonisten unserer Untersuchung, das heißt Ausstellungsmacher und Ägyptologen, kennenlernen, die, wie wir sehen werden, zur Produktion und Rezeption des Mythos Ägypten in 107 Außerhalb des Kontexts von Ägyptenausstellungen und Ägypten kann der Entdeckermythos auch für sich stehen, denn er existiert freilich auch außerhalb ägyptischer Entdeckungen. Wenn wir vom Entdecker und vom Entdeckermythos reden, verwenden wir hier die männliche Form, da die Entdecker, die die großen ägyptischen Funde machten und die hier besprochen werden, historisch bedingt alle männlich sind. Außerdem wird der Entdecker überwiegend mit einer bestimmten Art von Männlichkeit assoziiert, die wir im dritten Kapitel, in der Ausstellung Scanning Sethos, besprechen werden.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Ausstellungen beigetragen haben. Anschließend werden wir kurz auf das Verhältnis von Ägyptologie zu Museen und Ausstellungen im 19. Jahrhundert eingehen, bevor wir uns wieder den Ausstellungsanalysen widmen.
3.1
Die Entzifferung der Hieroglyphen und die Etablierung der Ägyptologie als Wissenschaft
Nachdem Belzoni seine Ausstellungen in London und Paris realisiert hatte, packte ihn nach kurzer Zeit wieder die Reiselust, so dass er im Oktober 1823 erneut afrikanischen Boden betrat. Diesmal sollte die Reise aber nicht nach Ägypten gehen. Belzoni schloss sich einer Expedition nach Timbuktu an. Belzonis Abenteuer nahmen ein jähes Ende, als er an der Ruhr erkrankte und binnen weniger Tage, am 3. Dezember 1823, verstarb und vor Ort bestattet wurde.108 Die Nachricht über Belzonis Tod erreichte England erst im Mai 1824.109 Belzoni gehörte zu den ersten europäischen Entdeckern Ägyptens, aber nachdem Belzoni 1820 nach London zurückgekehrt war und seine Ausstellung eröffnet hatte, folgten auf die Konsuln und ihre Agenten in den 1820er Jahren viele weitere Europäer, die als Ingenieure, Geologen, Architekten oder Mediziner nach Ägypten kamen. Wie Belzoni boten auch sie ihre Expertise in ihren jeweiligen Spezialgebieten an und wie Belzoni zeigten viele ebenfalls ein großes Interesse an der altägyptischen Kultur. Einige dieser Fachleute begannen, ihr Studium des Alten Ägypten ernsthaft zu verfolgen und wurden auf autodidaktischem Weg zu Experten auf dem Gebiet der altägyptischen Kultur. Parallel dazu entwickelte sich ab dem Jahr 1822, mit der Entzifferung der Hieroglyphen, langsam eine rein akademische Ägyptologie: »Thus began a curious duality in the 19th century study of pharaonic civilization: on the one hand a group of highly specialized practitioners […] and on the other the profession of Egyptology […] with its core of academics.«110 Stellvertretend für diese dualistische Entwicklung der Erforschung des Alten Ägypten stehen die beiden Gelehrte Thomas Young und Jean-François Champollion. Young war Arzt und Universalgelehrter. Er konnte feststellen, dass das Hieroglyphensystem zum Teil aus alphabetischen Zeichen besteht und legte von ihnen eine Liste an, die aber nur partiell korrekt war. Champollion war ein junger und ehrgeiziger Akademiker, der in Paris orientalische Sprachen studierte und bereits mit 16 Jahren einen Aufsatz über das Koptische, als Erbe der ägyptischen Sprache, verfasste. Wir haben gesehen, dass es schlussendlich Champollion gelang die Hieroglyphen zu entziffern, und dass dieser Durchbruch traditionell die Geburt der Ägyptologie als wissenschaftlicher Dis-
108 Vgl. Mayes: The Great Belzoni, a.a.O., S. 286-287. 109 Vgl. »Mr. Belzoni.«, The Kaleidoscope: or, Literary and Scientific Mirror, 4/201 (4.5.1824), S. 372-372. 110 Jeffreys: »Introduction – Two Hundred Years of Ancient Egypt: Modern History and Ancient Archaeology«, a.a.O., S. 5.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Ausstellungen beigetragen haben. Anschließend werden wir kurz auf das Verhältnis von Ägyptologie zu Museen und Ausstellungen im 19. Jahrhundert eingehen, bevor wir uns wieder den Ausstellungsanalysen widmen.
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Die Entzifferung der Hieroglyphen und die Etablierung der Ägyptologie als Wissenschaft
Nachdem Belzoni seine Ausstellungen in London und Paris realisiert hatte, packte ihn nach kurzer Zeit wieder die Reiselust, so dass er im Oktober 1823 erneut afrikanischen Boden betrat. Diesmal sollte die Reise aber nicht nach Ägypten gehen. Belzoni schloss sich einer Expedition nach Timbuktu an. Belzonis Abenteuer nahmen ein jähes Ende, als er an der Ruhr erkrankte und binnen weniger Tage, am 3. Dezember 1823, verstarb und vor Ort bestattet wurde.108 Die Nachricht über Belzonis Tod erreichte England erst im Mai 1824.109 Belzoni gehörte zu den ersten europäischen Entdeckern Ägyptens, aber nachdem Belzoni 1820 nach London zurückgekehrt war und seine Ausstellung eröffnet hatte, folgten auf die Konsuln und ihre Agenten in den 1820er Jahren viele weitere Europäer, die als Ingenieure, Geologen, Architekten oder Mediziner nach Ägypten kamen. Wie Belzoni boten auch sie ihre Expertise in ihren jeweiligen Spezialgebieten an und wie Belzoni zeigten viele ebenfalls ein großes Interesse an der altägyptischen Kultur. Einige dieser Fachleute begannen, ihr Studium des Alten Ägypten ernsthaft zu verfolgen und wurden auf autodidaktischem Weg zu Experten auf dem Gebiet der altägyptischen Kultur. Parallel dazu entwickelte sich ab dem Jahr 1822, mit der Entzifferung der Hieroglyphen, langsam eine rein akademische Ägyptologie: »Thus began a curious duality in the 19th century study of pharaonic civilization: on the one hand a group of highly specialized practitioners […] and on the other the profession of Egyptology […] with its core of academics.«110 Stellvertretend für diese dualistische Entwicklung der Erforschung des Alten Ägypten stehen die beiden Gelehrte Thomas Young und Jean-François Champollion. Young war Arzt und Universalgelehrter. Er konnte feststellen, dass das Hieroglyphensystem zum Teil aus alphabetischen Zeichen besteht und legte von ihnen eine Liste an, die aber nur partiell korrekt war. Champollion war ein junger und ehrgeiziger Akademiker, der in Paris orientalische Sprachen studierte und bereits mit 16 Jahren einen Aufsatz über das Koptische, als Erbe der ägyptischen Sprache, verfasste. Wir haben gesehen, dass es schlussendlich Champollion gelang die Hieroglyphen zu entziffern, und dass dieser Durchbruch traditionell die Geburt der Ägyptologie als wissenschaftlicher Dis-
108 Vgl. Mayes: The Great Belzoni, a.a.O., S. 286-287. 109 Vgl. »Mr. Belzoni.«, The Kaleidoscope: or, Literary and Scientific Mirror, 4/201 (4.5.1824), S. 372-372. 110 Jeffreys: »Introduction – Two Hundred Years of Ancient Egypt: Modern History and Ancient Archaeology«, a.a.O., S. 5.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
ziplin markiert. Was aber oft vergessen wird, ist, dass es noch Jahrzehnte dauern sollte bis die Ägyptologie tatsächlich als ernstzunehmende Wissenschaft etabliert war und das gesamte Spektrum hieroglyphischer Texte überhaupt gelesen werden konnte. Nach Champollions Verkündung wurde über einen längeren Zeitraum über die Korrektheit seiner Errungenschaft debattiert. Sein System war noch nicht ganz ausgereift und bedurfte weiterer Arbeit. Fakt ist, dass die einzelnen Hieroglyphen, wobei auch hier noch nicht alle, zwar entziffert werden konnten, dass man aber noch weit davon entfernt war, ganze Texte lesen zu können. Erst Champollions Grammatik und das Wörterbuch, die beide posthum von seinem Bruder 1836 und 1841 veröffentlicht wurden, bezeugten, welche grundlegende Arbeit er eigentlich geleistet hatte. Auch wenn Champollion Zeit seines Lebens von vielen Seiten angezweifelt wurde, konnte er sich durch seine Forschungen eine Stelle als Kurator im Louvre und 1831 den ersten Lehrstuhl für Ägyptologie am Collège de France sichern.111 Mit der französisch-toskanischen Expedition (1828-1829) trat Champollion sozusagen in die Fußstapfen Belzonis. Die Aufgabe Champollions während der Expedition bestand darin, Altertümer für den Louvre zu sammeln und die Monumente, vor allem Texte, also Hieroglyphen, zu studieren und abzuzeichnen. Dabei erkundete Champollion auch ausgiebig das von Belzoni entdeckte Grab Sethos I. und ließ zwei große Reliefs herausnehmen, die die Göttin Hathor und Sethos I. zeigen und sich heute im Louvre112 und in Florenz befinden.113 Außerdem war er maßgeblich an der Auswahl einer der beiden Obelisken vor dem Luxortempel zum Abtransport nach Frankreich beteiligt, der seit 1836 auf dem Place de la Concorde in Paris aufgestellt ist. Ironischerweise war es schließlich Champollion, der nach seiner ertragreichen Expedition nach Ägypten, Mohammed Ali 1830 in einem Brief bat, die Altertümer Ägyptens zu schützen. Und zwar sowohl vor sammlungswütigen Europäern, die die Altertümer in ihre Länder abtransportierten, als auch vor der ägyptischen Bevölkerung selbst, die die Überreste ihres pharaonischen Erbes weiterhin als Steinbrüche zum Bau neuer Gebäude und als Rohstoff für die Industrie benutzten. Da Mohammed Ali Altertümer als Tauschobjekte gegen europäische Unterstützung technischer und diplomatischer Art und politischer Anerkennung verwandte, sollte es allerdings noch weitere fünf Jahre dauern, bis Ali am 15. August 1835 ein Dekret erließ, das verkündete, dass von nun an der Export von Altertümern verboten sei und sie stattdessen in Kairo gesammelt und ausgestellt werden
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Vgl. Schenkel, Wolfgang: »Bruch und Aufbruch. Adolf Erman und die Geschichte der Ägyptologie«, in: Schipper, Bernd Ulrich (Hg.): Ägyptologie als Wissenschaft. Adolf Erman (1854-1937) in seiner Zeit, Berlin 2006, S. 224-247, hier S. 224. Louvre B7, 1. Stock, Saal 27, Vitrine 1. Vgl. Hornung, Erik und Loeben, Christian E.: »Die Entdeckung und 200-jährige Geschichte des Grabes Sethos I.«, in: Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig (Hg.): Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes, Basel 2017, S. 88-111, hier S. 96.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
sollen. Das Dekret scheint zum Großteil müßig gewesen zu sein, denn trotz des Exportverbotes wurden weiterhin Altertümer aus Ägypten, vor allem mit Hilfe von Bestechungsgeldern, entfernt und der neunte Pylon des Karnaktempels fiel dem Bau einer Fabrik zum Opfer.114 Ali machte trotz seines Dekretes auch weiterhin Schenkungen, wenn er sich dadurch politische und wirtschaftliche Vorteile erhoffen konnte. So profitierte die preußische Expedition unter Karl Richard Lepsius, der im Namen des Königs Friedrich Wilhelm VI. von Preußen die Expedition (18421845) nach Ägypten und Nubien anführte, von der Gunst des Paschas. Das war für Preußen der erste große Auftritt auf dem Spielfeld um die ägyptischen Altertümer. »Die von Großbritannien und Frankreich systematisch betriebene Instrumentalisierung von Wissenschaft und Kunst zur nationalen Selbstdarstellung«115 , besonders im Fall des Alten Ägypten, wollte sich nun auch Preußen zu Nutze machen. Man wollte im Land am Nil ebenso Fuß fassen, wie schon die beiden Großmächte zuvor und im Zuge dessen ägyptische Altertümer nach Berlin holen. Nachdem das British Museum, der Louvre und das Museo Egizio in Turin schon längst ihre großen ägyptischen Sammlungen dank der Sammlungsaktivitäten der Konsuln in Ägypten angelegt hatten, zog auch Berlin nach: Ägyptische Altertümer wurden erworben, die Expedition nach Ägypten wurde geplant. Gelehrte, vor allem Christian Karl Josias von Bunsen und Alexander von Humboldt, machten es sich zur Aufgabe, die deutschen Versäumnisse auf dem Gebiet des Alten Ägypten aufzuholen und förderten zu diesem Zweck den Philologen Lepsius, der sich ab 1834 den Hieroglyphen widmete. Auch Lepsius hatte seine Vorbehalte in Bezug auf das Alte Ägypten; denn an das hieroglyphische Erbe Champollions hatte sich noch niemand seit dessen Tod herangewagt und der Ägyptenkunde und vor allem den Hieroglyphen wurde noch immer der wissenschaftliche Gehalt abgesprochen, der zum Beispiel der klassischen Philologie gegeben wurde. Lepsius gelangen aber bald große Fortschritte in der hieroglyphischen Sache. Er konnte Champollions Studien weiterführen und zu einem guten Endresultat bringen. In Paris verlas er 1837 seinen Brief Lettre a M. le Professeur I. Rosellini, der eine eindeutige Anlehnung an Champollions Lettre von 1822 war, und hatte damit entscheidenden Einfluss darauf, dass das champollionsche System zur Entzifferung der Hieroglyphen nicht weiter angezweifelt wurde.116 Auf die erfolgreiche Beschäftigung mit den Hieroglyphen folgte die ebenso erfolgreiche dreijährige preußische Expedition nach Ägypten, die zur Aufgabe hatte, ägyptische Altertümer für das Neue Museum in Berlin zu sammeln,
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Vgl. Reid, Donald Malcolm: Whose Pharaohs? Archaeology, Museums, and Egyptian National Identity from Napoleon to World War I, Berkeley/Los Angeles/London 2002, S. 54-57. Wildung, Dietrich: »Freie Wahl und reiche Ernte. Karl Richard Lepsius sammelt für Preußen«, in: Lepper, Verena M. und Hafemann, Ingelore (Hg.): Karl Richard Lepsius. Der Begründer der deutschen Ägyptologie, Berlin 2012, S. 171-190, hier S. 172. Vgl. Wildung, Dietrich: Preußen am Nil, Berlin 2002, S. 33.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
das sich gerade im Bau befand. Lepsius, dabei Belzoni und Champollion folgend, besuchte ebenfalls das Grab Sethos I. und ließ, ähnlich wie Champollion, eine ganze Pfeilerseite entfernen, die sich heute im Neuen Museum in Berlin befindet.117 Nach seiner Rückkehr aus Ägypten wurde Lepsius 1846 zum Ordinarius für Ägyptologie in Berlin ernannt. Das war nach Paris der zweite Lehrstuhl für Ägyptologie weltweit. Obwohl er zunächst nicht Direktor war, war er die treibende Kraft des Auf- und Ausbaus des Ägyptischen Museums. Damit hatte Preußen nicht nur sein Ziel, die Ägyptenkunde im eigenen Land zu etablieren, erfüllt, sondern durch Lepsius übertroffen, der sich mit seinen Studien als ebenbürtiger Nachfolger Champollions auszeichnete und zum weltweit führenden Ägyptologen wurde. Aber nicht nur in Europa, auch in Ägypten selbst konnte die Entwicklung der Ägyptologie Fuß fassen. Der Franzose Auguste Mariette hatte sich das Lesen und Schreiben der Hieroglyphen selbst beigebracht, worauf das Selbststudium des Koptischen und Demotischen folgte. Diese philologischen Kenntnisse verhalfen Mariette 1849 zu einer Position im Louvre und schließlich zu einer Expedition des französischen Bildungsministeriums nach Ägypten. Mariettes Aufmerksamkeit fiel zufällig auf Saqqara, wo er Ausgrabungen durchführte und schließlich auf das Serapeum, die Begräbnisstätte der heiligen Apisstiere, stieß. Gleichzeitig wollte sich Mariette in Ägypten für den Schutz der Altertümer einsetzen und unterbreitete dem amtierenden Pascha Said, einem Sohn Mohammed Alis, die Idee, einen Antikendienst zu etablieren. Said begrüßte Mariettes Vorschlag und daraufhin baute Mariette seinen Antikendienst auf, stellte Mitarbeiter ein und organisierte Grabungen in ganz Ägypten. Zur Aufbewahrung und Präsentation der Funde ließ Mariette ein Museum bauen, das am 16. Oktober 1863 im Kairoer Stadtteil Bulaq eröffnet wurde.118 Fortan hatte Mariette die Altertümer Ägyptens unter seiner Kontrolle. Wer dort ausgraben wollte, musste nun zuerst mit Mariette verhandeln. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts den Beginn und die langsame, aber fortschreitende Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Ägypten umfasst, die nach Wolfgang Schenkel im Jahr 1860 gipfelt, ab dem die Ägyptologie als wissenschaftliche Domäne etabliert war.119 Die Entwicklungsschritte können wir nach Schenkel wie folgt zusammenfassen:120
117
Vgl. Hornung/Loeben: »Die Entdeckung und 200-jährige Geschichte des Grabes Sethos I.«, a.a.O., S. 99. 118 Vgl. Bierbrier, Morris Leonard: »MARIETTE, François Auguste Ferdinand«, in: Bierbrier, Morris Leonard (Hg.): Who was Who in Egyptology, Norwich 2012, S. 355-357. 119 Vgl. Schenkel: »Bruch und Aufbruch. Adolf Erman und die Geschichte der Ägyptologie«, a.a.O., S. 224-225. 120 Vgl. zu folgender Aufzählung ebd.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie 1. Der Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Ägypten zu Anfang des 19. Jahrhunderts als Folge oder Nebenprodukt des Ägyptenfeldzugs Napoleons, aus dem die Description entstand und auf dem der Rosettastein gefunden wurde. 2. Die Entzifferung der Hieroglyphen. Die hieroglyphischen Arbeiten Champollions sind hervorzuheben und schließlich 1822 seine Ankündigung, die Hieroglyphen entziffert zu haben. Nach seinem Tod erscheinen die wichtigen Werke zur Grammatik und zum Wortschatz und es folgt die Weiterführung seiner Arbeiten durch Lepsius. 3. Die Expeditionen und deren Publikationen als wissenschaftliche Arbeiten über das Alte Ägypten. In diesem Zeitraum von 60 Jahren erfolgte nach der Publikation der Description auch die Publikation der französisch-toskanischen und der preußischen Expedition: Champollions Monuments und Lepsius’ Denkmäler, die zwischen 1849 und 1859 erschienen. 4. Die ersten Lehrstühle für Ägyptologie an den Universitäten entstehen: Sowohl Champollions Lehrstuhl für Ägyptologie in Paris 1831 als auch Lepsius Berufung zum Professor für Ägyptologie in Berlin 1846 sind hier zu nennen. Danach wurden nach Berliner und Pariser Vorbild zunehmend Lehrstühle gegründet. 5. Die Etablierung der ägyptischen Sammlungen der Museen in London, Paris, Turin und Berlin. 6. Erst 1851 konnte durch Emmanuel de Rougé zum ersten Mal ein zusammenhängender hieroglyphischer Text vollständig erklärt werden. de Rougé war es auch, der ab 1860 am Collège de France den Lehrstuhl für Ägyptologie innehatte. 7. Das Wort »egyptology« erscheint 1859 im New English Dictionary. 8. 1863 wurde die erste ägyptologische Fachzeitschrift, die Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde gedruckt, deren Gründer Heinrich Brugsch war. 9. In Ägypten wird mit Mariette als Antikenverwalter der erste Schritt zu einer Ägyptologie in Ägypten gemacht. Das erste Museum für ägyptische Altertümer in Ägypten wird gegründet.
Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnet sich durch ein langsames Herantasten an eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Ägypten aus, die durch das Sammeln von Objekten und Wissen erreicht wird. Diese Zeit markiert aber auch den Wandel von einem Entdeckertum, für das stellvertretend Belzoni steht, hin zu einem Expertentum, das bis 1860 nicht nur von den heranwachsenden akademisch ausgebildeten Ägyptologen geprägt ist, sondern auch von autodidaktisch gebildeten Experten. Mit der Etablierung der Ägyptologie als akademischem Fach ist aber auch diese Zeit der Autodidakten vorbei. Die neue Instanz der Antikenverwaltung unter Mariette regelt außerdem den Zugriff auf die ägyptischen Altertümer.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Schenkel sieht eine Neuorientierung in der Ägyptologie erst ab 1880. Ab da schreite man vom Sammeln zum systematischen Erschließen des gesamten Quellenfundus.121 Das heißt, dass nach dem Ansammeln von Objekten und Wissen nun die Zeit gekommen war, genauer anzuschauen, was man zusammengetragen hatte. Es sollte ein Überblick über die Quellen und ein Zugang zu den Quellen gefunden werden.
3.2
Museen und Sammlungen – Ausstellungen und Weltausstellungen
In Anbetracht der oben genannten Entwicklungen, der zunächst ablehnenden Haltung der etablierten Wissenschaften gegenüber dem Alten Ägypten und der späten Etablierung der Ägyptologie als wissenschaftliche Domäne, ist Donald Malcolm Reids Feststellung nicht verwunderlich: »Until the later nineteenth century, museums and learned societies, more than universities, provided the main institutional support for Egyptology.«122 Vor der Pariser Akademie, welche eine der erwähnten »learned societies« ist, konnte Champollion seine Forschungen in der damals konventionellen Form eines offenen Briefes verlesen. Auch Lepsius, eingebunden in das Deutsche Archäologische Institut in Rom, bediente sich 1837 der Form des offenen Briefes, um seine hieroglyphische Abhandlung zu veröffentlichen.123 Lepsius Forschung wurde außerdem durch die Preußische Wissenschaftliche Akademie finanziert. Museen waren für die ersten Ägyptologen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkte für ihre Karrieren und Expeditionen sowie Sammelpunkte der angehäuften Altertümer aus Ägypten. Das Wort »Sammeln« steht hier im Mittelpunkt, denn auch die neuen Sammlungen ägyptischer Objekte hieß es zunächst anzulegen, zu ordnen und auszustellen.124 Auch hier wagte man sich auf Neuland und musste Pionierarbeit leisten; gab es doch zuvor nur ägyptische Objekte in den Kuriositätenkabinetten des 18. Jahrhunderts. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass es im 19. Jahrhundert innerhalb der bekannten Museen Europas mit ägyptischer Sammlung keine Ägyptenausstellungen gab; war man doch erst einmal damit beschäftigt, der neuen Sammlung Herr zu werden. Wie wir gesehen haben, nahmen Ausstellungen zum Alten Ägypten unabhängig vom Museum
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Vgl. Ebd. Reid: Whose Pharaohs? Archaeology, Museums, and Egyptian National Identity from Napoleon to World War I, a.a.O., S. 46. 123 Vgl. Schenkel, Wolfgang: »Die Entzifferung der Hieroglyphen und Karl Richard Lepsius«, in: Lepper, Verena M. und Hafemann, Ingelore (Hg.): Karl Richard Lepsius. Der Begründer der deutschen Ägyptologie, Berlin 2012, S. 37-78, hier S. 37,58. 124 Für einen Überblick über die Geschichte ägyptischer Sammlungen und eine kritische Auseinandersetzung ihrer Inszenierung vgl. Riggs, Christina: »Ancient Egypt in the Museum: Concepts and Constructions«, A Companion to Ancient Egypt, Bd. Vol. II, Oxford 2010, S. 1329-1153.
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Schenkel sieht eine Neuorientierung in der Ägyptologie erst ab 1880. Ab da schreite man vom Sammeln zum systematischen Erschließen des gesamten Quellenfundus.121 Das heißt, dass nach dem Ansammeln von Objekten und Wissen nun die Zeit gekommen war, genauer anzuschauen, was man zusammengetragen hatte. Es sollte ein Überblick über die Quellen und ein Zugang zu den Quellen gefunden werden.
3.2
Museen und Sammlungen – Ausstellungen und Weltausstellungen
In Anbetracht der oben genannten Entwicklungen, der zunächst ablehnenden Haltung der etablierten Wissenschaften gegenüber dem Alten Ägypten und der späten Etablierung der Ägyptologie als wissenschaftliche Domäne, ist Donald Malcolm Reids Feststellung nicht verwunderlich: »Until the later nineteenth century, museums and learned societies, more than universities, provided the main institutional support for Egyptology.«122 Vor der Pariser Akademie, welche eine der erwähnten »learned societies« ist, konnte Champollion seine Forschungen in der damals konventionellen Form eines offenen Briefes verlesen. Auch Lepsius, eingebunden in das Deutsche Archäologische Institut in Rom, bediente sich 1837 der Form des offenen Briefes, um seine hieroglyphische Abhandlung zu veröffentlichen.123 Lepsius Forschung wurde außerdem durch die Preußische Wissenschaftliche Akademie finanziert. Museen waren für die ersten Ägyptologen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ausgangspunkte für ihre Karrieren und Expeditionen sowie Sammelpunkte der angehäuften Altertümer aus Ägypten. Das Wort »Sammeln« steht hier im Mittelpunkt, denn auch die neuen Sammlungen ägyptischer Objekte hieß es zunächst anzulegen, zu ordnen und auszustellen.124 Auch hier wagte man sich auf Neuland und musste Pionierarbeit leisten; gab es doch zuvor nur ägyptische Objekte in den Kuriositätenkabinetten des 18. Jahrhunderts. Demnach ist es nicht verwunderlich, dass es im 19. Jahrhundert innerhalb der bekannten Museen Europas mit ägyptischer Sammlung keine Ägyptenausstellungen gab; war man doch erst einmal damit beschäftigt, der neuen Sammlung Herr zu werden. Wie wir gesehen haben, nahmen Ausstellungen zum Alten Ägypten unabhängig vom Museum
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Vgl. Ebd. Reid: Whose Pharaohs? Archaeology, Museums, and Egyptian National Identity from Napoleon to World War I, a.a.O., S. 46. 123 Vgl. Schenkel, Wolfgang: »Die Entzifferung der Hieroglyphen und Karl Richard Lepsius«, in: Lepper, Verena M. und Hafemann, Ingelore (Hg.): Karl Richard Lepsius. Der Begründer der deutschen Ägyptologie, Berlin 2012, S. 37-78, hier S. 37,58. 124 Für einen Überblick über die Geschichte ägyptischer Sammlungen und eine kritische Auseinandersetzung ihrer Inszenierung vgl. Riggs, Christina: »Ancient Egypt in the Museum: Concepts and Constructions«, A Companion to Ancient Egypt, Bd. Vol. II, Oxford 2010, S. 1329-1153.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
ihren Anfang. Sie stehen im Gegensatz zum Museum in der Tradition der Gewerbeausstellungen, haben also keinen gemeinsamen Ursprung, sondern stellen eine parallele Entwicklung dar. Ausstellungen sind daher von Anfang an nicht abhängig von Museen oder an diese gebunden. Die Ausstellung Belzonis gehört traditionell nicht zu den oben genannten Entwicklungsschritten der Ägyptologie, das heißt sie zählt nicht zur Sphäre der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Ägypten, sondern zu dessen populärer Rezeption. Und das obwohl diese Ausstellung die Rezeption Altägyptens in gleichem oder höherem Maße beeinflusste, als die Publikationen der Expeditionen oder die ägyptischen Sammlungen der Museen. Darüber hinaus hatten Belzonis Ausstellungskonzept und Inszenierung Einfluss sowohl auf die Präsentation der ägyptischen Objekte in den Museen als auch auf die kommenden Ägyptenausstellungen, deren Inszenierungen Teil der Weltausstellungen wurden. Belzonis Konzept und Inszenierung beeinflussten sowohl Ägyptologen wie Lepsius und Mariette aber auch die Autodidakten auf dem Gebiet des Alten Ägypten. Da Belzonis Inszenierung eine Quelle des Mythos Ägypten war, wurden auch die kommenden Ägyptenausstellungen zu Quellen des Mythos Ägypten. Das heißt, dass die Herausbildung eines Expertentums für das Alte Ägypten und die Herausbildung der Wissenschaft Ägyptologie keinen Einfluss auf die Reproduktion des Mythos Ägypten in Ägyptenausstellungen hatten. Allerdings hat die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Ägypten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ihren Publikationen ein europäisches Publikum mit der altägyptischen Kunst und Architektur vertrauter gemacht. Wurde der ägyptischen Kunst zu Belzonis Zeiten ein ästhetischer Gehalt vollkommen abgesprochen, so wurde ihr spätesten ab der Mitte des 19. Jahrhundert ihre Eigenständigkeit zugestanden. Trotzdem rief sie weiterhin die Assoziationen grotesk, grob, massiv hervor, die aber langsam von einer positiven Assoziation, der Schönheit, ergänzt oder sogar ersetzt wurden. Eine Bemerkung im Penny Magazine aus dem Jahr 1835 über die Präsentation der ägyptischen Exponate im British Museum ist bezeichnend für jene Einstellung gegenüber der ägyptischen Kunst, die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschte und ihr jeglichen ästhetischen Gehalt absprach: »So we would that the Egyptian Room should have a character distinctly Egyptian. […] we mean that the apartment should have something of that heavy and massive character which distinguishes the architecture of ancient Egypt, and which so well agrees with the gigantic and passionless forms by which its sculpture is distinguished. All the other apartments in which sculptured antiquities are deposited are lighted from the top, for the convenience of the artists who frequent them for the purposes of study; but in the present instance the architect has availed himself of the circumstance that the Egyptian antiquities are not in any way studied
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
as models to throw the light through the side walls by common oblong windows, one of which is between every two pilasters. Merely in point of taste and effect, the light thus admitted is, however, too glaring and abundant. ›A dim religious light‹ would be most suitable to the objects around.«125 Die Verfasserin wünscht eine Inszenierung der ägyptischen Exponate, die typisch ägyptisch sein soll. Als typisch ägyptisch nennt sie Assoziationen mit der Architektur und Kunst des Alten Ägypten wie schwer, massiv, gigantisch und leidenschaftslos. Der Mythos von einem statischen und monumentalen Ägypten zeichnet sich hier ab. Als typisch ägyptisch empfindet die Verfasserin außerdem ein gedämpftes, religiöses Licht, das sie sich an Stelle des zu grellen Tageslichtes wünschen würde, welches durch die seitlichen Fenster eintritt. Die Verfasserin wünscht sich also eine Grabesatmosphäre, die die Exponate im Halbdunkel zeigt. Sie assoziiert die Exponate mit ägyptischen Gräbern und der in ihnen herrschenden Dunkelheit. Grab und Dunkelheit wecken Assoziationen wie Tod und Todesfixierung, Geheimnis und Unsterblichkeit und hier wohl auch übertriebene Religiosität. Gleichzeitig werden der ägyptischen Kunst Eigenständigkeit und ästhetischer Gehalt abgesprochen, wenn berichtet wird, dass die ägyptischen Exponate in keiner Weise als Modelle zum Zweck des Studiums dienen könnten und daher auch kein helles Licht bräuchten, durch das man die Details betrachten könnte. Als Gegensatz zu den ägyptischen Exponaten nennt sie die klassischen Skulpturen, wohl diejenigen Griechenlands und Roms, die als Modelle den betrachtenden Künstlern sehr wohl in entsprechend hellem Licht gezeigt werden müssen. Allein diese Skulpturen besitzen einen ästhetischen Gehalt und sollen dementsprechend rezipiert werden. Die ägyptische Kunst und Architektur waren dagegen ein großes Thema der Inszenierungen Altägyptens auf den Weltausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich aus den Gewerbe- und Industrieausstellungen entwickelt hatten, in denen auch Belzonis erste Ägyptenausstellung ihren Ursprung findet. Die Weltausstellungen sind wiederum die Vorläufer der kulturhistorischen Ausstellungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu denen auch die modernen Ägyptenausstellungen gehören. Damit sind sie das logische Bindeglied zwischen Belzonis Ausstellung und den Ägyptenausstellungen, wie wir sie heute kennen. So ist eine paradigmatische Analyse einzelner Beispiele dieser Inszenierungen der Weltausstellungen unabdingbar, um die nachfolgende Entwicklung der Ägyptenausstellung verstehen zu können. Außerdem thematisierten die Inszenierungen der Weltausstellungen mit ihrem Fokus auf der Ästhetik der ägyptischen Kunst eine neue wichtige Assoziation mit dem Alten Ägypten und damit ein Motiv des Mythos Ägypten: die Schönheit.
125
»Egyptian Room, British Museum«, Penny Magazine of the Society for the Diffusion of Useful Knowledge, Mar.1832–Dec.1845, 4/184 (14.2.1835), S. 57-58.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
4.
Das Alte Ägypten auf den Weltausstellungen
Weltausstellungen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in regelmäßigen Abständen stattfanden, waren Feste des Fortschritts, des Konsums und des Kapitalismus der noch jungen industriellen Gesellschaft. Verschiedene Länder zeigten ihre technischen Errungenschaften, aber auch Eindrücke ihres territorialen Expansionsstrebens. Weltausstellungen erfüllten für die Besucherinnen gleich mehrere Funktionen: So waren sie Museum, Markt und Vergnügungspark in einem und erreichten mit diesem Angebot ein breites Publikum. Für viele Besucherinnen dienten Weltausstellungen außerdem als Ersatz für Auslandsreisen oder als Vorbereitung und Einstimmung auf Auslandsreisen, da sie Einblicke in viele auch ferne Länder boten, die auf dem Ausstellungsgelände in komprimierter Form vorgestellt wurden. Den Teilnehmerländern standen dabei Ausstellungsflächen zur Verfügung, auf denen sie ihr Land und auch dessen Kolonien präsentieren konnten. Der temporäre Charakter, die Ausrichtung auf ein Massenpublikum sowie die Verknüpfung von Vergnügen und Didaktik lassen Weltausstellungen, vor allem des 19. Jahrhunderts, zu einem idealen Untersuchungsgegenstand für die Präsentation des Alten Ägypten werden. Ägypten, das seit der Machtergreifung Mohammed Alis darum bemüht war, westlichen industriellen Standards nachzueifern, nahm auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts mit großem Enthusiasmus teil, wobei die Ausstellung, die das zeitgenössische Ägypten repräsentierte vor der Inszenierung des Alten Ägypten vollkommen in den Hintergrund trat. Das Ägypten der Weltausstellungen war vor allem das des antiken und des mittelalterlichen Ägypten, das den europäischen Besucherinnen in komprimierter und leicht konsumierbarer Form vorgesetzt wurde. Auf den Weltausstellungen von 1851 bis in die heutige Zeit war Ägypten dann, je nach politischer Lage, mal mehr und mal weniger präsent. Für unsere Analyse sind aber vor allem die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und unter ihnen besonders die Inszenierung des Egyptian Court ab 1854, die in direktem Zusammenhang mit der Weltausstellung von 1851 in London entstanden ist, relevant sowie die Weltausstellung von 1867 in Paris. An ihnen kann man die Entwicklung der Ägyptenausstellung im Allgemeinen und die Entwicklung der Reproduktion des Mythos Ägypten im Besonderen verfolgen.
4.1
Das ästhetische Simulacrum – Der Egyptian Court im Crystal Palace
Mitte des 19. Jahrhunderts war England die wohlhabendste und mächtigste Nation der Welt; so ist es nicht verwunderlich, dass die erste Weltausstellung 1851 in London stattfand. Inspiriert von der nationalen Ausstellung Frankreichs im Jahr 1849, die seit 1798 immer wieder stattfand und auch die Produkte Frankreichs nordafrikanischer Kolonien zur Schau stellte, beschlossen die Briten, eine internationale
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Ausstellung zu lancieren – natürlich auch, um den alten Rivalen Frankreich mit den britischen Errungenschaften übertrumpfen zu können.126 Der Plan der Briten ging auf: Die »Great Exhibition of the Works and Industry of all Nations« wurde zur bis dahin größten Ausstellung, die die Welt je gesehen hatte. Am 1. Mai 1851 öffnete die Weltausstellung ihre Tore für 30.000 Besucher, die allein an diesem Tag in den eigens für die Ausstellung gebauten Crystal Palace im Hyde Park strömten. Das Ausstellungsgebäude, selbst ein Novum mit seiner Struktur aus Eisen und Glas, beherbergte 14.000 Aussteller127 und 100.000 Ausstellungsstücke.128 Ägypten war auch vertreten, musste sich aber, da es zum Osmanischen Reich gehörte, eine Ausstellungsfläche mit diesem teilen; von Seiten der Türken war eine separate Partizipation Ägyptens wohl unerwünscht. Objekte zum Thema des pharaonischen Ägypten wurden nur am Rande gezeigt, da sich die Osmanen von den heidnischen Zeugnissen der Vergangenheit distanzierten und sich als modernes Reich präsentieren wollten. Das Alte Ägypten erfuhr wesentlich größere Aufmerksamkeit, als nach dem Ende der Londoner Weltausstellung die Bauteile des Crystal Palace aufgekauft und 1854 in Sydenham, einem Vorort von London, in veränderter und noch größerer Form wiederaufgebaut wurden. Diesmal sollte der Palast aus Glas aber nicht die Errungenschaften der Industrienationen beherbergen, sondern der Fokus lag hier auf der Darstellung von Kunst und Architektur vergangener Kulturen und Epochen. Der Crystal Palace in Sydenham wurde rasch zu einer der beliebtesten Attraktionen und Ausflugsziele der Londoner und der Besucherinnen aus dem Inund Ausland und verzeichnete während der ersten dreißig Jahre seines Bestehens circa zwei Millionen Besucherinnen pro Jahr.129 Was so viele Besucherinnen in das Umland von London lockte, war gute Unterhaltung, die von offizieller Seite einem bildenden Zweck dienen sollte. Denn der Crystal Palace verfolgte, wie das British Museum, einen Bildungsauftrag im Sinne aufklärerischer Ideale, der sich an die gesamte britische Bevölkerung richtete: »Expressing a commitment to enlightenment ideals, where instruction for a mass audience would be the priority the [Crystal Palace, d. Verf.] Company sought to create a visual encyclopaedia of culture and nature through exhibits on palaeontology, botany, ethnography and art history.«130
Vgl. Beaver, Patrick: The Crystal Palace, 2. Aufl., Chichester 2001, S. 11-12. Allerdings kam die Hälfte dieser Aussteller aus Großbritannien selbst. Vgl. Beaver: The Crystal Palace, a.a.O., S. 35, 37, 47. Vgl. Leith, Ian: Delamotteʼs Crystal Palace. A Victorian Pleasure Dome Revealed, Swindon 2005, S. 1. 130 Moser, Stephanie: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, New Haven/London 2012, S. 5.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Neben diesen kulturellen, naturhistorischen und botanischen Angeboten fanden auch regelmäßig musikalische Darbietungen und Shows im Crystal Palace statt. Zahlreiche gastronomische Anbieter versorgten die Besucherinnen während ihres Aufenthalts mit Speisen und Getränken. Die Hauptattraktion an diesem Ort der Vergnügung waren jedoch die Fine Arts Courts. Dort konnten die Besucherinnen durch die Geschichte der Kunst von der Antike bis ins 16. Jahrhundert wandeln. Aufgeteilt in separate, aufeinander folgende Ausstellungsflächen, sogenannte Courts, wie zum Beispiel den Griechischen Hof, den Römischen Hof, den Byzantinischen Hof und natürlich den Ägyptischen Hof, wurde hier die Entwicklung von Architektur, Rund- und Flachbild durch Installationen zu verschiedenen Epochen illustriert.131 Bei den Fine Arts Courts handelte es sich um dreidimensionale Ausstellungsräume, die die Besucherinnen betreten und sinnlich erfahren konnten. Der für unsere Analyse wichtige Egyptian Court befand sich ganz am Anfang dieser Reihe von Höfen und markierte damit auch den Anfang des kunstgeschichtlichen Rundgangs. Die nachfolgenden Höfe, zunächst der griechische, dann der römische, sollten die Entwicklung der Kunst aus den ägyptischen Anfängen verdeutlichen. Im Egyptian Court wurden nicht originalgetreue Kopien von architektonischen Elementen verschiedener ägyptischer Tempel in einer polychromen Pastiche zusammengefügt. Vervollständigt wurde diese Zusammenstellung ägyptischer Architektur durch Rundbilder – Abgüsse ägyptischer Statuen – und durch Flachbilder – Kopien ausgewählter ägyptischer Reliefs. Da diese Ausstellung des Crystal Palace nicht nur Ägypten, sondern auch andere antike Kulturen zeigte, bot sie einem breiten europäischen Publikum zum ersten Mal einen Zugang zur Antike außerhalb des Museums, der einen Einblick in Architektur, Kunst und deren Größenverhältnisse durch Kontextualisierung geben wollte. Was zunächst reichen Sammlern und Gelehrten vorbehalten blieb, die sich die Monumente vor Ort ansehen konnten, wurde nun auf attraktive, bequeme und erschwingliche Weise quasi vor der Haustür zur Schau gestellt, ohne in diese fernen Länder selbst reisen zu müssen, was dem Großteil der Besucherinnen des Crystal Palace niemals möglich gewesen wäre.132 Die Gestaltung des Ägyptischen Hofs oblag Owen Jones, einem britischen Designer und Architekten, der sich für seine Interpretation des Alten Ägypten aus dem Fundus seiner eigenen Zeichnungen und Messungen bediente, die er 1833 in Ägypten angefertigt hatte. Außerdem orientierte er sich an Publikationen Champollions und Sir John Gardner Wilkinsons, dem führenden britischen Ägyptenexperten dieser Zeit.133 Joseph Bonomi, der nach zehn Jahren Aufenthalt in Ägypten
131 132 133
Vgl. Beaver: The Crystal Palace, a.a.O., S. 84. Vgl. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 3. Vgl. Jones, Owen und Bonomi, Joseph: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, London 1854, S. 3.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
und dem dortigen Selbststudium der Plastiken und Hieroglyphen als Experte für ägyptische Kunst galt und ein Teilnehmer der Preußenexpedition unter Lepsius gewesen war, assistierte Jones bei der Konzeption des Ägyptischen Hofs.134 Beide verfassten außerdem den Ausstellungskatalog Description of the Egyptian Court, der die Besucherinnen durch den Egyptian Court führen sollte, um während des Rundgangs die Exponate zu erläutern.135 Neben Bonomi wurden auch andere Experten für die übrigen Courts involviert, um dem Anspruch zu genügen, wissenschaftlich fundierte Ausstellungen zu schaffen. Aber Jones ging es nicht darum, archäologisch korrekte originalgetreue Kopien zu erschaffen; als Designer ging es ihm primär darum, »how styles of ornamentation defined different traditions of art«136 . Jonesʼ Egyptian Court war eine Interpretation der ägyptischen Kunst und Architektur mit dem Ziel, ägyptische Ornamente und Polychromie in den Vordergrund zu stellen; diese beiden Dinge interessierten ihn als Designer am meisten. Er suchte die bunte Pastiche von Tempelelementen nach rein ästhetischen Gesichtspunkten aus. Besonders fasziniert war er von ägyptischen Darstellungen des Lotos in Rundund Flachbild und nach diesem und ähnlichen ästhetischen Interessen suchte und setzte er die einzelnen Elemente des Egyptian Court zusammen, so dass man das Thema Lotos in der gesamten Inszenierung verfolgen konnte.137 Die ausgewählten architektonischen Elemente und Ornamente der ägyptischen Kunst, die Jones in seiner Inszenierung des Alten Ägypten zeigte, sind Formen des Mythos Ägypten. Für Jones haben sie eine einzige herausragende Assoziation: die der Schönheit. Im Katalog zum Egyptian Court attestiert er der ägyptischen Kunst »exquisite beauty, refinement, and grandeur«.138 Diese edle, feine, exquisite Pracht und Schönheit der altägyptischen Kunst ist die Assoziation, die Jones den Besucherinnen vermitteln will. Mit der Schönheit führt Jones eine neue Assoziation in den Mythos Ägypten ein. Doch das ist nicht alles: Jones nimmt in seiner Inszenierung einzelne Tempelelemente und ordnet sie nach seinen künstlerischen Interessen neu an. Er erschafft so ein Simulacrum, ein Objekt, das zwar aus Kopien ägyptischer Elemente besteht, sie aber in einer neuen Komposition zusammenbringt, die keinem ägyptischen Original entspricht. Das bedeutet: Mit dem Simulacrum des Egyptian Court wurde eine neue Vergangenheit erzeugt, die es so nie gegeben hatte, eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war. Den Besucherinnen wurde damit eine leicht konsumierbare altägyptische Welt gezeigt, in deren Inszenierung sich der Mythos Ägypten reproduzierte. Dabei
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Vgl. Ebd. Bonomi wurde der erste Kurator des John Soaneʼs Museum, in dem der Sarkophag Sethos I. ausgestellt ist. Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 10. Vgl. Ebd., S. 84-85, S. 94. Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O., S. 3.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
rief die Inszenierung keineswegs, wie Jones es sich vorgestellt hatte, ausschließlich die Assoziation der Schönheit hervor; auch völlig gegenteilige Assoziationen wie grotesk oder magisch evozierte der Egyptian Court. Dieses Vermischen und sich Abwechseln der verschiedenen Begriffe ist, wie wir in der Einleitung ausgeführt haben, Kennzeichen des mythologischen Systems, so dass es nicht verwundert, dass Jones’ Inszenierung völlig gegensätzliche und unterschiedliche Assoziationen hervorrief. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Inszenierung des Egyptian Court, indem sie den ästhetischen Gehalt der altägyptischen Kunst erstmals in den Vordergrund stellte, einem großen europäischen Publikum eine andere Wahrnehmung des Alten Ägypten und mit der Schönheit auch eine andere Assoziation mit demselben bot. Hier stoßen wir nicht nur auf eine neue Assoziation mit dem Alten Ägypten und damit auf eine Anreicherung und Entwicklung des Mythos Ägypten, sondern auch auf die zweite Facette des Mythos in Ausstellungen: das ästhetische Simulacrum, welches hier neu in die Ägyptenausstellung eingeführt wird und dessen Inszenierung, realisiert im Egyptian Court, wir im Folgenden im Detail analysieren werden. Dabei interessieren uns die Intentionen des Ausstellungsmachers Jones sowie die mythische Rezeption des Egyptian Court durch die Besucherinnen, über die uns der Ausstellungskatalog und zeitgenössische Quellen Aufschluss geben.
4.1.1
Die Inszenierung des ästhetischen Simulacrums
Der ägyptische Hof war die größte der kunstgeschichtlichen Inszenierungen und befand sich zusammen mit den anderen Courts im nördlichen Teil des Crystal Palace. Der ägyptische Hof galt als Ausgangspunkt für den kunsthistorischen Rundgang der Besucherinnen und zeigte Kopien von Fassaden, Kolonnaden, Höfen, Säulen und Reliefs verschiedener altägyptischer Tempel. Er setzte sich aus neun Teilen zusammen: 1. eine Allee aus Löwen flankierte den Eingang zur ägyptischen Ausstellungsfläche, 2. der Ptolemäische Tempel nahm mit 3. der Säulenhalle von Karnak die größte Fläche der Ausstellung ein, auf die 4. der innere Hof folgte. Vervollständigt wurde das Ganze durch 5. ein Grab aus Beni Hassan, 6. den Hof Amenophis III. und 7. ein Vestibül, das den ägyptischen Hof mit dem griechischen Hof verband. Daneben gab es auch 8. ein ägyptisches Museum, das Abgüsse verschiedener Statuen und Reliefs zeigte sowie ein Replikat des Rosetta Steins und eine Mumie. Der 9. Teil der Ausstellung befand sich getrennt vom Hof. Er bestand aus zwei nicht originalgetreuen Kopien von Kolossalstatuen Ramses II. aus dessen Tempelanlage in Abu Simbel.139 Der Ägyptische Hof zeigte »models on a considerably reduced scale« ägyptischer Tempelarchitektur und ägyptischer Plastik, denn »the space at our command, absolutely prevented any attempt at the reproduction of a single monument, or 139
Vgl. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 81-107.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
even a portion of one, of the real size.«140 Wie die beiden Ausstellungsmacher Jones und Bonomi in ihrem Katalog mitteilen, bestand ihr Egyptian Court aus Modellen, deren Maßstab wesentlich kleiner war als die originalen ägyptischen Altertümer; aus Platzmangel konnten sie kein Monument im Maßstab 1:1 wiedergeben. Um die ägyptische Kunst und Architektur dennoch präsentieren zu können, entschieden sie sich für eine Auswahl verschiedenster Tempelelemente: »In order that we might convey in our limited space the best possible idea of Egyptian art, we have selected portions of monuments of the Pharaonic, Ptolemaic, and Roman periods, endeavouring at the same time so to arrange them that their union should not be inconsistent with the practice of the Egyptians; whose structures were very rarely the work of one mind, but rather a succession of temples, courts, and propylons, built under different kings.«141 Die Problematik dieser Pastiche verschiedenster Elemente, die der Einteilung ägyptischer Kunst in die drei Epochen pharaonisch, ptolemäisch und römisch entsprang, scheint den Ausstellungsmachern bewusst zu sein; schöpfen sie doch aus archäologischen Quellen, die zeitlich mehrere hundert Jahre oder sogar über tausend Jahre sowie räumlich hunderte von Kilometern auseinander liegen. Das Arrangement dieser Elemente, so legitimieren Jones und Bonomi ihr Vorgehen, sollte aber nach der Praxis der alten Ägypter erfolgen, die ihre Tempel sukzessive unter verschiedenen Herrschern errichteten. Die Gründe für eine solche Vermischung verschiedenster architektonischer Elemente sind daher sowohl praktischer wie auch didaktischer Natur: Auf der einen Seite war die Ausstellungsfläche, die ihnen zur Verfügung stand, unzureichend, so dass Kopien in kleinerem Maßstab hergestellt werden mussten. Auf der anderen Seite sollten diese Kopien trotz des Platzmangels so gut wie möglich einen Eindruck der ägyptischen Kunst und Architektur vermitteln. Die Besucherinnen des Egyptian Court sollten so zunächst eine generelle Vorstellung sowie eine Art Gesamtüberblick über die Kunst und Architektur Altägyptens erhalten. Deshalb griffen die Ausstellungsmacher auf die Kunst dreier Epochen der altägyptischen Kultur zurück. Mit ihrer Aussage, dass die Tempel Ägyptens in ihrer heutigen Ausdehnung unter mehreren Herrschern entstanden waren, haben die Ausstellungsmacher grundsätzlich erst einmal recht. Allerdings bestehen diese Tempel nicht aus willkürlich zusammengesetzten Bauten, sondern folgen einem bestimmten Bauschema, das dem ägyptischen (Götter-)Tempel als Wohnort eines oder mehrere Götter eigentümlich ist: Grundsätzlich nehmen die Bauten von außen nach innen in Richtung Allerheiligstes, dem eigentlichen Aufenthaltsort des Gottes, in ihrer Größe immer mehr ab. Auf große Eingangstore und Höfe im Sonnenlicht folgen immer kleiner und enger 140 Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O., S. 3. 141 Ebd., S. 4.
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werdende Bauten, die das Sonnenlicht ausschließen. Der Boden steigt in Richtung Allerheiligstes leicht an, um den Urhügel zu imitieren, der im ägyptischen Schöpfungsmythos beschrieben wird. Durch das willkürliche Zusammenfügen verschiedenster Bauteile aus unterschiedlichen Epochen und Tempel, die räumlich weit voneinander getrennt sind, beschwört der Egyptian Court den Mythos einer monolithischen, in sich erstarrten Kultur Ägyptens herauf. Auch der Fokus auf die ästhetischen Aspekte der Tempelarchitektur und Dekorationen führt auf die Assoziationsverknüpfungen von Dekadenz und Schönheit hin. Ein ägyptischer Tempel ist ein Abbild der Welt in Stein. Das sehen wir zum Beispiel in der steinernen Repräsentation der Flora des Landes, wie dem Lotos und Papyrus, die in stilisierter Form die Säulenkapitelle schmücken. Ein ästhetischer Aspekt spielt bei der Ausformung dieser Elemente sicher eine Rolle, allerdings ist diese dem Bedeutungsaspekt untergeordnet, so dass es den Ägyptern bei weitem nicht nur um den Aspekt der Schönheit der Darstellung ging. Im Egyptian Court wurde dieses Motiv der Schönheit und der Fokus auf den ästhetischen Aspekt der ägyptischen Kunst und Architektur verstärkt durch die teilweise willkürliche Farbgebung. Dass altägyptische Tempel polychrom waren, steht heute außer Frage, wurde aber in den 1850er Jahren durchaus noch kontrovers diskutiert.142 Jones war demnach in seiner polychromen Inszenierung des Alten Ägypten sehr fortschrittlich und präsentierte einem großen Publikum die Idee von bunten ägyptischen Tempeln, nachdem Belzoni bereits die Polychromie ägyptischer Gräber gezeigt hatte. Jones’ Fokus auf Polychromie und Ornamente kam durch die Glas- und Eisenstruktur des Crystal Palace, durch die der Egyptian Court von allen Seiten in Tageslicht getaucht war, besonders gut zur Geltung. Jones’ Tempelinszenierung steht Belzonis Grabinszenierung konträr gegenüber, insofern Belzoni seine Grabkopien in Dunkelheit legte, um einen Grabkontext zu konstruieren und eine Grabesatmosphäre zu erzeugen. Der Einsatz von Tageslicht passte zu Jonesʼ Ziel, die exquisite Schönheit der altägyptischen Kunst hervorzuheben. Er stellt sie in einen Tempelkontext, denn die ägyptischen Tempel mit ihrem Wechsel von offenen Höfen und gedeckten Säulenumgängen und Säulenhallen boten gleichsam ein markantes Wechselspiel von gleißendem Sonnenlicht und schattigem Zwielicht. Die Besucherinnen des Egyptian Court konnten diese Tempelatmosphäre zumindest in Ansätzen nachempfinden. Hatte Belzoni dreißig Jahre zuvor zum ersten Mal einem beträchtlichen Publikum Einblick in ein altägyptisches Grab bieten können, so waren es Jones und Bonomi, die mit Hilfe der Inszenierung des Egyptian Court zum ersten Mal einem großen Publikum altägyptische Tempelarchitektur näherbrachten. Im Gegensatz zu Belzoni, der sich an einer einzigen archäologischen Quelle, am Grab Sethos I., für seine Kopien orientierte und diese im Maßstab 1:1 ausstellte, 142 Vgl. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 132139.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
nahmen Bonomi und Jones viele verschiedene Tempel zum Vorbild, von denen sie die schönsten Elemente auswählten und diese zu einem Simulacrum zusammenzufügen. In Anbetracht dieser Pastiche aus Säulen, Reliefs, Höfen und Ornamenten ist es schwer vorstellbar, dass den Besucherinnen klar war, was genau sie im Detail im Egyptian Court zu sehen bekamen. Abhilfe für die Unwissenheit der Besucherinnen sollte Jonesʼ und Bonomis Ausstellungskatalog geben, der gleichzeitig ein Führer durch den Egyptian Court war. Der Katalog richtete sich an ein wissbegieriges Publikum, dass sich bereits vor seinem Besuch des Crystal Palace über die Exponate informieren oder diese Informationen während des Besuches konsultieren wollte. Die Einführung des Kataloges gibt auch einen allgemeinen Einblick in die Architektur und die Kunst Altägyptens und beschreibt zum Beispiel präzise das Vorgehen der altägyptischen Arbeiter beim Dekorieren eines Grabes. Ein Kapitel am Ende des Kataloges, Historical Sketch of the Egyptian Buildings and Sculpture von Samuel Sharpe bietet weitere detailreiche historische Informationen zum Alten Ägypten und vor allem eine chronologische Auflistung der Könige nach dem damaligen Forschungsstand.143 Sharpe war Ägyptologe und Autor vieler Werke über ägyptische Geschichte. Sein Beitrag zum Katalog wertete diesen als Quelle wissenschaftlich fundierter Aussagen immens auf.144 Die eigentliche Beschreibung des Rundgangs durch die Ausstellung erfolgt im mittleren Teil des Kataloges, der die Besucherinnen mit Hilfe eines Planes und numerischer Angaben von römisch I bis XV durch den Court führt. Mit jeder Nummer wurde ein architektonisches Element des Egyptian Court im Ausstellungsführer beschrieben. Die Besucherin war auf den kleinen Katalog angewiesen, denn die Exponate waren nicht beschriftet. Man erwartete also von den Besucherinnen die Bereitschaft, sich in altägyptische Kunst und Architektur einzuarbeiten und darüber hinaus ein beachtliches Maß an Aufmerksamkeit, um mit Hilfe des Kataloges dem Rundgang zu folgen. Das Konzept wurde später allerdings geändert, da den meisten Besucherinnen eine solche intensive Vorbereitungsphase auf die Ausstellung zu langwierig war und viele von Ihnen lediglich durch die Courts schlendern wollten, ohne sich bilden zu wollen oder orientieren zu müssen. So erhielten die Exponate – die einzelnen architektonischen Elemente, die Skulpturen und vor allem die Reliefs – ein halbes Jahr nach der Eröffnung des Crystal Palace Beschriftungen, die den Besucherinnen entschlüsseln sollten, was sie betrachteten.145 Den Rundgang selbst bezeichnen Jones und Bonomi in ihrem Katalog als
143
Vgl. Sharpe, Samuel: »Historical Sketch of the Egyptian Buildings and Sculpture«, in: Jones, Owen und Bonomi, Joseph: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, London 1854, S. 35-71. 144 Vgl. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 81. 145 Vgl. Ebd., S. 187.
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»a rapid walk through the Egyptian Court, chiefly with a view of pointing out the various features of our reproductions, and explaining the sources from which they are derived, leaving to Mr. S. Sharpe, in his historical notice, to make a more detailed examination of the inscriptions, paintings, and statues.«146 Die beiden Autoren überlassen dem Experten Sharpe das Feld der detaillierten Ausführungen und sie überlassen es der Besucherin, ob sie nach dem Rundgang ihr Wissen über das Alte Ägypten vertiefen will. Der Ausstellungsführer empfiehlt, durch den offiziellen Eingang in den Egyptian Court einzutreten, den eine Allee aus acht Kopien liegender Löwenskulpturen säumte, deren originales Vorbild die beiden Granitlöwen Amenophis III. aus dessen Tempel in Soleb waren (Abbildung 6).147
Abbildung 6: The Crystal Palace, London: the Egyptian Court. Photograph, 1854/1862.
Wellcome Collection, CC-PD Mark 1.0.
Dass hier nicht archäologisch korrekt vorgegangen wurde, bezeugt der Umstand, dass die Originale nur aus einem Paar bestehen, das zwar einst den Eingang zu einem Tempel flankierte, hier nun aber zu acht als Allee dargestellt wird.148 Die für das Alte Ägypten bekannten Sphingenalleen, deren Skulpturen Mischformen sind, die meistens einen Löwenleib und einen Menschen- oder Widderkopf besitzen, schauen geradeaus und somit die Allee entlangschreitende Person an. Die Kopien der acht Granitlöwen haben dagegen ihren Blick nicht auf die Allee gerichtet, 146 Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O., S. 13. 147 Die beiden Löwen sind bekannt als Prudhoe Lions und befinden sich noch heute im British Museum. The British Museum EA2. Vgl. Ebd. 148 Vgl. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 82-83.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
sondern sie schauen auf die jeweils vor sich liegende Statue. Diese Aufstellung der Löwen als Allee geschah aus ästhetischen Gründen, um den Eingang imposanter zu gestalten. Sie konnten bei den Besucherinnen Assoziationen wie Herrschaft, Macht und Königtum wecken, die man nicht nur mit den Herrschern des Alten Ägypten verknüpfte, sondern auch mit dem British Empire in Verbindung brachte, dessen Wappentier – ebenfalls ein Löwe – hier ausgestellt wurde.149 Tropische Vegetation wurde zwischen den Löwen platziert, was die Assoziationsverknüpfung des Exotischen potenzierte; damit wurde suggeriert, dass man sich nicht mehr in London, sondern in einem fremden, exotischen Land befindet. Die Löwenallee traf auf den eigentlichen Eingang zum Egyptian Court, der das Thema Macht und Herrschaft Großbritanniens wiederum aufgriff, denn die hieroglyphische Inschrift über dem Eingang war Königin Victoria gewidmet und wurde im Ausstellungsführer übersetzt.150 Die Inschrift machte die Königin zur Besitzerin des Tempels und suggerierte gleichzeitig eine Inbesitznahme der Altertümer Ägyptens. Das Motiv der Herrschaft und Macht Großbritanniens spiegelte sich außerdem in den altägyptischen Reliefs des Egyptian Court wider, die ausgewählt wurden, weil sie militärische Unternehmungen zeigten: »With their strong theme of military might, the wall reliefs resonated with the imperialistic endevours of Britain and were well recieved in the press.«151 Es handelte sich dabei um ein Relief aus dem zweiten Hof des Totentempels Ramses III. in Medinet Habu, das den König darstellt, der über seine Feinde triumphiert. Gefangene werden ihm vorgeführt, die abgeschlagenen Hände seiner Feinde präsentiert.152 Ein weiteres Relief zeigte Ramses II. in seinem Streitwagen, wie er die hethitische Stadt Dapur stürmt. Das Relief stammt aus seinem Totentempel, dem sogenannten Ramesseum in Theben. Wie Stephanie Moser feststellt, waren die Reliefs sehr beliebt, weil die Briten darin ihre eigenen imperialistischen Bestrebungen gespiegelt sahen, denn die beiden Pharaonen unterwerfen hier Fremdvölker, die sie als unterlegen betrachteten. Die negativen Assoziationen mit diesen Bildern, wie etwa Despotismus, scheinen bei den Briten nicht evoziert worden zu sein. Diese Reliefs des Neuen Reiches befanden sich bereits hinter der Eingangsfassade. Als Vorbild für die gesamte Inszenierung des Eingangs wiederum, auf den die Löwenallee zulief, diente die Fassade des Pronaos des ptolemäerzeitlichen Tempels von Edfu. Die Fassade wurde aber nicht originalgetreu kopiert, sondern sie diente nur als Inspiration. Anstatt sechs Säulen des Originals erhielt der Egyptian Court acht Säulen. Die Säulenkapitelle hatten ihre Vorbilder in verschiedenen Tempeln aus ganz Ägypten und die Schrankenwände, die die Säulen miteinander
149 150 151 152
Vgl. Ebd., S. 83. Vgl. Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O., S. 14-15. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 89. Vgl. Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O., S. 18.
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verbanden, zeigten zwar den typischen Uräenfries, aber nicht die Reliefs der Fassade des Pronaos von Edfu. Jones ging es hier darum, den generellen Typ eines ptolemäerzeitlichen Pronaos zu zeigen und nicht um eine archäologisch korrekte, detailgetreue Kopie der Fassade des Tempels von Edfu. Seine verschiedenen Elemente, die er unterschiedlichen Tempeln Ägyptens entnahm, orientierten sich an rein ästhetischen Gesichtspunkten. So wählte Jones die schönsten Säulenkapitelle und die eindrücklichsten Reliefs der Tempel Ägyptens aus. Bei der Inszenierung des Eingangs zum Egyptian Court mit seinen acht Säulen ging es Jones primär um die Hervorhebung der Schönheit der Kapitelle, denn im Katalog werden diese stark betont und genau beschrieben, so dass sich die gesamte Komposition des Eingangs darum drehte, sie in den Vordergrund zu stellen.153 Bereits dieses eine Element des Egyptian Court, die Fassade des Eingangs, bestand somit aus verschiedenen kopierten Fragmenten ägyptischer Tempelarchitektur und Dekoration, deren Originale räumlich und zeitlich weit voneinander getrennt lagen. Jones kreierte hier also etwas völlig Neues, etwas, das zwar einem ptolemäerzeitlichen Pronaos zu gleichen schien und ihm doch nicht glich: ein Simulacrum eines Pronaos, der so nie existiert hat. Auswahl und Komposition der Elemente mussten bewusst erfolgt sein, denn durch den Katalog erfahren wir, dass der Tempel von Edfu bereits damals aufgrund seiner hervorragenden Erhaltung gut bekannt war. Hinter einem ptolemäerzeitlichen Pronaos folgt im Original der eigentliche Kern des Tempels mit dem Allerheiligsten als Ende einer Abfolge axial ausgerichteter Tempelarchitektur. Das Allerheiligste befindet sich in einem abgeschlossenen Raum, verborgen vor den Augen Außenstehender. Auf den Eingang des Egyptian Court, der in der Art eines Pronaos gestaltet war, folgte aber – im Gegensatz zum Original – ein offener Hof, der mit Bänken zum Verweilen einlud. Das heißt, dass hier der eigentliche Sinn und Zweck eines Temples und die eigentliche Abfolge von Tempelarchitektur mit axialer Anordnung vollkommen außer Acht gelassen wurde. In diesem Hof befanden sich außerdem die oben genannten Reliefs aus den Totentempeln Ramses II. und Ramses III. sowie Osirispfeiler, die ihr Vorbild ebenfalls im Totentempel Ramses II. hatten. Gingen die Besucherinnen durch den Hof und an den Osirispfeilern vorbei, gelangten sie in die nicht maßstabsgetreue Kopie der Säulenhalle von Karnak. Von dort war das in den Egyptian Court integrierte Museum zu erreichen, das Abgüsse von Statuen zeigte. Ähnlich wie in Belzonis Ausstellung wurde auch ein Modell gezeigt, das die Fassade des Tempels von Abu Simbel, von der Kopien zweier kolossaler Statuen Rames II. in einem anderen Teil des Crystal Palace ausgestellt wurden, zeigte. Obwohl der Fokus im Egyptian Court auf den Tempeln Ägyptens lag, entschied sich Jones dafür auch die Kopie eines Grabes zu zeigen. Er wählte für seine Kopie eine Mischung zweier Felsgräber aus 153
Vgl. Ebd., S. 15-16.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Beni Hassan aus, in denen die dort ansässigen Gaufürsten bestattet wurden.154 Interessiert war Jones an den Säulen der Säulenvorhalle der Gräber, die er als Vorgänger der griechischen dorischen Säule identifizierte sowie an der Dekoration, die Szenen des täglichen Lebens zeigte.155 Die Grabkopie wurde im Crystal Palace nur im Maßstab 1:2 nachgebaut und besaß statt eines Eingangs deren vier, um den Besucherinnenfluss zu regulieren. Samuel Sharpe meint zu den zusätzlichen drei Eingängen: »while they add to the convenience of the visitor, [they, d. Verf.] lessen the effect of the tomb«.156 Mit »effect of the tomb« ist wohl gemeint, dass es nun keinen geschlossenen dunklen Raum gab, in dem die Besucherinnen eine Grabesatmosphäre erleben konnten. Die düstere und dunkle Grabesatmosphäre wurde, wie Moser zusammengetragen hat, von den Besucherinnen vermisst.157 Dennoch konnte Moser Folgendes feststellen: »Lighting was also used to effect in the Egyptian Court in that two of the displays, the Beni Hassan tomb and the Hall of Columns, were purposely designed to prevent light entering, thus enhancing the mystery and sense of wonder associated with these monuments.«158 Wie wir bereits beobachtet haben, benutzte Jones in seiner Inszenierung des Egyptian Court Tageslicht, um die Ornamente und Farben seines Hofes zur Geltung zu bringen. Wir erfahren hier aber auch, dass er das Licht, oder besser die Absenz von Licht, nutzte, um so etwas wie eine düstere Atmosphäre in der Kopie der Säulenhalle von Karnak und eine Grabesatmosphäre in der Kopie des Grabes von Beni Hassan zu erzeugen. Genau wie Belzoni setzte Jones die Dunkelheit als Mittel der Inszenierung ein. Gleichzeitig ist sie auch eine Form des Mythos Ägypten, die assoziiert wird mit einem, wie Moser sagt, mysteriösen Gefühl, mit Tod und Geheimnis. Wir erfahren außerdem von Moser, dass Jones während der Planung des Egyptian Court ursprünglich vorhatte, ein altägyptisches Grab im Untergeschoss nachzubauen.159 Hätte er diesen Plan ausgeführt, so wäre mit Sicherheit eine ganz ähnliche Grabinszenierung wie die von Belzoni zu Stande gekommen. Da Belzoni in Jonesʼ Katalog nicht weniger als vier Mal erwähnt wird, wird zum einen deutlich, dass er noch immer als großer Entdecker gefeiert wurde; zum anderen zeigt der Katalog eindrücklich, welchen Einfluss Belzonis Entdeckungen und auch seine Ausstellungsinszenierung noch immer ausübten.160 Auch Moser ist der Meinung, dass zum einen Belzonis Ausstellung von 1821 eine große Inspiration für die Inszenierung des Egyptian Court war, und zum anderen die Inszenierung des ägyptischen Saals im Neuen Museum 154 155 156 157 158 159 160
Vgl. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 100. Vgl. Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O., S. 31. Vgl. Sharpe: »Historical Sketch of the Egyptian Buildings and Sculpture«, a.a.O., S. 42. Vgl. Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 101. Ebd., S. 149. Vgl. Ebd., S. 66, 107. Vgl. Jones/Bonomi: Description of the Egyptian Court Erected in the Crystal Palace, a.a.O., S. 7, 25, 34, 51.
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in Berlin Einfluss nahm, die auf Lepsius zurückgeht.161 Dort wurden die altägyptischen Exponate unter anderem inmitten einer polychromen Kopie eines altägyptischen Hofes mit Säulenumgang ausgestellt und Kopien von Gräbern gezeigt.162 Freilich wurde auch Kritik an der Inszenierung des Egyptian Court ausgeübt, der in der damals wichtigsten Zeitschrift für Kunst, dem Art Journal viel besprochen wurde. Der Reverend Charles Boutell äußert sich im Art Journal auf der einen Seite durchaus positiv zum Egyptian Court und betont die »exceeding beauty […] of the Egyptian style«.163 Er sieht den Egyptian Court außerdem als Mittel »to popularize the study of Egyptian Art«164 , was er ebenfalls positiv meint. Auf der anderen Seite kritisiert er die mangelnde Größe der Kopien.165 Außerdem fehlen ihm in der Ausstellung Obelisk, Pyramide und ein Grab, wie es Belzoni präsentiert, dessen Inszenierung Boutell, wie es scheint, vorbildhaft fand: »An obelisk, like a pyramid, is wanting; neither is there such a vivid realization of a rock-tomb as Belzoni gave us more than thirty years ago. Another want is a model which does not look quite new, fresh, and perfect – a model which would show the touch of time and the rougher grasp of violence.«166 Obelisk, Pyramide und Felsgrab gehören zu den bekanntesten Formen des Mythos Ägypten. Sie gehören für Boutell zu einer ansprechenden Inszenierung des Alten Ägypten, weswegen er ihre Abwesenheit kritisiert. Außerdem stört ihn, dass alle Elemente des Egyptian Court so neu, frisch und perfekt aussehen, was auf ihn nicht authentisch wirkt. Er erwartet, eine Ruinenromantik inszeniert zu bekommen und er verlangt nach Kopien, denen man das Alter der Originale ansieht. An diesen Aussagen Boutells erkennt man eine spezifische Erwartungshaltung der Besucherinnen gegenüber Präsentationen des Alten Ägypten, in der sich das Verlangen nach dem Mythos Ägypten, seinen klassischen Formen und vielfältigen Assoziationen ausdrückt. Wird der Mythos Ägypten nicht ausreichend bedient, das heißt werden nicht genügend Formen geboten, die Assoziationen mit dem Alten Ägypten evozieren, ist das ein Grund zur Kritik. Kritisiert oder unterstellt wird eine mangelnde Authentizität der Inszenierung, wenn der Mythos Ägypten nicht hinreichend rezipiert werden kann. Das Paradoxe daran ist, dass die Besucherinnen den Mythos
Moser: Designing Antiquity. Owen Jones, Ancient Egypt and the Crystal Palace, a.a.O., S. 108-111. Für eine genau Besprechung der Inszenierung Altägyptens im Neuen Museum vgl. BörschSupan, Eva: »Der Ägyptische Hof im Neuen Museum«, in: Hafemann, Ingelore (Hg.): Preußen in Ägypten – Ägypten in Preußen, Berlin 2010, S. 13-37. 163 Boutell, Charles: »The Crystal Palace: A Teacher from Ancient and Early Art. Part IV – Egyptian and Assyrian Art«, The Art Journal, 32 (1857), S. 244-246, hier S. 245. 164 Ebd., S. 244. 165 Vgl. Ebd. 166 Ebd., S. 245.
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Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Ägypten als wahr, als authentisch rezipieren. Doch hier kommt genau das zu tragen, wovor Barthes gewarnt hat: Der Mythos wird naturalisiert, er wird als Wahrheit rezipiert, obwohl er nur gewachsene Geschichte ist. Erstaunlich ist, dass es gerade einmal dreißig Jahre dauerte – von der ersten Ägyptenausstellung 1821 bis zum Egyptian Court 1854 –, bis sich diese spezifische Erwartungshaltung der Besucherinnen in Bezug auf die Inszenierung von Ägyptenausstellungen ausformte. So mächtig ist der Mythos Ägypten bereits 1854 geworden, dass er fester Bestandteil der allgemeinen Erwartungshaltung des Publikums ist.
4.1.2
Der Egyptian Court als Quelle des Mythos Ägypten
Fassen wir die Ergebnisse der Analyse des Egyptian Court kurz zusammen: Auch in der Inszenierung des Alten Ägypten im Egyptian Court des Crystal Palace, die in der Tradition von Belzonis Ausstellung stand, wurde der Mythos Ägypten reproduziert. Dabei sind zwei Innovationen des Mythos gegenüber Belzonis Ausstellung hervorzuheben: 1. Durch die Auswahl der schönsten Formelemente der ägyptischen Kunst und Architektur wurde eine neue Assoziation, die der Schönheit, inszeniert und evoziert. Während der ägyptischen Kunst bis dahin ein ästhetischer Gehalt vollkommen abgesprochen wurde und diese eher als grotesk und massiv wahrgenommen worden war, betont Jones mit seiner Inszenierung den ästhetischen Gehalt der ägyptischen Kunst und damit ihre Gleichwertigkeit in Bezug auf die griechische und römische Kunst. 2. Im Gegensatz zu Belzonis Kopie der zwei Kammern des Grabes von Sethos I. handelte es sich beim Egyptian Court um ein Simulacrum, eine nicht maßstabsgetreue Kopie verschiedener architektonischer Elemente, die von den Ausstellungsmachern nach eigenen, rein ästhetischen Interessen folgenden Designideen zusammengefügt wurden. Insofern das Kompositionsprinzip ästhetischen Interessen folgte, kann man hier von einem ästhetischen Simulacrum sprechen. Das ästhetische Simulacrum ist zusammen mit dem didaktischen Simulacrum, welches wir noch besprechen werden, die zweite Facette des Mythos Ägypten in Ausstellungen. Die Tätigkeit der Ausstellungsmacher lässt sich mit Barthes als strukturalistische Tätigkeit lesen: Sie zerlegen ägyptische Tempel in ihre Elemente und setzen die Elemente nach eigenen Ideen zu einer Komposition zusammen, die als Kopie ägyptischer Bauwerke erscheint, in Wirklichkeit aber ein bloßes Simulacrum ist, eine Kopie eines Objekts, das es nie gegeben hat. Das bedeutet: Die Besucherinnen haben hier gar nicht die Möglichkeit, zu Mythologinnen zu werden, da zur Entzifferung des Mythos und zum Erkennen des Simulacrums immenses ägyptologisches Vorwissen benötigt wird. Zwar wurde die Lektüre des Kataloges des Egyptian
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Court zum tieferen Verständnis der Ausstellung vorausgesetzt, aber Zeitzeugenberichte lassen erahnen, dass der Katalog wenig oder gar nicht gelesen wurde und die Besucherinnen den Crystal Palace nicht als Quelle des Wissens auffassten, sondern als Freizeiterlebnis. Ohne das erforderliche Vorwissen haben die Besucherinnen keine andere Wahl, als das Simulacrum als getreue Kopie ägyptischer Bauwerke zu lesen, als Abbild einer Vergangenheit, während sie in Wahrheit bloß eine imaginäre Vergangenheit sehen, die niemals Gegenwart war. So vollzieht sich der Mythos Ägypten in dem Augenblick der ersten Wahrnehmung, nämlich dann, wenn die Besucherinnen in den Egyptian Court eintreten; das Alte Ägypten verschwindet hinter dem Simulacrum.
4.2
Das didaktische Simulacrum – Der Tempel-Pavillon des Parc Égyptien
Die Pariser Weltausstellung von 1867 vereinte zum ersten Mal nicht mehr alle Aussteller unter einem Dach, sondern etablierte das System der Länder-Pavillons, die jede teilnehmende Nation innerhalb des Ausstellungsgeländes auf dem Marsfeld nach landestypischer Architektur und Kunst selbst kreieren konnte. Den Ländern war es dadurch möglich, sich der ganzen Welt zu präsentieren; gleichzeitig zeugten die Pavillons auch vom Wohlstand der jeweiligen Nation. Die über hundert Länder-Pavillons, die nicht nur die Architektur ihres jeweiligen Landes zeigten, sondern mit diversen landestypischen gastronomischen Angeboten aufwarteten, waren im Grunde genommen ein großer Vergnügungspark, auf dem sich die Besucherinnen unterhalten lassen konnten.167 Neu war auch, dass es eine räumliche Trennung zwischen den Errungenschaften der Industrienationen gab, die im Hauptgebäude gezeigt wurden, und den traditionellen Kulturen, die durch die Pavillons präsentiert wurden, die im Parkgelände aufgebaut waren. So gab es eine Trennung zwischen der Gegenwart und Zukunft, zwischen Moderne und Technik einerseits und der Vergangenheit, der Kulturgeschichte, andererseits. Für die Ausstellungsfläche, die das Land Ägypten repräsentierte, setzte dessen Herrscher, Khedive Ismail, eine Kommission ein, die für die Planung und Umsetzung des Vorhabens verantwortlich war. Ägypten trumpfte mit einem ganzen ägyptischen Park auf und kreierte nicht nur einen, sondern drei Pavillons, die Vergangenheit und Gegenwart des Landes repräsentieren sollten, den sogenannten Parc Égyptien.168 Ein Pavillon zeigte das Alte Ägypten, zwei weitere jeweils das mittelalterliche und das moderne Ägypten. Der Pavillon des mittelalterlichen Ägypten, der sogenannte Palast, in arabischem Stil errichtet, diente tatsächlich auch
167
Vgl. Tenkotte, Paul A.: »Kaleidoscopes of the World: International Exhibitions and the Concept of Culture-Place, 1851-1915«, American Studies, 28/1 (1987), S. 5-29, hier S. 9-10. 168 Vgl. Çelik, Zeynep: Displaying the Orient: Architecture of Islam at Nineteenth-Century World’s Fairs, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1992, S. 7.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Court zum tieferen Verständnis der Ausstellung vorausgesetzt, aber Zeitzeugenberichte lassen erahnen, dass der Katalog wenig oder gar nicht gelesen wurde und die Besucherinnen den Crystal Palace nicht als Quelle des Wissens auffassten, sondern als Freizeiterlebnis. Ohne das erforderliche Vorwissen haben die Besucherinnen keine andere Wahl, als das Simulacrum als getreue Kopie ägyptischer Bauwerke zu lesen, als Abbild einer Vergangenheit, während sie in Wahrheit bloß eine imaginäre Vergangenheit sehen, die niemals Gegenwart war. So vollzieht sich der Mythos Ägypten in dem Augenblick der ersten Wahrnehmung, nämlich dann, wenn die Besucherinnen in den Egyptian Court eintreten; das Alte Ägypten verschwindet hinter dem Simulacrum.
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Das didaktische Simulacrum – Der Tempel-Pavillon des Parc Égyptien
Die Pariser Weltausstellung von 1867 vereinte zum ersten Mal nicht mehr alle Aussteller unter einem Dach, sondern etablierte das System der Länder-Pavillons, die jede teilnehmende Nation innerhalb des Ausstellungsgeländes auf dem Marsfeld nach landestypischer Architektur und Kunst selbst kreieren konnte. Den Ländern war es dadurch möglich, sich der ganzen Welt zu präsentieren; gleichzeitig zeugten die Pavillons auch vom Wohlstand der jeweiligen Nation. Die über hundert Länder-Pavillons, die nicht nur die Architektur ihres jeweiligen Landes zeigten, sondern mit diversen landestypischen gastronomischen Angeboten aufwarteten, waren im Grunde genommen ein großer Vergnügungspark, auf dem sich die Besucherinnen unterhalten lassen konnten.167 Neu war auch, dass es eine räumliche Trennung zwischen den Errungenschaften der Industrienationen gab, die im Hauptgebäude gezeigt wurden, und den traditionellen Kulturen, die durch die Pavillons präsentiert wurden, die im Parkgelände aufgebaut waren. So gab es eine Trennung zwischen der Gegenwart und Zukunft, zwischen Moderne und Technik einerseits und der Vergangenheit, der Kulturgeschichte, andererseits. Für die Ausstellungsfläche, die das Land Ägypten repräsentierte, setzte dessen Herrscher, Khedive Ismail, eine Kommission ein, die für die Planung und Umsetzung des Vorhabens verantwortlich war. Ägypten trumpfte mit einem ganzen ägyptischen Park auf und kreierte nicht nur einen, sondern drei Pavillons, die Vergangenheit und Gegenwart des Landes repräsentieren sollten, den sogenannten Parc Égyptien.168 Ein Pavillon zeigte das Alte Ägypten, zwei weitere jeweils das mittelalterliche und das moderne Ägypten. Der Pavillon des mittelalterlichen Ägypten, der sogenannte Palast, in arabischem Stil errichtet, diente tatsächlich auch
167
Vgl. Tenkotte, Paul A.: »Kaleidoscopes of the World: International Exhibitions and the Concept of Culture-Place, 1851-1915«, American Studies, 28/1 (1987), S. 5-29, hier S. 9-10. 168 Vgl. Çelik, Zeynep: Displaying the Orient: Architecture of Islam at Nineteenth-Century World’s Fairs, Berkeley/Los Angeles/Oxford 1992, S. 7.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
als Residenz für Khedive Ismail während seines Aufenthaltes in Paris. Der Pavillon des modernen Ägypten, ein Okel, das im Stil einer Karawanserei gebaut wurde, beherbergte Boutiquen, Ateliers, ein Café und im ersten Stock eine anthropologische Sammlung ägyptischer mumifizierter Schädel, die allerdings nicht öffentlich zugänglich war, sondern nur auf Einladung besichtigt werden konnte. Außerdem verfügte das Okel über Ställe in einem vierten Nebengebäude, in denen Dromedare und Esel zur Belustigung der Besucherinnen gehalten wurden.169 Auguste Mariette, der sich in Ägypten als Leiter des ägyptischen Antikendienstes und Gründer sowie Direktor des ägyptischen Museums in Bulaq einen Namen gemacht hatte, war als Mitglied der ägyptischen Kommission verantwortlich für den Pavillon des Alten Ägypten. Der pharaonische Pavillon oder Tempel, wie Mariette ihn bezeichnete, wurde errichtet, um in ihm eine Auswahl altägyptischer Exponate aus dem Bulaq-Museum auszustellen. Er bezeichnete den Tempel deshalb als Museum. Weiter sollte der Tempel »un embellissement«170 des Parks sein und den Besucherinnen einen Überblick über die nach Mariette drei charakteristischsten Epochen der ägyptischen Kunst, das Alte Reich, das Neue Reich und die Ptolemäerzeit, geben: »Le Temple du Parc Égyptien est donc avant tout un musée. […] un musée qui serait à la fois un temple, et un temple qui […] nous présenterait un résumé chronologique de l’art qui florissait sur les bords du Nil antérieurement à la venue du Christianisme. […] nous l’avons utilisé pour essayer de donner au visiteur une idée de ce que fut l’art égyptien à ses trois époques les plus caractéristiques.«171 Der Pavillon war somit eine von einem Ägyptologen für ein breites Publikum gemachte Ausstellung, die den Besucherinnen die Kunst des Alten Ägypten auf ansprechende, ästhetische Art und Weise näherbringen sollte. Gleichzeitig erkennen wir auch Mariettes didaktischen Anspruch, den Besucherinnen etwas über das Alte Ägypten beibringen zu wollen. Um alle drei genannten Epochen darstellen zu können, entschloss sich der Ägyptologe für eine Pastiche verschiedener architektonischer Elemente und Wanddekorationen, die er von ägyptischen Originalen kopierte und neu zusammensetzte. Im Ausstellungssaal, im Inneren des Tempels, präsentierte er Rund- und Flachbilder des Alten Reiches: Die Wände schmückten Kopien von Wanddekorationen aus Gräbern dieser Epoche; außerdem zeigte Mariette originale Statuen und Schmuck des Alten Reiches. Darunter waren Glanzstücke aus dem von Mariette gegründeten ägyptischen Bulaq Museum, wie die berühmte Diorit-Statue des Chephren und die hölzerne Statue des Ka-Aper sowie der Schmuck der Königin Ahhotep I. Die Außenseite des Tempel-Pavillons zierten 169 Vgl. Ebd., S. 111-116. 170 Mariette, Auguste: Description du Parc Égyptien, Paris 1867, S. 10. 171 Ebd.
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Kopien von Reliefs aus dem Neuen Reich und das generelle Aussehen des Tempels – die Säulen sowie die Dekoration – stammten aus der Ptolemäerzeit.172 Dabei bediente sich Mariette, genau wie Owen Jones im Crystal Palace, ausgewählter, nicht maßstabsgetreuer Kopien von altägyptischen architektonischen Elementen und Dekorationen verschiedener Tempel und Gräber. Wie Jones erschuf auch Mariette statt einer Kopie ein Simulacrum eines ägyptischen Tempels. Sein Tempel sah einem ägyptischen Tempel ähnlich, war aber eine Pastiche, die aus Auswahl und Arrangement verschiedener Elemente entstand. Darüber hinaus kombinierte Mariette die Inszenierungen Belzonis und Jonesʼ. Das heißt, er fokussierte weder auf die Inszenierung eines altägyptischen Tempels noch auf die Inszenierung eines Grabes, sondern nahm beide Formen und inszenierte sie zu gleichen Teilen auf der Weltausstellung. Denn der Pavillon, dem Mariette das Aussehen eines ägyptischen Tempels gab, beherbergte, wie wir erfahren haben, zugleich eine Ausstellungsinszenierung mit Exponaten, die den Besucherinnen die Kunst des Alten Reichs näherbringen sollte. Diese Exponate – Reliefs und Statuen – stammten zum Großteil aus Grabfunden. Aus diesem Grund inszenierte Mariette die Objekte im Inneren des Tempel-Pavillons in einer Grabesatmosphäre. Dabei war seine Inszenierung im Grunde didaktisch motiviert: Er wollte den Besucherinnen einen Überblick über die für ihn wichtigsten Epochen des Alten Ägypten geben, sowie die Exponate in ihren ursprünglichen altägyptischen Kontext stellen. Gleichzeitig verfolgte er mit seiner Inszenierung auch ein ästhetisches Ziel: Er wollte den Besucherinnen auch die schönsten Beispiele ägyptischer Kunst zeigen. Neu dabei war der Fokus auf der Kunst des Alten Reiches, den Mariette in der Ausstellungshalle setzte, denn das Alte Reich wurde von Jones noch generell zur pharaonischen Kunst gezählt; eine genauere Einteilung in Epochen gab es noch nicht. Mariette unternahm hingegen eine Ausdifferenzierung in Altes Reich, Mittleres Reich und Neues Reich. Auch ein persönlicher Beweggrund ging in die Inszenierung ein: Mariette war bestrebt, vor allem Exponate auszuwählen und zu präsentieren, in deren Entdeckung er persönlich involviert war. Die Hervorhebung seiner persönlichen Leistungen als Ägyptologe und Leiter der Antikenverwaltung sowie die Betonung der Hegemonie Frankreichs in Bezug auf die Errungenschaften innerhalb der Ägyptologie waren Mariette ebenso wichtig wie die potenzielle Wissensvermittlung an seine Besucherinnen. Da Mariette, trotz seines ägyptologischen Wissens, das Alte Ägypten in der Tradition Belzonis und Jonesʼ inszenierte, wurde auch diese Ausstellungsinszenierung zu einer Quelle des Mythos Ägypten. Wir ahnen bereits hier: Die Weiterentwicklung der Wissenschaft der Ägyptologie im 19. Jahrhundert vermochte den Mythos in Ausstellungen nicht zu beeinflussen. Die Gründe dafür werden wir in der folgenden Analyse herausstellen.
172
Vgl. Ebd., S. 13-14.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
4.2.1
Die Inszenierung des didaktischen Simulacrums
Die Ausstellung Mariettes ist zum einen Kulmination der Ägyptenausstellungen des 19. Jahrhunderts; zum anderen ist sie die Kulmination der Reproduktion des Mythos Ägypten, weil sie sowohl die eher negativ konnotierten Assoziationen mit dem ägyptischen Grab, wie wir sie bei Belzoni kennenlernten, als auch die mittlerweile eher positiven Assoziationen mit der ägyptischen Kunst, vor allem die Schönheit, hervorrief. Diese Assoziation wurde verstärkt, indem Mariette zum ersten Mal ägyptischen Schmuck einer großen Öffentlichkeit präsentierte. Der Schmuck der Ahhotep I. war vor dem Fund des Tutanchamun einer der prächtigsten, zu dieser Zeit der prächtigste, der einem europäischen Publikum vorgeführt werden konnte. Daher kann man Mariettes Inszenierung als Vorreiter für die Inszenierung von Grabbeigaben aus kostbaren Materialien, wie Gold, verstehen, die in einer Grabesatmosphäre inszeniert werden. Diese Art der Inszenierung wird uns später in einer Ausstellungen, die Tutanchamuns Grabbeigaben präsentiert, wieder begegnen. Um seinem didaktischen Anspruch Genüge zu tun, verfasste Mariette zwei Bücher zur Orientierung der Besucherinnen auf ihrem Rundgang durch den ägyptischen Park: Aperçu de l’histoire ancienne d’Égypte pour l’intelligence des monuments exposes dans le temple du Parc Égyptien beschäftigt sich mit der Geschichte Ägyptens vom Alten Reich bis zur Römischen Zeit und zeigt, dass das historische Wissen in den 1860er Jahren noch eher rudimentär war.173 Aperçu de l’histoire ancienne d’Égypte bot geschichtliches Hintergrundwissen zu Mariettes Tempel-Pavillon. Description du Parc Égyptien ist ein Katalog, in dem der Tempel-Pavillon, den wir im Folgenden näher betrachten wollen, von außen sowie von innen detailliert beschrieben wird (Abbildung 7 und 8).174 »Au milieu des jolies plantations qui donnent au Parc Égyptien un aspect si pittoresque«175 befand sich der polychrome Tempel-Pavillon, der das Alte Ägypten präsentieren sollte. Nicht nur den Tempeleingang flankierten Palmen, sondern der gesamte Parc Égyptien war mit Grünpflanzen ausgestattet, um dem Gelände ein anmutigeres und naturgetreueres Aussehen zu geben, das sich an den Vorstellungen der Besucherinnen von der exotischen Pflanzenwelt Ägyptens orientierte und das Motiv des Exotischen ansprach. Diese Einbettung einer künstlichen, temporären Welt in echte Vegetation ließ diese realer und dauerhafter erscheinen, als sie 173
174 175
Das sieht man unter anderem an Mariettes grober Einteilung der Epochen des Alten Ägypten. Des Weiteren spricht Mariette das Fach Ägyptologie an und erwähnt sowohl Champollion als auch Lepsius. Er nennt die Mittel zur Datierung: Manetho, Abydos Stein, Papyrus Turin etc. und erklärt, dass danach die Dynastien eingeteilt wurden. Vgl. Mariette, Auguste: Aperçu de l’histoire ancienne d’Egypte pour l‹ intelligence des monuments exposes dans le temple du Parc Égyptien, Paris 1867, S. 64-74. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O. Ebd., S. V.
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Abbildung 7: Tempel-Pavillon auf der Weltausstellung 1867. Abbildung 8: Besucherinnen im Ausstellungssaal des Tempel-Pavillons 1867.
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wirklich war. Der Eintritt zum Komplex des Tempel-Pavillons erfolgte durch ein großes alleinstehendes Eingangstor, das Mariette als eine Art Triumphbogen bezeichnet, das sich im Abstand von 23 Metern vor dem eigentlichen Gebäude befand und die Besucherinnen durch eine daran anschließende Sphingenallee in direkter Linie zum Tempel leitete. Die Sphingenallee mit je fünf Sphingen rechts und links, die den Leib eines Löwen und den Kopf eines Menschen haben, wurde laut Mariette nach einem Original aus der 13. Dynastie, welches im Louvre aufbewahrt wird, in Stuck kopiert.176 Im Gegensatz zu den Sphingen waren Tor und Tempeleingang beide nach Beispielen aus der Ptolemäerzeit kopiert. Mariette bedauerte diesen Umstand; er hätte für die Sphingen auch lieber ein Beispiel aus der Ptolemäerzeit gewählt. Sphingenalleen befinden sich normalerweise vor dem Pylon, dem Eingangstor eines Tempels, was Mariette zwar anmerkte, aber dennoch nicht so ausführte. Als Grund nennt er Platzmangel, denn direkt vor dem Eingangstor befand sich einer der Fußwege, die die Attraktionen des Marsfeldes miteinander verbanden. Der Sphinx ist eine bekannte und wichtige Form des Mythos Ägypten. Der Sphinx wird mit Geheimnis und Rätselhaftigkeit assoziiert. Als Torhüter, die den Weg zum Eingang des Tempels flankierten, begleiteten sie die Besucherinnen mit ihren Blicken. Der Tempel wiederum war einer Göttertriade gewidmet – Hathor, Horus und Harsomtus – und besaß die Maße von 25 Meter Länge, 18 Meter Breite und 9 Meter Höhe. Wie Mariette bemerkt, wurde diese Triade im Tempel von Dendera verehrt. Wie in Dendera war der Tempel-Pavillon Hathor als Haupt-
176
Museum Louvre A23. Es handelt sich bei dem Original um einen Sphinx, den Mariette in Tanis fand. Der Sphinx wird heute in die 12. Dynastie datiert, wobei sich hier die Geister scheiden und eine Herkunft aus der 6. oder 4. Dynastie auch möglich ist.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
gottheit gewidmet.177 Um den Ansprüchen an einen schmückenden Tempel, der sowohl die drei Kunstepochen in sich vereinte, als auch eine geringe Größe auf Grund des mangelnden Raumes aufwies und die Antiken aus dem Bulaq-Museum beherbergen konnte, gerecht zu werden, wurde darauf verzichtet, einen einzigen Tempel Ägyptens in Paris zu reproduzieren: »Nous n’avions qu’à reproduire, en le copiant dans son ensemble et ses détails, un des temples de l’Égypte. […] nous n’avons trouvé en Égypt aucun édifice qui fût ou assez grand, ou assez petit, ou assez conservé, ou conçu sur un plan assez clair, pour que nous puissions l’utiliser. Nous avons donc été obligés de substituer à la reproduction pure et simple d’un édifice donné ce qu’on doit regarder comme une étude d’archéologie égyptienne.«178 Mariette versichert, dass er keinen Tempel in ganz Ägypten gefunden habe, der seinen Ansprüchen Genüge getan hätte. Das ist der Grund, warum er eine Auswahl verschiedener architektonischer Elemente aus verschiedenen Epochen vornahm. Der Tempel sei daher als Studienobjekt ägyptischer Archäologie zu betrachten. Laut Mariette sollte der Pavillon nicht als unnütze Verschönerung der Weltausstellung dienen, sondern einen Eindruck eines perfekt erhaltenen ägyptischen Tempels vermitteln: »Le Temple nʼest pas, en effet, une œuvre quelconque, née du désir dʼembellir inutilement lʼExposition, cʼest une tentative savante, faite avec lʼintention de montrer ce quʼétait un Temple égyptien au temps de sa plus parfaite conservation.«179 Als Inspiration für den Pavillon nennt Mariette das Mammisi, einen kleinen Tempeltyp, der übersetzt Geburtshaus heißt. Er ist im Zusammenhang mit größeren Tempelanlagen zu finden.180 Wie Mariette bemerkt, orientierte er sich am Mammisi der Tempelanlage von Philae, er bezeichnet es als – »le Temple de l’Ouest de Philae«181 –, das er der »curiosité des visiteurs« anbieten will:182 »notre Temple est donc, […] une réstitution. Cependent, comme plan, comme disposition général, comme harmonie des proportions, sinon comme détails de sculpture, il reproduit le Temple de l’Ouest de Philae d’assez près, pour qu’on
177 178 179 180
181 182
Vgl. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 17. Ebd., S. 10-11. Ebd., S. 12. Das Bildprogramm beschäftigt sich mit der Geburt bzw. Wiedergeburt des Königs und Königtums und in späterer Zeit mit der Geburt des Götterkindes der jeweiligen Triade, der der Tempel gewidmet ist. Diese Bezeichnung stammt wohl noch aus der Description de l’Égypte, die auf allen Plänen und Zeichnungen des Gebäudes vom Temple de l’Ouest de Philae spricht. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 11.
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puisse l’appeler, avec une suffisante exactitude, une imitation de ce célèbre monument.«183 Anordnung, Grundriss und Proportionen orientierten sich am Mammisi von Philae. In dieser Hinsicht könne der Tempel-Pavillon, behauptet Mariette, als Imitation dieses Tempels bezeichnet werden. Die Säulen und die Außenmauern, so Mariette weiter, orientierten sich an der Architektur und Kunst der Ptolemäerzeit.184 Das heißt, Mariette hatte für die Fassade keine konkrete Vorlage, sondern schöpfte aus dem architektonischen und künstlerischen Fundus der Ptolemäerzeit. Die Mauern und die Schrankenwände zwischen den Säulen des Tempel-Pavillons zierten Reliefs des Tempels von Dendera. Mariette führt nicht weiter aus, um welche Reliefs es sich handelt. Aus Bildern wird deutlich, dass es sich um Szenen handeln musste, in denen ein Pharao vor einer Gottheit opfert. Der zeitgenössische Ägyptenkenner François Lenormant bezeichnet diese Szenen als religiös und mystisch : »les entrecolonnements et les murs dʼangle sont chargés de bas-reliefs […] dʼune nature religieuse et mystique, moulés à Dendérah.«185 Ein zu hohes Maß an Religiosität und Mystizismus sind klassische Assoziationen mit dem Alten Ägypten. Er sagt aber gleichzeitig, dass die Besucherinnen der Weltausstellung dank der Dekoration des Tempels einen guten Eindruck der Realität erhalten würden: »les visiteurs de lʼExposition empoteront une idée parfaitement juste de ce que sont dans la réalité les édifices de l’Égypte.«186 Wie das Mammisi von Philae hatte auch der Tempel-Pavillon einen Säulenumgang auf allen vier Seiten. Bei den Säulenkapitellen entschied sich Mariette für sogenannte Kompositkapitelle, die hier eine Kombination aus Hathor- und Lotoskapitell waren. Ihr originales Vorbild war wiederum das Mammisi von Philae. Der Journalist Hippolyte Gautier bezeichnet die Säulen wegen ihrer üppigen Verzierung sowie die ganze Epoche der Ptolemäer sogar als dekadent: »Les colonnes appartiennent à lʼépoque ptolémaïque et la multiplicité de leurs ornements indique déjà une époque de décadence.«187 Dem schließt sich Mariette an: Auch er bezeichnet die Ptolemäerzeit als dekadent, was anscheinend damals als gängige Bezeichnung für die schmuckreichen Architekturelemente dieser Epoche galt.188 Dekadenz ist eine bereits im biblischen Buch Exodus und später in römischer Zeit verbreitete Assoziation mit dem Alten Ägypten. Den Pharaonen wird bis heute ein ausschweifender Lebensstil nachgesagt, zu dem die üppig verzierten Kapitelle zu 183 Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 11. 184 Ebd., S. 18. 185 Lenormant, François: »L’Antiquité à l’Exposition universelle, 2: l’Égypte«, Gazette des BeauxArts: la doyenne des revues d’art, 23 (1867), S. 31-53, hier S. 44. 186 Ebd., S. 43. 187 Gautier, Hippolyte: Les curiosités de l’Exposition universelle de 1867, Paris 1867, S. 55. 188 Vgl. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 18.
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passen schienen. Wie Jones legte Mariette sehr viel Wert auf eine ästhetisch angemessene Erscheinung seines Tempel-Pavillons und griff dazu auf die ansprechendsten Verzierungen der ägyptischen Säulenkapitelle zurück. Außerdem gestaltete er seinen Tempel polychrom und entwickelte das Farbschema der Säulendekoration anhand der Farbreste, die er im Tempel von Philae gesehen hatte. Die Farbigkeit seines Tempels legitimiert er mit den Worten : »toutes les couleurs dont nous avons fait usage pour la décoration de ces colonnes sont autorisées par des exemples antiques.«189 Auch diese Farbigkeit altägyptischer Tempel konnte auf der einen Seite mit Schönheit, auf der anderen Seite mit Dekadenz assoziiert werden. Trat die Besucherin in den Säulenumgang, der den großen Saal, der als Ausstellungsfläche fungierte, umgab, waren dort die Mauern des Umgangs mit Szenen des Neuen Reiches geschmückt. Die Dekoration der Eingangstür stammte laut Mariette aus der Zeit Sethos I. und wurde aus dessen Totentempel in Abydos übernommen, der 1859 von Mariette gefunden und freigelegt worden war.190 Rechts und links der Türe befand sich je ein großes Relief, das sich in vier Register aufteilte und aus dem Totentempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari kopiert wurde. Sie zeigten die Reise nach Punt, dem heutigen Somalia, waren aber teilweise gekürzt wiedergegeben. Auch hier orientierte sich Mariette an der Farbigkeit der jeweiligen Originale in Abydos und Theben West. Die Soffitte zwischen den Säulen war mit einer Dedikation für die Göttertriade des Tempels in Hieroglyphen beschriftet, die von Lenormant gelobt wurde: »Nous savons pour notre part à M. Mariette un gré infini de ne pas sʼêtre laissé aller pour cette inscription, comme M. Lepsius à Berlin et ailleurs, à la petite vanité un peu puérile de faire montre de sa science en composant un thème hiéroglyphique destiné à célébrer sa construction. […] Si M. Lepsius a combiné, à l’instar de ceux des Pharaons, les cartouches du roi de Prusse, que nous avons vus reproduits par un faussaire malavisé sur un scarabée.«191 Als schlechtes Beispiel für solch eine Inschrift bezeichnet er diejenige im Neuen Museum in Berlin, die von Lepsius verfasst wurde und eine Lobschrift auf den preußischen König war, dessen Name in den Kartuschen geschrieben stand und der damit, laut Lenormant, von Lepsius auf eine Stufe mit den ägyptischen Königen gestellt wurde. Ähnliches haben wir im Crystal Palace gesehen: Dort befand sich über dem Eingang zum Egyptian Court eine hieroglyphische Inschrift, die Königin Victoria gewidmet war und die englische Königin ebenfalls auf eine Stufe mit den Pharaonen stellte. Für Lenormant war das eine eitle Geste. Ein weiteres
189 Ebd., S. 20. 190 Leider erwähnt Mariette nicht, um welche Inschrift oder welches Wandbild es sich genau handelt. 191 Lenormant: »L’Antiquité à l’Exposition universelle, 2: l’Égypte«, a.a.O., S. 43.
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interessantes Detail von Lenormants Beobachtungen ist die Anmerkung, dass die Kartusche des preußischen Königs von einem Fälscher auf einen Skarabäus kopiert wurde, offensichtlich im Unwissen darüber, dass es sich nicht um die Kartusche eines Pharaos handelte. Gehen wir nun über zur Analyse von Mariettes Simulacrum: Ein Tempel, der seine Inspiration vom Mammisi in Philae holt, der Hathor gewidmet ist und aus einer Pastiche aus architektonischen Elementen vom Mittleren Reich bis in die Ptolemäerzeit besteht, konnte bei den Besucherinnen nur Verwirrung stiften. Unter Mariettes Zeitgenossinnen herrschte Unstimmigkeit darüber, wie denn der TempelPavillon zu nennen sei. Man findet die Bezeichnungen »Tempel von Philae«,192 »Hathortempel«193 und »Tempel von Edfu«. »By the side of the Okel stands a model of the antique Temple of Edfou.«194 Schreibt etwa Eugène Rimmel und geht somit von einem spezifischen Tempelvorbild aus. Er findet auch, dass man durch die Kopie einen guten Eindruck des Originals erhalte: »The great Temple has been represented in miniature with marvellous fidelity. The triumphal gate, the alley of sphinxes and the internal and external decorations give a perfect idea of the original.«195 Der commissaire général des ägyptischen Khediven, Charles Edmond, spricht vom Tempel von Philae : »dans le TEMPLE, qui est une restauration scrupuleuse de celui de Philé, lʼEgypte antique a ramené devant notre esprit les plus lointains souvenirs du monde.«196 Die Bezeichnung »Hathortempel« entsprach wohl am ehesten Mariettes Tempel-Pastiche, schon deshalb, weil der Tempel der Hathor gewidmet war. Mariette selbst sprach allerdings nie von etwas anderem als von einem Tempel. Die Bemühungen, den Tempel einem einzigen historischen Vorbild zuzuordnen, sprechen für eine allgemeine, unbewusste Verwirrung darüber, welcher altägyptische Tempel hier kopiert wurde. Man rang um eine Bezeichnung für den Tempel, den man grob dem Alten Ägypten zuordnen konnte; was er aber genau darstellen sollte und nach welchem Vorbild er erschaffen wurde, daran schieden sich die Geister und so war Mariettes Simulacrum für jegliche Interpretation und Assoziation offen. Die Kombination von Formen des Mythos Ägypten ist die Grundlage einer Kombination mythischer Assoziationen mit dem Alten Ägypten. Aus der Verwirrung über das Tempel-Simulacrum geht hervor, dass Mariettes didaktische Absichten nicht erkannt wurden. Offenbar wurde Mariettes Katalog, der eine tiefere Einsicht in die Komposition des Gebäudes geboten hätte, nicht
Vgl. Commission impériale (Hg.): Rapport sur l’Exposition universelle de 1867 à Paris: précis des opérations et listes des collaborateurs, avec un appendice sur l’avenir des expositions, la statistique des opérations, les documents officiels et le plan de l’Exposition, Paris 1869, S. 163. 193 Edmond, M. Charles: L’Égypte à l’Exposition universelle de 1867, Paris 1867, S. 14. 194 Rimmel, Eugène: Recollections of the Paris Exhibition of 1867, London 1868, S. 240. 195 Ebd. 196 Edmond: L’Égypte à l’Exposition universelle de 1867, a.a.O., S. 19. 192
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
berücksichtigt. Mariettes didaktische Mission, den Besucherinnen einen chronologischen Eindruck der ägyptischen Kunst vermitteln zu wollen, muss damit als gescheitert betrachtet werden. Statt das Simulacrum als solches zu erkennen und es als überschaubare Kombination verschiedener Kunststile und Epochen zu lesen, hielten die Besucherinnen das Simulacrum für eine maßstabsgetreue Kopie; sie rezipierten das Trugbild als Ebenbild, als ein »lebenswahres Bild«197 eines ägyptischen Tempels. Indem das Simulacrum zeitlich weit auseinanderliegende Elemente kombinierte, evozierte es als Ganzes, zusätzlich zu den Assoziationen, die aus den einzelnen Formelementen entstanden, das ägyptomanische Motiv einer petrifizierten Kultur, die sich über Jahrtausende nicht verändert hatte. Auch dieses Motiv einer monolithischen, die Jahrtausende in stets gleichbleibender Gestalt überdauernden Kultur gehört zu den grundlegenden Assoziationen mit dem Alten Ägypten. Abschließend ist festzuhalten, dass das didaktische Simulacrum des Ägyptologen Mariette, in dem die Elemente nicht nach primär ästhetischen, sondern eben nach didaktischen Zielsetzungen kombiniert wurden, nicht weniger zu einer Quelle des Mythos wurde, wie das ästhetische Simulacrum des Designers Owen Jones. Das liegt nicht allein daran, dass Mariettes ästhetische Interessen die didaktischen Motive konstant unterlaufen, sondern vor allem an der Inszenierung der Ausstellung als Simulacrum. Denn das Simulacrum ist als didaktisches Mittel denkbar ungeeignet, insofern das Wissen, welches das Simulacrum in überschaubarer Form vermitteln soll, vorausgesetzt wird, um das Simulacrum als Simulacrum und nicht als Kopie zu erkennen. Ein didaktisches Simulacrum ist somit ein Paradoxon: Was die Besucherinnen durch das Simulacrum lernen sollten, ist genau das, was sie wissen müssen, um das Simulacrum als solches zu erkennen und sich von ihm nicht täuschen zu lassen.
4.2.2
Grab, Grabesatmosphäre und Grabschatz – Die Inszenierung der Ausstellungsfläche im Tempel-Pavillon
Die Inszenierung des Saales im Inneren des Tempel-Pavillons richtete sich generell nach der Kunst des Alten Reiches, so dass die Besucherin einen Überblick über die nach Mariette drei wichtigsten Kunstepochen des Alten Ägypten erhalten sollte. Der Gang der Besucherinnen von außen nach innen war gleichzeitig der Schritt von der Ptolemäerzeit über das Neue Reich bis zur Epoche des Alten Reiches; die Besucherinnen gingen in der Zeit zurück. Der Museumssaal unterschied sich nicht nur zeitlich von der äußeren Erscheinung des Gebäudes; er war auch der Teil des Tempel-Pavillons, den Mariette entsprechend seines Ideals gestalten konnte. Die
197
K.K. österreichisches Central-Comité (Hg.): Bericht über die Welt-Ausstellung zu Paris im Jahre 1867., Bd. 1, Wien 1869, S. 47.
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Wanddekorationen waren hier nämlich, im Gegensatz zum Großteil derer des äußeren Gebäudes, nach Abklatschen und Abdrücken von Reliefs aus den Gräbern des Ti und des Ptah-Hotep aus der 5. Dynastie aus Saqqara gemacht worden. In seinem Katalog beschreibt er die Reliefs sehr detailliert, Register für Register. Es handelt sich um Szenen des täglichen Lebens: Handwerker in einer Werkstatt, Bauern bei der Arbeit, Schiffe, die auf dem Nil fahren. Mariettes Genauigkeit hört hier aber bereits wieder auf und wird ersetzt durch Erklärungen ganz praktischer Natur: Von den insgesamt sieben verschiedenen Bildtafeln, die die Wände des Saales zierten, war nur eine, wie das Original, in Relief gestaltet; die übrigen waren Wandmalereien. Wandmalereien sind bedeutend leichter anzufertigen als Reliefs. Außerdem kombinierte Mariette verschiedene Szenen verschiedener Register sowie verschiedene Register eines Grabes miteinander, die so im Original nicht zusammen auftreten. Mit Hilfe dieser Pastiche war es Mariette möglich, den Besucherinnen viele verschiedene Szenen auf einer kleinen Fläche in ansprechend ästhetischer Art und Weise zu präsentieren. Bei der reliefierten Wanddekoration kombinierte er darüber hinaus Szenen beider Gräber miteinander, um, wie er sagt, die Feinheit der Details zu zeigen.198 Auch hier stand eine ästhetische Präsentation im Vordergrund, genauso wie bei der Verzierung der Decke, die der Pflanzenwelt entnommen war und laut Mariette vom Alten bis ins Neue Reich anzutreffen sei. Auch ein Element des Mittleren Reiches war im Ausstellungssaal zu finden: Säulen aus dem Grab des Cheti aus der 11. Dynastie aus Beni Hassan.199 Die Beleuchtung der Ausstellungsfläche erfolgte durch zwei Oberlichter, durch die Tageslicht einfallen konnte. Das beschreibt Gautier in seinem Bericht über die Exposition universelle : »Le jour, qui ne pénètre que par une ouverture assez étroite du toit, donne du relief aux peintures, tout en projetant dans la salle une clarté vague et mystérieuse.«200 Gautier sagt, dass das Tageslicht kaum eindringe und so den Ausstellungsraum, besonders die Reliefs und Wandmalereien vage und mysteriös erscheinen lasse. Gautier kritisiert diese mangelnde Beleuchtung aber nicht. Vielmehr bewertet er die spärlichen Lichtverhältnisse positiv. Mariette selbst bedauerte den Umstand, dass in seinem Tempel-Pavillon nicht »obscurité profonde«201 , wie in einem ägyptischen Grab herrsche und so der Pavillon leider nicht dem Original entspreche. Er sieht aber dennoch ein, dass sich eine derart mangelhafte Beleuchtung störend auf seine Ausstellung ausgewirkt hätte, da die Exponate nicht mehr deutlich sichtbar gewesen wären.202 Mariette war es nicht dunkel genug, aber die erhoffte Grabesatmosphäre schien trotz oder sogar wegen des
198 199 200 201 202
Vgl. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 28-34. Mariette kennt den Namen des Grabinhabers nicht oder erwähnt ihn zumindest nicht. Gautier: Les curiosités de l’Exposition universelle de 1867, a.a.O., S. 55. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 28. Ebd.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
spärlichen Lichteinfalls durch das Oberlicht vollkommen erreicht worden zu sein. Mariettes Wunsch, das Alte Ägypten sinnlich erfahrbar zu machen, spiegelt sich in seinem Bedauern wider, dass er den Saal des Tempels nicht genauso wie ein ägyptisches Grab abdunkeln konnte. Er ging davon aus, dass die Ausstellung in dunkler Grabesatmosphäre seinen Besucherinnen einen authentischeren Zugang zu seinen Ausstellungsgegenständen ermöglicht hätte. Die Dunkelheit sollte die Objekte in ihren ursprünglichen Kontext einbetten und die Besucherinnen sollten sich wie in einem ägyptischen Grab fühlen. Mit seiner dunklen Inszenierung reproduzierte Mariette den Mythos Ägypten, auch wenn er meinte, mit der Dunkelheit, die, wie wir wissen, einer Form des Mythos Ägypten ist, didaktisch zu arbeiten. Obwohl er ägyptologisch gebildet war und von didaktischen Absichten motiviert war, wurde er unwissentlich zum Mythenproduzenten, als er auf den absurden Gedanken verfiel, dass ein höherer Grad an Authentizität erreicht werden könne, wenn ägyptische Originale in einer künstlich verdunkelten Atmosphäre ausgestellt werden. Im Halbdunkeln sind die Details der Originale sowie der Kopien der Wanddekorationen von der Besucherin ungleich schwerer zu erkennen, was im Widerspruch zum Sinn einer Ausstellung steht, bei der es um die Schönheit und die Details der Exponate geht. Davon abgesehen waren Grabbeigaben nicht zum Betrachten vorgesehen – außer vielleicht von der jenseitigen Existenz der Verstorbenen selbst –, so dass eine Rekontextualisierung durch Dunkelheit nicht authentisch sein kann. Die Dunkelheit spricht allein die Emotionen der Besucherinnen an und weckt deren Assoziationen mit dem Alten Ägypten wie Tod, Okkultismus, Magie, Geheimnis. Mit dem Übertritt vom hellen Tageslicht, in dem sich die Besucherinnen die bunten Farben und üppigen Kapitelle des Tempel-Pavillons anschauen konnten, in das dunkle Innere des Ausstellungssaals inszenierte Mariette außerdem den Gang ins Grab. Die Besucherinnen können sich wie der Entdecker in Ägypten fühlen, der aus dem gleißenden Sonnenlicht der Wüste hinab ins dunkle Grab steigt. Eine ganz ähnliche Inszenierung haben wir bei Belzonis Ausstellung gesehen. Dort erlebten die Besucherinnen ebenfalls einen Wechsel von hell zu dunkel und traten aus den Straßen Londons direkt in ein altägyptisches Grab. Der Eingang, die Egyptian Hall, war ähnlich wie der des Tempel-Pavillons, inspiriert von architektonischen Elementen und Dekorationen ägyptischer Tempel. Mit dieser Inszenierung suggerierte Mariette, dass das Äußere ägyptischer Gräber der Gestalt eines Tempels entspreche. Im Inneren, im Grab, stießen die Besucherinnen dann tatsächlich auf Grabschätze: die Exponate. Ihre Erwartungshaltung, die sie in der Rolle des Entdeckers eingenommen hatten – nämlich Schätze zu finden und Geheimnisse zu lüften –, wurde im Ausstellungssaal erfüllt. Denn in diesem reich verzierten und spärlich beleuchteten Raum des Tempel-Pavillons stellte Mariette Originale aus, die aus seinem Bulaq-Museum in Kairo stammten. Von den Besucherinnen wurden diese Objekte sogleich zu Schätzen erhoben: »L’Égypte a éxpose dans son
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temple du Parc ses plus précieux trésors du musée de Boulâq.«203 Schatz ist eine weitere Assoziation mit einem ägyptischen Grab und dessen Grabbeigaben. Die Inszenierung der Originale im Tempel-Pavillon hatte aber nicht zum Ziel, Schätze zu präsentieren, sondern den Besucherinnen diese, so Mariette, älteste Epoche des Alten Ägypten an Hand von »monuments authentiques«204 zu zeigen. An dieser Stelle sollen exemplarisch nur die bedeutendsten dieser Artefakte kurz vorgestellt werden. Mariette unterteilte seine Exponate in zwei Kategorien: 1. Statuen und »caisses de momies«205 sowie 2. Vitrinen. Insgesamt wurden 29 Objekte der ersten Kategorie ausgestellt. Die Exponate der Vitrinen unterteilte Mariette in: Schmuck, »Monuments religieux, funéraires, civils et historiques«206 . Diese Vitrinenobjekte, die thematisch zusammengefasst waren, unterschieden sich in Alter, Herkunft und Material; denn sie entstammten einer Zeitspanne, die sich vom Alten Reich bis hin zur Ptolemäerzeit erstreckt.207 Nachdem Mariette die architektonischen Elemente nach chronologischen Gesichtspunkten trennte, sortierte er die Objekte seiner Ausstellung nach thematischen Schwerpunkten und verzichtet auf eine chronologische Trennung. Dieses Vorgehen hat Schule gemacht: Objekte thematisch zusammenzufassen ist heute noch der bevorzugte Ausstellungsstil. Die Sarkophage, die Mariette in die 22. und 26. Dynastie datierte, sollten einem didaktischen Zweck dienen. Mariette hielt sie für ein ausgezeichnetes Mittel, um die Verzierungen auf ihren Außenseiten mit denen der Wanddekorationen aus den Gräbern des Ti und des Ptahhotep zu vergleichen. Der Vergleich sollte den Besucherinnen den Wandel der funerären Dekoration von Darstellungen des täglichen Lebens zu Darstellungen der Götter und des Jenseits zeigen.208 Natürlich verstärkte die Anwesenheit der Sarkophage die Grabesatmosphäre des Saales. Sarkophage werden sofort mit Mumien in Verbindung gebracht. Diese beiden Formen sind untrennbar mit dem ägyptischen Grab und der Dunkelheit verknüpft. All diese Formen zusammen innerhalb einer Ausstellungsinszenierung potenzieren die Grabesatmosphäre, das sinnliche Erleben der Besucherinnen. Zu den genannten Assoziationen wie Geheimnis und Tod gesellen sich Assoziationen wie Unsterblichkeit und Geheimwissen. Und da die Sarkophage aus Epochen stammen, die zum Alten Reich in einem zeitlichen Abstand von über 1500 Jahren stehen, entsprachen sie auch nicht Mariettes eigentlicher didaktischer Mission, im Saal das Alte Reich zu präsentieren. Auch wenn Mariette hier einen direkten Vergleich zwi-
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Commission impériale (Hg.): Rapport sur l’Exposition universelle de 1867 à Paris, a.a.O., S. 23. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 27. Ebd., S. 38. Ebd., S. 50, 60. Vgl. Ebd., S. 38-85. Vgl. Ebd., S. 31.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
schen den Epochen anstrebte, wird wohl kaum eine Besucherin diesen Unterschied wahrgenommen haben. Wie eingangs erwähnt, befand sich unter den Ausstellungsstücken des TempelPavillons die berühmte Diorit-Statue des Chephren, die den König in sitzender Position zeigt. Horus, in Form des Falken, umspannt mit seinen Schwingen den Hinterkopf Chephrens.209 Mariette fand diese Statue und andere Statuen im Taltempel des Chephren, östlich dessen Pyramide, zu deren Pyramidenkomplex der Tempel gehört.210 Sowohl diese Statue als auch die anderen freistehenden Objekte sowie die Vitrinen stellte Mariette auf hüfthohe Holzsockel, so dass sie von den Besucherinnen besser betrachtet werden konnten. Die Diorit-Statue stand direkt vor einer Scheintür, die Mariette nach den Scheintüren in den Mastabas des Ti und des Ptahhotep fertigte. Da die Statuen des Chephren aus dem Taltempel seines Pyramidenkomplexes stammen, waren sie zwar indirekt an ein Grab, die Pyramide, angeschlossen, sie hatten allerdings mit einer Scheintür nie Kontakt, da es vor der 5. Dynastie in den Pyramidenanlagen keine Scheintür gab.211 Auch die 112 cm hohe Statue aus Sykomorenholz des obersten Vorlesepriester Ka-Aper aus der 5. Dynastie des Alten Reiches, die von Mariette in dessen Mastaba in Saqqara gefunden wurde, stellte er auf einem Holzsockel stehend im Saal des Tempels auf.212 Sie war außerdem umgeben von einem hüfthohen Holzzaun, der die Besucherinnen auf Abstand halten sollte. Dargestellt ist ein glatzköpfiger, korpulenter älterer Herr. Die Statue ähnelte dem Bürgermeister des Dorfes, aus dem Mariettes Arbeiter stammten so sehr, dass diese den Spitznamen Sheikh el-Balad, was auf Arabisch Dorfvorsteher heißt, erhielt. Die Dekoration, die hinter Ka-Aper die Wand verzierte, wurde von mehreren der Reliefs im Grab des Ti kopiert und zeigte Schifffahrt auf dem Nil zusammen mit Szenen des Fischfangs und der Nilpferdjagd. Im Original sind diese Szenen getrennt voneinander dargestellt, teilweise sogar in verschiedenen Räumen der Mastaba. Mariettes Wandbild fügte also Szenen zusammen, die so nie im Original existiert haben. Er nahm die schönsten Szenen der verschiedenen Reliefs und fügte sie zu einem neuen größeren Wandbild zusammen. Außerdem kombinierte er hier Rundbild (Ka-Aper) und Flachbild (Ti) aus verschiedenen Gräbern, um für die Besucherinnen ein ästhetisch ansprechendes Ausstellungserlebnis zu erzeugen. Die Holzstatue vor dem bunt bemalten Hintergrund mit Nilschiffen war sicherlich ein ganz beeindruckender Anblick,
209 Die Statue befindet sich heute im Ägyptischen Museum Kairo mit der Inventarnummer JE 10062 oder auch CG 14. 210 Die Statuen befanden sich deponiert mit weiteren Statuen in einem Brunnenschacht. 211 Vgl. Arnold, Dieter: »Scheintür«, in: Arnold, Dieter (Hg.): Lexikon der ägyptischen Baukunst, Düsseldorf 2000, S. 226-227. 212 Ägyptisches Museum Kairo, Inventarnummer CG 34. Mariette nennt die Statue nur Sheikh el-Balad, kannte also den Namen des Besitzer nicht.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
wobei es Mariette vor allem darum ging, einen ansprechenden Hintergrund zur Aufstellung seiner Exponate zu erzeugen. Seine Inszenierung zeugt von seinem Vorsatz, didaktisch wertvolles Material anbieten zu wollen, da er sich zumindest bei den oben genannten Beispielen an Kunst und Architektur der 4. und 5. Dynastie bediente, um den Besucherinnen so das Alte Reich näher zu bringen. Sein Ziel war es, auch den Statuen des Alten Reichs den entsprechenden Kontext mit Hilfe zeitgenössischer Wanddekoration zu geben. Leider wurden diese didaktischen Maßnahmen in dem Moment wertlos, in dem Mariette beschloss, einzelne Elemente in einer Pastiche zu kombinieren. Die gesamte Ausstellungsinszenierung stand zu Mariettes didaktischen Ansprüchen im Widerspruch, wenn man bedenkt, dass er Grabarchitektur und Kunst innerhalb eines Gebäudes ausstellte, das von außen einen ägyptischen Tempel imitierte. Schlussendlich boten Tempel und Tempelsaal nur eine pompöse und eindrückliche Kulisse für seine Originale aus dem BulaqMuseum. Mariettes Pavillon war vom Torbau bis zur Dekoration des Saales auf ästhetisches Empfinden angelegt und unterlief damit den ursprünglich didaktischen Zweck. Unter den Vitrinenobjekten, die Mariette in seinem Tempel-Pavillon zeigte, trat vor allem der Schmuck der Königin Ahhotep I. in den Vordergrund, der 1862 von Arbeitern Mariettes in einem Grab in Dra Abu el Naga gefunden worden war.213 Es handelt sich dabei unter anderem um Ringe, Ketten und Armbänder aus Gold und Edelsteinen mit zum Teil reichen Verzierungen.214 Das berühmteste Schmuckstück ist das sogenannte »Ehrengold«, eine breite Kette aus Gold, an der drei massive Goldanhänger in Form von Fliegen angebracht sind. Diese Kette aus Gold und die anderen Grabbeigaben der Ahhotep wurden wie die anderen Exponate inmitten der düsteren Inszenierung des Ausstellungssaals ausgestellt. Daher lagen die Assoziationen mit Schatz, Dekadenz, Luxus und Jenseitsfixierung nahe, ließ sich die wohlhabende Schicht der ägyptischen Bevölkerung doch mit solchen kostbaren Gegenständen bestatten. Mariette selbst nennt die Assoziation Luxus in Zusammenhang mit ägyptischen Tempeln und Gräbern.215 Obwohl sie meist am Körper der Mumien gefunden werden, wo sie vor allem eine schützende Funktion ausüben sollen, wirken diese Geschmeide, sobald sie in Vitrinen präsentiert werden, wie moderne Schmuckstücke, die Konsumentinnen in Schaufenstern von Juweliergeschäften angeboten werden. Diese Art der Inszenierung von altägyptischem Schmuck, die die Exponate wie Waren ausstellt, wird uns später vor allem bei Ausstellungen zu Tutanchamun wieder begegnen.
213
Traditionell wird der Sarg, in dem der Schmuck gefunden wurde, Ahhotep I. zugeordnet, was aber nicht ausreichend belegt ist. Die Schmuckstücke tragen teilweise den Namen von Amose I. und den des Kamose. Ägyptisches Museum Kairo, Inventarnummer CG 28501. 214 Vgl. Mariette: Description du Parc Égyptien, a.a.O., S. 50-57. 215 Vgl. Ebd., S. 36.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Zum Ehrengold der Ahhotep gibt es eine Anekdote, die gerne erzählt wird und auch hier nicht vorenthalten werden soll: Als Napoleon III. und seine Gemahlin Kaiserin Eugenie den pharaonischen Pavillon besuchten und die Kaiserin den Schmuck der Ahhotep sah, war sie so sehr davon angetan, dass sie die Geschmeide unbedingt in ihren Besitz bringen wollte. Sie bat Pascha Ismail um den Schmuck als Geschenk, der sie schnell an Mariette als Direktor des Bulaq-Museums verwies und so diesem die Entscheidung überließ. Als Gegenleistung bot Eugenie Mariette sogar eine Stelle als Kurator im Louvre an. Doch auch das brachte Mariette nicht davon ab, der Kaiserin eine Absage zu erteilen. Nach diesem Erlebnis und nachdem einige Objekte nach Ende der Weltausstellung auf dem Transport nach Kairo beschädigt worden waren, ließ Mariette für die nächsten Weltausstellungen, in Wien 1873 und in Paris 1878, Replikate von Objekten anfertigen und stellte diese an Stelle der Originale aus.216 Daran sieht man, wie vielfältig die Gründe für die Anfertigung von Replikaten sein können.
4.2.3
Der Tempel-Pavillon als Quelle des Mythos Ägypten
Fassen wir Mariettes Ausstellung zusammen: Mariette kombinierte nicht nur architektonische Elemente aus verschiedenen, Jahrtausende auseinanderliegenden Epochen des Alten Ägypten miteinander; er kombinierte auch die Architektur und Dekoration von sakralen und funerären Monumenten, die jeweils eine ganz andere Funktion innehatten. Das Äußere seines Pavillons war ein Göttertempel (Mammisi, Hathorkapitelle, griechisch-römisch) gemischt mit Dekoration von Totentempeln (Hatschepsut, 18. Dynastie und Sethos I.), während das Innere eine Mischung aus Alten (5. Dynastie Gräber) und Mittleren Reich (Beni Hassan) Gräbern sowie Statuen des Alten Reiches war. Gleichzeitig stellte er die Sphingenallee zwischen Tempel und Pylon auf, obwohl diese vor dem Pylon platziert sein müsste. Mariette war sich all dieser Unstimmigkeiten bewusst. Er besaß ein für damalige Verhältnisse enormes Wissen über das Alte Ägypten; dennoch wählte er aus didaktischen Gründen genau diese Zusammensetzung seines Tempel-Pavillons und erschuf damit ein Simulacrum. Da Mariettes erschaffenes Simulacrum didaktisch motiviert war, bezeichnen wir es als didaktisches Simulacrum. Das didaktische Simulacrum ist zusammen mit dem ästhetischen Simulacrum die zweite Facette des Mythos Ägypten in Ausstellungen. In diesem didaktischen Simulacrum zeigte Mariette in komprimierter Form Jahrtausende von Geschichte in einem einzigen Gebäude. Dabei bediente er sich der besten und schönsten Stücke dieser Geschichte, die dann zusammengesetzt ein neues Ganzes ergaben, das mit typischen ägyptischen architektonischen Elementen, wie Torbau, Sphingenallee und Säulenumgang, zwar an das Alte Ägypten erinnerte, aber niemals in Wirklichkeit existiert hat. Man könnte sagen: Statt eines ägyptischen Tempels reproduzierte er die immer noch aktuelle, 216
Vgl. David, Elisabeth: Mariette Pacha 1821-1881, Paris 1994, S. 181-182, 184-185.
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allgemeine ästhetische Erwartung, die an einen Tempel Ägyptens gestellt wird. Er reproduzierte all die ägyptomanischen Motive, die von den einzelnen Formelementen seines Simulacrums evoziert wurden: dekadent, luxuriös, monumental, dekorativ, exotische Schönheit. Indem er im Inneren des Tempels zudem eine Grabesatmosphäre inszenierte, reproduzierte er gleichzeitig alle Assoziationen mit einem ägyptischen Grab: Schatz, Tod, Geheimnis. Sein didaktisch motiviertes Simulacrum wird so zu einer wild sprudelnden Quelle des Mythos Ägypten, das beinahe alle gängigen mythischen Assoziationen mit dem Alten Ägypten auf kleinem Raum zusammenzwängte. Die Wahl seiner Sujets scheint sich darüber hinaus mit den Tempeln und Gräbern zu decken, die er selbst entdeckte und freilegen ließ. Das trifft auf fast alle Elemente seines Pavillons zu, bis auf diejenigen aus Philae. Das heißt: Mit der Selektion dessen, was die Besucherinnen im und am Tempel-Pavillon zu sehen bekamen, feierte Mariette auch sich selbst und seine Errungenschaften als Leiter der Antikenverwaltung. Mariette erwähnt zum Beispiel nicht das Tal der Könige, das zu diesem Zeitpunkt, sicherlich spätestens seit 1821 durch Belzonis Ausstellung des Grabes Sethos I., allgemein bekannt war. Mariettes Ausstellung über Ägypten war wie diejenige Belzonis auch eine Selbstdarstellung des Ausstellungsmachers. Zudem spielten bei Mariette wohl auch nationalistische Gründe eine Rolle, insofern er Monumente, die mit anderen Nationen als Frankreich affiliiert waren, ausklammerte. Von ägyptologisch geprägtem Nationalstolz zeugt die Kopie einer Statue, die Jean-François Champollion zeigt und die sich ebenfalls auf dem Gelände des Parc Égyptien direkt neben dem Tempel befand.217 Sie ist ein Werk des Bildhauers Auguste Bartholdi, der auch die Freiheitsstatue in New York schuf. Das Original befindet sich heute im Hof des Collège de France in Paris. Das Original wurde zwar erst 1875 fertiggestellt, die Kopie konnte aber bereits vorher auf der Weltausstellung ausgestellt werden. Die Statue zeigt Champollion, der einen Fuß auf dem Kopf einer ägyptischen Statue aufstützt. Mit dieser Geste wollte Mariette an den großen französischen Pionier der Ägyptenforschung erinnern, sich zugleich als dessen Erbe stilisieren und einen weiteren Berührungspunkt zwischen den beiden Nationen Ägypten und Frankreich knüpfen, der die anderen europäischen Nationen, vor allem England, außen vorließ. Die Aufstellung der Statue im Parc Égyptien sprach deutlich vom intellektuellen Herrschaftsanspruch über Ägypten und der geistigen Inbesitznahme Ägyptens durch Frankreich; sie erinnert an das Bezwingen eines Tieres oder Gegners, der nun unterlegen am Boden unter den Füßen des Siegers liegt.218
217 218
Vgl. Çelik: Displaying the Orient: Architecture of Islam at Nineteenth-Century World’s Fairs, a.a.O., S. 57. Vgl. die Beschreibung der Statue durch Lenormant: »Cʼest un Français dont la main hardie et féconde, en pénétrant le mystère des hiéroglyphes a déchiré le voile qui cachait lʼantique
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
Mariettes Katalog zeugt von dem großen Wissen des französischen Ägyptologen, das er sich während seiner Jahre in Ägypten und als Leiter der Antikenverwaltung angeeignet hatte. Auch die Entwicklung in der Hieroglyphenforschung ist hier sehr gut nachzuvollziehen. Wusste Belzoni in seiner Ausstellung noch nicht einmal den Namen des Grabinhabers, dessen Grabkammern er ausstellte, konnte Mariette die einzelnen Objekte und Reliefs meistens einer bestimmten Persönlichkeit und so meistens auch einer bestimmten Epoche zuweisen, weil es ihm ohne große Mühe möglich war, deren Namen zu lesen. In seinem Katalog zum Parc Égyptien beschreibt Mariette sehr detailliert jedes einzelne Objekt seiner Ausstellung und jedes einzelne der architektonischen und dekorativen Elemente, aus denen der Pavillon bestand. Die heute noch gängige Methode, in einem Ausstellungskatalog die Objekte zuerst mit ihrem Material und ihren Abmessungen zu beschreiben, erhebt Mariette zum Standard. Jede Änderung und Abweichung von originalen Gegebenheiten, die er beim Parc Égyptien vornahm, war ihm bewusst. Allerdings findet er Gründe, warum dieses und jenes auf dem Gelände des Marsfeldes nicht so auszuführen war wie im Original. Das heißt: Mariette legitimiert sich dauernd und stellt Überlegungen an, um eine didaktisch wertvolle Ausstellung zu inszenieren. Die Didaktik stand bei Mariette klar im Vordergrund, ergänzt durch den Anspruch eine ästhetisch ansprechende Ausstellung anbieten zu wollen. Dazu griff er auf die schönsten und eindrücklichsten Elemente aus Rund- und Flachbild und Architektur zurück und erschuf mit dieser Auswahl einen nach seinem Anspruch und Empfinden ästhetisch perfekten Tempel. Dennoch versuchte Mariette in diesem Rahmen eine räumliche und damit auch eine zeitliche Trennung der drei ausgewählten Epochen in seiner Ausstellung zu machen. Damit ist er der erste Ausstellungsmacher, der eine solche Unterscheidung überhaupt versuchte. Es scheint so, als wolle Mariette hier den Forschungsstand der Ägyptologie darstellen, den er in seinem Werk Aperçu bereits schriftlich festgehalten hatte. Allerdings gibt es bei diesem Vorgehen zwei Probleme: Mariette hält seine chronologische Einteilung nicht strikt ein und sie wird von den Besucherinnen nicht wahrgenommen. Damit setzt sich die Ästhetik gegen die Didaktik durch und pervertiert Mariettes eigentliche Intention. Das scheint ihm aber nicht aufgefallen zu sein. Indem er eine Auswahl herausragender Elemente zur Schau stellte, vermeinte er, das Alte Ägypten in seiner ganzen Pracht repräsentieren zu können. Er wollte den Besucherinnen der Weltausstellung ein Gesamtbild der altägyptischen Kultur vermitteln und es
Égypte. La découverte de Champollion fait partie du patrimoine de nos gloires nationales. Et encore aujourdʼhui, malgré les efforts de lʼAllemagne et de lʼAngleterre pour nous ravir cette primauté, cʼest la France qui tient le premier rang dans la carrière de lʼégyptologie, grâce aux travaux de M. le vicomte de Rougé et aux belles explorations de M. Mariette.« Lenormant, François: »L’Antiquité à l’Exposition universelle, 1: l’Égypte«, Gazette des Beaux-Arts: la doyenne des revues d’art, 22 (1867), S. 549-564, hier S. 550.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
ihnen ermöglichen, diese Kultur in Paris auf dem Marsfeld gleichwertig erleben zu können wie in Ägypten selbst. Das sinnliche Erleben des Alten Ägypten, das so auf wundersame Art und Weise mit Augen und Händen möglich wird, verspricht auch Edmond den Besucherinnen der Weltausstellung: »Nous y voici, en plein Orient, par un miracle, sur les bords du Nil, au milieu des palmiers et des plantes grasses, au temps des Pharaons. […] Engageons-nous dans lʼavenue de sphinx qui conduit au monument. On adire là-dedans des dieux plus vieux de sept milles ans que tous les autres. Entrons. Cʼest un musée. On nous y met toute lʼÉgypte antique sous les yeux, sous la main, en un résumé magnifique, digne dʼelle. […]; des momies dans leurs cercueils, oú elles reposent on serait presque tenté de le dire, de tout éternité.«219 Auffällig ist: Edmond redet von Mumien in ihren Särgen, obwohl nur Sarkophage, aber keine Mumien ausgestellt waren. Die Sarkophage waren laut Mariette ein weiteres didaktisches Element, das den Wandel der Jenseitsvorstellungen vom Alten Reich bis zur Ptolemäerzeit zeigen sollte. Mumien werden schon damals vollumfänglich mit dem alten Ägypten assoziiert, so dass sie automatisch Sarkophagen zugeordnet werden. Da diese Särge zudem in einem Saal ausgestellt wurden, der das Innere eines ägyptischen Grabes repräsentierte, erfolgte unweigerlich die Assoziationsverknüpfung mit Tod, Todesfixiertheit, Geheimnis, ewigem Leben und in diesem Zusammenhang mit der ägyptischen Form die untrennbar mit diesen Assoziationen verbunden ist: der Mumie. Somit wurden auch hier Mariettes ursprünglich didaktische Intention untergraben und seine Inszenierung zur Quelle des Mythos. Das Erfahren einer vergangenen Realität wird ebenfalls im österreichischen Bericht über die Weltausstellung von 1867 deutlich: »Von vorwiegend künstlerischer Bedeutung war die höchst gelungene Nachbildung eines ägyptischen Tempels, welcher, ausgestattet mit dem herrlichsten Farbenschmuck und voller bedeutendsten Originalkunstwerke an Sculpturen, den Beschauer zurückversetzte in eine längst entschwundene Zeit, reich an künstlerischen Schaffen, gewaltig in der Anwendung ihrer Mittel.«220 Der Tempel-Pavillon sollte das Alte Ägypten also sinnlich erfahrbar machen. Und in diesem Modus der sinnlichen Erfahrung wurde der Pavillon von den Besucherinnen wohl auch erlebt. Denn es ist davon auszugehen, dass die zahlreichen Besucherinnen, die den ägyptischen Park auf dem Marsfeld besuchten, Mariettes Katalog vor ihrem Besuch nicht konsultierten, so dass seine didaktischen Maßnah219 Edmond: L’Égypte à l’Exposition universelle de 1867, a.a.O., S. 18. 220 K.K. österreichisches Central-Comité (Hg.): Bericht über die Welt-Ausstellung zu Paris im Jahre 1867, a.a.O., S. 47.
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
men – wie etwa die chronologische Anordnung – noch nicht einmal theoretisch nachvollzogen werden konnten. Wie den angeführten Aussagen zu entnehmen ist, glaubten viele Besucherinnen, dass sie auf dem Marsfeld eine kleinere, aber ansonsten originalgetreue Kopie eines einzigen ägyptischen Tempels zu sehen bekommen hatten. Die Besucherinnen sind Mythenleserinnen, die den Mythos Ägypten auf der Weltausstellung vollumfänglich konsumieren. Das hängt auch mit ihrer Erwartungshaltung zusammen: Besucherinnen ägyptischer Ausstellungen haben in erster Linie nicht das Bedürfnis etwas zu lernen, denn Ägypten gilt nicht als Bestandteil des klassischen Bildungsideals. Besucherinnen ägyptischer Ausstellungen wollen vielmehr entdecken, Geheimnisse einer für sie in jeglicher Hinsicht fremden Kultur lüften. Laut Lenormant sei an diesem Zustand des Unwissens der Umstand schuld, dass ausschließlich die Wissenschaft die Fakten über das Alte Ägypten kenne und dass davon wenig der Öffentlichkeit bekannt sei: »il y a cinquante ans, tout était ténèbres et mystère en ce qui regardait lʼÉgypte. Aujourdʼhui lʼon connaît dans tous les détails de sa vie et de son organisation la terre des Pharaons […] Malheureusement la conaissance nʼen est pas assez généralement répandue dans le public; elle nʼest guère encore sortie du cercle des savants de profession.«221 Eine Ausstellung wie diejenige Mariettes ist aber trotz wissenschaftlicher Grundlagen und didaktischer Absichten denkbar ungeeignet, mythisches Vorwissen über Ägypten durch wissenschaftlich gesichertes Wissen zu ersetzen. Indem sein Simulacrum selbst zu einer Quelle des Mythos Ägypten wurde, zementierte Mariettes Ausstellung die mythischen Vorstellungen, anstatt sie zu zerstäuben. Wir sehen: Der Ägyptologe Mariette war nicht weniger Mythenproduzent als der Abenteurer Belzoni und der Designer Jones. Indem Mariette ein Simulacrum eines Tempels nahm und in dessen Innenraum eine Grabesatmosphäre inszenierte, kombinierte er gleichsam Belzonis und Jones’ mythenproduzierende Ansätze und potenzierte die Macht des Mythos weiter.
5.
Rückblick: Der Mythos Ägypten im 19. Jahrhundert
Blicken wir auf unsere Untersuchung des 19. Jahrhunderts zurück, so können wir festhalten: Die Geschichte der Ägyptenausstellung im 19. Jahrhundert ist die Geschichte des Mythos Ägypten. Sie beginnt mit Belzonis Ausstellung in London im Jahre 1821. Diese Ausstellung wird zu Recht als »Mutter aller ägyptischen Ausstellungen«222 bezeichnet, da ihre Inszenierung und ihr Konzept Ägyptenausstellun221 Lenormant: »L’Antiquité à l’Exposition universelle, 1: l’Égypte«, a.a.O., S. 550. 222 Loprieno: »Von Ägyptologie und Ägyptomanie«, a.a.O., S. 7.
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men – wie etwa die chronologische Anordnung – noch nicht einmal theoretisch nachvollzogen werden konnten. Wie den angeführten Aussagen zu entnehmen ist, glaubten viele Besucherinnen, dass sie auf dem Marsfeld eine kleinere, aber ansonsten originalgetreue Kopie eines einzigen ägyptischen Tempels zu sehen bekommen hatten. Die Besucherinnen sind Mythenleserinnen, die den Mythos Ägypten auf der Weltausstellung vollumfänglich konsumieren. Das hängt auch mit ihrer Erwartungshaltung zusammen: Besucherinnen ägyptischer Ausstellungen haben in erster Linie nicht das Bedürfnis etwas zu lernen, denn Ägypten gilt nicht als Bestandteil des klassischen Bildungsideals. Besucherinnen ägyptischer Ausstellungen wollen vielmehr entdecken, Geheimnisse einer für sie in jeglicher Hinsicht fremden Kultur lüften. Laut Lenormant sei an diesem Zustand des Unwissens der Umstand schuld, dass ausschließlich die Wissenschaft die Fakten über das Alte Ägypten kenne und dass davon wenig der Öffentlichkeit bekannt sei: »il y a cinquante ans, tout était ténèbres et mystère en ce qui regardait lʼÉgypte. Aujourdʼhui lʼon connaît dans tous les détails de sa vie et de son organisation la terre des Pharaons […] Malheureusement la conaissance nʼen est pas assez généralement répandue dans le public; elle nʼest guère encore sortie du cercle des savants de profession.«221 Eine Ausstellung wie diejenige Mariettes ist aber trotz wissenschaftlicher Grundlagen und didaktischer Absichten denkbar ungeeignet, mythisches Vorwissen über Ägypten durch wissenschaftlich gesichertes Wissen zu ersetzen. Indem sein Simulacrum selbst zu einer Quelle des Mythos Ägypten wurde, zementierte Mariettes Ausstellung die mythischen Vorstellungen, anstatt sie zu zerstäuben. Wir sehen: Der Ägyptologe Mariette war nicht weniger Mythenproduzent als der Abenteurer Belzoni und der Designer Jones. Indem Mariette ein Simulacrum eines Tempels nahm und in dessen Innenraum eine Grabesatmosphäre inszenierte, kombinierte er gleichsam Belzonis und Jones’ mythenproduzierende Ansätze und potenzierte die Macht des Mythos weiter.
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Rückblick: Der Mythos Ägypten im 19. Jahrhundert
Blicken wir auf unsere Untersuchung des 19. Jahrhunderts zurück, so können wir festhalten: Die Geschichte der Ägyptenausstellung im 19. Jahrhundert ist die Geschichte des Mythos Ägypten. Sie beginnt mit Belzonis Ausstellung in London im Jahre 1821. Diese Ausstellung wird zu Recht als »Mutter aller ägyptischen Ausstellungen«222 bezeichnet, da ihre Inszenierung und ihr Konzept Ägyptenausstellun221 Lenormant: »L’Antiquité à l’Exposition universelle, 1: l’Égypte«, a.a.O., S. 550. 222 Loprieno: »Von Ägyptologie und Ägyptomanie«, a.a.O., S. 7.
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gen bis zum heutigen Tage prägen. Da Belzonis Ausstellung der Geburtsstunde der Ägyptologie im Jahr 1822 über ein Jahr vorhergeht, konnte sie nicht auf ägyptologische Expertise zurückgreifen. Belzonis bahnbrechende Inszenierung konnte damit ungehindert zu einer Quelle des Mythos Ägypten werden. Die wichtigsten und stilprägendsten Elemente von Belzonis Inszenierung bildeten zugleich zentrale Formen des Mythos Ägypten: Dunkelheit, Grab, Entdeckertum und die Mumie. Diesen Formelementen, an denen viele verschiedene Assoziationen haften, werden wir in den folgenden Kapiteln immer wieder begegnen. Die Etablierung des Mythos Ägypten in Belzonis Ausstellung und die Herausbildung seines Grundgerüsts und seiner Funktionsweise entspricht unserer ersten Facette des Mythos in Ausstellungen. Die sich herausbildende Wissenschaft der Ägyptologie vermochte zwar das Wissen über das Alte Ägypten signifikant zu vermehren; konnte aber dennoch nicht verhindern, dass auch wissenschaftlich fundierte Ausstellungen zu Quellen des Mythos Ägypten wurden. Auf den Weltausstellungen wurde das Alte Ägypten in Form eines Simulacrums präsentiert. Sowohl Jones wie auch Mariette entschieden sich gegen maßstabsgetreue Kopien und setzten stattdessen auf Simulacren. Ihre Tempel waren aus architektonischen und dekorativen Elementen unterschiedlichster Herkunft zusammengesetzt. Die aus ihrem ursprünglichen Umfeld kopierten Elemente fügten Jones und Mariette ihren jeweiligen Absichten entsprechend zu einem neuen Ganzen zusammen, das zwar einem ägyptischen Tempel zu gleichen schien, aber in Wirklichkeit nie in dieser Form existiert hatte. Während Jones vor allem ästhetischen Interessen folgte, waren Mariettes Entscheidungen hauptsächlich didaktisch motiviert. Beiden gemein war die Überzeugung, den Besucherinnen durch ein Simulacrum einen handlichen Überblick über altägyptische Kunst und Architektur geben zu können. Da die Besucherinnen jedoch nicht über das nötige Wissen verfügten, um das Simulacrum als solches zu erkennen, hielten sie es für eine maßstabsgetreue Kopie eines ägyptischen Tempels. Somit wurden die Simulacren von Jones und Mariette zu Quellen des Mythos Ägypten. Jonesʼ ästhetisches Simulacrum und Mariettes didaktisches Simulacrum fassen wir unter der zweiten Facette des Mythos Ägypten in Ausstellungen zusammen. An Mariettes Simulacrum wird ersichtlich, dass auch eine auf wissenschaftlichen Grundlagen und nach didaktischen Motiven konzipierte Ausstellung zu einer Quelle des Mythos werden kann. Mariettes didaktische Mission musste scheitern, da das Simulacrum niemals didaktische Zwecke erfüllen kann. Denn das Wissen, das die Besucherinnen durch das Simulacrum erwerben sollen, ist dasselbe Wissen, das sie schon besitzen müssen, um das Simulacrum als Simulacrum zu erkennen. Das ist das Paradoxon des didaktischen Simulacrums. Bei Jones haben wir gesehen, dass der Mythos Ägypten für neue Assoziationsverknüpfungen offen ist, in diesem Falle für die Assoziation der Schönheit. Wurde
Kapitel 1: Der Mythos Ägypten und der Ursprung der Ägyptenausstellung
die ägyptische Kunst zunächst als grotesk wahrgenommen und ihr ein ästhetischer Gehalt abgesprochen, so änderte sich das mit dem zunehmenden Wissen über die altägyptische Kultur im Zuge der Herausbildung der Ägyptologie als Wissenschaft, aber auch durch die langsame Anpassung der Sehgewohnheiten der europäischen Ausstellungsbesucherinnen an altägyptische Objekte. Der Mythos Ägypten folgt somit auch dem jeweiligen Zeitgeist und den Seh- und Denkgewohnheiten der Rezipientinnen. Bei Mariette haben wir zudem gesehen, dass die Assoziationen des Mythos Ägypten beinahe beliebig kumulierbar sind. Indem er im Inneren seines Simulacrums eine Grabesatmosphäre erzeugt, addiert er zu den vielen unterschiedlichen Assoziationen, die seine architektonische Pastiche hervorruft, die bereits bei Belzoni auftauchenden Motive Tod, Geheimnis und Unsterblichkeit, die durch die Formen Dunkelheit, Grab und Sarkophag entstehen. Weit davon entfernt, den Mythos zu schwächen, verstärkt Mariette ihn, indem er in seiner Inszenierung die verschiedensten Elemente auf engem Raum zusammenfügt. Insofern er dabei auch räumliche und zeitliche Entfernungen zwischen den Exponaten auf ein Minimum reduziert, erweckt er neben allen anderen Assoziationen auch das bis heute wirkmächtige Bild des Alten Ägypten als einer erstarrten, die Jahrtausende über gleichbleibenden Kultur. Damit ist das Grundgerüst des Mythos Ägypten im Ausstellungswesen errichtet. Ändern wird sich daran im Folgenden nur Oberflächliches: Assoziationen treten zurück, kommen hinzu oder verschwinden vorerst ganz, der Mythos ist außerdem offen für neue Formen. Die Inszenierungen der Ausstellungen orientieren sich aber weiterhin am Paradigma, das Belzoni etabliert hat. Unsere systematische Analyse des Mythos Ägypten wird uns im Folgenden seine restlichen vier Facetten offenbaren. Der Historiker Eric Hobsbawm hat die Rede vom »Langen 19. Jahrhundert« geprägt.223 Es beginnt 1789 mit der Französischen Revolution und endet 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dieselbe Zäsur wird aus ägyptologischer Sicht gesetzt: Schenkeln bezeichnet die Zeit zwischen 1880 und 1914 für die Ägyptologie als Zeit des Erschließens des gesamten Quellenfundus.224 Herman Kees spricht ab 1882 und bis zum Anfang des Ersten Weltkrieges von einem »Goldenen Zeitalter der Ägyptologie«.225 Kees bezeichnet die vorangegangenen dreißig Jah-
223 Vgl. Hobsbawm, Eric: The Age of Revolution. 1789-1848, New York 1996; Vgl. Hobsbawm, Eric: The Age of Capital. 1848-1875, New York 1996; Vgl. Hobsbawm, Eric: The Age of Empire. 1875-1914, New York 1989. 224 Schenkel: »Bruch und Aufbruch. Adolf Erman und die Geschichte der Ägyptologie«, a.a.O., S. 224-225. 225 Kees, Hermann: »Geschichte der Ägyptologie«, Handbuch der Orientalistik, I.1 (1959), S. 3-17, hier S. 6.
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re als »Romantisches Zeitalter«, womit er wohl andeutet, dass für ihn diese Zeit im ägyptologischen Sinne nicht ganz ernst zu nehmen ist.226 Den Gegensatz dazu sieht er im folgenden »Goldenen Zeitalter« mit seinem Positivismus und maßstabsgerechtem Begreifen der altägyptischen Kultur. Ab 1880 ist die Ägyptologie etabliert und wird als Wissenschaft ernst genommen. Methoden und Spezialisierungen entwickeln sich. Diese Epoche war weiterhin geprägt vom Nationalismus der ägyptologisch forschenden Nationen und von der Ausprägung unterschiedlicher Forschungstraditionen. Sie war auch geprägt von den Heroen des Goldenen Zeitalters, den tonangebenden Forscherpersönlichkeiten der Ägyptologie.227 Vielleicht schwingt in der Bezeichnung Goldenes Zeitalter auch eine Sehnsucht nach einem mythischen Goldenen Zeitalter mit, dem ein stetiger Verfall folgte.228 In diese Epoche fällt nämlich noch das Prinzip der Fundteilung, die es erlaubte, Objekte in die jeweiligen Museen Europas und auch Sammlungen privater Ausgräberinnen auszuführen. Allerdings wurde dieses Abkommen, kurz nach dem Fund des Grabes des Tutanchamun gegen Ende des Jahres 1922, außer Kraft gesetzt.229 Kaum wurde der Mythos, einen Goldschatz in einem Grab in der ägyptischen Wüste zu entdecken, tatsächlich wahr, durfte das Gold nicht mehr ausgeführt werden, sondern musste in Ägypten verbleiben. Auffällig ist, dass das von Kees so genannte »Goldene Zeitalter« genau mit der Hochzeit des britischen Imperialismus und sein Ende mit dem Ende der britischen Herrschaft über Ägypten zusammenfällt. In Ägypten gab es 1919 eine Revolution gegen die britische Okkupation, die dazu führte, dass England Ägypten im Februar 1922 mit vielen Vorbehalten für unabhängig erklärte. Allerdings handelte es sich nur um einen halbautonomen Zustand, der bis zur Revolution unter Nasser 1952 andauern sollte. Die vollständige Unabhängigkeit erlangte Ägypten erst 1956 nach dem Suez-Krieg. Nach dem Ersten Weltkrieg beginnt nicht nur eine Zeit sozialer Umwälzungen, sondern mit der Entdeckung des Tutanchamun auch eine neue Ära der Ägyptenrezeption sowie der Ägyptenausstellung, die wir im folgenden Kapitel untersuchen werden.
226 Ebd., S. 4. 227 Für eine historischen Überblick über Ägyptologen, Forscher und Abenteurer im Ägypten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vgl. Wilkinson, Toby: A World Beneath the Sands. Adventurers and Archaeologists in the Golden Age of Egyptology, London 2020. 228 Vgl. Hesiod: Theogonie. Werke und Tage, herausgegeben und übersetzt von Albert von Schirnding, 5. Aufl., Berlin 2012, S. 91-97. 229 Für Ägyptologen Toby Wilkinson fällt das Golden Zeitalter der Ägyptologie in einen Zeitraum von exakt 100 Jahren, dessen Anfang das Jahr 1822 mit der Entzifferung der Hieroglyphen macht und das 1922 mit dem Fund des Tutanchamun endet. Vgl. dazu Wilkinson: A World Beneath the Sands. Adventurers and Archaeologists in the Golden Age of Egyptology, a.a.O., S. 1-2.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Die berühmte farbige Büste der Nofretete wurde vom deutschen Ägyptologen Ludwig Borchardt 1912 in Tell el-Amarna gefunden. Dank der alten, vor dem Ersten Weltkrieg bestehenden Strukturen, vor allem der Fundteilung, konnte sie nach Berlin gebracht werden und befindet sich heute im Neuen Museum. Seit 1922 waren von offizieller Seite Fotos in Umlauf gebracht worden und 1924 stellte man die Nofretete schließlich aus.1 Die Ausstellung stand in Zusammenhang mit dem Fund Tutanchamuns Ende des Jahres 1922, insofern man mit Nofretete einen deutschen Gegenpol zu dem britisch geprägten Fund des Tutanchamun aufstellen konnte. Somit wurden zwei der bis heute berühmtesten altägyptischen Figuren fast zeitgleich an die Öffentlichkeit gebracht. Damit beginnt nach dem Ersten Weltkrieg die Ära der altägyptischen Ikonen. Dass Tutanchamun und Nofretete in den 1920er Jahren zu Ikonen wurden, hängt mit einem Phänomen zusammen, dass von Bénédicte Savoy als »Nofretete in der Stube« bezeichnet wird: »der Einzug eines einmaligen Originalkunstwerks mittels technischer Reproduzierbarkeit ins bürgerliche Wohnzimmer«.2 Dabei war es gleichgültig, wo die Originale aufbewahrt wurden, ob in Kairo oder in Berlin; ihre Fotos wurden auf der ganzen Welt verbreitet und hielten Einzug in die Wohnzimmer der Privathaushalte, wo man sie tagtäglich betrachten konnte. Das Alte Ägypten wurde auf Ausstellungen nun nicht mehr nur durch Kunst und Architektur dem Publikum präsentiert, sondern mit Hilfe jener Ikonen. Tutanchamun und Nofretete geben dem Alten Ägypten ein menschliches Gesicht. Ein intimerer, menschlicherer und individuellerer Zugang zum Alten Ägypten scheint damit gegeben und wird in den Ausstellungen, vor allem der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, inszeniert. Das Publikum kann sich mit diesem menschlichen Aspekt des Alten Ägypten besser identifizieren; zugleich werden Tutanchamun und Nofretete, aber auch Kleopatra und Ramses II. zu Projektionsflächen für die Wünsche und Träume dieses Publikums. Damit reihen sich die altägyptischen Stars 1
2
Zur Fundgeschichte und Ausstellungsgeschichte der Nofretete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Savoy, Bénédicte: Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912-1931, Köln/ Weimar/Wien 2011. Ebd., S. 68.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
nahtlos in die Riege der Stars ein, die im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die Entwicklung der Film- und Musikindustrie entstehen: Stars wie Marilyn Monroe, Elvis Presley und Elizabeth Taylor. Der Star ist ebenfalls eine Form des Mythos. Als Stars und damit als Projektionsflächen ziehen Tutanchamun und Nofretete unweigerlich bestimmte Assoziationen auf sich, die mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit den beiden Ikonen im Besonderen verknüpft sind. Bei Nofretete sticht eine Assoziation vor allen anderen hervor, die der Schönheit und auch die der Sehnsucht nach der Schönheit ägyptischer Dinge. Schönheit ist ebenfalls eine wichtige Assoziation mit Tutanchamun oder vielmehr mit seinen Grabbeigaben, die, weil es sich um Unmengen wertvoller Gegenstände aus Gold handelt, mit Schatz und Reichtum assoziiert werden. Tutanchamun – noch viel mehr als Nofretete – kann als Zäsur in der Rezeption des Alten Ägypten angesehen werden. Nicht nur war es die erste und bisher letzte Entdeckung eines fast unberührten und damit beinahe vollständigen Grabes, es war auch der absolute Sensationsfund, der den Mythos Ägypten vollumfänglich zu bestätigen schien: Es war also doch wahr, dass immense Reichtümer – Gold und Juwelen – von den dekadenten und auf das Jenseits fixierten Pharaonen mit in ihre geheimnisvollen, dunklen Gräber genommen wurden. Reichtümer, die nur darauf warteten, vom europäischen Entdecker dem Wüstensand entrissen zu werden. Darüber hinaus war es auch der erste archäologische Fund, der massenmedial verbreitet wurde: Beinahe die ganze Welt hatte Anteil am Fund des Tutanchamun; Bilder seiner Grabbeigaben, und vor allem das seiner Goldmaske, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Für unsere Untersuchung des Mythos Ägypten ist aber vor allem von Bedeutung, dass Tutanchamun von Anfang an der populären Ägyptenrezeption einverleibt wurde; das ägyptologische Interesse blieb dagegen lange Zeit aus. Die Fachvertreterinnen waren eher enttäuscht über den Mangel an Schriftquellen; der Wissensgewinn der auf einigen Grabbeigaben zu findenden Jenseitstexte sowie derjenige, der aus den Alltagsgegenständen zu erlangen war, wurde zunächst verkannt. Außerdem wagte sich niemand an dieses zu populäre Thema, das eventuell ins ägyptologische Abseits hätte führen können. Damit war das Feld frei für die komplette Einverleibung Tutanchamuns in den Mythos Ägypten. Mit Tutanchamun hat der Mythos Ägypten eine neue Form gewonnen, die nicht nur altbekannte Motive des Mythos in sich vereint, sondern auch eine neue Assoziation heraufbeschwört: die des Fluches. Das neue Motiv des Fluches werden wir mit Hilfe von Sigmund Freuds Theorie des Unheimlichen analysieren und ergründen, welche emotionalen Aspekte den Glauben an einen Fluch auslösen können. Dabei werden wir feststellen, dass das Gefühl des Unheimlichen Motive des Mythos begleiten kann und daher ein Bestandteil des Mythos Ägypten ist. Das Unheimliche im Mythos Ägypten ist unsere dritte Facette des Mythos. Aufgrund dessen, dass Tutanchamun eine Zäsur in der Ägyptenrezeption des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus markiert, sowie als Zäsur der Ägyptenausstellung, vor allem derjenigen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aufzufassen
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
ist, wird allein dieser Pharao in seiner Funktion im und in seiner Beziehung zum Mythos Ägypten unser Protagonist des zweiten Kapitels sein. Daher ist es wichtig, kurz die Fundumstände und die Reaktionen auf den Fund zu skizzieren, mit Hilfe derer die Entwicklung des neuen Motivs des Mythos Ägypten, des Fluches, rekonstruiert werden soll. Danach folgt als paradigmatisches Beispiel für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die allererste Tutanchamun Ausstellung in Wembley 1924. Ein großer Sprung, bedingt durch den Zweiten Weltkrieg und weitere politische und kulturelle Ereignisse, führt uns anschließend in die 1970er Jahre, in die Zeit der Welttourneen der Tutanchamun Grabbeigaben und zugleich zur ersten sogenannten Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun. Die kultursemiotische Analyse dieser Ausstellung wird die vierte Facette des Mythos Ägypten zum Vorschein bringen: die bewusste Produktion des Mythos, bei der die etablierte Erwartungshaltung der Besucherinnen in Bezug auf Ägyptenausstellungen im Allgemeinen und in Bezug auf Tutanchamun im Besonderen vollständig bedient wird.
1.
Tutanchamun – Die Fundsensation
Im November 1922 entdeckten die Briten Howard Carter und Lord Carnarvon das Grab Tutanchamuns im Tal der Könige, der Nekropole der Pharaonen des Neuen Reiches.3 In einer Zeit politischer Spannungen sollte der Sensationsfund zu einem Präzedenzfall im politischen Tauziehen zwischen England und Ägypten werden, in dem Ägypten versuchte, sich von der Fremdherrschaft der Briten auf allen staatlichen Ebenen zu befreien. Außerdem sollten der Fund und die Ausgrabungen zu einem massenmedialen Spektakel werden, das die Welt so noch nicht gesehen hatte. Seitdem sind die Entdecker des Grabes, Lord Carnarvon und Howard Carter, mit dem Namen »Tutanchamun« untrennbar verbunden. Der Brite Howard Carter kam 1891 als Zeichner für den Egypt Exploration Fund und dessen Projekt »Archaeological Survey« nach Ägypten. Seine Aufgabe war es, zunächst die Inschriften und Szenen der Gräber in Beni Hassan abzuzeichnen. Ab Januar 1892 arbeitet Carter für die nächsten fünf Monate unter William Flinders Petrie auf dessen Ausgrabung in Tell el-Amarna, wo Petrie ihm das archäologische Handwerk beibrachte. Flinders Petrie revolutionierte die ägyptische Archäologie, etablierte Methoden und Standards; daher lernte Carter beim Besten seiner Zeit. Bis 1899 war Carter fortlaufend während der Grabungssaison in den Wintermonaten an verschiedenen Projekten des Egypt Exploration Fund angestellt und trat im Januar 1900 die Stelle eines Antikeninspektors in der Antikenverwaltung Ägyptens
3
Pharao Tutanchamun regierte von 1319-1309 v. Chr. Vgl. Schneider: Lexikon der Pharaonen, a.a.O., S. 301-302.
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
ist, wird allein dieser Pharao in seiner Funktion im und in seiner Beziehung zum Mythos Ägypten unser Protagonist des zweiten Kapitels sein. Daher ist es wichtig, kurz die Fundumstände und die Reaktionen auf den Fund zu skizzieren, mit Hilfe derer die Entwicklung des neuen Motivs des Mythos Ägypten, des Fluches, rekonstruiert werden soll. Danach folgt als paradigmatisches Beispiel für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die allererste Tutanchamun Ausstellung in Wembley 1924. Ein großer Sprung, bedingt durch den Zweiten Weltkrieg und weitere politische und kulturelle Ereignisse, führt uns anschließend in die 1970er Jahre, in die Zeit der Welttourneen der Tutanchamun Grabbeigaben und zugleich zur ersten sogenannten Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun. Die kultursemiotische Analyse dieser Ausstellung wird die vierte Facette des Mythos Ägypten zum Vorschein bringen: die bewusste Produktion des Mythos, bei der die etablierte Erwartungshaltung der Besucherinnen in Bezug auf Ägyptenausstellungen im Allgemeinen und in Bezug auf Tutanchamun im Besonderen vollständig bedient wird.
1.
Tutanchamun – Die Fundsensation
Im November 1922 entdeckten die Briten Howard Carter und Lord Carnarvon das Grab Tutanchamuns im Tal der Könige, der Nekropole der Pharaonen des Neuen Reiches.3 In einer Zeit politischer Spannungen sollte der Sensationsfund zu einem Präzedenzfall im politischen Tauziehen zwischen England und Ägypten werden, in dem Ägypten versuchte, sich von der Fremdherrschaft der Briten auf allen staatlichen Ebenen zu befreien. Außerdem sollten der Fund und die Ausgrabungen zu einem massenmedialen Spektakel werden, das die Welt so noch nicht gesehen hatte. Seitdem sind die Entdecker des Grabes, Lord Carnarvon und Howard Carter, mit dem Namen »Tutanchamun« untrennbar verbunden. Der Brite Howard Carter kam 1891 als Zeichner für den Egypt Exploration Fund und dessen Projekt »Archaeological Survey« nach Ägypten. Seine Aufgabe war es, zunächst die Inschriften und Szenen der Gräber in Beni Hassan abzuzeichnen. Ab Januar 1892 arbeitet Carter für die nächsten fünf Monate unter William Flinders Petrie auf dessen Ausgrabung in Tell el-Amarna, wo Petrie ihm das archäologische Handwerk beibrachte. Flinders Petrie revolutionierte die ägyptische Archäologie, etablierte Methoden und Standards; daher lernte Carter beim Besten seiner Zeit. Bis 1899 war Carter fortlaufend während der Grabungssaison in den Wintermonaten an verschiedenen Projekten des Egypt Exploration Fund angestellt und trat im Januar 1900 die Stelle eines Antikeninspektors in der Antikenverwaltung Ägyptens
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Pharao Tutanchamun regierte von 1319-1309 v. Chr. Vgl. Schneider: Lexikon der Pharaonen, a.a.O., S. 301-302.
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an. Carter erhielt die Stelle des Chefinspektors für Oberägypten und war in Luxor stationiert. Nach Auguste Mariette, der die Antikenverwaltung 1858 gegründet hatte, bekleidete Gaston Maspero das Amt des Generaldirektors, das traditionell an französische Staatsbürger vergeben wurde. Carter hatte nie eine Universität besucht und daher keine akademische Ausbildung genossen. Alles, was er über Ägyptologie und ägyptische Archäologie wusste, eignete er sich im Rahmen seiner bald zehnjährigen archäologischen Felderfahrung in Ägypten an. Der neue Posten als Antikeninspektor, der eine große Anerkennung für den damals 25-Jährigen war, ließ ihn aber offiziell in den Kreis der Ägyptologen aufsteigen. Wegen eines Zwischenfalls mit betrunkenen französischen Touristen kündigte Carter seine Stelle aber bereits fünf Jahre später. Was zunächst ein gravierender und irreparabler Rückschritt in Carters Karriere schien, stellte sich im Nachhinein als glückliche Fügung heraus, denn ab 1909, nach mageren Jahren als Maler und Touristenführer für wohlhabende Reisende, begann Carter für Lord Carnarvon zu arbeiten.4 Der englische Earl kam ursprünglich aus gesundheitlichen Gründen nach Ägypten, um das milde Winterklima zur Rekonvaleszenz zu nutzen und beschloss, während seiner saisonalen Besuche Ausgrabungen zu unternehmen.5 Zu dieser Zeit gab es in Ägypten oft europäische oder amerikanische Männer wie Carnarvon, mit Titel, Einfluss und Geld, die eine Grabungskonzession für eine bestimmte Lokalität vom Antikendienst erwarben und für sich ausgraben ließen, um ihre Privatsammlungen von Antiquitäten auszubauen. Die Erteilung einer Grabungsgenehmigung an Laien erfolgte mittlerweile unter der Bedingung, dass ein erfahrener Archäologe anzustellen war, damit die potentiellen Funde der Grabung auch dokumentiert und nicht einfach ausgeräumt wurden.6 So kam es, dass Carnarvon einen Ausgräber für seine Unternehmungen suchte; Carter wiederum suchte eine Anstellung als solcher. Als Archäologe in Carnarvons Diensten konnte Carter endlich wieder archäologisch in Luxor arbeiten und ein regelmäßiges Einkommen beziehen.7 Ab April 1915 erlangte Carnarvon eine Grabungserlaubnis für das Tal der Könige, die jedes Jahr erneuert werden musste.8 Das Tal der Könige galt allgemein als voll-
4 5 6
7 8
Vgl. James, T.G.H.: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, London/New York 1992, S. 97-120, 121-138. Aufgrund der klimatischen Bedingungen erstreckte sich die Grabungssaison über die Herbstund Wintermonate. Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 138-139. Eine weitere Bedingung war, dass, wenn das Grab bereits gestört worden war, die Antikenverwaltung die Prunkstücke behielt und danach die Hälfte der Funde vom Ausgräber beansprucht werden durften, die andere Hälfte ging ebenfalls an die Antikenverwaltung. Falls das Grab aber unberührt gefunden werden sollte, ging der gesamte Fund an die Antikenverwaltung und kein einziges Objekt durfte aus Ägypten entfernt werden. Vgl. Ebd., S. 139-140. Vgl. Ebd., S. 174.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
ständig ergraben und von anderer Seite bestand kein großes Interesse mehr daran, dort weiter zu arbeiten. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges konnte Carter aber erst ab Dezember 1917 mit seiner ersten Grabungssaison im Tal beginnen.9 Nach jahrelanger erfolgloser Suche wollte Carnarvon in eine Grabungskonzession an einem lukrativeren Ort investieren und einigte sich mit Carter auf eine letzte Grabungssaison im Winter 1922/23. Ein kleines Areal ganz in der Nähe des Grabes von Ramses VI. sollte bis zum anstehenden Felsen freigelegt werden. Genau dort machte Carter am 4. November 1922 den Sensationsfund.10 Nach und nach wurden aus Schutt, Steinen und Sand 16 Treppenstufen freigelegt, die hinab zu einem vermauerten Grabeingang im Felsmassiv führten. Dieser Eingang, der das Siegel des Tutanchamun trug, wurde schließlich am 23. November 1922 von Carter und Carnarvon gemeinsam aufgebrochen. Dahinter lag ein langer Korridor, der mit Schutt angefüllt worden war, um das Grab vor Dieben zu schützen. Nachdem der Korridor freigelegt worden war, standen Carter und Carnarvon vor einer weiteren vermauerten Türblockierung, in die Carter ein kleines Loch meißelte, durch das er mit der Hand eine Kerze schob. Der Kerzenschein gab Einblick auf die dahinterliegende Vorkammer des Grabes von Tutanchamun. Das war am 26. November 1922, der Zeitpunkt, an dem Carter nach eigenen Angaben auf Nachfrage Carnarvons, ob er etwas in der Kammer sehen könne, die berühmten Worte äußerte: »Yes, wonderful things«.11 T.G.H. James kommentiert: »Yes, ›wonderful things‹ is now firmly part of the story of the discovery, part, it may rightly be said, of the mythology of the discovery.«12 Dieser berühmte Satz Carters wird sowohl in jeglicher Literatur, als auch in Ausstellungen über Tutanchamun stetig wiederholt und ist deshalb fester Bestandteil des Mythos Tutanchamun. Der Ausruf »wonderful things« bezog sich auf die Grabbeigaben und war keinesfalls übertrieben, denn was Carter sah, waren: »strange animals, statues and gold – everywhere the glint of gold.«13 Nachdem sich die Ausgräber Zugang zur Vorkammer verschafft hatten, wurde klar, dass hier zum ersten Mal – und bisher zum letzten Mal – ein fast unberührtes ägyptisches Königsgrab gefunden worden war. Die Anzahl der Objekte war überwältigend, ihre Qualität in Bezug auf Kunstfertigkeit und wertvolle Materialien erstaunlich.14 Deshalb wurde in der populären Rezeption auch sogleich von einem Grabschatz gesprochen. Doch viele der Objekte zeigten einen ganz persönlichen Bezug zum 9 10 11
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Vgl. Ebd., S. 192. Vgl. Ebd., S. 215-216. Carter, Howard und Mace, Arthur C.: The Tomb of Tutankhamun. Volume 1: Search, Discovery and Clearance of the Antechamber. Discovered by the Late Earl of Carnarvon and Howard Carter, Reprint der Ausgabe von 1923, London/New York 2014, S. 83. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 219. Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O., S. 82. Für einen Überblick über das Grab und die Grabbeigaben Tutanchamuns vgl. Reeves, Nicholas: The Complete Tutankhamun, London/New York 1990.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Grabherren Tutanchamun, der sich mit Streitwagen bestatten ließ, die tatsächlich benutzt worden waren. Auch wurden Gehstöcke gefunden, von denen mindestens einer von Tutanchamun selbst hergestellt worden war. Man fand Kleidung und Möbel, die darauf hindeuten, dass sie Tutanchamun als Kind benutzt haben musste. Man fand aber auch Spuren von Grabräubern, die das Grab wahrscheinlich kurz nach der Bestattung aufgesucht hatten, um überwiegend verderbliche und sehr kostbare Öle und Salben zu entwenden sowie kleinere, gut tragbare und wertvolle Dinge. Im Laufe der Ausgrabungen wurde ersichtlich, dass das Grab aus insgesamt vier Kammern bestand: Vorkammer, Sargkammer, Schatzkammer und Annex, die teilweise bis zur Decke mit wertvollen Grabbeigaben gefüllt waren. Das bekannteste Objekt dieser Grabbeigaben ist die Goldmaske, die Kopf und Schultern von Tutanchamuns mumifiziertem Leichnam schützte. Sie ist eine der bekanntesten, wenn nicht die bekannteste Form, die Assoziationen mit dem Alten Ägypten weckt und sie ist daher fester Bestandteil des Mythos Ägypten. Tutanchamuns Maske ist gar ein Synonym für das Alte Ägypten. Es sollte zehn Jahre dauern, bis Carter die Ausgrabungen im Grab mit der Nummer KV 62 beenden konnte. Er erkannte schnell, dass er die komplette Arbeit, zu der auch die Dokumentation der Ausgrabungen mit Hilfe von Fotografie gehörte, sowie die Konservierung und Restaurierung der Objekte, nicht allein erledigen konnte. Das Metropolitan Museum of Art in New York lieh ihm deshalb vier seiner Mitarbeiter aus, die sich bereits in Ägypten aufhielten. Darunter befand sich der Fotograf Harry Burton, dessen Fotos der Grabung bis heute von unschätzbarem Wert sind.15 In der ersten Saison 1922/23 wurde allein die Vorkammer freigeräumt, ihre Objekte konserviert und nach Kairo ins Ägyptische Museum abtransportiert. In den folgenden Saisons wurden nach und nach die Objekte aus der Sargkammer, der Schatzkammer und schließlich dem Annex geborgen.
1.1
Kapitalgesellschaft Tutanchamun
Die Fundsituation um das Grab des Tutanchamun wird seit jeher zu einem Grabungskrimi hochstilisiert; die Protagonisten Carter und Carnarvon werden zu Helden der Archäologie, in Großbritannien gar zu Volkshelden. Dieses Narrativ der Fundgeschichte wurde von den beiden Ausgräbern selbst inszeniert und die Medien dementsprechend instrumentalisiert. Die Nachricht über die Fundsensation verbreitete sich wie ein Lauffeuer; am 30. November 1922 berichtete The Times zum ersten Mal über den Jahrhundertfund. Carnarvon hatte schnell erkannt, dass aus
15
Zum gesamten Team gehörten neben Harry Burton der Restaurator Arthur Mace, der Chemiker und Restaurator Alfred Lucas, der Grabungsarchitekt Arthur Callendar und die Ägyptologen Henry Breasted und Sir Allan Gardiner. Vgl. Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O., S. 95-99.
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Grabherren Tutanchamun, der sich mit Streitwagen bestatten ließ, die tatsächlich benutzt worden waren. Auch wurden Gehstöcke gefunden, von denen mindestens einer von Tutanchamun selbst hergestellt worden war. Man fand Kleidung und Möbel, die darauf hindeuten, dass sie Tutanchamun als Kind benutzt haben musste. Man fand aber auch Spuren von Grabräubern, die das Grab wahrscheinlich kurz nach der Bestattung aufgesucht hatten, um überwiegend verderbliche und sehr kostbare Öle und Salben zu entwenden sowie kleinere, gut tragbare und wertvolle Dinge. Im Laufe der Ausgrabungen wurde ersichtlich, dass das Grab aus insgesamt vier Kammern bestand: Vorkammer, Sargkammer, Schatzkammer und Annex, die teilweise bis zur Decke mit wertvollen Grabbeigaben gefüllt waren. Das bekannteste Objekt dieser Grabbeigaben ist die Goldmaske, die Kopf und Schultern von Tutanchamuns mumifiziertem Leichnam schützte. Sie ist eine der bekanntesten, wenn nicht die bekannteste Form, die Assoziationen mit dem Alten Ägypten weckt und sie ist daher fester Bestandteil des Mythos Ägypten. Tutanchamuns Maske ist gar ein Synonym für das Alte Ägypten. Es sollte zehn Jahre dauern, bis Carter die Ausgrabungen im Grab mit der Nummer KV 62 beenden konnte. Er erkannte schnell, dass er die komplette Arbeit, zu der auch die Dokumentation der Ausgrabungen mit Hilfe von Fotografie gehörte, sowie die Konservierung und Restaurierung der Objekte, nicht allein erledigen konnte. Das Metropolitan Museum of Art in New York lieh ihm deshalb vier seiner Mitarbeiter aus, die sich bereits in Ägypten aufhielten. Darunter befand sich der Fotograf Harry Burton, dessen Fotos der Grabung bis heute von unschätzbarem Wert sind.15 In der ersten Saison 1922/23 wurde allein die Vorkammer freigeräumt, ihre Objekte konserviert und nach Kairo ins Ägyptische Museum abtransportiert. In den folgenden Saisons wurden nach und nach die Objekte aus der Sargkammer, der Schatzkammer und schließlich dem Annex geborgen.
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Kapitalgesellschaft Tutanchamun
Die Fundsituation um das Grab des Tutanchamun wird seit jeher zu einem Grabungskrimi hochstilisiert; die Protagonisten Carter und Carnarvon werden zu Helden der Archäologie, in Großbritannien gar zu Volkshelden. Dieses Narrativ der Fundgeschichte wurde von den beiden Ausgräbern selbst inszeniert und die Medien dementsprechend instrumentalisiert. Die Nachricht über die Fundsensation verbreitete sich wie ein Lauffeuer; am 30. November 1922 berichtete The Times zum ersten Mal über den Jahrhundertfund. Carnarvon hatte schnell erkannt, dass aus
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Zum gesamten Team gehörten neben Harry Burton der Restaurator Arthur Mace, der Chemiker und Restaurator Alfred Lucas, der Grabungsarchitekt Arthur Callendar und die Ägyptologen Henry Breasted und Sir Allan Gardiner. Vgl. Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O., S. 95-99.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
dem großen Medieninteresse ein lukratives Geschäft zu machen war und hatte bereits im Winter 1922 Verhandlungen für einen Exklusivvertrag mit der Times begonnen, der im Januar 1923 rechtskräftig wurde.16 Ab dem 10. Januar 1923 besaß die Times die Exklusivrechte über die Berichterstattung der Ausgrabungen. Zugang zum Grab hatte als einziger Vertreter der Presse der Korrespondent der Times. Alle anderen Zeitungen konnten einen Tag später die Informationen der Times abkaufen. Davon ausgenommen war die ägyptische Presse, die ihre Information gratis erhielt, allerdings auch erst 24 Stunden später. Dieser Vertrag erzürnte nicht nur die internationale Presse, die sich ihrer Pressefreiheit beraubt sah, sondern besonders die nationale ägyptische Presse, die über einen Fund in ihrem eigenen Land nur noch aus zweiter Hand berichten durfte. Auf Grund des politischen Klimas weckte diese Art der Geheimhaltung und Informationspolitik großes Misstrauen in der ägyptischen Bevölkerung gegenüber den britischen Ausgräbern: Man vermutete unlautere Geschäfte mit den Fundstücken. Film- und Buchrechte waren nicht im Vertrag zwischen Carnarvon und der Times enthalten und der Earl spielte bereits mit dem Gedanken, die Filmrechte an Pathé zu verkaufen. Carnarvon erhielt im Gegenzug für das Monopol der Times auf die Berichterstattung über Tutanchamuns Grab 5000 Pfund und 75 Prozent der Einnahmen aus Verkäufen von Informationen und Fotos an andere Zeitungen.17 Außerdem verkaufte die Times nicht ihre kompletten Informationen, so dass die übrigen Zeitungen gar nicht die Chance auf eine vollständige Berichterstattung hatten. Die Times wiederum arbeitete mit der Illustrated London News zusammen und erlaubte dieser exklusiv, Fotos der Funde abzudrucken.18 Neben dem zusätzlichen Gewinn, der sich durch den Exklusivvertrag erwirtschaften ließ, erhofften sich Carnarvon und vor allem Carter eine ruhigere Bergung des Fundes ohne ständige Unterbrechungen durch Medienvertretende und Reisende. Aber die übrige Weltpresse mit ihren jeweiligen Korrespondentinnen, die ins Tal der Könige gesandt worden waren, standen vereint in ihren Bestrebungen, das Monopol der Times zu durchbrechen. Der Korrespondent der Daily Mail, Arthur Weigall, gab dem Monopol den Namen »Tutankhamun and Co. Ltd.« und plädierte für die Anerkennung des Grabes als wissenschaftliches Allgemeingut, aus dem kein Profit geschlagen werden dürfe.19 Denn grundsätzlich gehöre das Grab im Tal der Könige in den Verwaltungsbereich der Antikenverwaltung von Ägypten und sei damit 16
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Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 242; Vgl. Hankey, Julie: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, London/New York 2001, S. 260. Vgl. Hankey: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, a.a.O., S. 260. Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 400. Hankey: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, a.a.O., S. 284.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
ägyptischer Besitz, auch wenn eine Grabungskonzession vorläge.20 Carnarvon allerdings betrachtete, dem kolonialistischen und imperialistischen Selbstverständnis Großbritanniens entsprechend, das Grab als sein persönliches Eigentum, mit dem er tun und lassen konnte, wie es ihm beliebte. Auch Carter interpretierte die Grabungskonzession auf diese Art und Weise. Die Bergung der Objekte der Vorkammer in der Grabungssaison 1922/23 zog nicht nur dutzende Pressevertretende nach Luxor, sondern auch einen nie versiegenden Strom an Touristinnen, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang das Tal der Könige belagerten und um die besten Plätze mit Sicht auf den Grabeingang Tutanchamuns buhlten. Und tatsächlich wurden an vielen Tagen dieser Saison die Objekte wie in einer Prozession von KV 62 in das Labor oder das Depot – welche beide in umliegenden Gräbern untergebracht waren – an den Schaulustigen vorbeigetragen, die dadurch einen Blick auf die »wonderful things« erhaschen konnten. Dieser Grabungsalltag ging bis Ende der Saison weiter und hätte wohl auch in der nächsten Grabungssaison so ausgesehen, wenn nicht der unerwartete Tod Carnarvons dazwischengekommen wäre. Nach dessen Tod mussten sowohl die Grabungskonzession also auch der Exklusivvertrag mit der Times neu verhandelt werden.
1.2
Politische und populäre Rezeption Tutanchamuns
Nach Carnarvons Tod wurde die Grabungskonzession von dessen Frau Almina übernommen.21 Carter verlängerte den Vertrag mit der Times für eine weitere Grabungssaison, was auf wenig Begeisterung bei der übrigen Presse stieß. Eine weitere Entscheidung, mit der sich Carter unbeliebt machte, war sein Entschluss, Besucherinnen die Besichtigung des Grabes weitgehend zu verbieten und nur noch ausgewählte Personen hineinzulassen, deren Interesse über bloße Neugierde hinausging. Mit diesen weiteren eigenmächtigen Einschränkungen Carters war die ägyptische Regierung nicht einverstanden. Die Situation eskalierte, als Carter die Ehefrauen seiner Mitarbeiter zu einem Besuch ins Grab einladen wollte, was seiner zuvor angepriesenen Politik widersprach, nur Fachpersonen ins Grab einlassen zu wollen.22 Die ägyptische Regierung verbot Carter in einem offiziellen Schreiben den Besuch der Familien mit dem Argument, britische und amerikanische Frauen und Kinder hätten kein Vorrecht vor ägyptischen Bürgerinnen. Carter und sein Team waren so erzürnt, dass sie unverzüglich in Streik traten. Ziel des Streiks war es, die ägyptische Regierung in Bezug auf das Besuchsrecht und in Bezug
20 21 22
Vgl. Ebd., S. 259-274. Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 281. Für detaillierte Informationen zur gesamten Streikaffäre und den politischen Entwicklungen vgl. Ebd., S. 274-306.
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ägyptischer Besitz, auch wenn eine Grabungskonzession vorläge.20 Carnarvon allerdings betrachtete, dem kolonialistischen und imperialistischen Selbstverständnis Großbritanniens entsprechend, das Grab als sein persönliches Eigentum, mit dem er tun und lassen konnte, wie es ihm beliebte. Auch Carter interpretierte die Grabungskonzession auf diese Art und Weise. Die Bergung der Objekte der Vorkammer in der Grabungssaison 1922/23 zog nicht nur dutzende Pressevertretende nach Luxor, sondern auch einen nie versiegenden Strom an Touristinnen, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang das Tal der Könige belagerten und um die besten Plätze mit Sicht auf den Grabeingang Tutanchamuns buhlten. Und tatsächlich wurden an vielen Tagen dieser Saison die Objekte wie in einer Prozession von KV 62 in das Labor oder das Depot – welche beide in umliegenden Gräbern untergebracht waren – an den Schaulustigen vorbeigetragen, die dadurch einen Blick auf die »wonderful things« erhaschen konnten. Dieser Grabungsalltag ging bis Ende der Saison weiter und hätte wohl auch in der nächsten Grabungssaison so ausgesehen, wenn nicht der unerwartete Tod Carnarvons dazwischengekommen wäre. Nach dessen Tod mussten sowohl die Grabungskonzession also auch der Exklusivvertrag mit der Times neu verhandelt werden.
1.2
Politische und populäre Rezeption Tutanchamuns
Nach Carnarvons Tod wurde die Grabungskonzession von dessen Frau Almina übernommen.21 Carter verlängerte den Vertrag mit der Times für eine weitere Grabungssaison, was auf wenig Begeisterung bei der übrigen Presse stieß. Eine weitere Entscheidung, mit der sich Carter unbeliebt machte, war sein Entschluss, Besucherinnen die Besichtigung des Grabes weitgehend zu verbieten und nur noch ausgewählte Personen hineinzulassen, deren Interesse über bloße Neugierde hinausging. Mit diesen weiteren eigenmächtigen Einschränkungen Carters war die ägyptische Regierung nicht einverstanden. Die Situation eskalierte, als Carter die Ehefrauen seiner Mitarbeiter zu einem Besuch ins Grab einladen wollte, was seiner zuvor angepriesenen Politik widersprach, nur Fachpersonen ins Grab einlassen zu wollen.22 Die ägyptische Regierung verbot Carter in einem offiziellen Schreiben den Besuch der Familien mit dem Argument, britische und amerikanische Frauen und Kinder hätten kein Vorrecht vor ägyptischen Bürgerinnen. Carter und sein Team waren so erzürnt, dass sie unverzüglich in Streik traten. Ziel des Streiks war es, die ägyptische Regierung in Bezug auf das Besuchsrecht und in Bezug
20 21 22
Vgl. Ebd., S. 259-274. Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 281. Für detaillierte Informationen zur gesamten Streikaffäre und den politischen Entwicklungen vgl. Ebd., S. 274-306.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
auf weitere Punkte, die Carter seit Carnarvons Tod als Hindernisse empfunden hatte, zum Umdenken zu bewegen. Da kein Ersatz für die Expertise Carters und seines Teams bestand, rechnete Carter damit, dass die Regierung schnell einlenken würde. Die ägyptische Regierung aber nahm dessen unprofessionelles Verhalten – mit der abrupten Niederlegung seiner Arbeit gefährdete Carter die Objekte – als Anstoß dafür, ihm die Grabungskonzession und damit das Recht zu entziehen, überhaupt in die Nähe des Grabes zu kommen. Damit entfiel auch das Exklusivrecht der Times. Des Weiteren öffnete die ägyptische Regierung das Grab für die ägyptische Öffentlichkeit. Das Grab wurde somit zu einem politischen Symbol für den Triumph über die verhasste britische Besetzung und für einen Wandel im ägyptischen Nationalbewusstsein: War doch der junge ägyptische Pharao, mit dem sich die ägyptische Bevölkerung als Vorfahren identifizieren konnten, aus den Klauen der Unterdrückenden befreit worden. Erst nach einem Jahr Unterbrechung und nachdem sich die beiden involvierten Parteien vor einem gemischten ägyptisch-britischen Gericht gestritten hatten, gab Carter auf. Er und Lady Carnarvon verzichteten auf jedes Recht an den Funden und der Times-Vertrag wurde nicht mehr erneuert, um die Grabung im Grab wiederaufnehmen zu dürfen.23 Eine Annäherung der streitenden Parteien ergab sich auch dadurch, dass sich die politische Situation in Ägypten schlagartig geändert hatte. Im November 1924 fand die britische Regierung einen lange gesuchten Grund, die Kontrolle über Ägypten wieder zu erlangen: Die Ermordung des britischen Befehlshabers der Armee in Ägypten, Lee Stack, führte zur erneuten Besetzung Ägyptens. Die nationalistische Regierung Ägyptens musste zurücktreten, eine pro-britische Regierung kam an die Macht.24 Eine rasche Wiederaufnahme der Ausgrabungen im Grab Tutanchamuns unter britischer Kontrolle und die Wiedereinsetzung Howard Carters als Grabungsleiter sollten die Stärke und Überlegenheit einer britischen Kontrolle widerspiegeln. Carter und Lady Carnarvon mussten jedoch auch weiterhin auf Objekte aus dem Grab oder gar eine Fundteilung verzichten, denn die Widerrufung der Abmachung hätte womöglich Proteste seitens der ägyptischen Bevölkerung hervorgerufen und die Autorität der pro-britischen Regierung untergraben. Der Fund des Grabes sollte nicht nur im Hinblick auf das Obsoletwerden der Fundteilung ein Präzedenzfall bleiben. Tutanchamun wurde zu einem archäologischen Medienspektakel, das weltweites Interesse auf sich zog. Nach dem Ersten Weltkrieg war eine allgemeine Kriegsmüdigkeit zu spüren; man hatte genug von schlechten Nachrichten. Da kam die aufsehenerregende Entdeckung eines Goldschatzes in der ägyptischen Wüste, der ästhetisch ansprechende aber auch exotisch anmutende Dinge zu Tage förderte, genau richtig. Daran konnte auch der Umstand 23 24
Vgl. Ebd., S. 330-331. Vgl. Ebd., S. 328-329.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
nichts ändern, dass kein einziges Objekt nach England bzw. Europa ausgeführt werden durfte, so dass die wenigsten Europäerinnen die Originale tatsächlich zu Gesicht bekamen. Wie Wolfgang Wettengel feststellt, wurde der Fund in der »ästhetisierenden Epoche des späten Jugendstils und Art Deco mit der frühen Film- und Unterhaltungsindustrie in den Goldenen Zwanzigern«25 gemacht. Ägypten sei deshalb bereits seit Jahren en vogue gewesen und habe dem Zeitgeist entsprochen.26 Der Einfluss des Pharaos war in den 1920er Jahren überall zu spüren: in der Mode, Musik, Design, Architektur und Raumausstattung.27 Tutanchamun wurde zum Werbestar für Zitronen, Pralinen, Fleisch in Konserven über Tabak bis hin zu Kleidung.28 Der erste Band von Carters Fundbericht wurde bereits 1923 veröffentlicht und mit Hilfe eines bekannten Autors und literarischen Beraters namens Percy White sowie zusammen mit Arthur C. Mace, einem Mitglied des Grabungsteams, verfasst.29 Er ist wie ein Abenteuerroman geschrieben und beflügelte die Fantasie der Leserinnen und damit gleichzeitig die Reproduktion des Mythos Ägypten. Der Bericht richtete sich an ein Massenpublikum und nicht an ein Fachpublikum. Die Publikation für das Fachpublikum sollte folgen, kam aber, bedingt durch Carters Tod, nie zu Stande. Damit wurde Tutanchamun der populären Rezeption des Alten Ägypten und damit dem Mythos Ägypten von Anfang an einverleibt. Eine neue Assoziation mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Tutanchamun im Besonderen bahnte sich ihren Weg: die des Fluches. Wie genau sich der Glaube an einen Fluch Tutanchamuns in den 1920er Jahren verbreitete, werden wir im Folgenden sehen.
1.3
Der Fluch des Tutanchamun
Der plötzliche Tod Lord Carnarvons im April 1923 war ein gefundenes Fressen für die gesamte Presse. Er starb an einer Blutvergiftung, hervorgerufen durch einen
25 26 27
28 29
Wettengel, Wolfgang (Hg.): Der Fluch des Tutanchamun, Nördlingen 2002, S. 16. Vgl. Ebd., S. 15-16. Zum Einfluss des Fundes Tutanchamuns auf die Gesellschaft der 1920er Jahre vgl. GlitheroWest, Lizzie: »Tutankhartier: Death, Rebirth and Decoration; Or, Tutmania in the 1920s as a Metaphor for a Society in Recovery after World War One«, in: Dobson, Eleanor und Tonks, Nichola (Hg.): Ancient Egypt in the Modern Imagination. Art, Literature and Culture, London/New York/Dublin 2021, S. 127-144; Vgl. Frayling, Christopher: The Face of Tutankhamun, London 1992, S. 10-21. Vgl. Ebd., S. 23. Vgl. Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O., S. 271. Weiter Bände folgten: Vgl. Carter, Howard: The Tomb of Tutankhamun. Volume 2: The Burial Chamber, Reprint der Ausgabe von 1927, London/New York 2014; Vgl. Carter, Howard: The Tomb of Tutankhamun. Volume 3: The Annexe and Treasury, Reprint der Ausgabe von 1933, London/New York 2014.
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nichts ändern, dass kein einziges Objekt nach England bzw. Europa ausgeführt werden durfte, so dass die wenigsten Europäerinnen die Originale tatsächlich zu Gesicht bekamen. Wie Wolfgang Wettengel feststellt, wurde der Fund in der »ästhetisierenden Epoche des späten Jugendstils und Art Deco mit der frühen Film- und Unterhaltungsindustrie in den Goldenen Zwanzigern«25 gemacht. Ägypten sei deshalb bereits seit Jahren en vogue gewesen und habe dem Zeitgeist entsprochen.26 Der Einfluss des Pharaos war in den 1920er Jahren überall zu spüren: in der Mode, Musik, Design, Architektur und Raumausstattung.27 Tutanchamun wurde zum Werbestar für Zitronen, Pralinen, Fleisch in Konserven über Tabak bis hin zu Kleidung.28 Der erste Band von Carters Fundbericht wurde bereits 1923 veröffentlicht und mit Hilfe eines bekannten Autors und literarischen Beraters namens Percy White sowie zusammen mit Arthur C. Mace, einem Mitglied des Grabungsteams, verfasst.29 Er ist wie ein Abenteuerroman geschrieben und beflügelte die Fantasie der Leserinnen und damit gleichzeitig die Reproduktion des Mythos Ägypten. Der Bericht richtete sich an ein Massenpublikum und nicht an ein Fachpublikum. Die Publikation für das Fachpublikum sollte folgen, kam aber, bedingt durch Carters Tod, nie zu Stande. Damit wurde Tutanchamun der populären Rezeption des Alten Ägypten und damit dem Mythos Ägypten von Anfang an einverleibt. Eine neue Assoziation mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Tutanchamun im Besonderen bahnte sich ihren Weg: die des Fluches. Wie genau sich der Glaube an einen Fluch Tutanchamuns in den 1920er Jahren verbreitete, werden wir im Folgenden sehen.
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Der Fluch des Tutanchamun
Der plötzliche Tod Lord Carnarvons im April 1923 war ein gefundenes Fressen für die gesamte Presse. Er starb an einer Blutvergiftung, hervorgerufen durch einen
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Wettengel, Wolfgang (Hg.): Der Fluch des Tutanchamun, Nördlingen 2002, S. 16. Vgl. Ebd., S. 15-16. Zum Einfluss des Fundes Tutanchamuns auf die Gesellschaft der 1920er Jahre vgl. GlitheroWest, Lizzie: »Tutankhartier: Death, Rebirth and Decoration; Or, Tutmania in the 1920s as a Metaphor for a Society in Recovery after World War One«, in: Dobson, Eleanor und Tonks, Nichola (Hg.): Ancient Egypt in the Modern Imagination. Art, Literature and Culture, London/New York/Dublin 2021, S. 127-144; Vgl. Frayling, Christopher: The Face of Tutankhamun, London 1992, S. 10-21. Vgl. Ebd., S. 23. Vgl. Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O., S. 271. Weiter Bände folgten: Vgl. Carter, Howard: The Tomb of Tutankhamun. Volume 2: The Burial Chamber, Reprint der Ausgabe von 1927, London/New York 2014; Vgl. Carter, Howard: The Tomb of Tutankhamun. Volume 3: The Annexe and Treasury, Reprint der Ausgabe von 1933, London/New York 2014.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
entzündeten Insektenstich auf der Wange. Hier gab es endlich ein Ereignis, über das frei berichtet werden konnte, weil es nicht unter das Monopol der Times fiel. Sogleich wurden Gerüchte über einen Fluch verbreitet, den Carnarvon –so der allgemeine Konsens – durch die Störung der Totenruhe Tutanchamuns auf sich gezogen habe.30 Eine frei erfundene Inschrift, die sich auf einer ebenso frei erfundenen Tontafel im Grab Tutanchamuns befunden haben soll, wurde als Warnung vor dem Fluch gedeutet: »Der Tod wird auf schnellen Schwingen zu demjenigen kommen, der die Ruhe des Pharaos stört.«31 Die Missachtung dieser Warnung soll zu Carnarvons Tod geführt haben. David Silverman bemerkt, dass die Presse sogar eine tatsächlich existierende Inschrift, die in der Schatzkammer gefunden wurde, so formulierte, dass sie wie ein Fluch klang. Aus »I am the one who prevents the sand from blocking the secret chamber« wurde »I will kill all of those who cross this threshold into the secret precincts of the royal king who lives forever« gemacht.32 Auch der berühmte zeitgenössische Autor Sir Arthur Conan Doyle bekräftigte mit seinen Aussagen über einen Fluch diese Gerüchte.33 Nach dem Tod Carnarvons gerieten einige Sammler ägyptischer Antiquitäten aus Angst vor einem Fluch derart in Panik, dass sie ihre Objekte an das British Museum schickten, um nicht das gleiche Schicksal wie Lord Carnarvon erleiden zu müssen.34 Auch aus ägyptologischen Reihen wurden Gerüchte angefacht: Arthur Weigall, erfahrener ägyptischer Archäologe, der ebenfalls bei Petrie gelernt hatte, war wie Carter ehemaliger Antikeninspektor, der das Amt in Oberägypten 1905 angetreten hatte.35 Damit war Weigall zuständig für jenen Bezirk, den Carter kurz zuvor beaufsichtigt hatte. 1922 war Weigall schließlich Korrespondent für die britische Zeitung Daily Mail im Tal der Könige und er erwähnt in seiner Berichterstattung immer wieder einen Fluch. Er gilt heute als Rivale, sogar als Nemesis Carters. Allerdings wird das antagonistische Verhältnis der beiden generell überbewertet, vor allem wenn man die Ansichten beider Seiten kennt, die durch detaillierte Darstellungen ihrer Biografinnen T.G.H. James und Julie Hankey zu Tage treten.36 Weigall musste seinen Posten als Antikeninspektor aufgeben und Ägypten verlassen, nachdem Gerüchte, die Carter und andere Personen anfachten, von offizieller Stelle ernst genommen wurden, nach denen Weigall illegal mit ägyptischen Antiquitäten gehandelt haben soll. Die Sache wurde über die Maßen aufgebauscht, insofern es 30 31 32 33 34 35 36
Vgl. Frayling: The Face of Tutankhamun, a.a.O., S. 46-53. Wettengel (Hg.): Der Fluch des Tutanchamun, a.a.O., S. 28; Vgl. Silverman, David: »The Curse of the Curse of the Pharaohs«, Expedition, 29/2 (1987), S. 57-63, hier S. 60. Silverman: »The Curse of the Curse of the Pharaohs«, a.a.O., S. 59. Vgl. Frayling: The Face of Tutankhamun, a.a.O., S. 46-47. Vgl. Ebd., S. 59-60. Vgl. Hankey: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, a.a.O., S. 46-53. Vgl. Ebd., S. 121-129.
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sich um eine römische Statuette handelte, die damals in Ägypten legal gehandelt werden durfte. Paradoxerweise war es Carter, der immer wieder mit ägyptischen Antiquitäten handelte.37 Weigall schien in ägyptologischen Kreisen nicht sonderlich beliebt gewesen zu sein, wohl nicht zuletzt wegen seiner öffentlichen Kritik an der Fundteilung und der Ausfuhr ägyptischer Altertümer aus Ägypten.38 Kritik daran war damals insofern problematisch, als die Museen und privaten Ausgrabenden der westlichen Länder vor allem Ausgrabungen finanzierten, um die Funde in ihren Ausstellungshallen auszustellen, beziehungsweise um die Funde zu verkaufen und damit Gewinn zu erzielen. Für sie machte es wenig Sinn, Ausgrabungen zu finanzieren, bei denen sie keine materiellen Gegenleistungen erwarten konnten. Für die Daily Mail hatte Weigall, der sich mit seiner Rückkehr nach Ägypten auch eine Rückkehr in die ägyptologische Gemeinschaft vor Ort erhoffte, schon oft gearbeitet. Auch hoffte er, von seiner Bekanntschaft mit Carter profitieren zu können. Dabei wurde er jedoch bitter enttäuscht: Weigall musste als Zuschauer inmitten aller anderen Touristinnen und Presseleute Carter und seinen ehemaligen Kollegen beim Bergen des großen ägyptologischen Fundes zuschauen.39 Darüber hinaus wurde Weigall als Initiator der Fluchgerüchte gehandelt, die er durch unbedachte Äußerungen angefacht haben soll.40 Jene Äußerung, die als initial betrachtet wird, wurde von Weigall in einem Sammelband seiner Essays festgehalten, den er im November 1923 veröffentlichte. In »The Tomb of Tutankhamen«41 erzählt er, dass er am Tag der Öffnung der Sargkammer, als Lord Carnarvon mit besonders guter Laune ins Grab hinabstieg, gesagt habe: »If he goes down in that spirit, I give him six weeks to live.«42 Weigall schob diese Äußerung auf eine unbewusste Eingebung; sechs Wochen später war Carnarvon tatsächlich tot. In einem weiteren Essay »The Malevolence of Ancient Spirits«43 deutet er immer wieder einen Fluch als Grund für übernatürliche Begebenheiten mit altägyptischen Objekten und Mumien an, spricht aber nie direkt davon und überlässt seiner Leserin ihre eigenen Rückschlüsse zu ziehen. Dort geht es zum Beispiel um
37 38 39 40 41 42 43
Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 136, S. 153-155, S. 188-190, S. 388, S. 390. Vgl. Hankey: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, a.a.O., S. 189-191; Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 155-157. Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 252. Vgl. Ebd., S. 370; Vgl. Hankey: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, a.a.O., S. 4-5. Weigall, Arthur: »The Tomb of Tutankhamen«, in: Weigall, Arthur: Tutankhamen and other Essays, London 1923, S. 39-61. Ebd., S. 53. Weigall, Arthur: »The Malevolence of Ancient Spirits«, in: Weigall, Arthur: Tutankhamen and other Essays, London 1923, S. 110-126.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
die wechselnden Besitzerinnen einer altägyptischen Lampe, die jeweils von großem Unglück befallen werden, das wieder von ihnen ablässt, sobald sie die Lampe abgeben.44 Oder um eine vermeintlich böse Mumie, die Weigall in seinem Büro aufbewahrte und deren bösen Blick Weigall nach eigener Aussage spürte. Auch soll dieselbe Mumie die schwere Krankheit eines kleinen Mädchens verursacht haben, das plötzlich wieder gesundete, nachdem einige Kilometer Abstand zwischen Opfer und Mumie gebracht worden waren.45 Nicht zuletzt war es aber Carter selbst, der die Gerüchte um einen Fluch anfachte: Laut James hatte Carter lange vor der Entdeckung Tutanchamuns im Grab Amenophis II. einen Fluch gegenüber britischen Touristinnen erwähnt. Er habe erzählt, dass eine hieroglyphische Inschrift auf dem Sarkophag besage, dass jeder Grabräuber mit einem Fluch belegt werde.46 Darüber hinaus veröffentlichte Carter im Pearsonʼs Magazin einen Artikel »The Tomb and the Bird. A True Incident Connected with the Discovery of the Tomb of Tutankhamen«, der in der Ausgabe Juli–Dezember 1923 erschien, also nach Carnarvons Tod.47 In dieser fiktiven Geschichte schildert Carter den Tod seines Kanarienvogels, der im Moment der Graböffnung von einer Kobra verschlungen wurde, die sich in sein Haus und dann in den Vogelkäfig geschlichen hatte. Er beschreibt, dass die Kobra genauso ausgesehen haben soll wie der Uräus, der als Kopfschmuck die Stirn einer der Statuen des Tutanchamun in der Vorkammer zierte. Damit wurden die Gerüchte um einen Fluch, der auf dem Grab des Tutanchamun lastet, auch von offizieller Seite her angefacht. Die Kobra, die das erste Opfer des Fluches, den Kanarienvogel, verspeiste, konnte nämlich von der Leserin als Warnung interpretiert werden: eine Warnung, die lautete, dass jeder, die das Grab betreten würde, ein ähnlich tödliches Schicksal wie dem Vogel widerfahren würde. Arthur Weigall erzählt dieselbe Geschichte in seinem oben erwähnten Sammelband, der etwa zeitgleich mit Howard Carters Artikel im Pearsonʼs Magazin erschien.48 Das zeugt davon, wie beliebt und verbreitet die Geschichte über den Kanarienvogel und die Kobra war. Weigalls opportunistische Handlungen in Bezug auf seine Funktion als Journalist und Autor, der über alles schrieb, was Tutanchamun betraf, sowie seine Rolle bei der Verbreitung der Fluchgerüchte führten dazu,
44 45 46 47
48
Vgl. Ebd., S. 114-115. Vgl. Ebd., S. 116-118. Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 73. Vgl. Carter, Howard und White, Percy: »The Tomb of the Bird. A True Incident Connected with the Discovery of the Tomb of Tutankhamen«, in: Carter, Howard und Mace, Arthur C.: The Tomb of Tutankhamun. Volume 1: Search, Discovery and Clearance of the Tomb. Discovered by the Late Earl of Carnarvon and Howard Carter, Reprint der Ausgabe von 1923, London/New York 2014, S. ix–xiv. Vgl. Weigall: »The Malevolence of Ancient Spirits«, a.a.O., S. 110.
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dass er nach seinem Tod selbst als Opfer des Fluches geführt wurde. Die Sensationspresse, allen voran die Daily Mail, für die Weigall selbst als Korrespondent im Tal der Könige gearbeitet hatte, gab dem Fluch des Tutanchamun Schuld an Weigalls Tod.49 Der Fluch entpuppte sich nicht nur als neue Assoziation mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Tutanchamun im Besonderen, sondern vor allem auch als Assoziation, die von Beständigkeit zeugt. Aufgrund dessen soll der Fluch des Tutanchamun im Folgenden besprochen und einer genauen Analyse unterzogen werden, was in der ägyptologischen Fachliteratur bisher nicht geschehen ist.50
2.
Das Unheimliche im Mythos Ägypten – Sigmund Freud und der Fluch
Der Glaube an einen Fluch Tutanchamuns ist auch heute noch in der populären Rezeption des Pharaos sehr präsent. Der Fluch gehört zum Mythos Ägypten und ist eine weitere Assoziation, die den Mythos speist. Im barthesschen Mythossystem nimmt der Fluch die Position des Begriffs ein, der die Form, die Mumie und das Grab anfüllt. Die Korrelation von Begriff und Form, der Mythos Ägypten, kann zum Beispiel lauten, dass jedem, der ein ägyptisches Grab betritt, Unglück widerfahren wird, oder dass jeder, der in Kontakt mit der Mumie Tutanchamuns tritt, stirbt. Der Fluch bezieht sich nicht ausschließlich auf Tutanchamun, sondern kann generell mit altägyptischen Gräbern, Mumien und Grabbeigaben assoziiert werden. Anstatt nur vom Fluch Tutanchamuns zu sprechen, kann man daher auch allgemeiner und je nach Kontext vom »Fluch der Pharaonen«51 reden. Carters Biograf und Ägyptologe James äußert sich zum Fluch folgendermaßen: »the idea of a curse suited the popular image of ancient Egypt […]. To counter the excesses of such melodramatic beliefs by the invocation of common sense and the production of contrary evidence is a hopeless procedure. The idea of a curse is in a sense needed by many people to satisfy a kind of deep-seated expectation of supernatural evil.«52
49 50
51 52
Vgl. Hankey: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, a.a.O., S. 3. Wolfgang Wettengels schmales Buch über den Fluch des Tutanchamun trägt die Fakten über die Ereignisse zusammen, die zu den Fluchgerüchten führten und führt außerdem in die okkulten Gesellschaften ein, die sich mit dem Fluch befassten. Die gute historische Übersicht bleibt allerdings eine tiefere Analyse des Fluches schuldig. Vgl. Wettengel (Hg.): Der Fluch des Tutanchamun, a.a.O. Hornung, Erik: »Die Legende vom ›Fluch der Pharaonen‹«, in: Wettengel, Wolfgang (Hg.): Mythos Tutanchamun, Nördlingen 2003, S. 74-81, hier S. 74. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 370-371.
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dass er nach seinem Tod selbst als Opfer des Fluches geführt wurde. Die Sensationspresse, allen voran die Daily Mail, für die Weigall selbst als Korrespondent im Tal der Könige gearbeitet hatte, gab dem Fluch des Tutanchamun Schuld an Weigalls Tod.49 Der Fluch entpuppte sich nicht nur als neue Assoziation mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Tutanchamun im Besonderen, sondern vor allem auch als Assoziation, die von Beständigkeit zeugt. Aufgrund dessen soll der Fluch des Tutanchamun im Folgenden besprochen und einer genauen Analyse unterzogen werden, was in der ägyptologischen Fachliteratur bisher nicht geschehen ist.50
2.
Das Unheimliche im Mythos Ägypten – Sigmund Freud und der Fluch
Der Glaube an einen Fluch Tutanchamuns ist auch heute noch in der populären Rezeption des Pharaos sehr präsent. Der Fluch gehört zum Mythos Ägypten und ist eine weitere Assoziation, die den Mythos speist. Im barthesschen Mythossystem nimmt der Fluch die Position des Begriffs ein, der die Form, die Mumie und das Grab anfüllt. Die Korrelation von Begriff und Form, der Mythos Ägypten, kann zum Beispiel lauten, dass jedem, der ein ägyptisches Grab betritt, Unglück widerfahren wird, oder dass jeder, der in Kontakt mit der Mumie Tutanchamuns tritt, stirbt. Der Fluch bezieht sich nicht ausschließlich auf Tutanchamun, sondern kann generell mit altägyptischen Gräbern, Mumien und Grabbeigaben assoziiert werden. Anstatt nur vom Fluch Tutanchamuns zu sprechen, kann man daher auch allgemeiner und je nach Kontext vom »Fluch der Pharaonen«51 reden. Carters Biograf und Ägyptologe James äußert sich zum Fluch folgendermaßen: »the idea of a curse suited the popular image of ancient Egypt […]. To counter the excesses of such melodramatic beliefs by the invocation of common sense and the production of contrary evidence is a hopeless procedure. The idea of a curse is in a sense needed by many people to satisfy a kind of deep-seated expectation of supernatural evil.«52
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Vgl. Hankey: A Passion for Egypt. Arthur Weigall, Tutankhamun and the »Curse of the Pharaos«, a.a.O., S. 3. Wolfgang Wettengels schmales Buch über den Fluch des Tutanchamun trägt die Fakten über die Ereignisse zusammen, die zu den Fluchgerüchten führten und führt außerdem in die okkulten Gesellschaften ein, die sich mit dem Fluch befassten. Die gute historische Übersicht bleibt allerdings eine tiefere Analyse des Fluches schuldig. Vgl. Wettengel (Hg.): Der Fluch des Tutanchamun, a.a.O. Hornung, Erik: »Die Legende vom ›Fluch der Pharaonen‹«, in: Wettengel, Wolfgang (Hg.): Mythos Tutanchamun, Nördlingen 2003, S. 74-81, hier S. 74. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 370-371.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Aussagen wie diese, in denen eine gewisse Hoffnungslosigkeit mitschwingt, findet man oft bei den Fachvertreterinnen der Ägyptologie, die sich mit dem Fluch beschäftigen. Die Anhängerinnen des Fluches gelten als »lost case« der Ägyptologie, die aber wegen der puren Irrationalität der Sache trotzdem eine Faszination unter Ägyptologinnen auszulösen scheinen. Gerade deswegen ist es im Rahmen unserer Untersuchung notwendig, den Glauben an einen Fluch aus einer anderen Perspektive als die der Rationalität predigenden Ägyptologin zu betrachten, und zu analysieren, was dem Fluch eigentlich zu Grunde liegt. Der Fluch oder auch der »Fluch der Pharaonen«53 ist immer negativ konnotiert und bezeichnet malevolente Energie, die der Empfängerin ausschließlich Unglück bringen wird. Dieses Unglück drückt sich aus in Unfall, Krankheit bis hin zum Tod der verfluchten Person, kann sich aber auch in einer eher milden Form, der Verkettung unglücklicher Zusammenhänge, einer sogenannten Pechsträhne, äußern. Wenn wir von malevolenter Energie reden, kommen wir auf eine bereits bekannte Assoziation mit dem Alten Ägypten zurück: die der Magie oder auch Zauberkraft, die in den Bereich des Okkulten und damit zur negativen Rezeption des Alten Ägypten gehört. Der Fluch ist so zunächst als eine Agglomeration dunkler oder auch schwarzer Magie zu definieren. Die Sendenden des Fluches sind Personen des altägyptischen Kulturkreises, vornehmlich Priester54 , denen nachgesagt wird, geheimes Wissen über dunkle Mächte besessen zu haben. Beim Fluch sind geheime, dunkle Kräfte am Werk, die über 3000 Jahre hinweg wirken und auf eine Empfängerin unserer Zeit übertragen werden. Der Fluch steht in Bezug auf das Alte Ägypten in Zusammenhang mit Mumien und Gräbern, an denen sich die Empfängerin mit dem Fluch »ansteckt«. Die Mumie sowie das Grab sind die jeweiligen Formen und der Fluch der Begriff, der die Formen anfüllt. Der Besitz oder Kontakt mit der Mumie, deren Totenruhe gestört wird oder die man aus ihrem Grab entkommen lässt, bedeutet Schlechtes für den oder die Entdecker der Mumie. Gleiches gilt für das Eindringen ins Grab, der Behausung der Mumie, deren Totenruhe gestört wird. Der Fluch kann auch mit dem Eintreten ins Grab in Effekt treten oder mit dem Besitz einer Grabbeigabe, die aus dem Grab entwendet wird. Er ist eine Bestrafung für die Übertretung moralischer Grundsätze; hier für die Grabschändung, Störung der Totenruhe und Beraubung der Toten. Doch wie ist die Rezeption des Fluches und damit diejenige des Mythos Ägypten als, wie James sagt, »a kind of deep seated expectation of supernatural evil«55 zu verstehen? Ein Bedürfnis, eine Erwartungshaltung soll befriedigt werden, die im tiefsten Inneren des Menschen sitzt und mit einer Art von übernatürlichem Bösen rechnet. James kann den Fluch nicht rational erklären und sagt sogar, dass 53 54 55
Hornung: »Die Legende vom ›Fluch der Pharaonen‹«, a.a.O., S. 74. Im Folgenden wir die männliche Form verwandt. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 371.
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diejenigen, die an ihn glauben weder durch »common sense« noch durch »contrary evidence« davon abgebracht werden können.56 Der Glaube an einen Fluch ist also anscheinend weder rational erklärbar, noch kann die Rationalität dazu eingesetzt werden, diesen irrationalen Glauben zu revidieren. Wir haben gelernt, dass der Mythos nicht durch rationale Erklärungen zu beseitigen ist, da er sich innerhalb eines Augenblicks produziert. Als Motiv des Mythos Ägypten kann der Fluch durch eine rationale Erklärung tatsächlich nicht beseitigt werden. Davon abgesehen scheint der Fluch aber eine tiefsitzende Emotion auszulösen: die der Angst. Über diese emotionale Dimension lässt sich der Fluch im Rückgriff auf Sigmund Freuds Untersuchung des Unheimlichen besser verstehen.57 Freud versucht zunächst, den Begriff des Unheimlichen etymologisch zu bestimmen, bevor er Beispiele bespricht, die das Gefühl des Unheimlichen hervorrufen können. Er kündigt aber bereits vor seiner Untersuchung an, dass beide Wege zum gleichen Ergebnis führen werden.58 Zunächst stellt Freud fest, dass das Wort »unheimlich« das Gegenteil von »heimlich« im Sinne von »heimisch« oder »vertraut« sei. Daher liege die Auffassung nahe, das Unheimliche sei das nicht Vertraute, das deshalb schreckhaft sei, weil es nicht bekannt sei.59 Diese Definition erscheint Freud aber nicht vollständig. Eine Bemerkung F.W.J. Schellings gibt ihm den entscheidenden Hinweis auf das fehlende Element: »Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.«60 Am Leitfaden von Schellings Begriffsbestimmung kommt Freud zu seiner eigenen Definition des Unheimlichen. Nach Freud wird jeder Affekt einer Gefühlsregung durch die Verdrängung in Angst verwandelt. Unter den Fällen des Ängstlichen gibt es eine Gruppe, in der etwas Verdrängtes wiederkehrt. Diese Art des Ängstlichen ist das Unheimliche. Das Unheimliche ist demnach zu bestimmen als etwas Verdrängtes, das wiederkehrt. Das Unheimliche ist nichts Neues oder Fremdes, sondern ein dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist.61 Die Verdrängung ist somit die Bedingung dafür, dass etwas als Unheimliches wiederkehren kann. Das Verdrängte können
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Ebd., S. 370-371. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: ders.: Psychologische Schriften, in: Studienausgabe, herausgegeben von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1970, S. 241-274. Vgl. Ebd., S. 244. Freud verfasste den Aufsatz im Jahr 1919, d.h. nicht allzu lange vor dem Fund des Grabes des Tutanchamuns. Vgl. Ebd., S. 244-245. Ebd., S. 248. Freud bezieht sich auf folgende Klammerbemerkung in Schellings Philosophie der Mythologie: »(unheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist)«. Schelling, F.W.J.: Philosophie der Mythologie, in: Sämmtliche Werke, herausgegeben von K.F.A. Schelling, Bd. XII, Stuttgart/Augsburg 1857, S. 649. Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 263-264.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
entweder spezifische verdrängte Wunschregungen oder bestimmte überwundene Denkweisen sein. Freud zählt dabei fünf Momente auf: 1. der Animismus, der die Magie und Allmacht der Gedanken miteinschließt, 2. die Beziehung zum Tod, 3. die unbeabsichtigte Wiederholung, die das Doppelgängertum miteinschließt, 4. die Unheimlichkeit der Dunkelheit, der Stille und des Alleinseins und 5. der Kastrationskomplex. Nachfolgend werden wir untersuchen, wann und wie diese Momente des Unheimlichen durch die Rezeption des Mythos Ägypten zu Tage treten. Insofern das Gefühl des Unheimlichen die Rezeption des Mythos Ägypten begleitet, gehört auch das Unheimliche zum Mythos Ägypten und bildet somit einen Gegenstand unserer Untersuchung. Darüber hinaus können wir das Unheimliche im Mythos Ägypten als unsere dritte Facette identifizieren. Wir legen den Fokus auf das Motiv des Fluches, der als neue Assoziation mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Tutanchamun im Besonderen in Zusammenhang mit dessen Fundumständen entstanden ist. Wir erinnern uns: Der Fluch ist im barthesschen Mythossystem an der Stelle des Begriffs als Assoziationsverknüpfung mit dem Alten Ägypten zu verorten. Das Gefühl des Unheimlichen kann diese Assoziation begleiten. Die Formen, die der Fluch als Begriff und in seiner Begleitung das Gefühl des Unheimlichen anfüllt, sind das Grab, die Mumie, der Sarkophag oder andere Grabbeigaben. Die Korrelation von Begriff und Form ist dann der Fluch als malevolente, magische Kraft, die jeden trifft, der in Kontakt mit Grab und Mumie kommt. Das Gefühl der Angst, das dabei entstehen kann, erkennen wir nun als Gefühl des Unheimlichen. Andere Assoziationen mit dem Alten Ägypten, die entsprechende Formen füllen, können aber auch vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Immer dann, wenn diese Assoziationen ein Gefühl der Angst auslösen, das verdrängt war und wiederkehrt, kann sich ebenfalls ein Moment des Unheimlichen einstellen, der die Assoziation begleitet. Deshalb werden wir im Anschluss an die Analyse des Fluches weiter Momente des Unheimlichen im Mythos Ägypten in einem kursorischen Überblick untersuchen.
2.1
Der Fluch – Magie, Allmacht der Gedanken und das Gefühl des Unheimlichen
Wir hatten bemerkt, dass der Fluch der schwarzen Magie zugeordnet wird und dass er der empfangenden Person Unglück oder sogar den Tod bringen kann. Als Sendende haben wir die Priester des Alten Ägypten identifiziert. Magie oder auch schwarze Magie, die in den Bereich des Okkulten und des Geheimwissens gehört, haben wir bereits als Assoziationsverknüpfung mit dem Alten Ägypten kennengelernt. Die negativen Auswirkungen dieser schwarzen Magie, den Fluch, zieht diejenige auf sich, die in Kontakt mit dem Grab oder der Mumie tritt, welche die
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
entweder spezifische verdrängte Wunschregungen oder bestimmte überwundene Denkweisen sein. Freud zählt dabei fünf Momente auf: 1. der Animismus, der die Magie und Allmacht der Gedanken miteinschließt, 2. die Beziehung zum Tod, 3. die unbeabsichtigte Wiederholung, die das Doppelgängertum miteinschließt, 4. die Unheimlichkeit der Dunkelheit, der Stille und des Alleinseins und 5. der Kastrationskomplex. Nachfolgend werden wir untersuchen, wann und wie diese Momente des Unheimlichen durch die Rezeption des Mythos Ägypten zu Tage treten. Insofern das Gefühl des Unheimlichen die Rezeption des Mythos Ägypten begleitet, gehört auch das Unheimliche zum Mythos Ägypten und bildet somit einen Gegenstand unserer Untersuchung. Darüber hinaus können wir das Unheimliche im Mythos Ägypten als unsere dritte Facette identifizieren. Wir legen den Fokus auf das Motiv des Fluches, der als neue Assoziation mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Tutanchamun im Besonderen in Zusammenhang mit dessen Fundumständen entstanden ist. Wir erinnern uns: Der Fluch ist im barthesschen Mythossystem an der Stelle des Begriffs als Assoziationsverknüpfung mit dem Alten Ägypten zu verorten. Das Gefühl des Unheimlichen kann diese Assoziation begleiten. Die Formen, die der Fluch als Begriff und in seiner Begleitung das Gefühl des Unheimlichen anfüllt, sind das Grab, die Mumie, der Sarkophag oder andere Grabbeigaben. Die Korrelation von Begriff und Form ist dann der Fluch als malevolente, magische Kraft, die jeden trifft, der in Kontakt mit Grab und Mumie kommt. Das Gefühl der Angst, das dabei entstehen kann, erkennen wir nun als Gefühl des Unheimlichen. Andere Assoziationen mit dem Alten Ägypten, die entsprechende Formen füllen, können aber auch vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Immer dann, wenn diese Assoziationen ein Gefühl der Angst auslösen, das verdrängt war und wiederkehrt, kann sich ebenfalls ein Moment des Unheimlichen einstellen, der die Assoziation begleitet. Deshalb werden wir im Anschluss an die Analyse des Fluches weiter Momente des Unheimlichen im Mythos Ägypten in einem kursorischen Überblick untersuchen.
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Der Fluch – Magie, Allmacht der Gedanken und das Gefühl des Unheimlichen
Wir hatten bemerkt, dass der Fluch der schwarzen Magie zugeordnet wird und dass er der empfangenden Person Unglück oder sogar den Tod bringen kann. Als Sendende haben wir die Priester des Alten Ägypten identifiziert. Magie oder auch schwarze Magie, die in den Bereich des Okkulten und des Geheimwissens gehört, haben wir bereits als Assoziationsverknüpfung mit dem Alten Ägypten kennengelernt. Die negativen Auswirkungen dieser schwarzen Magie, den Fluch, zieht diejenige auf sich, die in Kontakt mit dem Grab oder der Mumie tritt, welche die
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Formen im barthesschen Mythossystem sind. Doch wie genau ist eigentlich der Begriff der Magie zu verstehen? Auch hier finden wir einen Hinweis bei Schelling: »Das Wort Magie bedeutet nichts anderes als das Wort Macht, potentia, ja es ist (zufolge der bekannten Verwandtschaft der persischen Sprache mit den germanischen Sprachen) nur Ein Wort, die lauterste Macht aber ist der Wille, und was ein Mensch durch sein bloßes stilles Wollen ohne äußere Bewegung, ja vielmehr durch Nichtbewegung, wirkt, das hat er magisch zu wirken gedacht.«62 Magie ist nach dieser Deutung die Macht, durch bloßen Willen, ohne Einsatz körperlicher Mittel, die äußere, körperliche Welt zu beeinflussen. Freuds Verständnis von Magie scheint an diese Bestimmung Schellings anzuschließen. Freud bezeichnet die Magie als eine Zuteilung von Zauberkraft an bestimmte Personen oder Gegenstände.63 Die Magie sei darüber hinaus die Technik des Animismus: »Das Prinzip, welches die Magie, die Technik der animistischen Denkweise, regiert, ist das der Allmacht der Gedanken.«64 Der Animismus wiederum ist, allgemein ausgedrückt, der Glaube an die Beseelung der Natur, an Geister und Dämonen. Teil dieses Animismus ist die »Allmacht der Gedanken«, die nach Freud die Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen Realität beschreibt. Dabei wird die Grenze zwischen Realität und Fantasie verwischt. Die Allmacht der Gedanken ist nichts anderes als der Glaube daran, die Außenwelt durch bloße Gedanken, Wünsche und Äußerungen verändern zu können.65 Die Magie dient dazu, den realen, das heißt den körperlichen Dingen die Gesetze der Allmacht der Gedanken aufzuzwingen, sei es durch Rituale, Zaubersprüche und Ähnliches. Laut Freud haben wir alle in unserer Entwicklung eine Phase des Animismus durchgemacht. Damit meint er sowohl eine infantile Phase in der Entwicklung des Individuums, in der »die Überbetonung der psychischen Realität im Vergleich zur materiellen«66 als Ausprägung der Allmacht der Gedanken erfolgte, als auch eine Phase der animistischen Weltanschauung innerhalb der allgemeinen menschlichen Entwicklung, die er mit der wissenschaftlichen Weltanschauung des
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Vgl. Schelling, F.W.J.: Philosophie der Offenbarung, in: Sämmtliche Werke, Bd. XIII, Stuttgart/ Augsburg 1858, S. 362-363. Zur Etymologie des Wortes Magie vgl. Pokorny, Julius: Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. II, Bern/Wien 1959, S. 695. Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 263. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: ders.: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, in: Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt a.M. 1974, S. 374. Vgl. Ebd., S. 375. Diese Definition der Allmacht der Gedanken entspricht freilich Schellings Definition der Magie. Freud verweist hier nicht auf Schelling, aber es ist gut möglich, dass er auch hier an ihn anschließt. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 267.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Kulturmenschen enden lässt. In der wissenschaftlichen Phase wurde die animistische Denkweise fast vollständig abgelegt, sie sei aber bei keinem vollständig erloschen. Sie habe Reste und Spuren hinterlassen, die sich ab und zu äußern würden, wenn wir Momente des Unheimlichen erleben.67 Hier handelt es sich ebenfalls um scheinbar überwundene Momente, die wieder emporkommen und damit das Gefühl des Unheimlichen entstehen lassen. Damit haben wir die Grundlage für ein vertieftes Verständnis des Fluches gelegt. Der Fluch gehört in den Bereich der Magie und ist somit der Allmacht der Gedanken zuzuordnen. Wie jede Form von Magie ist der Fluch ein Wille, die Außenwelt zu beeinflussen. Insofern diese Beeinflussung der Außenwelt beim Fluch darin besteht, jemandem durch bloßen Willen körperlich zu schaden, ist der Fluch nichts anderes als der konzentrierte Wille oder anders gesagt: die konzentrierte malevolente Energie des Willens, jemandem zu schaden. Der Fluch des Tutanchamun ist damit bestimmt als der konzentrierte Wille ägyptischer Priester, den Störenden von Tutanchamuns Totenruhe zu schaden. Mit Hilfe magischer Formeln oder Sprüche oder auch durch Rituale, soll die reale Welt die von den Priestern gewollten Änderungen erleiden. Das Insekt, das den tödlichen Stich auf Lord Carnarvon abgab, wurde demnach magisch, allein durch die Gedanken oder den Willen der Priester, zu diesem Akt veranlasst. Dass im aufgeklärten 20. Jahrhundert eine solche Erklärung auf Glauben stoßen konnte, lässt sich mit Freud durch das Weiterleben des eigentlich überwundenen Glaubens an die Allmacht der Gedanken erklären: »Wir oder unsere primitiven Urahnen haben dereinst diese Möglichkeiten für Wirklichkeit gehalten, wir waren von der Realität dieser Vorgänge überzeugt. Heute haben wir die Denkweise überwunden und glauben nicht mehr daran. Aber wir fühlen uns dieser neuen Überzeugung nicht ganz sicher. Die alten Überzeugungen leben noch ins uns fort und lauern auf Bestätigung. Sobald sich etwas in unserem Leben ereignet, was diesen alten abgelegten Überzeugungen eine Bestätigung zuzuführen scheint, haben wir das Gefühl des Unheimlichen. Folgendes Urteil wird daher gefällt: also ist es doch wahr, dass man einen anderen durch den bloßen Wunsch töten kann, dass die Toten weiterleben und an der Stätte ihrer früheren Tätigkeit sichtbar werden u.dgl.! Wer diese animistischen Überzeugungen bei sich gründlich und endgültig erledigt hat, für den entfällt das Unheimliche dieser Art. Das merkwürdige Zusammentreffen von Wunsch und Erfüllung, die rätselhafteste Wiederholung ähnlicher Erlebnisse an demselben Ort oder zum gleichen Datum, die täuschendsten Gesichtswahrnehmungen und verdächtigsten Geräusche werden ihn nicht irre machen, keine Angst in ihm erwecken, die man als Angst vor dem ›Unheimlichen‹ bezeichnen kann. Es handelt
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Vgl. Ebd., S. 263.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
sich also rein um eine Angelegenheit der Realitätsprüfung, um eine Frage der materiellen Realität.«68 Reste des Allmachtsglaubens regen sich in jenen Menschen, die den Fluch als real gegeben rezipieren. Jene Menschen, die im Fall des Fluches den Allmachtsglauben vollkommen überwunden haben, werden nicht an einen Fluch glauben. Diese Menschen sind vergleichbar mit den Mythologinnen im Gegensatz zu den Mythenleserinnen, die den Fluch und damit auch den Mythos als Realität rezipieren. Ein Ägyptologe wie James zum Beispiel, der das Alte Ägypten mit purer Rationalität betrachtet, hat im Falle des Fluches den Allmachtsglauben vollkommen abgelegt. Er ist ein Mythologe, weil er den Fluch nicht als Realität oder als mögliche Realität rezipiert. Andere aber, in denen sich der Glaube an die Allmacht der Gedanken noch regt, werden die Nachricht vom Fluch des Tutanchamun als unheimlich empfinden.
2.2
Der Tod, die Wiederkehr der Toten, die Belebung des Unbelebten – Momente des Unheimlichen
Nachdem wir uns über Freuds Theorie des Unheimlichen ein tieferes Verständnis des Fluches erarbeitet haben, können wir ergänzend die restlichen Motive des Mythos Ägypten untersuchen, die von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Darüber hinaus werden wir sehen, welche Formen des Mythos Momente des Unheimlichen hervorrufen können. Es handelt sich dabei vornehmlich um die Assoziation Tod, die Formen des Mythos Ägypten wie die Dunkelheit, das Grab und die Mumie anfüllt. Der Tod ist eine der stärksten Assoziationen mit dem Alten Ägypten, da die materiellen Hinterlassenschaften dieser Kultur, die heute noch am greifbarsten sind, aus dem funerären und sakralen Bereich stammen. Das liegt klar an der Beständigkeit des Materials, vornehmlich Stein, aus dem diese Altertümer erbaut wurden. Nach Freud ist das stärkste Beispiel für das Gefühl des Unheimlichen die Beziehung der Menschen zum Tod: »Außerdem erscheint vielen Menschen im allerhöchsten Grade das als unheimlich, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt.«69 Das Denken und Fühlen in der Beziehung zum Tod hat sich laut Freud seit Urzeiten kaum verändert. Das liege zum einen an der Stärke der ursprünglichen Gefühlsregungen und zum anderen an der intellektuellen Unsicherheit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis darüber, ob der Tod nun wirklich das notwendige Schicksal aller Lebewesen sei, oder aber ein vermeidbarer Zufall. Dass jeder sterben muss, leuchte
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Ebd., S. 270. Vgl. Ebd., S. 264.
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sich also rein um eine Angelegenheit der Realitätsprüfung, um eine Frage der materiellen Realität.«68 Reste des Allmachtsglaubens regen sich in jenen Menschen, die den Fluch als real gegeben rezipieren. Jene Menschen, die im Fall des Fluches den Allmachtsglauben vollkommen überwunden haben, werden nicht an einen Fluch glauben. Diese Menschen sind vergleichbar mit den Mythologinnen im Gegensatz zu den Mythenleserinnen, die den Fluch und damit auch den Mythos als Realität rezipieren. Ein Ägyptologe wie James zum Beispiel, der das Alte Ägypten mit purer Rationalität betrachtet, hat im Falle des Fluches den Allmachtsglauben vollkommen abgelegt. Er ist ein Mythologe, weil er den Fluch nicht als Realität oder als mögliche Realität rezipiert. Andere aber, in denen sich der Glaube an die Allmacht der Gedanken noch regt, werden die Nachricht vom Fluch des Tutanchamun als unheimlich empfinden.
2.2
Der Tod, die Wiederkehr der Toten, die Belebung des Unbelebten – Momente des Unheimlichen
Nachdem wir uns über Freuds Theorie des Unheimlichen ein tieferes Verständnis des Fluches erarbeitet haben, können wir ergänzend die restlichen Motive des Mythos Ägypten untersuchen, die von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Darüber hinaus werden wir sehen, welche Formen des Mythos Momente des Unheimlichen hervorrufen können. Es handelt sich dabei vornehmlich um die Assoziation Tod, die Formen des Mythos Ägypten wie die Dunkelheit, das Grab und die Mumie anfüllt. Der Tod ist eine der stärksten Assoziationen mit dem Alten Ägypten, da die materiellen Hinterlassenschaften dieser Kultur, die heute noch am greifbarsten sind, aus dem funerären und sakralen Bereich stammen. Das liegt klar an der Beständigkeit des Materials, vornehmlich Stein, aus dem diese Altertümer erbaut wurden. Nach Freud ist das stärkste Beispiel für das Gefühl des Unheimlichen die Beziehung der Menschen zum Tod: »Außerdem erscheint vielen Menschen im allerhöchsten Grade das als unheimlich, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt.«69 Das Denken und Fühlen in der Beziehung zum Tod hat sich laut Freud seit Urzeiten kaum verändert. Das liege zum einen an der Stärke der ursprünglichen Gefühlsregungen und zum anderen an der intellektuellen Unsicherheit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis darüber, ob der Tod nun wirklich das notwendige Schicksal aller Lebewesen sei, oder aber ein vermeidbarer Zufall. Dass jeder sterben muss, leuchte
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Ebd., S. 270. Vgl. Ebd., S. 264.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
keinem Menschen ein: »Unser Unbewußtes hat jetzt so wenig Raum wie vormals für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit.«70 Die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit erfährt demnach auch eine Verdrängung und kehrt als Unheimliches zurück, wenn man mit Dingen konfrontiert wird, die mit dem Bereich des Todes zu tun haben. Freud sagt außerdem, dass diese Angst vor dem Tod und den Toten in den Bereich der scheinbar überwundenen Überzeugungen der animistischen Phase des Menschen gehöre, die der Kulturmensch aber fast abgelegt habe. Man glaube heute nicht mehr, dass die Seelen der Verstorbenen sichtbar würden.71 Hier liegt die Bedingung der Verdrängung und damit die Bedingung dafür, dass der abgelegte Glaube als Unheimliches wiederkehren kann. Die Assoziation Tod, die an der Stelle des Begriffs im Mythossystem steht, kann daher stets vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Gräber im Allgemeinen und ägyptische Gräber im Besonderen sowie die Mumie werden unwillkürlich mit dem Tod assoziiert, weil sie an die eigene Sterblichkeit erinnern. Als Formen im barthesschen Mythossystem werden Grab und Mumie vom Begriff des Todes, der vom Gefühl des Unheimlichen begleitet wird, angefüllt. Der oft gute Erhaltungszustand der Mumie, der die individuellen Gesichtszüge der Verstorbenen erkennen lässt, sowie die konservierte Haut, Haare und Fingernägel, haben etwas unheimlich Lebendiges an sich. Hier stoßen wir auf einen weiteren Aspekt des Unheimlichen bei Freud, der von dem Unheimlichen der Belebung unbelebter Dinge spricht. Eine besonders günstige Bedingung für das Unheimliche sieht Freud darin, wenn eine intellektuelle Unsicherheit geweckt wird, ob etwas belebt oder leblos sei, wenn das Leblose die Ähnlichkeit mit dem Lebenden zu weit treibt. Als Beispiele nennt er Puppen und Automaten, die, in fiktiven Geschichten, plötzlich lebendig werden und von denen eine unheimliche Wirkung ausgeht. Freud erkennt in diesem unheimlichen Moment die Wiederkehr eines Kinderwunsches oder Kinderglaubens, da Kinder ihre Puppen oft wie lebendige Wesen behandeln.72 Mit ihrer physischen Unversehrtheit, hervorgerufen durch den Prozess der Mumifizierung, in der individuelle physiognomische Merkmale eines Menschen zu erkennen sind, scheint die Mumie auch nach dem Tod lebendig; also untot. Dabei ist die Wiederkehr der Toten, die die Lebenden heimsuchen, nach Freud eine Urangst des Menschen. Somit gehört die Mumie in den Bereich des Unheimlichen. Mumien werden aufrecht hingestellt, damit sie lebendig erscheinen. Sie werfen dann auch wieder einen Schatten, den Tote nicht werfen, weil sie liegen.73 Man könnte gar mit einer Wiederkehr der Toten rechnen, da
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Ebd. Vgl. Ebd., S. 265. Vgl. Ebd., S. 256-257. Vgl. Rank, Otto: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, Leipzig/Wien/Zürich 1925, S. 84.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Muskeln und Sehnen der Mumie noch vorhanden sind und für eine unheimliche Beweglichkeit sprechen. Ein weiterer Aspekt wird hier deutlich, der symptomatisch für die Zeit der Auffindung Tutanchamuns kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ist: In diesem Krieg wurde eine ganze Generation junger Männer vernichtet. Es gab kaum eine Familie, die verschont war vom Verlust, Verschwinden oder der Verletzung eines Familienmitgliedes. Überall waren der Tod und die Ansicht verstümmelter Körper junger Männer an der Tagesordnung. Tutanchamun, selbst als junger Mann verstorben, erinnerte an diese Opfer des Ersten Weltkrieges. In dieser Zeit der Verarbeitung oder Verdrängung der Kriegsschrecken löste nun Tutanchamun eine Wiederkehr des Verdrängten beziehungsweise überwundener Vorstellungen aus. Ein seit über 3000 Jahren verstorbener junger Mann wird wiedergefunden. Das sprach auf der einen Seite die Hoffnung derjenigen Familien an, die noch immer auf Nachricht ihrer verschwundenen Söhne warteten. Auf der anderen Seite war Tutanchamuns Leichnam durch die Mumifizierung noch erhalten, ähnelte aber den verstümmelten und verbrannten Körpern der Kriegsopfer. Seine in Bandagen gewickelte Mumie, aber auch seine lebensgroßen Statuen, die zum Schutz während des Transports ebenfalls in Bandagen eingewickelt waren, erinnerten an die verbundenen Verletzungen der Verwundeten. Eine solche Wiederentdeckung oder Wiederkehr eines verstorbenen jungen Mannes mag deshalb das Gefühl des Unheimlichen ausgelöst haben. Der Glaube daran, dass die Toten doch unter uns weilen, wiederkehren und sich eventuell als Feind entpuppen können, der die Überlebenden ins Jenseits mitnehmen will, wird heraufbeschworen.74 Dieses Gefühl des Unheimlichen, das hier vom konkreten Beispiel der Mumie Tutanchamuns ausgeht, gilt natürlich für alle ägyptischen Mumien. Wir haben erfahren, dass alles, was mit dem Tod zusammenhängt, eine unheimliche Wirkung haben kann. Weiter führt Freud aus, dass die »Krone der Unheimlichkeit«, die Angst davor sei, scheintot begraben zu werden.75 Diese Angst hänge mit der »Phantasie vom Leben im Mutterleib«76 zusammen. Das »ehemals Heimische, Altvertraute«, der Mutterleib oder »Eingang zur alten Heimat«, in dem jeder sein Leben begann, wird hier unheimlich.77 »Die Vorsilbe ›un‹ an diesem Worte ist […] die Marke der Verdrängung.«78 »Ausgerechnet die Angst, lebendig begraben zu werden, entpuppt sich als maskierter Wunsch nach einem Leben im mütterlichen Körper. Was inkommensurabel scheint – Angst auf der einen und Wunsch
74 75 76 77 78
Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 265. Ebd., S. 266. Ebd. Ebd., S. 267. Ebd.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
auf der anderen Seite, Tod vs. Geburt – verbindet sich im Unheimlichen.«79 Johannes Binotto weist auf die generelle Räumlichkeit des Unheimlichen hin. Diese Verbindung von Tod und Geburt, die Binotto herausstellt, verbindet sich daher nicht nur im Unheimlichen, sondern auch im Ort des Unheimlichen, dem ägyptischen Grab als Ort der Mumie und als Ort des Todes, aber auch als Ort, an dem alles für ein Leben nach dem Tod ausgerichtet ist, das heißt für die Wiedergeburt der Grabinhaberin oder des Grabinhabers. Das tiefe, dunkle, enge Felsgrab kann daher an den Mutterleib, den »Eingang zur alten Heimat«80 erinnern und somit die Angst hervorrufen, scheintot begraben zu werden. Diese »Krone der Unheimlichkeit« wird uns im dritten Kapitel, in einer Ausstellung des 21. Jahrhunderts, Scanning Sethos, wieder begegnen.
2.3
Das Unheimliche der Wiederholung und das Unheimliche des Doppelgängers
Ein weiteres unheimliches Moment sieht Freud im »Doppelgängertum, in all seinen Abstufungen und Ausbildungen«.81 Darunter fallen »Ich-Verdoppelung, IchTeilung und Ich-Vertauschung – und endlich die beständige Wiederkehr des Gleichen«.82 Freud bezeichnet den Doppelgänger als »eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs« und als »Verdoppelung zur Abwehr gegen die Vernichtung«.83 Mit diesen Feststellungen verweist er auf Otto Rank, der die Entwicklung des Doppelgängermotivs eingehend untersucht hat. Rank sieht den Ursprung des Doppelgängers in der »energischen Dementierung des Todes«.84 Für ihn ist die Herausbildung der Vorstellung der unsterblichen Seele die Herausbildung des ersten Doppelgängers des Leibes.85 Diese Seelenvorstellung war nichts anderes als »eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs«.86 Nach Freud entwickelte sich
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Binotto, Johannes: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur, Zürich/Berlin 2013, S. 32-33. Ebd., S. 267. Ebd., S. 257. Ebd. Ebd., S. 258. Das Ich bezeichnet hier das Selbst als Ganzes eines Menschen, inklusive seines Körpers; dieses Verständnis vom Ich als Person darf nicht verwechselt werden mit dem Ich als Instanz des psychischen Apparates, von dem im Aufsatz über das Unheimliche nicht die Rede ist. Otto Ranks Begriff des Ichs ist ebenfalls als Selbst zu lesen. Vgl. zur Entwicklung des freudschen Ich-Begriffs: Laplanche, J. und Pontalis, J.-B.: »Ich«, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, S. 184-202. Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, a.a.O., S. 115. Vgl. Ebd., S. 113. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 258.
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
auf der anderen Seite, Tod vs. Geburt – verbindet sich im Unheimlichen.«79 Johannes Binotto weist auf die generelle Räumlichkeit des Unheimlichen hin. Diese Verbindung von Tod und Geburt, die Binotto herausstellt, verbindet sich daher nicht nur im Unheimlichen, sondern auch im Ort des Unheimlichen, dem ägyptischen Grab als Ort der Mumie und als Ort des Todes, aber auch als Ort, an dem alles für ein Leben nach dem Tod ausgerichtet ist, das heißt für die Wiedergeburt der Grabinhaberin oder des Grabinhabers. Das tiefe, dunkle, enge Felsgrab kann daher an den Mutterleib, den »Eingang zur alten Heimat«80 erinnern und somit die Angst hervorrufen, scheintot begraben zu werden. Diese »Krone der Unheimlichkeit« wird uns im dritten Kapitel, in einer Ausstellung des 21. Jahrhunderts, Scanning Sethos, wieder begegnen.
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Das Unheimliche der Wiederholung und das Unheimliche des Doppelgängers
Ein weiteres unheimliches Moment sieht Freud im »Doppelgängertum, in all seinen Abstufungen und Ausbildungen«.81 Darunter fallen »Ich-Verdoppelung, IchTeilung und Ich-Vertauschung – und endlich die beständige Wiederkehr des Gleichen«.82 Freud bezeichnet den Doppelgänger als »eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs« und als »Verdoppelung zur Abwehr gegen die Vernichtung«.83 Mit diesen Feststellungen verweist er auf Otto Rank, der die Entwicklung des Doppelgängermotivs eingehend untersucht hat. Rank sieht den Ursprung des Doppelgängers in der »energischen Dementierung des Todes«.84 Für ihn ist die Herausbildung der Vorstellung der unsterblichen Seele die Herausbildung des ersten Doppelgängers des Leibes.85 Diese Seelenvorstellung war nichts anderes als »eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs«.86 Nach Freud entwickelte sich
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Binotto, Johannes: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur, Zürich/Berlin 2013, S. 32-33. Ebd., S. 267. Ebd., S. 257. Ebd. Ebd., S. 258. Das Ich bezeichnet hier das Selbst als Ganzes eines Menschen, inklusive seines Körpers; dieses Verständnis vom Ich als Person darf nicht verwechselt werden mit dem Ich als Instanz des psychischen Apparates, von dem im Aufsatz über das Unheimliche nicht die Rede ist. Otto Ranks Begriff des Ichs ist ebenfalls als Selbst zu lesen. Vgl. zur Entwicklung des freudschen Ich-Begriffs: Laplanche, J. und Pontalis, J.-B.: »Ich«, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, S. 184-202. Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, a.a.O., S. 115. Vgl. Ebd., S. 113. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 258.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
aber der Doppelgänger mit der Zeit von einer »Versicherung des Fortlebens zu einem unheimlichen Vorboten des Todes«.87 Und hier tritt die Unheimlichkeit zu Tage, die vom Doppelgänger ausgeht: Der Doppelgänger ist eine Figur, die »den überwundenen seelischen Urzeiten« angehört, eine Figur, »die damals allerdings einen freundlichen Sinn hatte«.88 Diese Phase »der uneingeschränkten Selbstliebe«, »des primären Narzissmus«, an die der Doppelgänger erinnert, gilt nach Freud als überwunden, man kann sie allerdings noch im Seelenleben des Kindes beobachten.89 »Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden«90 und erweckt das Gefühl des Unheimlichen, weil er überwundene Ansichten wiederkehren lässt. Der Doppelgänger wird außerdem zur Projektionsfläche von dem Ich anstößigen Inhalten. Im Ich gibt es laut Freud eine Instanz, »die der Selbstbeobachtung und Selbstkritik dient« und die »psychische Zensur leistet«.91 Er nennt sie vereinfacht »das Gewissen«92 . »Dieser der Ich-Kritik anstößige Inhalte«, wie »unterbliebene Möglichkeiten« und »unterdrückte Willensentscheidungen« werden aus dem Ich hinaus- und in den Doppelgänger hineinprojiziert.93 Auch dieses Moment des Unheimlichen findet in altägyptischen Gräbern einen nahrhaften Boden. Die alten Ägypten kannten nicht nur eine unsterbliche Seele, sondern sogar drei Aspekte der Seele: Ba, Ka und Ach.94 Somit finden wir hier drei Doppelgänger des Leibes. Freud spricht von einer »Verdoppelung zur Abwehr gegen die Vernichtung«, die er als Antrieb der alten Ägypter sieht, das Bild des Verstorbenen »in dauerhaftem Stoff zu formen«.95 Hiermit meint er die altägyptische Kunst: Rund- und Flachbild.96 Im Grab wird der Verstorbene in den Wanddekorationen mehrfach dargestellt. Im Grab von Sethos I. zum Beispiel sind es Szenen, die den Verstorbenen im Umgang mit den Göttern zeigen. Er opfert vor ihnen und wird von den Göttern im Gegenzug in ihre Reihen aufgenommen. Im Raum I, Belzonis 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96
Ebd. Ebd., S. 259. Ebd., S. 258. Ebd., S. 259. Ebd., S. 258. Ebd. Ebd., S. 258-259. Den Schatten könnte man noch als einen vierten seelischen Aspekt hinzuzählen. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 258. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Freud sehr interessiert war am Alten Ägypten und dieses Interesse nachhaltig in seinem Buch »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« festgehalten hat. Von ägyptologischer Seite wurde dieses freudsche Spätwerk von Jan Assmann und jüngst von Rolf Krauss behandelt. Vgl. Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen, Amsterdam 1939; Vgl. Assmann, Jan: Moses der Ägypter, Frankfurt a.M. 2000; Vgl. Krauss, Rolf: Sigmund Freud und sein Buch Der Mann Moses. Eine kritische Würdigung aus ägyptologischer und anthropologischer Sicht, IBEAS 22, Berlin/London 2019.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Hall of Beauties, im Grab Sethos I. wiederholt sich die Darstellung des Pharaos vor einer Gottheit mehrfach (Abbildung 19). Zudem werden die Darstellungen auf der gegenüberliegenden Wand gespiegelt. Hier sehen wir also eine mehrfache Verdoppelung sowie eine Spiegelung. Im Rundbild wird der Verstorbene in Form seiner Statuen, anthropomorphen Sarkophage oder auch Maske, wie bei Tutanchamun, mehrfach verdoppelt. Es ist durchaus eine »Verdoppelung zur Abwehr gegen die Vernichtung«97 , die hier stattfindet, wünscht sich doch der Verstorbene ein Weiterleben im Jenseits, was ihm durch die verschiedenen Szenen und Themen der Darstellungen im Grab ermöglicht werden soll. Das heißt, dass die Menschen des Alten Ägypten den Doppelgänger positiv wahrnahmen, im Gegensatz zur modernen Wahrnehmung des Doppelgängers, der mit dem Tod assoziiert wird.98 Das altägyptische Grab mit seinen zahlreichen Doppelgängern des Verstorbenen erinnert also in zweifacher Weise an den Tod: einmal in seiner Funktion als Ruhestätte eines Verstorbenen und das andere Mal mit Hilfe seiner zahlreichen Darstellungen des Verstorbenen, seinen Doppelgängern. Auch die Mumie als konservierte Gestalt des einst lebendigen Menschen erscheint als unheimlicher Doppelgänger des Verstorbenen. »Das Unheimliche der gleichartigen Wiederkehr« ist nach Freud ebenfalls aus dem infantilen Seelenleben abzuleiten.99 Er sieht dessen Ursprung im Wiederholungszwang, der von den Triebregungen ausgeht und sich im seelischen Unbewussten verorten lässt. Der Wiederholungszwang ist dem unbewussten Verdrängten zuzuordnen.100 Bei kleinen Kindern dagegen sei dieser Zwang nach Wiederholung aber noch ganz offensichtlich.101 Unheimlich ist nach Freud dann dasjenige, das an den inneren Wiederholungszwang erinnert.102 »Die beständige Wiederkehr des Gleichen« ist laut Freud auf engste verbunden mit dem Doppelgängertum und zwar deswegen, weil es dabei um »die Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge, Charaktere, Schicksale, verbrecherischen Taten, ja der Namen durch mehrere aufeinanderfolgende Generationen« geht.103 Allerdings sei das »Moment
97 98
Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 258. Das Spiegel- und Schattenbild zählt nach Rank ebenfalls zu den Doppelgängern und ist demnach heute auch negativ konnotiert. Vgl. Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, a.a.O., S. 18. Dagegen ist die Hieroglyphe für »Leben« im mittelägyptischen dieselbe wie für das Wort Spiegel und hat auch denselben Lautwert ankh. Das Spiegelbild und der Spiegel werden also mit Leben, am Leben sein, gleichgesetzt. Damit ist das Spiegelbild eine weitere Versicherung des Lebens. 99 Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 261. 100 Vgl. Freud, Sigmund: »Jenseits des Lustprinzips«, in: ders.: Psychologie des Unbewußten, in: Studienausgabe, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1975, S. 213-272, hier S. 228-233. 101 Vgl. Ebd., S. 224-227. 102 Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 261. 103 Ebd., S. 257.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
der Wiederholung des Gleichartigen […] als Quelle des unheimlichen Gefühls« bestimmten Bedingungen und bestimmten Umständen unterworfen.104 So zum Beispiel, wenn man sich in einer Situation befindet, in der man hilflos ist oder dann, wenn die Wiederholung vollkommen unbeabsichtigt ist. Dann würde sich »die Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren«105 aufdrängen und man würde nicht mehr von Zufall sprechen. Freud nennt das Beispiel der Zahl 62, die, wenn sie einem mehrmals am gleichen Tag begegne – Adresse, Hotelzimmer, Eisenbahnwagen – das Gefühl des Unheimlichen auslösen kann. In diesem Fall könnte man in der stetigen Wiederkehr der Zahl 62 das zugewiesene Lebensalter erkennen oder ihr eine andere geheime Bedeutung zuschreiben. Das wäre natürlich Aberglaube und der fiele wiederum in den Bereich des Animismus.106 Im Falle des Fluches des Tutanchamun, der, wie wir festgestellt haben, ebenfalls in den Bereich des Animismus und genauer zur Allmacht der Gedanken gehört, glaubt man bis heute die unheimliche Wiederholung des Gleichen verfolgen zu können. Dem Fluch wird nämlich nicht nur der Tod Lord Carnarvons zugeschrieben, sondern auch die Todesfälle aller an den Ausgrabungen in irgendeiner Weise beteiligten Personen. Der Tod der beteiligten Personen, auch wenn diese Todesfälle Jahre oder Jahrzehnte auseinander liegen, wird als Wiederholung des Gleichartigen aufgefasst, weil die Todesursache dem gleichen unheimlichen Phänomen, dem Fluch, zugedacht wird.
2.4
Das Unheimliche der Dunkelheit
Das Grab Tutanchamuns sowie diejenigen der Könige des Neuen Reiches befinden sich im Tal der Könige. Die Gräber spiegeln die jeweiligen Vorstellungen des Jenseits und der Unterwelt nicht nur in ihrer Dekoration wider. Die Architektur der Gräber – tief in den Felsen getriebene Stollen, in die kein Tageslicht vordringt – spiegelt gleichermaßen die Vorstellungen eines unterweltlichen Jenseits. War der König bestattet und das Grab versiegelt, sollte kein Mensch mehr das Grab betreten. Obwohl heute bereits Millionen von Menschen die Gräber im Tal der Könige besichtigt haben, wurden die Gräber nie für den Zweck des Besuches gebaut. Zum Gedenken der Verstorbenen gab es andere Gebäude und Vorrichtungen. In ihrer ursprünglichen Funktion sind die Gräber Orte der Dunkelheit, in die kein Tageslicht eindringen kann. Sie sind außerdem Orte der Stille und Orte des Alleinseins, die exklusiv den Toten vorbehalten waren. Nach Freud sind Dunkelheit, Stille und Alleinsein Momente, die unheimlich sein können. Die Angst vor der Dunkelheit, so Freud, ist eine typische Kinderangst, die dadurch ausgelöst
104 Ebd., S. 259. 105 Ebd., S. 260. 106 Vgl. Ebd., S. 259-261.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
der Wiederholung des Gleichartigen […] als Quelle des unheimlichen Gefühls« bestimmten Bedingungen und bestimmten Umständen unterworfen.104 So zum Beispiel, wenn man sich in einer Situation befindet, in der man hilflos ist oder dann, wenn die Wiederholung vollkommen unbeabsichtigt ist. Dann würde sich »die Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren«105 aufdrängen und man würde nicht mehr von Zufall sprechen. Freud nennt das Beispiel der Zahl 62, die, wenn sie einem mehrmals am gleichen Tag begegne – Adresse, Hotelzimmer, Eisenbahnwagen – das Gefühl des Unheimlichen auslösen kann. In diesem Fall könnte man in der stetigen Wiederkehr der Zahl 62 das zugewiesene Lebensalter erkennen oder ihr eine andere geheime Bedeutung zuschreiben. Das wäre natürlich Aberglaube und der fiele wiederum in den Bereich des Animismus.106 Im Falle des Fluches des Tutanchamun, der, wie wir festgestellt haben, ebenfalls in den Bereich des Animismus und genauer zur Allmacht der Gedanken gehört, glaubt man bis heute die unheimliche Wiederholung des Gleichen verfolgen zu können. Dem Fluch wird nämlich nicht nur der Tod Lord Carnarvons zugeschrieben, sondern auch die Todesfälle aller an den Ausgrabungen in irgendeiner Weise beteiligten Personen. Der Tod der beteiligten Personen, auch wenn diese Todesfälle Jahre oder Jahrzehnte auseinander liegen, wird als Wiederholung des Gleichartigen aufgefasst, weil die Todesursache dem gleichen unheimlichen Phänomen, dem Fluch, zugedacht wird.
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Das Unheimliche der Dunkelheit
Das Grab Tutanchamuns sowie diejenigen der Könige des Neuen Reiches befinden sich im Tal der Könige. Die Gräber spiegeln die jeweiligen Vorstellungen des Jenseits und der Unterwelt nicht nur in ihrer Dekoration wider. Die Architektur der Gräber – tief in den Felsen getriebene Stollen, in die kein Tageslicht vordringt – spiegelt gleichermaßen die Vorstellungen eines unterweltlichen Jenseits. War der König bestattet und das Grab versiegelt, sollte kein Mensch mehr das Grab betreten. Obwohl heute bereits Millionen von Menschen die Gräber im Tal der Könige besichtigt haben, wurden die Gräber nie für den Zweck des Besuches gebaut. Zum Gedenken der Verstorbenen gab es andere Gebäude und Vorrichtungen. In ihrer ursprünglichen Funktion sind die Gräber Orte der Dunkelheit, in die kein Tageslicht eindringen kann. Sie sind außerdem Orte der Stille und Orte des Alleinseins, die exklusiv den Toten vorbehalten waren. Nach Freud sind Dunkelheit, Stille und Alleinsein Momente, die unheimlich sein können. Die Angst vor der Dunkelheit, so Freud, ist eine typische Kinderangst, die dadurch ausgelöst
104 Ebd., S. 259. 105 Ebd., S. 260. 106 Vgl. Ebd., S. 259-261.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
wird, dass man die geliebte Person, Mutter oder Vater, nicht mehr sieht.107 Das Kind hat Angst, dass die Mutter für immer fort sein könnte. Die Dunkelheit kann also die scheinbar überwundene alte Kinderangst vor der Dunkelheit auch im Erwachsenen heraufbeschwören: »Von der Einsamkeit, Stille und Dunkelheit können wir nichts anderes sagen, als dass dies wirklich die Momente sind, an welche die bei den meisten Menschen nie ganz erloschene Kinderangst geknüpft ist.«108 Eine alte Denkweise kehrt hier wieder und zeigt sich als Moment des Unheimlichen. Das ägyptische Grab, in dem Dunkelheit vorherrscht, kann die Kinderangst vor der Dunkelheit wieder hervorrufen. Deshalb wirkt der dunkle Schlund, der Grabeingang, der im starken Kontrast zur grellen Wüste steht, auf diejenigen, die in das Grab hinabsteigen, unheimlich. Die Dunkelheit ist, wie wir gesehen haben und noch sehen werden, eines der beliebtesten Mittel der Inszenierung von Ägyptenausstellungen und zugleich eine der wichtigsten Formen des Mythos Ägypten in Ausstellungen. Durch sie soll eine Grabesatmosphäre ausgelöst werden, die begleitet wird von Assoziationen wie Tod und Geheimnis. Diese Dunkelheit in Ausstellungen kann, über die von ihr erzeugte Grabesatmosphäre, ein Gefühl des Unheimlichen auslösen. Das Gefühl des Unheimlichen wird auf der einen Seite ausgelöst durch die Kinderangst vor der Dunkelheit, auf der anderen Seite aber auch durch die Assoziation Tod, die von der Form Dunkelheit und der Grabesatmosphäre evoziert wird.
2.5
Das Unheimliche des Kastrationskomplexes
Im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert wurde nicht nur mit vollständigen Mumien, sondern auch mit Mumienfragmenten gehandelt. Dabei wurden abgetrennte Gliedmaßen, vor allem mumifizierte Hände und Füße, an Touristinnen und Sammlerinnen in Europa verkauft. Freud konstatiert diesen abgetrennten Gliedern ebenfalls etwas Unheimliches, »besonders wenn ihnen […] noch eine selbstständige Tätigkeit zugedacht wird«109 . Diese Unheimlichkeit rühre von »der Annäherung an den Katrationskomplex«110 her, einem infantilen Moment, das verdrängt wurde. Abgetrennte Gliedmaße sowie der Verlust der Augen oder der Sehkraft gelten nach 107 Vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders.: Sexualleben, in: Studienausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1972, S. 127. 108 Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 274. 109 Ebd., S. 266. 110 Ebd. Der Kastrationskomplex beinhaltet die Kastrationsfantasie, die dem Kind eine Erklärung dafür gibt, warum es anatomische Geschlechtsunterschiede gibt: entweder hat man einen Phallus oder man ist kastriert. Die Kastrationsfantasie löst die Kastrationsangst aus, die Angst davor den Phallus zu verlieren (beim Jungen), bzw. den Phallus bereits verloren zu haben (beim Mädchen). Vgl. Laplanche, J. und Pontalis, J.-B.: »Kastrationskomplex«, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, S. 242-247.
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
wird, dass man die geliebte Person, Mutter oder Vater, nicht mehr sieht.107 Das Kind hat Angst, dass die Mutter für immer fort sein könnte. Die Dunkelheit kann also die scheinbar überwundene alte Kinderangst vor der Dunkelheit auch im Erwachsenen heraufbeschwören: »Von der Einsamkeit, Stille und Dunkelheit können wir nichts anderes sagen, als dass dies wirklich die Momente sind, an welche die bei den meisten Menschen nie ganz erloschene Kinderangst geknüpft ist.«108 Eine alte Denkweise kehrt hier wieder und zeigt sich als Moment des Unheimlichen. Das ägyptische Grab, in dem Dunkelheit vorherrscht, kann die Kinderangst vor der Dunkelheit wieder hervorrufen. Deshalb wirkt der dunkle Schlund, der Grabeingang, der im starken Kontrast zur grellen Wüste steht, auf diejenigen, die in das Grab hinabsteigen, unheimlich. Die Dunkelheit ist, wie wir gesehen haben und noch sehen werden, eines der beliebtesten Mittel der Inszenierung von Ägyptenausstellungen und zugleich eine der wichtigsten Formen des Mythos Ägypten in Ausstellungen. Durch sie soll eine Grabesatmosphäre ausgelöst werden, die begleitet wird von Assoziationen wie Tod und Geheimnis. Diese Dunkelheit in Ausstellungen kann, über die von ihr erzeugte Grabesatmosphäre, ein Gefühl des Unheimlichen auslösen. Das Gefühl des Unheimlichen wird auf der einen Seite ausgelöst durch die Kinderangst vor der Dunkelheit, auf der anderen Seite aber auch durch die Assoziation Tod, die von der Form Dunkelheit und der Grabesatmosphäre evoziert wird.
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Das Unheimliche des Kastrationskomplexes
Im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert wurde nicht nur mit vollständigen Mumien, sondern auch mit Mumienfragmenten gehandelt. Dabei wurden abgetrennte Gliedmaßen, vor allem mumifizierte Hände und Füße, an Touristinnen und Sammlerinnen in Europa verkauft. Freud konstatiert diesen abgetrennten Gliedern ebenfalls etwas Unheimliches, »besonders wenn ihnen […] noch eine selbstständige Tätigkeit zugedacht wird«109 . Diese Unheimlichkeit rühre von »der Annäherung an den Katrationskomplex«110 her, einem infantilen Moment, das verdrängt wurde. Abgetrennte Gliedmaße sowie der Verlust der Augen oder der Sehkraft gelten nach 107 Vgl. Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in: ders.: Sexualleben, in: Studienausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1972, S. 127. 108 Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 274. 109 Ebd., S. 266. 110 Ebd. Der Kastrationskomplex beinhaltet die Kastrationsfantasie, die dem Kind eine Erklärung dafür gibt, warum es anatomische Geschlechtsunterschiede gibt: entweder hat man einen Phallus oder man ist kastriert. Die Kastrationsfantasie löst die Kastrationsangst aus, die Angst davor den Phallus zu verlieren (beim Jungen), bzw. den Phallus bereits verloren zu haben (beim Mädchen). Vgl. Laplanche, J. und Pontalis, J.-B.: »Kastrationskomplex«, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, S. 242-247.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Freud als Kastrationsersatz und damit als Abmilderung der Kastration.111 Diese abgetrennten Gliedmaßen können nun den verdrängten Kastrationskomplex wiederkehren lassen und ein Gefühl des Unheimlichen auslösen. Abgetrennte Gliedmaße von Mumien werden auch heute noch häufig als Exponate in Ausstellungen präsentiert und können somit bei den Besucherinnen ein Gefühl des Unheimlichen auslösen.
2.6
Der Ort des Unheimlichen – Das altägyptische Grab
Das Grab als Form des Mythos Ägypten ist der Ort, an dem sich die genannten Momente des Unheimlichen versammeln. Durch die Konzentration der Momente des Unheimlichen ist es ein Ort, der gleich mehrfach unheimlich ist. Fassen wir die Momente des Unheimlichen im Grab zusammen: 1. Als Ruhestätte der Toten und als Ort der Verdoppelung erinnert das Grab an den Tod. Der Tod ist ein Motiv des Mythos Ägypten und wird mit all seinen verwandten Motiven vom Gefühl des Unheimlichen begleitet. Besonders die Mumie führt die eigene Sterblichkeit vor Augen und kann außerdem die Angst vor der Wiederkehr der Toten auslösen, die den Lebenden Böses wollen (a). Man kann sich außerdem nicht ganz sicher sein, ob dieser konservierte Leichnam nicht doch belebt ist und wieder auferstehen kann (b). Und schließlich die Krönung des Unheimlichen: Der Gang ins dunkle Grab, sei es im Tal der Könige oder in Ausstellungsinszenierungen, mit seinen engen, dunklen Räumen kann die Angst heraufbeschwören, lebendig begraben zu werden, was wiederum ein Gefühl des Unheimlichen auslösen kann (c). 2. Die Abbildung des Verstorbenen in Rund- und Flachbild, die das Grab zieren, stellen dessen Doppelgänger dar. Diese können ebenfalls ein Gefühl des Unheimlichen auslösen, da sie sich von einer Rückversicherung gegen die Vernichtung in moderner Lesart zu einem unheimlichen Vorboten des Todes entwickeln können. Als Ort der Dunkelheit, der Stille und des Alleinseins erinnert das Grab an die alte Kinderangst vor der Dunkelheit, die ebenfalls von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet wird. Da die Dunkelheit im Grab eine Grabesatmosphäre erzeugt, kann sie, als Form des Mythos, außerdem mit dem Tod assoziiert werden und kann auf diese Wiese ein doppeltes Gefühl des Unheimlichen hervorrufen.
111
Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 254-256.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Freud als Kastrationsersatz und damit als Abmilderung der Kastration.111 Diese abgetrennten Gliedmaßen können nun den verdrängten Kastrationskomplex wiederkehren lassen und ein Gefühl des Unheimlichen auslösen. Abgetrennte Gliedmaße von Mumien werden auch heute noch häufig als Exponate in Ausstellungen präsentiert und können somit bei den Besucherinnen ein Gefühl des Unheimlichen auslösen.
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Der Ort des Unheimlichen – Das altägyptische Grab
Das Grab als Form des Mythos Ägypten ist der Ort, an dem sich die genannten Momente des Unheimlichen versammeln. Durch die Konzentration der Momente des Unheimlichen ist es ein Ort, der gleich mehrfach unheimlich ist. Fassen wir die Momente des Unheimlichen im Grab zusammen: 1. Als Ruhestätte der Toten und als Ort der Verdoppelung erinnert das Grab an den Tod. Der Tod ist ein Motiv des Mythos Ägypten und wird mit all seinen verwandten Motiven vom Gefühl des Unheimlichen begleitet. Besonders die Mumie führt die eigene Sterblichkeit vor Augen und kann außerdem die Angst vor der Wiederkehr der Toten auslösen, die den Lebenden Böses wollen (a). Man kann sich außerdem nicht ganz sicher sein, ob dieser konservierte Leichnam nicht doch belebt ist und wieder auferstehen kann (b). Und schließlich die Krönung des Unheimlichen: Der Gang ins dunkle Grab, sei es im Tal der Könige oder in Ausstellungsinszenierungen, mit seinen engen, dunklen Räumen kann die Angst heraufbeschwören, lebendig begraben zu werden, was wiederum ein Gefühl des Unheimlichen auslösen kann (c). 2. Die Abbildung des Verstorbenen in Rund- und Flachbild, die das Grab zieren, stellen dessen Doppelgänger dar. Diese können ebenfalls ein Gefühl des Unheimlichen auslösen, da sie sich von einer Rückversicherung gegen die Vernichtung in moderner Lesart zu einem unheimlichen Vorboten des Todes entwickeln können. Als Ort der Dunkelheit, der Stille und des Alleinseins erinnert das Grab an die alte Kinderangst vor der Dunkelheit, die ebenfalls von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet wird. Da die Dunkelheit im Grab eine Grabesatmosphäre erzeugt, kann sie, als Form des Mythos, außerdem mit dem Tod assoziiert werden und kann auf diese Wiese ein doppeltes Gefühl des Unheimlichen hervorrufen.
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Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 254-256.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
2.7
Das Unheimliche in Ägyptenausstellungen
Mit dem Fund des Tutanchamun entwickelt der Mythos Ägypten nicht nur eine neue Form, sondern auch ein neues Motiv, den Fluch. Darüber hinaus wird der Mythos mit dem Unheimlichen durch eine neue dritte Facette angereichert. Der Mythos Ägypten ist als solcher zwar nicht unheimlich, doch die Assoziationen mit dem Alten Ägypten, die ihn ausmachen, wie der Fluch, können unter den richtigen Umständen von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Man könnte nun an dieser Stelle den Einwand hervorbringen, dass es den Fluch der Pharaonen und damit das Unheimliche im Mythos Ägypten bereits vor Tutanchamun gab, zum Beispiel in der Horrorliteratur des 19. Jahrhunderts.112 Allerdings unterscheidet Freud in seinem Aufsatz zwischen dem Unheimlichen der Fiktion und dem Unheimlichen des Erlebens. Fiktive Mumiengeschichten werden der ersten Kategorie, dem Unheimlichen der Fiktion, zugeordnet. Der Fluch, der Tutanchamun zugeschrieben wird und der sich im plötzlichen Tod Lord Carnarvons manifestierte und etablierte, gehört dagegen zum Unheimlichen des Erlebens. Das Unheimliche des Erlebens wird tatsächlich erlebt und ist ein Teil der Realität; im Gegensatz dazu ist das Unheimliche der Fiktion eines, das man sich bloß vorstellt oder von dem man liest. Mit Tutanchamun und dessen Medialisierung nimmt der Fluch daher ganz neue Dimensionen in der Realität an, die so groß sind, dass der Fluch eine der ersten Assoziationen mit Tutanchamun ist. Man könnte sagen, mit Tutanchamun tritt der Fluch aus dem Bereich der Fiktion in den Bereich des Erlebens. Auffällig ist auch der Kontrast zwischen Tutanchamun und den Mumien, die in Belzonis Ausstellung 1821 ausgestellt wurden. Diesen Mumien hat man noch keine malevolente Energie zugesprochen und es gibt in Bezug auf sie keine Rede von einem Fluch. Das deutet darauf hin, dass Mumien und Mumienteile im 19. Jahrhundert noch anders rezipiert wurden als nach dem Ersten Weltkrieg. Das Gefühl des Unheimlichen in der Rezeption des Mythos scheint sich damals, wenn es denn bereits existierte, noch nicht durchgehend manifestiert zu haben.113 Deshalb kann
112
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Zum Beispiel beschäftigten sich Sir Arthur Conan Doyle und Bram Stoker mit dem Fluch: Stoker, Bram: The Jewel of the Seven Stars, in: Davies, David Stuart (Hg.): Return from the Dead. A Collection of Classic Mummy Stories, Ware 2004, S. 1-188; Doyle, Arthur Conan: »The Ring of Thoth«, in: Davies, David Stuart (Hg.): Return from the Dead. A Collection of Classic Mummy Stories, Ware 2004, S. 225-242; Vgl. Hornung: »Die Legende vom ›Fluch der Pharaonen‹«, a.a.O., S. 77. Zwischen der Ausstellung Belzonis und dem Fund des Tutanchamun steht eine zeitliche Kluft von über 100 Jahren, während denen keine nennenswerten Grabinszenierungen auftreten. Freilich wird hier den Besucherinnen der Belzoni Ausstellung von 1821 die Empfindung eines ängstlichen, gar unheimlichen Gefühls in Bezug auf Dunkelheit und Grab nicht kategorisch abgesprochen, dennoch scheint, wie wir gesehen haben, die Zäsur durch den Fund des Tutanchamun für die Rezeption des Mythos Ägypten und das mit ihm verbundene Gefühl des
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
man sagen, dass mit Tutanchamun und seinem Fluch das Unheimliche im Mythos Ägypten hervortritt und seitdem ein ständiger Begleiter des Mythos Ägyptens ist, der sich auch in Ausstellungen manifestieren kann. Nun sind Ausstellungen als solche freilich nicht unheimlich. Allerdings kann die Inszenierung der Ausstellung Momente des Unheimlichen evozieren, genauso wie sie den Mythos Ägypten hervorruft und reproduziert. Denn das Gefühl des Unheimlichen kann, wie wir gesehen haben, Assoziationen mit dem Alten Ägypten, das heißt Motive des Mythos, begleiten. Wir sprachen bereits von der Dunkelheit, die man als Mittel der Inszenierung in fast jeder Ägyptenausstellung antrifft. Wir haben sie bereits als eine der Hauptquellen des Mythos Ägypten identifiziert. Diese Dunkelheit kann, laut Freud, aber noch viel mehr: Sie beschwört die alte Kinderangst vor der Dunkelheit wieder herauf. Diese verdrängte Angst kehrt wieder als Moment des Unheimlichen. Daher kann die Dunkelheit in Ausstellungen nicht nur Assoziationen mit dem Alten Ägypten hervorrufen, sondern darüber hinaus als unheimlich wahrgenommen werden. Dasselbe gilt für Ausstellungen, in denen Mumien ganz oder in Teilen ausgestellt werden oder Kopien von ganzen Gräbern begehbar sind, da diese Formen des Mythos ebenfalls Assoziationen hervorrufen, die vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden können. Abschließend können wir festhalten: Jede Ausstellung, die Formen des Mythos Ägypten zeigt, deren Assoziationen vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden können, also jede Ausstellung, die Dunkelheit als Mittel der Inszenierung nutzt, die Mumien, Mumienteile oder Kopien von Gräbern ausstellt, ist als Quelle des Mythos Ägypten auch eine potentielle Quelle des Unheimlichen. Wie Tutanchamun in Ägyptenausstellung inszeniert wird und auf welche Art und Weise dort der Mythos Ägypten und das Unheimlichen reproduziert und rezipiert werden, stellen wir im folgenden dritten und vierten Teil des Tutanchamun gewidmeten zweiten Kapitel unserer Studie heraus.
3.
Tutanchamun im Vergnügungspark – Die Grabinszenierung auf der British Empire Exhibition
Auf Großbritanniens British Empire Exhibition, die 1924 bis 1925 in Wembley stattfand, wurden die Errungenschaften der Nation im eigenen Land und vor allem in ihren Kolonien gezeigt. Diese Ausstellung war ein Zeichen für die Kriegsmüdigkeit Großbritanniens und ein Akt der Rückversicherung der eigenen Größe, der
Unheimlichen sowie die nachfolgenden Ägyptenausstellungen so einschneidend und wegweisend, dass wir erst ab diesem Zeitpunkt von einem ausnahmslosen Gefühl des Unheimlichen und damit auch hier erst von einem Fluch der Pharaonen in Bezug auf unser Phänomen sprechen wollen.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
man sagen, dass mit Tutanchamun und seinem Fluch das Unheimliche im Mythos Ägypten hervortritt und seitdem ein ständiger Begleiter des Mythos Ägyptens ist, der sich auch in Ausstellungen manifestieren kann. Nun sind Ausstellungen als solche freilich nicht unheimlich. Allerdings kann die Inszenierung der Ausstellung Momente des Unheimlichen evozieren, genauso wie sie den Mythos Ägypten hervorruft und reproduziert. Denn das Gefühl des Unheimlichen kann, wie wir gesehen haben, Assoziationen mit dem Alten Ägypten, das heißt Motive des Mythos, begleiten. Wir sprachen bereits von der Dunkelheit, die man als Mittel der Inszenierung in fast jeder Ägyptenausstellung antrifft. Wir haben sie bereits als eine der Hauptquellen des Mythos Ägypten identifiziert. Diese Dunkelheit kann, laut Freud, aber noch viel mehr: Sie beschwört die alte Kinderangst vor der Dunkelheit wieder herauf. Diese verdrängte Angst kehrt wieder als Moment des Unheimlichen. Daher kann die Dunkelheit in Ausstellungen nicht nur Assoziationen mit dem Alten Ägypten hervorrufen, sondern darüber hinaus als unheimlich wahrgenommen werden. Dasselbe gilt für Ausstellungen, in denen Mumien ganz oder in Teilen ausgestellt werden oder Kopien von ganzen Gräbern begehbar sind, da diese Formen des Mythos ebenfalls Assoziationen hervorrufen, die vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden können. Abschließend können wir festhalten: Jede Ausstellung, die Formen des Mythos Ägypten zeigt, deren Assoziationen vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden können, also jede Ausstellung, die Dunkelheit als Mittel der Inszenierung nutzt, die Mumien, Mumienteile oder Kopien von Gräbern ausstellt, ist als Quelle des Mythos Ägypten auch eine potentielle Quelle des Unheimlichen. Wie Tutanchamun in Ägyptenausstellung inszeniert wird und auf welche Art und Weise dort der Mythos Ägypten und das Unheimlichen reproduziert und rezipiert werden, stellen wir im folgenden dritten und vierten Teil des Tutanchamun gewidmeten zweiten Kapitel unserer Studie heraus.
3.
Tutanchamun im Vergnügungspark – Die Grabinszenierung auf der British Empire Exhibition
Auf Großbritanniens British Empire Exhibition, die 1924 bis 1925 in Wembley stattfand, wurden die Errungenschaften der Nation im eigenen Land und vor allem in ihren Kolonien gezeigt. Diese Ausstellung war ein Zeichen für die Kriegsmüdigkeit Großbritanniens und ein Akt der Rückversicherung der eigenen Größe, der
Unheimlichen sowie die nachfolgenden Ägyptenausstellungen so einschneidend und wegweisend, dass wir erst ab diesem Zeitpunkt von einem ausnahmslosen Gefühl des Unheimlichen und damit auch hier erst von einem Fluch der Pharaonen in Bezug auf unser Phänomen sprechen wollen.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Beständigkeit und des Reichtums der Nation.114 Die Kolonien wurden teilweise in Pavillons gezeigt, die nach den typischen architektonischen Merkmalen des jeweiligen Landes konzipiert wurden; so besaßen Australien und Indien jeweils eigene Ausstellungsgebäude, wobei der indische Pavillon dem Taj Mahal ähnelte. Neben diesen Länderpavillons wurden in großen Hallen die Industrie und Kunst Großbritanniens gezeigt. Des Weiteren gab es eine parkähnliche Ausstellungsfläche und einen Teil, in dem sich ein Vergnügungspark befand. Ägypten, keine Kolonie Englands und seit 1922 auch nicht mehr unter britischer Besetzung, da Großbritannien Ägypten teilweise für unabhängig erklärt hatte, durfte trotzdem nicht auf der Empire Exhibition fehlen.115 Zwar konnte man Ägypten nicht im Kolonialteil ausstellen; paradoxerweise bot sich aber der Vergnügungspark als diplomatischer Ort der Präsentation des ehemals besetzten Landes an. Der Fund Tutanchamuns wurde in Großbritannien besonders gefeiert, da ihn zwei Briten, Carnarvon und Carter, gemacht hatten. Außerdem bestand noch Hoffnung darauf, dass man einen Teil der Grabfunde Tutanchamuns nach England ausführen durfte; somit schien England einen gewissen Besitzanspruch auf Tutanchamun zu haben. Das Thema Tutanchamun war auch im Jahr 1924 immer noch hochaktuell, in den Medien präsent und besaß zu dieser Zeit eine besondere Brisanz, denn die Ausgrabungen im Tal der Könige waren zu einem kompletten Halten gekommen, da Carter und sein Team in Streik getreten waren. So durfte Tutanchamun auf der British Empire Exhibition, als weitere britische Errungenschaft, nicht fehlen und sein Fund diente als Anlass für eine Ausstellung im Vergnügungspark, die eine Kopie seines Grabes zeigte. Es gab demnach mehrere Gründe für die Inszenierung Tutanchamuns auf der British Empire Exhibition: 1. Die Briten wollten die bisher größte archäologische Entdeckung, die von Briten gemacht worden war, auf ihrer nationalen und nationalistischen Empire Exhibition präsentieren. 2. Das Thema war hochaktuell: Jeder wollte Teil haben an Tutanchamun und die Veranstalter konnten damit rechnen, dass sich die Grabkopie zu einer der Hauptattraktionen entwickeln würde. 3. Das originale Grab im Tal der Könige war geschlossen; die Grabkopie war die einzige Möglichkeit, Teil an diesem Sensationsfund zu haben. 4. Die Besucherinnen sollten auf den Spuren der beiden Entdecker Carter und Carnarvon wandeln können und sich selbst wie Entdecker fühlen.
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Vgl. British Empire Exhibition Wembley: British Empire Exhibition 1924, Wembley, London, April–October. Handbook of General Information, London 1924, S. 3-4. Die erneute Besetzung Ägyptens erfolgte erst im November des Jahres 1924, die Empire Exhibition öffnete ihre Tore im April 1924.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Die Ausstellung auf der British Empire Exhibition war die erste zum Thema Tutanchamun in Europa, eineinhalb Jahre nach dem Fund und ein Jahr nach dem Tod Carnarvons. Ähnlich wie Belzoni ein Faksimile des Grabes Sethos I. 100 Jahre zuvor in London präsentiert hatte, baute man in Wembley das Grab Tutanchamuns nach. Die äußere Erscheinung der Grabkopie, eine rechteckige, hohe, längliche und weiße Konstruktion, die im Vergnügungspark bereits von Weitem zu sehen war, sollte das Felsmassiv von Theben West imitieren, in dessen Wadi, dem Tal der Könige, das Grab des Tutanchamun gefunden worden war. Auf der Längsseite war in riesigen Buchstaben zu lesen: »Tomb of Tut-Ankh-Amen«. Ebenfalls an der Längsseite befand sich ein Tickethäuschen, wo sich die Besucherinnen eine Eintrittskarte kaufen mussten. Darauf folgte eine hüfthohe Trockenmauer, die zum Eingang des Grabes führte. Der Ausstellungsführer von 1925 nennt Verbesserungen, die für das neue Jahr vorgenommen worden waren: ein sandiger Weg führte die Besucherinnen nun durch eine Palmenallee zum Tickethäuschen und zum Eingang des Grabes.116 Palmen und Sand sollten eine idealisierte Wüstenlandschaft und damit die Assoziationsverknüpfung der Exotik Ägyptens nach Wembley bringen. Im Tal der Könige fehlt von Palmen jedoch jede Spur, da sie nur im Fruchtland, in der Nähe des Nils vorkommen. Es ging hier also nicht darum, etwas über das Alte Ägypten zu erfahren, sondern darum, die Vorstellung der Besucherinnen vom exotischen Wüstenland Ägypten zu befriedigen. Palmen und Sand in Wembley suggerierten, dass hier ein authentischer Eindruck Ägyptens gewonnen werden konnte: »the reconstruction of Tutankhamenʼs Tomb at Luxor is proving one of the Amusement Park’s chief attractions. Here the visitor can take an inexpensive journey to Upper Egypt, and visit by proxy what has become famous as the most exclusive spot in the world.«117 Hier wird den Besucherinnen mit den Worten »famous« und »exclusive« die Besonderheit und vor allem Berühmtheit des Grabes vor Augen geführt. Diesen exklusiven und berühmten Ort können sie aber nun ohne großen Aufwand und kostengünstig (»inexpensive«), quasi direkt vor der Haustür besuchen.118 Um dem Wunsch der Besucherinnen nach Exotik und einer authentischen Ägyptenerfahrung noch mehr zu entsprechen, wurden ägyptische Dragomane eingeflogen und als Guides angestellt, die in ägyptischer Tracht mit der für die damalige Zeit typischen Kopfbedeckung, dem Fes, Besucherinnengruppen durch das Grab führten. 116 117
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Vgl. Lawrence, G.C. (Hg.): Official Guide. British Empire Exhibition 1925, London 1925, S. 108. »TUTANKHAMEN’S TOMB RECONSTRUCTED AT WEMBLEY: How It Has Been Constructed on the Same Lines as That in the Valley of the Kings«, The Sphere; London, 97/1270 (24.5.1924), S. 215. Eine ähnliche exotische Inszenierung ist uns bereits im Egyptian Court und bei Mariettes Tempel-Pavillon aufgefallen. Auch diese Inszenierungen sollten die Assoziation Exotik auslösen und auch bei diesen Inszenierungen wurde das Argument vorgebracht, dadurch Ägypten vor der Haustür erleben zu können.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Wenige Stufen, die in die Tiefe führten, brachten die Besucherinnen vom oberirdischen Eingang im künstlichen Felsmassiv direkt zur unterirdisch angelegten Vorkammer: »The tomb has been dug out of the ground.«119 , berichtet die Times. Das Grab wurde unterirdisch angelegt, so dass sich die Besucherinnen wie die Entdecker im Tal der Könige fühlen konnten, die ebenfalls in das dunkle Grab hinabsteigen mussten. Es ging bei dieser Ausstellung primär darum, das zu erleben, was Carter und Carnarvon kurze Zeit zuvor auch erlebt hatten, nämlich die Geheimnisse des Grabes zu lüften und Schätze zu entdecken. Genau das konnten die Besucherinnen durch die auf Erlebnis ausgerichtete Ausstellungsinszenierung in Wembley nacherleben. Der Gang ins Grab und der in die Tiefe führende Grabeingang konnten nicht nur mit Geheimnis und Entdeckung assoziiert werden, sondern auch mit den Motiven des Todes und des Fluches. Denn die Besucherinnen betraten das Grab Tutanchamuns, das nicht nur ein Aufbewahrungsort goldener Schätze war, sondern eine Begräbnisstätte, ein Ort für Tote. Darüber hinaus sind Grab und Tutanchamun Formen, die assoziiert werden mit dem Fluch, der laut den Gerüchten nur ein Jahr zuvor dessen Entdecker, Lord Carnarvon, das Leben gekostet haben soll. Der Gang ins dunkle Grab, der mit Tod und Fluch assoziiert wird, kann, wie wir festgestellt haben, auch von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden, denn die Besucherinnen der Ausstellung sahen sich mit dem eigenen Tod konfrontiert, der ihnen in der Form des Grabes begegnete. Die Dunkelheit, die den Besucherinnen beim Eintritt in das unterirdisch angelegte Grab begegnete, kann als Form des Mythos Ägypten und als Mittel der Inszenierung ebenfalls ein unheimliches Gefühl auslösen. Wie das Original war die Grabkopie in unterschiedliche Räume aufgeteilt: Vorkammer und Sargkammer. Das war im Frühling 1924, zur Eröffnung der British Empire Exhibition, der tatsächliche Stand der Dinge: Carter war bisher nur in diese beiden Kammern vorgestoßen, die beiden übrigen Kammern sollten noch folgen. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt nur die Vorkammer vollständig ausgegraben und die Arbeiten waren in der Sargkammer – bedingt durch den Streik – zum Erliegen gekommen. Daher verspricht die Werbung in der Times in dieser Hinsicht nicht zu viel, wenn verkündet wird, dass man das Grab genauso wie in Ägypten zu sehen bekäme: »A complete reproduction of the tomb of Tutankhamen has been completed for the British Empire Exhibition at Wembley. […] The contents will be arranged at Wembley in exactly the same positions in which they were found at Luxor.«120 Wir erfahren hier außerdem, dass die Grabkopie nicht leer stand, sondern mit Exponaten gefüllt war, die darüber hinaus in der gleichen Anordnung wie die Grabbeigaben im Original zu betrachten waren. Dabei handelte es sich um Re-
119 »Luxor Secret Revealed«, The Times, (13.2.1924), S. 15-16. 120 Ebd.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
plikate der Grabbeigaben Tutanchamuns.121 Diese Replikate wurden mit großem Aufwand und großer Sorgfalt mit Hilfe von Aufnahmen und Zeichnungen hergestellt, die Arthur Weigall während seines Aufenthaltes als Journalist im Tal der Könige angefertigt hatte. Jedes Objekt, das das Grab verließ, wurde von Weigall dokumentiert. Bei der Anfertigung der Replikate wurde außerdem auf die zahlreichen Aufnahmen der vielen weiteren Journalisten zurückgegriffen, die sich im Tal der Könige versammelt hatten. Aufgrund des Urheberrechts durfte nicht auf die offiziellen Fotos des Grabungsfotografen Harry Burton zurückgegriffen werden. Weigall, der auch Erfahrung als Bühnenbildner hatte, stand als Experte für ägyptische Altertümer den Künstlern beratend zur Seite: »Through the skill of Mr. Weigall an Mr. W. Aumonier [Künstler, d. Verf.], the tomb and its contents have been faithfully reproduced. The three ceremonial couches, the mannequin figure, the guardian effigies, resplendent in black and gold, the many caskets, the lotus vase, and the shrine itself, all are faithfully reproduced.«122 Die Grabbeigaben, die hier so familiär aufgelistet werden, waren durch unzählige Zeitungberichte vor allem in der Illustrated London News, die Fotos der Objekte abdrucken durfte, bekannt. Diese Grabbeigaben, die man bisher nur von Fotos kannte, konnte man nun in der Grabkopie entdecken, und wie Carter in seinem populären ersten Grabungsbericht beschrieben hatte, wundervolle Dinge aus kostbarem Gold bestaunen. Die Kopien der Grabbeigaben waren nämlich tatsächlich teilweise aus Gold oder mit Blattgold überzogen.123 Der materielle Wert, den auch die Replikate auf Grund des Goldes besaßen, wurde in den Fokus gerückt: »This wonderful piece of work [die Replikate, d. Verf.] has already used up large quantities of gold, valued at over £1000.«124 Die vergoldeten Replikate der Grabbeigaben konnten als Form des Mythos Ägypten gleichermaßen mit Grabschatz, Reichtum und Dekadenz assoziiert werden, wie die Originale, da von den Ausstellungsmachern suggeriert wurde, dass sie ihnen sowohl in ihrem künstlerischen als auch ihrem materiellen Wert in nichts nachstanden. Weigall wurde von der Presse für seine ägyptologische Expertise gelobt, mit der für die Authentizität der Grabkopie gebürgt wurde: »An exact replica of the tomb of Tut-ankh-amen at Luxor is being staged under the direction of one of the
Die Replikate befinden sich heute im Hands on History Museum in Hull, England. Zur Geschichte dieser Replikate vgl. Heffernan, Gabrielle: »›Wonderful Things‹ in Kingston upon Hull«, in: Dobson, Eleanor und Tonks, Nichola (Hg.): Ancient Egypt in the Modern Imagination. Art, Literature and Culture, London/New York/Dublin 2021. 122 »TUTANKHAMEN’S TOMB RECONSTRUCTED AT WEMBLEY: How It Has Been Constructed on the Same Lines as That in the Valley of the Kings«, a.a.O., S. 215. 123 Vgl. Frayling: The Face of Tutankhamun, a.a.O., S. 33. 124 »TUTANKHAMEN at WEMBLEY: Reconstructing the King’s Tomb and the Objects it Contained for the British Empire Exhibition«, The Sphere; London, 96/1257 (23.2.1924), S. 203.
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
most distinguished Egyptologists of the day.«125 Weigalls Grabkopie wird als exaktes Replikat beschrieben, da sie die bisher ausgegrabenen Kammern des Grabes im originalen Maßstab nachbildete.126 Allerdings besaß die Kopie im Gegensatz zum Original Brüstungen, die als Barriere zwischen den Besucherinnen und der Inszenierung der Exponate dienten. So konnten die Besucherinnen die Exponate wie durch große Schaufenster ohne Glas betrachten: »By the ingenious method of forming a walk in what in the actual tomb would be solid rock, the confined space is dealt with conveniently, and the visitor views the objects as though framed as in a picture.«127 Eine Abbildung in der Zeitung The Sphere vom Mai 1824 zeigt die gesamte Ausstellung (Abbildung 9). Zwei »Schaufenster«, eines auf der langen Seite und eines auf der kurzen Seite des ersten Raumes, geben den Blick auf den Inhalt der Vorkammer frei. Die Anordnung der Exponate erfolgte nach der Fundsituation zum Zeitpunkt der Auffindung durch Carter.128 Die Besucherinnen konnten so die chaotische Positionierung der Grabbeigaben nachvollziehen. Wir sehen weiter, dass ein Korridor die Besucherinnen um die Vorkammer herum zur Sargkammer leitet, in der der äußerste goldene Schrein zu bestaunen war, der ebenfalls durch zwei »Schaufenster« begutachtet werden konnte: »The visitor enters and passes in a passage-way, firstly round the ante-chamber, in which one sees realistic coloured reproductions of the couches and other objects. The spectator then passes in another passage-way around the sarcophagus chamber.«129 Die Grabkopie machte es durch ihr ausgeklügeltes System von Gängen und durch Schaufenster zu betrachtenden Kammern möglich, den Besucherinnenfluss optimal zu steuern. Am Ende wurde die Besucherin durch einen weiteren Korridor zum Ausgang geleitet, durch den sie wieder auf das Areal des Vergnügungsparks gelangte. Die Positionierung der beiden Kammern und der Besucherkorridor entsprach nicht den Begebenheiten im Tal der Könige, ebenso wenig die Brüstungen und die Schaufenster. Ansonsten war die Kopie der Grabkammern maßstabsgetreu, ebenso die Faksimiles der Grabbeigaben, die in den Kopien ausgestellt wurden. Daher können wir die Grabkopie mit Vorbehalt als Faksimile einstufen, obwohl sie durchaus auch Anteile eines Simulacrums im barthesschen Sinne aufweist. 125 126 127 128
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British Empire Exhibition Wembley: British Empire Exhibition 1924, Wembley, London, April–October. Handbook of General Information, a.a.O., S. 36. Vgl. »TUTANKHAMEN at WEMBLEY: Reconstructing the King’s Tomb and the Objects it Contained for the British Empire Exhibition«, a.a.O. »TUTANKHAMEN’S TOMB RECONSTRUCTED AT WEMBLEY: How It Has Been Constructed on the Same Lines as That in the Valley of the Kings«, a.a.O., S. 215. Vgl. »TUTANKHAMEN at WEMBLEY: Reconstructing the King’s Tomb and the Objects it Contained for the British Empire Exhibition«, a.a.O.; Vgl. »Luxor Secret Revealed«, The Times, (13.2.1924), S. 15-16. Ebd.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Abbildung 9: Blick in Tutanchamuns Grabkopie auf der British Empire Exhibition, Wembley. The Sphere, 24.05.1824, Zeichnung von D. Macpherson.
© The Illustrated London News Group.
Da die Inszenierung der Ausstellung erlebnisorientiert war und den Mythos des Entdeckers evozierte, passte sie thematisch gut in den Vergnügungspark. Dort konnten die Besucherinnen nach dem Gang ins Grab und dem Entdecken von Schätzen weitere Attraktionen erleben, wie die Geisterbahn oder eine Fahrt in der Achterbahn. Für die Besucherinnen mag das Grab Tutanchamuns nur eine weitere Attraktion des Vergnügungsparks gewesen sein, die durch ihre Popularität in der Presse anlockte. Die Ausstellung war allerdings politisch motiviert, weil das
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Grab eine britische Entdeckung war und England, langjährige Besatzungsmacht in Ägypten, auf diese Weise Ägypten auf der British Empire Exhibition ausstellen konnte. Sie war auch insofern politisch motiviert, als die ägyptische Regierung die britischen Entdecker und ihr Team zu diesem Zeitpunkt aus dem Grab ausgeschlossen hatte. Die Kopie des Grabes in Wembley war zu dieser Zeit die einzige Möglichkeit, Zugang zum Grab und den Grabbeigaben zu haben. Die Ausstellung kann man ebenfalls als Kreuzzug Weigalls gegen die Informationspolitik Carters und Carnarvons und gegen das Times-Monopol betrachten. Auf diesem Weg versuchte er, der Öffentlichkeit auf demokratische Art und Weise Zugang zum Grab und den Entdeckungen zu gewährleisten, wie er es seit über einem Jahr forderte. Carter wiederum war von der Wembley Ausstellung alles andere als begeistert: Erstens wurde er für die Ausstellung nicht konsultiert, erfuhr relativ spät von diesem Vorhaben und wurde so vor vollendete Tatsachen gestellt. Zweitens warf er den Machern der Replikate und der Ausstellung vor, die Replikate unrechtmäßig nach den Fotos von Harry Burton angefertigt zu haben, die rechtlich geschützt waren. Und drittens war Arthur Weigall, dem Carter nie freundlich gesinnt war, in das Ausstellungsprojekt involviert. Durch Weigalls Involvierung in die Ausstellung wurde dessen Name mit dem Grab Tutanchamuns in Verbindung gebracht, da mit ihm als Ägyptologen und ehemaligem Antikeninspektor für die Authentizität der Replikate und der Grabkopie geworben wurde. Carter startete im Frühjahr 1924, zeitgleich mit der Eröffnung der British Empire Exhibition, eine Vortragstour durch die USA und Kanada, auf der er von der Entdeckung des Grabes Tutanchamuns erzählen sollte. Weigall war ihm dabei allerdings zuvorgekommen und hatte seine eigene Vortragstour über Tutanchamun in den USA bereits ein Jahr zuvor absolviert. Auf dieser Tour wurde er oft mit der Entdeckung des Grabes in Verbindung gebracht, obwohl Carter 1922 immer versucht hatte, Weigall und seine Journalistenkollegen vom Grab fern zu halten. All diese Umstände haben Animositäten in Carter wecken müssen. Also verklagte er kurzerhand die Ausstellungsmacher, mit der Begründung, dass sie das Urheberrecht verletzt hätten, indem sie die Replikate mit Hilfe von Fotos reproduziert hätten, die Harry Burton geschossen hatte. Carter verlor aber den Rechtstreit, weil sich herausstellte, dass die Replikate nach den Fotos von Arthur Weigall angefertigt worden waren.130 Die originalen Grabbeigaben Tutanchamuns verblieben vom Zeitpunkt ihrer Ausgrabung im Jahr 1922 bis 1932 im Ägyptischen Museum in Kairo. Auch Carters Journal d’entrée, in das er akribisch jedes Fundstück verzeichnete, befindet sich noch heute dort. Die meisten von Carters Aufzeichnungen sowie Harry Burtons Fotos sind jedoch im Griffith Institute in Oxford archiviert. Carter hatte es leider bis zu seinem Tod 1939 versäumt, eine wissenschaftliche Arbeit über seinen Fund
130 Vgl. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 307-309.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
zu publizieren, denn die drei Bände über das Grab des Tutanchamun, obwohl unterhaltsam und informativ, sind ein populärer Bericht seiner Ausgrabung.131 Wie James beobachtet, geriet Tutanchamun ab den 1930er Jahren bis zum Beginn einer ersten Welttournee seiner Grabbeigaben in den 1960er Jahren größtenteils in Vergessenheit: »In view of the extraordinary interest taken in the tomb of Tutankhamun since the late 1960 when great exhibitions were organized out of Egypt, coupled with the vast increase in tourism in Egypt one focus of which has been the Cairo Museum with its Tutankhamun galleries, it is surprising to consider the relatively low level of interest shown generally in the 1930s. The spectacular publicity which greeted the original discovery and every important stage of revelation subsequently seemed to have exhausted the public passion for news.«132 Für die 1930er Jahre beobachtet James also ein Art Sättigungsgefühl der Öffentlichkeit in Bezug auf Tutanchamun; und ab Ende der 1930er Jahre und mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war die Welt mit ganz anderen Themen beschäftigt. Auch die Anzahl der Touristinnen, die Tutanchamuns Grabbeigaben im Museum in Kairo besuchten, fiel aufgrund der politischen Weltlage eher spärlich aus: »The Depression, World War II, the 1948 Arab-Israel War, the riots and revolution of 1952, and the Suez War all took their toll on tourism to Egypt.«133 In seiner Biographie über Howard Carter sagt James, dass es für Ägyptologinnen eine Zeit lang nicht klug war, sich mit Tutanchamun auf wissenschaftlicher Ebene auseinanderzusetzen, da das Thema als zu populär und unwissenschaftlich galt: »Tutankhamun and Howard Carter have been constant symbols of the popular appeal of Egypt; although for much of the times it would have been thought slightly de trop to show professionally too active an interest in them.«134 Eine ganz ähnliche Erfahrung musste die Ägyptologin Marianne Eaton-Krauß machen, als sie sich wissenschaftlich mit Tutanchamun auseinandersetzen wollte: »Tutankhamuns nickname, ›King Tut‹, has attained the status of a household word which rivals pyramid and mummy in the popular imagination for conjuring up vivid images of ancient Egypt. The reaction of some professional Egyptologists is even nowadays rather different, bordering on disdain or even hostility. I well recall the response of a retired professor of Egyptology at a German university when I 131
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Vgl. Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O.; Vgl. Carter: The Tomb of Tutankhamun. Volume 2: The Burial Chamber, a.a.O.; Vgl. Carter: The Tomb of Tutankhamun. Volume 3: The Annexe and Treasury, a.a.O. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. 405. Reid, Donald Malcolm: Contesting Antiquity in Egypt: Archaeologies, Museums, and the Struggle for Identities from World War I to Nasser, Kairo/New York 2015, S. 307. James: Howard Carter. The Path to Tutankhamun, a.a.O., S. xi.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
mentioned to him my intention to undertake a scholarly study on the reign of Tutankhamun; shaking his head he asked, ›Whatever for?‹.«135 Dieser Zeitraum des wissenschaftlichen Desinteresses erstreckte sich bis in die 1960er Jahre: Es wurden nur wenige wissenschaftliche Artikel oder Monographien zu Tutanchamun veröffentlicht, Königsgräber waren nicht mehr in Mode, wie Donald Malcolm Reid festhält.136 In den 1960er Jahren erlebte Tutanchamun aber ein Revival, sowohl auf populärer als auch auf wissenschaftlicher Ebene. Spätestens ab da kannte man Tutanchamun zumindest im englischsprachigen Raum als »King Tut«, wie Eaton-Krauss bemerkt. Grund für die neue Popularität waren, wie James erwähnt, die Großausstellungen ab Ende der 1960er Jahre zu Tutanchamun, die auf Grund von diplomatischen Bemühungen und Austausch zwischen Ägypten und den westlichen Ländern zu Stande kamen. Zu diesen Ausstellungen gehörte die erste sogenannte Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun, die in den 1970er Jahren durch die USA tourte und auch in weiteren Ländern gezeigt wurde. Sie soll stellvertretend für die Ägyptenausstellungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen werden.
4.
Treasures of Tutankhamun – Die Ära der Großausstellungen
Die Zeit der Großausstellungen, wie wir sie heute kennen, beginnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im Fall der ägyptischen Ausstellungen mit dem Beginn der Welttourneen Tutanchamuns ab den 1960er Jahren. Das sind jene Ausstellungen des 20. Jahrhunderts, die von einem Museum geplant werden und meistens auch in den Räumlichkeiten eines Museums stattfinden. Die ägyptischen Ausstellungen des »Langen 19. Jahrhunderts«, die wir im ersten Kapitel besprochen haben, fanden außerhalb des Museums statt, auf Welt- und Landesausstellungen, in Vergnügungsparks und anderen Orten der Unterhaltung. Die Ausstellung, also auch die ägyptische Ausstellung, hat sich nicht, wie man meinen könnte, aus dem Museum herausgebildet; sie hat sich parallel zum Museum entwickelt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts treffen Ausstellung und Museum aufeinander, bevor sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder auseinanderstreben.137
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Eaton-Krauss, Marianne: The Unknown Tutankhamun, London/New York 2016, S. ix. Vgl. Reid: Contesting Antiquity in Egypt: Archaeologies, Museums, and the Struggle for Identities from World War I to Nasser, a.a.O., S. 307. Eine Ausnahme von dieser Regel mag die Ausstellung von Amarna-Objekten im Neuen Museum in Berlin 1913/14 gewesen sein. Allerdings handelte es sich hierbei, ähnlich wie bei den Ausstellungen Petries in London, um eine Präsentation der während der letzten Grabungssaison ergrabenen Objekte. Diese Art von Präsentation wird in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt. Gezeigt wurde die Ausstellung inmitten des von Lepsius entworfenen Säu-
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
mentioned to him my intention to undertake a scholarly study on the reign of Tutankhamun; shaking his head he asked, ›Whatever for?‹.«135 Dieser Zeitraum des wissenschaftlichen Desinteresses erstreckte sich bis in die 1960er Jahre: Es wurden nur wenige wissenschaftliche Artikel oder Monographien zu Tutanchamun veröffentlicht, Königsgräber waren nicht mehr in Mode, wie Donald Malcolm Reid festhält.136 In den 1960er Jahren erlebte Tutanchamun aber ein Revival, sowohl auf populärer als auch auf wissenschaftlicher Ebene. Spätestens ab da kannte man Tutanchamun zumindest im englischsprachigen Raum als »King Tut«, wie Eaton-Krauss bemerkt. Grund für die neue Popularität waren, wie James erwähnt, die Großausstellungen ab Ende der 1960er Jahre zu Tutanchamun, die auf Grund von diplomatischen Bemühungen und Austausch zwischen Ägypten und den westlichen Ländern zu Stande kamen. Zu diesen Ausstellungen gehörte die erste sogenannte Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun, die in den 1970er Jahren durch die USA tourte und auch in weiteren Ländern gezeigt wurde. Sie soll stellvertretend für die Ägyptenausstellungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besprochen werden.
4.
Treasures of Tutankhamun – Die Ära der Großausstellungen
Die Zeit der Großausstellungen, wie wir sie heute kennen, beginnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im Fall der ägyptischen Ausstellungen mit dem Beginn der Welttourneen Tutanchamuns ab den 1960er Jahren. Das sind jene Ausstellungen des 20. Jahrhunderts, die von einem Museum geplant werden und meistens auch in den Räumlichkeiten eines Museums stattfinden. Die ägyptischen Ausstellungen des »Langen 19. Jahrhunderts«, die wir im ersten Kapitel besprochen haben, fanden außerhalb des Museums statt, auf Welt- und Landesausstellungen, in Vergnügungsparks und anderen Orten der Unterhaltung. Die Ausstellung, also auch die ägyptische Ausstellung, hat sich nicht, wie man meinen könnte, aus dem Museum herausgebildet; sie hat sich parallel zum Museum entwickelt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts treffen Ausstellung und Museum aufeinander, bevor sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder auseinanderstreben.137
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Eaton-Krauss, Marianne: The Unknown Tutankhamun, London/New York 2016, S. ix. Vgl. Reid: Contesting Antiquity in Egypt: Archaeologies, Museums, and the Struggle for Identities from World War I to Nasser, a.a.O., S. 307. Eine Ausnahme von dieser Regel mag die Ausstellung von Amarna-Objekten im Neuen Museum in Berlin 1913/14 gewesen sein. Allerdings handelte es sich hierbei, ähnlich wie bei den Ausstellungen Petries in London, um eine Präsentation der während der letzten Grabungssaison ergrabenen Objekte. Diese Art von Präsentation wird in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt. Gezeigt wurde die Ausstellung inmitten des von Lepsius entworfenen Säu-
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Die erste Ausstellungstournee Tutanchamuns in den 1960er Jahre sollte auf Ägyptens großes Bauvorhaben, den Assuan-Staudamm, aufmerksam machen, durch das wichtige antike Monumente wie der Tempel von Abu Simbel oder der Philae Tempel gefährdet waren.138 Ziel war es, weltweit Gelder zu sammeln, um diese Denkmäler abzutragen und an einem neuen Standort wiederaufzubauen. Um dieses Ziel zu erreichen, stellte Ägypten die »treasures« und »arts«, womit sowohl die Grabbeigaben Tutanchamuns als auch die zu rettenden Monumente gemeint waren, als »a creation of our common humanity« dar.139 Nach diesem Narrativ war Ägypten nur Verwalter der Objekte und Monumente des eigenen Landes, die Verantwortung für diese oblag aber der gesamten Menschheit. Geschickt fragt Sarwat Okasha, der damalige Kulturminister Ägyptens: »Who among us does not love beauty? […] It has no frontiers of language, time, or place to sunder us from one another, […] it is something that we all share and something that we all wish to share.«140 Schönheit soll der gemeinsame Nenner sein, auf den sich die gesamte Menschheit einigen kann. Damit meint Okasha natürlich die Schönheit der altägyptischen Objekte, ein Motiv des Mythos Ägypten, das uns bereits mehrfach begegnet ist. Auch die Assoziation Schatz im Zusammenhang mit ägyptischen Grabbeigaben ist uns bereits bekannt. Schönheit und Schatz sowie »fabulous wealth«141 sind die hervorstechenden Assoziationen mit Tutanchamun und seinen Grabbeigaben. Im Laufe der Analyse der Treasures of Tutankhamun Ausstellung werden uns diese Motive immer wieder begegnen. Neu ist ab den 1960er Jahren allerdings die Ästhetisierung der Grabbeigaben, das heißt das Narrativ, sie als »art«, als Kunstwerke im allgemein gültigen Sinn zu bezeichnen. Okasha stellt sie auf eine Ebene mit berühmten Gemälden, weltbekannter Musik oder den Werken bedeutender Autoren. So stehen sie nun neben Leonardo Da Vincis Mona Lisa, den Symphonien Beethovens oder Dantes Göttlicher Komödie. Neu ist auch, dass Tutanchamuns Grabbeigaben – aber auch die Monumente Ägyptens – als Kulturerbe der gesamten Menschheit bezeichnet werden. Diese beiden neuen Rezeptionsarten Tutanchamuns, als Kunstwerk und als Kulturerbe, werden uns genauso wie die altbekannten Assoziationen mit dem Pharao während der Ausstellungsanalyse oft begegnen. Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die nationalistische Rezeption Tutanchamuns in den 1920er Jahren, als Ägypten versuchte, sich endgültig von der britischen Besetzung zu befreien. Vierzig Jahre waren seit der Ankunft der ersten Tutanchamun Objekte im Museum in Kairo lenhofes und auf gelben Tüchern, die an Wüstensand erinnerten. Vgl. dazu Savoy: Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912-1931, a.a.O., S. 58-63. 138 Vgl. Okasha, Sarwat: »Foreword«, in: Anthes, Rudolf: Tutankhamun Treasures: A Loan Exhibition from the Department of Antiquities of the United Arab Republic, Washington, DC 1961. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Ebd.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
vergangen, aus dem sie diese lange Zeit über nie entfernt worden waren. Nach der Revolution von 1952 und dem Suezkrieg von 1956 war Ägypten nun bereit, Tutanchamun mit der Welt zu teilen. Der effektive Antrieb für Tutanchamuns Flüggewerden war freilich der dringende Bedarf an Geldgebern für die Rettung der vom Bau des Staudamms betroffenen Monumente, für die Tutanchamun die Werbetrommel rühren sollte. Die großen Geldgeber, unter anderem die USA, erhielten als Dank für ihre Hilfe Tempel, die auf Grund der Überflutung im Süden Ägyptens abgebaut werden mussten.142 Der Tempel von Dendur beispielsweise ist solch ein Monument und wird heute im Sackler Wing des Metropolitan Museum of Art in New York präsentiert. Die erste Ausstellung Tutankhamun Treasures mit Objekten aus dem Grab des Tutanchamun wurde von 1961 bis 1963 in verschiedenen Städten der USA gezeigt, bevor sie nach Kanada und dann nach Japan weiterreiste.143 In Washington wurden 34 »of these beautiful things«144 , ohne die Goldmaske, für einen Monat in der Rotunde der National Gallery of Art ausgestellt. Die Exponate wurden auch während der Weltausstellung 1962 in Seattle gezeigt sowie auf der Weltausstellung 1964/1965 in New York, wo Tutanchamun Teil des United Arab Republic Pavillons war. Mit 34 Objekten, von denen die meisten nicht zu den Glanzstücken der Grabbeigaben Tutanchamuns zählten, und einem kurzen Aufenthalt von jeweils einem Monat in den verschiedenen Städten war die Ausstellung relativ bescheiden bemessen. Sie hatte deshalb viel weniger Einfluss auf die populäre Rezeption des Pharaos als die Ausstellung Treasures of Tutankhamun der 1970er Jahre.145 Im Folgenden wollen wir uns daher dieser einflussreichen, als Blockbuster bezeichneten Ausstellung widmen.
4.1
»Creating Blockbusters« – Museumsboom und Blockbuster-Ausstellung
Heute spricht man allgemein von einem Wandel im Museumswesen gegen Ende der 1960er Jahre, dem sogenannten Museumsboom. Dieser Wandel drückt sich zum einen darin aus, dass es sehr viele Museumsneugründungen gab, zum ande-
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Spanien, Italien und die Niederlande erhielten auch jeweils einen Tempel. Vgl. Reeves: The Complete Tutankhamun, a.a.O., S. 212. Okasha: »Foreword«, a.a.O. Als Grund dafür kann man auch die Zeit des Space Age sehen, die mit dem Start des Satelliten Sputnik I 1957 eingeläutet wurde und rund zehn Jahre später mit der Mondlandung einen ihrer größten Höhepunkte erlangte. Die Space Needle, das Wahrzeichen der Weltausstellung 1962 in Seattle, steht symbolisch für diese Zeit, in der man sich lieber mit der Zukunft als mit der Vergangenheit beschäftigte. Der Blick ging gen Himmel, man stellte sich die Frage, wohin gehen wir und nicht die Frage, woher wir kommen.
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
vergangen, aus dem sie diese lange Zeit über nie entfernt worden waren. Nach der Revolution von 1952 und dem Suezkrieg von 1956 war Ägypten nun bereit, Tutanchamun mit der Welt zu teilen. Der effektive Antrieb für Tutanchamuns Flüggewerden war freilich der dringende Bedarf an Geldgebern für die Rettung der vom Bau des Staudamms betroffenen Monumente, für die Tutanchamun die Werbetrommel rühren sollte. Die großen Geldgeber, unter anderem die USA, erhielten als Dank für ihre Hilfe Tempel, die auf Grund der Überflutung im Süden Ägyptens abgebaut werden mussten.142 Der Tempel von Dendur beispielsweise ist solch ein Monument und wird heute im Sackler Wing des Metropolitan Museum of Art in New York präsentiert. Die erste Ausstellung Tutankhamun Treasures mit Objekten aus dem Grab des Tutanchamun wurde von 1961 bis 1963 in verschiedenen Städten der USA gezeigt, bevor sie nach Kanada und dann nach Japan weiterreiste.143 In Washington wurden 34 »of these beautiful things«144 , ohne die Goldmaske, für einen Monat in der Rotunde der National Gallery of Art ausgestellt. Die Exponate wurden auch während der Weltausstellung 1962 in Seattle gezeigt sowie auf der Weltausstellung 1964/1965 in New York, wo Tutanchamun Teil des United Arab Republic Pavillons war. Mit 34 Objekten, von denen die meisten nicht zu den Glanzstücken der Grabbeigaben Tutanchamuns zählten, und einem kurzen Aufenthalt von jeweils einem Monat in den verschiedenen Städten war die Ausstellung relativ bescheiden bemessen. Sie hatte deshalb viel weniger Einfluss auf die populäre Rezeption des Pharaos als die Ausstellung Treasures of Tutankhamun der 1970er Jahre.145 Im Folgenden wollen wir uns daher dieser einflussreichen, als Blockbuster bezeichneten Ausstellung widmen.
4.1
»Creating Blockbusters« – Museumsboom und Blockbuster-Ausstellung
Heute spricht man allgemein von einem Wandel im Museumswesen gegen Ende der 1960er Jahre, dem sogenannten Museumsboom. Dieser Wandel drückt sich zum einen darin aus, dass es sehr viele Museumsneugründungen gab, zum ande-
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Spanien, Italien und die Niederlande erhielten auch jeweils einen Tempel. Vgl. Reeves: The Complete Tutankhamun, a.a.O., S. 212. Okasha: »Foreword«, a.a.O. Als Grund dafür kann man auch die Zeit des Space Age sehen, die mit dem Start des Satelliten Sputnik I 1957 eingeläutet wurde und rund zehn Jahre später mit der Mondlandung einen ihrer größten Höhepunkte erlangte. Die Space Needle, das Wahrzeichen der Weltausstellung 1962 in Seattle, steht symbolisch für diese Zeit, in der man sich lieber mit der Zukunft als mit der Vergangenheit beschäftigte. Der Blick ging gen Himmel, man stellte sich die Frage, wohin gehen wir und nicht die Frage, woher wir kommen.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
ren in der Hinwendung der Museen zu ihrem Publikum.146 Dieser Wandel drückt sich auch in dem Umstand aus, dass sich zur gleichen Zeit ein »reges Ausstellungswesen«147 entwickelte. Wir haben gesehen, dass Ausstellungen eine Publikumsorientierung immanent ist, die in ihren Ursprüngen in den Gewerbe- und Weltausstellungen zu finden ist. Daher ist es einleuchtend, dass die Museen das Medium Ausstellung im Zuge ihrer Öffentlichkeitszuwendung wählten, um ein größeres Publikum anzusprechen und mehr Besucherinnen in die Institution zu bringen. Die kulturhistorische Ausstellung, zu der auch unser Untersuchungsgegenstand, die Ägyptenausstellung gehört, gewann »ihre Bedeutung als kulturelles Großereignis und prominenter Ort der Geschichtsvermittlung […] erst Mitte der siebziger Jahre«148 . Solche Ausstellungen, die, wenn sie mit internationalen Leihgaben werben, ein großes Medieninteresse generieren und hohe Besucherzahlen verzeichnen, gerne als Großausstellungen oder auch Blockbuster-Ausstellungen bezeichnet werden, sind ebenfalls ein Phänomen der 1970er Jahre. Sehr gut zu beobachten ist dieser Umstand am Beispiel des Römer- und Pelizaeus Museums in Hildesheim, dessen ehemaliger Direktor, der von 1974 bis 2000 amtierende Ägyptologe Arne Eggebrecht, einer der ersten Initiatoren solcher Großausstellungen mit internationalen Leihgaben war. Besonders Ausstellungen mit ägyptischem Sujet wie Echnaton – Nofretete – Tutanchamun 1976 und Götter Pharaonen 1979 sind hier zu nennen, aber auch Ausstellungen wie Gold aus Peru 1977 und Gold der Thraker 1980. Im gleichen Atemzug mit Arne Eggebrecht ist Thomas Hoving zu nennen, mit dessen Amtsantritt als Direktor des Metropolitan Museum of Art in New York Ende der 1960er Jahre eine sehr ähnliche Entwicklung wie in Hildesheim im Zuge des Musemswandels und der Besucherorientierung in dieser Institution stattfindet.149 Hoving, der einen Ph.D. in Kunstgeschichte besaß, war zuvor Direktor des Met Cloister, liebäugelte dann aber kurz mit einer politischen Karriere im NYC Parks and Recreation Departement, bis er 1967 zum Direktor des Met ernannt wurde.150
146 Zu einer Überblicksdarstellung des Museumswandels am Ende der 1960er Jahre und einer Liste der einschlägigen Literatur vgl. Schulze, Mario: Wie die Dinge sprechen lernten. Eine Geschichte des Museumsobjektes 1968-2000, Bielefeld 2017, S. 16. 147 Grütter, Heinrich Theodor: »Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen«, in: Blanke, Horst Walter, Jäger, Friedrich und Sandkühler, Thomas (Hg.): Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute: Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 179-193, hier S. 180. 148 Ebd. 149 Das Metropolitan Museum of Art in New York wird im Folgenden mit Metropolitan Museum oder mit Met abgekürzt. 150 Hoving stammte aus einer reichen New Yorker Familie; sein Vater war Manager von Tiffany & Co. Er verließ das Met bereits zehn Jahre später, 1977, nachdem die Differenzen zwischen ihm und dem Museum Bord zu groß wurden, und wechselte in die Privatwirtschaft. Er starb 2009.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Sein Amtsantritt läutete eine neue Ära in der Geschichte des Metropolitan Museum ein. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, diese Institution von Grund auf zu modernisieren. Vor seinem Amtsantritt hatte das Museum weder ein Programm für Ausstellungen noch speziell geschultes Personal, wie zum Beispiel Ausstellungsdesignerinnen. Grundsätzlich ging es Hoving darum, mehr Besucherinnen ins Met zu holen und dem Zeitgeist entsprechend wollte er aus dem als elitär geltenden Museum einen Ort machen, der offen für Besucherinnen jeglicher Herkunft, jeglichen Alters und jeglicher Klassen war. Teil seines Vorhabens bestand aus groß angelegten Ausstellungsprojekten, die das Museum in die Schlagzeilen bringen und Besucherinnen anziehen sollten.151 Mit Hoving und Eggebrecht erhält die Großausstellung Einzug ins Museum. Ihren Höhepunkt fand sie in der Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun, die nach bald dreijähriger USA Tournee schließlich 1978/79 im Met präsentiert wurde.152 Ähnliche Ausstellungen mit Grabbeigaben Tutanchamuns wurden 1969 in Paris und 1972 in London im British Museum aus Anlass des 50-jährigen Fundjubiläums gezeigt sowie 1980/81 in der Bundesrepublik Deutschland. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ein Massenpublikum anzogen und ein kommerzieller Erfolg waren. Die Bezeichnung »Blockbuster« für solche Großausstellungen erhält zum ersten Mal die Ausstellung Treasures of Tutankhamun in den USA. Der Begriff »Blockbuster« wird allerdings inflationär gebraucht: Er wird in Zusammenhang mit sehr erfolgreichen Kinofilmen, Büchern der Bestsellerliste und wie in unserem Beispiel, auch sehr gut besuchten Ausstellungen genannt. Allen drei Dingen gemein ist, dass sie Medien sind, die massenhaft, das heißt von einem sehr großen Publikum, konsumiert werden und daher einen enormen finanziellen Erfolg generieren. Das Wort »Blockbuster« bezeichnete ursprünglich die MegatonnenBomben, die während des Zweiten Weltkrieges aufkamen und in der Lage waren, ganze Häuserblöcke zu zerstören. »Blockbuster« nannte man ab den 1940er Jahren und vor allem während der 1970er und 1980er Jahre einen sehr populären und kommerziell extrem erfolgreichen Film, wobei die Menschenschlange, die sich um den ganzen Häuserblock bis zur Kinokasse spannen konnte, oft für die Wortwahl verantwortlich gemacht wird.153 Diese Menschenschlangen konnten ebenfalls vor den Museen beobachtet werden, wo die Wartenden stundenlang ausharrten, um in
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Hoving hat seine Jahre als Direktor des Met in seinem autobiographischen Werk Making the Mummies Dance ausführlich beschrieben. Vgl. dazu Hoving, Thomas: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, New York 1993. Treasures of Tutankhamun, 1976 – 1979, USA. Vgl. Neale, Steve: »Hollywood Blockbusters. Historical Dimensions«, in: Stringe, Julian (Hg.): Movie Blockbusters, New York 2003, S. 47-60; Vgl. Brier, Evan: A Novel Marketplace. Mass Culture, the Book Trade, and Postwar American Fiction, Philadelphia 2012, S. 114.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
die Ausstellung Treasures of Tutanchamun gelassen zu werden. Eine allgemein gültige Definition der Blockbuster-Ausstellung gibt es nicht; generell lässt sich sagen, dass an ihr hochrangige Sponsoren – Firmen oder Unternehmen – beteiligt sind, dass sie ein hohes Publikumsaufkommen, ein Massenpublikum, generieren, dass aufwendiges Marketing für die Ausstellung gemacht wird und internationale Leihgaben ausgestellt werden, die meist sogenannte Meisterwerke oder Prunkstücke umfassen, und dass sie einen hohen Gewinn für das Museum und – durch Tourismus – die Region generieren.154 Die Ausstellung Treasures of Tutankhamun läutete eine neue Ära im Museumsund Ausstellungswesen ein und wird auf Grund ihrer Größe und in Bezug auf den Wert und die Anzahl der Objekte, die immense Zahl an Besucherinnen und ihrer hohen Gewinnsumme als Blockbuster bezeichnet: »The exhibition caused a sensation and became the ultimate blockbuster, causing thousands of people to visit an art museum who had never thought of it before. […] The participating museums made hundreds of thousands of dollars through their percentage of the sales. The Egyptian Organization of Antiquities eventually received eleven million dollars with which to renovate the Cairo Museum and other museums.«155 Mit dieser Ausstellung hielten auch die Produktion und der Verkauf von Merchandise Einzug in das Museum, das nun immer mehr wie ein Unternehmen geführt wurde. Vor allem der Verkauf dieses Merchandise generierte Gewinn für die Museen und für die ägyptische Antikenverwaltung. Eigens für Treasures of Tutankhamun wurde eine Vielzahl von Merchandise-Produkten produziert: T-Shirts, Tassen, Kartenspiele, Schmuck, Postkarten, Poster, Taschen, Schals und hochwertige Kopien der Objekte. Shops wurden eigens für die Ausstellung eröffnet, in denen die Merchandise-Produkte vertrieben wurden. Aufgrund der Zäsuren im Ausstellungswesen und des großen Einflusses, den die Ausstellung auf die Wahrnehmung des Alten sowie des modernen Ägypten hatte, wollen wir uns im Folgenden näher mit Treasures of Tutankhamun beschäftigen. Diese Ausstellung sollte die Standards für Großausstellungen für immer verändern und prägen. Die Analyse von Treasures of Tutankhamun wird außerdem unsere vierte Facette des Mythos Ägypten enthüllen: Die bewusste Produktion des Mythos durch die Ausstellungsmacherin, die Mythenproduzentin. Das heißt, bei der Inszenierung von Treasures of Tutankhamun wird bewusst auf Assoziationen mit dem Pha-
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Berryman, Jim: »Art and National Interest: the Diplomatic Origins of the ›Blockbuster Exhibition‹«, Journal of Australian Studies, 37/2 (1.6.2013), S. 159-173; Schulze, Mario: »Tutanchamun fotografieren – Zur Produktion eines Ausstellungsstars«, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 39/4 (2016), S. 331-349. Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 413.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
rao wie Schatz, Reichtum, Dekadenz und Schönheit zurückgegriffen. Die Exponate werden entsprechend der Erwartungshaltung der Besucherinnen ausgesucht, die einen Goldschatz und schöne Objekte sehen wollen. Außerdem wird eine Grabesatmosphäre evoziert, durch die sich die Besucherinnen wie der Entdecker auf dem Gang ins dunkle Grab fühlen können.
4.2
King Tut: »the most incredible diplomatic, goodwill exhuman being« – Politik einer Ausstellung
Treasures of Tutankhamun wurde in insgesamt sechs Städten der USA gezeigt und blieb an jedem Ort für die Dauer von jeweils vier Monaten: The National Gallery of Art in Washington D.C. machte den Auftakt der Show, darauf folgte das Field Museum in Chicago in Zusammenarbeit mit dem Oriental Institute der University of Chicago, das New Orleans Museum of Art in New Orleans, das LA County Museum of Art in Los Angeles und das Seattle Art Museum in Seattle; die Ausstellung endete schließlich im Metropolitan Museum of Art in New York. Die Organisation und Koordination übernahm das Metropolitan Museum unter der Führung seines Direktors, Thomas Hoving. Hoving hatte nach eigenen Angaben bereits seit geraumer Zeit erfolglos versucht, Tutanchamun in die USA zu bringen.156 In einem Interview mit der Zeitung Newsday gibt er die schlechten arabisch-jüdischen Beziehungen als Grund für sein Scheitern an. Auf der einen Seite, so Hoving, waren die Ägypter nicht bereit dazu, Objekte Tutanchamuns ans Met in New York zu entleihen, weil sie eine falsche Vorstellung der demographischen Verhältnisse hatten und glaubten, die Bevölkerung bestehe größtenteils aus ihnen feindlich gesinnten Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens. Auf der anderen Seite, meint Hoving, fand sich aufgrund der arabisch-jüdischen Spannung auch kein Sponsor in den USA, der sich an Tutanchamun herangewagt hätte.157 Was Hoving nicht gelang, vermochte der Staatsbesuch von Präsident Richard M. Nixon bei Präsident Anwar Sadat in Ägypten 1974 zu bewerkstelligen. Der Staatsbesuch sollte die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder aufwärmen, nachdem diese sieben Jahre zuvor abgebrochen waren. Ägypten hatte sich bereits in den 1960er Jahren der Sowjetunion zugewandt, die sowohl Ägyptens als auch Syriens Armee mit Waffen versorgte und tausende von sowjetischen Militärberatern in Ägypten stationierte. Die USA dagegen hatten ihren Verbündeten im Mittleren Osten in Israel. Sowohl die USA als auch die UdSSR hatten Interesse daran, den status quo in dieser Region des Mittleren Ostens zu wahren. Allerdings beschloss
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Vgl. Ebd., S. 401. Vgl. Wallach, Amei: »Thomas P. F. Hoving: The Man Who Brought Us Tut: The LI Interview«, Newsday, (10.12.1978).
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Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
rao wie Schatz, Reichtum, Dekadenz und Schönheit zurückgegriffen. Die Exponate werden entsprechend der Erwartungshaltung der Besucherinnen ausgesucht, die einen Goldschatz und schöne Objekte sehen wollen. Außerdem wird eine Grabesatmosphäre evoziert, durch die sich die Besucherinnen wie der Entdecker auf dem Gang ins dunkle Grab fühlen können.
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King Tut: »the most incredible diplomatic, goodwill exhuman being« – Politik einer Ausstellung
Treasures of Tutankhamun wurde in insgesamt sechs Städten der USA gezeigt und blieb an jedem Ort für die Dauer von jeweils vier Monaten: The National Gallery of Art in Washington D.C. machte den Auftakt der Show, darauf folgte das Field Museum in Chicago in Zusammenarbeit mit dem Oriental Institute der University of Chicago, das New Orleans Museum of Art in New Orleans, das LA County Museum of Art in Los Angeles und das Seattle Art Museum in Seattle; die Ausstellung endete schließlich im Metropolitan Museum of Art in New York. Die Organisation und Koordination übernahm das Metropolitan Museum unter der Führung seines Direktors, Thomas Hoving. Hoving hatte nach eigenen Angaben bereits seit geraumer Zeit erfolglos versucht, Tutanchamun in die USA zu bringen.156 In einem Interview mit der Zeitung Newsday gibt er die schlechten arabisch-jüdischen Beziehungen als Grund für sein Scheitern an. Auf der einen Seite, so Hoving, waren die Ägypter nicht bereit dazu, Objekte Tutanchamuns ans Met in New York zu entleihen, weil sie eine falsche Vorstellung der demographischen Verhältnisse hatten und glaubten, die Bevölkerung bestehe größtenteils aus ihnen feindlich gesinnten Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens. Auf der anderen Seite, meint Hoving, fand sich aufgrund der arabisch-jüdischen Spannung auch kein Sponsor in den USA, der sich an Tutanchamun herangewagt hätte.157 Was Hoving nicht gelang, vermochte der Staatsbesuch von Präsident Richard M. Nixon bei Präsident Anwar Sadat in Ägypten 1974 zu bewerkstelligen. Der Staatsbesuch sollte die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder aufwärmen, nachdem diese sieben Jahre zuvor abgebrochen waren. Ägypten hatte sich bereits in den 1960er Jahren der Sowjetunion zugewandt, die sowohl Ägyptens als auch Syriens Armee mit Waffen versorgte und tausende von sowjetischen Militärberatern in Ägypten stationierte. Die USA dagegen hatten ihren Verbündeten im Mittleren Osten in Israel. Sowohl die USA als auch die UdSSR hatten Interesse daran, den status quo in dieser Region des Mittleren Ostens zu wahren. Allerdings beschloss
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Vgl. Ebd., S. 401. Vgl. Wallach, Amei: »Thomas P. F. Hoving: The Man Who Brought Us Tut: The LI Interview«, Newsday, (10.12.1978).
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Ägypten, sich vom Einfluss der Sowjetunion zu befreien; zu tief saß noch die Erinnerung an die britische Fremdherrschaft. 1972 wurden alle sowjetischen Militärberater des Landes verwiesen. Ägypten konnte frei von der Sowjetunion agieren und griff am 6. Oktober 1973 zusammen mit Syrien Israel an.158 Für die Ägypter war das ein Vergeltungsschlag, der die durch Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 erlittene Demütigung rächen sollte. Ägypten wollte die damals von Israel besetzen Gebiete zurückerobern, blieb aber erfolglos. Der sogenannte Jom-Kippur-Krieg war rund drei Wochen später beendet; am 11. November 1973 wurde ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Während des relativ kurzen Krieges bezogen die OPEC, die Erdölförderländer des persisch-arabischen Golfes – Iran, Irak, Kuwait, Abu Dhabi, Katar, Saudi-Arabien – Stellung für Ägypten und Syrien gegen Israel und dessen westlichen Verbündeten, die USA.159 Die westlichen Industrieländer waren allesamt vom Import von Öl der OPEC Länder abhängig. Die OPEC nutzen diesen Umstand als Druckmittel: Sie erhöhten den Preis von Rohöl und reduzierten die Ölförderung mit der Drohung, die Ölförderung jeden Monat weiter zu drosseln, solange bis Israel die besetzten Gebiete herausgeben würde. Die USA wurden sogar gänzlich boykottiert, ihnen wurde kein Öl mehr geliefert.160 Die Situation entspannte sich aber bereits im Dezember und das Embargo gegen die USA wurde im März 1974 wieder aufgehoben. Die Bemühungen der USA während den Friedensverhandlungen zwischen Israel und Ägypten wurden auch von den OPEC anerkannt. Allerdings behielten die Erdölförderländer die Macht über den Ölpreis. U.S. Außenminister Henry Kissinger war die treibende Kraft während des Friedensprozesses zwischen Ägypten und Israel, in dem eine Einigung im Januar 1974 erzielt wurde. Ägypten wurde zum neuen Verbündeten der USA im Mittleren Osten. Das Treffen zwischen Nixon und Sadat im selben Jahr sollte dieses Bündnis besiegeln. Während dieses Treffens wurde ein bilaterales Abkommen unterzeichnet, dessen Abschnitt zur Kultur eine Übereinkunft zum Verleih der Tutanchamun Objekte an die USA enthielt; im Gegenzug würden die USA Ägypten bei der Sanierung des Opernhauses in Kairo unterstützen.161 Laut Hoving wollte Nixon von Sadat außerdem eine größere Anzahl Exponate in der amerikanischen Tutanchamun Ausstellung haben, als die Sowjets für ihre erhalten hatten. Außerdem wollte Nixon mindestens eine amerikanische Stadt mehr als Ausstellungsort
Vgl. Hobsbawm, Eric: The Age of Extremes. A History of the World, 1914-1991, New York 1995, S. 245. 159 Vgl. Ebd. 160 Für Informationen über die Ölkrise und ihre Konsequenzen in den USA vgl. McAlister, Melani: Epic Encounters. Culture, Media and the U.S. Interests in the Middle East since 1945, Berkeley/Los Angeles/New York 2005, S. 134-138. 161 Vgl. Hindley, Meredith: »King Tut: A Classic Blockbuster Museum Exhibition That Began as a Diplomatic Gesture«, HUMANITIES, 36/5 (2015), S. 2. 158
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
gewinnen, als die Sowjetunion bekommen hatte.162 In der UdSSR war die Wahl auf Moskau, Leningrad und Kiew gefallen; Sadat ließ insgesamt 50 Tutanchamun Objekte ausreisen.163 Auf Nixons Bitte hin forderte Sadat seine ägyptische Antikenverwaltung zur Kooperation während der Planung der Tutanchamun Ausstellung auf.164 Die konkreten Pläne wurden nach weiteren Verhandlungen in einer Vereinbarung durch Henry Kissinger und Ägyptens Außenminister Ismail Fahmy im Oktober 1975 festgehalten: Die Ausstellung sollte 1976 als Zeichen der Freundschaft von Ägypten in die USA kommen, um das 200-jährige Jubiläum der Vereinigten Staaten zu feiern.165 Damit wurde Tutanchamun auf der einen Seite zu einer diplomatischen Geste, die das neue Bündnis zwischen den beiden Ländern zementieren sollte. Denn mit dem neuen Verbündeten Ägypten, der zwar über keine eigenen Erdölvorkommen verfügte, hatten die USA den Fuß in der Tür zu den anderen arabischen Ländern des Mittleren Ostens, die Erdölvorkommen besaßen. Auf der anderen Seite konnten die USA zweifach über die UdSSR triumphieren: Erstens, indem sie die Sowjetunion als Verbündeten Ägyptens ersetzten; und zweitens dadurch, dass sie die Anzahl der Ausstellungsobjekte und Ausstellungsorte der Tutanchamun Ausstellung gegenüber denen der Sowjetunion erhöhen konnten. Kissinger selbst erteilte im Frühjahr 1975 dem Metropolitan Museum den Auftrag für die Organisation der Ausstellung, da die Ägypter eine der großen amerikanischen Institutionen in der Rolle des Verantwortlichen sehen wollten. Nach Aussage Hovings wurden ihm und dem Präsidenten des Met, Thomas Dillon, von Kissinger mitgeteilt, dass die Tutanchamun-Show ein zentraler Teil der Friedensbemühungen im Mittleren Osten sei und damit zentral für die zukünftige Beziehung zu Ägypten. Hoving erzählt weiter, dass ein gewisser Druck auf das Met von Seiten der Regierung ausgeübt worden war, um die Institution zur Übernahme der Organisation der Ausstellung zu bewegen: Eine Weigerung hätte im Verlust aller staatlichen Fördergelder geendet.166 Nixon und Kissinger wollten mit Hilfe der Tutanchamun Ausstellung ein anderes Bild von Ägypten zeichnen. Die US-amerikanische Bevölkerung sollte Ägypten nicht nur mit den Kriegen gegen Israel und der daraus resultierenden Ölkrise assoziieren. Im bereits oben erwähnten Interview mit Newsday vom 10. Dezember 1978, das kurz vor der Eröffnung der Tutanchamun Ausstellung
Vgl. Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 401. Vgl. Hindley: »King Tut: A Classic Blockbuster Museum Exhibition That Began as a Diplomatic Gesture«, a.a.O., S. 9; Vgl. McAlister, Melani: »The Common Heritage of Mankind: Race, Nation, and Masculinity in the King Tut Exhibit«, Representations, 54 (1996), S. 80-103, hier S. 81. 164 Vgl. McAlister: »The Common Heritage of Mankind: Race, Nation, and Masculinity in the King Tut Exhibit«, a.a.O., S. 81-82. 165 Vgl. McAlister: Epic Encounters. Culture, Media and the U.S. Interests in the Middle East since 1945, a.a.O., S. 127. 166 Vgl. Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 402. 162 163
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
im Met stattfand, zeigt sich Ex-Direktor Hoving überzeugt davon, dass Tutanchamun seinen diplomatischen Zweck bereits erfüllt habe und die Amerikaner Ägypten nun mit ganz anderen Augen sehen würden: »It’s ironic to think that King Tut, who nobody really knows anything about, may have accomplished a lot. [In his lifetime] he may have just been a young puppet. He’s been far more effective as a major international politician in the modern period since he was found. Really significant, cause his timing could not have been better; he’s just the most incredible diplomatic, goodwill human being, or exhuman being, that you could think of in history. He’s literally convinced the people around this country that Egypt is not the stereotype of what they thought it was. It’s a tremendous thing.«167 Hoving beschreibt Tutanchamun als unbekannten, uninteressanten Pharao, als Marionette. Er macht hier seine Überzeugung deutlich, dass Tutanchamun seine wahre Berufung als Politiker erst über 3000 Jahre nach seinem Tod mit Hilfe der Ausstellungstournee erreicht hat. Denn vor der US-Ausstellungstournee waren Tutanchamuns Grabbeigaben, ebenfalls aus politischen Gründen, in der Sowjetunion und in Europa gezeigt worden.
4.3
»Aesthetic overload« – Die Ästhetisierung der Grabbeigaben: universale Kunst, Kulturerbe und der Goldschatz
Hoving übernahm als Direktor des Met die Verhandlungen mit der ägyptischen Behörde für Altertümer und dem ägyptischen Museum in Kairo. Laut Hoving waren diese Verhandlungen nicht immer einfach und erstreckten sich über einen langen Zeitraum.168 Gamal Mokhtar, der Direktor der ägyptischen Antikenverwaltung machte Hoving schnell klar, »that the show was for rent«.169 Der Verleih der Tutanchamun Objekte an die USA sollte nach den Vorstellungen der Ägypter weit mehr als nur eine Geste für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen sein; die Ausstellung sollte auch das Budget der Antikenverwaltung aufstocken. Hoving handelte einen Deal mit Mokhtar aus, der es vorsah, den Überschuss an Einnahmen aus dem Verkauf von Merchandise-Produkten während der Ausstellung Ägypten zukommen zu lassen. Als Gegenleistung beanspruchte das Met zeitlich unbegrenzte, weltweite Rechte an den Reproduktionen von Statuen und Schmuck auch nach der Ausstellung:
167 Wallach: »Thomas P. F. Hoving: The Man Who Brought Us Tut: The LI Interview«, a.a.O. 168 Vgl. Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 402413. 169 Ebd., S. 405.
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im Met stattfand, zeigt sich Ex-Direktor Hoving überzeugt davon, dass Tutanchamun seinen diplomatischen Zweck bereits erfüllt habe und die Amerikaner Ägypten nun mit ganz anderen Augen sehen würden: »It’s ironic to think that King Tut, who nobody really knows anything about, may have accomplished a lot. [In his lifetime] he may have just been a young puppet. He’s been far more effective as a major international politician in the modern period since he was found. Really significant, cause his timing could not have been better; he’s just the most incredible diplomatic, goodwill human being, or exhuman being, that you could think of in history. He’s literally convinced the people around this country that Egypt is not the stereotype of what they thought it was. It’s a tremendous thing.«167 Hoving beschreibt Tutanchamun als unbekannten, uninteressanten Pharao, als Marionette. Er macht hier seine Überzeugung deutlich, dass Tutanchamun seine wahre Berufung als Politiker erst über 3000 Jahre nach seinem Tod mit Hilfe der Ausstellungstournee erreicht hat. Denn vor der US-Ausstellungstournee waren Tutanchamuns Grabbeigaben, ebenfalls aus politischen Gründen, in der Sowjetunion und in Europa gezeigt worden.
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»Aesthetic overload« – Die Ästhetisierung der Grabbeigaben: universale Kunst, Kulturerbe und der Goldschatz
Hoving übernahm als Direktor des Met die Verhandlungen mit der ägyptischen Behörde für Altertümer und dem ägyptischen Museum in Kairo. Laut Hoving waren diese Verhandlungen nicht immer einfach und erstreckten sich über einen langen Zeitraum.168 Gamal Mokhtar, der Direktor der ägyptischen Antikenverwaltung machte Hoving schnell klar, »that the show was for rent«.169 Der Verleih der Tutanchamun Objekte an die USA sollte nach den Vorstellungen der Ägypter weit mehr als nur eine Geste für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen sein; die Ausstellung sollte auch das Budget der Antikenverwaltung aufstocken. Hoving handelte einen Deal mit Mokhtar aus, der es vorsah, den Überschuss an Einnahmen aus dem Verkauf von Merchandise-Produkten während der Ausstellung Ägypten zukommen zu lassen. Als Gegenleistung beanspruchte das Met zeitlich unbegrenzte, weltweite Rechte an den Reproduktionen von Statuen und Schmuck auch nach der Ausstellung:
167 Wallach: »Thomas P. F. Hoving: The Man Who Brought Us Tut: The LI Interview«, a.a.O. 168 Vgl. Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 402413. 169 Ebd., S. 405.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
»My last offer was one hundred percent of the profits on all sales in the shops throughout the run of the show and twenty-five percent of the profits from the mail order catalogue with the proviso that the Met would have exclusive, world rights to the reproductions and jewelry we were working on after the exhibition, in perpetuity.«170 Nach dieser grundsätzlichen Auslotung der Erwartungen sowohl der Ägypter als auch der Amerikaner, mussten die entsprechenden Objekte vor Ort in Kairo nicht nur ausgewählt, sondern für den Katalog fotografiert werden. Auch die Abgüsse der Objekte für die Reproduktionen mussten gemacht werden. Hoving wurde daher begleitet vom Fotografen Lee Boltin, der Tutanchamuns Grabbeigaben für den Ausstellungskatalog fotografierte; viele davon wurden zum ersten Mal in Farbe abgelichtet.171 Zum Team gehörten außerdem Christine Roussel, Managerin des Reproduction Studios des Met, deren Team Abdrücke vieler verschiedener Objekte nahm – vor allem von Schmuck –, die als Vorlage für Kopien dienten, die während der Ausstellung verkauft werden sollten. Die Ägyptologin und Kuratorin der ägyptischen Abteilung des Metropolitan Museums of Art, Christine Lilyquist, begleitete Hoving ebenfalls nach Kairo, um die Objekte auszuwählen. Die Auswahl der Exponate gestaltete sich als ähnlich schwierig wie die Verhandlungen zuvor: es gab auf beiden Seiten ganz unterschiedliche Kriterien, nach denen entschieden wurde, welche der Grabbeigaben in den USA präsentiert werden sollten. Die Ägypter achteten nicht nur darauf, welche Objekte die weite Reise unbeschadet überstehen würden und welche zu fragil dafür waren; es wurde auch darauf geachtet, welches Bild Ägyptens diese Exponate transportieren würden. So untersagte Mokhtar den Verleih eines Objektes, auf dem Gefangene zu sehen waren. Er begründete sein Veto mit der Aussage, dass diese Darstellung nicht dem Sinn und Zweck dieser Ausstellung dienen würde: »it shows foreign prisoners, a matter that contradicts with the principle behind the exhibition (concerning international exchange and understanding.).«172 Mokhtar nennt internationalen Austausch und Verständnis als Grundprinzipien der Ausstellung. Die Darstellung von Gefangenen sieht er als konträr zu diesen Prinzipien und den Bemühungen um Frieden.
170 Ebd., S. 410. 171 Das Fotografieren und Digitalisieren Tutanchamuns sind aktuelle Forschungsthemen. Vgl. Riggs, Christina: Photographing Tutankhamun. Archaeology, Ancient Egypt, and the Archive, London 2018; Vgl. Riggs, Christina: »Reborn-Digital Tutankhamun: Howard Carter and an Egyptian Archaeologist, Name Unknown«, Photography and Culture, 14/3 (2021), S. 395–399; Vgl. Schulze, Mario: »Tutanchamun fotografieren – Zur Produktion eines Ausstellungsstars«, Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 39/4 (2016), S. 331-349. 172 »Letter Mokhtar to Hoving«, 03.09.1975, Box 43, Folder 8, Thomas Hoving records, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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Mokhtar hatte gewiss Bedenken, dass diese Darstellung an den Jom-Kippur-Krieg von 1973 erinnern würde, bei dem Ägypten der Aggressor gewesen war. Das Image des modernen Ägypten, dessen positive Darstellung den Ägyptern während dieser Ausstellung so wichtig war, interessierte Hoving nicht. Die Auswahlkriterien Hovings folgten rein ästhetischen Gesichtspunkten: Für ihn galt es, möglichst wertvolle und prunkvolle Grabbeigaben in die USA zu bringen. Der materielle Wert, das heißt vergoldete Objekte oder Exponate aus massivem Gold, sowie der ästhetische Wert, das heißt Objekte, die generell als schön bezeichnet werden können, waren für ihn maßgebend für die Auswahl der Stücke. »When I walked up the stairs and into the Tutankhamun galleries, I experienced aesthetic overload. […] I didn’t bring any expertise to the Tut galleries; I selected what looked great. Simple as that. Christine Lilyquist tried to point out what was important or not from the Egyptological point of view, but I didn’t listen. I knew what I wanted.«173 Das Empfinden beim Anblick der Objekte in der Tutanchamun-Galerie kann Hoving nur mit »aesthetic overload« beschreiben. Er ist überwältigt vom ästhetischen Gehalt, der puren Schönheit, der Objekte. Hoving selektiert die Objekte nach eigenen Angaben rein nach seinem eigenen ästhetischen Empfinden: er weiß was er will, er hört nicht auf die Meinung der Ägyptologin und er sucht das aus, was für ihn großartig aussieht, also das, was er als schön empfindet. Indem er den ägyptologischen Blickwinkel missachtet, impliziert er, dass es im Fall der Grabbeigaben Tutanchamuns nicht auf ägyptologische Expertise ankommt; sie wird nicht gebraucht. Hovings Einstellung bezeichnet Melani McAlister als »Hovingʼs aestheticism«, denn Hoving glaubte, »that certain works of art were simply and unproblematically great«.174 Hoving wollte, so McAlister weiter, die Besucherinnen nicht mit detaillierten Informationen über die historische Bedeutung eines Exponates langweilen, sondern er wollte sie mit Schönheit locken, »with a kind of immediate […] apprehension of the artistic power of a work«175 . Deshalb wird bei Tutanchamun, laut Hoving, auch kein ägyptologisches Fachwissen gebraucht; die Schönheit der Objekte kann für sich alleinstehen, die keine Deutung der Ägyptologin benötigen. Hoving bezeichnet die Exponate außerdem weder als ägyptisch, altägyptisch, noch als Grabbeigaben. Stattdessen redet er von »works of art«, »supreme treasures« und von »hundreds upon hundreds of gilded objects«.176 Durch Hovings
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Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 404. McAlister: Epic Encounters. Culture, Media and the U.S. Interests in the Middle East Since 1945, a.a.O., S. 129. Ebd. Hoving, Thomas: Tutankhamun – The Untold Story, New York 1978, S. 367.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Ästhetisierung der Grabbeigaben werden sie zu Kunstwerken im Sinne eines allgemeingültigen, ästhetischen Verständnisses von Kunst; sie werden zum wertvollen Schatz mit hunderten goldener Objekte. Wie auch McAlister bemerkt, suggeriert das Narrativ der Ausstellung Treasures of Tutankhamun, dass es sich bei den Grabbeigaben um »universal art« und um das Kulturerbe der gesamten Menschheit handelt, die als Allgemeingut nicht Ägypten gehören, sondern der ganzen Welt: »The ›official‹ Tut narrative – as produced by museum curators, Egyptologists, and the mainstream press – aestheticized the Tut treasures, constructing them as ›universal art‹, something too ennobling and too precious (too ›human‹) to belong to any one people (Arab) or any one nation (Egypt). Instead, Tut was presented as part of the ›common heritage of mankind‹ – a heritage that would be owned and operated by the United States.«177 Damit zeigt sie ein Narrativ auf, das genau mit dem bereits besprochenen Narrativ übereinstimmt, das der damalige ägyptische Außenminister Okasha von Tutanchamun und den zu rettenden Monumenten im Süden Ägyptens schon in den 1960er Jahren produzierte. Auch er bezeichnete die Grabbeigaben als Kulturerbe der ganze Menschheit, als Kunst im universalen Sinne, als Schätze, als Reichtümer und als schöne Dinge.178 Wir sehen also, dass die bereits geläufigen Assoziationen mit Tutanchamun im Besonderen und mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen die Auswahl der Objekte steuerten: Hoving wählte die Exponate nach ästhetischen Gesichtspunkten aus. Er wählte jene Objekte, die er und seine zukünftigen Besucherinnen der Ausstellung mit Schatz, Reichtum, Dekadenz und Schönheit assoziieren würden. Darüber hinaus wurden durch das Narrativ der Ausstellung, das Kuratorinnen, Ägyptologinnen und die Presse, aber natürlich auch Hoving schufen, zwei neue Assoziationen genährt: universale Kunst und Kulturerbe. Tutanchamuns Grabbeigaben sollten als universale Kunst und als Kulturerbe der gesamten Menschheit rezipiert werden. Diese neuen Assoziationen, so haben wir gesehen, wurden bereits zehn Jahre zuvor durch Okasha in Umlauf gebracht, sie bestimmten allerdings bei Treasures of Tutankhamun das gesamte Narrativ der Ausstellung.
4.3.1
Intimität und Humanität – Die Grabbeigaben als Projektionsfläche für Emotionen und Assoziationen
Besonders deutlich wird Hovings ästhetische Lesart der Tutanchamun Grabbeigaben als universale Kunst und als kulturelles Allgemeingut in seiner Beschreibung der Selket Statuette: »a stunning work of art of universal quality and beauty. I am 177 178
McAlister: »The Common Heritage of Mankind: Race, Nation, and Masculinity in the King Tut Exhibit«, a.a.O., S. 82. Okasha: »Foreword«, a.a.O.
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still surprised that the authorities gave permission to lend it.«179 Diese vergoldete Statuette einer Göttin gehört zu einem Ensemble von insgesamt vier Göttinnen, die rings um den Naos stehen, in dem Tutanchamuns Kanopenkasten aufbewahrt wurde (Abbildung 10).180
Abbildung 10: Selket. Abbildung 11: Tutanchamun als Harpunierer.
Djehouty, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons. © Mirko – stock.adobe.com
Hoving bezeichnet Selket als erstaunliches Kunstwerk von universaler Qualität und Schönheit. Dieses schöne, universale Kunstwerk ist als solches zu rezipieren, nicht als Objekt aus einem funerären Kontext; so werden aus ägyptischen Grabbeigaben globale Schätze, die der gesamten Menschheit gehören. Dieser Menschheit wollte Hoving mit Hilfe der Selket Humanität in seiner Ausstellung präsentieren, die er zunächst selbst vermisste: 179
»Letter sent to participating institutions« from Thomas Hoving, 1975, Box 2, Folder 6, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 180 Ägyptisches Museum Kairo, Inventarnummer JE 60686.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
»The show had everything – gorgeous objects, all looking as if they had been made the day before, and the stupendous gold mask – but the show lacked humanity in a way I couldn’t quite define. I asked them to substitute for one of the objects one of four gilded wooden goddesses [Selket, d. Verf.]. All four were wearing skin-tight ›nightgowns‹.«181 Menschlichkeit soll Selket in ihrem, laut Hoving, hautengen Nachthemd in der »show« zum Vorschein bringen. Bei dem Nachthemd handelt es sich um ein plissiertes, enges Gewand, das die weiblichen Konturen der Göttin erkennen lässt. Hoving scheint hier Menschlichkeit mit Erotik zu verwechseln. Damit werden bekannte Assoziationen – Erotik, Laszivität und Schönheit – mit dem Alten Ägypten angesprochen, die die Selket Statuette, die Form, anfüllen. Hoving preist seine wundervollen Objekte an, er hebt besonders hervor, dass sie brandneu aussehen. Zu seinen Auswahlkriterien bemerkt Hoving weiter, dass er erkannt habe, dass »the finest Tut things were the more intimate objects«182 . Damit meint er wahrscheinlich Objekte, mit denen die Besucherinnen in eine Art Dialog treten können. Die Exponate sollen zu Projektionsflächen für Emotionen und Assoziationen der Besucherinnen werden. Um eine emotionale Verbindung oder Reaktion herstellen zu können, braucht Hoving Exponate, mit denen sich die Besucherin identifizieren kann und die ihr grundlegend bereits bekannt sind. Die Besucherin muss einen Bezug zwischen den Exponaten und ihrem eigenen Leben herstellen und dabei auf eigene Erfahrungen zurückgreifen können. Hoving wählte deshalb viele Grabbeigaben aus, die die menschliche Form zeigen. Darunter befanden sich die Goldmaske Tutanchamuns, Statuetten, die den Pharao als Harpunierer183 (Abbildung 11) und auf dem Rücken eines Panthers zeigen sowie Tutanchamun als kleine Statuette auf einem Stab: »Also included in the collection are small golden statues which represent the Boy King in various activities, the best-known of which is the Boy harpooner. Another statue shows the beautiful but stern Goddess Selket, in gilt over wood, with outstretched hands protecting the canopic shrine.«184 Diese verschiedenen rundplastischen Darstellungen Tutanchamuns, die ihn während der Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten zeigen, geben dem Pharao ein Gesicht und einen Körper; sie lassen ihn menschlicher erscheinen. Eine ähnliche, auf Erfahrung und Emotionen basierende Rezeption – Hoving bezeichnet deren 181 182 183 184
Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 410. Ebd., S. 404. Ägyptisches Museum Kairo, Inventarnummer JE 60709. »News from the National Endowment for the Humanities«, 14. September 1977, Box 7, Folder 2, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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Quintessenz als Humanität und Intimität – soll mit der Selket Statuette im körperbetonten Kleid erreicht werden. Ihr wird sogar, neben ihrer offensichtlichen Schönheit, eine Strenge und Ernsthaftigkeit angedichtet, die im Gegensatz zur Beschreibung der Tutanchamun Statuetten steht, in der der Pharao als »Boy King« oder »Boy harpooner« bezeichnet wird, womit die spielerische und kindliche Natur der rundplastischen Darstellungen, die ihn in Aktion zeigen, betont wird. Selket wird als strenge, aber schöne Beschützerin Tutanchamuns bezeichnet, sie wird in der klassischen Mutterrolle präsentiert. Bei Tutanchamun werden dagegen seine Jugend und das vermeintliche und klischeehafte Jungenverhalten akzentuiert. Er wird durchweg als »Boy« bezeichnet, der die verschiedenen Rollen lediglich spielt: die Rolle des Königs oder auch die Rolle des Harpunierers. Wie ein typisches Kind ist er aktiv und die Besucherinnen können diesem Jungen bei seinen Aktivitäten und Rollenspielen zuschauen, während seine »Mutter« Selket über ihn wacht. Der Pressebericht ist so geschrieben, dass sich die Besucherinnen mit Tutanchamun und Selket identifizieren können. Er gibt beiden eine Persönlichkeit und erzeugt dadurch, wie Hoving es vorsah, Menschlichkeit sowie Intimität zwischen Betrachtenden und Exponaten. Darüber hinaus weckt der Pressebericht die Assoziationen jugendlich und jungenhaft mit Tutanchamun sowie die Assoziationen schön, ernst und mütterlich mit Selket.
4.3.2
Der Grabschatz – Die Faszination mit Tutanchamuns Gold
Selbstverständlich wählte Hoving die berühmte Goldmaske Tutanchamuns aus, die als Prunkstück der Ausstellung präsentiert wurde und in einem weiteren Pressebericht, zusammen mit der Selket Statuette, auch als solches angepriesen wurde: »Some of the most beautiful and representative objects found in the tomb of the boy-king Tutankhamun (1334-1325 B.C.) are included in the exhibition. Chief among these is one of the most remarkable effigies in the history of man: the gold mask of Tutankhamun, inlaid with carnelian, lapis lazuli, colored glass and quartz. No less spectacular are the wooden gilt statuette of the goddess Selket overlaid in gold, the gilded figure of Tutankhamun harpooning, and a small gold shrine of marvelous craftsmanship. The exhibition also includes superb examples of Tutankhamun’s funerary jewelry and furniture.«185 Was bei der Maske des Tutanchamun immer besonders herausgestellt wird, auch von Hoving, ist, dass sie aus solidem Gold gefertigt wurde: »the 450 pound solid
185
»Field Museum Promotional Information, Fact Sheet: Treasures of Tutankhamun«, 1977, Box 4, Folder 15, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
gold mask of Tutankhamun«186 , und dass auch Halbedelsteine verarbeitet wurden. Genauso wird betont, dass es sich bei der Selket und bei der Statuette des Harpunierers um vergoldete Statuetten handelt. Hovings ästhetisches Auswahlverfahren der Exponate richtete sich unverkennbar auch danach, welche Objekte aus Gold gefertigt wurden beziehungsweise vergoldet wurden. Wie McAlister argumentiert, machte diese Herangehensweise Hovings die gesamte Ausstellung in doppelter Hinsicht unbezahlbar. Erstens galten die goldenen Exponate wegen ihres künstlerischen Wertes als unbezahlbare universale Kunstwerke und zweitens machte sie ihr materieller Wert gleichermaßen unbezahlbar: »The fascination with Tut’s gold highlighted tensions between the Tut objects as ›priceless‹ universal art on the one hand and as literal wealth on the other. The extraordinary use of gold for everything from goblets to necklaces to decorative statues made the Tut exhibit literally, as well as artistically, priceless.«187 Die nicht nur von McAlister attestierte Beobachtung von einer Faszination mit Tutanchamuns Gold können wir aber genauer definieren: Das Gold, oder besser die goldenen Grabbeigaben Tutanchamuns sind Formen, die von Assoziationsverknüpfungen mit dem Alten Ägypten angefüllt werden. Die Assoziationen, die die Form Gold auffüllen, sind Schatz, Reichtum und Dekadenz; auch Macht und Status können Assoziationen sein. Weitere Formelemente sind die übrigen als wertvoll betrachteten Materialen wie die Edelsteine und Halbedelsteine, Lapislazuli, Karneol etc. Gleichzeitig kann das Zusammenspiel dieser Formelemente Gold, Edelsteine, aber auch die handwerklich besonders exakte Ausführung der Objekte die Assoziation Schönheit auslösen. Gerade auch bei Schmuck, der ebenfalls größtenteils aus Edelmetall und Edelsteinen bestand, kann sowohl die Assoziation mit Reichtum und Schatz als auch mit Schönheit ausgelöst werden. Der Titel Treasures of Tutankhamun prophezeit bereits den Schatz des Tutanchamun, noch bevor die Besucherinnen in der Ausstellung sind und er ihnen dort in der Form der goldenen Grabbeigaben präsentiert wird. In einem weiteren Pressebericht werden die Grabbeigaben außerdem als »fabled hoard« bezeichnet: »Some of the most beautiful and representative objects of the fabled hoard found in the tomb of the boyking Tutankhamun.«188 Die Bezeichnung »hoard« oder »Schatz« ist treffend. Tutanchamuns Grabbeigaben entsprechen tatsächlich dem, was Karl Marx als Schatz 186 »News from the National Endowment for the Humanities«, 1976, Box 2, Folder 4, S. 3, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 187 McAlister: »The Common Heritage of Mankind: Race, Nation, and Masculinity in the King Tut Exhibit«, a.a.O., S. 88. 188 »Fact Sheet: Treasures of Tutankhamun, Met«, 1976, Box 5, Folder 16, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
181
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
bestimmt: Ein Schatz ist Geld oder eine Geldware, die der Warenzirkulation entzogen wird und als selbstständige Gestalt des Wertes außerhalb der Zirkulation existiert: »das Geld versteinert damit zum Schatz«189 . Tutanchamuns Grabbeigaben sind ein Schatz, weil das hier verwendete Gold nicht mehr zirkuliert, es wird nicht mehr zum Kauf von Waren verwendet, sondern liegt, ökonomisch gesehen, unergiebig im Grab. McAlister weist außerdem drauf hin, dass Parallelen gezogen wurden zwischen Tutanchamuns Gold und dem schwarzen Gold, den Ölvorkommen im Mittleren Osten: »Implicit connections were being drawn: between oil as a commodity on the world market and the world market price of gold that made Tutʼs treasures so priceless.«190 Grund für diesen Vergleiche war die der Tutanchamun Ausstellung vorangegangenen Ölkrise, deren Schock bei den Amerikanern noch tief saß. Der Umstand, dass der Ölkonzern Exxon einer der großen Sponsoren der Ausstellung war, festigte die Verbindung zwischen Tutanchamuns Gold und Öl freilich weiter. Die Faszination mit Tutanchamuns Gold und der Grund dafür, Gold in den Mittelpunkt der Ausstellung zu rücken sowie der Erfolg von Treasures of Tutankhamun können auch mit der Aufhebung des Goldstandards zu Beginn der 1970er Jahre in Beziehung gestellt werden. Die Aufhebung des Goldstandards erfolgte in den USA zu Anfang der 1970er Jahre. Sie wurde durch Nixon ohne Vorwarnung proklamiert, was als sogenannter »Nixon-Schock« in die Geschichte eingegangen ist. Konkret bedeutete die Aufhebung des Goldstandards, dass es keine Einlöseverpflichtung des Dollars in Gold mehr gab. Diese war fiktiv geworden, weil zu viele Dollarmengen in Umlauf waren und entsprechend zu wenig Gold in Reserve. Zuvor war das zirkulierende Papiergeld nur ein Stellvertreter des Goldes. Die Noten waren zu einem bestimmten Prozentsatz durch den Goldschatz der Notenbank gedeckt. 35 Dollar entsprachen einer Unze Gold.191 Der Goldschatz diente so dazu, den Wert des Papiergeldes zu decken. Dreiviertel der Goldreserven (Goldschatz) der Welt lagen nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA in Fort Knox. Die Goldreserve schmolz allerdings während der 1960er Jahre dahin, weil gerade die Länder Europas ihr Papiergeld gegen Gold einlösten.192 Den mit der Aufhebung des Goldstandards verlorenen Goldschatz und auch die Sicherheit, die damit einherging, fanden die Besucherinnen in der Ausstellung Treasures of Tutankhamun wieder. Beeindruckt von der Überfülle an Gold in der Ausstellung konnte die Besucherin als 189 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: Marx-Engels-Werke, herausgegeben von Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 23, Berlin 1962, S. 144. Vgl. auch Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, 3. Aufl., Stuttgart 2005, S. 66. 190 McAlister: Epic Encounters. Culture, Media and the U.S. Interests in the Middle East Since 1945, a.a.O., S. 139. 191 Heinrich: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung, a.a.O., S. 68. 192 Vgl. Hobsbawm: The Age of Extremes. A History of the World, 1914-1991, a.a.O., S. 241-242.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Mythenleserin denken, dass die Ägypter so reich waren, dass sie es sich leisten konnten, dieses Gold der Zirkulation zu entziehen und ihrem Pharao mit ins Grab zu geben. Die Assoziation von Gold mit Reichtum besteht nach Marx seit langem: »Grade in den Anfängen der Warenzirkulation verwandelt sich nur der Überschuß an Gebrauchswerten in Geld. Gold und Silber werden so von selbst zu gesellschaftlichen Ausdrücken des Überflusses und des Reichtums.«193 Die USA, wo man den Goldstandard aufheben musste, weil das Land zu wenig Goldreserven hatte, musste deshalb im Vergleich mit dem Alten Ägypten arm gewirkt haben. In Zusammenhang mit dem Gedanken an diesen scheinbaren Überfluss, der es erlaubte, das Gold aus der Warenzirkulation zu nehmen, entstehen beim Anblick von Tutanchamuns Gold die Assoziationen Schatz, Reichtum und Dekadenz. Schlussendlich schafften es insgesamt 55 Objekte in die Auswahl Hovings, die der Vizedirektor des Met, Richard Dougherty, als »the most representative and beautiful of the tomb treasure«194 bezeichnete. Am 24.11.1975 wurden die endgültige Objektliste und der Vertrag über deren Verleih von Hoving und Mokhtar unterschrieben: »I presented my list of fifty-five objects – the number fit the years since the discovery of the tomb.«195 Außerdem erhielten die USA, wie gewünscht, mehr Objekte als die Sowjetunion erhalten hatte. Der neue Arts and Artefacts Indemnity Act von 1975, durch den die Objekte einer Ausstellung durch den Staat versichert werden konnten, machte es überhaupt erst möglich, die Grabbeigaben Tutanchamuns in die USA zu bringen. Jeder einzelnen dieser Grabbeigaben wurde ein bestimmter Versicherungswert beigemessen, der sich bei Tutanchamuns Maske damals auf eine Million Dollar belief; der Versicherungswert der gesamten Ausstellung betrug über 17 Millionen Dollar.196 Ebenfalls im November wurde auch ein Vertrag zwischen dem Metropolitan Museum und den an der Ausstellung beteiligten Museen unterzeichnet, in dem ihre Rechte und Pflichten in Bezug auf die Ausstellung schriftlich festgehalten wurden. Nachdem die Verhandlungen mit den ägyptischen Behörden und die Auswahl der Objekte abgeschlossen waren, konnten sich die sechs Museen mit der konkreten Ausstellungsplanung – dem Konzept und der Inszenierung – befassen.
193 Marx: Das Kapital, a.a.O., S. 144. 194 »Letter Dougherty to Exxon«, 22.03.1976, Box 1, Folder 15, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 195 Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 404. 196 Die Objekte waren für insgesamt $17.257.500 versichert. »Indemnity«, 1976, Box 2, Folder 3, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
4.4
Arbiträre Logik – Das Ausstellungskonzept von Treasures of Tutankhamun
In einem Brief von Thomas Hoving an alle involvierten Museen kommt zum Vorschein, dass die Ausstellung in ihrer ursprünglichen Planung nicht nur Tutanchamun Exponate enthalten sollte, sondern auch Objekte, die den Fund in den historischen Kontext stellen sollten: »it was decided that it would be far better to have the full complement of objects in the exhibition relate directly to Tutankhamun’s tomb and to deal with the historical continuity by the publications and possibly by photographs.«197 Und weiter: »The works of art associated with him are exceptional in their beauty. […] Certain of the four other works of art were not of sufficient quality. Therefore the four other objects preliminarily selected were removed from the list and four exceptional Tutankhamun objects were placed on the final list.«198 Hier betont Hoving abermals die herausragende Schönheit und Qualität der »works of art«, der Grabbeigaben Tutanchamuns. Die anderen Objekte, die den historischen Kontext geben sollten, sind laut Hoving von minderer Qualität, sie können daher unmöglich zusammen mit den Tutanchamun Exponaten gezeigt werden. Wie McAlister bereits festgestellt hat, will Hoving die Besucherinnen nicht mit historischem Kontext langweilen, sondern die Qualität und Schönheit der Objekte für sich sprechen lassen. Hoving glaubt an einen unmittelbaren, ästhetischen Zugang zu den Exponaten. Die Exponate, die »works of art«, stehen in dieser Ausstellung im Mittelpunkt; der historische Kontext tritt dagegen vollkommen in den Hintergrund: »The history was the frame for the art, rather than the art serving as illustrations or evidence for the history.«199 Den historischen Kontext wiederum will Hoving mit Hilfe von Fotos und den Publikationen geben; damit meint er unter anderem den Ausstellungskatalog. Wie McAlister bemerkt, war die historische Information ohne Zweifel in den Katalogen und Büchern, die die Ausstellung begleiteten, vorhanden, aber diese Informationen dienten lediglich als Rahmenhandlung für die Würdigung der Schönheit, der Qualität und des Wertes der Objekte, die im Mittelpunkt standen.200 Das auf die Ästhetik der Exponate 197
»Letter sent to participating Institutions«, 1975, Box 2, Folder 6, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. Der Brief wurde von Thomas Hoving verfasst; er ist undatiert. Der Brief muss nach dem 24.11.1975 geschrieben worden sein, da sich im Anhang Verträge und Objektlisten befinden, die auf den 24.11.1975 datiert sind. 198 427»Letter sent to participating Institutions«, 1975, Box 2, Folder 6, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 199 McAlister: Epic Encounters. Culture, Media and the U.S. Interests in the Middle East Since 1945, a.a.O., S. 130. 200 Vgl. Ebd.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
fokussierende Ausstellungskonzept Hovings spielte, wie wir sehen werden, freilich der Produktion und Rezeption des Mythos Ägypten in die Hände, der, nachdem er sich innerhalb eines Augenblicks manifestiert hat, nicht mehr durch Informationen oder Richtigstellungen zu revidieren ist. Die Direktoren, Kuratoren und Designer der involvierten Museen mussten über einen längeren Zeitraum zusammenarbeiten, damit die Ausstellungstournee erfolgreich durchgeführt werden konnte. Man einigte sich während eines Designer-Meetings, an dem alle beteiligten Museen durch ihre jeweiligen Vertreter anwesend waren, auf ein Gesamtkonzept, das von den Mitarbeitenden des Metropolitan Museum of Art vorgestellt wurde und nach wenig Widerstand auch abgesegnet wurde.201 Das Gesamtkonzept besagte, dass die Inszenierung der Ausstellung Treasures of Tutankhamun in allen Museen einheitlich sein sollte. Es verlangte darüber hinaus, dass die Inszenierung der Ausstellung in vier logische Einheiten aufgeteilt werden sollte. Die Aufteilung in vier Ausstellungseinheiten folgte dem Grundriss des Grabes von Tutanchamun, das aus vier Kammern besteht. Carter nannte diese vier Grabräume: Vorkammer, Grabkammer, Schatzkammer und Annex. Das ist auch die Reihenfolge, in der er das Grab über zehn Jahre hinweg erforscht, ausgegraben und ausgeräumt hat. Mit Hilfe von Carters akribischen Aufzeichnungen im Journal d’entrée, in denen er jedem Objekt eine Fundnummer zuteilte, es beschrieb und seinen Platz im Grab notierte und mit Hilfe der Fotografien, die Grabungsfotograf Harry Burton sowohl in situ als auch nochmals einzeln von den Objekten machte, lässt sich Carters Vorgehen genau rekonstruieren. Das Konzept der Ausstellung Treasures of Tutankhamun sah nun weiter vor, dass die 55 Ausstellungsobjekte in der Reihenfolge präsentiert werden sollten, in der sie von Carter gefunden worden waren: Jene Objekte, die er im Grab in der Vorkammer auffand, sollten dementsprechend im ersten Ausstellungsraum, der die Vorkammer repräsentierte, in der exakten Reihenfolge ausgestellt werden, in der sie Carter gefunden und dokumentiert hatte. Das erste Exponat, welches die Besucherinnen in der Ausstellung zu Gesicht bekamen, war der Kopf des Nefertem, ein aus Holz gefertigter, bemalter Kopf auf einer Lotosblüte, der den kindlichen Tutanchamun porträtierte. Carter hatte ihn im Gang zur Vorkammer gefunden.202 Womöglich wurde er dort von Grabräubern zurückgelassen. Die Objekte am Ende der Ausstellung stammten aus dem Annex, den Carter zuletzt ausgegraben hatte. Diese Idee, die Aufstellung der Exponate
201 »Report Designers Meeting«, 08.01.1976, Box 1, Folder 21, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York; »Memorandum Designers Meeting, Stuart Silver to Thomas Hoving«, 12.01.1976, Box 1, Folder 21, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 202 Carter Fundnummer: 008, Inventarnummer: JE 60723, Ägyptisches Museum Kairo.
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nach Carters Vorgehen und Aufzeichnungen sowie Burtons Fotografien folgen zu lassen, stammte von Hoving.203 Er hatte sie zunächst für die permanente Installation der Tutanchamun Objekte im ägyptischen Museum in Kairo beziehungsweise für ein potenzielles neues Tutanchamun Museum in Gizeh angedacht.204 Da die Ausführung dieses Projektes aber höchst ungewiss war, wandte er seinen Einfall auf die Ausstellung Treasures of Tutankhamun an. Die Vorteile einer carterschen Ausstellungsinszenierung macht Hoving deutlich: »To do the job in this way not only brings an immediate control and rationale to the organization of the material but avoids any contemporary theory about how the things should be grouped and ordered. In other words, Carter is the Curator and Carter has made his irrevocable statement.«205 Der Vorteil, den Hoving in der carterschen Objektanordnung sieht, liegt in der kontrollierten und rationalen Organisation der Exponate. Angesichts der schier unendlichen Fundmenge, der sich eine Kuratorin gegenübersähe, wenn er mit der Aufgabe betraut wäre, alle Objekte aus Tutanchamuns Grab auszustellen, scheint diese Herangehensweise durchaus sinnvoll. Bei der übersichtlichen Zahl von 55 Exponaten, die für die Treasures of Tutankhamun Ausstellung vorgesehen waren, scheint Hovings Wunsch nach Kontrolle und Struktur übertrieben; trotzdem hielt er an diesem Ausstellungskonzept für die USA Tournee von Tutanchamun fest.206 Ein wichtiger Grund dafür war Hovings erklärte Absicht, zeitgenössische Ausstellungstheorien zu umgehen. Indem er Carter als eigentlichen Kurator der Ausstellung bezeichnet, der seine unwiderrufliche Erklärung zur Anordnung der Objekte proklamiert habe, hofft Hoving, jede Kritik an seinem Konzept im Keim zu ersticken. Deutlich wird hier auch, dass sich Hoving als Erbe Carters fühlt, dessen Aufgabe es ist, das, was Carter angefangen hatte, glorreich zu Ende zu führen: den 203 Vgl. Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 405406. 204 »Memorandum Thomas Hoving to Kevin Roche«, 22.12.1975, Box 1, Folder 11, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. Inspiriert durch seinen Aufenthalt in Kairo und dem Ägyptischen Museum verfasste Hoving nicht nur diesen 24-seitigen Bericht über seine Ideen zu einem neuen ägyptischen Museum in Ägypten, sondern auch ein ganzes Manifest »The White Paper«, in dem er ein ganz neues Museum für Ägypten andenkt: »White Paper«, Juni 1975, Box 1, Folder 13, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 205 »Memorandum Thomas Hoving to Kevin Roche«, 22.12.1975, Box 1, Folder 11, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 206 »Letter Hoving to Golden«, 19.12.1975, Box 4, Folder 6, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Objekten nicht nur im Journal d’entrée eine nachvollziehbare und sinnvolle Gliederung zu geben, sondern diese Ordnung auch auf die räumliche Ebene des Museums und der Ausstellung zu übertragen. Denn wie wir gesehen haben, endete Carters Einfluss auf die Grabbeigaben, nachdem sie das Tal der Könige verließen und nach Kairo ins Ägyptische Museum abtransportiert wurden. Die Installation der Objekte in der Dauerausstellung und die weitere Pflege der Exponate oblag danach der Antikenverwaltung und dem Museum. Hovings eigene Vision, wie die Tutanchamun Grabbeigaben aufgestellt werden sollten, steht in starkem Kontrast zu den realen Gegebenheiten im Ägyptischen Museum in Kairo, in dem er Tutanchamuns Grabbeigaben in den 1970er Jahren zu Gesicht bekommen hatte: »The works of art […] have lain in filthy glass cases, placed in disorder on the second floor of the Egyptian Museum in dirty, unpainted halls covered with dust and sand. Some of the supreme treasures are identified by labels which are brown with age, wrinkled, and for the most part virtually unreadable. Not even a guidebook exists for the collection. The hundreds upon hundreds of gilded objects, statuettes, tools, implements, shields, boxes, pieces of furniture – even the majestic canopic shrine with its four sublime goddesses – are slowly deteriorating, cracking apart, dying.«207 Wörter wie »deteriorating«, »disorder«, »dying« stehen Wörtern wie »rationale«, »organisation« und »control« gegenüber. Außerdem bezeichnet Hoving die Tutanchamun Objekte als »supreme«, »majestic« und »sublime«; die Installation der Objekte im ägyptischen Museum Kairo beschreibt er dagegen als »dirty«, »filthy«, bedeckt von Staub und Sand; sie sind am Sterben.208 Durch die Wortwahl »dying« scheint es so, als ob die Objekte belebt seien; Hoving personifiziert sie. Die wundervollen Objekte befinden sich in einem unnatürlichen Habitat, das, konträr zu ihrer Schönheit, hässlich und schmutzig ist; es ist ihrer unwürdig. Es scheint so, als ob die Objekte, nachdem Carter Ordnung in sie gebracht hatte, nun wieder zurückkehren in ihren ursprünglichen Zustand und zu ihrem Ursprungsort in der ägyptischen Wüste, aus der sie Carter von Sand, Dreck und Staub befreit hatte. Während es Carter nicht gelungen war, dem Grabschatz Tutanchamuns eine angemessene Präsentation in einem Museum der westlichen Welt zu geben, ist es nun an Hoving für eine würdevolle und, im Sinne Carters, ordnungsgemäße Präsentation der Objekte zu sorgen. Die Mittel dazu sind: Kontrolle, Vernunft, Struktur und Ordnung, entsprechend Carters Vorstellung von Ordnung, die Hoving im Journal d’entrée und Carters übrigen Grabungsaufzeichnungen aufzufinden meint. Hovings Aussage könnte auch lauten: »Hoving is the Curator, and Hoving made his irrevocable statement.« Denn Hoving gibt vor, im Namen Carters zu handeln, 207 Hoving: Tutankhamun – The Untold Story, a.a.O., S. 367. 208 Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 367.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
obwohl es allein um seine eigenen Vorstellungen bezüglich der Präsentation der Exponate geht. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, nach welchen Kriterien die Objekte von Hoving ausgewählt wurden: Erstens nach ihrer ästhetischen Erscheinung, zweitens nach ihrem materiellen Wert und ihrer Qualität, drittens ohne Rücksichtnahme auf die Expertinnenmeinung der Ägyptologin Christine Lilyquist. Hoving musste also ein Ausstellungkonzept, eine Struktur, für seine im Grunde genommen arbiträre Zusammenstellung der 55 Exponate aufbieten. Die Objekte stehen im Mittelpunkt der Ausstellung; von ihnen ausgehend wird ein Ausstellungskonzept um sie herum und für sie entworfen. Sie sind – nach den initialen politischen Bewegründen – der eigentliche Grund dafür, eine Ausstellung zu machen. Sie sind nicht Objekte, die herangeholt werden, um eine These, ein Argument, eine Geschichte zu illustrieren und die Argumente zu untermauern, sie sind selbst das einzige Argument für die Ausstellung. Für die Exponate muss ein Ausstellungskonzept und ein Ausstellungsnarrativ gefunden oder besser: erfunden werden. Das Ausstellungskonzept, so haben wir bereits gesehen, war die cartersche Ordnung der Räume und der Objekte: das heißt, vier Ausstellungseinheiten entsprechend den vier Grabkammern und die Anordnung der Objekte entsprechend der Reihenfolge, in der sie Carter fand. Das Ausstellungsnarrativ erzählte nicht, wie man hätte erwarten können, die Geschichte Tutanchamuns, um die Exponate in ihren historischen Kontext einzuordnen; das Ausstellungsnarrativ erzählte die Geschichte der Auffindung und Ausgrabung des Grabes Tutanchamuns durch Carter. An Hovings Ausstellungskonzept wurde während des Designer-Meetings Kritik geäußert. Es gibt zwei Protokolle dieses Meetings, die jeweils eine andere Version erzählen. In beiden wird der Ägyptologe David Silverman vom Oriental Institute in Chicago, der von den beiden Institutionen, die die Ausstellung in Chicago organisierten – dem Field Museum und dem Oriental Institute der Chicago University – als Ausstellungsberater hinzugezogen worden war, als Kritiker namentlich hervorgehoben. Das erste Dokument wurde von Ausstellungskoordinator Irvine MacManus verfasst und scheint ein offizieller Report des Meetings zu sein. In diesem Report stellt Silverman nicht das Gesamtkonzept – die Teilung in vier Teile entsprechen der Aufteilung des Grabes – in Frage, er lobt sogar dessen Logik und historische Korrektheit. Aber er hinterfragt das Arrangement der Objekte: »Mr. Silverman raised the point that while the four major sections seemed to be a logical and indeed historically correct way of presenting the objects, there should be freedom to arrange the works of art within each of the sections to stress relationships of individual pieces.«209 Im zweiten Protokoll handelt es sich um ein Interdepar209 »Report Designers Meeting«, 08.01.1976, Box 1, Folder 21, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
temental Memorandum von Met Designer Stuart Silver an Hoving. Dort wird über Silverman berichtet, dass er das gesamte Konzept in Frage stellte, dieses aber von allen trotzdem angenommen wurde. Hier ist keine Rede davon, dass Silverman es für historisch korrekt und logisch hält. Weiter wird Silverman vorgeworfen, er habe die Arbitrarität der Anordnung der Objekte innerhalb ihres jeweiligen Viertels der Ausstellung kritisiert: »Silverman argued that it was arbitrary to show them so simply because they happend to have been found that way. He suggested that, curatorially, points and relationships could be made with a less arbitrary arrangement of objects within the basic ground plan.«210 Die Kritik an der Arbitrarität der Objektreihenfolge war durchaus gerechtfertigt, bedenkt man, dass Carter in der Vorkammer aus ganz praktischen Gründen an einem ebenfalls arbiträren Startpunkt mit seiner Ausgrabung anfangen musste. Auch die anderen TeilnehmerInnen des Meetings stellten in Frage, ob es praktisch sei, die Objekte zwingend in der Reihenfolge auszustellen, in der sie gefunden worden waren und in der sie auch im Katalog aufgeführt werden. Denn jedem Objekt war bereits im Laufe der Verhandlungen und der Vorbereitungen in Ägypten eine feste Nummer zwischen 1 und 55, die sich nach Carters Fundreihenfolge richtete, zugeordnet worden. In dieser Reihenfolge wurden die Objekte auch im Katalog aufgeführt. Der Katalog war für alle Museen einheitlich und wurde vom Metropolitan Museum herausgegeben; die anderen Museen waren nur namentlich am Katalog beteiligt.211 Im Idealfall sollte die Aufstellung der Exponate der Nummerierung im Ausstellungskatalog folgen, was Silverman und die übrigen Designer aber als zu große Einschränkung für die einzelnen Museen empfanden. Dabei ging es nicht nur um museumsdidaktische Ideale, sondern um die unterschiedlichen räumlichen Gegebenheiten in den Ausstellungshäusern, angesichts derer eine zwingende Einhaltung der Objektordnung nicht praktikabel gewesen wäre.212 Die übrigen Vertreter der beteiligten Institutionen stimmten Silverman in seiner Kritik zu; man einigte sich darauf, dass die Reihenfolge der Exponate den jeweiligen Bedürfnissen der beteiligten Museen angepasst werden durfte. Allerdings sollten die Objekte weiterhin in dem Teil der
210 »Memorandum Designers Meeting, Stuart Silver to Thomas Hoving«, 12.01.1976, Box 1, Folder 21, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 211 »Letter Hoving to Golden«, 19.12.1975, Box 4, Folder 6, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 212 »Report Designers Meeting«, 08.01.1976, Box 1, Folder 21, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York; »Memorandum Designers Meeting, Stuart Silver to Thomas Hoving«, 12.01.1976, Box 1, Folder 21, 1, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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Ausstellung aufgestellt werden, der ihren jeweiligen Fundort – Vorkammer, Grabkammer etc. – repräsentierte. Zum Beispiel sollten Objekte aus der Vorkammer nicht in der Schatzkammer ausgestellt werden und umgekehrt. Dieses Vorgehen führte allerdings dazu, dass zum Beispiel Exponat Nummer 13 an zweiter Stelle während Treasures of Tutankhamun im Met gezeigt wurde und nicht – wie die Nummer indizieren würde – an dreizehnter Stelle. Deswegen achtete man darauf, die Objektnummern groß an den Vitrinen anzuschreiben. Der Vorteil der aufgehobenen Reihenfolge war aber die kohärentere Präsentation der Grabbeigaben. Zusammenhänge zwischen Objekten konnten durch die flexiblere Präsentation herausgestellt werden. Ein Nachteil war, dass jedes Museum seinen eigene Audioguide aufnehmen musste.213 Hovings Gesamtkonzept sah ebenso vor, für die Inszenierung Fotografien von Harry Burton zu verwenden, der während der Ausgrabungen in Tutanchamuns Grab Fotografien der Objekte in situ gemachte hatte. Dabei handelt es sich um eine fotografische Dokumentation der Ausgrabung: Fotografien, nicht nur der Objekte und des Grabes, sondern auch der Arbeiten am Grab selbst und des in die Grabungen involvierten Personals.214 Eine Auswahl der Fotografien wurde so vergrößert, dass sie als Wandbilder die Räume der Ausstellung schmückten. Entweder fungierten sie als Raumtrenner zwischen den vier Sektionen oder als tatsächlicher Wandschmuck. Die Auswahl der vergrößerten Fotografien richtete sich nach den Exponaten und ihrem jeweiligen Fundort im Grab des Tutanchamun. Das heißt: In dem Teil der Ausstellung, der die Vorkammer repräsentierte und in dem Objekte aus der Vorkammer gezeigt wurden, wurden Wandbilder montiert, die die Vorkammer während der Ausgrabungen zeigten. Auf dem jeweiligen Wandbild konnte man meistens auch eines der Exponate in situ erkennen. Hoving nennt als Grund für die Benutzung der Fotografien in Zusammenhang mit den Objekten: »to recreate for the public the sensation of ›finding‹ each one of four chambers and their stunning array of works«.215 Hoving will damit das Gefühl rekreieren, das der Entdecker Carter empfunden haben muss, als er die einzelnen Grabkammern
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Vgl. »Report Designers Meeting«, 08.01.1976, Box 1, Folder 21, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York; »Memorandum Designers Meeting, Stuart Silver to Thomas Hoving«, 12.01.1976, Box 1, Folder 21, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 214 Das Metropolitan Museum besitzt ein komplettes Set der Negative Burtons, da er für das Metropolitan Museum gearbeitet hatte und an Carnarvon und Carter als Mitglied des Ausgrabungsteams ausgeliehen wurde. Herbert Winlock, ehemaliger Direktor des Metropolitan Museums, der damals auch vor Ort im Tal der Könige war, brachte die Fotos mit nach New York und ins Metropolitan Museum. Somit besitzt das Metropolitan Museum die Rechte an den Burton Fotos, was es noch einfacher machte, diese für die Ausstellung zu nutzen. 215 Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 405-406.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
betrat und die unglaubliche Anzahl an Grabbeigaben erblickte. Durch die Fotografien Burtons sollten die Besucherinnen das Gefühl haben, tatsächlich durch die vier Kammern des Grabes zu schreiten. Letztlich will Hoving einen Gang durch Tutanchamuns Grab aus der Perspektive Carters simulieren: »The installation has been designed to suggest not only the excitement of the discovery of the tomb in 1922 by archeologist Howard Carter and his sponsor Lord Carnarvon, but also the painstaking and expert work entailed in removing the thousands of objects from the four chamber of the tomb.«216 Für Hoving dreht sich Treasures of Tutankhamun also gar nicht um Tutanchamun; ihr Protagonist ist vielmehr Howard Carter, »the last and the greatest Egyptian adventurer«,217 und ihr Narrativ ist die Fundgeschichte und die Ausgrabung Tutanchamuns. Hoving will außerdem, dass sich die Besucherinnen wie Howard Carter fühlen, als er das Grab entdeckte, und er möchte, dass sie sehen, was er – im Moment der Entdeckung – gesehen hatte. Es geht Hoving daher primär um ein emotionales Erleben der Ausstellung. Diese Absicht erkennt man auch daran, dass Zitate aus Carters Büchern über die Entdeckung des Grabes Tutanchamuns die Wandbilder begleiteten. Carter, der eigentliche Protagonist der Ausstellung, kommentiert für die Besucherinnen seine Fundgeschichte und führt sie auf diese Art selbst durch die Ausstellung. Hinzu kommen die Bilder, die Burton vom Grab und den Ausgräbern geschossen hatte. Die Besucherinnen nehmen so auch die Perspektive des Fotografen ein und blicken durch die Linse der Kamera auf Carter in seiner Rolle als Entdecker Tutanchamuns: »A series of wall-sized photo panels draws the viewer back 3,000 years down into the depths of the tomb just as it looked to its discoverer Howard Carter in 1922.«218 Die Fotos dokumentieren zwei Ereignisse, die heute nicht mehr existieren: Das ist zum einen der ursprüngliche Zustand des Grabes Tutanchamuns, das nach über 3000 Jahren einer Zeitkapsel gleichkam, die den Blick auf eine uralte Kultur freigab. Diese Kultur offenbart sich inmitten der chaotischen Anordnung der Grabbeigaben, die noch unberührt sind. Auf der anderen Seite porträtieren die Fotos den klassischen Entdecker, der das scheinbare Chaos der ägyptischen Kultur in eine überschaubare Ordnung bringt.219 Wie wir im Folgenden sehen werden, wird auch 216
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»Field Museum Promotional Information, Fact Sheet: Treasures of Tutankhamun«, 1977, Box 4, Folder 15, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. Hoving: Tutankhamun – The Untold Story, a.a.O., S. 367. 447»News from the National Endowment for the Humanities«, 14. September 1977, Box 7, Folder 2, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. »The installation has been designed to suggest not only the excitement of the discovery of the tomb in 1922 by archeologist Howard Carter and his sponsor Lord Carnarvon, but also the
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in dieser Ausstellung mit Hilfe der Inszenierung nicht nur der Mythos Ägypten reproduziert, sondern auch der Mythos des Entdeckers, insofern den Besucherinnen suggeriert werden soll, dass sie in den Fußstapfen Carters in die Tiefen des Grabes hinabsteigen.
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»The feeling of entering into the tomb« – Die Inszenierung von Treasures of Tutankhamun
Nachdem die Planungen abgeschlossen waren und die Exponate nun in Chicago, der zweiten Station der Ausstellungstournee, angekommen waren, besuchte Irvine MacManus die letzten Vorbereitungen zur Ausstellung im Field Museum in Chicago. MacManus, der Koordinator der Ausstellung, der Hoving direkt unterstellt war, war ebenfalls Ansprechpartner, sowohl für die übrigen Museen als auch für Anfragen von außerhalb, die Treasures of Tutanchamun betrafen. Es sind vor allem seine Aufzeichnungen, Memoranda, Protokolle, gesammeltes Pressematerial etc., die die Bestände in den Metropolitan Museum of Arts Archives über die Ausstellung Treasures of Tutankhamun anfüllen. MacManus berichtet Hoving von seinen Erfahrungen in einem internen Memorandum.220 Daraus wird unter anderem erkennbar, dass das Met die Tourneeaufenthalte der Ausstellung in den anderen Städten als Testlauf für die eigene Ausstellung auffasste. MacManus achtet daher genau auf die Infrastruktur des Field Museum, darauf, wie das Field Museum mit dem Besucherstrom umgeht, wie es die Tickets und die Audioguides verteilt, wie die Besucherinnen durch die Ausstellung geleitet werden, wo sie eintreten, wo sie rausgehen und vor allem auch wie das Merchandise vermarktet wird. In diesem Zusammenhang interessiert ihn besonders die Inszenierung der Ausstellung, die, wie er von Lee Webber, dem Direktor des Field Museum, erfahren hat, eine Million Dollar gekostet hat, und die zeitnah auch im Metropolitan Museum ansprechend zu installieren sein wird.221 Von dieser Ausstellungsinszenierung im Field Museum enthalten die MacManus Unterlagen im Met Archiv auch Schwarzweißfotografien und farbige
painstaking and expert work entailed in the removing the thousands of objects from the four chamber of the tomb.« Zitat aus: »Field Museum Promotional Information, Fact Sheet: Treasures of Tutankhamun«, 1977, Box 4, Folder 15, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 220 »Chicago, Memorandum MacManus to Hoving«, 11.04.1977, Box 6, Folder 10, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 221 »Chicago, Memorandum MacManus to Hoving«, 11.04.1977, Box 6, Folder 10, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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in dieser Ausstellung mit Hilfe der Inszenierung nicht nur der Mythos Ägypten reproduziert, sondern auch der Mythos des Entdeckers, insofern den Besucherinnen suggeriert werden soll, dass sie in den Fußstapfen Carters in die Tiefen des Grabes hinabsteigen.
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»The feeling of entering into the tomb« – Die Inszenierung von Treasures of Tutankhamun
Nachdem die Planungen abgeschlossen waren und die Exponate nun in Chicago, der zweiten Station der Ausstellungstournee, angekommen waren, besuchte Irvine MacManus die letzten Vorbereitungen zur Ausstellung im Field Museum in Chicago. MacManus, der Koordinator der Ausstellung, der Hoving direkt unterstellt war, war ebenfalls Ansprechpartner, sowohl für die übrigen Museen als auch für Anfragen von außerhalb, die Treasures of Tutanchamun betrafen. Es sind vor allem seine Aufzeichnungen, Memoranda, Protokolle, gesammeltes Pressematerial etc., die die Bestände in den Metropolitan Museum of Arts Archives über die Ausstellung Treasures of Tutankhamun anfüllen. MacManus berichtet Hoving von seinen Erfahrungen in einem internen Memorandum.220 Daraus wird unter anderem erkennbar, dass das Met die Tourneeaufenthalte der Ausstellung in den anderen Städten als Testlauf für die eigene Ausstellung auffasste. MacManus achtet daher genau auf die Infrastruktur des Field Museum, darauf, wie das Field Museum mit dem Besucherstrom umgeht, wie es die Tickets und die Audioguides verteilt, wie die Besucherinnen durch die Ausstellung geleitet werden, wo sie eintreten, wo sie rausgehen und vor allem auch wie das Merchandise vermarktet wird. In diesem Zusammenhang interessiert ihn besonders die Inszenierung der Ausstellung, die, wie er von Lee Webber, dem Direktor des Field Museum, erfahren hat, eine Million Dollar gekostet hat, und die zeitnah auch im Metropolitan Museum ansprechend zu installieren sein wird.221 Von dieser Ausstellungsinszenierung im Field Museum enthalten die MacManus Unterlagen im Met Archiv auch Schwarzweißfotografien und farbige
painstaking and expert work entailed in the removing the thousands of objects from the four chamber of the tomb.« Zitat aus: »Field Museum Promotional Information, Fact Sheet: Treasures of Tutankhamun«, 1977, Box 4, Folder 15, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 220 »Chicago, Memorandum MacManus to Hoving«, 11.04.1977, Box 6, Folder 10, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 221 »Chicago, Memorandum MacManus to Hoving«, 11.04.1977, Box 6, Folder 10, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Dias222 sowie Pressematerial223 , die zusammen mit dem Ausstellungsbericht von MacManus ein genaues Bild der Treasures of Tutanchamun Ausstellung im Field Museum ergeben. Die Pressemitteilung des Field Museum beschreibt, was sich die Macherinnen der Ausstellung bei der Inszenierung gedacht haben, und was die Besucherinnen in den Ausstellungsräumen erwarten wird: »An attempt will be made to suggest the original setting, with the objects displayed in the rooms corresponding to the chambers in which they were found. At Field Museum there is a great opportunity for creating this effect, since space will permit the construction of a tomb entrance similar in appearance to one in the Valley of the Kings. The lightning and wall graphics will give visitors the illusion that they are actually descending into the tomb of Tutankhamun.«224 Hovings Idee, den Moment der Entdeckung wiederzubeleben, wird im Field Museum auf die Spitze getrieben, indem der eigentliche Eingang in die Ausstellung durch einen nachgebauten Grabeingang führt, der denen im Tal der Könige nachempfunden wurde. Durch die Beleuchtung, die hier nicht weiter beschrieben wird, und die Wandbilder mit den Fotografien Burtons soll für die Besucherinnen die Illusion erzeugt werden, dass sie tatsächlich in das Grab Tutanchamuns hinabsteigen. Als besonders bemerkenswert sieht auch MacManus den Ausstellungseingang: »One enters the show on the second floor to be met by a huge sand-color and textured ›Tomb Entrance‹ […] and where one is confronted by a large reproduction of the gold mask, similar to the logo the Field Museum has been using on its promotional materials, except that the one at the entrance is gilded in 23K. gold.«225 Passend zum Bericht von MacManus zeigen auch die Fotografien der Inszenierung, dass die Besucherin zu Beginn der Ausstellung in einen Korridor hineingeht, dessen Wände zu beiden Seiten höher werden, je weiter sie sich hineinbewegt; dieser Korridor soll den Grabeingang simulieren. Über dem Grabeingang steht »Treasures of Tutankhamun«. Vor Kopf, am Ende des Korridors des Grabeingangs, begrüßt die Besucherin die stilisierte Goldmaske Tutanchamuns, die dem Zeitgeist 222 »Installation photos Chicago«, 1977, Box 4, Folder 14, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 223 »Field Museum Promotional Information, Fact Sheet: Treasures of Tutankhamun«, 1977, Box 4, Folder 15, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 224 »Field Museum Promotional Information, Fact Sheet: Treasures of Tutankhamun«, 1977, Box 4, Folder 15, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York. 225 »Chicago, Memorandum MacManus to Hoving«, 11.04.1977, Box 6, Folder 10, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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entsprechend wie ein pixeliges Computerbild dargestellt ist. Die Maske ist in gelbgoldenem Ton gehalten, genau wie die Beleuchtung, die immer schwächer wird, um den Gang der Besucherin ins dunkle Grab zu simulieren. Nach dem Bild der Goldmaske biegt der Gang scharf nach rechts ab und die Besucherin weiß nicht, was sie als Nächstes erwarten wird. Aus dem Pressebericht, dem Foto und den Aussagen und Beobachtungen von MacManus lassen sich zwei wichtige Schlüsse ziehen: 1. Der Eingang zur Tut Show ist – wie die Pressemitteilung bereits berichtet hat und die Fotos gezeigt haben – wie ein Grab gestaltet: die Farbe »sand-color« imitiert die Farbe der Wüste im Tal der Könige. MacManus nennt den Ausstellungseingang passend »Tomb Entrance« und nicht »Eingang zur Ausstellung«. Die Beleuchtung ist so spärlich, dass eine Grabesatmosphäre erzeugt wird und somit den Besucherinnern der Gang ins dunkle Grab suggeriert wird. Dieser Effekt wird verstärkt durch den Kontrast zwischen der hellen Sandfarbe der Wände des Korridors und dem immer dunkler werdenden Eingang in die Ausstellung. 2. Die stilisierte Goldmaske Tutanchamuns wird zum Logo und Maskottchen der Ausstellung gemacht, die der Besucherin sowohl auf dem »promotional material« als auch am »Tomb Entrance« begegnet. Das ist ein Logo mit Wiedererkennungswert und somit eine clevere Marketingstrategie. MacManus redet von einer »large reproduction of the gold mask«, die mit 23 karätigem Gold vergoldet ist. Die Besucherinnen sehen so am Beginn der Ausstellung eine Reproduktion des Grabeingangs Tutanchamuns sowie eine Reproduktion der Goldmaske Tutanchamuns, die tatsächlich vergoldet ist. Es handelt sich aber nicht um eine maßstabgetreue Kopie der Maske und des Grabeingangs; in beiden Fällen haben wir es mit einem Simulacrum zu tun. Das Logo abstrahiert von den Details der Maske, sieht ihr aber noch so ähnlich, dass sie als Tutanchamuns Goldmaske zu erkennen ist. Der Grabeingang ist ebenfalls generisch gehalten und so gestaltet, wie man sich einen Grabeingang allgemein vorstellt: sandfarben, ein dunkler werdender Gang, aber der Blick in die Dunkelheit enthüllt die Sicht auf den Grabschatz: die goldenen Maske.
Bereits bevor die Besucherin überhaupt die eigentlichen Räume der Ausstellung betritt, wird sie mit Formen des Mythos Ägypten konfrontiert: Grab, Dunkelheit, Gold, Goldmaske des Tutanchamun und die Farbe Sand. Diese Formen lösen unweigerlich, in einem Augenblick, Assoziationen mit dem Alten Ägypten aus, die den Mythos Ägypten heraufbeschwören: Reichtum, Dekadenz, Schatz, Geheimnis, Tod, Fluch, Wüste, Exotik. Einzelne dieser Formen aber auch Assoziationen des Mythos können von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Die Dunkelheit kann zum Beispiel ein Gefühl des Unheimlichen auslösen, genau wie das
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Grab und die damit verknüpfte Assoziation Tod. Die Besucherin kann an die eigene Sterblichkeit erinnert werden oder das unheimliche Gefühl bekommen, lebendig begraben zu werden. Somit ist die Inszenierung des Grabeingang nicht nur eine Quelle des Mythos, sondern auch eine potentielle Quelle des Unheimlichen. Die Form, die bei dieser Ausstellung aus allen anderen Formen heraussticht und auf die sich die Auswahl der Objekte, das gesamte Marketing, Merchandise und die Inszenierung fokussieren, ist Gold: Gold als Edelmetall, Gold als Wert, Gold als Statussymbol und sogar Gold als Farbe. Dieser Fokus auf Gold wird noch verstärkt, indem man das Logo, die Goldmaske, tatsächlich vergoldet. Damit wird ausgesagt, dass die Farbe echten Goldes nicht nachzuahmen ist. Also muss man sie vergolden, damit man so nahe wie möglich an der Realität bleibt, obwohl es sich lediglich um eine Kopie handelt, die nicht maßstabsgetreu ist und so stilisiert ist, dass sie dem Original nur noch marginal ähnlich sieht: Sie ist pixelig wie ein Computerbild der 1970 Jahre, sie ist nur noch zweifarbig, gold und schwarz, sie hat aber den ungefähren Umriss der originalen Goldmaske und weist zumindest in kleinen Mengen das Edelmetall Gold auf. Der Titel »Treasures of Tutankhamun«, der über dem Ausstellungseingang in unmittelbarer Nähe zur abgebildeten Maske zu lesen ist, spiegelt wie diese den thematischen Schwerpunkt der Ausstellung, Gold und Goldschätze, wider. Beide, Maske und Titel, sind ein an die Besucherinnen gerichtete Appell, der ihnen mitteilt, was sie zu erwarten haben: es geht um Schätze! Konkret geht es um die Grabschätze des Pharaos Tutanchamun, und das bedeutet, dass es sich hier um pures, reines Gold handelt. Dekadenz und Reichtum wird mit Gold und Grabschatz assoziiert. So wird der Mythos eines despotischen, verschwenderischen, jungen Mannes evoziert, der diesen Reichtum mit ins Grab nahm. Nach einem Einstimmungsraum, der auf die Geschichte der Entdeckung des Grabes fokussiert, betritt die Besucherin einen langen dunklen Gang. Der Gang ist nur von wenigen Spots in der Mitte der Decke beleuchtet, denen die Besucherin bis zum Ende folgen muss; die Beleuchtung wird als »dim« bezeichnet.226 Am Ende des Gangs sieht die Besucherin wieder mehr Licht; nämlich dort, wo sie ein Wandbild und das erste Tutanchamun Exponat erwarten. Auf dem Wandbild sieht die Besucherin den abfallenden Gang hinab in Tutanchamuns Grab, der nach dem eigentlichen Grabeingang am Ende der Treppenstufen beginnt und in die erste Kammer des Grabes, die Vorkammer, führt. Die Besucherin wird mit Hilfe des Gangs, der auf den simulierten Grabeingang folgt, noch immer auf die eigentlichen Räume des Grabes eingestimmt. Am Ende des Gangs kann die Besucherin bereits erste Grabbeigaben auf dem Wandbild erkennen. Auch das erste Exponat, den Kopf des
226 Butzer, Karl W. und Butzer, Elisabeth K.: »[Review:] Treasures of Tutankhamun«, American Anthropologist, 79/4 (1977), S. 997-999, hier S. 998.
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Nefertem, kann die Besucherin bereits erspähen. Dieses Objekt ist auf der rechten Seite vor dem Wandbild platziert, das die Vorkammer zeigt. Die Besucherin soll sich an dieser Stelle wie Carter auf dem Weg ins Grab fühlen: Sie folgt genau den Schritten, die auch er gehen musste, um zum Grabschatz vorzudringen. Der lange, enge, dunkle Korridor, den die Besucherin entlang gehen muss, erzeugt das entsprechende räumliche Gefühl, mit dessen Hilfe die Besucherin nachempfinden kann, wie es sich anfühlen muss, in ein Grab im Tal der Könige hinabzugehen. Die dunkle Beleuchtung evoziert dazu passend die Grabesatmosphäre. MacManus bestätigt in seinem Memorandum an Hoving, dass Sinn und Zweck des Korridors darin bestehen, eine Grabesatmosphäre zu erzeugen: »The Designer of the show, Ben Kozak, has created a long 106 foot corridor which is an attempt to give the visitor the feeling of entering into the tomb. At the end of the corridor is a large Burton showing the Antechamber as first seen and in front, slightly to the right is the first object, the lotus head of the King.«227 Ausstellungsdesigner Ben Kozak vom Field Museum in Chicago ist demnach ein Mythenproduzent, der es in seiner Ausstellungsinszenierung bewusst darauf angelegt hat, eine Grabesatmosphäre durch die Inszenierung eines dunklen, engen, langen Gangs zu erzeugen. Die Inszenierung des Gangs, zusammen mit der Inszenierung des oben besprochenen Grabeingangs, soll die Besucherin auf die eigentlichen Ausstellungsräume, in der sie auf die Exponate, vor allem die Prunkstücke, treffen wird, einstimmen. Der dunkle Gang ist daher auch eine Quelle des Mythos, der dieselben Assoziationen mit dem Alten Ägypten weckt, wie der Grabeingang zuvor: Geheimnis, Tod, Fluch des Pharaos. Auch hier können diese Assoziationen sowie die Dunkelheit ein Gefühl des Unheimlichen hervorrufen. Die Besucherin kann sich vorstellen die Geheimnisse des Grabes zu lüften, die Schätze zu entdecken, die am Ende des Gangs liegen. Gleichzeitig mag sie ein unbestimmtes Gefühl der Angst verspüren, das Gefühl des Unheimlichen, da sie sich in einem engen, dunklen Raum befindet, in dem sie nicht gut sieht, und der sich für sie so klaustrophobisch anfühlen kann, als ob sie lebendig begraben sei. Darüber hinaus mag sie eine gewisse unbestimmte Angst verspüren beim Gedanken an das Gerücht eines Fluches, der auf dem Grab Tutanchamuns lastet, in das sie gewissermaßen gerade selbst hinabsteigt. Denn gleichzeitig wird der Mythos des Entdeckers evoziert: die Besucherin soll sich wie Carter fühlen, als er zum ersten Mal in das Grab Tutanchamuns hinabstieg. Wie die Besucherin vielleicht den Gerüchten entnommen hat, endete die Entdeckung des Grabes für Carnarvon tödlich. Wir erinnern uns an den Blick, den Carter in die Vorkammer mit Hilfe einer Kerze werfen konnte, 227 »Chicago, Memorandum MacManus to Hoving«, 11.04.1977, Box 6, Folder 10, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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wobei er auf die Frage hin ob er etwas sehen könne, die berühmten Worte äußerte »Yes, wonderful things«228 . Diese Perspektive des Entdeckers soll auch von der Besucherin eingenommen werden. Das Wandbild zeigt deshalb zum großen Teil den Korridor, der hinabführt in die Vorkammer. Nur in der Mitte, ausschnitthaft, erhaschen wir einen Blick auf die Objekte in der Vorkammer, genauso wie Carters erster Blick in die Vorkammer gewesen sein muss, als er die Objekte ebenfalls nur ausschnitthaft zu Gesicht bekommen hatte. Das oben erwähnte Zitat Carters und ein weiterer kurzer Abschnitt aus dem ersten seiner populären Tutanchamun Berichte befinden sich unter dem Wandbild. Carter, den Hoving als Kurator der Ausstellung bezeichnet, kommentiert auch die Ausstellung. Sowohl die Inszenierung des Grabeingangs als auch die Inszenierung des Gangs sollen die Besucherinnen auf die kommenden Räume, welche die vier Kammern in Tutanchamuns Grab repräsentieren, einstimmen. Denn dort werden sie, nach dem langen Gang ins Grab, endlich auf die goldenen Schätze Tutanchamuns stoßen, deren Entdeckung ihnen in der Inszenierung der vorangegangenen Räume verheißen wurde. Dabei handelt es sich um: Vorkammer, Grabkammer, Schatzkammer und Annex, die allesamt in dunklen Tönen – dunkelblau, schwarz und grau – inszeniert werden. Die Wände sind in dunklem Blau gehalten, die Böden sind mit dunkelgrauem Teppich bedeckt. Die Grabbeigaben in ihren Vitrinen stehen isoliert voneinander in den Räumen verteilt. Die Vitrinensockel sind schwarz, das Innere der Vitrine, der Teil, auf dem die Objekte ruhen, ist wie die Wände dunkelblau. Da die meisten Exponate aus Gold bestehen oder vergoldet sind, erzeugt der Goldton auf dunkelblauem Grund einen starken und eindrucksvollen Kontrast, der noch verstärkt wird durch die spotartige Beleuchtung der Objekte, die diese vollkommen in den Fokus rücken und das Gold erstrahlen lassen. Das Farbschema gold und blau greift die Hauptfarben der Goldmaske Tutanchamuns auf, die entsprechend aus den Materialien Gold und Lapislazuli beziehungsweise blauem Glas besteht. Die auf Exponate und Textteile der Wandbilder konzentrierte spotartige Beleuchtung lässt die übrige Ausstellungsinszenierung größtenteils im Dunkeln.229 Das verstärkt die Grabesatmosphäre, die die Ausstellungsmacherinnen erzeugen wollen: Nachdem die Besucherin den dunklen langen Korridor, also den Weg ins Grab, hinter sich gelassen hat, befindet sie sich nun in den dunklen Grabkammern, wo sie die Objekte, ähnlich wie Carter, mit Hilfe einer Beleuchtung, die Kerzenschein, Öllampe oder Taschenlampe suggeriert, in Augenschein nehmen kann. Die Besucherin soll sich weiterhin wie der Entdecker fühlen, der die Grabbeigaben zum ersten Mal im Kerzenschein
228 Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O., S. 83. 229 Freilich ist aus restauratorischen Gründen nur eine gewisse Anzahl an Lumen für die Objekte zumutbar. Trotzdem ist es auffällig, dass gerade die fragilen Objekte ausgeleuchtet werden, wohin gegen die Umgebungsbeleuchtung nicht vorhanden scheint.
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sieht. In extremem Gegensatz zu den Exponaten, die geordnet, restauriert und isoliert in ihren Vitrinen auf Podesten in der Mitte der Räume stehen, zeigen Burtons Fotografien, die als Wandbilder und Raumtrenner auch im Hauptteil der Ausstellung anzutreffen sind, das Durcheinander und Miteinander der Fundstücke im Grab. Die Polychromie der Exponate steht außerdem in starkem Kontrast zu den monochromen Fotografien. Die Grabbeigaben werden rein ästhetisch wie Kunstwerke präsentiert, der Blick der Besucherinnen wird streng auf einzelne Objekte des Grabfundes gelenkt. Das Ehepaar Butzer, das Treasures of Tutankhamun in Chicago besuchte und einen interessanten Ausstellungbericht über seinen Besuch verfasste, bewertet diesen Aspekt der Inszenierung positiv: »some, who have visited […] the overcrowded, indigestible mass of objects in the antiquated vitrines of the Cairo Museum, will probably be grateful for the strong implicit organization and spotlight focus of the Field Museum exhibit.«230 Die Ordnung der Objekte und ihre Präsentation als ästhetische Kunstwerke können, laut den Butzers, auch ein Gefühl der Erleichterung während der Rezeption der Exponate erzeugen. Damit folgen sie der Meinung Hovings, der die Unordnung der Objekte im Museum in Kairo ebenfalls bemängelte und in seiner eigenen Ausstellung deshalb eine geordnete Inszenierung der Exponate durchsetzte. Diese ästhetische Inszenierung der Exponate sowie die Inszenierung der Ausstellung Treasures of Tutankhamun als Grab im Field Museum in Chicago ist repräsentativ für alle anderen Ausstellungsstationen in den USA: Washington DC, Seattle, New Orleans und LA. Nur das Metropolitan Museum of Art in New York, die letzte Station, inszenierte seine Variante der Ausstellung zwar ebenso ästhetisch, aber sonst ein wenig abweichend. Die ersten fünf Ausstellungsstationen zeigten die Objekte in abgedunkelten Räumen ohne Tageslicht mit Hilfe spotartiger Beleuchtung und inmitten von Räumlichkeiten, die gedeckte Farben wie grau, braun oder dunkelblau aufwiesen, damit das Gold der Objekte bestmöglich zur Geltung kam. Das Met wich von dieser Inszenierung in zwei Punkten ab: Erstens wählte es sandige, eher helle Farben und zweitens arbeitete Designer Stuart Silver mit Tageslicht. Die Ausstellung im Met war in Räumlichkeiten untergebracht, die die Form eines liegenden, gespiegelten Ls aufwiesen. Die Besucherinnen betraten die Ausstellung auf der kurzen Seite des Ls, bis sie in einem rechten Winkel auf die lange Seite des Ls abbogen. Den Eingang zur Ausstellung betraten die Besucherinnen, wie in den anderen Lokalitäten, durch ein Simulacrum eines Grabeingangs. Dazu hatte Stuart Silver eine Fotografie Burtons, die den Grabeingang zu Tutanchamuns Grab sowie eine Trockenmauer zeigte, so vergrößert und den mittig liegenden eigentlichen Eingang ausgeschnitten, dass die Besucherinnen durch das Bild wie durch ein Tor eintreten konnten (Abbildung 12).
230 Butzer/Butzer: »[Review:] Treasures of Tutankhamun«, a.a.O.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Abbildung 12: Eingang zur Ausstellung Treasures of Tutankhamun im Met. Vergrößerung eines Fotos von Harry Burton.
Foto: Al Mozell, © The Metropolitan Museum of Art, New York.
Nach dem Eingangstor folgte ein kurzer dunkler Gang, an dessen Ende die Besucherin eine vergrößerte Fotografie der Vorkammer erkennen konnte. Es handelte sich dabei um jenes Wandbild, vor dem im Field Museum in Chicago der Kopf des Nefertem inszeniert wurde, und das dort die Besucherin ebenfalls am Ende eines dunklen Gangs begrüßt hatte. Vor diesem Wandbild im Met musste die Besucherin nach rechts oder links ausweichen und um es herumlaufen. Danach begegnete ihr im ersten Raum der Kopf des Nefertem, der ganz allein dort
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gezeigt wurde, als erstes Exponat der gesamten Ausstellung. Auf dieses erste Objekt folgten im abgedunkelten Teil der Ausstellung ohne Tageslicht noch weitere zehn Grabbeigaben aus der Vorkammer, bis die Besucherin um 90 Grad nach links in den zweiten, anders gestalteten Teil der Ausstellung abbiegen musste. Dieser erstreckte sich über einen Balkon, der zum neuen Teil des Museums, dem Sackler Wing, gehörte. Der Sackler Wing war erst im September 1978 eröffnet worden und bestand aus einer großen Halle mit riesiger Glasfront, ähnlich einem überdimensionalen Schaukasten, in dessen Mitte das neue Prunkstück des Museums stand, der Tempel von Dendur. Ein ägyptischer Tempel der römischen Zeit, den die USA von Ägypten als Dank für die Hilfe bei der Rettung der Altertümer vor den Fluten des Assuan-Staudamms und als Symbol der Freundschaft erhalten hatten. Von diesem zweiten Teil der Ausstellung konnte man auf den Tempel von Dendur herabblicken. Bedeutend ist aber vor allem: Durch das große Fenster des Sackler Wings konnte Tageslicht in die Ausstellung gelangen. Gerade das Herzstück, sowohl des Grabes selbst als auch der Ausstellung, der Teil, der die Grabkammer repräsentierte und in dem die in ihr gefundenen Objekt gezeigt wurden, wurde so von Tageslicht erhellt. Ganz anders als in den übrigen Städten wurde die Goldmaske Tutanchamuns im Met im Tageslicht präsentiert. Stuart Silver versprach sich davon einen besonderen Effekt, den das Tageslicht auf das Gold haben sollte: »we were not going to do the nightclub, caveman, ooga-booga darkness approach like everybody else. You can light the shit out of something, but you’re always going to lose something. These objects just glistened in the daylight, and it was beautiful to see. And they glistened at night, but in a different way.«231 Einen Effekt wollte der Designer sicher auch mit dem drastischen Wechsel von Dunkelheit zu Tageslicht bei den Besucherinnen hervorrufen, die aus den dunklen Räumen des ersten Ausstellungsteils plötzlich ins Licht traten und den Goldglanz der Grabbeigaben bei Tag zu Gesicht bekamen. Der Sackler Wing wurde außerdem als Ausstellungsort gewählt, weil hier eine Analogie zwischen Tutanchamuns Grabbeigaben und dem Tempel von Dendur hergestellt werden sollte. Wie eine solche Analogie aussehen könnte, lässt sich nur erahnen: Beide kommen aus Ägypten, beides sind Prunkstücke des Metropolitan Museums; das eine wird temporär, das andere dauerhaft ausgestellt. Der Tempel von Dendur ist außerdem ein Exponat, das das Met den übrigen Ausstellungshäusern voraushat und um den es mit der National Gallery gewetteifert hatte.232 Eine Abgrenzung zu den anderen Museen fand ebenfalls durch den Wechsel in der Inszenierung der Ausstellung statt, welche
231 Zitiert nach Kamp, David: »The King of New York«, Vanity Fair, (16.3.2013). 232 Vgl. Hoving: Making the Mummies Dance: Inside the Metropolitan Museum of Art, a.a.O., S. 51-53, S. 58-63.
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statt auf dunkle Töne und spotartige Beleuchtung ausschließlich auf beige, sandfarbene Töne setzte, die mit der Wüste und dem Tal der Könige assoziiert werden konnten.233 Die Inszenierung stieß auf Skepsis und Kritik seitens der Vertreter der beteiligten Museen und seitens der Presse: Amei Wallach, Cultural Affairs Specialist der Zeitung Newsday bemerkte: »The Metropolitan’s setting […] for Tut’s treasures treats them as objects of art, not of mystery.«234 Sie vermutet, dass man den Besucherinnen der Ausstellung im Met durch diese Art der Inszenierung das emotionale Erleben einer Grabesatmosphäre und des Fluches rauben könnte: »the Metropolitan has dispensed with all that ›curse of the mummy‹ titillation. Most of the pieces are displayed in daylight […]. They are beautiful – and it’s wonderful to get this chance to view them dispassionately and yet…manipulation of the emotions isn’t all bad. But the Metropolitan has chosen to go more for the […] jewelry store look than for the feel of an ancient burial pace. The result certainly is that the objects are easier to look at. […] The decision makes sense when you think of the circus atmosphere that surrounds the whole Tut phenomenon. But some people may find themselves disappointed. Expect Egyptologists and art historians to applaud. Others should take a little longer to examine each piece and find out what all the excitement was about in the first place. Visitors may not find themselves moved to agreeable mysterious heights, but they will get a chance to really look at what they’ve come to see.«235 Auf der einen Seite fehlt Wallach eine geheimnisvolle Inszenierung, die eine sinnliche, emotionale Rezeption der Exponate unterstützt hätte. Als Beispiel für eine solche geheimnisvolle, erlebnisorientierte Inszenierung nennt sie ein uns wohlbekanntes Motiv des Mythos Ägypten und die dazugehörige Form, den »curse of the mummy«, mit dem das Gefühl des Unheimlichen verbunden ist. Ihr fehlt außerdem die durch die Dunkelheit erzeugte Grabesatmosphäre, »the feel of an ancient burial place« in der Ausstellung, die wir ebenfalls mit dem Gefühl des Unheimlichen verbinden können. Die Inszenierung des Met, die Wallach als leidenschaftslos bezeichnet, könne, so ihre Befürchtung, für einige Besucherinnen schwieriger zu konsumieren sein, da sie eine erlebnisorientierte Inszenierung, die Emotionen weckt, als zugänglicher einstuft. Auf der anderen Seite schätzt sie es als positiv ein, dass durch die Inszenierung im Tageslicht eine genaue Betrachtung der Exponate im Detail ermöglicht wird. Der Fokus dieser Inszenierung, die Wallach als »jewelry store look« bezeichnet, liegt deutlich auf der ästhetischen Präsentation
233 Wir erinnern uns, dass das Field Museum diese Farbgebung nur zur Simulation des Grabeingangs verwandte. 234 Wallach, Amei: »Art Review: Tut in New York: Little Drama, a Lot of Elegance«, Newsday, (12.12.1978). 235 Ebd.
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der Objekte als Kunstwerke von unermesslichem künstlerischem und materiellem Wert. Nach der Einschätzung Wallachs erwarten aber die Besucherinnen, zu denen auch sie gehört, von Treasures of Tutankhamun, eine geheimnisvolle, das heißt den Mythos Ägypten bedienende, Inszenierung, die altbekannte Assoziationen mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Tutanchamun im Besonderen sowie die dazugehörigen Formen reproduziert. J. Carter Brown, Direktor der National Gallery in Washington D.C., wo die Ausstellung als erstes gezeigt wurde, kritisiert – ähnlich wie Wallach – den Anblick der Grabbeigaben im New Yorker Tageslicht und bemängelt den fehlenden Kontext, den eine Grabesatmosphäre seiner Meinung nach gegeben hätte. Die Besucherin, schreibt er, »came out onto a mezzanine overlooking the Temple of Dendur space, which you’d think would be logical because it was Egyptian, but the whole point of the Tut show was that this stuff came from underground. You got into this dark atmosphere, and the spookiness of it was part of the appeal. Suddenly, at the Met, when you were two-thirds through, you turned a corner and you were out in that blaze of gray New York north light looking out onto Central Park. It just changed the whole mood and took away the whole sense of concentration on an imaginative, fictive experience.«236 Man erkennt hier deutlich die Enttäuschung über die unerfüllte Erwartung, die an die Inszenierung der Ausstellung im Met gestellt wurde. Diese Erwartung ist auch hier nichts anderes als die Erwartung, den Mythos Ägypten in der Ausstellung zu erfahren, der eine emotionale Rezeption ermöglicht, die von den übrigen Museen durchwegs erfüllt wurde. Carter Brown verlangt auch vom Metropolitan Museum die durchgehende Inszenierung einer Grabesatmosphäre, um ein »imaginative, fictive experience« aufrechtzuerhalten. Carter Brown fühlt sich einer solchen mythischen, erlebnisorientierten Inszenierung beraubt, weil er am Anfang der Ausstellung zwar in eine Grabesatmosphäre eingetreten ist, die dann aber jäh endet, als er auf den Balkon heraustritt und sich mit Tageslicht konfrontiert sieht. Carter Brown fehlt außerdem die »spookiness«, die wir mittlerweile als das Gefühl des Unheimlichen identifizieren können und das als den Mythos Ägypten begleitender emotionaler Aspekt dessen gefühls- und erlebnisorientierte Rezeption noch verstärkt. Im Rückblick wirkt die Entscheidung des Ausstellungsdesigners Silver, mit dem Scheinkontext der Grabesatmosphäre zu brechen, mutig. Er stellte die Grabbeigaben im Tageslicht aus, um den Besucherinnen die Betrachtung der Exponate in einem Licht zu ermöglichen, das die Details und die Beschaffenheit der Materialien besser zur Geltung bringt. Silver versucht gar nicht erst die Exponate 236 Zitiert nach Kamp: »The King of New York«, a.a.O.
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als Grabbeigaben zu inszenieren. Der Fokus der Inszenierung liegt ohne Zweifel auf der Rezeption der Exponate als Kunstobjekt im Sinne einer Ästhetisierung der Grabbeigaben, die sie zu Kunstwerken macht, deren Schönheit für sich allein sprechen kann. Den Besucherinnen, für die wir Ausstellungsmacher Carter Brown haben sprechen lassen, scheint es aber weniger um die Betrachtung der Exponate im Detail zu gehen, sondern um deren Einbettung in ein sinnliches Erlebnis, um das Gefühl, in ein Grab einzutreten und dessen Geheimnisse zu lüften. Abgesehen von der Präsentation im Tageslicht werden die Objekte im Met aber genau gleich wie in den anderen Museen präsentiert: Die Wandbilder der vergrößerten Fotografien Burtons erzählen die Geschichte der Entdeckung des Grabes, die Vitrinen stehen einzeln im Raum und beherbergen die einzelnen Objekte, der Eingang ist wie im Field Museum wie ein Grabeingang gestaltet und die Besucherin wird zunächst mit Hilfe der Ausstellungsinszenierung immer tiefer ins Grab geleitet. Sogar die Farben ähneln denen im Field Museum, das den Eingang genauso sandfarben gestaltete wie das Met seine gesamte Ausstellung inszenierte. Zusammenfassend ist nach diesen Beobachtungen zu sagen, dass die Ausstellungsmacherinnen von Treasures of Tutankhamun, allen voran Hoving, eigentlich zwei sehr unterschiedliche Ziele in ihrer Ausstellung erreichen wollten: Wie wir oben herausgefunden haben, suchte Hoving die zu präsentierenden Objekte sowohl nach ihrem materiellen Wert als auch nach ihrem ästhetischen Gehalt aus. Genau nach diesen Prämissen werden die Grabbeigaben Tutanchamuns in der Ausstellung präsentiert. Durch die besondere Beleuchtung – sowohl Kunstlicht als auch Tageslicht – und durch die Farbgebung der Räume, in denen sie ausgestellt werden, werden ihre Schönheit und ihr Wert bestmöglich zu Geltung gebracht. Die Form Gold und die mit ihr verknüpften Assoziationen stehen im Fokus dieser Inszenierung. Hinzu kommt, dass die Exponate durch ihre Installation im Raum, durch die Beleuchtung, Farbgebung und Aufstellung der Vitrinen, präsentiert werden wie Kunstwerke: Einzeln, isoliert voneinander werden sie in Szene gesetzt, ohne dass offensichtliche Bezüge zueinander oder zum Grabbesitzer hergestellt werden; sie werden inszeniert wie Schmuckstücke in einem Juweliergeschäft. Auch diese Inszenierung der Objekte entspricht Hovings Ziel, die Grabbeigaben Tutanchamuns zu ästhetisieren und sie als Kunstwerke darzustellen, die der Allgemeinheit gehören und nicht einem bestimmten Land. Und obwohl die Grabbeigaben Tutanchamuns, nach Hoving, in seiner Ausstellung bereits ihre Daseinsberechtigung allein durch ihre pure Schönheit gewonnen haben, meint er, den Besucherinnen einen Kontext geben zu müssen. Dieses ist das zweite, mit dem ersten bisweilen im Widerspruch stehende Ziel von Treasures of Tutankhamun. Beim Kontext ging es ihm, wie wir gesehen haben, primär um eine dramatische Präsentation der Grabbeigaben. Das Narrativ, welches während des Durchgangs durch die Ausstellung erzählte wurde, war die Geschichte der Entdeckung des Grabes mit Howard Carter als Protagonisten dieses Abenteuers. Hoving wählte
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als Kontext für die Objekte Tutanchamuns nicht etwa das Leben des Pharaos; nein, Tutanchamun kam als Protagonist seines eigenen Grabes nicht annähernd in Frage. Die Wahl fiel auf Carter, seinen Entdecker, den Hoving selbst zum letzten und größten ägyptischen Entdecker hochstilisierte.237 Hoving erzählt die Geschichte eines Mannes, eines Entdeckers und Abenteurers, der nach Ägypten kommt, um dort sein Glück und Schätze zu suchen. Dass Howard Carter mehr als nur ein Laienarchäologe war, dem es um mehr als nur Schatzsuche ging, haben wir am Anfang des Kapitels erfahren. Nichtsdestotrotz erfährt Carter in dieser Ausstellung eine sehr eindimensionale Porträtierung, die den Besucherinnen als Projektionsfläche dienen soll, die mit zahlreichen Assoziationen des Mythos Ägypten und des Mythos Entdecker angefüllt werden kann. Auch sie sollen sich als Entdecker, als Abenteurer, als Schatzjäger fühlen, die das Geheimnis des Grabes lüften können. Durch die Perspektive des Entdeckers können die über 3000 Jahre alten Grabbeigaben einer Kultur, die grundsätzlich erstmal unverständlich scheint, leichter von der Besucherin konsumiert werden. So werden in dieser Ausstellung zwei Mythen bewusst reproduziert: 1. Der Mythos Ägypten wird reproduziert, da die goldenen Formen der ästhetisierten Grabbeigaben, die Assoziationen Schatz, Reichtum und Dekadenz evozieren. Durch den Ausstellungseingang und den langen Gang wird im Zusammenspiel mit der Form Dunkelheit eine Grabesatmosphäre hervorgerufen mit den Assoziationen Tod, Geheimnis und Fluch, die von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden können. 2. Zweitens wird durch die riesigen Fotografien der Ausgrabung der Mythos des Entdeckers erzeugt. Die Besucherin soll sich wie Carter fühlen, der in das Grab hinabsteigt, um Schätze zu entdecken. Die Objekte werden als Schätze gelesen, derer sich der Entdecker bemächtigt.
Abschließend könnte man an dieser Stelle, wie bereits während der Belzoni Ausstellung im ersten Kapitel, Kritik an unserer kritischen Analyse der Grabesatmosphäre üben, indem man argumentiert, dass es durchaus stimmig ist, das Grab nachzuahmen und eine Grabesatmosphäre zu erzeugen. Schließlich gibt diese den Exponaten, die aus dem Kontext eines ägyptischen Grabes stammen, im Museum nur den ursprünglichen Kontext zurück. Dadurch könne die Besucherin die Objekte authentischer erleben als im Tageslicht. Wir erinnern aber daran, dass diese Argumentation auf einem Trugschluss beruht:238 Die Grabobjekte sind längst ihrem
237 Hoving: Tutankhamun – The Untold Story, a.a.O., S. 366-367. 238 Den Trugschluss in der Argumentation für die Grabesatmosphäre als ursprünglichen Kontext, kann man auch daran erkennen, dass die Argumentation bei anderen Ausstellungsobjekten schnell zu absurden Schlussfolgerungen führt. So wäre zu fordern, dass alle Objekte,
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eigentlichen Kontext, dem Grab, entnommen worden und befinden sich nun in einem Ausstellungskontext. Sie haben sich bereits vom Grabobjekt zum Museumsoder Ausstellungsobjekt, zum Exponat, gewandelt. Bei der Ausstellung Treasures of Tutankhamun sticht dieser Wandel durch die vollkommene Ästhetisierung der Grabbeigaben zu Kunstwerken besonders ins Auge. Der Grabkontext, den man in der Ausstellung zu scheinbar didaktischen Zwecken erzeugt, ist nichts als Pseudokontext und dient nur dem Erleben und der Dramaturgie der Inszenierung der Ausstellung. Er bietet keinen Lerneffekt, sondern erzeugt stattdessen den Mythos Ägypten. Das Met bricht teilweise mit dem Grabkontext und der Grabesatmosphäre und zeigt den Wandel von der Grabbeigabe zum Exponat; es stellt die Objekte im Tageslicht aus, sehr zum Missfallen einiger Besucherinnen, die sich der mythischen Atmosphäre des Grabes beraubt fühlen. Es geht dabei nicht explizit um das Grab Tutanchamuns, sondern ganz allgemein um die Erfahrung, ein Grab zu betreten. Diese sinnliche und erlebnisorientierte Inszenierung, die den Mythos Ägypten reproduziert, gehört zur Erwartungshaltung der Besucherinnen von Ägyptenausstellungen und wird in Treasures of Tutankhamun beinahe durchgehend bedient. Die bewusste Produktion des Mythos Ägypten in Ausstellungen, erzeugt durch eine mythische Inszenierung ist unsere vierte Facette des Mythos Ägypten, die wir durch die Analyse der Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun aufdecken konnten.
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Rückblick: Im »Pantheon von best sellers« – King Tut, der Star des Mythos Ägypten im 20. Jahrhundert
Wie wir gesehen haben, wurde Tutanchamun bereits zum Zeitpunkt seiner Entdeckung komplett der populären Rezeption einverleibt und war daher von Anfang an Teil des Mythos Ägypten. Die Ägyptologie hatte zunächst kein Interesse daran, sich mit diesem für sie zu populären Thema auseinanderzusetzen. Bei der Auswahl der Objekte für die Treasures of Tutankhamun Ausstellung in den 1970er Jahren haben wir gesehen, dass die Ägyptologie auch da nicht zu Wort kommen konnte. Met Direktor Hoving wählte die Objekte allein nach ästhetischem und materiellem Wert aus. Er bestimmte auch das Narrativ der Ausstellung, das aus Grabbeigaben Kunstwerke und wertvolle Goldschätze machte und die dramatisierte Entdeckungsgeschichte Tutanchamuns erzählte, jedoch nicht die Objekte in ihren historischen Kontext einordnete. Damit wurde auch die Treasures of Tutankhamun Ausstellung zu einer Quelle des Mythos Ägypten. Die ab den 1960er Jahren anlaufende wissenschaftliche Beschäftigung mit Tutanchamun entwickelte sich parallel und unabhängig die unter Wasser gefunden wurden, auch in einer Ausstellung im Wasser, etwa in Aquarien, ausgestellt werden müssen.
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eigentlichen Kontext, dem Grab, entnommen worden und befinden sich nun in einem Ausstellungskontext. Sie haben sich bereits vom Grabobjekt zum Museumsoder Ausstellungsobjekt, zum Exponat, gewandelt. Bei der Ausstellung Treasures of Tutankhamun sticht dieser Wandel durch die vollkommene Ästhetisierung der Grabbeigaben zu Kunstwerken besonders ins Auge. Der Grabkontext, den man in der Ausstellung zu scheinbar didaktischen Zwecken erzeugt, ist nichts als Pseudokontext und dient nur dem Erleben und der Dramaturgie der Inszenierung der Ausstellung. Er bietet keinen Lerneffekt, sondern erzeugt stattdessen den Mythos Ägypten. Das Met bricht teilweise mit dem Grabkontext und der Grabesatmosphäre und zeigt den Wandel von der Grabbeigabe zum Exponat; es stellt die Objekte im Tageslicht aus, sehr zum Missfallen einiger Besucherinnen, die sich der mythischen Atmosphäre des Grabes beraubt fühlen. Es geht dabei nicht explizit um das Grab Tutanchamuns, sondern ganz allgemein um die Erfahrung, ein Grab zu betreten. Diese sinnliche und erlebnisorientierte Inszenierung, die den Mythos Ägypten reproduziert, gehört zur Erwartungshaltung der Besucherinnen von Ägyptenausstellungen und wird in Treasures of Tutankhamun beinahe durchgehend bedient. Die bewusste Produktion des Mythos Ägypten in Ausstellungen, erzeugt durch eine mythische Inszenierung ist unsere vierte Facette des Mythos Ägypten, die wir durch die Analyse der Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun aufdecken konnten.
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Rückblick: Im »Pantheon von best sellers« – King Tut, der Star des Mythos Ägypten im 20. Jahrhundert
Wie wir gesehen haben, wurde Tutanchamun bereits zum Zeitpunkt seiner Entdeckung komplett der populären Rezeption einverleibt und war daher von Anfang an Teil des Mythos Ägypten. Die Ägyptologie hatte zunächst kein Interesse daran, sich mit diesem für sie zu populären Thema auseinanderzusetzen. Bei der Auswahl der Objekte für die Treasures of Tutankhamun Ausstellung in den 1970er Jahren haben wir gesehen, dass die Ägyptologie auch da nicht zu Wort kommen konnte. Met Direktor Hoving wählte die Objekte allein nach ästhetischem und materiellem Wert aus. Er bestimmte auch das Narrativ der Ausstellung, das aus Grabbeigaben Kunstwerke und wertvolle Goldschätze machte und die dramatisierte Entdeckungsgeschichte Tutanchamuns erzählte, jedoch nicht die Objekte in ihren historischen Kontext einordnete. Damit wurde auch die Treasures of Tutankhamun Ausstellung zu einer Quelle des Mythos Ägypten. Die ab den 1960er Jahren anlaufende wissenschaftliche Beschäftigung mit Tutanchamun entwickelte sich parallel und unabhängig die unter Wasser gefunden wurden, auch in einer Ausstellung im Wasser, etwa in Aquarien, ausgestellt werden müssen.
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von der populären Rezeption Tutanchamuns in den Ausstellungen, und das, obwohl das neu gefundene ägyptologische Interesse auch ausgelöst wurde durch die weltweiten Ausstellungstourneen. Statt von Ägyptomanie wird häufig von Tutmania gesprochen, obwohl Tutanchamun nur eine weitere Form des Mythos Ägypten ist, die mit den bekannten Assoziationen wie Schatz, Reichtum, Dekadenz und Schönheit verknüpft wird, durch die aber darüber hinaus neue Assoziationen entstehen. Bereits seit den 1920er Jahren entwickelte sich der Glaube an einen Fluch, der als Assoziation die Form Tutanchamun, dessen Grab und Mumie anfüllt. Denn Fluch haben wir im Rückgriff auf Schelling und Freud definiert als konzentrierte malevolente Energie des Willens, jemandem zu schaden. Das Gerücht um einen Fluch Tutanchamuns ist in der Rezeption des Pharaos durchgehend aktuell. Auch während der Ausstellung Treasures of Tutankhamun musste sich zum Beispiel Kurator David Silverman ständig gegen die Fluchgerüchte wehren, die immer wieder in der Presse erwähnt wurden.239 Scherzhaft wurde Tutanchamuns Fluch für die langen Warteschlangen vor den Ausstellungsgebäuden verantwortlich gemacht.240 Und auch in Kanada, wo die Ausstellung als nächstes gezeigt werden sollte, wurde der Fluch in der Presse besprochen. Nach der Logik des Fluches setzte sich jede Besucherin, die die Ausstellung besuchte, dem Einfluss des Fluches aus.241 Das Gefühl des Unheimlichen in Zusammenhang mit dem Glauben an einen Fluch des Tutanchamun entpuppt sich so auch als Teil der Erwartungshaltung der Besucherinnen an die Ausstellung.242 Wie wir argumentiert haben, ist das Unheimliche im Mythos Ägypten unsere dritte Facette, der darüber hinaus in Treasures of Tutankhamun bewusst produziert wird, was wir als vierte Facette des Mythos Ägypten bezeichnet haben. Durch die Ausstellung Treasures of Tutankhamun wurde Tutanchamun endgültig zur Ware: Das Met entwickelte ein ausgeklügeltes Marketing- und Merchandisekonzept, das viele Grabbeigaben Tutanchamuns als Kopien käuflich machte. Nach dem abschließenden Raum der Ausstellung wurden die Besucherinnen zur Verkaufsfläche weitergeleitet: »A final corridor […] opens into a bright bazaar with postcards, posters, books, and a wide range of good reproductions; sales proceeds will partly serve to finance a much-needed, major renovation of the Cairo Museum.«243 Das Ehepaar Butzer, Ausstellungsbesucher des Field Museums in Chicago, bezeichnet die Verkaufsfläche als »bright bazaar«, als einen orientalischen
239 Vgl. Silverman: »The Curse of the Curse of the Pharaohs«, a.a.O. 240 Vgl. Montague, Richard C.: »The Mummy’s Curse Lives On«, Newsday, (19.9.1978). 241 Vgl. Lancashire, David: »The Curse of King Tut’s Tomb TUTANKHAMEN«, The Globe and Mail, (12.10.1979). 242 Vgl. Wallach: »Art Review: Tut in New York: Little Drama, a Lot of Elegance«, a.a.O. 243 Butzer/Butzer: »[Review:] Treasures of Tutankhamun«, a.a.O.
Kapitel 2: Mythos Tutanchamun
Markt, auf dem Waren feil geboten werden. Verkauft wird Tut-Merchandise: Postkarten, Poster, Bücher und Kopien der Objekte. Wie die Butzers richtig feststellen, soll der Gewinn an die Antikenverwaltung Ägyptens gehen, um das Museum in Kairo zu renovieren. Was sie nicht erwähnen, was aber eingangs von Hoving bemerkt wurde, ist die Tatsache, dass auch die beteiligten Museen einen großen Gewinn mit dem Verkauf von Merchandise machten. Um rein optisch den Wert der Kopien zu steigern und in Analogie mit den Grabbeigaben zu bringen, wurden sie ähnlich wie die Originale in Vitrinen präsentiert. Wie die Ausstellungsräume war auch die Verkaufsfläche in dunklen Blau-, Grauund Schwarztönen gehalten. Dadurch konnte den Besucherinnen das Gefühl suggeriert werden, als seien sie noch immer in der eigentlichen Ausstellung. Die Grenze zwischen Original und Kopie, zwischen Kunst und Kommerz verschwimmt. Bei den Waren handelte es sich vor allem um Schmuck: Anhänger, Ohrringe und Ringe. Die meisten Kopien waren, wie die Originale, aus Gold, Silber oder vergoldetem Silber hergestellt worden, was den Besucherinnen suggerierte, dass die unbezahlbaren und wertvollen Objekte Tutanchamuns käuflich waren. Auch sie konnten so eine Grabbeigabe Tutanchamuns erwerben und besitzen. Zur Vermarktung des Schmucks gab es einen Verkaufskatalog, in dem vor allem die Schmuckkopien aber auch anderes Tut-Merchandise angepriesen wurden.244 Durch die Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit, durch Fotografien, die bis in die Privathaushalte gelangten, wurde das Antlitz Tutanchamuns, seine Goldmaske, ab den 1920er Jahren schnell überall bekannt. Tutanchamun wurde zum Star, zur Projektionsfläche für Wünsche und Träume. Der Star ist nichts anderes als eine weitere Form des Mythos; die Wünsche und Träume sind die mit dieser Form verknüpften Assoziationen. Tutanchamuns Stardom vervielfachte sich freilich durch seine wachsende Bekanntheit in den 1970er Jahren, ausgelöst durch die Ausstellungstourneen und die mit ihnen verbundenen Kataloge, Bücher, Zeitungsartikel und Filme. Hier war Tutanchamun nun farbig und in Hochglanz abgebildet. Die Kataloge und ihre Fotos erinnerten an die Mode- und Freizeitzeitschriften, in denen die zeitgenössischen Stars abgebildet wurden.245 Auch das übrige Tut-Merchandise, T-Shirts, Replikate und die Kopien des Schmucks, halfen, Tutanchamuns Bekanntheit zu steigern und ihn als Ware aus dem Museum in die Privathaushalte zu befördern. Seitdem ist Tutanchamun ein Verkaufsschlager, ein Garant für volle Ausstellungshallen und volle Kassen, dessen Anziehungskraft wie das anderer Kulturwaren primär darin besteht, zu einem »Pantheon von best sel-
244 Vgl. The Metropolitan Museum of Art: The Treasures of Tutankhamun, New York 1977. 245 Vgl. Edwards, I.E.S.: Treasures of Tutankhamun, New York 1976; Vgl. The Metropolitan Museum of Art: The Treasures of Tutankhamun, a.a.O.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
lers«246 zu gehören. Theodor W. Adorno nennt das den »Fetischcharakter« und meint damit, dass bestimmte Musikwerke, wie zum Beispiel Beethovens 9. Symphonie, allein durch ihre Berühmtheit für Qualität zu bürgen scheinen. Damit ist das »Prinzip des Stars […] totalitär geworden«, das heißt die Reaktionen des Publikums scheinen nicht dem Werk selbst, sondern »unmittelbar dem akkumulierten Erfolg zu gelten«.247 Die Folge davon ist: »Es erbaut sich ein Pantheon von best sellers.«248 Das gilt auch für Tutanchamun: Er gehört zu einer Selektion von Stars oder Werken, die allein durch ihre Berühmtheit zu Kassenschlagern werden: »das Bekannteste ist das Erfolgreichste.«249 Solche Stars oder Werke werden dann gleichsam zu Selbstläufern und werden als solche immer wieder aufgeboten. Allein das suggeriert ihre Starqualität, ihre Relevanz und Besonderheit.250 Dass Tutanchamun immer wieder und immer öfter ausgestellt wird und immer noch die dominanteste Präsenz im ägyptischen Ausstellungswesen darstellt, hat einen doppelten Einfluss auf die populäre Rezeption des Alten Ägypten: Zum einen ist das Publikum nun allein daran interessiert, Tutanchamun als Star zu rezipieren. Da Tutanchamun zum »Pantheon von best sellers« gehört, suggeriert das dem Publikum, dass sie ihn und seine Grabbeigaben gesehen haben müssen. Die Rezeption Tutanchamuns und seiner Grabbeigaben als Zeugnisse der altägyptischen Kultur haben dagegen keine Relevanz. Zum anderen werden durch die Konzentration auf den Star andere altägyptische Themen übersehen und vom Publikum als uninteressant und irrelevant wahrgenommen.
246 Adorno, Theodor W.: »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, in: ders.: Dissonanzen. Einleitung in die Musikphilosophie, Gesammelte Schriften, Bd. 14, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 2003, S. 14-50, hier S. 22. 247 Ebd., S. 21. 248 Ebd., S. 22. 249 Ebd., S. 22. 250 Vgl. Ebd., S. 21-22.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
War in den 1970er Jahren die Zeit gekommen, in der Ausstellung und Museum zueinanderfanden, so lässt sich im bis jetzt kurzen 21. Jahrhundert die Tendenz erkennen, dass sie vermehrt wieder auseinanderdriften. Großausstellungen werden des Öfteren in Hallen ausgestellt, in denen Events wie Konzerte oder Sportveranstaltungen stattfinden. Ebenso werden viele dieser Ausstellungen nicht mehr von Museen organisiert, sondern von professionellen Veranstaltern, die sich auf Großevents spezialisiert haben. Damit kehrt die Ausstellung und auch die Ägyptenausstellung zu ihrem Ursprung zurück, insofern sie wieder vermehr den Charakter einer Gewerbe- und Industrieausstellung annimmt. Im 21. Jahrhundert ist außerdem eine Beschleunigung der Reproduktion der Ausstellungslandschaft zu beobachten: Es gibt immer mehr Ausstellungen, die in immer kürzer werdenden Abständen aufeinander folgen. Diese Vielfalt macht die Auswahl der Untersuchungsgegenstände schwer. Da aber viele Ägyptenausstellungen in Bezug auf die Reproduktion des Mythos Ägypten bloße Wiederholungen der uns bekannten Ausstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts sind, können wir uns auf diejenigen Ausstellungen konzentrieren, in denen in Bezug auf den Mythos etwas Neues auftritt. Dabei handelt es sich zunächst um zwei Ausstellungen, die eine vollkommen neue Perspektive auf den Mythos als solchen bieten. Zum einen ist das eine Ausstellung über Ägypten im Film, Hollywoodʼs Egypt, und zum anderen eine Ausstellung über die Kleopatrarezeption, Kleopatra. Die ewige Diva. In beiden Ausstellungen wird die Ägyptomanie, selbst zum Thema der Inszenierung gemacht; mythologisch gesprochen wird so der Mythos Ägypten selbst inszeniert und dadurch zum Gegenstand eines weiteren, eines dritten semiologischen Systems gemacht. In der Analyse dieser Ausstellungen werden wir sehen, dass diese beiden Ausstellungen durch die Thematisierung des Mythos Möglichkeiten bieten, den Mythos als Mythos zu entlarven: im ersten Fall durch Analogie, im zweiten durch Wiederholung. Blicken wir von hier auf die Entwicklung der Ägyptenausstellung zurück, so stellen wir fest: Erst hier lässt sich ein Entwicklungsbruch in der bisher linear verlaufenden Reproduktion des Mythos Ägypten in Ausstellungen konstatieren. Alle vorherigen Änderungen fanden immer nur innerhalb des
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Grundgerüsts des Mythos, des zweiten semiologischen Systems statt, und können deshalb nicht als wirkliche Änderungen angesehen werden, sondern bloß als Anreicherungen in Bezug auf den Inhalt des Mythos, als Anreicherungen, die das mythische Grundgerüst unangetastet lassen. Indem aber diese beiden Ausstellungen den Mythos selbst zum Gegenstand eines dritten semiologischen Systems machen, wird das Grundgerüst überschritten und selbst thematisiert. Damit verändert sich der ganze »Blick auf den Mythos«1 : Er wird als Mythos erkennbar. Insofern diese Ausstellungen mit dem mythischen Paradigma brechen und es als solches entlarven, sind sie in Bezug auf den Mythos Ägypten als fortschrittlich zu bezeichnen. In diesem Fortschritt erkennen wir die fünfte Facette des Mythos. Auf der anderen Seite des Spektrums steht den beiden oben genannten Ausstellungen die Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes entgegen. Diese Ausstellung zeigt sich zunächst fortschrittlich, indem sie Faksimiles altägyptischer Objekte und Bauten inszeniert, die besser sind als das Original, da sie mit Hilfe der neuesten Technik – hochauflösenden Scannern und 3DDruckern – hergestellt wurden. Die Analyse wird jedoch zeigen: Nicht nur rückt an Stelle der faksimilierten ägyptischen Objekte die Technik der Reproduktion in den Mittelpunkt der Ausstellung, sondern sie wird auch in einem Rahmen inszeniert, den man in mehrerer Hinsicht als reaktionär bezeichnen muss: Indem sie sich eng an Belzonis erste Inszenierung des Grabes von Sethos I. hält, kehrt sie zur Quelle des Mythos Ägypten zurück und reproduziert dessen Anfänge. Darüber hinaus reichert sie diese Inszenierung mit dem uns bereits wohlbekannten Mythos des Entdeckers an, dem mittlerweile ein aus heutiger Sicht reaktionäres Männlichkeitsideal immanent ist. Die Reaktion, die die Analyse von Scanning Sethos zu Tage fördert, ist unsere sechste Facette des Mythos. Dieses Kapitel befasst sich demnach mit den Extrempolen des Mythos Ägypten im 21. Jahrhundert, indem es Fortschritt und Reaktion im Umgang mit dem Mythos untersucht.
1.
Mythologie durch Analogie – Hollywood’s Egypt und die Macht des vergleichenden Blicks
Der Film und das Alte Ägypten haben eine lange gemeinsame Geschichte, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt. Das Alte Ägypten diente nicht nur als lohnendes Sujet für das Medium Film seit dessen Anfängen, sondern auch als Inspiration für die Architektur der Kinogebäude, die diese Filme beherbergten. Altägyptische architektonische Elemente, vor allem von Tempeln, kamen dabei zum Einsatz: Oft sah man Säulen, Säulenumgänge, Höfe und pylonförmige, geböschte Fronten mit Hohlkehle und Rundstab. Assoziiert werden diese Formen mit Monumentalität, 1
Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 286.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Grundgerüsts des Mythos, des zweiten semiologischen Systems statt, und können deshalb nicht als wirkliche Änderungen angesehen werden, sondern bloß als Anreicherungen in Bezug auf den Inhalt des Mythos, als Anreicherungen, die das mythische Grundgerüst unangetastet lassen. Indem aber diese beiden Ausstellungen den Mythos selbst zum Gegenstand eines dritten semiologischen Systems machen, wird das Grundgerüst überschritten und selbst thematisiert. Damit verändert sich der ganze »Blick auf den Mythos«1 : Er wird als Mythos erkennbar. Insofern diese Ausstellungen mit dem mythischen Paradigma brechen und es als solches entlarven, sind sie in Bezug auf den Mythos Ägypten als fortschrittlich zu bezeichnen. In diesem Fortschritt erkennen wir die fünfte Facette des Mythos. Auf der anderen Seite des Spektrums steht den beiden oben genannten Ausstellungen die Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes entgegen. Diese Ausstellung zeigt sich zunächst fortschrittlich, indem sie Faksimiles altägyptischer Objekte und Bauten inszeniert, die besser sind als das Original, da sie mit Hilfe der neuesten Technik – hochauflösenden Scannern und 3DDruckern – hergestellt wurden. Die Analyse wird jedoch zeigen: Nicht nur rückt an Stelle der faksimilierten ägyptischen Objekte die Technik der Reproduktion in den Mittelpunkt der Ausstellung, sondern sie wird auch in einem Rahmen inszeniert, den man in mehrerer Hinsicht als reaktionär bezeichnen muss: Indem sie sich eng an Belzonis erste Inszenierung des Grabes von Sethos I. hält, kehrt sie zur Quelle des Mythos Ägypten zurück und reproduziert dessen Anfänge. Darüber hinaus reichert sie diese Inszenierung mit dem uns bereits wohlbekannten Mythos des Entdeckers an, dem mittlerweile ein aus heutiger Sicht reaktionäres Männlichkeitsideal immanent ist. Die Reaktion, die die Analyse von Scanning Sethos zu Tage fördert, ist unsere sechste Facette des Mythos. Dieses Kapitel befasst sich demnach mit den Extrempolen des Mythos Ägypten im 21. Jahrhundert, indem es Fortschritt und Reaktion im Umgang mit dem Mythos untersucht.
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Mythologie durch Analogie – Hollywood’s Egypt und die Macht des vergleichenden Blicks
Der Film und das Alte Ägypten haben eine lange gemeinsame Geschichte, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt. Das Alte Ägypten diente nicht nur als lohnendes Sujet für das Medium Film seit dessen Anfängen, sondern auch als Inspiration für die Architektur der Kinogebäude, die diese Filme beherbergten. Altägyptische architektonische Elemente, vor allem von Tempeln, kamen dabei zum Einsatz: Oft sah man Säulen, Säulenumgänge, Höfe und pylonförmige, geböschte Fronten mit Hohlkehle und Rundstab. Assoziiert werden diese Formen mit Monumentalität, 1
Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 286.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Exotik, Dekadenz, Reichtum und Geheimwissen. Das Publikum sollte das Gefühl haben, in einen opulenten Palast zu treten, in dessen Innerem der Film als Schatz und Geheimnis zu entdecken ist. Eines der berühmtesten Beispiele dieser Architektur ist Graumanʼs Egyptian Theater auf dem Hollywood Boulevard im Stadtteil Hollywood von Los Angeles, das im gleichen Jahr entstand, in dem Tutanchamun entdeckt wurde: 1922.2 Das erste Gebäude, dessen Fassade eine ägyptisierende Architektur aufwies, und das ein Kino beherbergte, war im Jahr 1896 die Egyptian Hall in London.3 Jenes Gebäude, das 1821 bereits Ausstellungsort der ersten Ägyptenausstellung überhaupt war: der Ausstellung Belzonis über das Grab Sethos I. Die Analogie zum Alten Ägypten findet man aber nicht nur in den Fassaden der alten Kinopaläste wieder, sondern auch in den Kinosälen selbst. Graumanʼs Egyptian Theater war innen wie außen mit einem ähnlichen ägyptisierenden Dekor ausgestattet. Filmwissenschaftlerin Antonia Lant stellt in ihrem Aufsatz »The Curse of the Pharao, or How Cinema Contracted Egyptomania«4 fest, dass die Dunkelheit der Kinosäle an die Dunkelheit der ägyptischen Gräber erinnert. So argumentiert Lant, dass es eine klare Analogie zwischen der Beschreibung Howard Carters über den ersten Anblick des Grabes Tutanchamuns und der Projektion eines Films auf die Leinwand gibt.5 Wie Carter berichtet, stößt er ein kleines Loch durch den vermauerten Zugang zu Tutanchamuns Grab, bevor zuerst der Schein seiner Kerze und dann der Lichtstrahl seiner elektrischen Taschenlampe die dahinter liegende Dunkelheit durchdringt. Der Lichtstrahl der Taschenlampe gibt Carters Blick auf die Grabbeigaben frei, die ihm wie eine Wand aus Gold erscheinen.6 Wenn bei diesem Beispiel Kinosaal und Grab analog zu betrachten sind, sind Film und Grabschatz als eine weitere Analogie anzusehen. Einen weiteren Zusammenhang zwischen dem Stummfilm und dem Alten Ägypten sieht Lant in der Bildersprache
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Vgl. Lant, Antonia: »The Curse of the Pharaoh, or How Cinema Contracted Egyptomania«, October, 59 (1992), S. 87-112, hier S. 107. Vgl. Ebd., S. 99; Vgl. Lant, Antonia: »Egypt at the Cinema: Karl Freund’s Memorial to the Silent Screen«, Maske und Kothurn, 52/3 (2006), S. 89-104, hier S. 89. In starkem Kontrast zum Titel steht dann der Inhalt des Aufsatzes, da weder der Fluch der Pharaonen noch Ägyptomanie wieder erwähnt, geschweige denn definiert werden. Lant geht davon aus, dass es sich um allgemein bekannte und allgemein gültige Begriffe handelt, was, wie wir gesehen haben, freilich nicht der Fall ist. Da die »Manie« in Ägyptomanie im klinischen Sinn ein psychisches Krankheitsbild beschreibt, spricht Lant von »contracting egyptomania«. Dieses Wortspiel impliziert, dass Lant Ägyptomanie im wörtlichen Sinne als übersteigerte Begeisterung für Ägypten versteht, mit der sich in diesem Fall der Film angesteckt hat. Darüber hinaus können wir an dieser Stelle aber nur raten, was Lant genau mit Ägyptomanie meint. Vgl. Lant: »The Curse of the Pharaoh, or How Cinema Contracted Egyptomania«, a.a.O., S. 90. Vgl. Carter/Mace: The Tomb of Tutankhamun. Vol. 1, a.a.O., S. 82-83, 86.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
des Films und der Bildersprache der Hieroglyphen.7 Wobei hier der immer noch weit verbreitete Irrglaube an das Symbolhafte der Hieroglyphen zu Grunde liegt, der davon ausgeht, dass jede Hieroglyphe, wie zum Beispiel die Eule, auch das bedeutet, was es darstellt, nämlich Eule.8 In diesem Sinne ist das vermeintlich Symbolhafte der Hieroglyphen als Universalsprache aufzufassen, die jeder verstehen kann. Dem Film wird beim Vergleich mit den Hieroglyphen eine ähnliche universale Sprache durch Bilder attestiert. Auf der anderen Seite wurden die Hieroglyphen zur Stummfilmzeit, aber auch noch heute, assoziiert mit Geheimwissen, das es zu entziffern gilt. Das könnte auch darauf hindeuten, dass es genauso gilt, die Bilder des Stummfilms mit Hilfe der abwechselnd eingeblendeten kommentierenden Sätze zu entziffern. Die nächste Parallele, die Lant nennt, ist diejenige zwischen der Mumifizierung, als Mittel den Körper auch nach dem Tod zu erhalten, und dem Medium Film, der seine Schauspielerinnen ebenso vor dem zeitlich bedingten Verfall bewahrt, wodurch sie eine Art von Unsterblichkeit erlangen. Darüber hinaus enthalte die Mumifizierung, als chemischer Prozess, eine Analogie zu den chemischen Prozessen, die während der Entwicklung des Films notwendig sind.9 Die Analogie von Mumifizierung und Film hat bereits der Filmkritiker André Bazin mit dem Schlagwort »Mumienkomplex« thematisiert. Dem Mumienkomplex liegt nach Bazin jegliche Bestrebung des Menschen zu Grunde, ein Abbild von sich zu machen.10 Das äußert sich in der Mumie, in Statuetten und Statuen und der Malerei sowie der Fotografie als erstem Mittel der mechanischen Reproduktion. Der Mumienkomplex gipfelt schließlich im Film, dem es gelingt, Menschen nicht nur in einem bestimmten Augenblick, erstarrt in der Zeit, abzubilden, sondern Bewegung in die Starre bringt und Bewegtbilder von Menschen während Abläufen der Zeit darzustellen vermag. Für Bazin ist damit der Film als Mumie der Veränderung zu bezeichnen.11 Die Bilder verändern sich, sie bewegen sich, dennoch ist nur ein entsprechend kleiner Ablauf der Zeit konserviert. Der Begriff »Mumienkomplex« ist dem Vokabular der Psychoanalyse entlehnt, denn Bazin sagt, dass, wenn man die bildenden Künste einer psychoanalytischen Untersuchung unterziehen würde, als Ursache für das Kreieren von Statuen und Malerei der Mumienkomplex zum Vorschein käme.12 Für Bazin drückt sich im Mumienkomplex das grundsätzliche Bedürfnis des Menschen aus, die Zeit besiegen zu wollen, den Tod mit Hilfe des
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Lant macht diesen Punkt mit Hilfe des Schriftstellers Vachel Lindsay. Vgl. Lant: »Egypt at the Cinema: Karl Freund’s Memorial to the Silent Screen«, a.a.O., S. 89; Vgl. Lant: »The Curse of the Pharaoh, or How Cinema Contracted Egyptomania«, a.a.O., S. 107. Oft handelt es sich bei diesem Einkonsonantenzeichen um eine Präposition. Vgl. Lant: »The Curse of the Pharaoh, or How Cinema Contracted Egyptomania«, a.a.O., S. 90. Vgl. Bazin, André: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1985, S. 10. Vgl. Ebd., S. 14. Vgl. Ebd., S. 10.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Abbildes zu überwinden und den Fortbestand des Lebens zu garantieren: Präservation durch Repräsentation. Eine ähnliche Wunschvorstellung ist uns bereits bei Freuds Doppelgängermotiv begegnet, wobei der Doppelgänger oder die Verdoppelung eine Rückversicherung des Lebens und des eigenen Fortbestandes darstellt. So auch die diversen Abbilder und Doppelungen des Grabherrn im Grab, die allesamt eine Rückversicherung des Lebens oder besser des Weiterlebens nach dem Tod und somit eine Negierung des Todes sind. Vielleicht thematisierte deshalb das Medium Film bereits in seinen Anfängen das Alte Ägypten, weil das Bestreben der alten Ägypter, den Körper zu konservieren im Film seine vorläufige Vollendung gefunden hatte. Mumien zählten von Anfang an zu beliebten Protagonisten des Films, die auf der Leinwand nun tatsächlich zu neuem Leben erwachten. Aus ihrer Totenstarre gelöst, werden die Mumien durch die Bewegtbilder des Films zum wandelnden Leichnam. Im Medium Film erfährt der mumifizierte Leichnam sogar eine zweite, also doppelte Konservierung. Und hier liegt die Wurzel des Unheimlichen im Mumienfilm: der Umstand, dass Tote wieder auferstehen, dass Unbelebtes belebt wird.13 Betrachtet man die langjährige und erfolgreiche Geschichte des Alten Ägypten im Film, so war es nur eine Frage der Zeit, bis beide gemeinsam zum Thema einer Ausstellung wurden. Den Mythos Ägypten finden wir in beiden Medien; sowohl in der Ausstellung als auch im Film. Die Formen des Mythos und die mit ihnen assoziierten Motive werden im Ägyptenfilm genauso produziert und reproduziert wie in der Ägyptenausstellung. Aufgrund dessen kommen Besucherinnen der Ausstellung Hollywoodʼs Egypt 14 , die die in ihr thematisierten Filme bereits gesehen haben, mit einem durch Filme geprägten mythischen Wissen über das Alte Ägypten in die Ausstellung. Wie der Titel bereits sagt, beschäftigt sich die Ausstellung mit Filmen, die vornehmlich in den Filmstudios in Hollywood gemacht wurden und altägyptische Sujets aufgreifen. Die Ausstellung will zeigen, wie die Filmindustrie Hollywoods das Alte Ägypten sieht und wie sie es adaptiert. Hollywoodʼs Egypt hat aber auch den Anspruch, zu zeigen, was in diesen Filmen Fakt und was Fiktion ist. Dazu wird die Besucherin zu einem Streifzug durch die über 100-jährige Geschichte des Ägyptenfilms eingeladen; angefangen mit dem ersten Film aus dem Jahr 1898 bis zum Jahr, in dem die Ausstellung stattfand, 2012.15 Die zur Ausstel13
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Der Schauspieler Boris Karloff, der diverse Monster in Universal-Filmen spielte, darunter auch die Mumie in Karls Freunds gleichnamigem Film von 1932, erhielt den Beinamen »The Uncanny«, der Unheimliche. Karloff war in den Augen des Publikums ein Formwandler, er hatte viele Film-Doppelgänger, da er verschiedene Monster, wie die Mumie oder auch Frankensteins Monster spielte. Die Ausstellung »Het Egypte van Hollywood«, Hollywoodʼs Egypt, fand im Rijksmuseum van Oudheden in Leiden vom 13. Oktober 2012 bis 17. März 2013 statt. Kurator war der Ägyptologe Hans van den Berg. Vgl. ter Keurs, Pieter u.a.: »Deze uitgave«, RoMeO Magazine, 13/34 (2012), S. 2.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
lungsinszenierung eingesetzten Exponate bestehen aus Filmplakaten, Requisiten, Filmen, Kostümen, aber auch aus altägyptischen Originalen. Beim Eintreten in die Ausstellungsräumlichkeiten fällt der Besucherin zuerst die spärliche Beleuchtung und Dunkelheit der Inszenierung auf. Die Besucherin wird mit der Dunkelheit in dieser Ausstellung entweder an die dunkle Atmosphäre eines Kinosaales oder an die Grabesatmosphäre eines ägyptischen Grabes erinnert; vielleicht sogar an beides. Die Ausstellung Hollywoodʼs Egypt greift jenes Rot der Samtsitze alter Kinosäle in ihrem Farbschema der Inszenierung wieder auf, und spannt somit bereits eine zweite, diesmal farbliche Brücke zwischen dem Medium Film und dem Medium Ausstellung. So ist zum Beispiel ein langer schmaler Gang innerhalb der Ausstellungsinszenierung komplett in Rot gehalten; sowohl die Wände als auch die Decke und der Boden sind rot. Von diesem Gang gehen einzelne Kammern ab, die als Säle bezeichnet werden und in denen die Besucherin Filmausschnitte anschauen kann, die je nach Saal einem anderen Thema gewidmet sind (Abbildung 13).
Abbildung 13: Blick in die Ausstellung Hollywoodʼs Egypt. Rechts im Vordergrund: Filmkostüm. Im Hintergrund: roter Gang, der zu den (Kino)Sälen führt; rechts und links Filmplakate von Cleopatra (USA, 1963, R: Joseph L. Mankiewicz) und The Ten Command ments (USA 1956, R: Cecil B. DeMille).
© Hans van den Berg.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Die Inszenierung des roten Gangs erinnert sowohl an das rote Interior alter Kinosäle als auch an den Aufbau eines ägyptischen Grabes: lange Gänge und viele Kammern, in denen es Dinge zu entdecken gibt. In diesem ersten Teil der Ausstellung werden Filme thematisiert, die im Alten Ägypten spielen: In Saal 8 findet die Besucherin Filme, die biblische Themen aufgreifen, wie zum Beispiel Cecil B. DeMilles The Ten Commandments aus dem Jahr 1956; in Saal 9 findet sie Filme, die sich der Figur Kleopatra widmen. Hier sieht die Besucherin jedoch nicht nur Filmausschnitte aus Cecil B. De Milles Cleopatra von 1934 und Joseph L. Mankiewiczʼ Cleopatra von 1963, sondern auch Requisiten aus den Hollywoodfilmen und altägyptische Originale sowie Merchandise und Produkte, die durch die Filme inspiriert wurden oder diese thematisieren. Die Ausstellung arbeitet aber nicht nur mit Bewegtbild und Flachbild, sondern auch mit originalen Objekten aus dem Alten Ägypten, die allesamt aus dem Bestand des Rijksmuseum van Oudheden in Leiden stammen, sowie mit Requisiten aus den Hollywoodfilmen; diese beiden Objektgruppen werden einander gegenübergestellt. So soll gezeigt werden, was am jeweiligen Ägyptenbild fiktiv ist; auf der anderen Seite wird aber auch gezeigt, welche Filme ein akkurateres Licht auf die altägyptische Kultur werfen. Außerdem erfährt die Besucherin, welche altägyptischen Originale zur Inspiration für die Herstellung der Requisiten dienten oder gedient haben könnten. Sowohl Filmbegeisterte als auch Liebhaberinnen des Alten Ägypten werden von der Ausstellung angesprochen; der Fokus liegt aber eindeutig auf den Filmen und Requisiten. Die altägyptischen Objekte sind Orientierungspunkte, die den Besucherinnen einen kritischen Blick auf die Darstellung Altägyptens in Hollywoodfilmen ermöglichen. Die beiden Schwerpunkte der Ausstellung, Film und Ägypten, sind im Gastkurator der Ausstellung, Hans van den Berg, vereint. Van den Berg ist Ägyptologe und beschäftigt sich seit Jahren mit Ägypten im Film. Er konnte eine beachtliche Privatsammlung an Requisiten aufbauen und betreibt eine Website, auf der er Filmen mit altägyptischem Sujet sammelt.16 Die Ausstellung ist also ein multidisziplinäres Projekt: Sie wurde von einem Ägyptologen mit fundierten Filmkenntnissen visioniert und gemacht und zeichnet sich darüber hinaus durch eine Zusammenarbeit mit dem niederländischen Filminstitut und der Universität Leiden aus. Die Multidisziplinarität ist deutlich: Beide – Originale und Requisiten – werden in ihrem Wert als Exponat vollkommen gleich gewichtet ausgestellt und inszeniert; beide Objektgruppen werden in Vitrinen gezeigt, beide erhalten Objektbeschriebe; doch der Schwerpunkt liegt auf den Requisiten. Die Art der Darstellung ermöglicht einen direkten und gleichberechtigten Vergleich zwischen Hollywoodrequisit und altägyptischem Objekt. Der Einsatz der Requisiten wird durch
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van den Berg, Hans: »The Ancient Egypt Film Site«, https://www.ancientegyptfilmsite.nl/ (zugegriffen am 2.11.2021).
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Film-Stills oder Filmsequenzen der Filme verdeutlicht, in denen sie Verwendung fanden.
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Der vergleichende Blick – The Mummy’s »Book of the Dead« versus Asetwerets »Buch vom Herausgehen am Tage«
Im zweiten Teil der Ausstellung, der Ägyptenfilme thematisiert, die in der heutigen Zeit oder in der Zukunft spielen, sehen wir zum Beispiel Requisiten aus dem Film The Mummy aus dem Jahr 1999 und dessen Sequel The Mummy Returns von 2001. Regie führte bei beiden Filmen Stephen Sommers. The Mummy ist eine Neuauflage von Karl Freunds gleichnamigem Film aus dem Jahr 1932. Die Neuauflage war 1999 ein sehr erfolgreicher Film mit einem Einspielergebnis von über 415 Mio. Dollar weltweit.17 Gegenüber dem Film aus dem Jahr 1932 erfuhr The Mummy eine Überarbeitung und wartet nun mit einer Abenteurerfigur auf, die bewusst an Indiana Jones angelehnt ist. Das Gegenbild zum Abenteurer findet man in der Hauptdarstellerin, einer Bibliothekarin und Ägyptologin. Die Anfangsszene versetzt uns zurück ins Alte Ägypten, in die Regierungszeit von Sethos I.; der Schauplatz ist Theben. Im Vordergrund sehen wir einen thebanischen Tempel, im Hintergrund sehen wir die Pyramiden von Gizeh.18 Sethos I. erwischt seinen Hohepriester Imhotep und seine Gemahlin Anksunamun in flagranti; der Gehörnte wird daraufhin von den beiden Liebenden ermordet. Die Mörderin richtet sich selbst, in der Hoffnung von ihrem Imhotep durch Magie zu neuem Leben erweckt zu werden. Imhotep und seine Anhänger werden zur Strafe bei lebendigem Leib mumifiziert. Als ob das nicht schon Strafe genug sei, wird Imhotep zusammen mit fleischfressenden Käfern begraben. Rund 3000 Jahre später, im Jahr 1925, entdeckt der amerikanische Abenteurer Rick O’Connell zufällig die letzte Ruhestätte Imhoteps, die Stadt der Toten, Hamunaptra, in der Wüste Ägyptens. Dort findet er einen Schlüssel und eine Schatzkarte, die ihm, zurück in Kairo, vom Briten Jonathan entwendet werden. Jonathan zeigt beide Objekte seiner Schwester Evelyn, die Ägyptologin ist, und der durch die Entzifferung der Hieroglyphen auf Schlüssel und Karte sofort klar wird, dass es sich um eine Wegbeschreibung zur legendären Stadt der Toten, Hamunaptra, handelt, die bislang als verschollen galt. Evelyn, Jonathan und Abenteurer Rick begeben sich gemeinsam auf Schatzsuche, um die Geheimnisse und Reichtümer der Totenstadt zu entdecken. In Hamunaptra finden sie sowohl Schätze als auch den Sarkophag mit der Mumie Imhoteps und zwei Bücher: das Buch der Toten, das Tote zum Leben erwecken kann, und auch das Buch der Lebenden, das Lebende ins Totenreich
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»Die Mumie. The Mummy«, https://www.imdb.com/title/tt0120616/?ref_=tt_fq (zugegriffen am 1.11.2021). Die Pyramiden von Gizeh befinden sich 650km nördlich von Theben.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Film-Stills oder Filmsequenzen der Filme verdeutlicht, in denen sie Verwendung fanden.
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Der vergleichende Blick – The Mummy’s »Book of the Dead« versus Asetwerets »Buch vom Herausgehen am Tage«
Im zweiten Teil der Ausstellung, der Ägyptenfilme thematisiert, die in der heutigen Zeit oder in der Zukunft spielen, sehen wir zum Beispiel Requisiten aus dem Film The Mummy aus dem Jahr 1999 und dessen Sequel The Mummy Returns von 2001. Regie führte bei beiden Filmen Stephen Sommers. The Mummy ist eine Neuauflage von Karl Freunds gleichnamigem Film aus dem Jahr 1932. Die Neuauflage war 1999 ein sehr erfolgreicher Film mit einem Einspielergebnis von über 415 Mio. Dollar weltweit.17 Gegenüber dem Film aus dem Jahr 1932 erfuhr The Mummy eine Überarbeitung und wartet nun mit einer Abenteurerfigur auf, die bewusst an Indiana Jones angelehnt ist. Das Gegenbild zum Abenteurer findet man in der Hauptdarstellerin, einer Bibliothekarin und Ägyptologin. Die Anfangsszene versetzt uns zurück ins Alte Ägypten, in die Regierungszeit von Sethos I.; der Schauplatz ist Theben. Im Vordergrund sehen wir einen thebanischen Tempel, im Hintergrund sehen wir die Pyramiden von Gizeh.18 Sethos I. erwischt seinen Hohepriester Imhotep und seine Gemahlin Anksunamun in flagranti; der Gehörnte wird daraufhin von den beiden Liebenden ermordet. Die Mörderin richtet sich selbst, in der Hoffnung von ihrem Imhotep durch Magie zu neuem Leben erweckt zu werden. Imhotep und seine Anhänger werden zur Strafe bei lebendigem Leib mumifiziert. Als ob das nicht schon Strafe genug sei, wird Imhotep zusammen mit fleischfressenden Käfern begraben. Rund 3000 Jahre später, im Jahr 1925, entdeckt der amerikanische Abenteurer Rick O’Connell zufällig die letzte Ruhestätte Imhoteps, die Stadt der Toten, Hamunaptra, in der Wüste Ägyptens. Dort findet er einen Schlüssel und eine Schatzkarte, die ihm, zurück in Kairo, vom Briten Jonathan entwendet werden. Jonathan zeigt beide Objekte seiner Schwester Evelyn, die Ägyptologin ist, und der durch die Entzifferung der Hieroglyphen auf Schlüssel und Karte sofort klar wird, dass es sich um eine Wegbeschreibung zur legendären Stadt der Toten, Hamunaptra, handelt, die bislang als verschollen galt. Evelyn, Jonathan und Abenteurer Rick begeben sich gemeinsam auf Schatzsuche, um die Geheimnisse und Reichtümer der Totenstadt zu entdecken. In Hamunaptra finden sie sowohl Schätze als auch den Sarkophag mit der Mumie Imhoteps und zwei Bücher: das Buch der Toten, das Tote zum Leben erwecken kann, und auch das Buch der Lebenden, das Lebende ins Totenreich
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»Die Mumie. The Mummy«, https://www.imdb.com/title/tt0120616/?ref_=tt_fq (zugegriffen am 1.11.2021). Die Pyramiden von Gizeh befinden sich 650km nördlich von Theben.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
befördern kann. Sowohl der Sarkophag als auch das Totenbuch sind mit demselben Schlüssel zu öffnen, der sich in Besitz von Evelyn befindet. Trotz mehrerer Warnungen vor einem Fluch öffnet Evelyn das Buch der Toten und liest laut daraus vor. Die gesprochenen magischen Worte erwecken die Mumie Imhoteps zum Leben. Derweil öffnet eine konkurrierende Expedition Imhoteps Kanopenkasten, in dem sich fünf Kanopen mit den Eingeweiden Imhoteps befinden.19 Der Akt der Öffnung belegt alle fünf Expeditionsteilnehmer mit einem Fluch, der dazu führt, dass Imhotep jedem einzelnen das Leben buchstäblich aus dem Leib saugt und die aufgenommene Energie zur eigenen Reinkarnation – ebenfalls im wörtlichen Sinn zu verstehen – benutzt, bis er sich von einer vertrockneten Mumie in einen jungen Mann verwandelt hat. Daraufhin setzt Imhotep alles daran, seiner verlorenen Liebe Anksunamun zu neuem Leben zu verhelfen. Gerade als er mit Hilfe des Buches der Toten Anksunamuns Seele aus der Unterwelt heraufbeschwören will, wird er durch laut vorgelesene magische Worte aus dem Buch der Lebenden selbst wieder zurück in die Unterwelt geschickt. Der Film endet mit einem Kamelritt in den Sonnenuntergang: Evelyn und Rick, nun ein Liebespaar, und funny sidekick Jonathan sind der Mumie entkommen; die Satteltaschen sind gefüllt mit Schätzen aus der Stadt Hamunaptra. Der Film wartet mit einigen Motiven des Mythos Ägypten auf: Wir finden Reichtum, Schatz, Dekadenz, Geheimwissen und Todesfixierung, die die Formen Gold, Grab, Stadt der Toten, Mumie und Buch der Toten füllen. Außerdem beinhaltet der Film einige Anspielungen auf den Fund des Tutanchamun: Vorbild für die Protagonistin, die Ägyptologin Evelyn Carnahan, ist offensichtlich die Tochter Lord Carnarvons, Evelyn Herbert, die während der Ausgrabungen stets anwesend war und der von Thomas Hoving in seinem Buch Tutankhamun – The Untold Story eine Schwärmerei für Howard Carter nachgesagt wurde.20 Kein Wunder also, dass sie sich in Abenteurer O’Connell verliebt, der wie Carter einen Schatz im Wüstensand findet. Eine weitere Parallele zum Fund des Tutanchamun ist das Jahr, in dem der Film spielt: 1925; Tutanchamun wurde 1922 gefunden. Die Medien setzten damals das Gerücht in die Welt, dass es im Grab von Tutanchamun eine Inschrift gebe, die gelautet haben soll: »Der Tod wird auf schnellen Schwingen zu demjenigen kommen, der das Grab des Pharaos stört«.21 Genau diese Worte warnen im Film vor der Mumie Imhoteps. Das Motiv des Fluches, den jeder auf sich zieht, der die Totenruhe der Mumie stört, wird so ebenfalls thematisiert. Zusammenfassend können wir festhalten: Besucherinnen der Ausstellung, die den Film The Mummy gesehen haben, bringen ein vorbestimmtes Wissen von Ägypten mit in die Ausstellung, das sich aus dem Mythos Ägypten, seinen Formen und den 19 20 21
Es gibt nur vier Kanopen. Vgl. Hoving: Tutankhamun – The Untold Story, a.a.O., S. 222. Vgl. Silverman: »The Curse of the Curse of the Pharaohs«, a.a.O., S. 60.
217
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
entsprechenden Assoziationen speist, die ihnen der Film bestätigt und aufgezeigt hat.
1.1.1
»Book of the Dead« – Das Totenbuch der Mumienfilme
In der Ausstellung Hollywoodʼs Egypt sind nun die wichtigen Requisiten des Films ausgestellt: das »Book of the Dead«, das »Book of the Living«, der Schlüssel, der sowohl das Totenbuch, das Buch der Lebenden wie auch den Sarkophag der Mumie öffnet; eine fünfte, rein fiktive Kanope mit Löwenkopf und die Schatzkarte, mit der die Stadt Hamunaptra gefunden werden kann. Diese Requisiten werden im Rahmen der Ausstellungsinszenierung zu Exponaten und sind als solche Teil der Inszenierung. Ihren Status als Zeichen, oder genauer als Form des mythischen Systems haben sie sowohl im Film als auch in ihrem neuen Medium, der Ägyptenausstellung, inne. Sehen wir uns das Totenbuch aus den Mumienfilmen im Folgenden genauer an (Abbildung 14). Zunächst fällt auf, dass das Buch eine traditionelle Buchform hat, das heißt es handelt sich hier um gebundene Seiten und nicht um eine Schriftrolle. Das Buch ist groß, rechteckig und die Bindung wirkt sehr stabil. Das Material scheint eher metallischen Ursprungs zu sein als organischen; es könnte sich aber auch um Leder handeln. In jedem Fall wirkt das Buch sehr schwer. Da Buch ist mattschwarz, die Verzierungen sind in einem matten Goldton gehalten. Auf der Buchfront sehen wir auf der linken Seite eine Kartusche, in der ein hieroglyphischer Text steht, sowie eine Figur – vielleicht ein Pharao –, die vor dem thronenden Osiris opfert oder betet.22 Verzierungen in Form von Skarabäen, die Sonnenscheiben zwischen den Vorderbeinen halten, sehen wir in allen vier Ecken. Weitere Verzierungen bestehen aus vier Geierköpfen, die sich dreidimensional von der Fläche der Buchfront abheben und deren Schnäbel direkt auf den Körpern der Skarabäen ruhen, die jeweils an den vier Enden der Längsseiten des Buches angeordnet sind. Die Schnäbel zweier dieser Geierköpfe auf der linken Buchfront halten Buchfrontdeckel und Buchrückdeckel zusammen; sie dienen, zusammen mit einem Buchrücken, der von Geier zu Geier reicht, als Buchbindung. Die anderen beiden Geierköpfe dienen als Verschluss des Buches. Eine größere runde Verzierung auf der rechten Seite der Buchfront, neben der Kartusche, ist ebenfalls im Goldton gehalten. Die runde Verzierung weist eine Vertiefung in Form eines Sterns auf, in deren Mitte die Aufsicht eines geflügelten Skarabäus zu sehen ist. Das ist die Stelle, an der ein sternförmiger Schlüssel, als Positiv, die Vertiefung als Negativ ausfüllen soll. Die Vertiefung ist somit ein Schloss und das Buch kann nur mit Hilfe eines sternförmigen Schlüssels geöffnet werden. Dreht man nun den Schlüssel im Schloss, springen die Schnäbel der Geier auf der rechten Buchfront auf, so dass das Buch geöffnet werden kann. 22
In Kartuschen befinden sich die Namen der Pharaonen. Sie beinhalten keine ganzen hieroglyphische Texte und keine Opferszenen, wie es hier der Fall ist.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Die wenigen Buchseiten sind starr und dick; es wird nicht enthüllt, was auf ihnen steht. Im Film The Mummy handelt es sich um ägyptische Zauberformeln zur Wiederbelebung der Toten. Dem »Book of the Dead« aus The Mummy wird die klassische Gestalt eines gebundenen Buches gegeben, wie es das Abendland seit dem Mittelalter kennt. Diese klassische Buchform erhält auf ihrer Front Verzierungen, die eindeutig aus dem Alten Ägypten stammen: Skarabäus und Geier. Ganz eindeutig ordnet die hieroglyphische Inschrift das Buch dem Alten Ägypten zu. Das Buch ist also eine Pastiche zwischen Symbolen und Schrift, die es im Alten Ägypten wirklich gegeben hat; allerdings werden sie auf eine Art und Weise dargestellt, die vollkommen fiktiv ist. Das Buch ist ein Simulacrum. Es tritt im barthesschen Mythossystem an die Stelle der Form und löst Assoziationen mit dem alten Ägypten aus. Die Hieroglyphen auf der Front und der massive Verschluss, die Geierschnäbel, veranlassen die Assoziation mit den Begriffen Geheimnis, Geheimwissen. Verkörperte der Geier im Alten Ägypten die Geiergöttin Nechbet, die Oberägypten symbolisiert, assoziieren die meisten Menschen des westlichen Kulturkreises den Geier mit Tod, da sich der Geier als Aasfresser von Kadavern ernährt. Das Umkreisen des Kadavers am Boden durch die Geier in der Luft ist ein Zeichen des Todes. Das in Schwarz gehaltene Buch wird außerdem mit dem Tod assoziiert, da im westlichen Kulturkreis Schwarz mit Trauer gleichgesetzt wird. Die Massivität und die schwarze Farbe können Assoziationen wie dunkles Geheimnis, schwarze Magie, generell den Eindruck von wichtigem, wertigem Wissen auslösen. Das Wissen ist so schwerwiegend und bedeutsam wie das Buch. Hat die Besucherin den Film gesehen, weiß sie, dass das Buch dazu benutzt wird, die Toten zu neuem Leben zu erwecken. Das Buch spricht also auch die Todesfixiertheit und den Glauben an ein Wissen der alten Ägypter von Unsterblichkeit und Wiedergeburt an. Assoziationen mit einem Fluch können ebenfalls hervortreten, denn der Film The Mummy hat die Besucherin gelehrt, dass das Totenbuch magische Sprüche beinhaltet, die nicht nur die Mumie Imhoteps zu neuem Leben erwecken, sondern auch die biblischen Plagen über Ägypten bringen können, die als Fluch Imhoteps deutlich gemacht werden.23 Darüber hinaus kann die Besucherin der Ausstellung, wenn sie den Film kennt, den Eindruck erhalten, dass es so ein Buch der Toten im Alten Ägypten wirklich gab. Und zwar genau in dieser Erscheinungsform: als Buch und mit dem gleichen Inhalt wie im Film, mit dem man einen Fluch heraufbeschwören kann und der dazu dient, Tote zum Leben zu erwecken. Zusammenfassend lässt sich sagen: Das »Book of the Dead« ist ein klassisches Simulacrum, zusammengesetzt aus verschiedenen Elementen, die es erlauben, das Buch mit dem altägyptischen Kulturkreis zu assoziieren, dabei aber vor allem mythische Assoziationen mit dem Alten Ägypten hervorrufen.
23
2 Mos 7,20-11,4. Auf die Rezeption des Alten Ägypten mit Hilfe biblischer Quellen wird sich also noch im Hollywoodfilm des ausgehenden 20. Jahrhunderts gestützt.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Abbildung 14: Book of the Dead aus The Mummy (USA 1999, R: Stephen Sommers) in der Ausstellung Hollywoodʼs Egypt. Abbildung 15: Papyrusblatt aus dem Totenbuch der Asetweret.
© Hans van den Berg.
1.1.2
Asetwerets Buch vom Herausgehen am Tage
Diesem Simulacrum eines altägyptischen Totenbuchs wird ein echtes altägyptisches Totenbuch aus der Sammlung des Rijksmuseum van Oudheden in Leiden gegenübergestellt. Es liegt in einer Vitrine, die direkt neben der Vitrine platziert ist, in der sich das Buch der Toten aus The Mummy befindet (Abbildung 15). Bevor wir uns die Details dieses Totenbuchs aus Leiden genauer anschauen, gilt es, sich zunächst erst einmal klar zu machen, was das altägyptische Totenbuch überhaupt ist und was es für die alten Ägypter bedeutete. Das altägyptische Totenbuch ist eine Sammlung von magischen Sprüchen, die die Verstorbene aufsagen soll, um heil und erfolgreich im Totenreich zu navigieren. Das Totenbuch sammelt Informationen über das Jenseits in Wort und Bild für die Verstorbene; gleichzeitig spricht es die Ängste und Wünsche an, die die Menschen seit jeher in Verbindung mit dem Tod und einem potentiellen Leben nach dem Tod haben.24 Den Namen »Totenbuch« hat Karl Richard Lepsius der Spruchsammlung gegeben; übersetzt heißt sie aber ursprünglich »Buch vom Herausgehen am Tage«.25 Bei unserem Exponat handelt es sich um ein Papyrusblatt des Totenbuches der Asetweret, Sängerin des Amun und Tochter der Dame Chonsoeirdis.26 Dieses spezifische Totenbuch stammt aus der Spätzeit, der 30. Dynastie, und war ursprünglich 1125 cm lang. Die einzelnen Papyrusblätter waren an ihren Enden zusammengeklebt und ergaben somit eine lange Papyrusrolle. Aus erhaltungstechnischen Gründen wurden die Blätter voneinander getrennt und werden einzeln im Museum in Leiden aufbewahrt. Unser Blatt des Totenbuches der Asetweret zeigt die Szene des Totengerichts, das 24 25 26
Vgl. Hornung, Erik: Das Totenbuch der Ägypter, 2. Aufl., Düsseldorf 2000, S. 25-26. Vgl. Ebd., S. 7. RMO, Leiden, AMS 41, Blatt 17.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
feststellen soll, ob die Verstorbene ein guter oder schlechter Mensch war. Alles ist in schwarzer Schrift ausgeführt: Es handelt sich um Kursivhieroglyphen. Im unteren Register tritt Asetweret, begleitet von zwei Maatgöttinnen, vor das Totengericht. Das Herz der Verstorbenen wird von Anubis und Horus auf eine Schale der Waage gelegt (Psychostasie); auf der anderen befindet sich die Maatfeder. Die Verstorbene muss das negative Sündenbekenntnis ablegen, bei dem sie aussagen muss, dass sie alle schlechten Dinge nicht getan hat. Der Gott Thot notiert die Ergebnisse; Richter ist der Herrscher der Unterwelt Osiris, der links thront, davor befinden sich die vier Horussöhne. Wiegt das Herz schwerer als die Maatfeder, die Gerechtigkeit und Weltordnung symbolisiert, wird das Herz von der Dämonin Ammut, der Fresserin, verschlungen; die Tote wird zur Verdammten. Wiegt das Herz mit der Maatfeder gleich auf, darf die Verstorbene als Selige ins Jenseits eintreten. Wir sehen: Das echte altägyptische Totenbuch hat im Gegensatz zum »Book of the Dead« nichts mit einem Fluch und der Wiedererweckung der Toten zu tun. Die Funktionen von fiktivem und echtem Totenbuch sind somit grundlegend verschieden. Was aber bedeutet diese Konfrontation von Simulacrum und Original für die Rezeption des Mythos Ägypten?
1.2
Eine revolutionäre Inszenierung – Das dritte semiologische System als Waffe gegen den Mythos
Nun könnte man argumentieren, dass das altägyptische Totenbuch, das hier ausgestellt wird, genau wie das filmische Totenbuch eine Form ist, die Assoziationsverknüpfungen mit dem Alten Ägypten auslöst, und dass daher, in Bezug auf den Mythos Ägypten, kein Unterschied zwischen originalem und filmischem Totenbuch besteht. Und dieser Argumentation muss man auch zunächst einmal recht geben: Als Form des Mythos kann das altägyptische Totenbuch mit seinen Formelementen, den Kursivhieroglyphen und den Göttern, Assoziationen wie Geheimwissen, Todesfixiertheit und Tod auslösen; sein eigentlicher Sinn wird entleert. Was fiktives und reales Totenbuch gemeinsam haben, ist die Sammlung an magischen Sprüchen, die rezitiert werden sollen, um damit die Unterwelt zu beeinflussen. Der Unterschied ist: Das Filmbuch soll Tote wieder zum Leben erwecken, während das altägyptische Totenbuch die Verstorbenen dazu befähigen soll, sicher im Jenseits zu navigieren. Nach Barthes ist es typisch für den Mythos, dass er sich an Fragmenten des Sinns des Signifikanten bedient, der eigentlich durch die Form entleert wurde. Die Form wird angefüllt mit Begriffen, die teilweise Analogien zum ursprünglichen Sinn aufweisen. Die Besucherin erkennt das altägyptische Totenbuch natürlich nicht als religiösen Text einer Glaubensgemeinschaft, die vollkommen unterschiedliche Vorstellungen von Tod, Jenseits und Religion hatte wie die heutige westliche Gesellschaft. Aber kein Objekt einer Ausstellung steht für sich
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Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
feststellen soll, ob die Verstorbene ein guter oder schlechter Mensch war. Alles ist in schwarzer Schrift ausgeführt: Es handelt sich um Kursivhieroglyphen. Im unteren Register tritt Asetweret, begleitet von zwei Maatgöttinnen, vor das Totengericht. Das Herz der Verstorbenen wird von Anubis und Horus auf eine Schale der Waage gelegt (Psychostasie); auf der anderen befindet sich die Maatfeder. Die Verstorbene muss das negative Sündenbekenntnis ablegen, bei dem sie aussagen muss, dass sie alle schlechten Dinge nicht getan hat. Der Gott Thot notiert die Ergebnisse; Richter ist der Herrscher der Unterwelt Osiris, der links thront, davor befinden sich die vier Horussöhne. Wiegt das Herz schwerer als die Maatfeder, die Gerechtigkeit und Weltordnung symbolisiert, wird das Herz von der Dämonin Ammut, der Fresserin, verschlungen; die Tote wird zur Verdammten. Wiegt das Herz mit der Maatfeder gleich auf, darf die Verstorbene als Selige ins Jenseits eintreten. Wir sehen: Das echte altägyptische Totenbuch hat im Gegensatz zum »Book of the Dead« nichts mit einem Fluch und der Wiedererweckung der Toten zu tun. Die Funktionen von fiktivem und echtem Totenbuch sind somit grundlegend verschieden. Was aber bedeutet diese Konfrontation von Simulacrum und Original für die Rezeption des Mythos Ägypten?
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Eine revolutionäre Inszenierung – Das dritte semiologische System als Waffe gegen den Mythos
Nun könnte man argumentieren, dass das altägyptische Totenbuch, das hier ausgestellt wird, genau wie das filmische Totenbuch eine Form ist, die Assoziationsverknüpfungen mit dem Alten Ägypten auslöst, und dass daher, in Bezug auf den Mythos Ägypten, kein Unterschied zwischen originalem und filmischem Totenbuch besteht. Und dieser Argumentation muss man auch zunächst einmal recht geben: Als Form des Mythos kann das altägyptische Totenbuch mit seinen Formelementen, den Kursivhieroglyphen und den Göttern, Assoziationen wie Geheimwissen, Todesfixiertheit und Tod auslösen; sein eigentlicher Sinn wird entleert. Was fiktives und reales Totenbuch gemeinsam haben, ist die Sammlung an magischen Sprüchen, die rezitiert werden sollen, um damit die Unterwelt zu beeinflussen. Der Unterschied ist: Das Filmbuch soll Tote wieder zum Leben erwecken, während das altägyptische Totenbuch die Verstorbenen dazu befähigen soll, sicher im Jenseits zu navigieren. Nach Barthes ist es typisch für den Mythos, dass er sich an Fragmenten des Sinns des Signifikanten bedient, der eigentlich durch die Form entleert wurde. Die Form wird angefüllt mit Begriffen, die teilweise Analogien zum ursprünglichen Sinn aufweisen. Die Besucherin erkennt das altägyptische Totenbuch natürlich nicht als religiösen Text einer Glaubensgemeinschaft, die vollkommen unterschiedliche Vorstellungen von Tod, Jenseits und Religion hatte wie die heutige westliche Gesellschaft. Aber kein Objekt einer Ausstellung steht für sich
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
allein: Assoziationen werden auch immer durch die gesamte Inszenierung hervorgerufen. So liegt die Stärke der Ausstellung auch nicht darin, dass sie Aufklärungsarbeit über das Alte Ägypten leistet oder leisten will; sie will eher Aufklärungsarbeit über den Ägyptenfilm leisten. Das in Bezug auf den Mythos Revolutionäre der Ausstellung ist die Inszenierung der Exponate, in der Hollywoodrequisiten neben altägyptischen Originalen gezeigt werden. Das ermöglicht den Besucherinnen durch einen vergleichenden Blick auf altägyptische Originale und Hollywoodrequisiten eine neue Perspektive auf ihre Rezeption dieser Objekte zu gewinnen. Unterscheiden können wir drei Lesarten, die der vergleichende Blick auf die beiden Objektgruppen der Besucherin anbietet: 1. Die Besucherin erkennt und akzeptiert, dass der Hollywoodfilm hier mit falschen Tatsachen arbeitet. Sie denkt: »Typisch Hollywood!«, findet das Ganze aber noch charmant und charakteristisch für das Filmgeschäft. Sie will hingegen nichts über das Alte Ägypten wissen und blendet dieses, nachdem kurz der Vergleich zwischen Requisit und Original gezogen wurde, vollkommen aus. 2. Die Besucherin nimmt den Vergleich und damit die potenzielle Offenlegung des Mythos nicht an. Sie will den Mythos Ägypten im Ägyptenfilm und in der Ausstellung weiterhin voll rezipieren. Die Traumwelt Hollywoods soll so bleiben wie sie ist, ihre Vorstellungen vom alten Ägypten gewinnt sie weiter aus den Filmen; sie will keine Reflexionsarbeit leisten. 3. Die Besucherin rezipiert den Mythos Ägypten als Mythos. Der Vergleich macht sie von einer Mythenleserin zu einer Mythologin – mit gewissen Einschränkungen. Sie denkt sich: »Aha, so sieht also ein altägyptisches Totenbuch aus und nicht wie im Film, The Mummy. Es ist aus Papyrus und erweckt keine Toten zum Leben.« Die Einschränkungen bestehen darin, dass sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr über das Alte Ägypten weiß oder durchgehend zu einer Mythologin geworden ist. Es geht hier um den Augenblick des vergleichenden Blicks, in dem das Wissen der Besucherin eine Neuverortung erleben kann. Das heißt aber nicht, dass sie beim nächsten Objekt der Ausstellung oder in einer anderen Ausstellung nicht wieder zur Mythenleserin wird.
Was an dieser Schnittstelle mit den Sehgewohnheiten der Besucherin passieren kann, nennt Barthes »die Waffe gegen den Mythos«, oder weniger martialisch ausgedrückt, eine dritte semiologische Kette: »Nun ist die beste Waffe gegen den Mythos vielleicht die, ihn selbst zu mythifizieren, das heißt, einen künstlichen Mythos zu schaffen; und dieser neu geschaffene Mythos wäre in der Tat eine neue Mythologie. Da der Mythos Sprache stiehlt, warum nicht den Mythos stehlen? Dafür würde es genügen, ihn selbst zum Aus-
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
gangspunkt einer dritten semiologischen Kette zu machen, seine Bedeutung als den ersten Term eines zweiten Mythos zu setzen.«27 Was Barthes dritte semiologische Kette nennt, bezeichnen wir im Folgenden als drittes semiologisches System. Barthes führt den Gedanken des dritten semiologischen Systems an einem literarischen Beispiel, Flauberts Bouvard et Pécuchet, aus. Wir werden diesen Gedanken an unserem Material entwickeln. Dabei orientieren wir uns an der Frage: Was geschieht mit dem Mythos im dritten semiologischen System? Das mythische System ist selbst bereits ein zweites semiologisches System und wird nun zum Ausgangspunkt eines dritten semiologischen Systems, beziehungsweise zum Ausgangspunkt eines zweiten mythischen Systems. Die Bedeutung oder der abschließende Term des ersten mythischen Systems ist der Mythos selbst, in unserem Fall die Ägyptomanie, der Mythos von Ägypten. Diese Bedeutung wird zum Ausgangspunkt des dritten semiologischen Systems. Der Mythos von Ägypten wird zur Form des neuen Systems; den Begriff erzeugt hier die Besucherin selbst, und zwar durch ihren Blick auf den Mythos Ägypten. Indem der Mythos offen zur Schau gestellt wird, indem er thematisiert wird, kann er entlarvt und reflektiert werden. Die Besucherin hat die Möglichkeit, die Rezeption des Mythos Ägypten als Tatsache zu revidieren und den Mythos als Mythos zu rezipieren. Das bedeutet: Der Begriff im dritten semiologischen System ist ebenfalls der Mythos. Wenn nun der Mythos als Begriff die Form Mythos Ägypten anfüllt, wäre der Endterm die Erkenntnis, dass es sich hier um einen Mythos handelt. So sagt Barthes: »Die Macht des zweiten Mythos liegt darin, den ersten als betrachtete Naivität zu begründen.«28 Die Form Mythos Ägypten wird angefüllt mit der Einsicht, dass es sich um einen Mythos handelt, der Mythos wird als Mythos, das heißt als Ideologie und als Wert konsumiert und nicht als Tatsache. Das mythische Vorwissen wird als mythisch erfahren. Wie dieses dritte semiologische System konkret funktioniert, können wir anhand des Requisits »Book of the Dead« genauer betrachten: Das Requisit »Book of the Dead« war die Form des zweiten semiologischen Systems, des ersten mythischen Systems. Als Form wurde das Buch der Toten angefüllt mit dem Begriff. Der Begriff beinhaltet Motive, die den Mythos Ägypten hervorwuchern lassen. Diese Motive sind Assoziationen mit dem Alten Ägypten: in unserem Fall etwa Geheimnis, Geheimwissen, Tod, Gefahr, Fluch. Die Korrelation von Form und Begriff ist die Bedeutung: der Mythos Ägypten. Hier könnte er lauten: Ein ägyptisches Buch, das geheimes, verbotenes Wissen enthält, mit dem man einen Fluch auf sich ziehen kann und Tote zum Leben erwecken kann. Oder: Ein magisches Buch, das das Geheimnis über Leben und Tod offenbart. Das geheimnisvolle, magische Buch ist
27 28
Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 285-286. Ebd., S. 286.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
der Mythos von Ägypten und dieser Mythos wird nun zum Ausgangsterm eines dritten semiologischen Systems, beziehungsweise eines zweiten mythischen Systems. Durch den Vergleich mit dem echten altägyptischen Totenbuch wird der Mythos als Mythos, als falsche Vorstellung vom Alten Ägypten entlarvt. Das geschieht durch den vergleichenden Blick, der die Sehgewohnheit der Besucherin herausfordert und durch den sie ihre Wahrnehmung ändern kann, was ihr ermöglicht ihren eigenen Begriff zu erzeugen. Die Erzeugung dieses Begriffs ist der Moment, in dem sie erkennt: »Aha, das Buch der Toten aus dem Film sah im Alten Ägypten nicht so aus. Das Buch gab es gar nicht in dieser Art und Weise.« Die Bedeutung, die Korrelation von Form und Begriff, ist im dritten semiologischen System die Erkenntnis, dass es sich um den Mythos Ägypten handelt. Der Mythos wird als solcher rezipiert, die Besucherin ist in diesem Moment eine Mythologin. Das heißt aber nicht, dass die Besucherin in diesem Moment Bescheid weiß über Sinn und Zweck des altägyptischen Totenbuches. Sie weiß nichts über seine Bedeutung für die Bevölkerung des Alten Ägypten oder über den wissenschaftlichen Gehalt des Totenbuches als Forschungsgegenstand der Ägyptologie. Es bedeutet vielmehr, dass sie durch den Vergleich zu dem Schluss kommen konnte, dass das filmische Totenbuch nicht den Tatsachen entspricht und sie kann dadurch das filmische Totenbuch als Mythos entlarven und weiß ungefähr, wie ein echtes altägyptisches Totenbuch auszusehen hat. Die anderen Begriffe wie Geheimwissen, Magie, Fluch etc. werden weiterhin mit dem filmischen Totenbuch assoziiert: Es ist immer noch ein magisches Buch voller geheimem Wissen. Die Besucherin weiß jetzt aber, dass die alten Ägypter kein Totenbuch in dieser Form hatten. Das bedeutet: Der Mythos Ägypten ist immer noch da, er wird aber als solcher erkannt. Das dritte semiologische System ist eine Waffe gegen den Mythos, weil es die Möglichkeit bietet, den Mythos als solchen zu erkennen. Seine Stärke ist darin zu suchen, dass es nicht versucht, falsches, mythisches Wissen durch Fakten zu ersetzen. Das Faktum ist keine Waffe gegen den Mythos, da er selbst als Faktum, als Tatsache konsumiert wird. Dass der Mythos nicht als Mythos erkannt, sondern für ein Faktum gehalten wird, macht seine Stärke aus. Das dritte semiologische System setzt hier an, indem es die Faktizität des Mythos unterläuft und ihn als Mythos lesbar macht. Revolutionär ist die Inszenierung von Hollywoodʼs Egypt insofern, als sie die Originale nutzt, um den Mythos als solchen offenbar zu machen. Indem sie Simulacrum und Original nebeneinander ausstellt, kreiert sie ein semiologisches System, in dem der Mythos als solcher thematisiert wird. Er wird jetzt nicht mehr als Tatsache, als Faktum, als Natur präsentiert, sondern in seiner Künstlichkeit erkennbar. Die Inszenierung geht darin über die im Vorigen analysierten Ausstellungen hinaus, da sie den Mythos nicht naiv oder bewusst reproduziert, sondern
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
ihn thematisiert und damit als Mythos präsentiert.29 Die Maske des Faktischen, hinter der sich der Mythos seit jeher versteckt, wird in Hollywoodʼs Egypt als Maske erkennbar. Da die Inszenierung von Hollywoodʼs Egypt den Mythos Ägypten offenbart und es dadurch ermöglicht das seit 200 Jahren bestehende Grundgerüst des Mythos zu überschreiten, ist diese Ausstellung als fortschrittlich zu bezeichnen. Wir erkennen hier unsere fünfte Facette des Mythos, den Fortschritt.
2.
Mythologie durch Wiederholung – Kleopatra. Die ewige Diva und die Beständigkeit des Mythos
Die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva30 thematisiert einen weiteren Star, eine Ikone des Alten Ägypten: Königin Kleopatra VII. Die Ausstellung konzentriert sich dabei nicht auf die historische Person, sondern erzählt die Geschichte des Mythos Kleopatra. Obwohl, bedingt durch ihre Berühmtheit, oft von einem Mythos Kleopatra gesprochen wird, können wir auch hier, wie auch bei Tutanchamun, festhalten, dass Kleopatra als Form ein Bestandteil des Mythos Ägypten ist. Da Kleopatra bereits zu Lebzeiten dem Mythos Ägypten einverleibt wurde, begegnet uns hier eine Person des Alten Ägypten, bei der die historische Gestalt im Angesicht der über 2000 Jahre wirkenden Macht des Mythos im Nichts zerrinnt; ihr Sinn wird vollkommen entleert, was sie zur idealen Form macht, die mit verschiedensten Assoziationen angefüllt werden kann. Die prominentesten darunter lauten: schön, verführerisch, luxussüchtig, mächtig. Die verschiedenen Motive, welche die Form Kleopatra anfüllen, wiederholen sich seit zwei Jahrtausenden fortlaufend. Die Inszenierung der Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva versucht deshalb nicht nur, den Mythos durch Analogie zu offenbaren, sondern vor allem durch Wiederholung: die Darstellung seiner beständigen Wiederholung macht den Mythos erkennbar. Da diese Art der Inszenierung den Mythos sowohl thematisiert als auch entlarvt, indem die Ausstellung nicht die historische Kleopatra, sondern den Mythos Kleopatra in den Fokus rückt, durchbricht sie das Grundgerüst des Mythos: Sie macht den Mythos als Mythos rezipierbar und macht ihn dadurch zum Gegenstand eines dritten semiologischen Systems. Deshalb ist auch sie als fortschrittlich zu betrachten.
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Tatsächlich werden viele bekannte Formen des Mythos Ägypten wie die Mumie, Entdecker und Abenteurer sowie Gräber und auch Motive wie der Fluch in der Ausstellung Hollywood’s Egypt thematisiert und so der Mythos offenbart. Die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva, fand vom 28. Juni bis 6. Oktober 2013 in der Bundeskunsthalle in Bonn statt. Kuratorinnen waren Elisabeth Bronfen und Agnieszka Lulińska, Ausstellunggestalter war Thomas Kaiser.
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ihn thematisiert und damit als Mythos präsentiert.29 Die Maske des Faktischen, hinter der sich der Mythos seit jeher versteckt, wird in Hollywoodʼs Egypt als Maske erkennbar. Da die Inszenierung von Hollywoodʼs Egypt den Mythos Ägypten offenbart und es dadurch ermöglicht das seit 200 Jahren bestehende Grundgerüst des Mythos zu überschreiten, ist diese Ausstellung als fortschrittlich zu bezeichnen. Wir erkennen hier unsere fünfte Facette des Mythos, den Fortschritt.
2.
Mythologie durch Wiederholung – Kleopatra. Die ewige Diva und die Beständigkeit des Mythos
Die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva30 thematisiert einen weiteren Star, eine Ikone des Alten Ägypten: Königin Kleopatra VII. Die Ausstellung konzentriert sich dabei nicht auf die historische Person, sondern erzählt die Geschichte des Mythos Kleopatra. Obwohl, bedingt durch ihre Berühmtheit, oft von einem Mythos Kleopatra gesprochen wird, können wir auch hier, wie auch bei Tutanchamun, festhalten, dass Kleopatra als Form ein Bestandteil des Mythos Ägypten ist. Da Kleopatra bereits zu Lebzeiten dem Mythos Ägypten einverleibt wurde, begegnet uns hier eine Person des Alten Ägypten, bei der die historische Gestalt im Angesicht der über 2000 Jahre wirkenden Macht des Mythos im Nichts zerrinnt; ihr Sinn wird vollkommen entleert, was sie zur idealen Form macht, die mit verschiedensten Assoziationen angefüllt werden kann. Die prominentesten darunter lauten: schön, verführerisch, luxussüchtig, mächtig. Die verschiedenen Motive, welche die Form Kleopatra anfüllen, wiederholen sich seit zwei Jahrtausenden fortlaufend. Die Inszenierung der Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva versucht deshalb nicht nur, den Mythos durch Analogie zu offenbaren, sondern vor allem durch Wiederholung: die Darstellung seiner beständigen Wiederholung macht den Mythos erkennbar. Da diese Art der Inszenierung den Mythos sowohl thematisiert als auch entlarvt, indem die Ausstellung nicht die historische Kleopatra, sondern den Mythos Kleopatra in den Fokus rückt, durchbricht sie das Grundgerüst des Mythos: Sie macht den Mythos als Mythos rezipierbar und macht ihn dadurch zum Gegenstand eines dritten semiologischen Systems. Deshalb ist auch sie als fortschrittlich zu betrachten.
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Tatsächlich werden viele bekannte Formen des Mythos Ägypten wie die Mumie, Entdecker und Abenteurer sowie Gräber und auch Motive wie der Fluch in der Ausstellung Hollywood’s Egypt thematisiert und so der Mythos offenbart. Die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva, fand vom 28. Juni bis 6. Oktober 2013 in der Bundeskunsthalle in Bonn statt. Kuratorinnen waren Elisabeth Bronfen und Agnieszka Lulińska, Ausstellunggestalter war Thomas Kaiser.
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Mythos Kleopatra
Den Auftakt zu Kleopatra. Die ewige Diva macht eine Inszenierung zweier auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher, aber inhaltlich sehr ähnlicher Exponate: Andy Warhols Siebdruck Blue Liz as Cleopatra, der Elizabeth Taylor in ihrer Filmrolle als Kleopatra zeigt; und die Kopie eines Reliefs der äußeren Wand des Hathor-Tempels von Dendera, das Kleopatra VII. und ihren Sohn Caesarion darstellt (Abbildung 16). Beide Exponate zeigen also ein Bild der Kleopatra: ein altägyptisches Relief aus der Ptolemäerzeit auf der einen Seite und Pop-Art-Kunst aus dem Jahr 1962 auf der anderen Seite; hier Kleopatra als ägyptische Göttin, dort die Leinwandgöttin als Kleopatra. Die Gegenüberstellung dieser beiden Exponate am Anfang der Ausstellung, verkündet sofort deren Ziel: die Thematisierung der verschiedenen Rezeptionsarten des Zeichens Kleopatra von der Antike bis heute.
Abbildung 16: Kleopatra – die ewige Diva: Installationsansicht. Andy Warhol, Blue Liz as Cleopatra, 1962.
Foto: David Ertl © VG Bild-Kunst / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / 2021, ProLitteris, Zurich.
Auf der linken Seite der anfänglichen Inszenierung erhebt sich als erstes Exponat das Relief wie eine Wand aus Gold. Die gold-gelbe Farbe des Sandsteins des ägyptischen Tempels, von dessen Mauer es kopiert wurde, will die Kopie imitieren. Die Kopie ist allerdings kleiner als das Original und zeigt zudem nur einen Ausschnitt des gesamten Tempelreliefs der südlichen Außenwand des Tempels von
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Dendera. Auf einige Details, wie die Lockenstruktur der Perücke Kleopatras, wurde in der Kopie verzichtet. Diese Fakten machen unser Exponat zu einem Simulacrum, was aber in diesem Fall nebensächlich ist, da der Gehalt des Exponats erst in der Gegenüberstellung mit Warhols Werk zu Tage tritt. Das Relief auf dem Simulacrum zeigt auf der linken Seite Kleopatra in der Rolle der Herrscherin Ägyptens und in der Rolle der Mutter, wie sie gemeinsam mit ihrem Sohn und Mitregenten Ptolemaios XV. Kaisar (Caesarion) vor zwei Göttern opfert. Die hieroglyphische Inschrift betitelt Kleopatra als Herrin der beiden Länder, von Ober- und Unterägypten. Sie blickt nach rechts und wird mit dem für ptolemäische Königinnen typischen Kopfschmuck, der Doppelfederkrone mit Sonnenscheibe zwischen Kuhhörnern, dargestellt.31 Die Krone mündet in einen Kranz aus Uräen, der auf Kleopatras Kopf ruht. Vor ihr steht ihr Sohn Ptolemaios XV., der die Doppelkrone von Ober- und Unterägypten und zusätzlich die Kriegskrone auf dem Haupt trägt. Die Doppelkrone weist ihn als Herrscher über ganz Ägypten und damit als Mitregenten Kleopatras aus. Über Caesarion spannt schützend ein Falke seine Flügel, der ein Symbol für den Gott Horus ist und als Gleichsetzung Caesarions mit diesem Gott zu lesen ist.32 Wenn Caesarion hier als Horus ausgewiesen wird, macht das Kleopatra als Mutter Caesarions gleichermaßen zur Mutter des Horus, der Göttin Isis. Sie hält die Weltordnung und damit den Fortbestand ihres Landes Ägypten auf zwei Arten aufrecht: erstens indem sie, als Pharaonin und als rituelle Verkörperung der Isis, den Kult betreibt, die Rituale aufführt und diese durch die Verewigung in Stein für alle Zeiten fortbestehen lässt; und zweitens dadurch, dass sie sich mit ihrem Sohn, Mitregenten und Thronfolger Caesarion darstellen lässt, der hier als Horus, Sohn der Isis, die nächste Generation und damit den Fortbestand der Weltordnung und Ägyptens garantieren soll. Die Gleichsetzung mit Isis und Horus wird zusätzlich verstärkt durch die Darstellung der Göttin Isis und ihres Sohnes Harsomtus, die Kleopatra und Caesarion rechts gegenüberstehen. Harsomtus ist die gräzisierte Form des ägyptischen Namens Hor sema taui, der bedeutet: Horus, Einiger der beiden Länder, eine der traditionellen Aufgaben des Pharaos, die Caesarion als Herrscher über die beiden Länder Ober- und Unterägypten zu erfüllen hatte.33 Diese Aufgabe spiegelt sich auch im Tragen der beiden Kronen von Ober- und Unterägypten wider. Das Relief ist so als eine Proklamation von Macht, Stärke, Einheit und Dauer der Herrschaft Kleopatras zu lesen; es ist eine politische Selbstinszenierung.
31 32 33
Vgl. Ashton, Sally-Ann: Cleopatra and Egypt, Malden/Oxford/Victoria 2008, S. 71. Für eine ausführliche Beschreibung des gesamten Reliefs der Südwand vgl. Ebd., S. 92-93. Vgl. Ray, John: »Cleopatra in the Temples of Upper Egypt: the Evidence of Dendera and Armant«, in: Walker, Susan und Ashton, Sally-Ann (Hg.): Cleopatra Reassessed, London 2003, S. 912, hier S. 10.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Tempelreliefs, wie das oben beschriebene aus Dendera, sind eine der wenigen zeitgenössischen Quellen, die Informationen über Kleopatra liefern. Dazu gehören neben den Reliefs andere Bild- und Schriftquellen wie Tempelinschriften, wenige Stelen und Papyri sowie Münzen und Statuen. Die Fakten, die sich aus diesen Primärquellen ergeben, sind spärlich. Wir wissen so gut wie nichts über das Individuum Kleopatra: weder wie Kleopatra aussah noch welche Persönlichkeit sie besaß. Wir wissen, wann sie geboren wurde und gestorben ist (69-30 v. Chr.), wann sie regierte (51-30 v. Chr.), und dass sie Mutter von vier Kindern und Herrscherin über Ägypten war.34 Kleopatra inszenierte sich, wie wir oben gesehen haben, in verschiedenen politisch und religiös motivierten Rollen: derjenigen der Pharaonin, der Göttin Isis, der Mutter und Beschützerin. Darin unterscheidet sie sich nicht von den Herrscherinnern und Herrschern Ägyptens der Jahrtausende zuvor, die in ähnlicher kanonischer Darstellungsweise auf Tempelwänden erschienen. Das heißt aber auch, dass die historische Kleopatra genauso wenig greifbar bleibt wie beispielsweise der historische Thutmosis III., Sethos I. oder auch Tutanchamun. Bei allen sind individuelle Charakterzüge kaum oder gar nicht auszumachen, da das den Individuen übergeordnete Amt des Pharaos die immer gleichen Aufgaben und Leistungen von ihnen forderte. Von der historischen Kleopatra ist nicht mehr viel übrig; sie verblasst und wird ersetzt durch die fiktive Kleopatra aus den Erzählungen der griechischen und römischen Autoren, die meist nach ihrem Tod, oft sogar lange nach ihrem Tod, geschrieben wurden. Sie legten den Nährboden für die Assoziationen mit Kleopatra, die auch heute noch im kulturellen Gedächtnis verankert sind.35 Von diesen antiken Autoren ist wohl Plutarch derjenige, der das Bild von Kleopatra am nachhaltigsten geprägt hat, da sich viele nachfolgende Autoren, die über Kleopatra schrieben, auf ihn berufen.36 Kleopatra ist eine ideale Form des Mythos Ägypten. Da ihr historischer Gehalt verblasst ist, das heißt ihr Sinn entleert ist, kann sie als mythische Form umso leichter von den Motiven des Mythos angefüllt werden. Diese Motive gründen in und speisen sich aus den Erzählungen der griechisch-römischen Autoren, die ihren Anfang in der gegen Kleopatra gerichteten Propaganda ihres Nemesis Octavian, des späteren Augustus, haben. Die Propaganda zeichnet bereits zu Lebzeiten Kleopatras ein negatives, antiägyptisches Bild, das nach ihrem Tod weite Verbreitung fand. Das heißt, dass die historische Kleopatra seit der Antike Teil des Mythos Ägypten ist und es daher geradezu unmöglich ist, sie nicht mythisch
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Vgl. Schneider: Lexikon der Pharaonen, a.a.O., S. 145-147. Schneiders Eintrag zu Kleopatra VII. in seinem Lexikon der Pharaonen bestätigt die spärliche Faktenlage zur ägyptischen Herrscherin. Für eine ausführliche Sammlung und Besprechung der griechischen und römischen Quellen vgl. Becher, Ilse: Das Bild der Kleopatra in der griechischen und lateinischen Literatur, Berlin 1966. Vgl. Ashton: Cleopatra and Egypt, a.a.O., S. 20.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
zu lesen. Darin unterscheidet sich Kleopatra zum Beispiel von Tutanchamun oder Nofretete, die beide eine übergeordnete Position innerhalb der populären Ägyptenrezeption einnehmen. Nofretete wurde 1912 gefunden, aber erst 1924 der Öffentlichkeit präsentiert; Tutanchamun wurde 1922 gefunden. Beide wurden daher erst im 20. Jahrhundert zu einem Teil des Mythos Ägypten. Kleopatra dagegen hat als Zeichen des Mythos Ägypten einen 2000-jährigen Vorsprung vor Nofretete und Tutanchamun. Trotzdem hat sie im Gegensatz zu diesen kein Gesicht:37 Tutanchamuns Goldmaske und Nofretetes Büste haben der Nachwelt jeweils ein konkretes, wenn auch idealisiertes Aussehen, aber dennoch ein Gesicht, hinterlassen. Das hervorstechende Motiv, das mit Nofretete assoziiert wird, ist auf Grund ihrer farbigen Büste mit den wohlgeformten Gesichtszügen das Motiv der Schönheit.38 Diese Assoziation, zusammen mit Reichtum, ruft auch die Goldmaske Tutanchamuns hervor, da er durch die Auffindung seines Grabes und vor allem dank seiner reichen, beinahe vollständigen Grabausstattung zu weltweiter Berühmtheit gelangte. Bestimmte Charaktereigenschaften werden Nofretete und Tutanchamun eher weniger zugeschrieben, da ihr Aussehen ihre Rezeption bestimmt. Kleopatra dagegen hat der Nachwelt kein solches Gesicht hinterlassen. Die Reliefs entsprechen dem ägyptischen Kunstkanon, und sind daher unpersönlich; ob die Büsten und Statuen, die Kleopatra zugeschrieben werden, wirklich die ägyptische Königin darstellen, ist in der Fachwelt größtenteils immer noch umstritten. Wir wissen also nicht, wie Kleopatra aussah, ob sie schwarz oder weiß war, ob sie eine große Hakennase hatte, wie auf den Münzbildern zu sehen ist. Das macht sie zu einer idealen leeren Form im Mythossystem des Mythos Ägypten, die aufnahmefähig ist für jegliche Assoziationen. Ihr historischer Gehalt, die Faktenlage, ist bereits so blass, dass der Sinn umso leichter von den Motiven des Begriffs zurückgedrängt werden kann. Übrig bleibt die leere Form Kleopatra, die von den Assoziationen aufgefüllt wird. Da Kleopatra kein Gesicht hat, werden ihr seit der Antike bestimmte Charaktereigenschaften und Fähigkeiten zugeschrieben, die ihren Ursprung, wie oben erwähnt, in der gegen sie gerichteten augusteischen Propaganda haben. Die Kleopatra zugeschriebenen Charaktereigenschaften sind Motive des Mythos Ägypten, die Kleopatra als leere Form des Mythos anfüllen. Diese Motive sind Assoziationen mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen und mit Kleopatra im Besonderen. So stoßen wir, wie bereits bei Tutanchamun und Nofretete, auf die Assoziationen Reichtum und Schönheit, aber auch auf Assoziationen wie Magie und Erotik, die, wie wir gesehen haben, auch viele andere Formen des Mythos Ägypten anfüllen können.
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Vgl. Lulińska, Agnieszka: »Cleopatra immaginaria: Anmerkungen zur Biografie eines Mythos«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg.): Kleopatra. Die ewige Diva, München 2013, S. 24-31, hier S. 25. Für eine vergleichende Darstellung der Rezeption Nofretetes und Kleopatras vgl. Ebd., S. 25-26.
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Assoziation mit der Form Kleopatra können außerdem lauten: schön, lasziv, verführerisch, verdorben, unermesslicher Reichtum, luxussüchtig, verschwenderisch, glamourös, despotisch, grausam, egoistisch, mächtig, kaltblütig, listenreich, politisch kalkuliert, intelligent, selbstbestimmt, selbstbewusst, stolz, mütterlich und fürsorglich. Diese Assoziation sind zu einem Großteil negative, nur vereinzelt positive Charaktereigenschaften, die entweder seit der Antike existieren, oder während der 2000-jährigen Geschichte der Kleopatrarezeption entstanden sind, etwa durch Boccaccios Schrift De claris mulieribus. Manche Assoziationen treten je nach Epoche und Zeitgeist verstärkt auf, manche bleiben dagegen latent. Oft wechseln sich die Assoziation ab, so dass mal jene mal eine andere in den Vordergrund rückt, oft vermischen sie sich, überlagern sich und tauchen gleichzeitig auf. Die ständige Wiederholung dieser Motive, das heißt Assoziation mit Kleopatra, suggeriert einen falschen Wahrheitsanspruch. Das heißt, es entsteht der Irrglaube daran, dass das, was dauernd wiederholt wird, Fakt ist und somit der Wahrheit entsprechen muss. Der Mythos wird daher als wahre Geschichte rezipiert, obwohl er nur gewachsene Geschichte ist. Indem die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva diese ständige Wiederholung der immer gleichen Formen und Assoziationen den Besucherinnen vor Augen führt, bietet sie die Möglichkeit den Mythos zu demontieren. Auf welche Art und Weise die Geschichte des Mythos über 2000 Jahre hinweg gewachsen ist und wie sich bestimmte Assoziationen mit Kleopatra zu einer vermeintlichen Wahrheit festigen konnten, das werden wir im Folgenden untersuchen.
2.1.1
Kleopatra, die Verführerin – 2000 Jahre Geschichte eines Mythos
Der Mythos Kleopatra entsteht bereits zu ihren Lebzeiten. Seit 34 v. Chr. betrieb Octavian rege Propaganda gegen Kleopatra und Marc Anton, mit denen er sich im Machtkampf um die Alleinherrschaft befand. Er wollte den Römern zu verstehen geben, dass ein Sieg Kleopatras den Niedergang Roms bedeuteten würde.39 Octavian unterstellte Kleopatra Zauberkraft, mit der sie Marc Anton nicht nur verführt, sondern ihn auch versklavt und willenlos gemacht haben soll. Dieses Narrativ sollte Marc Anton von seiner Verantwortung entlasten und erklären, warum er dem römischen Staat abtrünnig geworden war.40 Horaz, Dichter der augusteischen Zeit, unterstellt Kleopatra ebenfalls, dass sie sich Marc Anton aufgrund ihrer maßlosen Herrschgier gefügig gemacht habe, um Rom zu erobern und zu beherrschen. Er nennt sie fatale monstrum, etwas, das widernatürlich ist und blankes Entsetzen hervorruft.41 Als widernatürlich empfanden die Römer generell die Vorstellung von einer Frau, die herrscht, und die damit für die Römer typisch männliche Dinge ausübt sowie die Vorstellung einer fremden, das heißt nicht römischen, sondern 39 40 41
Vgl. Becher: Das Bild der Kleopatra in der griechischen und lateinischen Literatur, a.a.O., S. 45. Vgl. Ebd., S. 25. Vgl. Ebd., S. 45.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
barbarischen Königin an der Spitze des römischen Staates, was automatisch dessen Untergang bedeuten würde.42 Als widernatürlich und barbarisch wurde außerdem die ägyptische Religion mit ihren tierköpfigen Göttern angesehen und der Umstand, dass sich Kleopatra als Göttin Isis inszenierte. Properz, ebenfalls ein Dichter augusteischer Zeit, bezeichnet Kleopatra als meretrix regina, als »hurende Königin«, die Rom als Preis für ihre Liebesdienste verlangt. Auch er bezeichnet sie als herrschsüchtige Despotin, die Marc Anton versklavt habe und die im Fall einer Niederlage Roms die Tuba durch das Sistrum und den Jupiter durch den ägyptischen Gott Anubis ersetzen würde.43 Erst mit dem Tod Kleopatras ist für Properz die Gefahr für den römischen Staat beseitigt. In der nachaugusteischen Literatur, in der naturalis historia von Plinius dem Älteren, wird die Anekdote von Kleopatra und der Perle und die damit verbundene Luxuria, die Luxussucht der Kleopatra, in der Rezeptionsgeschichte etabliert. Die Anekdote besagt, dass Kleopatra gewettet haben soll, Speisen im Wert von hunderttausend Sesterzen verzehren zu können. Um die Wette zu gewinnen, löste sie eine große, wertvolle Perle in Essig auf und trank diese. Beharrlich und oft wird dieses Motiv der Luxuria in der Kleopatrarezeption immer wieder aufgegriffen. In direkter Verbindung mit dieser Szene nennt auch Plinius Kleopatra eine »hurende Königin«, quasi als Begründung für ihre übermäßige Genusssucht.44 Ilse Becher bemerkt außerdem, dass die Luxuria während der augusteischen Zeit generell mit den ägyptischen Pharaonen assoziiert wurde, und dass die Perle »in noch höherem Maße als Edelsteine und Gold die Höchststufe von Luxus ausdrücken sollte«.45 Als letzter antiker Autor sei hier noch Plutarch genannt, der in seiner Biografie über Marc Anton Kleopatra ebenfalls als dessen Verführerin und als Schuldige für dessen Abtrünnigkeit von Rom darstellt. Er attestiert ihr zwar keine große äußere Schönheit, dafür aber Charme und Redegewandtheit und lobt ihre Vielsprachigkeit.46 Plutarch ist, wie auch Plinius, äußerst relevant für die weitere Rezeption des Mythos Kleopatra, da Shakespeare für seine Tragödie Antony and Cleopatra ganze Passagen aus Plutarch übernommen hat. Shakespeare betont vor allem die Assoziation der Liebenden mit Kleopatra, der ein sich wandelnder Liebesbegriff vorausgeht, bei dem zwischen Liebe und Macht abgewogen werden darf.47 Mit Giovanni Boccaccio, einem neulateinischen Autor der Renaissance, machen wir einen großen Sprung in der Kleopatrarezeption und lassen damit die 42 43 44 45 46 47
Vgl. Ebd., S. 44. Vgl. Ebd., S. 53. Vgl. Ebd., S. 135-137. Ebd., S. 137. Vgl. Ebd., S. 72. Vgl. Marquart, Jörg: »Kleopatra«, in: von Möllendorf, Peter, Simonis, Annette und Simonis, Linda (Hg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik, Stuttgart 2013, S. 551-576, hier S. 563.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
mittelalterliche Rezeption aus, da in dieser Epoche das rege Interesse an Kleopatra ausbleibt und sich daher auch keine Entwicklung bezüglich des Kleopatramythos ergibt. Das sieht man zum einen in der geringen Quellenlage, da viele antike Autoren noch nicht wiederentdeckt waren, und zum anderen darin, dass das Mittelalter auf Grund von Konfrontationen mit dem Islam kein großes Interesse mehr an Ägypten hatte.48 »Erst das Geschichtsbewusstsein der Renaissance rückte das Interesse an antiken Quellen und Sujets stärker in den Fokus.«49 Boccaccios Werk, De claris mulieribus, unterscheidet sich von denen antiker Autoren darin, dass er Kleopatras Geschichte zusammenhängend erzählt, und dass er ein noch negativeres Bild der Königin zeichnet.50 Boccaccio sammelt, bespricht und bewertet in der misogynen Schrift De claris mulieribus (ca. 1361-1375) Biografien berühmter Frauen der Geschichte. Sein Ziel ist »eine allumfassende Darstellung des weiblichen Geschlechtscharakters«51 zu geben, wobei er vor allem auf Biografien nicht christlicher Frauen zurückgreift, um deren vermeintliche Lasterhaftigkeit der Tugendhaftigkeit christlicher Frauen gegenüberzustellen.52 Boccaccios Werk sollte moralisch belehrend wirken und diente, rezeptionsgeschichtlich betrachtet, vielen Autoren als Nachschlagewerk für antikes Wissen und wurde darüber hinaus sogar als wissenschaftliche Arbeit aufgefasst.53 Boccaccio nennt die Quellen, die er zur Niederschrift seines Werkes benutzte, nicht. Es wird jedoch angenommen, dass er sich bei seiner durchwegs negativen Darstellung der Kleopatra vor allem auf Plinius den Älteren berief.54 Im Kapitel De Cleopatra regina Egyptiorum lässt er kein gutes Haar an der ägyptischen Königin. Gleich am Anfang des Kapitels lesen wir: »Durch Verbrechen [nefas, d. Verf.]55 kam sie [Kleopatra, d. Verf.] an die Macht, und nichts findet sich an ihr, was ihren Ruhm erstrahlen läßt, außereben dies und ihr schönes Gesicht, während sie andererseits der Welt durch ihre Habgier, ihre Grausamkeit und Genußsucht in Erinnerung geblieben ist.«56 nefas, ava48 49 50 51 52 53 54 55
56
Vgl. Ebd., S. 558. Ebd. Vgl. Ebd. Erfen, Irene und Schmitt, Peter: »Nachwort«, in: Boccaccio, Giovanni: De claris mulieribus. Die großen Frauen. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2003, S. 261-287, hier S. 263. Vgl. Ebd., S. 264-265. Vgl. Ebd., S. 261-262, 274, 286. Vgl. Erfen, Irene und Schmitt, Peter: »Erläuterungen«, in: Boccaccio, Giovanni: De claris mulieribus. Die großen Frauen. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2003, S. 231-248, hier S. 246. Das lateinische nefas ist die Negierung von fas. fas et nefas bedeutet Gutes und Böses. nefas mit Verbrechen zu übersetzen, blendet die religiöse Konnotation des Begriffs aus. Nefas ist ein Frevel gegen Gott; eine Person als nefas zu bezeichnen, bedeutet, sie als Scheusal zu beschimpfen. Nefas ist also nicht nur das Verbrechen, sondern viel mehr die Sünde oder Gräueltat; etwas, was sich gegen die göttliche Ordnung richtet. Boccaccio, Giovanni: De claris mulieribus. Die großen Frauen. Lateinisch/Deutsch, übersetzt von Irene Erfen und Peter Schmitt, Stuttgart 2003, S. 179.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
ritia, crudelitas, luxuria – Ruchlosigkeit, Gier, Grausamkeit und die Sucht, in Luxus zu schwelgen – wirft Boccaccio Kleopatra vor. Sie zeichnet sich laut Boccaccio durch nichts weiter aus, als durch diese Eigenschaften und durch ihre Schönheit. Darüber hinaus ist sie »eine von Natur aus böse Frau, mit hohem Selbstvertrauen begabt«57 , so Boccaccio weiter, wobei Selbstvertrauen hier nicht als positive weibliche Eigenschaft aufzufassen ist, denn Boccaccio war der Ansicht, dass sich die Frau dem Mann zu unterwerfen habe.58 Im übertragenen Sinn meint er daher wohl eine Frau, die nicht nur böse ist, sondern darüber hinaus dreist und von sich zu sehr überzeugt ist. Boccaccio berichtet weiter, dass Kleopatra Julius Caesar in ihre lascivia, ihre zügellose Lebensweise, hineinmanövriert habe und sich »als Lohn für die mit ihr verbrachten Liebesnächte«59 , die Herrschaft über Ägypten wünschte. Bleibt es hier noch bei einer Umschreibung einer Frau, die ihre Liebesdienste gegen Bezahlung anbietet, beschimpft Boccaccio Kleopatra kurz darauf als Hure (scortum), die süchtig nach Gold und Juwelen sei und unterstellt ihr Wollust (voluptas) sowie die Verführung der beiden Römer Julius Caesar und Marc Anton.60 Weiter erzählt Boccaccio von der Eroberung und Verführung Marc Antons durch Kleopatra sowie vom ausschweifenden Lebensstil der beiden – den Trinkgelagen und Banketten –, für den symbolisch die in Essig aufgelöste Perle steht, die Kleopatra verzehrte.61 Wir erfahren hier, dass Kleopatra nicht nur süchtig nach Gold und Juwelen sei, sondern auch, dass sie Reichtum im Überfluss besitze, da sie, der Inbegriff von Dekadenz, eine wertvolle Perle ohne wirtschaftliche Konsequenzen vernichten könne. Die aufgelöste Perle, das Gold und die Juwelen sowie die Trinkgelage und Bankette, wecken Assoziationen wie Dekadenz, Reichtum, Luxussucht und Maßlosigkeit, die die Form Kleopatra anfüllen. Boccaccio erzählt außerdem von der Ermordung Arsinoes, der Schwester Kleopatras, die auf Geheiß Kleopatras von Marc Anton umgebracht worden sein soll, um ihre Macht zu sichern; auch diesen Auftragsmord soll sie als Gegenleistung für ihre Liebesdienste verlangt haben.62 Damit unterstellt Boccaccio Kleopatra bereits zum zweiten Mal, sich prostituiert zu haben: Das erste Mal habe Kleopatra die Herrschaft über Ägypten von Julius Caesar als Gegenleistung für ihre Liebesdienste gefordert; das zweite Mal habe Kleopatra die Ermordung ihrer Schwester von Marc Anton und damit die Aufrechterhaltung ihrer Macht und Herrschaft über Ägypten, abermals als Gegenleistung für ihre Liebesdienste, verlangt. Der Mythos Kleopatra als Teil des Mythos Ägypten, den Boccaccio durch sein Werk De claris mulieribus heraufbeschwört, beinhaltet die
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Ebd. Vgl. Erfen/Schmitt: »Nachwort«, a.a.O., S. 272-273. Boccaccio: De claris mulieribus. Die großen Frauen. Lateinisch/Deutsch, a.a.O., S. 181. Vgl. Ebd., S. 180-181, 189. Vgl. Ebd., S. 182-185. Vgl. Ebd., S. 183.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Vorstellung von einer machthungrigen, luxussüchtigen und grausamen Despotin, die sich prostituiert, um ihre egoistischen Ziele zu erreichen. Die von ihrer Schönheit verführten und zum Ehebruch gedrängten Männer sind dabei nur willenlose Sklaven des Fleisches, die Kleopatras zügelloser Lebensweise zum Opfer fallen und durch sie ins Verderben geführt werden. Wir machen einen weiteren Sprung ins Jahr 2002 und sehen uns eine zeitgenössische Charakterisierung Kleopatras an, die gegenüber den vorigen den Vorteil hat, auf eine fast 200-jährige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alten Ägypten zurückgreifen zu können. Dennoch hat sich kaum etwas am Mythos geändert. Der Ägyptologe Thomas Schneider zeichnet in seinem Lexikon der Pharaonen ein ganz ähnliches negatives Bild der Kleopatra wie seine Vorgänger: »Kleopatra kann ihn [Marc Anton, d. Verf.] ebenso erobern wie Caesar und für eigene Ziele (Ermordung der Arsinoes IV. und des abtrünnigen Statthalters von Zypern) instrumentalisieren.«63 Kleopatra ist in diesem Satz die Agierende: sie erobert, sie instrumentalisiert; Caesar und Marc Anton sind passiv: sie werden erobert sie werden instrumentalisiert. Schneider benutzt Wörter wie »erobern« und »instrumentalisieren« in Bezug auf Kleopatra und impliziert damit, dass Kleopatra in der Rolle der Verführerin die passiven und daher unschuldigen römischen Männer durch ihre Manipulation, Verführungskraft und Kaltblütigkeit für ihre Zwecke ausnutze; die Männer sind nur Instrumente ihres Willens. Die grausame und egoistische Kleopatra lässt »für ihre eigenen Ziele« ihre Schwester Arsinoe64 ermorden; die Römer macht sie zu Komplizen, die keine andere Wahl haben, weil Kleopatra sie erobert, das heißt verführt und instrumentalisiert hat. Schneider reproduziert in einer ägyptologischen Fachpublikation den Mythos Kleopatra in der Tradition der augusteischen Propaganda und darüber hinaus auf ähnliche Weise, wie das bereits vor ihm die antiken Autoren und auch Giovanni Boccaccio taten. In diesem Fall hat die Ägyptologie dem Mythos Kleopatra als Teil des Mythos Ägypten nicht nur nichts entgegenzusetzen, sondern reproduziert unbekümmert den seit 2000 Jahren herrschenden Mythos. Zusammenfassend lässt sich über die Geschichte und Entwicklung des Mythos Kleopatra sagen, dass sich besonders eine Lesart durch alle Rezeptionen seit der Antike bis heute durchzieht: die von Elisabeth Bronfen und auch Jörg Marquart festgestellte Verschränkung von Machtwillen und weiblicher Verführungskraft beziehungsweise weiblicher Sexualität in der Person Kleopatras.65 Bronfen, eine der Kuratorinnen der Ausstellung, weist darauf hin, dass wir bis heute Kleopatra mit
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65
Schneider: Lexikon der Pharaonen, a.a.O., S. 146. Arsinoe machte Kleopatra den Thron streitig, indem sie sich zur Gegenkönigin ausrufen ließ. Kleopatra ließ Arsinoe, nach Jahren im Exil, hinrichten, um weiteren potenziellen Machtansprüchen ihrer Schwester zuvorzukommen. Marquart: »Kleopatra«, a.a.O., S. 554.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
zwei polarisierenden Assoziationen verbinden, mit »politischer Macht« und »weiblicher Verführungskraft«.66 Machtwille und weibliche Verführungskraft sind zwei dominante und sich stetig wiederholenden Assoziationen mit der Form Kleopatra.67 Auffällig ist, dass Kleopatra sehr selten mit ihrer Mutterrolle assoziiert wird, obwohl sie vier Kinder hatte, und ebenso wenig mit ihrer Rolle als Regentin eines Landes.68 Die Verführerin und die weibliche Macht bestimmen weiterhin die Rezeption Kleopatras. Im Zuge der Emanzipation der Frau, des Feminismus und der #MeToo-Bewegung könnte man das mythische Zeichen Kleopatra aus heutiger Sicht ganz anders lesen: als fortschrittliche, selbstbestimmte Frau, die Kinder von zwei verschiedenen Männern hatte, mit denen sie aufeinanderfolgend je eine monogame Beziehung führte; man könnte betonen, dass sie eine berufstätige Mutter war sowie eine Karrierefrau in einem von Männern dominierten Beruf, dass sie selbstbewusst und intelligent war, und dass sie stolz auf ihre Weiblichkeit und ihren Körper war. Dass die historische Kleopatra kein ihr definitiv zugeordnetes Antlitz besitzt, hat die bildende Kunst und die gestaltende Kunst nicht davon abgehalten, ihr eines zu geben. Die Physiognomie Kleopatras ist dabei, je nach Geschmack einer Epoche oder je nach Zielgruppe, austauschbar. Dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend, kann sie lange blonde Locken oder einen kurzen schwarzen Bob tragen, ihr Körper ist entweder schlank oder kurvig, ihre Hautfarbe reicht von hell zu dunkel, ihre Nase von klein bis groß. Die Form Kleopatra setzt sich aus kombinierbaren und austauschbaren Formelementen zusammen, die zu erkennen geben, dass es sich bei der Dargestellten um Kleopatra handelt. In der bildenden Kunst wird Kleopatra sehr oft barbusig mit Schlange dargestellt oder am Bankett sitzend mit Perle; oft mit ägyptischer Haartracht beziehungsweise mit Perücke und Uräusschlange auf der Stirn. Die Perle und die Bankettszene sind Formelement Kleopatras, weil mit diesen ihre vermeintliche Luxussucht und Dekadenz sowie Reichtum assoziiert wird. Eine barbusige Frau mit Schlange verweist auf den Selbstmord der Kleopatra durch Schlangengift. Hier treffen Eros und Thanatos aufeinander. Bronfen spricht von der »schönen Leiche Kleopatras«, deren sexuelle Macht durch ihren Tod gebannt wird.69 Eine ägyptische Haartracht, ägyptischer Kopfschmuck wie Geierhaube oder Uräusschlange weisen auf Kleopatra als ägyptische Herrscherin
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Bronfen, Elisabeth: »Auf der Suche nach Kleopatra: Das Nachleben einer kulturellen Ikone«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg.): Kleopatra. Die ewige Diva, München 2013, S. 8-23, hier S. 9. Vgl. Becher: Das Bild der Kleopatra in der griechischen und lateinischen Literatur, a.a.O., S. 54. Vgl. Lulińska: »Cleopatra immaginaria: Anmerkungen zur Biografie eines Mythos«, a.a.O., S. 27. Bronfen: »Auf der Suche nach Kleopatra: Das Nachleben einer kulturellen Ikone«, a.a.O., S. 10.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
hin. Sie trägt die Insignien einer Königin, sogar Göttin Ägyptens, die auf ihre politische Macht hindeuten. All diese Formelemente des Mythos Kleopatra begegnen der Besucherin in der Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva wieder. Die Exponate, von antiken Büsten über Gemälde der Renaissance bis zu Filmkostümen und moderner Malerei, illustrieren die 2000-jährige Geschichte des Mythos. Indem die Ausstellung den Mythos Kleopatra offen zur Schau stellt, versucht sie ihn durch die Darstellung seiner beständigen Wiederholung als Mythos erkennbar zu machen. Deutlich wird diese Intention bereits durch die Inszenierung der beiden ersten Exponate der Ausstellung: durch das bereits besprochene Relief von Dendera und das Werk Warhols, Blue Liz as Cleopatra. Zu dieser Eingangsinszenierung, in der diese beiden Werke einander gegenübergestellt werden, kehren wir im Folgenden zurück.
2.1.2
Von der Gottkönigin zur Filmgöttin – Die Ewigkeit des Mythos Kleopatra
Mit dem gewonnenen Wissen über Kleopatra als Bestandteil des Mythos Ägypten und als gesichtslose, leere Form, die mit den unterschiedlichsten Assoziationen angefüllt werden kann, wenden wir uns nun dem zweiten Exponat der anfänglichen Inszenierung in der Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva zu: Andy Warhols Bild Blue Liz as Cleopatra.70 Warhols Siebdruck befindet sich auf der rechten Seite der eingangs besprochenen Kopie des Reliefs von Dendera, das Kleopatra und ihren Sohn Caesarion opfernd vor der Göttin Isis und deren Sohn Harsomtus zeigt (Abbildung 16). Warhols Siebdruck ist auf Sichthöhe der Besucherin, inmitten einer goldenen Wand platziert, die im rechten Winkel zum Relief steht, an dessen Ende anschließt und dessen allgemeine Gestalt und Farbe aufgreift. Die Besucherin wird daher am Beginn der Ausstellung mit zwei im rechten Winkel zueinanderstehenden, monumentalen Erhebungen im Raum konfrontiert, die beide eine goldene Farbgebung aufweisen. Diese bewusste Parallelität der Inszenierung soll auf die Analogie der beiden Exponate hinweisen, die darin besteht, dass es sich bei beiden um Bilder der Kleopatra handelt, die, obwohl sie 2000 Jahre trennen, ein gemeinsames Sujet aufweisen. Andy Warhols Bild Blue Liz as Cleopatra zeigt die Schauspielerin Elizabeth Taylor in ihrer Rolle als Kleopatra in dem Film Cleopatra des Regisseurs Joseph L. Mankiewicz aus dem Jahr 1963. Als Vorlage für Blue Liz as Cleopatra diente Warhol eine Fotografie Elizabeth Taylors aus dem Life Magazine vom 13. April 1962, die während der Dreharbeiten zu Cleopatra entstanden war.71 Die Fotografie zeigt die Schauspielerin im Porträt in der Rolle der Kleopatra. Sie
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Andy Warhol (1928-1987): Blue Liz as Cleopatra, 1962, Acryl, Siebdrucktinte und Bleistift auf Leinwand, 208,9 x 165,1, Daros Collection, Schweiz. Vgl. Löseke, Annette: Andy Warhols serielle Porträts. Jackie Kennedy – Marilyn Monroe – Liz Taylor – Ethel Scull. Bildbegriff und Porträtkonzept der frühen 1960er Jahre, Hildesheim 2013, S. 152.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
trägt ihr Filmkostüm: ein tief ausgeschnittenes, ärmelloses Kleid, eine schulterlange, schwarze Perücke – einen Bob –, ihr Augen-Make-up ist auffällig dunkel, der Lidstrich weit Richtung Schläfe geschwungen. Warhol bildet dieses Porträt aber nicht nur einmal ab, er zeigt uns Taylors Porträt in fünfzehnfacher Wiederholung, über vier Reihen verteilt, in schwarz auf blauem Grund.72 Die Porträts werden, von links nach rechts und von oben nach unten betrachtet, immer dunkler, immer schwärzer, bis sie sich in der vierten, untersten Reihe vollkommen überschneiden und der Blick auf Liz Taylor verschwimmt. Die aneinandergereihten Porträts erinnern an Sofortpassfotos aus dem Automaten, aber auch an die einzelnen, aufeinander folgenden Bilder einer Filmrolle. Warhol bezieht sich auf die beiden Medien, denen sein Sujet entstammt: das Foto, das Taylor in ihrer Filmrolle zeigt. Blue Liz macht deutlich, dass das Abbild eines Stars endlos reproduziert werden kann, es erlebt eine ständige Wiederholung, was die Bekanntheit des Stars und damit auch die Vertrautheit mit ihr oder ihm fördert. Blue Liz deutet damit auf einen wichtigen Aspekt der Ausstellung und Kleopatras hin: den der Wiederholung und der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Kleopatra als Form des Mythos erlebt über Jahrtausende hinweg die Wiederholung in den immer gleichen Formelemente und Assoziationen. Wiederholungen erzeugen Vertrautheit und ein scheinbar gesichertes Wissen, das vorgibt, auf Tatsachen zu beruhen, obwohl es nur aus Assoziationen besteht. Die Doppelgängerinnen, die fünfzehn Porträts der Blue Liz as Cleopatra, sind wie die Assoziationen des Mythos Ägypten im Allgemeinen und die Assoziationen, die die Form Kleopatra anfüllen im Besonderen: Sie gleichen sich und erfahren doch Abweichungen; sie stehen nebeneinander, sie folgen aufeinander, sie wechseln sich ab und überlagern sich; einige sind deutlich zu sehen, andere nur verschwommen zu erkennen; sie sind gleich, dann wieder nur ähnlich, aber auch unterschiedlich. Die fünfzehn Kleopatras des blau-schwarzen Pop-Art Bildes schauen auf die Kleopatra des goldenen Tempelreliefs; sie haben den Blick aufeinander gerichtet. 2000 Jahre Kleopatrarezeption, von einer der ältesten Darstellungen der Königin bis zu einer der jüngsten, kommen in dieser Inszenierung zusammen; der Blick der Kleopatras beider Exponate überbrückt die Zeitspanne und stellt die Verbindung zwischen ihnen her. Es scheint so, als ob die Kleopatra des Reliefs nicht nur den ihr gegenüberstehenden Göttern huldigt, sondern auch der Leinwandgöttin Liz Taylor, die ihr ebenfalls gegenübersteht. Liz Taylor wiederum, im Siebdruck Blue Liz as Cleopatra, blickt zu ihrer Vorgängerin im Relief und damit zurück in
72
Warhol schuf seine Blue Liz as Cleopatra zu einer Zeit, in der Liz Taylor sehr krank war und Gerüchte über ihren baldigen Tod in Umlauf waren. Die blaue Farbe in Taylors Gesicht ist daher wörtlich zu nehmen: ihr Gesicht ist blau angelaufen, weil Warhol annahm, dass die Schauspielerin todkrank sei. Vgl. Bal, Mieke: »Fifteen Stories of Cleopatra«, in: Ritschard, Claude und Morehead, Allison (Hg.): Cléopâtre Dans Le Miroir De L’art Occidental., Genf/Mailand 2004, S. 293-306, hier S. 293.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
die Vergangenheit, in der sie und wir die Anfänge jenes Mythos erspähen können, der sie zur bis dahin bestbezahlten Schauspielerin der Welt machte. Beide Kleopatras sind auf der Höhe ihrer Macht: die Kleopatra des Reliefs als Herrscherin über Ägypten, die Pop-Art Kleopatra als Herrscherin über Hollywood. Die Inszenierung der beiden Exponate gibt uns zu verstehen: Der Mythos Kleopatra und damit der Mythos Ägypten ist dauerhaft, er ist ewig. Mit dieser Inszenierung am Anfang der Ausstellung ist sowohl deren Titel, Kleopatra. Die ewige Diva, entfaltet, als auch ihr Ziel zusammengefasst: die Darstellung der verschiedenen Rezeptionsarten der Kleopatra durch zwei Jahrtausende. Aber auch der Ausstellungstitel ist doppeldeutig: Das Wort Diva leitet sich vom lateinischen Adjektiv »divus« ab, das »göttlich« bedeutet und das die römischen Kaiser als Epitheton nach ihrem Tod erhielten. Als Substantiv bedeutet Diva demnach Göttin. Wenn wir den Ausstellungstitel wörtlich nehmen, will er uns mitteilen, dass Kleopatra eine ewige Göttin ist. Diese Aussage wurde uns deutlich gemacht durch die beiden Exponate der Anfangsinszenierung, zwischen denen 2000 Jahre liegen, die aber beide Kleopatras als Göttin zeigen: Kleopatra als göttliche Herrscherin und Verkörperung der Göttin Isis auf der einen Seite und die Filmgöttin Liz Taylor in ihrer Rolle der göttlichen Herrscherin Kleopatra auf der anderen Seite. Der Begriff Diva hat allerdings eine Bedeutungsverschiebung erlebt und wird heute nicht mehr in seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden. Vielmehr versteht man heute unter einer Diva eine einzigartige, berühmte Person, die sich auszeichnet durch eine besondere Begabung. Für Bronfen ist die Diva ein Star, aber darüber hinaus, ein »Sonderfall des Starsystems«, da sie sich selbst als Auserwählte versteht.73 Die Diva sei ein Star, der eine Apotheose erlebt habe, was sie zu einer göttlichen Gestalt mache. Zugleich sei sie eine Identifikationsfigur, in der wir unsere Wunschträume verwirklicht sehen. Deshalb müsse die Diva, den antiken Halbgöttern ähnlich, immer mehr sein als wir, das heißt klüger, schöner, geistreicher und mutiger, aber gleichzeitig müsse sie auch Analogien zu uns aufweisen, damit wir uns in ihr widerspiegeln können.74 Bronfen führt den modernen Begriff der Diva also wieder zurück auf seine ursprüngliche Bedeutung als eine göttliche Gestalt. Die Diva ist einer antiken Halbgöttin ähnlich, weil sie im Starkult von ihrem Publikum, ihren Fans, verehrt wird. In der Anfangsinszenierung stehen sich, ganz nach Bronfens Definition, die antike Diva Kleopatra VII. und die moderne Filmdiva Liz Taylor gegenüber. Beide sind Göttinnen ihrer Zeit, beide erleben eine Verdoppelung ihrer Person: Kleopatra VII. ist eine göttliche Herrscherin in der Rolle der Göttin Isis; Liz Taylor ist als Filmdiva eine göttliche Gestalt und spielt die Rolle der göttlichen Herrscherin Kleopatra
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74
Bronfen, Elisabeth: »Zwischen Himmel und Hölle. Maria Callas und Marilyn Monroe«, in: Bronfen, Elisabeth und Straumann, Barbara: Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002, S. 43-68, hier S. 46-47. Vgl. Ebd., S. 47
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
VII. Im Film wird Taylor zu Kleopatra und Kleopatra bekommt durch Liz Taylor ein Gesicht. Das heißt, das Gesicht Liz Taylors wird zu einem Formelement der Form Kleopatra. Taylors Gesicht assoziieren wir deshalb bis heute mit Kleopatra. Sie verkörperte Kleopatra so überzeugend, dass man noch heute sofort an das Gesicht der Taylor denkt, wenn man von Kleopatra spricht.75 Alle Assoziationen mit Kleopatra assoziiert man deshalb auch mit Liz Taylor und alle Assoziationen mit Liz Taylor assoziiert man ebenfalls mit Kleopatra. Die Privatperson Liz Taylor wird in der Form zurückgedrängt, und diese entleerte Form wird angefüllt mit Assoziationen, die man mit Kleopatra verknüpft, aber auch mit Assoziationen, die ihr Image als Star hervorruft. All die Assoziationen, die man mit der Filmdiva Taylor in Verbindung bringt, wie Reichtum, Glamour etc., bezieht man ebenfalls auf Kleopatra; und umgekehrt gelten die Assoziationen mit Kleopatra wie Erotik, Macht und Reichtum auch für Liz Taylor. Kleopatra ist Taylor, Taylor ist Kleopatra. Das heißt: Die beiden Frauen, der Mythos Kleopatra und der Mythos Liz Taylor, ihre Formen und Assoziationen, verschmelzen so miteinander, dass keine Differenz mehr zwischen ihnen festzustellen ist. Taylor wird ebenfalls zu einer leeren Form; die reale Person hinter der Filmrolle wird entleert, Assoziationsverknüpfungen mit der antiken Kleopatra aber auch mit der Filmindustrie Hollywoods füllen die leere Form auf. Taylor wird, ähnlich wie Kleopatra, zur mannstollen Diva. Die Affäre zwischen Liz Taylor und Richard Burton, der in Mankiewiczʼ Film den Marc Anton mimt, begünstigte diese Verschmelzung zwischen Taylor und Kleopatra. Auch hier verschmolzen die antiken Personen Kleopatra VII. und Marc Anton mit den beiden Hollywoodgrößen Taylor und Burton.76 Denn obwohl es sich um eine private Liebesbeziehung zwischen den beiden Stars handelte, war diese als Teil ihres Starimages öffentlich. Darüber hinaus zeigten Bilder des Paares die beiden in ihren Filmkostümen und damit als Kleopatra und Marc Anton. Die Ausgabe des Life Magazine vom 13. April 1962, aus der Warhol die Vorlage für seine Blue Liz as Cleopatra entnahm, widmete Taylor einen Artikel, in dem ihre Liebesbeziehungen, ihr sonstiges Privatleben und ihr Film Cleopatra besprochen wurden.77 Das Bild auf der Titelseite zeigt Liz Taylor und ihren Filmpartner Richard Burton während der 75
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Vgl. Bronfen: »Auf der Suche nach Kleopatra: Das Nachleben einer kulturellen Ikone«, a.a.O., S. 19-20; Vgl. Eigler, Ulrich: »Der Tod als Triumph, oder: Kleopatra – Antiquity’s Eternal Topmodel«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg.): Kleopatra. Die ewige Diva, München 2013, S. 46-55, hier S. 52. Zur Affäre von Taylor und Burton und ihrer Analogie zur Kleopatra und Marc Anton vgl. Jansson, Siv: »Egyptian Excesses: Taylor, Burton and Cleopatra«, in: Dobson, Eleanor und Tonks, Nichola (Hg.): Ancient Egypt in the Modern Imagination. Art, Literature and Culture, London/New York/Dublin 2021, S. 229-246. Vgl. Bal: »Fifteen Stories of Cleopatra«, a.a.O., S. 293; Vgl. Löseke: Andy Warhols serielle Porträts. Jackie Kennedy – Marilyn Monroe – Liz Taylor – Ethel Scull. Bildbegriff und Porträtkonzept der frühen 1960er Jahre, a.a.O., S. 152.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Dreharbeiten zu Kleopatra: sie in der Rolle der Kleopatra, er in der Rolle des Marc Anton. Liz Taylor als Privatperson vermischt sich hier komplett mit Liz Taylor als Star und Filmdiva und Liz Taylor als Kleopatra. Die Form Liz Taylor besteht aus verschiedenen Formelementen, aus Privatperson, Star, Diva und Kleopatra. Die Formelemente sind nicht mehr voneinander zu trennen und werden deshalb in ihrer Gesamtheit von denselben Assoziationen angefüllt: Glamour, Luxus, Reichtum, Dekadenz und Verführung. Wie wir im Folgenden sehen werden, evoziert die weitere Ausstellungsinszenierung ebenso diese Motive des Mythos.
2.2
Enthüllung des Mythos durch Wiederholung – Die Inszenierung von Kleopatra. Die ewige Diva
Die Inszenierung der Ausstellung zeigt, dass selbst eine Ausstellung, die den Mythos Kleopatra thematisiert, ihn gleichsam nutzen und zur Evozierung von altbekannten Assoziationen mit Kleopatra einsetzen kann. Die Inszenierung ist aufgeteilt in 14 Themenbereiche, die sich über großzügig angelegte Ausstellungsräume erstrecken. Auf Dunkelheit wird verzichtet; die Ausstellungsräume sind sehr hell. Das Farbschema besteht aus den Farben Gold, Blau und Rot, die jeweils an den Wänden der Ausstellungsräume flächig eingesetzt werden. Es sind Farben, die auch schon im Alten Ägypten für die Wanddekorationen zum Beispiel in Gräbern überwiegend verwandt wurden und nun als Mittel der Inszenierung und damit als Formelement die Wahrnehmung der Besucherinnen in der Ausstellung steuern und den Mythos Ägypten evozieren. In der Mitte einiger Ausstellungsräume befinden sich Diwane mit goldenen Füßen, bezogen mit rotem oder blauem Samt. Viele der Exponate, ob Gemälde, Fotos oder Film, zeigen Kleopatra beziehungsweise Schauspielerinnen in der Rolle der Kleopatra, die halb sitzend, halb liegend, auf solchen Diwanen oder ähnlichen Bettstätten ruhen. So weist Giuseppe Pucci darauf hin, dass Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt oder Theda Bara, die Kleopatra verkörperten, oft auf chaises longues fotografiert wurden.78 Teilweise thronen die Diwane auf goldenen Podesten, die über wenige Treppenstufen zu erklimmen sind, oder auf orientalischen Teppichen. Die Besucherinnen haben die Möglichkeit, wie Kleopatra auf den Diwanen zu verweilen; ringsherum sind von dort die Exponate aus erhobener Position zu betrachten. Innerhalb dieser Inszenierung soll sich die Besucherin wie in Kleopatras Palast in Alexandria fühlen. Dafür sprechen das Farbschema, die hohen offenen Räume, die Diwane, Orientteppiche und thronartigen Podeste. Sie alle sind Element der Inszenierung sowie Formelement des Mythos Ägypten. Die Formelemente werden assoziiert mit Luxus, Reichtum und
78
Vgl. Pucci, Giuseppe: »Every Man’s Cleopatra«, in: Miles, Margaret M. (Hg.): Cleopatra: A Sphinx Revisited, Berkeley/Los Angeles/London 2011, S. 195-207, hier S. 201.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Dreharbeiten zu Kleopatra: sie in der Rolle der Kleopatra, er in der Rolle des Marc Anton. Liz Taylor als Privatperson vermischt sich hier komplett mit Liz Taylor als Star und Filmdiva und Liz Taylor als Kleopatra. Die Form Liz Taylor besteht aus verschiedenen Formelementen, aus Privatperson, Star, Diva und Kleopatra. Die Formelemente sind nicht mehr voneinander zu trennen und werden deshalb in ihrer Gesamtheit von denselben Assoziationen angefüllt: Glamour, Luxus, Reichtum, Dekadenz und Verführung. Wie wir im Folgenden sehen werden, evoziert die weitere Ausstellungsinszenierung ebenso diese Motive des Mythos.
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Enthüllung des Mythos durch Wiederholung – Die Inszenierung von Kleopatra. Die ewige Diva
Die Inszenierung der Ausstellung zeigt, dass selbst eine Ausstellung, die den Mythos Kleopatra thematisiert, ihn gleichsam nutzen und zur Evozierung von altbekannten Assoziationen mit Kleopatra einsetzen kann. Die Inszenierung ist aufgeteilt in 14 Themenbereiche, die sich über großzügig angelegte Ausstellungsräume erstrecken. Auf Dunkelheit wird verzichtet; die Ausstellungsräume sind sehr hell. Das Farbschema besteht aus den Farben Gold, Blau und Rot, die jeweils an den Wänden der Ausstellungsräume flächig eingesetzt werden. Es sind Farben, die auch schon im Alten Ägypten für die Wanddekorationen zum Beispiel in Gräbern überwiegend verwandt wurden und nun als Mittel der Inszenierung und damit als Formelement die Wahrnehmung der Besucherinnen in der Ausstellung steuern und den Mythos Ägypten evozieren. In der Mitte einiger Ausstellungsräume befinden sich Diwane mit goldenen Füßen, bezogen mit rotem oder blauem Samt. Viele der Exponate, ob Gemälde, Fotos oder Film, zeigen Kleopatra beziehungsweise Schauspielerinnen in der Rolle der Kleopatra, die halb sitzend, halb liegend, auf solchen Diwanen oder ähnlichen Bettstätten ruhen. So weist Giuseppe Pucci darauf hin, dass Schauspielerinnen wie Sarah Bernhardt oder Theda Bara, die Kleopatra verkörperten, oft auf chaises longues fotografiert wurden.78 Teilweise thronen die Diwane auf goldenen Podesten, die über wenige Treppenstufen zu erklimmen sind, oder auf orientalischen Teppichen. Die Besucherinnen haben die Möglichkeit, wie Kleopatra auf den Diwanen zu verweilen; ringsherum sind von dort die Exponate aus erhobener Position zu betrachten. Innerhalb dieser Inszenierung soll sich die Besucherin wie in Kleopatras Palast in Alexandria fühlen. Dafür sprechen das Farbschema, die hohen offenen Räume, die Diwane, Orientteppiche und thronartigen Podeste. Sie alle sind Element der Inszenierung sowie Formelement des Mythos Ägypten. Die Formelemente werden assoziiert mit Luxus, Reichtum und
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Vgl. Pucci, Giuseppe: »Every Man’s Cleopatra«, in: Miles, Margaret M. (Hg.): Cleopatra: A Sphinx Revisited, Berkeley/Los Angeles/London 2011, S. 195-207, hier S. 201.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Dekadenz, aber auch mit dem Alten Ägypten im Allgemeinen. Die Ausstellungsinszenierung will offensichtlich keine Grabesatmosphäre erzeugen; sie will vielmehr eine Atmosphäre des Luxus, der Eleganz und der Dekadenz erzeugen. Das sind allesamt Motive, die man Kleopatra als Form zuschreibt. Den Mythos Kleopatra, als Teil des Mythos Ägypten, erfahren die Besucherinnen bereits beim Eintreten in die Ausstellungsräume, im Moment der ersten Wahrnehmung der einzelnen Formelemente, die die gesamte Inszenierung der Ausstellung ausmachen. Die Besucherinnen statten – wie der Titel der Ausstellung bereits sagt – der Diva Kleopatra einen Besuch in ihrem luxuriösen Palast ab. Die Besucherinnen können in diesem Palast Schätze anschauen – die Ausstellungsobjekte – und treten quasi in die Intimsphäre, das Heim der Kleopatra ein. Das Gefühl, dass man Kleopatra kennt, sogar intim kennt, stellt sich ein, indem suggeriert wird, dass sich die Besucherinnen durch ihren Palast bewegen. Es wird außerdem verstärkt durch die altbekannten Motive, die mit Kleopatra assoziiert werden: Luxus, Reichtum, Schönheit, Weiblichkeit. Die Besucherin begegnet in der Ausstellung allen Formelementen und Assoziationen des Mythos Kleopatra: Sie begegnet der Kleopatra, die Caesar und Marc Anton verführt haben soll, der lasziven und erotischen femme fatale; der dekadenten Kleopatra, die eine Perle in Essig aufgelöst und Orgien gefeiert haben soll; der schönen Diva, die in Stutenmilch gebadet haben soll sowie der schönen Leiche, Kleopatra mit der Schlange. Man begegnet außerdem Kleopatra als starker Frau und Liebender, die ihren Freitod wählte, um nicht in die Hände Octavians zu fallen und um im Tod mit Marc Anton vereint zu sein. Kleopatra ist , wie das Alte Ägypten selbst, eine Projektionsfläche für Sehnsüchte und Ängste der Besucherinnen, die sich im Mythos Ägypten ausdrücken. Die Ausstellung in der Bundeskunsthalle stellt diesen Mythos aber offen zur Schau. Sie zeigt ihren Besucherinnen den Wandel, die Wiederholungen und die Weiterentwicklung der Formelemente und Assoziationen mit Kleopatra während ihrer 2000-jährigen Rezeption in den unterschiedlichsten Medien. Zum Beispiel wird die Adaption Kleopatras im Film, Theater und in der Musikindustrie thematisiert. So macht die Besucherin einen historischen Durchgang durch die Rezeptionsgeschichte des Mythos Kleopatra sowie einen historischen Durchgang durch die Medien, mit deren Hilfe der Mythos dargestellt wird: Schrift, Malerei, Skulptur, Mode, Musik, Film, Fernsehen und Werbung. Dabei wird deutlich, dass die Motive, die mit Kleopatra assoziiert werden, sich auf der einen Seite oft wiederholen, auf der anderen Seite wird deutlich, dass die Assoziationen auch vom Zeitgeist der jeweiligen Epoche abhängig sind, denn mal tritt jene, bald diese Assoziation in den Vordergrund. Zu den Exponaten der Ausstellung gehören auch Bilder der spanischen Street Art Künstlerin BTOY, Andrea Michaelsson, die Filmdiven in der Rolle der Kleopatra zeigen. Wie Bronfen bemerkt, führt BTOY die Filmdiva in den Bereich der Ma-
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
lerei zurück.79 Das Cover des Ausstellungskatalogs Kleopatra. Die ewige Diva ziert eines dieser Bilder von BTOY, das ein Porträt Liz Taylors in der Rolle der Kleopatra zeigt. Als Vorlage für BTOYs Bild scheint, wie bei Andy Warhol, ebenfalls eine Fotografie des Life Magazine, die Taylor im Filmkostüm der Kleopatra zeigt, gedient zu haben.80 Bronfen argumentiert, dass »Hollywoods monumentale Epen im öffentlichen Blick längst den Platz der traditionellen Historienmalerei eingenommen haben«.81 Andere Cover von Ausstellungskatalogen, die Kleopatra thematisieren, zeigen ebensolche Historienmalereien oder aber, was viel häufiger ist, antike griechische oder römische Plastiken, die Kleopatra VII. zugeschrieben werden. Auch ägyptische Statuen schmücken solche Kataloge, obwohl weder von den griechischrömischen Plastiken noch von den ägyptischen mit Sicherheit behauptet werden kann, dass es sich dabei um das Antlitz Kleopatras VII. handelt. Diese exzessive Suche nach einem Aussehen Kleopatras deutet auf ein tief liegendes Bedürfnis hin, sich ein definitives Bild dieser Frau machen zu wollen. Der Mythos Kleopatra als Teil des Mythos Ägypten und die für Kleopatra spezifische Rezeption als Mythos seit ihren Lebzeiten haben aber deutlich gemacht, dass ein definitives historisches und wissenschaftlich fundiertes Bild der Kleopatra, sollte es so eines jemals geben, irrelevant für die populäre Rezeption Kleopatras und damit für den Mythos Kleopatra wäre. BTOYs Street Art Porträt Kleopatras mit dem Gesicht Liz Taylors hat daher die gleiche Berechtigung auf einem Katalogcover zu einer Kleopatraausstellung zu erscheinen wie der Marmorkopf, der in Rom in der Nähe des Isis Heiligtums gefunden wurde und Kleopatra darstellen soll82 oder das Historiengemälde La Mort de Cléopâtre83 von Guido Cagnaccis oder auch eine Basaltstatue im ägyptischen Stil84 . Dabei hat es die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva aufgegeben, ein spezifisches Bild Kleopatras zu geben, das heißt ihr ein bestimmtes Gesicht und definitive Charaktereigenschaften zuzuordnen. Die Ausstellung will ihren Besucherinnen kein historisch korrektes Wissen über Kleopatra vermitteln; die Ausstellung versteht sich vielmehr als Biografie eines Mythos. Sie macht eine
79 80 81 82 83
84
Vgl. Bronfen: »Auf der Suche nach Kleopatra: Das Nachleben einer kulturellen Ikone«, a.a.O., S. 16. Cover des Life Magazine vom 6. Oktober 1961. Bronfen: »Auf der Suche nach Kleopatra: Das Nachleben einer kulturellen Ikone«, a.a.O., S. 16. Museo Capitolini, Rom, Inventarnummer 1154. Erschienen auf dem Cover des Ausstellungskatalogs: Gentili, Giovanni (Hg.): Cleopatra. Roma e l’incantesimo dell’Egitto, Mailand 2013. Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Inventarnummer 260. Erschienen auf dem Cover des Ausstellungskatalogs: Ritschard, Claude und Bal, Mieke (Hg.): Cléopâtre Dans Le Miroir De L’art Occidental. Musées d’art et d’histoire 2004. St. Petersburg, Hermitage Museum, Inventarnummer 3936. Erschienen auf dem Cover des Ausstellungskatalogs: Walker, Susan und Higgs, Peter (Hg.): Cleopatra of Egypt: from History to Myth, London 2001.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Bestandsaufnahme des Mythos Kleopatra und seiner 2000-jährigen Rezeptionsgeschichte. Die historische Kleopatra aus der Antike gibt es nicht mehr; es existiert nur noch der Mythos Kleopatra als Teil des Mythos Ägypten. Da Kleopatra als mythisches Zeichen dargestellt wird, besteht für die Besucherinnen grundsätzlich die Möglichkeit, den Mythos als Mythos zu rezipieren. Denn die Besucherin erhält die Möglichkeit, ihre mythischen Vorstellungen zu überdenken und in Frage zu stellen, da sie lernt wie Menschen anderer Epochen den Mythos Kleopatra dargestellt und rezipiert haben. In diesem idealen Fall würde die Besucherin zu einer Mythologin werden, die den Mythos Kleopatra als gewachsene Geschichte entlarvt. Auch hier wird der Mythos als Zeichen an den Anfang eines dritten semiologischen Systems gestellt. Dadurch kann der Mythos als Mythos rezipiert werden. Die Wiederholung der Assoziationen in verschiedenen Exponaten, das heißt innerhalb verschiedener Formen, entlarvt den Mythos als Mythos. Die Assoziationen, die sich ständig in den Formen wiederholen sowie die stetige Wiederholung der Formen selbst, die von den Assoziationen angefüllt werden, können den Mythos und seine Hartnäckigkeit nach Barthes entlarven: Die Motive des Begriffs durchlaufen eine stetige Wiederholung innerhalb der verschiedenen Formen, gerade weil sie aus Assoziationsverknüpfungen bestehen: »Diese Wiederholung des Begriffs durch die verschiedenen Formen hindurch […] erlaubt es, den Mythos zu entziffern: die beharrliche Wiederkehr eines Verhaltens enthüllt seine Absicht.«85 Die sich ständige wiederholende Assoziation Luxussucht mit Kleopatra durch die Jahrtausende hindurch, welche sich sowohl in der Inszenierung der Ausstellung als auch an den Exponaten manifestiert, kann im besten Fall durch ihre Wiederholung und Anhäufung ein Hinterfragen dieser Assoziation und damit ein Hinterfragen der vollständigen Rezeption des Mythos bei der Besucherin auslösen. Auf der anderen Seite, so haben wir bereits festgestellt, kann die Wiederholung derselben Assoziation aber auch auslösen, dass die Besucherin den Mythos als Tatsache rezipiert, obwohl er nur gewachsene Geschichte ist. Das altbekannte Wissen um Kleopatra, das heißt die Assoziationen mit Kleopatra kann durch die Wiederholung eine Bestätigung erfahren. Welche Lesart des Mythos sich schlussendlich durchsetzt, diejenige als Tatsache oder diejenige als Geschichte, hängt schlussendlich von der einzelnen Besucherin und ihrem Reflexionsbedürfnis ab. Unabhängig davon steht fest, dass die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva den Mythos offen zur Schau stellt. Und das eröffnet der Besucherin zumindest die Möglichkeit, den Mythos als Mythos zu rezipieren. Wie in Hollywoodʼs Egypt wird der Mythos zum Ausgangsterm eines dritten semiologischen Systems gemacht, indem er zum Gegenstand der Ausstellung gemacht wird. Die Entlarvung des Mythos als Mythos basiert hier allerdings nicht auf Analogie und dem vergleichenden Blick, sondern auf der durchgehenden Wiederholung von Assoziationen und Formelementen einer 85
Barthes: Mythen des Alltags, a.a.O., S. 265.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
einzigen bestimmten Form des Mythos – Kleopatra. Mythologie erfolgt in dieser Ausstellung durch Wiederholung, die somit eine innovative Inszenierung bietet, in der wir unsere fünfte Facette des Mythos, den Fortschritt, erkannt haben.
3.
Die ewige Wiederkehr des Gleichen – Reaktion und Mythisierung in Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes
Das Cover des Kataloges, der begleitend zur Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes86 erschien, ziert nicht etwa, wie der Titel vermuten ließe, Pharao Sethos I., sondern dessen Iunmutef-Priester.87 Das dürfte nur Fachpersonen auffallen; allen jedoch sticht ins Auge: Der Priester ist grün! Er ist grün im Gesicht und auch sein Oberkörper ist grün. Was ist passiert? Extraterrestrisch? Geht es ihm nicht gut? Letztere Vermutung könnte eine clevere Anspielung auf Warhols Werk Blue Liz as Cleopatra sein, auf dem er Liz Taylor blau abbildete, um auf ihren Krankheitszustand hinzuweisen. Vermutlich hatten die Ausstellungsmacherinnen keine Analogie zu Blue Liz im Sinn, als sie Sethos’ Priester einen grünen Anstrich verliehen; allerdings liegen wir mit dem Verdacht richtig, dass es dem Priester nicht gut geht: er kränkelt. Die grüne Farbe soll auf das erste Wort des alliterarischen Titels der Ausstellung hinweisen, auf das Scanning des Grabes Sethos’, aus dem auch das Relief des Iunmutef-Priesters stammt. Bei dem Titelbild des Kataloges handelt es sich um eine grüne Depth Map des Priester-Reliefs, eine digitale Tiefenkarte. Der Priester wird hier während eines Prozesses der digitalen Bildbearbeitung gezeigt und die Daten der Depth Map wurden mit Hilfe eines
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Die Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes fand im Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig vom 29. Oktober 2017 bis zum 6. Mai 2018 statt. Die Ausstellung entstand durch eine Zusammenarbeit des Antikenmuseums mit der Factum Foundation for Digital Technology in Conservation, dem Departement Altertumswissenschaften, Fachbereich Ägyptologie der Universität Basel und dem Ministerium für Antike der Republik Ägypten. Kuratoren der Ausstellung waren Adam Lowe, Gründer von Factum Foundation und André Wiese, Leiter Ägypten des Antikenmuseums Basel. Die Ausstellung wurde von Charlotte Skene Catling gestaltet. Der Iunmutef-Priester, der übersetzt Pfeiler-seiner-Mutter heißt, befindet sich auf einem Pfeiler in der unteren Pfeilerhalle im Grab Sethos I., wo er Sethos begrüßt. Er taucht dort auf, wo der Übergang zwischen Leben und Tod geschieht. Eventuell ist das Cover-Bild des Kataloges eine Anspielung auf die technischen Prozesse, die beim Übergang vom Scannen zu der Digitalisierung, zum Rematerialisieren stattfinden. Zur Funktion des Iunmutef, der hier vereinfacht als Priester bezeichnet wird vgl. Rummel, Ute: Iunmutef. Konzeption und Wirkungsbereich eines altägyptischen Gottes, Berlin/Boston 2010; ferner vgl. Gregory, Steven R. W.: »The role of the Iwn-mwt.f in the New Kingdom monuments of Thebes«, British Museum Studies in Ancient Egypt and Sudan, 20 (2013), S. 25-46.
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einzigen bestimmten Form des Mythos – Kleopatra. Mythologie erfolgt in dieser Ausstellung durch Wiederholung, die somit eine innovative Inszenierung bietet, in der wir unsere fünfte Facette des Mythos, den Fortschritt, erkannt haben.
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Die ewige Wiederkehr des Gleichen – Reaktion und Mythisierung in Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes
Das Cover des Kataloges, der begleitend zur Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes86 erschien, ziert nicht etwa, wie der Titel vermuten ließe, Pharao Sethos I., sondern dessen Iunmutef-Priester.87 Das dürfte nur Fachpersonen auffallen; allen jedoch sticht ins Auge: Der Priester ist grün! Er ist grün im Gesicht und auch sein Oberkörper ist grün. Was ist passiert? Extraterrestrisch? Geht es ihm nicht gut? Letztere Vermutung könnte eine clevere Anspielung auf Warhols Werk Blue Liz as Cleopatra sein, auf dem er Liz Taylor blau abbildete, um auf ihren Krankheitszustand hinzuweisen. Vermutlich hatten die Ausstellungsmacherinnen keine Analogie zu Blue Liz im Sinn, als sie Sethos’ Priester einen grünen Anstrich verliehen; allerdings liegen wir mit dem Verdacht richtig, dass es dem Priester nicht gut geht: er kränkelt. Die grüne Farbe soll auf das erste Wort des alliterarischen Titels der Ausstellung hinweisen, auf das Scanning des Grabes Sethos’, aus dem auch das Relief des Iunmutef-Priesters stammt. Bei dem Titelbild des Kataloges handelt es sich um eine grüne Depth Map des Priester-Reliefs, eine digitale Tiefenkarte. Der Priester wird hier während eines Prozesses der digitalen Bildbearbeitung gezeigt und die Daten der Depth Map wurden mit Hilfe eines
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Die Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes fand im Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig vom 29. Oktober 2017 bis zum 6. Mai 2018 statt. Die Ausstellung entstand durch eine Zusammenarbeit des Antikenmuseums mit der Factum Foundation for Digital Technology in Conservation, dem Departement Altertumswissenschaften, Fachbereich Ägyptologie der Universität Basel und dem Ministerium für Antike der Republik Ägypten. Kuratoren der Ausstellung waren Adam Lowe, Gründer von Factum Foundation und André Wiese, Leiter Ägypten des Antikenmuseums Basel. Die Ausstellung wurde von Charlotte Skene Catling gestaltet. Der Iunmutef-Priester, der übersetzt Pfeiler-seiner-Mutter heißt, befindet sich auf einem Pfeiler in der unteren Pfeilerhalle im Grab Sethos I., wo er Sethos begrüßt. Er taucht dort auf, wo der Übergang zwischen Leben und Tod geschieht. Eventuell ist das Cover-Bild des Kataloges eine Anspielung auf die technischen Prozesse, die beim Übergang vom Scannen zu der Digitalisierung, zum Rematerialisieren stattfinden. Zur Funktion des Iunmutef, der hier vereinfacht als Priester bezeichnet wird vgl. Rummel, Ute: Iunmutef. Konzeption und Wirkungsbereich eines altägyptischen Gottes, Berlin/Boston 2010; ferner vgl. Gregory, Steven R. W.: »The role of the Iwn-mwt.f in the New Kingdom monuments of Thebes«, British Museum Studies in Ancient Egypt and Sudan, 20 (2013), S. 25-46.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
hochauflösenden 3D-Scanners gewonnen. Deshalb das grüne Licht, das den Prozess des Scannens und Replizierens repräsentiert und das wir fälschlicherweise als grünen Anstrich interpretierten.88 Sethos’ Priester wird gescannt, damit er wieder etwas Farbe ins blasse Gesicht bekommt, denn Sethos’ Grab im Tal der Könige, aus dem das Relief stammt, ist seit über 200 Jahren einem schleichenden Verfall ausgesetzt, der seine ehemals farbigen Reliefs zerstört. Das ist der Grund, warum man beim Erhalt dieses Grabes seit kurzer Zeit auf die neueste Computer-, Scan- und Drucktechnik setzt. Diese neueste Technik wird zur Erschaffung eines vollständigen Faksimiles des gesamten Grabes eingesetzt. Dieses Faksimile, so der Plan, wird dann in Ägypten errichtet und als Attraktion eröffnet werden. Auf diese Wiedergeburt des Grabes in Form seiner Kopie deutet der Titel der Ausstellung hin, die einen Einblick in den Prozess des Faksimilierens des Grabes geben will. Höhepunkte der Ausstellung sind maßstabsgetreue Nachbildungen der Grabkammern Sethos I., die Hall of Beauties (Raum I) und die untere Pfeilerhalle (Raum J), die von den Besucherinnen der Ausstellung betreten und besichtigt werden können. Beim Lesen der Bezeichnungen »Hall of Beauties«, »Pfeilerhalle« und »Grab Sethos I.«, bleibt freilich ein gewisser Déjà-vu-Effekt nicht aus, da uns diese Namen und auch das Ausstellungskonzept, Kopien von Grabkammern auszustellen, bereits in der ersten besprochenen Ausstellung, derjenigen von Giovanni Battista Belzoni in der Egyptian Hall in London 1821, begegneten. Das 200-jährige Fundjubiläum des Grabes ist der Aufhänger für das Narrativ der Basler Ausstellung, die die 200-jährige Geschichte des Grabes und vor allem die Geschichte seiner Zerstörung und Wiedergeburt dokumentieren will. Am Anfang dieser Geschichte der Zerstörung steht der Entdecker Belzoni; einen Schlussstrich unter die destruktive Entwicklung will die Factum Foundation for Digital Technology in Conservation ziehen, jene Organisation, die mit Hilfe der neuesten Technik ein Faksimile des gesamten Grabes erschaffen will. Diese Kopie soll nach Aussage ihres Gründers Adam Lowe besser sein als das Original.89 Das Faksimile der Factum Foundation soll aber nicht als Endpunkt, sondern als Wendepunkt in der Geschichte des Grabes verstanden werden, denn die neueste Technologie verspricht die Wiedergeburt des Grabes, seine Heilwerdung. Indem die Ausstellung die neueste Technik des 3D-Scanning und 3D-Printing präsentiert, versteht sie sich als ebenso revolutionär wie die Technik, die sie inszeniert. So schreibt der Direktor des Antikenmuseums Basel, Andrea Bignasca, im Vorwort des Kataloges zur Ausstellung: »Die Basler Ausstellung zeigt heute eindrücklich, wie die neueste Techno-
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Vgl. Factum Foundation for Digital Technology in Conservation: »Scanning Seti: The Regeneration of a Pharaonic Tomb«, https://www.factumfoundation.org/pag/1015/Scanning-Seti-I-T he-regeneration-of-a-Pharaonic-Tomb (zugegriffen am 1.11.2021). Vgl. Lowe: Two Hundred Years in the Life of the Tomb of Seti I, a.a.O., S. 35.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
logie im Dienste der Vergangenheit erfolgreich eingesetzt werden kann.«90 Unsere Analyse wird jedoch zeigen, dass die eigentlich revolutionäre Technik innerhalb einer Ausstellung präsentiert wird, deren Konzept und Inszenierung reaktionär sind und die darüber hinaus ebenso Untertöne eines reaktionären Gesellschaftsbildes aufweist. Die Ausstellung zeigt weniger, wie die neueste Technologie im Dienste der Vergangenheit, sondern eher, wie die Vergangenheit im Dienste der neuesten Technik erfolgreich eingesetzt werden kann. Wenn wir die Inszenierung als reaktionär bezeichnen, so verfolgen wir keine polemischen Absichten. Den Begriff »reaktionär« verstehen wir als terminus technicus; dabei stützen wir uns auf eine Definition von Mark Lilla: Reaktion ist nach Lilla der Versuch zu einer verklärten, paradiesischen Vergangenheit zurückzukehren und damit einen vermeintlichen Idealzustand wiederherzustellen.91 Reaktionäres Denken ist nostalgisches Denken: Es will zurück zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit, der vor einem vermeintlichen Bruch geschah, nach dem alles schlechter wurde. Die Vergangenheit vor dem Bruch wird idealisiert; es gibt sie nur in der Vorstellung oder Erinnerung der reaktionären Personen; in der Geschichte dagegen hat sie nie real existiert. »Reaktionär« meint deshalb nicht dasselbe wie »konservativ«. Im Gegensatz zur Reaktionärin will die Konservative den jetzigen Zustand vor Veränderungen bewahren: Das Bestehende, Traditionelle soll weiter auf dieselbe Art und Weise existieren. Die Reaktionärin dagegen nimmt die Gegenwart als Verschlechterung der idealisierten Vergangenheit wahr. Sie »sees the past in all its’s splendor«92 und sie ist »firmly in the grip of historical imaginings«93 , wie Lilla sagt. Die Ausstellung Scanning Sethos ist, wie wir sehen werden, in mindestens zwei Punkten reaktionär: 1. Sie reproduziert den Mythos des Entdeckers, dem ein aus heutiger Sicht reaktionäres Männlichkeitsideal und ein reaktionärer Blick auf die Geschichte der Ägyptologie immanent sind. 2. Sie greift auf ein 200-jähriges Ausstellungskonzept und eine ebenso alte Inszenierung zurück, anstatt sich mit einer zeitgemäßen Präsentation der neuesten Technik auseinanderzusetzen.
90 91 92 93
Bignasca, Andrea: »Vorwort«, in: Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig (Hg.): Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes, Basel 2017, S. 4-5, hier S. 4. Vgl. zum Folgenden Lilla, Mark: The Shipwrecked Mind. On Political Reaction, New York 2016, S. ix–xxi. Ebd., S. xiii. Ebd., S. xii.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Dieser Rückgriff auf die Ursprünge des Mythos ist die sechste Facette des Mythos Ägypten in Ausstellungen. Doch nicht allein die Präsentation der neuesten Technik im Rahmen einer reaktionären Inszenierung untergräbt das Heilsversprechen der Technik, das beschädigte Original durch ein Faksimile, das besser ist als das Original, zu ersetzen und damit den nächsten Schritt in der Ausstellung des Alten Ägypten zu machen. Die Aufklärung durch technologische Reproduzierbarkeit schlägt um in Obskurantismus, weil die Technik nicht als Mittel zum Zweck behandelt, sondern zum Selbstzweck stilisiert wird. Sie erhält in der Ausstellung eine magische Qualität und wird damit selbst mythisch. Diese Mythisierung der Technik ist neben den beiden reaktionären Elementen der dritte Fokus der folgenden Analyse.
3.1
Der reaktionäre Mythos des Entdeckers
In der Ausstellung Scanning Sethos geht es nicht um Sethos I., sondern um die Rezeption und Aneignung seines Grabes durch westliche Entdecker, Gelehrte, Touristen, Ägyptologen und Techniker, die Sethos abzeichneten, abklatschten, abpausten, aushämmerten- und hebelten und neuerdings scannen. Am Anfang dieser langen Reihe von Invasoren des Grabes steht Giovanni Battista Belzoni, Entdecker des Grabes, Entrepreneur und vor allem Opportunist. Ihm wird in dieser Ausstellung besondere Aufmerksamkeit zuteil: Er ist der eigentliche Protagonist der Ausstellung, derjenige, der den Besucherinnen auf ihrem Rundgang durch die Ausstellung – direkt oder indirekt – immer wieder begegnen wird. Im ersten Raum, der auf die Ausstellung einstimmen soll, wird die Besucherin mit Bildern aus Belzonis eigenen Publikationen überflutet. Dabei handelt es sich um Lithografien aus den beiden Bildbänden, die begleitend zu seinem Reisebericht erschienen sind.94 Ägyptische Wüstenlandschaften, in denen sich Ruinen erheben, zieren, vielfach vergrößert, als Wandbilder die gesamten vier Wände des Raumes. Darüber hinaus bedeckt ein Orientteppich den Boden. Die Besucherin soll in diesem Raum eingestimmt werden auf ein Ägypten des 19. Jahrhunderts. Orientteppich und Ruinenbilder wecken Assoziationen mit diesem vergangenen Ägypten: exotisch, unberührt, orientalisch, östlich, wild, geheimnisvoll. Der Besucherin werden in demselben Raum weitere Bilder gezeigt, die Belzoni bei der Ausübung seiner verschiedenen Berufe darstellen: Allesamt zeigen sie einen großen, kräftigen Mann mit mächtigem schwarzem Bart in der Blüte seiner Jahre. Seine Körperkraft wird durch ein
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Vgl. Belzoni: Narrative, a.a.O.; Vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Plates Illustrative of the Researches and Operations of G. Belzoni in Egypt and Nubia., London 1820; Vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Six New Plates Illustrative of the Researches and Operations of G. Belzoni in Egypt and Nubia, London 1822.
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Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Dieser Rückgriff auf die Ursprünge des Mythos ist die sechste Facette des Mythos Ägypten in Ausstellungen. Doch nicht allein die Präsentation der neuesten Technik im Rahmen einer reaktionären Inszenierung untergräbt das Heilsversprechen der Technik, das beschädigte Original durch ein Faksimile, das besser ist als das Original, zu ersetzen und damit den nächsten Schritt in der Ausstellung des Alten Ägypten zu machen. Die Aufklärung durch technologische Reproduzierbarkeit schlägt um in Obskurantismus, weil die Technik nicht als Mittel zum Zweck behandelt, sondern zum Selbstzweck stilisiert wird. Sie erhält in der Ausstellung eine magische Qualität und wird damit selbst mythisch. Diese Mythisierung der Technik ist neben den beiden reaktionären Elementen der dritte Fokus der folgenden Analyse.
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Der reaktionäre Mythos des Entdeckers
In der Ausstellung Scanning Sethos geht es nicht um Sethos I., sondern um die Rezeption und Aneignung seines Grabes durch westliche Entdecker, Gelehrte, Touristen, Ägyptologen und Techniker, die Sethos abzeichneten, abklatschten, abpausten, aushämmerten- und hebelten und neuerdings scannen. Am Anfang dieser langen Reihe von Invasoren des Grabes steht Giovanni Battista Belzoni, Entdecker des Grabes, Entrepreneur und vor allem Opportunist. Ihm wird in dieser Ausstellung besondere Aufmerksamkeit zuteil: Er ist der eigentliche Protagonist der Ausstellung, derjenige, der den Besucherinnen auf ihrem Rundgang durch die Ausstellung – direkt oder indirekt – immer wieder begegnen wird. Im ersten Raum, der auf die Ausstellung einstimmen soll, wird die Besucherin mit Bildern aus Belzonis eigenen Publikationen überflutet. Dabei handelt es sich um Lithografien aus den beiden Bildbänden, die begleitend zu seinem Reisebericht erschienen sind.94 Ägyptische Wüstenlandschaften, in denen sich Ruinen erheben, zieren, vielfach vergrößert, als Wandbilder die gesamten vier Wände des Raumes. Darüber hinaus bedeckt ein Orientteppich den Boden. Die Besucherin soll in diesem Raum eingestimmt werden auf ein Ägypten des 19. Jahrhunderts. Orientteppich und Ruinenbilder wecken Assoziationen mit diesem vergangenen Ägypten: exotisch, unberührt, orientalisch, östlich, wild, geheimnisvoll. Der Besucherin werden in demselben Raum weitere Bilder gezeigt, die Belzoni bei der Ausübung seiner verschiedenen Berufe darstellen: Allesamt zeigen sie einen großen, kräftigen Mann mit mächtigem schwarzem Bart in der Blüte seiner Jahre. Seine Körperkraft wird durch ein
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Vgl. Belzoni: Narrative, a.a.O.; Vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Plates Illustrative of the Researches and Operations of G. Belzoni in Egypt and Nubia., London 1820; Vgl. Belzoni, Giovanni Battista: Six New Plates Illustrative of the Researches and Operations of G. Belzoni in Egypt and Nubia, London 1822.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Bild aus Zirkustagen bezeugt, auf dem er mehrere Menschen gleichzeitig hochhebt. Neben Belzoni zieren auch Salt, Drovetti – Belzonis Nemesis –, der Pascha Mohammed Ali und der Schweizer Reisende Johann Ludwig Burckhardt die Wände des Einstimmungsraumes. Ihre Porträts hängen, einer Ahnengalerie gleich, nebeneinander in einer Reihe und zeigen die Personen, die um das Jahr 1817 mit Belzoni zu tun hatten und damit indirekt zur Entdeckung des Grabes beigetragen haben. Die meisten Bilder des Ausstellungsraumes zeigen Belzoni als Entdecker ägyptischer Altertümer. Auch sie stammen aus den Bildbänden seines Reiseberichts. Belzoni gilt nicht nur als Entdecker des Grabes Sethos I. und des Eingangs zur Chephren-Pyramide, sondern auch als Bezwinger des Memnon Kopfes, einer Büste Ramses II., die er quer durch die Wüste ziehen ließ, um sie nach England zu verschiffen. In seinem autobiographischen Reisebericht stellt er sich – in Wort und Bild – als Einzelkämpfer, Abenteurer und Entdecker dar und genauso wird er auch in der Ausstellung Scanning Sethos inszeniert. Scanning Sethos reproduziert die Selbstinszenierung Belzonis als Entdecker und evoziert so den Mythos des Entdeckers, dem der gleiche Mechanismus wie dem Mythos Ägypten zugrunde liegt und der mit der Ägyptomanie eng verwoben ist. Bezeichnend dafür ist ein Porträt Belzonis, das auf dem Frontispiz seines Reiseberichts erschien, und das ebenfalls als Exponat im Einstimmungsraum den Besucherinnen präsentiert wird, aber auch die anderen, oben beschriebenen Bilder Belzonis, die ihn bei seinen Aktivitäten in Ägypten zeigen (Abbildung 17). Analysieren wir dieses Porträt aus unserer kultursemiotischen Perspektive so sehen wir, dass Belzoni hier die Rolle des Entdeckers einnimmt. Das heißt, dass die historische Person Belzoni im Mythossystem des Entdeckers die Stelle der Form einnimmt; ihr eigentlicher Sinn wird entleert. Formelemente sind Belzonis äußerliche Merkmale, die vor allem auf dem Porträt gut zur Geltung kommen: seine Größe und kräftige Statur, sein massiver Bart, sein Turban und seine ägyptische Kleidung sowie seine lange schmale Pfeife, die er in der linken Hand hält. Kleidung und die Form der Pfeife weisen darauf hin, dass sich die dargestellte Person in einem muslimisch geprägten Land aufhält. Auch der Hintergrund des Bildes enthält wichtige Formelemente, die nähere Hinweise auf den Aufenthaltsort der Person geben: Belzoni lehnt mit der linken Seite an einem Steinblock, auf dem Hieroglyphen zu sehen sind. Im Hintergrund erkennt man Palmen und eine Pyramide, auf deren Eingang Belzoni mit dem Zeigefinger der rechten Hand zu deuten scheint. Pyramide, Hieroglyphen und Palmen können sofort mit dem Alten Ägypten assoziiert werden. Die Betrachterin weiß mit einem Blick auf den Hintergrund des Bildes, dass sich die Person im Bild in Ägypten befindet. Die Assoziationen, die Belzoni, der Entdecker, beim Betrachten des Porträts evoziert, können lauten: stark, männlich, draufgängerisch, mutig, abenteuerlustig, frei, ungebunden, weltgewannt, er sucht Schätze des Alten Ägypten und lüftet die Geheimnisse des Alten Ägypten. Der Mythos Entdecker präsentiert den Entdecker als »echten« und »richtigen« Mann,
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Abbildung 17: Blick in den ersten Ausstellungsraum von Scanning Sethos. Porträt Belzonis vorne rechts im Bild.
© Oscar Parasiego for Factum Foundation.
der aus heutiger Sicht einem klassischen aber mittlerweile antiquierten und daher reaktionären Männlichkeitsideal entspricht.95 Der »echte Mann« verfügt dem Mythos entsprechend über ein stattliches Äußeres und folglich über die nötige Körperkraft, um anpacken und sich wehren zu können. Deshalb redet er nicht lange, sondern handelt; er scheut keine Gefahren. Als Mann von Welt findet er sich in jeder Kultur zurecht und nimmt sich das, was er will, wie zum Beispiel Schätze und Geheimnisse. In Ägypten ist der Entdecker nicht den Regeln und Gesetzen der westlichen Welt unterworfen, das zeigt er durch seine Kleidung, die denen der Einheimischen angepasst ist, und die Verwendung einer typisch orientalischen Pfeife. Der Entdeckermythos entspringt einer nostalgischen, gar reaktionären Denkweise. Das dem Entdeckermythos aus heutiger Sicht immanente, reaktionäre Männlichkeitsideal speist sich aus einer idealisierten Vorstellung von der Vergangenheit, die jenseits eines Bruches gesucht wird, vor dem vermeintlich alles besser war. Solch
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Die historische Person Belzoni wird hier keineswegs als reaktionär bezeichnet, sondern deren Inszenierung als Entdecker, der ein aus heutiger Sicht reaktionäres Männlichkeitsideal immanent ist.
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
ein einzelner Bruch ist aber beim reaktionären Mythos des Entdeckers nicht auszumachen; vielmehr handelt es sich dabei um Entwicklungen, die das reaktionäre Denken als mehrere kleine Brüche wahrnehmen müsste. 1. Der erste Bruch ist mit der Entzifferung der Hieroglyphen eingetreten, die gleichzeitig die Geburtsstunde der Ägyptologie bedeutete. Der Bruch besteht in der offiziellen Trennung zwischen populärer und wissenschaftlicher Ägyptenrezeption und der damit einhergehenden Herausbildung eines Faches, dem gewisse Konventionen eigen sind und dem damit verbundenen Expertenwissen. Belzoni agierte in einer prä-ägyptologischen Zeit, in einer Zeit vor der Übersetzung der Hieroglyphen. Deshalb war er von den Konventionen der Ägyptologie noch frei und hatte Zugang zu den archäologischen Stätten Ägyptens, der später den ausgebildeten Ägyptologen vorbehalten war. 2. Der zweite Bruch tritt mit dem ersten Gesetz zum Schutz der Altertümer Ägyptens ein, das die Plünderung und Ausfuhr ägyptischer Altertümer beschränken sollte. Die Welt des Entdeckers, der frei von Konventionen und Gesetzen agieren konnte, wird damit eingeschränkt. In Zusammenhang mit diesem Bruch ist auch die Etablierung der Antikenverwaltung zu verstehen, die ebenfalls zum Schutz der Altertümer eingerichtet wurde und das freie Walten und Schalten des Entdeckers in Ägypten weiter einschränkte. Es gab neuerdings Regeln, an die sich die Entdecker zu halten hatten, die es zu Belzonis Zeiten nicht gab. Belzoni betrieb die sogenannte Brechstangenarchäologie in einer Zeit vor standardisierten archäologischen Methoden. 3. Die Fundteilung, bei der die Hälfte der Funde in Ägypten blieb und die andere Hälfte vom Entdecker ausgeführt werden durfte, ermöglichte es weiterhin, Altertümer von Grabungen aus Ägypten nach Europa auszuführen. Der Fund Tutanchamuns markiert allerdings das Ende dieser Übereinkunft und wurde zu einem Präzedenzfall im Ringen Ägyptens, die Kolonialmacht England abzuschütteln. Während Belzoni in den 1810er und 1820er Jahren stellvertretend für die Anfänge des klassischen Entdeckers in Ägypten steht, kann Howard Carter circa 100 Jahre später als letzter Mann gelten, der dem Entdeckermythos gerecht wird.96 Auch er ist, wie Belzoni, jemand, der beinahe zufällig zum Entdecker wurde und einen großartigen Fund in Ägypten machen konnte. Beide, Belzoni und Carter, sind Identifikationsfiguren, die auf Grund ihrer Biografien zu Projektionsflächen werden, auf die die Besucherinnen von Ägyptenaus-
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Auch Wilkinson redet von einem Goldenen Zeitalter der Forscher und der Abenteurer, in dem die großen Entdeckungen gemacht wurden. Es dauerte, nach Wilkinson, über 100 Jahre an; von 1822 bis 1922. Er lässt es mit Carters Fund des Tutanchamun enden. Vgl. dazu Wilkinson: A World Beneath the Sands. Adventurers and Archaeologists in the Golden Age of Egyptology, a.a.O., S. 1-2.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
stellungen ihre Wünsche und Träume projizieren können. Belzoni und Carter haben außerdem gemeinsam, dass sie beide eine populäre Publikation ihrer Entdeckungen verfassten, die sich nicht an ein akademisches Publikum, sondern an eine breite Öffentlichkeit richtete. Beide haben also die vermeintlichen Geheimnisse, die sie in Ägypten gelüftet haben, mit einer breiten Öffentlichkeit geteilt. Zusammen markieren die drei Brüche das Ende der von Konventionen freien Abenteurer und Entdecker, die sich nicht um wissenschaftliche Standards, Rechte der einheimischen Bevölkerung und Eigentumsverhältnisse in Bezug auf die Altertümer sorgen mussten. In der Glorifizierung der Epoche vor diesen Brüchen zeigt sich das Reaktionäre am Mythos des Entdeckers: die erwünschte Rückkehr zu einem Zustand vor allen Regeln und ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf andere Interessen. Eine Rückkehr zu einem einfacheren Zustand, in dem nicht Diplomatie und Wissenschaft regierten, sondern der Mann der Tat – der Entdecker. Bevor wir der weiteren Inszenierung der Ausstellung folgen, werfen wir einen vertiefenden Blick auf die Figur des Entdeckers im 21. Jahrhundert. Dabei konzentrieren wir uns weiterhin auf Belzoni, der 2017 nicht nur in Basel eine Wiedergeburt erlebte.
3.1.1
Exkurs: Die Inszenierung des Entdeckers – Der Entdeckermythos, ein Zeichen für eine Krise der Männlichkeit?
Das Jahr 2017, welches das 200-jährige Fundjubiläum des Grabes von Sethos I. durch Belzoni im Tal der Könige markiert, gab nicht nur den Anlass zur Scanning Sethos Ausstellung im Antikenmuseum Basel, sondern auch zu einer Ausstellung im Sir John Soaneʼs Museum in London: Egypt Uncovered: Belzoni and the Tomb of Pharao Seti I. Das Museum besitzt den Alabastersarkophag Sethos I., den John Soane – der Gründer der Sammlung, aus der das nach ihm benannte Museum entstand – 1824 ankaufte. Seit dieser Zeit ist der Sarkophag das Prunkstück der Sammlung. Ein guter Grund also, das Jubiläum der Entdeckung des Grabes und des Sarkophags von Sethos I. mit einer Ausstellung zu würdigen. Anders als in der Basler Ausstellung wird in der Londoner Ausstellung nicht die Geschichte des Grabes, sondern die 200-jährige Geschichte des Sarkophags erzählt. Auch Factum Foundation ist an der Ausstellung beteiligt, in der ein neuer, hochauflösender 3D-Scan des Sarkophags präsentiert wird. Während London aber den originalen Sarkophag präsentiert und dessen digitalisierte Daten zeigt, zeigt Basel das Faksimile des Sarkophags, das seinen Ursprung in der Digitalisierung des Originals hat. Der Protagonist ist in beiden Ausstellungen derselbe: Giovanni Battista Belzoni. Später tritt in London Sir John Soane hinzu, während Soane auch in Basel als Sammler und Besitzer des Sarkophags Sethos I. thematisiert wird. Machte Belzoni 1821 eine Sethos Ausstellung für
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die Londoner, so veranstaltete John Soane Sarkophag-Partys für ausgewählte Gäste. Während dieser Partys mit insgesamt 890 Gästen wurden Kerzen in die Sargwanne gestellt.97 Da der Alabaster, aus dem der Sarkophag besteht, durchscheinend ist, konnten die Besucherinnen den Kerzenschein von außen sehen. Im Programm der Ausstellung von 2017 sind ebenfalls solche Kerzenschein-Führungen zu buchen, während denen der Sarkophag tatsächlich wieder von innen beleuchtet wird; alle übrigen Lichter im Museum werden gelöscht. Außerdem wurden während beider Ausstellungen, sowohl während der Sethos Ausstellung in Basel als auch während der Ausstellung Egypt Uncovered: Belzoni and the Tomb of Pharao Seti I. in London, exklusive Kostümführungen angeboten, bei denen die Besucherinnen von einem Belzoni-Imitator durch die Ausstellung geführt wurden. Dieser Schauspieler trägt wie Belzoni Bart und Turban und führt die Besucherinnen mit Öllampe und im Kerzenschein durch die sonst abgedunkelte Ausstellung. Einen weiteren Fall einer solchen Kostümführung konnte man während der Ausstellung Ramses. Göttlicher Herrscher am Nil, die ebenfalls 2017 stattfand, im Landesmuseum in Karlsruhe beobachten. Dort ging es primär um Pharao Ramses II.; da dessen Büste aber durch Belzoni in das British Museum gelangte und es Belzoni war, der Abu Simbel, einen Tempel Ramses II., von Sand freilegen ließ, wurde abermals auf Belzoni zurückgegriffen. Belzoni wird für die unterschiedlichen Ausstellungs-Sujets instrumentalisiert: Die Ramses-Ausstellung wirbt mit ihm als Ausgräber der Tempel von Abu Simbel und Karnak, von denen Ramses ganz oder teilweise Bauherr war, verliert aber kein Wort zum Grab Sethos I. Die Basler Ausstellung dagegen konzentriert sich vollkommen auf Belzoni als Entdecker des Grabes von Sethos I. Alle drei Ausstellungen haben aber nicht nur das Ausstellungjahr 2017 und den Bezug zu Belzoni gemeinsam, sondern auch, dass sie Belzoni als Entdecker inszenieren und damit den Entdeckermythos evozieren. Das geschieht nicht nur durch die Ausstellungsinszenierung, sondern auch durch Führungen, in denen Belzoni-Imitatoren die Besucherinnen durch die Ausstellung führen. Es ist auffallend, dass Belzoni in den letzten Jahren eine Rückkehr ins Rampenlicht erlebte, die allein mit dem Umstand, dass 2017 das Fundjubiläum des Grabes Sethos I. stattfand, nicht zu erklären ist. Belzoni, der, wie wir gesehen haben, der Gründervater der Ägyptenausstellung ist, inszenierte sich am Tag der Eröffnung seiner Ausstellung für das Publikum als Mumie. Die heutigen Ausstellungen inszenieren Belzoni als Entdecker. Wir haben gesehen, dass Belzoni in der Rolle des Entdeckers als Projektionsfläche fungiert, auf die die Besucherinnen ihre Wünsche und Träume projizieren, die sich auch um klassische Assoziationen mit dem Alten Ägypten gruppieren, wie den Schatz oder das Lüften von Geheimnissen. Deshalb 97
Vgl. Dorey, Helen: »Sir John Soane’s Reception of the Sarcophagus of Seti I«, in: Taylor, John H.: Sir John Soane’s Greatest Treasure. The Sarcophagus of Seti I, London 2017, S. 84-91.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
ist der Mythos des Entdeckers eng mit dem Mythos Ägypten verknüpft, sogar als Teil von ihm aufzufassen. Die Besucherinnen können sich in der Ausstellung mit Belzoni als Entdecker identifizieren und sich auf dem Rundgang durch die Ausstellungsräume selbst wie ein Entdecker fühlen, der verborgene Schätze findet und ägyptische Geheimnisse lüftet. Wir haben gesehen, dass Belzoni als entleerte Form des Entdeckermythos Assoziationen weckt, die einem aus heutiger Sicht reaktionären Männlichkeitsideal entsprechen. Es speist sich aus einer nostalgischen Denkweise, die an eine idealisierte vor-ägyptologische Vergangenheit anknüpft, in der der Entdecker seine ihm zugeschriebenen Charaktereigenschaften noch ausleben durfte. Ist also die Rückkehr zum Entdecker mit seinem ihm immanenten reaktionären Männlichkeitsideal ein Zeichen für eine Krise der Männlichkeit im Zuge der Emanzipation der Frau, der Aufhebung der klassischen Rollenverteilung der Geschlechter und der im Jahr der Jubiläums-Ausstellung gerade Fahrt aufnehmenden #MeToo-Bewegung? Damit wäre die Figur des Entdeckers ein Zeichen für ein reaktionäres Gesellschaftsbild, in der sich Nostalgie nach einer idealisierten Vergangenheit, in der die Geschlechterrollen noch klassisch verteilt waren, ausdrückt.
3.2
Die reaktionäre Inszenierung von Scanning Sethos
Nach dem Einstimmungsraum, in dem Belzoni als Entdecker inszeniert wird, tritt die Besucherin in den nächsten Ausstellungsraum, in dem das Grab Sethos I. im Kontext seiner Fund- und Rezeptionsgeschichte in Szene gesetzt wird.98 Das Konzept der Basler Ausstellung folgt hier unverändert Belzonis Ausstellungskonzept von 1821. Auch die Inszenierung entspricht weitgehend derjenigen, mit der Belzoni arbeitete, um seinen Besucherinnen einen Einblick in das Grab Sethos I. im Besonderen und in die altägyptische Kultur im Allgemeinen zu bieten. Thomas Hoving, Direktor des Met in den 1970er Jahren, bezeichnete Howard Carter als den Kurator seiner Treasures of Tutankhamun Ausstellung und sagte, dass er sich an dessen Instruktionen halte, um »any contemporary theory about how the things should be grouped and ordered« zu vermeiden.99 Im gleichen Sinne kann auch Belzoni als Kurator und Designer der Basler Ausstellung Scanning Sethos begriffen werden. Denn orientierten sich die Ausstellungsmacherinnen im Einstimmungsraum noch an Belzonis Selbstinszenierung in seinem Reisebericht Narrative, so nehmen sie 98
99
Für die Perspektive eines Museum-Designers auf die Inszenierung vgl. Markovitz, Bryan: »Verum Factum Arte: Scanning Seti and the Afterlife of a Pharaonic Tomb«, in: Lowe, Adam u.a. (Hg.): The Aura in the Age of Digital Materiality. Rethinking Preservation in the Shadow of an Uncertain Future, Mailand 2020, S. 269-279. »Memorandum Thomas Hoving to Kevin Roche«, 22.12.1975, Box 1, Folder 11, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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ist der Mythos des Entdeckers eng mit dem Mythos Ägypten verknüpft, sogar als Teil von ihm aufzufassen. Die Besucherinnen können sich in der Ausstellung mit Belzoni als Entdecker identifizieren und sich auf dem Rundgang durch die Ausstellungsräume selbst wie ein Entdecker fühlen, der verborgene Schätze findet und ägyptische Geheimnisse lüftet. Wir haben gesehen, dass Belzoni als entleerte Form des Entdeckermythos Assoziationen weckt, die einem aus heutiger Sicht reaktionären Männlichkeitsideal entsprechen. Es speist sich aus einer nostalgischen Denkweise, die an eine idealisierte vor-ägyptologische Vergangenheit anknüpft, in der der Entdecker seine ihm zugeschriebenen Charaktereigenschaften noch ausleben durfte. Ist also die Rückkehr zum Entdecker mit seinem ihm immanenten reaktionären Männlichkeitsideal ein Zeichen für eine Krise der Männlichkeit im Zuge der Emanzipation der Frau, der Aufhebung der klassischen Rollenverteilung der Geschlechter und der im Jahr der Jubiläums-Ausstellung gerade Fahrt aufnehmenden #MeToo-Bewegung? Damit wäre die Figur des Entdeckers ein Zeichen für ein reaktionäres Gesellschaftsbild, in der sich Nostalgie nach einer idealisierten Vergangenheit, in der die Geschlechterrollen noch klassisch verteilt waren, ausdrückt.
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Die reaktionäre Inszenierung von Scanning Sethos
Nach dem Einstimmungsraum, in dem Belzoni als Entdecker inszeniert wird, tritt die Besucherin in den nächsten Ausstellungsraum, in dem das Grab Sethos I. im Kontext seiner Fund- und Rezeptionsgeschichte in Szene gesetzt wird.98 Das Konzept der Basler Ausstellung folgt hier unverändert Belzonis Ausstellungskonzept von 1821. Auch die Inszenierung entspricht weitgehend derjenigen, mit der Belzoni arbeitete, um seinen Besucherinnen einen Einblick in das Grab Sethos I. im Besonderen und in die altägyptische Kultur im Allgemeinen zu bieten. Thomas Hoving, Direktor des Met in den 1970er Jahren, bezeichnete Howard Carter als den Kurator seiner Treasures of Tutankhamun Ausstellung und sagte, dass er sich an dessen Instruktionen halte, um »any contemporary theory about how the things should be grouped and ordered« zu vermeiden.99 Im gleichen Sinne kann auch Belzoni als Kurator und Designer der Basler Ausstellung Scanning Sethos begriffen werden. Denn orientierten sich die Ausstellungsmacherinnen im Einstimmungsraum noch an Belzonis Selbstinszenierung in seinem Reisebericht Narrative, so nehmen sie 98
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Für die Perspektive eines Museum-Designers auf die Inszenierung vgl. Markovitz, Bryan: »Verum Factum Arte: Scanning Seti and the Afterlife of a Pharaonic Tomb«, in: Lowe, Adam u.a. (Hg.): The Aura in the Age of Digital Materiality. Rethinking Preservation in the Shadow of an Uncertain Future, Mailand 2020, S. 269-279. »Memorandum Thomas Hoving to Kevin Roche«, 22.12.1975, Box 1, Folder 11, Irvine McManus records related to »Treasures of Tutankhamun« exhibition, The Metropolitan Museum of Art Archives, New York.
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sich für die Inszenierung im zweiten Raum ein weiteres Werk Belzonis, die Begleitpublikation zu seiner Ausstellung von 1821 mit dem Titel Description of the Egyptian Tomb Discovered by G. Belzoni, zum Vorbild.100 In dieser Publikation gibt Belzoni genaue Anweisungen für die Besucherinnen seiner Ausstellung und schildert seine Gründe für die Ausstellungsinszenierung. Die Basler Ausstellung orientiert sich konzeptuell und inszenatorisch an Belzonis Ausstellung. Das bedeutet: Sie orientiert sich an einer vor-ägyptologischen Inszenierung, anstatt sich mit zeitgenössischen Standards auseinanderzusetzen und ist aufgrund dessen als reaktionär zu bezeichnen. Es wird so getan, als hätte in der 200-jährigen Geschichte der Ägyptenausstellung seit Belzoni, mit Ausnahme des technologischen Fortschritts, keinerlei Entwicklung stattgefunden. Sowohl das Ausstellungskonzept als auch die Inszenierung, die im Jahr 1821 noch revolutionär waren, sind im Jahr 2017 reaktionär. Im Rahmen dieser reaktionären Ausstellungsinszenierung wird nicht nur der Entdeckermythos evoziert, sondern, wie wir im Folgenden sehen werden, auch der Mythos Ägypten reproduziert samt dem ihn möglicherweise begleitenden Gefühl des Unheimlichen. Während der Einstimmungsraum noch hell erleuchtet war, tritt die Besucherin nun in einen Raum, in dem es erstens sehr dunkel ist und der zweitens in Grau- und Schwarztönen gehalten ist. Der Übergang aus dem hellen Einstimmungsraum in den dunklen Raum, der das Grab thematisiert, ist ein Mittel der Inszenierung und symbolisiert den Übertritt der Besucherinnen in eine andere Sphäre: Aus der Wüste Ägyptens, dem hellen Einstimmungsraum, tritt sie in das düstere Reich des Todes, das ägyptische Grab ein. Die Augen müssen sich dementsprechend erst an die Dunkelheit des zweiten Raumes gewöhnen. Die Dunkelheit soll eine Grabesatmosphäre erzeugen. Die Dunkelheit ist, so haben wir bereits gelernt, sowohl ein Mittel der Inszenierung der Ausstellung als auch eine Form des Mythos. Sie ruft Assoziationen hervor, die sich allesamt um den Themenkomplex ägyptisches Grab bewegen: Tod und Todesfixiertheit, Geheimwissen, Geheimnis, Unsterblichkeit, Fluch und Magie. Auch durch die übrige Inszenierung des Raumes wird den Besucherinnen eine Grabesatmosphäre suggeriert: Die Besucherinnen stoßen auf eine Mauer, die sich als Raumtrenner entpuppt, durch den der Blick in den Raum eingeschränkt wird, und der die Besucherin nach rechts leitet. Der dadurch entstandene verwinkelte Weg deutet auf die Enge und Verwinkelungen im Grab Sethos I. hin, das aus einer Abfolge von Treppen, Räumen und Korridoren besteht. Die Besucherinnen werden durch den Mangel an Licht und den verwinkelten Weg eingestimmt auf den Gang ins Grab. In diesem Raum, auf der anderen Seite der Trennwand, befindet sich ein Modell des gesamten Grabes Sethos I. Das Modell ist in der Mitte der Länge nach geteilt, so dass sich zwei Längsschnitte ergeben, die rechts und links einen Gang säumen. Die Besucherinnen können in der Mitte entlang der Längsschnitte 100 Vgl. Belzoni: Narrative, a.a.O.; Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
laufen und Einsicht in die verschiedenen Räume des Modell-Grabes gewinnen, die wie das Original bemalt sind. Der Grabeingang befindet sich etwa auf Schulterhöhe und die Sargkammer auf Hüfthöhe der Besucherinnen (Abbildung 18). Wir erinnern uns, dass bereits Belzoni in seiner Londoner Ausstellung 1821 ein Modell des Grabes Sethos I. ausstellte, um den Besucherinnen einen Überblick über den Aufbau des Grabes zu vermitteln.101 Belzonis Wunsch war es, dass sich die Besucherinnen vor der Besichtigung der beiden Grabkammern zuerst das Modell im Maßstab 1:6 anschauen sollten. Aus Platzmangel konnte er damals das Modell in der Ausstellung aber nicht direkt vor die Kopien der Grabkammern platzieren, sondern musste es im zweiten Stock präsentieren.102 200 Jahre später kann Belzonis ursprüngliche Idee der Inszenierung in Scanning Sethos so ausgeführt werden, wie er es sich erdacht hatte: Das Modell wird gezeigt, bevor man das Faksimile betritt. Wie in Belzonis Ausstellung soll das Modell der Basler Ausstellung einen Gesamteindruck des Originals vermitteln, aber leider fehlt bei diesem Modell die Angabe des Maßstabs. Durch die Längsschnitte, die die Besucherin auf beiden Seiten flankieren, entsteht ein Korridor, der in einer Fluchtlinie auf den Eingang des Grabes, hinter dem sich das Faksimile der Hall of Beauties verbirgt, hinführt. Auch dieser Korridor, der auf den verwinkelten Weg der Besucherin folgt, den sie zuerst zurücklegen musste, suggeriert den Aufbau eines ägyptischen Grabes. Durch die bereits besprochene Dunkelheit und die Wegleitung der Besucherinnen, die den Gang ins Grab vorgibt, werden eine Grabesatmosphäre und Assoziationen wie Geheimnis und Tod hervorgerufen. Die Besucherin kann sich außerdem selbst wie ein Entdecker fühlen, der dabei ist, die Geheimnisse des Grabes zu lüften. Die Besucherinnen werden entlang des Korridors geleitet, der vor einem riesigen Vorhang endet, der den Grabraum dahinter verhüllt. Der Vorhang ist zweigeteilt und es ist der Besucherin möglich, ihn in der Mitte mit Hilfe beider Hände zu öffnen, um in den nächsten Raum einzutreten. Auf den Vorhang ist das Bild eines idealisierten Grabeingangs des Grabes von Sethos I. aufgedruckt, der ursprünglich der Fantasie Belzonis entsprungen ist (Abbildung 18). Wir sind bereits im ersten Kapitel auf diesen Grabeingang gestoßen: peripatetic placards, die wandelnden Werbeträger, machten mit Hilfe dieses Bildes Werbung für Belzonis Ausstellung in London 1821 (Abbildung 4). Hier treffen wir abermals auf den von Belzoni kreierten Grabeingang. Nur diesmal befindet sich das Bild des idealisierten Grabeingangs nicht auf einem Werbeplakat, das durch die Straßen Londons im 19. Jahrhundert getragen wird, sondern in einer 200 Jahre später stattfindenden Ägyptenausstellung in Basel. Das idealisierte Bild des Grabeingangs wurde hier von der Plakatgröße auf eine Höhe von etwa drei Meter gestreckt und imitiert durch die Größe einen tatsächlichen Grabeingang, durch den die Besucherinnen 101 Vgl. Belzoni: Description of the Egyptian Tomb, a.a.O., S. 10, 13-14. 102 Vgl. Ebd., S. 11.
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Abbildung 18: Blick auf die Inszenierung des Vorhangs, der Belzonis Entwurf des Grabeingangs Sethos I. zeigt. Im Vordergrund: Modell des Grabes Sethos I.
© Oak Taylor Smith for Factum Foundation.
in das Grab-Faksimile der Ausstellung eintreten können. Oder anders formuliert: Die Besucherinnen treten durch die vergrößerte Kopie eines fiktiven, idealisierten Bildes eines Grabeingangs in das Faksimile einer real existierenden Grabkammer ein: die Hall of Beauties. Belzoni entwarf einen idealisierten Grabeingang des Sethos Grabes, da das Original an dieser Stelle keinerlei Dekorationen aufweist und so weder damals noch heute den Erwartungen der Besucherinnen an ein ägyptisches Grab entspricht. Dieser idealisierte Grabeingang wird in der Ausstellung von 2017 wiederverwertet, und zwar nicht als Werbebild, sondern als tatsächlicher Eingang ins Grab. Das heißt, der imaginierte Eingang zum Grab Sethos I. wird zum realen Eingang in das Faksimile des Grabes im Antikenmuseum. Dass auf den Vorhang als imaginären Grabeingang hingewiesen wird, ändert nichts an den Assoziationsverknüpfungen der Besucherinnen, die sich hier ergeben. Der Mythos Ägypten vollzieht sich in einem Augenblick, eine Erklärung kann ihn nicht demontieren. So werden an dieser Stelle der Ausstellung durch die Inszenierung des Vorhangs und der Hall of Beauties das Faksimile eines Simulacrums und das Faksimile eines Originals miteinander zu einem neuen Simulacrum kombiniert. Hier verschmelzen das ägyptomanische Ägypten, das Ägypten des Mythos, und das Alte Ägypten miteinander. Der Vorhang ist eine Illusions- und Projektionsfläche für die Asso-
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
ziationsverknüpfungen mit dem Alten Ägypten. Dank seiner Größe erinnert er an monumentale Eingangstore zu altägyptischen Bauten. Der Vorhang ist spotartig beleuchtet, was den Effekt hat, dass seine polychromen Darstellungen betont werden, und dass er in Kontrast zur Dunkelheit des übrigen Raumes steht. Die Dekorationen – Königstitulatur und Maatgöttinnen –, die bunt bemalt sind, zeigen an, dass es sich um ein ägyptisches Grab handelt. Sie säumen den Grabeingang, ein großes, schwarzes Rechteck, das scheinbar ins nichts führt. Der Gang in das Grab, den die Besucherin in der Rolle des Entdeckers, quasi auf den Fußspuren Belzonis, antritt, wird hier suggeriert. Die Besucherin kann außerdem unzählige Dinge – Formen und Motive des Mythos – hinter dem Vorhang imaginieren: Gefahr, geheimes Wissen, Schätze und Mumien. Die Dekorationen und Farbigkeit des Vorhangs evozieren außerdem die Schönheit ägyptischer Kunst, die Hieroglyphen geheimes Wissen und die Größe Monumentalität. Der Stoff des Vorhangs ist hier im wörtlichen Sinne eine Projektionsfläche für die Assoziationsverknüpfungen mit dem Alten Ägypten. Der Vorhang zeugt davon, dass sich an diesen Assoziationen mit dem Alten Ägypten seit der ersten Ägyptenausstellung 1821 nichts geändert hat. Als Mythenproduzent entwarf Belzoni den Grabeingang und warb mit diesem Werbebild für seine Ägyptenausstellung, um potenzielle Besucherinnen anzuziehen. Dieses Bild wird 200 Jahre später in der neuen Sethos Ausstellung für die Besucherinnen unverändert reproduziert. Beide Besucherinnengruppen, die von 1821 und die von 2017, rezipieren als Mythenleserinnen denselben Mythos Ägypten: Als Entdecker ins Grab vorstoßen, in dem noch niemand zuvor war, um ein Geheimnis zu entdecken, Schätze aus Gold und Juwelen zu finden, die Mumie sehen, auf der eventuell ein Fluch liegt, und auf geheimes Wissen stoßen, das die Priester im Grab versteckten. Blicken wir auf den Mythos Ägypten, so können wir hier nicht von einem Fortschritt sprechen; vielmehr sehen wir bloß die Wiederkehr des Gleichen. Teilt die Besucherin nun den Vorhang, so tritt sie tatsächlich in eine der Grabkammern Sethos I., das Faksimile der Hall of Beauties oder Hornungs Raum I. Die Hall of Beauties haben wir bereits als eine der kopierten Kammern in Belzonis Ausstellung 1821 kennengelernt. Damals wie heute befinden sich die Besucherinnen in einer begehbaren Kopie der Grabkammer im Maßstab 1:1, in der sie sich umschauen und aufhalten können. Im Faksimile der Hall of Beauties bedeckt sehr feines polychromes erhabenes Relief die Wände des Raumes. Die Besucherinnen sehen den Pharao Sethos I., der vor verschiedenen Gottheiten betet oder ein Weinopfer darbringt. Die Kammer ist rechteckig und die beiden langen Seiten des Raumes sind beinahe symmetrisch in ihren Darstellungen: der König opfert oder betet auf beiden Seiten vor derselben Gottheit. Insgesamt dreizehnmal wird der König in dieser Kammer dargestellt. Die Decke zeigt gelbe Sterne auf dunkelblauem Grund und öffnet so symbolisch den Weg für den Aufstieg des Verstorbenen zum Himmel.
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Abbildung 19: Faksimile der Hall of Beauties, Zustand 1817.
© Oak Taylor Smith for Factum Foundation.
Die Hall of Beauties ist der Versuch, einen bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte des Grabes wiederherzustellen. Factum Foundation hat die Grabkammer so rekonstruiert wie sie im Jahr 1817 ausgesehen haben könnte (Abbildung 19). Das heißt, die Farben sowie die Reliefs wurden vollständig rekonstruiert. Denn leider fehlen an prominenten Stellen heute teilweise die Reliefs, entweder weil sie von den verschiedenen Expeditionen herausgemeißelt wurden oder weil sie im Laufe der Jahre durch die Touristenströme beschädigt wurden. Belzonis Entdeckerehrgeiz und Unternehmergeist ist es zu verdanken, dass er sehr genaue Aufzeichnungen des Grabes Sethos’ I. machte, die uns überliefert sind und mit Hilfe derer man auf die ursprüngliche Polychromie der Reliefs schließen kann. Belzoni kopierte die Reliefs und Wandmalereien sowie die Hieroglyphen, obwohl sie noch nicht entziffert waren, detailliert, indem er Aquarelle zeichnete sowie Wachsabdrücke der Reliefs nahm. Die Polychromie hat man mit Hilfe jener Aquarelle, die Belzoni, sein Gehilfe Ricci und Konsul Henry Salt vom Grab anfertigten, rekonstruiert.103 Das Original
103 Ob damals wirklich alles genau so ausgesehen hat, ob die Farben dem Original von damals wirklich genau gleichen, bleibt offen, da man, wie gesagt, zur Rekonstruktion nur die Aquarelle Belzonis, Fragmente der Reliefs in Museen und Farbreste der Abgüsse hat. Von daher ist die Hall of Beauties nicht nur eine Rekonstruktion, sondern auch eine Konstruktion.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Abbildung 20: Faksimile der Hall of Beauties, Zustand 2017.
© Oak Taylor Smith for Factum Foundation.
im Erhaltungszustand von 2017 weist leider nur noch wenige und verblasste Farben auf (Abbildung 20). Ziel dieses Faksimiles ist es, dass sich die Besucherin in das Jahr 1817 zurückversetzt fühlt, in genau den Moment, als Belzoni das Grab zum ersten Mal betrat und die Polychromie der Dekorationen zum ersten Mal sah; die Besucherin soll die Entdeckung nacherleben. Die Hall of Beauties ist in dämmrigem Licht gehalten. So wie während Belzonis Ausstellung, der Gaslampen zur Beleuchtung seiner Grabkopien benutzte, erhellt auch hier die Kammer nur spärliche Beleuchtung: die Reliefs werden durch einzelne Spots von unten angestrahlt. Diese reduzierte Beleuchtung soll mit einer Grabesatmosphäre assoziiert werden, an die weitere Assoziationen wie Tod, Jenseits, Geheimnis geknüpft sind. Rechts und links entlang der Wände stehen LED-Kerzen auf dem Boden. Sie haben keinerlei praktischen Nutzen, sondern evozieren die Ausgräberromantik, die mit dem Entdeckermythos einhergeht: Die Besucherinnen sollen sich wie der Entdecker Belzoni fühlen, der lediglich Feuerschein zur Erhellung der Grabkammer zur Verfügung hatte. Durch diese auf Erlebnis und Emotionen fokussierte Inszenierung wird den Besucherinnen suggeriert, dass auch sie – wie Belzoni – mit Hilfe des Kerzenscheins Licht ins Dunkel des Grabes bringen können, um das Geheimnis des Grabes zu lüften und Schätze zu entdecken.
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3.2.1
Tod und Wiedergeburt – Das Unheimliche in der Inszenierung des Pharaonengrabes
Wie wir bereits im zweiten Kapitel festgestellt haben, können einige Formen des Mythos Ägypten Assoziationen auslösen, die vom Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Die Inszenierung des zweigeteilten Vorhangs, der den idealisierten Grabeingang zeigt, kennzeichnet den Zugang zur ersten faksimilierten Grabkammer. Die Besucherinnen müssen diesen Vorhang zunächst teilen, um in das Grab dahinter vorzudringen. Die Formen, Grabeingang und Grab, können mit dem Tod assoziiert werden; allein diese Assoziation kann von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden. Aber auch die Angst davor, lebendig begraben zu werden, kann hervorgerufen werden. Diese Angst hängt nach Freud mit der »Phantasie vom Leben im Mutterleib« zusammen.104 Die Inszenierung des Vorhangs, auf den das Grab folgt, erinnert an die weibliche Anatomie, den Geburtskanal, und damit an den »Eingang zur alten Heimat«105 , den Mutterleib. Diese Assoziation mit dem Mutterleib kann wiederum die Angst auslösen, scheintot begraben zu werden, was nach Freud ein sehr starkes Gefühl des Unheimlichen evoziert, da diese Fantasie vom Leben im Mutterleib aus der Verdrängung zurückkehrt.106 Das unheimliche Gefühl der Vorstellung lebendig begraben zu werden, verbindet, wie wir im Rückgriff auf Binotto bereits festgehalten haben, zwei scheinbar inkommensurable Elemente: Tod und Geburt.107 Diese Verbindung von Tod und Geburt findet nicht nur im Unheimlichen statt, sondern auch im ägyptischen Grab selbst. Das Grab, das als Form des Mythos mit dem Begriff Tod, Ende, Stillstand, Vernichtung assoziiert wird, ist der Ort, an dem die Mumie aufbewahrt wird. Die Mumie ist ein Leichnam, der ebenfalls assoziiert wird mit Tod und Zerfall. Das ägyptische Grab war aber darüber hinaus ein Ort des Lebens im Sinne des Weiterlebens; ein Ort, an dem alles getan wurde, um ein Leben nach dem Tod sicherzustellen und dem Pharao ein Weiterleben im Jenseits zu ermöglichen – daher auch die sich wiederholenden, insgesamt dreizehn Darstellungen des Pharaos, die für die Ägypter eine Versicherung der Fortexistenz nach dem Tod waren. Nach Freud können Doppelgänger, die früher eine positive Konnotation besaßen, aber als »unheimlich[e] Vorboten des Todes« aufgefasst werden.108 Hier sehen wir eine weitere Assoziation des Grabes und seiner Dekoration mit dem Tod. Das Gefühl des Unheimlichen begleitet diese Assoziation, wenn man die Doppelgänger als Vorboten des Todes betrachtet.
104 105 106 107 108
Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 266. Ebd., S. 267. Vgl. Ebd. Vgl. Binotto: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur, a.a.O., S. 32-33. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 258.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Auch Belzoni erlebt nicht nur eine Verdoppelung, sondern auch eine unheimliche Rückkehr von den Toten. Die Belzoni-Imitatoren, die Führungen durch die Ausstellung machen, sind im Grunde genommen Belzoni-Doppelgänger. Als Doppelgänger sichern sie auch Belzoni ein Weiterleben nach dem Tod. Gleichzeitig wird Belzoni zu einem wandelnden Untoten, der das Gefühl des Unheimlichen wecken kann. Das Grab Sethos I. sichert daher nicht nur die Fortexistenz seines Grabinhabers, sie sichert auch das Weiterleben Belzonis, indem sein Ausstellungskonzept und seine Inszenierung sowie seine Person eine Wiederkehr erleben. Er wird zur zentralen Figur der Ausstellungen gemacht und sein Doppelgänger macht Ausstellungsführungen. Die Themen Leben nach dem Tod und Wiedergeburt spiegeln sich des Weiteren im Titel der Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes wider. Die Wiedergeburt bezieht sich auf das Faksimile des Grabes, das dem ursprünglichen Zustand des Grabes näherkommt als das heutige Original. Da das Grab durch das Faksimilieren, durch die wiedergewonnene Polychromie und das wiederhergestellte Relief im wahrsten Sinne des Wortes eine Verjüngung von 200 Jahren erfährt, bewegen sich die Besucherinnen beim Eintritt in das faksimilierte Grab rückwärts in der Zeit. Rückwärts in der Zeit bewegt sich auch der Sonnengott, wenn er in seiner Barke in der Unterwelt die 12 Stunden der Nacht durchläuft: Als alternder Sonnengott steigt er nachts im Westen in die Unterwelt hinab, um am Morgen verjüngt zum Osthimmel emporzusteigen; auch er erlebt eine Verjüngung und eine Art Wiedergeburt in der Unterwelt. Da das Grab ein Abbild der jenseitigen Unterwelt ist, und diese Nachtfahrt der Sonne dort thematisiert wird, erfährt auch der Verstorbene durch die Anwesenheit des Sonnengottes Verjüngung und Wiederbelebung. Die Wiedergeburt des Grabes wird in der Ausstellung implizit inszeniert; wenn man den Vorhang mit dem imaginierten Grabeingang, der den Eingang zum Grab verhüllt, auf freudsche Art liest, wird sie explizit: Der Vorhang ist in der Mitte gespalten, so dass die Besucherin manuell die beiden Teile des Vorhangs trennen muss, um in das Grab einzutreten. Die Besucherin tritt also in den »Eingang zur alten Heimat«109 , in den Mutterleib, das Grab, zurück.110 Sie durchlebt die Geburt umgekehrt, wobei der Sinn des ägyptischen Grabes durchaus einer Geburt in umgekehrter Weise entspricht: der Tod ist hier der Ausgangspunkt zu einem Weiterleben.
109 Ebd., S. 267. 110 Diese Rückkehr in den Mutterleib könnte man auch als reaktionär interpretieren. Es ist ein tatsächlicher räumlicher (Rück-)Schritt in die Vergangenheit des Grabes und des Ägyptens des 19. Jahrhunderts.
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3.2.2
Reaktion statt Revolution – Die Zirkularität der ewigen Wiederkehr des Gleichen
Die Ausstellung Scanning Sethos. Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes kehrt als Ausstellung zu ihrem Ursprung, der Geburtsstunde der Ägyptenausstellung, zurück. Aufgrund dessen kann man den Titel der Ausstellung Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes auch als Wiedergeburt der allerersten Ägyptenausstellung überhaupt interpretieren. Bei dieser Wiedergeburt handelt es sich aber eher um eine Wiederkehr, und zwar um die ewige Wiederkehr des Gleichen, die nach Freud ein Gefühl des Unheimlichen auslösen kann und vom Wiederholungszwang ausgeht.111 Unheimlich daran ist die »Zirkularität«112 der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Diese Studie hat zu ihrem Ausgangspunkt eine Ausstellung gewählt, deren Konzept und Inszenierung von Belzoni stammt, und sie endet mit einer Ausstellung, die ebenfalls mit dem Konzept und der Inszenierung Belzonis arbeitet. Unser Endpunkt ist daher gleichermaßen unser Anfangspunkt und die hier verfolgte Entwicklung der Ägyptenausstellung erweist sich als zirkulär. In der Ausstellung Scanning Sethos kehren nicht nur das gleiche Konzept und die gleiche Inszenierung wieder, sondern auch die gleichen Formen und Motive des Mythos Ägypten. Statt den von den Ausstellungsmacherinnen proklamierten Fortschritt findet man in der Sethos Ausstellung Rückschritte. Bei der Wiederkehr der Belzoni Ausstellung handelt es sich um eine Rückkehr zu einem Ausstellungskonzept und einer Ausstellungsinszenierung, die 200 Jahre alt sind. So wird die neueste und revolutionäre Technik des Faksimilierens innerhalb einer reaktionären Inszenierung präsentiert, die sich nur oberflächlich von der Inszenierung von 1821 unterscheidet. Tatsächlich präsentieren beide Ausstellungen im Grunde genommen ihren Besucherinnen das Gleiche. Das lässt sich an mehreren Aspekten der Scanning Sethos Ausstellung zeigen: 1. Genau wie Belzoni arbeitet die Ausstellung mit den Kopien zweier Grabkammern von Sethos I.: der Hall of Beauties (Raum I) und der unteren Pfeilerhalle (Raum J). Belzoni stellte ebenso die Hall of Beauties zur Schau, allerdings zeigte er statt der unteren Pfeilerhalle die obere Pfeilerhalle (Raum E). 2. Belzoni zeigte zum besseren Verständnis ein Modell des gesamten Grabes im Maßstab 1:6, das sich die Besucherin im Idealfall vor dem Betreten der kopierten Grabkammern anschauen sollte. Belzoni bedauerte, dass er das Modell
111 112
Vgl. Freud: »Das Unheimliche«, a.a.O., S. 261. Binotto: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur, a.a.O., S. 31; Zirkularität wird hier im psychotherapeutischen Sinne verstanden. Vgl. dazu Klar, Sabina und Klammer, Gerda: »Zirkularität«, in: Stumm, Gerhard und Pritz, Alfred (Hg.): Wörterbuch der Psychotherapie, Wien 2007, S. 794-795.
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aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht direkt vor den Grabkopien inszenieren konnte. Das Antikenmuseum zeigt ebenfalls ein solches Modell, das die Besucherin diesmal in der von Belzoni vorgesehenen Reihenfolge, also direkt vor der ersten faksimilierten Grabkammer, zu Gesicht bekommt. Belzoni entwarf einen idealisierten Grabeingang des Sethos-Grabes, da das Original an dieser Stelle keinerlei Dekorationen aufweist. Mit dem Bild des bunten, reich dekorierten Grabeingangs wurde für Belzonis Ausstellung in London geworben. Dieser idealisierte Grabeingang wurde in der Ausstellung von 2017 wiederverwendet und zwar nicht als Werbeplakat, sondern als tatsächlicher Eingang ins Grab. Das heißt, dass der imaginierte Eingang zum Grab Sethos I. zum realen Eingang in das Faksimile im Antikenmuseum wird. Hier werden das Faksimile eines Originals und das Faksimile eines Simulacrums miteinander kombiniert. Damit wird das Faksimile in doppelter Weise besser als das Original: Es erhält einen schöneren Grabeingang und es erhält seine ursprünglichen Farben und Reliefs zurück, so wie sie 1817 ausgesehen haben mögen. Belzoni ließ Gaslampen in seinen Grabkopien installieren, um eine Grabesatmosphäre zu erzeugen; er arbeitete nicht mit Tageslicht. In Scanning Sethos ist das Faksimile auch nur spärlich beleuchtet aus ebendiesem Grund. Obwohl in der Ausstellung auf die ehemals prächtige Polychromie der Grabkammer hingewiesen werden soll, werden die Reliefs nicht heller beleuchtet. Die Lampen wurden darüber hinaus nur am unteren Rand, rechts und links des Raumes befestigt; die Reliefs sind also nur von unten spotartig beleuchtet. Belzoni schmückte das Highlight seiner Ausstellungen, die Grabkopien, mit einigen altägyptischen Originalen und stellte außerhalb der Kopien weitere altägyptische Exponate aus. Die Ausstellung von 2017 macht das ganz ähnlich und stellt einige Originale aus, jedoch nicht innerhalb der Grabfaksimiles, sondern in gesonderten Räumen. Belzoni stellte seine Grabkopien mit Hilfe von Abdrücken der Reliefs und Zeichnungen her, die er im Grab angefertigt und für bemalte Gipsabgüsse verwendet hatte, aus denen er später die Grabkopie baute. Belzoni benutzte die für seine Zeit modernste Technik des Kopierens. Im Jahr 1821 war die Idee Belzonis, einem westlichen Publikum die altägyptische Kultur auf diese Art und Weise näher zu bringen, innovativ und revolutionär. Denn er zeigte zum ersten Mal im Maßstab 1:1 die Architektur des Alten Ägypten, wodurch die Besucherinnen sinnlich die Räume erfahren konnten. Die Factum Foundation stellt die Faksimiles auch mit Hilfe ihrer im Grab angewandten neuesten technischen Aufnahmeverfahren her. Das Anfertigen von Faksimiles an sich ist aber nicht mehr innovativ.
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Der gewichtigste Unterschied zwischen den beiden Ausstellungen betrifft die Technik, aber nicht wie man meinen könnte, den unterschiedlichen geschichtlichen Stand der Technik, sondern die Verwendung der Technik und im Falle der Basler Ausstellung die Inszenierung der Technik selbst. Die Ausstellung Scanning Sethos will, anders als Belzoni, die Technik in den Fokus der Ausstellung rücken: Belzoni präsentierte die Grabkopien mit Hilfe der neuesten Technik; die Ausstellungmacherinnen von Scanning Sethos präsentieren die neueste Technik mit Hilfe der Grabkopien. Die Ausstellung Scanning Sethos will auf die Zerstörung des Grabes und auf die Arbeit der Factum Foundation am und im Grab von Sethos I. aufmerksam machen. Der Gründer dieser Organisation und einer der Kuratoren der Ausstellung, Adam Lowe, ist darüber hinaus der Überzeugung, dass die Arbeit von Belzoni und die Arbeit der Factum Foundation der gleichen Denkweise entsprechen: »The aim of both approches is preservation and the dissemination of the importance of this tomb.«113 Es ist zweifelhaft, ob es Belzoni tatsächlich auf die Erhaltung des Grabes ankam. Dass er es bekannt machen wollte, ist unumstritten; aber er wollte es des eigenen Ruhmes wegen und aus ökonomischem Interesse präsentieren. Abgesehen von diesen Motiven wollte er das Grab nicht bekanntmachen, um auf dessen kulturgeschichtliche Bedeutung oder auf dessen Erhaltungswürdigkeit hinzuweisen, sondern um dessen Opulenz und Schönheit zu zeigen. Den Unterschied zwischen sich und Belzoni sieht Lowe in der Technik des Kopierens: »Belzoniʼs method was full-contact and removed most of the paint and some of the fabric from the walls, while the current approach is 100 % non-contact and is facilitating a deep study of the tomb as well as providing the data needed to monitor its condition over time.«114 Leider haben sich die Ausstellungmacherinnen aber dafür entschieden, die 200-jährige Entwicklung der Methode des Kopierens, von den Wachsabdrücken bis zum 3D-Scanner, innerhalb einer Ausstellungsinszenierung zu präsentieren, die diese 200-jährige Entwicklung nicht mitgemacht hat. Daher zeigt die Ausstellung Scanning Sethos im Grunde genommen genau das, was Belzoni seinem Publikum bereits vor 200 Jahren zeigte. Das bedeutet: Die Technologie ist durchaus revolutionär, die Ausstellungsinszenierung und das Konzept sind jedoch reaktionär. Erstens ist das Zeigen von Kopien nicht neu und zweitens reproduziert die Ausstellung bis in die Details hinein das Ausstellungskonzept und die Inszenierung Belzonis: Die Kopien zweier begehbarer Grabkammern Sethos I., die sinnlich erlebt werden sollen, eine dunkle Inszenierung, ein Modell des Grabes, welches den Besucherinnen einen Überblick verleihen soll, wenige originale Objekte um die Ausstellung als Illustrationen schmückend abzurunden und Belzoni, der sich damals als Entdecker und Entertainer in seiner Ausstellung selbst 113 114
Lowe: Two Hundred Years in the Life of the Tomb of Seti I, a.a.O., S. 11. Ebd.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
inszenierte und der heute in diesen Rollen als Ausstellungsprotagonist inszeniert wird. Der Unterschied zwischen der neuen und der alten Technik hat somit keine Auswirkung auf Konzept und Inszenierung der Ausstellung. Die Inszenierung der Ausstellung Scanning Sethos will darüber hinaus nicht nur eine Grabesatmosphäre erzeugen, sondern auch die ägyptische Unterwelt repräsentieren, deren Abbild das Grab ist. Um diesen Effekt zu erreichen, wird der Gang der Besucherinnen durch die Ausstellung labyrinthisch inszeniert. Die Dunkelheit am Anfang der Ausstellung wird sukzessive aufgehoben, so dass die Besucherin mit dem Saal, in dem die Factum Foundation ihre Technik präsentiert, einen hell erleuchteten Raum betritt. Die Ausstellungsmacherinnen bezeichnen das als »a journey of enlightenment«.115 Die Besucherin tritt aus der Dunkelheit ins Licht. Sie tritt aus dem dunklen, barbarischen Zeitalter der Zerstörung des Grabes in das erleuchtete, aufgeklärte Zeitalter, in dem der Erhalt des Grabes durch die neueste Technik geschieht. Dunkelheit soll hier als Gegensatz zum Licht als antiaufklärerisch assoziiert werden. Licht symbolisiert in diesem Sinne »enlightenment«, also eine Aufklärung durch die Technik, durch die technische Reproduktion des Grabes. »Enlightenment« spielt daher nicht nur auf die wörtliche Lichtwerdung der Ausstellungsräume an, sondern darauf, dass sich die Factum Foundation als Aufklärerin sieht. Da aber die Technik selbst in ihrer Funktionsweise nicht erklärt wird, schlägt die Aufklärung um in Obskurantismus. Wie wir im Folgenden sehen werden, verleiht die Inszenierung der Technik magische Fähigkeiten. Sie wird so selbst mythisch und gleichsam zu einer neuen Hieroglyphe.
3.3
Mythos Technik – Die Technik als neue Hieroglyphe
Als positiv herauszustellen ist an Scanning Sethos, dass sie eine Ausstellung ist, die im Museum gezeigt wird, und die trotzdem fast ausschließlich mit Kopien arbeitet.116 Das Ausstellen von Kopien mit ägyptischem Kontext ist freilich nichts Neues: So haben wir die Kopie des Grabes Sethos I. in Belzonis Ausstellung 1821 gesehen, das Ausstellen von Grab- und Tempelsimulacren im Crystal Palace und auf der Weltausstellung 1867, sowie die Grabkopie von Tutanchamun auf der British Empire Exhibition 1924. All diese Ausstellungen haben gemeinsam, dass sie nicht innerhalb 115 116
Factum Foundation for Digital Technology in Conservation: »Scanning Seti: The Regeneration of a Pharaonic Tomb«, a.a.O. Zur aktuellen Debatte über das Ausstellen von Kopien in Museen und Ausstellungen siehe den Sammelband: Brenna, Brita, Dam Christensen, Hans und Hamran, Olav (Hg.): Museums as Cultures of Copies. The Crafting of Artefacts and Authenticity, London/New York 2019. Dort beschäftigt sich Mari Lending auch mit der Scanning Sethos Ausstellung: Vgl. Lending, Mari: »Lost Continents, Projective Objects«, in: Brenna, Brita, Dam Christensen, Hans und Hamran, Olav (Hg.): Museums as Cultures of Copies. The Crafting of Artefacts and Authenticity, London/New York 2019, S. 73-84.
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inszenierte und der heute in diesen Rollen als Ausstellungsprotagonist inszeniert wird. Der Unterschied zwischen der neuen und der alten Technik hat somit keine Auswirkung auf Konzept und Inszenierung der Ausstellung. Die Inszenierung der Ausstellung Scanning Sethos will darüber hinaus nicht nur eine Grabesatmosphäre erzeugen, sondern auch die ägyptische Unterwelt repräsentieren, deren Abbild das Grab ist. Um diesen Effekt zu erreichen, wird der Gang der Besucherinnen durch die Ausstellung labyrinthisch inszeniert. Die Dunkelheit am Anfang der Ausstellung wird sukzessive aufgehoben, so dass die Besucherin mit dem Saal, in dem die Factum Foundation ihre Technik präsentiert, einen hell erleuchteten Raum betritt. Die Ausstellungsmacherinnen bezeichnen das als »a journey of enlightenment«.115 Die Besucherin tritt aus der Dunkelheit ins Licht. Sie tritt aus dem dunklen, barbarischen Zeitalter der Zerstörung des Grabes in das erleuchtete, aufgeklärte Zeitalter, in dem der Erhalt des Grabes durch die neueste Technik geschieht. Dunkelheit soll hier als Gegensatz zum Licht als antiaufklärerisch assoziiert werden. Licht symbolisiert in diesem Sinne »enlightenment«, also eine Aufklärung durch die Technik, durch die technische Reproduktion des Grabes. »Enlightenment« spielt daher nicht nur auf die wörtliche Lichtwerdung der Ausstellungsräume an, sondern darauf, dass sich die Factum Foundation als Aufklärerin sieht. Da aber die Technik selbst in ihrer Funktionsweise nicht erklärt wird, schlägt die Aufklärung um in Obskurantismus. Wie wir im Folgenden sehen werden, verleiht die Inszenierung der Technik magische Fähigkeiten. Sie wird so selbst mythisch und gleichsam zu einer neuen Hieroglyphe.
3.3
Mythos Technik – Die Technik als neue Hieroglyphe
Als positiv herauszustellen ist an Scanning Sethos, dass sie eine Ausstellung ist, die im Museum gezeigt wird, und die trotzdem fast ausschließlich mit Kopien arbeitet.116 Das Ausstellen von Kopien mit ägyptischem Kontext ist freilich nichts Neues: So haben wir die Kopie des Grabes Sethos I. in Belzonis Ausstellung 1821 gesehen, das Ausstellen von Grab- und Tempelsimulacren im Crystal Palace und auf der Weltausstellung 1867, sowie die Grabkopie von Tutanchamun auf der British Empire Exhibition 1924. All diese Ausstellungen haben gemeinsam, dass sie nicht innerhalb 115 116
Factum Foundation for Digital Technology in Conservation: »Scanning Seti: The Regeneration of a Pharaonic Tomb«, a.a.O. Zur aktuellen Debatte über das Ausstellen von Kopien in Museen und Ausstellungen siehe den Sammelband: Brenna, Brita, Dam Christensen, Hans und Hamran, Olav (Hg.): Museums as Cultures of Copies. The Crafting of Artefacts and Authenticity, London/New York 2019. Dort beschäftigt sich Mari Lending auch mit der Scanning Sethos Ausstellung: Vgl. Lending, Mari: »Lost Continents, Projective Objects«, in: Brenna, Brita, Dam Christensen, Hans und Hamran, Olav (Hg.): Museums as Cultures of Copies. The Crafting of Artefacts and Authenticity, London/New York 2019, S. 73-84.
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eines Museums stattfanden. Wie wir gesehen haben, war der Grund dafür die unabhängig und parallel laufende Entwicklung von Ausstellung und Museum, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zueinanderfanden. In den Ägyptenausstellungen, die seit dieser Zeit im Museum stattfanden, wurden allerdings keine Kopien mehr ausgestellt, da in der Zwischenzeit das originale Objekt in den Vordergrund gerückt war; Kopien galten als nicht mehr salonfähig. Das änderte sich im 21. Jahrhundert mit der Ausstellung Tutanchamun. Sein Grab und die Schätze.117 Die Ausstellung arbeitet ausschließlich mit Kopien des Grabes und der Grabausstattung Tutanchamuns; es werden keine Vitrinen verwendet. Loprieno bezeichnete sie als »Befreiungsschlag«118 , weil sie als erste Ausstellung den Kontext einer Grabausstattung rekonstruiert. Allerdings wurde diese Ausstellung von einer Event Organisation ausgerichtet und in Gebäuden präsentiert, die nicht an ein Museum angeschlossen waren.119 Bereits 2008 hat das Antikenmuseum Basel mit Lowe und Factum Arte zusammengearbeitet und eine Ausstellung zu Thutmosis III. veranstaltet, die das Faksimile seiner Sargkammer zeigte. Der Fokus lag bei dieser Ausstellung allerdings auf den originalen Exponaten. Rund zehn Jahre später zeigt das Antikenmuseum nun mit Scanning Sethos eine Ausstellung, die auf Faksimiles fokussiert und nur wenige Originale präsentiert. Die Basler Ausstellung hat außerdem den Vorteil, dass sie das Faksimile des Sarkophags Sethos I. zeigen kann, denn es war Belzoni damals nicht möglich, das Original für seine Ausstellung zu erwerben. Auffallend und letztlich kontraproduktiv ist, dass die Technik in den Fokus der Ausstellung gerückt wird, obwohl sie nur das Mittel zum Zweck sein sollte, der im Endresultat, den fertigen Faksimiles besteht. Die neueste Technik des 3D-Scanning und 3D-Printing gilt als essentieller Teil der Ausstellung, wird aber nur unzureichend erklärt, so dass die Technik als solche für die Besucherinnen überwiegend unverständlich bleibt. Das bedeutet: Die Technik wird zum Rätsel, einer neuen Hieroglyphe, und zwar in dem Sinne, dass Bilder und Geräte der Technik als Exponate der Ausstellung ausgestellt werden, ohne dass den Besucherinnen ermöglicht wird, den Sinn dieser Exponate zu entziffern. Sie werden zur Chiffre geheimen Wissens und geheimer Praktiken. Der Vorgang technischer Reproduktion wird so gleichsam magisch aufgeladen, insofern das Faksimile wie von Zauberhand aus der Technik entsteht. Die Technik wird, indem sie als Rätsel inszeniert wird, selbst zu einem Mythos. Exponate, die die Technik präsentieren sollen, sind die Formen des Mythos
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Die Ausstellung wurde 2008 zum ersten Mal in Zürich gezeigt und tourt seitdem um die Welt. Lüscher, Geneviève: »Das ist ein Befreiungsschlag«, NZZ am Sonntag, (4.5.2008), https://www .nzz.ch/tutanchamun_zuerich_ausstellung_toni-areal_interview_loprieno-1.725148 (zugegriffen am 15.10.2021). 2021/2022 wird die Ausstellung in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim gezeigt. Die Ausstellung hat demnach ihren Weg in die Museen gefunden.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
Technik. Sie werden mit Assoziationen gefüllt, ausgelöst durch die Inszenierung, in die diese Exponate eingebettet sind. Assoziationen könnten lauten: magisch, unverständlich, unerklärbar, rätselhaft, unfassbar für den Laien, fortschrittlich, übermenschlich, übernatürlich, futuristisch. Abschließend wollen wir deshalb einen näheren Blick auf die Technik als solche und ihre Inszenierung in Scanning Sethos werfen. Die Factum Foundation hat sich auf das Herstellen von Faksimiles spezialisiert: Nach dem Faksimile der Grabkammer Tutmosis III. folgte das Faksimile des gesamten Grabes Tutanchamuns, das seit 2014 in der Nähe des Tals der Könige zu besichtigen ist. 2016 wurde dann damit begonnen, das Grab Sethos I. mit Hilfe modernster Aufnahmeverfahren zu digitalisieren. Zur Aufnahme des Grabes werden neben den 3D-Scannern namens Pharos und Lucida auch Fotogrammetrie, Komposit-Farbfotografie und Panorama-Aufnahmen eingesetzt. Der Lucida Laserscanner zum Beispiel, arbeitet hochauflösend und nicht invasiv, das heißt er kann kontaktfrei die Oberfläche des Grabes aufzeichnen. Die Arbeit der Factum Foundation besteht nun aber nicht nur darin, das Grab komplett zu scannen und zu erfassen; die mit Lucida gewonnen Daten werden bearbeitet, Datensätze werden zusammengeführt und archiviert. Auch wird eine digitale Restaurierung vorgenommen, bei der beschädigte Stellen des Originals im Faksimile wiederhergestellt werden. Darauf folgt die Rematerialisierung, die Herstellung des Faksimiles mit Hilfe von 3D-Drucker und CNC-Fräse, die reliefierte Platten aus Polyurethan herstellen können. Da diese Platten Negativformen sind, wird von ihnen ein Gipsabguss gemacht. Eine sogenannte Haut, auf der die Farben aufgedruckt sind, wird dann manuell auf die reliefierte Oberfläche der Faksimilewände geklebt.120 In dem Ausstellungsraum, der die Arbeit der Factum Foundation präsentiert, befindet sich ein Exemplar des Lucida 3D-Scanners. Dieses Gerät steht als Exponat in der Ausstellung, ist nicht in Betrieb und es gibt keinerlei Erklärung zu seiner Funktionsweise. Die Broschüren, die die Anleitung zur Bedienung des Scanners liefern und neben dem Exponat aufliegen, helfen beim Verständnis wenig weiter. Die weiteren Arbeitsprozesse des Faksimilierens sind in demselben Raum ebenfalls zu besichtigen. Dabei handelt es sich um eine Platte einer Negativform aus Polyurethan und dem entsprechenden Gipsabguss, der das Relief zeigt. Eine Kollage an der Wand soll Einblick in die Bestimmung der Farben im Grab geben: vieles wird noch mit der Hand und nach Augenmaß gemacht. Auch hier fehlt eine Erklärung, die es erlauben würde, die Kollage zu entziffern. Ähnlich verhält es sich mit einer großen Vitrine, die alle Arbeitsprozesse nochmals zusammenfasst. Hier wird alles wirr durcheinander gezeigt: Die Silikonhäute auf denen die Farbe aufgedruckt wird 120 Vgl. dazu Lowe, Adam: »200 Jahre im Leben eines Grabes – digitale Rekonstruktion im Zeitalter von Massentourismus und Anti-Aging«, in: Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig (Hg.): Scanning Sethos, Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes, Basel 2017, S. 136-173.
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und die anschließend auf die Reliefs aufgezogen werden; die aus dem 3D-Drucker stammenden Platten, die die Oberfläche des Sarkophags bilden; den Farbfindungsprozess, Fotos etc. Doch auch hier fehlt eine Erklärung, die das chaotische Durcheinander als strukturierte, aufeinanderfolgende Arbeitsprozesse deutlich werden lassen könnte. Die beiden Stummfilme, die ohne Erläuterung nebeneinander die Arbeitsprozesse des Faksimilierens in Endlosschlaufe zeigen, bleiben, im wahrsten Sinne des Wortes, nichtssagend. Die darin agierenden Mitarbeiterinnen und Maschinen wirken wie ägyptische Priester im Ritual, das vorgeschriebenen Regeln in täglicher Wiederholung folgt. Genau wie im Mythos Ägypten Priester gerne mit Magie und Geheimwissen assoziiert werden, scheinen Menschen und Maschinen in diesem Stummfilm auch magische Handlungen durchzuführen, aus denen wie durch Zauberei die Faksimiles entstehen. Für die Ausstellung, die bereits im Titel Scanning Sethos einen technischen Schwerpunkt setzt und deren Höhepunkte die beiden Faksimiles der Grabkammern sind, ist das ein großes Defizit. Der Factum Foundation gelingt es nicht, ihre eigene Arbeit in prägnanter Weise darzustellen. Vielleicht ist es aber auch gar nicht möglich und nicht notwendig, die Technik und die mit ihr verbundenen Arbeitsprozesse zu inszenieren, um ihren Wert unter Beweis zu stellen. Denn letztlich ist der einzige Beweis für den Wert der technischen Reproduktionsprozesse deren Endresultat. Damit ist das Exponat, das den Wert der Technik beweist, nicht diese selbst, sondern das Faksimile. Aber gerade diese Erkenntnis wird durch den Rückgriff auf eine veraltete Inszenierung zunichte gemacht. Sehen wir uns das an einem weiteren Faksimile der Ausstellung an, am Sarkophag von Sethos I. Der Sarkophag wird in einem separaten Ausstellungsraum inszeniert. Hier fehlt eine Beschreibung der Technik, die beim Prozess der Herstellung des Faksimiles angewandt wurde. Mit Hilfe von Fotogrammetrie, bei der Tausende von Fotos des Sarkophags gemacht wurden, ist es gelungen, den Sarkophag zu reproduzieren. Das versenkte Relief des Alabastersarkophags ist aus Polyurethan gefertigt. Die Polyurethanplatten sind sehr dünn und wurden auf eine bestehende Form des Sarkophags aufgebracht. Der Sarkophag, oder zumindest die Sargwanne ohne Deckel wird hier in Originalgröße als Faksimile ausgestellt und steht in der Mitte eines schmalen Raumes (Abbildung 21). Die Decke über dem Sarkophag ist der Originaldecke der Sargkammer nachempfunden. Auf dieser sind astronomische Himmelsbilder zu sehen. Das Original ist allerdings gewölbt und imitiert so die Weite und Höhe des Himmels. Dagegen ist hier nur eine große, flache Fotografie an der Decke über dem Sarkophag angebracht. Diese Fläche ist durchscheinend, so dass die Beleuchtung, die sich darüber befindet, die Wirkung eines blau strahlenden Himmels erzeugt. Im Original besteht der Sarkophag aus Alabaster, hier aus Polyurethan. Das ursprüngliche Weiß des Alabasters wird durch die sehr helle Farbgebung und Ausleuchtung des Raumes gespiegelt. Durch die gute Beleuchtung ist das versenkte Relief, das den kompletten Sarkophag innen wie außen bedeckt, gut zu sehen. Es handelt sich
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
dabei um das Pfortenbuch, eines der Unterweltsbücher der alten Ägypter, die von der nächtlichen Fahrt des Sonnengottes Re erzählen. Zum besseren Betrachten ist es auf den Wänden des Ausstellungsraumes rings um den Sarkophag abgebildet. Betrachten wir die Inszenierung, so fällt auf: Der Sarkophag wird auf der einen Seite nicht als Werk technischer Errungenschaften präsentiert und auf der anderen Seite wird er nicht in seinem Kontext, den Grabfaksimiles, inszeniert. Isoliert stehend wird er ästhetisch ansprechend als Kunstobjekt in Szene gesetzt, im Grunde genommen auf die gleiche Art und Weise wie das Original im John Soaneʼs Museum in London. Die durch die technologische Reproduzierbarkeit gewonnene Möglichkeit, Grab und Sarkophag als Teil der Grabausstattung im Faksimile wieder zu vereinen, bleibt leider ungenutzt. Auch wenn die Sargkammer, die an die untere Pfeilerhalle anschließt und in der sich der Sarkophag ursprünglich befand, nicht in der Basler Ausstellung zu sehen ist, hätte man die oben besprochene Inszenierung des Sarkophags an das Faksimile der unteren Pfeilerhalle, die auch in der Ausstellung präsentiert wird, anschließen können, anstatt ihn isoliert zu zeigen. Eine Inszenierung ohne den Technikschwerpunkt, die ausschließlich auf die Faksimiles und die Kontextualisierung der Grabbeigaben fokussiert hätte, dürfte einen weit größeren Erkenntnisgewinn gebracht haben. Hier wird deutlich: So wichtig die neueste Technik auch ist, sie sollte Mittel zum Zweck bleiben und nicht sie selbst, sondern ihr Produkt, das Faksimile, sollte im Fokus stehen.
3.4
Nachahmungskunst – Faksimiles, originaler als das Original
Trotz der Kritik an der Inszenierung der Technik in der Ausstellung Scanning Sethos ist festzuhalten, dass die eigentliche Arbeit der Factum Foundation am Grab Sethos I. und an dem von Tutanchamun überaus wegweisend ist. Sie ist ein wichtiger Teil der Theban Necropolis Preservation Initiative, die aus einer Zusammenarbeit des Fachbereichs Ägyptologie des Departements Altertumswissenschaften der Universität Basel, des Ministerium für Antike der Republik Ägypten und der Factum Foundation besteht. Ihr Ziel es ist, die Monumente der thebanischen Nekropole mit Hilfe modernster Technologie zu dokumentieren, um sie zu erhalten.121 Wenn die Arbeiten der Factum Foundation abgeschlossen sind, soll ein vollständiges Faksimile des Grabes in der Nähe des Eingangs zum Tal der Könige aufgebaut und für Touristinnen zugänglich gemacht werden.122 Das Faksimile bietet dann eine Alternative zur Besichtigung des originalen Grabes und kann dazu beitragen wei-
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Vgl. Ismail, Aliaa u.a.: »The Theban Necropolis Preservation Initiative«, in: Lowe, Adam u.a. (Hg.): The Aura in the Age of Digital Materiality. Rethinking Preservation in the Shadow of an Uncertain Future, Mailand 2020, S. 369. Das Faksimile von Tutanchamuns Grab steht bereits an diesem Ort und ist zu besichtigen.
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dabei um das Pfortenbuch, eines der Unterweltsbücher der alten Ägypter, die von der nächtlichen Fahrt des Sonnengottes Re erzählen. Zum besseren Betrachten ist es auf den Wänden des Ausstellungsraumes rings um den Sarkophag abgebildet. Betrachten wir die Inszenierung, so fällt auf: Der Sarkophag wird auf der einen Seite nicht als Werk technischer Errungenschaften präsentiert und auf der anderen Seite wird er nicht in seinem Kontext, den Grabfaksimiles, inszeniert. Isoliert stehend wird er ästhetisch ansprechend als Kunstobjekt in Szene gesetzt, im Grunde genommen auf die gleiche Art und Weise wie das Original im John Soaneʼs Museum in London. Die durch die technologische Reproduzierbarkeit gewonnene Möglichkeit, Grab und Sarkophag als Teil der Grabausstattung im Faksimile wieder zu vereinen, bleibt leider ungenutzt. Auch wenn die Sargkammer, die an die untere Pfeilerhalle anschließt und in der sich der Sarkophag ursprünglich befand, nicht in der Basler Ausstellung zu sehen ist, hätte man die oben besprochene Inszenierung des Sarkophags an das Faksimile der unteren Pfeilerhalle, die auch in der Ausstellung präsentiert wird, anschließen können, anstatt ihn isoliert zu zeigen. Eine Inszenierung ohne den Technikschwerpunkt, die ausschließlich auf die Faksimiles und die Kontextualisierung der Grabbeigaben fokussiert hätte, dürfte einen weit größeren Erkenntnisgewinn gebracht haben. Hier wird deutlich: So wichtig die neueste Technik auch ist, sie sollte Mittel zum Zweck bleiben und nicht sie selbst, sondern ihr Produkt, das Faksimile, sollte im Fokus stehen.
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Nachahmungskunst – Faksimiles, originaler als das Original
Trotz der Kritik an der Inszenierung der Technik in der Ausstellung Scanning Sethos ist festzuhalten, dass die eigentliche Arbeit der Factum Foundation am Grab Sethos I. und an dem von Tutanchamun überaus wegweisend ist. Sie ist ein wichtiger Teil der Theban Necropolis Preservation Initiative, die aus einer Zusammenarbeit des Fachbereichs Ägyptologie des Departements Altertumswissenschaften der Universität Basel, des Ministerium für Antike der Republik Ägypten und der Factum Foundation besteht. Ihr Ziel es ist, die Monumente der thebanischen Nekropole mit Hilfe modernster Technologie zu dokumentieren, um sie zu erhalten.121 Wenn die Arbeiten der Factum Foundation abgeschlossen sind, soll ein vollständiges Faksimile des Grabes in der Nähe des Eingangs zum Tal der Könige aufgebaut und für Touristinnen zugänglich gemacht werden.122 Das Faksimile bietet dann eine Alternative zur Besichtigung des originalen Grabes und kann dazu beitragen wei-
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Vgl. Ismail, Aliaa u.a.: »The Theban Necropolis Preservation Initiative«, in: Lowe, Adam u.a. (Hg.): The Aura in the Age of Digital Materiality. Rethinking Preservation in the Shadow of an Uncertain Future, Mailand 2020, S. 369. Das Faksimile von Tutanchamuns Grab steht bereits an diesem Ort und ist zu besichtigen.
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Abbildung 21: Inszenierung des Sarkophags (Faksimile) von Sethos I. in Scanning Sethos.
© Oscar Parasiego for Factum Foundation.
teren Verfall durch menschlichen Einfluss zu vermindern.123 Langfristig stellt das Faksimile mit Sicherheit eine praktikable Lösung der Probleme dar, die mit dem Erhaltungszustand des Grabes einhergehen. Im Faksimile ist zumindest der IstZustand 2017 festgehalten. Darüber hinaus werden auch alle Fragmente gescannt, die sich in Museen und Privatsammlungen befinden und bereits im 19. Jahrhundert aus dem Grab herausgenommen wurden. Im Grab selbst und auch außerhalb des Grabes wurden bis heute tausende Fragmente der Reliefs gefunden, die von Factum Foundation ebenfalls digitalisiert werden. Diese im Original fehlenden Fragmente sollen in das Faksimile eingefügt werden. Damit würde das Faksimile einen ursprünglicheren und damit vollständigeren Zustand als das derzeitige Original präsentieren: »This will make the facsimile more complete than the original in its current state.«124 Mit Hilfe dieser Maßnahmen wäre das Faksimile eine verbesserte Version des Originals, man könnte auch sagen, das Faksimile wäre originaler als 123
Die Touristenströme tragen zum weiteren Zerfall des Grabes bei. Die Ausdünstungen der Menschen lösen tagtäglich große Temperaturschwankungen und hohe Luftfeuchtigkeit aus. Dadurch dehnen sich die Wände aus und ziehen sich wieder zusammen, was das Abbröckeln der Reliefs und das weitere Verschwinden der Farben nach sich zieht. 124 Ebd.
Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
das Original. Einen Beleg für diese Aussage finden wir in der Inszenierung von zwei Versionen der Hall of Beauties in Scanning Sethos. Die Ausstellung weist, trotz aller Kritik, dennoch Spuren einer gelungenen Inszenierung der Möglichkeiten moderner Reproduktionstechnik auf. Am Ende der Ausstellung wird ein weiteres Faksimile, eine zweite Version der Hall of Beauties (Raum I) sowie ein Faksimile der unteren Pfeilerhalle (Raum J) gezeigt, welche – wie auch im Original – direkt aneinander anschließen. Dieser Ausstellungsraum befindet sich außerhalb des Museums, in dessen Innenhof, innerhalb eines großen Zeltes. Das Ganze ist so geschickt angelegt, dass die Besucherin der Ausstellung davon nichts bemerkt. Man gelangt in die Grabfaksimiles, indem man eine Treppe und gewundene, enge Korridore entlanggeht, ganz ähnlich wie man sich den Gang in ein Grab vorstellt. Dieser Gang ist in grünes Licht getaucht, um auf das grüne Licht beim Arbeitsprozess des Faksimilierens hinzuweisen, das uns bereits auf dem Cover des Ausstellungskatalogs begegnet ist. Folgt man dem Gang bis ans Ende des Korridors, so tritt man zunächst in ein weiteres Faksimile der Hall of Beauties ein, das den Erhaltungszustand im Jahr 2017 wiedergibt (Abbildung 20). Die Farben sind verblasst und teilweise vollkommen verschwunden, Teile der sternenbedeckten Decke sind herausgebrochen und mit Graffitis bedeckt. Hier zeigt die technische Reproduktion ihr Potential: Die Gegenüberstellung der beiden Versionen der Hall of Beauties von 1817 und von 2017 ermöglicht den Besucherinnen den direkten Vergleich der Erhaltungszustände und die Beobachtung der fortschreitenden Zerstörung des Grabes (Abbildung 19 und 20). Sie können quasi in einem Zeitraffer erleben, dass 200 Jahre Entdeckung des Grabes auch 200 Jahre Zerstörung des Grabes bedeuten. Die Vollständigkeit und Farbigkeit des Reliefs des Faksimiles von 1817 scheinen tatsächlich einen ursprünglicheren und originaleren Zustand zu repräsentieren, als das gegenwärtige Originalgrab. Die Aussage, dass das Faksimile originaler ist als das Original würde sich damit bewahrheiten.
4.
Rückblick: Extrempole und Zirkularität der Ägyptenausstellung
In unserem dritten und letzten Kapitel haben wir Ausstellungsinszenierungen analysiert, die wir entweder als fortschrittlich oder rückschrittlich in Bezug auf den Mythos Ägypten entlarvt haben. Revolution und Reaktion bilden die fünfte bzw. sechste Facette des Mythos in Ausstellungen. In Hollywoodʼs Egypt konnte wir sehen, dass der Mythos durch Analogie, durch den vergleichenden Blick, aufzudecken ist. In Kleopatra. Die ewige Diva konnte der Mythos durch die Wiederholung der immer gleichen Motive in der immer gleichen Form enthüllt werden. Beide Ausstellungen stellten den Mythos Ägypten zur Schau und thematisierten ihn ganz offen. Dadurch ist es grundsätzlich möglich, den Mythos an den Anfang eines dritten semiologischen Systems zu stellen, um ihn als Mythos zu rezipieren. In die ge-
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Kapitel 3: Fortschritt und Reaktion – Der Mythos Ägypten heute
das Original. Einen Beleg für diese Aussage finden wir in der Inszenierung von zwei Versionen der Hall of Beauties in Scanning Sethos. Die Ausstellung weist, trotz aller Kritik, dennoch Spuren einer gelungenen Inszenierung der Möglichkeiten moderner Reproduktionstechnik auf. Am Ende der Ausstellung wird ein weiteres Faksimile, eine zweite Version der Hall of Beauties (Raum I) sowie ein Faksimile der unteren Pfeilerhalle (Raum J) gezeigt, welche – wie auch im Original – direkt aneinander anschließen. Dieser Ausstellungsraum befindet sich außerhalb des Museums, in dessen Innenhof, innerhalb eines großen Zeltes. Das Ganze ist so geschickt angelegt, dass die Besucherin der Ausstellung davon nichts bemerkt. Man gelangt in die Grabfaksimiles, indem man eine Treppe und gewundene, enge Korridore entlanggeht, ganz ähnlich wie man sich den Gang in ein Grab vorstellt. Dieser Gang ist in grünes Licht getaucht, um auf das grüne Licht beim Arbeitsprozess des Faksimilierens hinzuweisen, das uns bereits auf dem Cover des Ausstellungskatalogs begegnet ist. Folgt man dem Gang bis ans Ende des Korridors, so tritt man zunächst in ein weiteres Faksimile der Hall of Beauties ein, das den Erhaltungszustand im Jahr 2017 wiedergibt (Abbildung 20). Die Farben sind verblasst und teilweise vollkommen verschwunden, Teile der sternenbedeckten Decke sind herausgebrochen und mit Graffitis bedeckt. Hier zeigt die technische Reproduktion ihr Potential: Die Gegenüberstellung der beiden Versionen der Hall of Beauties von 1817 und von 2017 ermöglicht den Besucherinnen den direkten Vergleich der Erhaltungszustände und die Beobachtung der fortschreitenden Zerstörung des Grabes (Abbildung 19 und 20). Sie können quasi in einem Zeitraffer erleben, dass 200 Jahre Entdeckung des Grabes auch 200 Jahre Zerstörung des Grabes bedeuten. Die Vollständigkeit und Farbigkeit des Reliefs des Faksimiles von 1817 scheinen tatsächlich einen ursprünglicheren und originaleren Zustand zu repräsentieren, als das gegenwärtige Originalgrab. Die Aussage, dass das Faksimile originaler ist als das Original würde sich damit bewahrheiten.
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Rückblick: Extrempole und Zirkularität der Ägyptenausstellung
In unserem dritten und letzten Kapitel haben wir Ausstellungsinszenierungen analysiert, die wir entweder als fortschrittlich oder rückschrittlich in Bezug auf den Mythos Ägypten entlarvt haben. Revolution und Reaktion bilden die fünfte bzw. sechste Facette des Mythos in Ausstellungen. In Hollywoodʼs Egypt konnte wir sehen, dass der Mythos durch Analogie, durch den vergleichenden Blick, aufzudecken ist. In Kleopatra. Die ewige Diva konnte der Mythos durch die Wiederholung der immer gleichen Motive in der immer gleichen Form enthüllt werden. Beide Ausstellungen stellten den Mythos Ägypten zur Schau und thematisierten ihn ganz offen. Dadurch ist es grundsätzlich möglich, den Mythos an den Anfang eines dritten semiologischen Systems zu stellen, um ihn als Mythos zu rezipieren. In die ge-
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gensätzliche Richtung, nämlich in die Reaktion statt in die Revolution, schlug die Inszenierung der Ausstellung Scanning Sethos um. Werfen wir deshalb abschließend einen Rückblick auf Scanning Sethos und auf die in ihr sich kreuzenden Linien von Vergangenheit und Zukunft der Ägyptenausstellung. Das Ziel der Ausstellung ist zum einen, eine Sensibilisierung der Besucherinnen für den fortschreitenden Zerfall der Gräber im Tal der Könige zu erreichen und zum anderen, auf die Arbeit der Factum Foundation aufmerksam zu machen. Deshalb setzt die Ausstellung den Fokus auf die Technik der Factum Foundation, mit deren Hilfe die Faksimiles der Gräber hergestellt werden. Die Faksimiles der Gräber wiederum werden als einziges Mittel gesehen, die Gräber im Tal der Könige zu erhalten, denn sie sollen als vollwertiger Ersatz dienen. Die Ausstellung soll demnach die Besucherinnen über die neueste Technik, die Factum Foundation einsetzt, aufklären. Da die Technik aber in der Ausstellung nicht erklärt wird, schlägt die Aufklärung um in Obskurantismus. Es kommt zu einer Verrätselung und magischen Aufladung der Technik. Die Technik ist hier nicht nur kein Mittel gegen den Mythos, sondern wird selbst zum Mythos. Zum einen liegt das daran, dass sie nicht verständlich inszeniert wird und auf Erklärung verzichtet wird; zum anderen ist es dem Umstand geschuldet, dass die Ausstellungsmacherinnen eine zeitgemäße Inszenierung ihres Technik-Schwerpunktes gescheut haben. Stattdessen haben sie sich für eine Inszenierung entschieden, die auf zwei Ebenen reaktionär ist: Zum einen evoziert sie den reaktionären Mythos des Entdeckers, dem ein rückschrittliches Männlichkeitsideal immanent ist; zum anderen ist die Inszenierung an der 200 Jahre alten Inszenierung orientiert, die Belzoni für seine Präsentation des Grabes von Sethos I. erdacht hatte. Hier finden wir unsere sechste und letzte Facette des Mythos Ägypten in Ausstellungen wieder: den Rückschritt. Durch die Wiederverwertung der Ausstellungsinszenierung Belzonis wird die Ausstellung Scanning Sethos nicht nur reaktionär, sondern gleichsam zu einer Quelle des Mythos Ägypten, die nicht weniger stark sprudelt als die ihres Vorbilds: Sie reproduziert dieselben Formen und Assoziation des Mythos, denen wir bereits vor 200 Jahren, am Anfang unserer Untersuchung, begegnet sind. Auch das mit Freud festgestellte Unheimliche im Mythos Ägypten fehlt nicht. Wir finden es nicht nur in der bekannten Assoziationen des Todes, sondern auch in Bezug auf die Ausstellung als Ganze. Denn in ihrer Inszenierung sehen wir eine unheimliche Wiederkehr des Gleichen, sowohl in der Wiederkehr Belzonis als auch in der Wiederkehr desselben Ausstellungskonzepts und derselben Ausstellungsinszenierung, in der Wiederkehr eines antiquierten Männlichkeitsideals sowie in der Wiederkehr derselben Assoziationen und Formen des Mythos. Der Kreis vom Beginn unserer Untersuchung bis zu ihrem Ende hat sich hiermit geschlossen, und wir enden mit derselben Ausstellung, mit der wir begonnen haben, mit Belzoniʼs Tomb.
Schlussbetrachtung: Die Ewigkeit des Mythos Ägypten
Der Mythos Ägypten war der Protagonist dieser kultursemiotischen Studie, den wir in seinen Manifestationen in Ägyptenausstellungen über 200 Jahre begleitet haben. Es ging uns um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ägyptomanie – dem Mythos von Ägypten –, die wir als außerwissenschaftlichen Ägyptenrezeption kennengelernt haben. Sie, nicht die Ägyptologie, bestimmt das Ägyptenbild der Öffentlichkeit seit der Antike bis heute. Unsere Ausgangsfragen waren: was ist die Ägyptomanie, welcher Funktionsmechanismus liegt ihr zu Grunde und warum hält sie sich hartnäckig neben der Ägyptologie? Schnell wurde auf Grund dieser Fragestellung klar, dass die Ägyptomanie genauer definiert werden muss, um sie einer systematischen Analyse zu unterziehen, die es ermöglicht, ihren Funktionsmechanismus begreifen zu können, um sie dadurch mit wissenschaftlichen Mitteln zu durchdringen. Die klassische Definition der Ägyptomanie als Suche nach Wahrheit, Weisheit und Geheimnissen in der altägyptischen Kultur auf der einen Seite und deren Gleichsetzung mit Magie und Okkultismus und dem Fremden, Exotischen auf der anderen Seite, hat – so konnten wir feststellen – lediglich an der Oberfläche dieses kulturellen Phänomens gekratzt. Zur genaueren Bestimmung und Analyse der Ägyptomanie wurde diese deshalb als Mythos von Ägypten definiert. Wir griffen hier auf den Mythosbegriff von Roland Barthes zurück, der sowohl den Funktionsmechanismus der Ägyptomanie als auch ihre Produktion, Reproduktion und Rezeption erklären konnte. Die kultursemiotische Betrachtung der Ägyptomanie mit Hilfe von Barthes Mythosbegriff befähigte uns zu einer systematischen Analyse, die es erlaubt ihren Funktionsmechanismus zu durchleuchten. Gleichzeitig wurde die kultursemiotische Analyse in historischer Perspektive durchgeführt, um die Persistenz und Reproduktion der Ägyptomanie verfolgen zu können. Diese historisch-systematische, kultursemiotische Analyse wurde an Ägyptenausstellungen vorgenommen, um die Facetten und die Entwicklung des Mythos Ägypten über 200 Jahre hinweg zu analysieren. Der Mythos Ägypten ist eine Botschaft, die in Ausstellungen an die Besucherinnen kommuniziert wird. Diese Botschaft haben wir entschlüsselt. Was wir in dieser kultursemiotischen Studie gemacht haben ist demnach »Zeichenlesen in Ausstellungen«. Wir haben festgestellt,
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
dass es spezifisch die Ausstellungsinszenierungen sind, die eine Quelle des Mythos Ägypten darstellen. Die Inszenierung der Exponate im Raum, ihr Bezug zueinander und ihre Präsentation mit Hilfe von Mitteln der Inszenierung wie Licht, Dunkelheit, Farben etc., strukturieren und lenken die Wahrnehmung der Besucherin. Das Zusammenspiel der Mittel der Inszenierung und der Exponate evoziert den Mythos Ägypten in jeder einzelnen Ausstellung. Wir haben auch gesehen, dass der Mythosbegriff nach Barthes kein starres Konstrukt ist. Er ist flexibel genug, um ein diffuses und komplexes Phänomen wie die Ägyptomanie in ihren verschiedenen Facetten einzufangen und so anpassungsfähig, dass wir ihn über einen Zeitraum von 200 Jahren auf unsere Ausstellungsbeispiele anwenden konnten, die den jeweiligen Zeitgeist ihrer Epoche spiegelten. Darüber hinaus war es aber notwendig, Barthes Mythosbegriff anzureichern und anzupassen, um so sein volles Potential auszuschöpfen. Die erste neue Erweiterung der barthesschen Mythostheorie war die Einbindung des Simulacrumbegriffs nach Barthes, den wir darüber hinaus mit Platon genauer definiert haben. Barthes analysierte den Mythos synchron in der französischen Alltagskultur der 1950er Jahre.1 Eine diachrone Untersuchung unternimmt er nicht und seine Einzelanalysen beschäftigen sich mit unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen. Wir haben dagegen den Mythos nicht nur in synchroner Perspektive untersucht, sondern darüber hinaus in diachroner Perspektive und an – thematisch gesehen – einem Untersuchungsgegenstand, der Ägyptenausstellung, was uns ermöglichte die Entwicklung des Mythos Ägypten zu verfolgen, so etwa neue Formen und Motive des Mythos, grundlegende Inszenierungsweisen oder spezifische Rezeptionsweisen des Mythos. Der historische Aspekt dieser kultursemiotischen Studie erlaubt, über 200 Jahre in diachroner Perspektive die Entwicklung des Mythos Ägypten in Ausstellungen zu verfolgen. In der historischen Abfolge von Ausstellungen stellte sich zum anderen die Systematik des Mythos heraus. Die synchrone systematische Untersuchung des Mythos innerhalb der verschiedenen Ausstellungen ließ die unterschiedlichen Facetten des Mythos erkennen. So haben wir Barthesʼ Mythosbegriff nicht nur angewendet, sondern auch weitergedacht. Einerseits haben wir das Verständnis des Mythos vertieft, indem wir ihn um eine neue Komponente bereichert haben. Andererseits haben wir Theoreme, die Barthes nur sehr kurz besprochen hat, breiter ausgeführt. Insgesamt wurden so sechs Facetten des Mythos herausgestellt – pro Kapitel zwei –, die im Folgenden, zusammen mit den in der historischen Perspektive aufgedeckten Entwicklungen des Mythos, noch einmal zusammengefasst werden.2 1 2
Seine Einzelanalysen erschienen in Essays zwischen 1954 und 1956; vgl. dazu Ebd., S. 4. Freilich gibt es und kann es noch viele weiter Facetten des Mythos geben. Es sind aber diese sechs Facetten, die wir durch die Analyse unserer Ausstellungsbeispiele feststellen konnten.
Schlussbetrachtung: Die Ewigkeit des Mythos Ägypten
1.
Die Facetten des Mythos Ägypten 1. Facette: Funktionsweise und Etablierung des Mythos Ägypten in Ausstellungen
Wir haben zu Beginn unserer Analyse gesehen, dass Belzonis spezifische Ausstellungsinszenierung die Quelle des Mythos Ägypten war. In dieser ersten, »der Mutter aller ägyptischen Ausstellungen« etablieren sich die Formen und Motive des Mythos Ägypten; das Grundgerüst des Mythos, sein Funktionsmechanismus wird hier angelegt. Wir haben eines der grundlegenden Mittel der Inszenierung von Ägyptenausstellungen kennengelernt: die Dunkelheit, die eine Grabesatmosphäre erzeugen soll. Sie ist gleichsam eine der wichtigsten Formen des Mythos Ägypten, die zusammen mit der Form Grab Assoziationen wie Tod, Geheimnis, Magie und Okkultismus auslöst. Die Dunkelheit in Ägyptenausstellungen ist seit 1821 fester Bestandteil beinahe jeder Ägyptenausstellung. Sie ist zumeist in Ausstellungen anzutreffen, die Objekte aus Grabkontexten oder Grabkopien ausstellen. Die Dunkelheit gibt keinen Kontext für Grabbeigaben, sondern nur Pseudokontext ohne didaktischen Gehalt oder Erkenntnisgewinn. Es geht dabei nur um eine dramatische Inszenierung, um das Wecken von Emotionen bei den Besucherinnen, um das sinnliche Erleben der Ausstellungsräume. Die Dunkelheit als Mittel der Inszenierung und als Form des Mythos begegnete uns über 200 Jahr hinweg immer wieder in unseren Analysen der Ägyptenausstellungen. Des Weiteren taucht in Belzonis Ausstellung zum ersten Mal der Mythos des Entdeckers auf: Durch die Dunkelheit, die eine Grabesatmosphäre evoziert, kann sich die Besucherin fühlen, als ob sie selbst die Entdeckerin ist, die gerade dabei ist, die Geheimnisse des Grabes zu lüften. Der Mythos des Entdeckers ist eng verwoben mit dem Mythos Ägypten und funktioniert nach demselben Mechanismus. Er ist die Konsequenz einer düsteren Inszenierung und ein beliebtes Narrativ auch in kommenden Ausstellungen. 2. Facette: Das ästhetische und das didaktische Simulacrum Auf den untersuchten Ausstellungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden nichtmaßstabsgetreue Kopien von aus verschiedenen Elementen zusammengesetzten Tempeln gezeigt, die wir als Simulacren bezeichnen. Sie sind entweder didaktisch oder ästhetisch motiviert. Eine neue Assoziation gewinnt der Mythos Ägypten mit der Inszenierung ägyptischer architektonischer Elemente und Ornamente des Designers Owen Jones, die er nach ästhetischen Gesichtspunkten auswählte. Diese neue Assoziation und der Fokus von Jonesʼ Inszenierung war diejenige der Schönheit altägyptischer Dinge und Formen. Wurde der altägyptischen Kunst noch zu Belzonis Zeiten ein eigenständiger ästhetischer Gehalt abgesprochen und diese eher als grotesk bezeichnet,
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so beginnt die Assoziation Schönheit ihren sicheren Siegeszug ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Da Jones unterschiedliche Elemente verschiedener Tempel auswählte und unter dem Aspekt der Schönheit neu zusammenfügte, ist seine Inszenierung des Alten Ägypten als ästhetisches Simulacrum zu verstehen. Im Gegensatz dazu war Belzonis Inszenierung des Grabes ein Faksimile, eine maßstabsgetreue Kopie. Auch der Ägyptologe Mariette kreierte für seine Inszenierung des Alten Ägypten auf der Weltausstellung 1867 ein Simulacrum; allerdings vereinte er ästhetische Interessen mit didaktischen Überlegungen. Trotz seiner didaktischen Absichten reproduzierte er weiterhin den Mythos Ägypten, denn ähnlich wie Jones nahm er unterschiedliche architektonische Elemente verschiedener Tempel und fügte sie zu einer Neukreation zusammen. So erschuf er ein Gebäude, das eine Pastiche der Tempel Ägyptens war. So könne wir Mariettes Inszenierung des Alten Ägypten als didaktisches Simulacrum verstehen. Darüber hinaus erschuf er im Inneren seiner Tempelpastiche die Inszenierung eines ägyptischen Grabes, die sich ebenfalls an verschiedenen Elementen unterschiedlicher Gräber bediente. Damit vereinte er die Grabinszenierung Belzonis und die Tempelinszenierung Jonesʼ auf engstem Raum, der zu einer sprudelnden Quelle des Mythos Ägypten wurde. Mariette bediente sich, wie Belzoni, an dem wichtigen Inszenierungsmittel der Dunkelheit im Inneren des Gebäudes, was eine Grabesatmosphäre heraufbeschwor und als Form des Mythos Assoziation wie Tod und Geheimnis weckte. Die Tempelform der Fassade des Gebäudes evozierte, ganz wie bei Jones, Assoziation wie Schönheit, Dekadenz, und Monumentalität. An dieser Facette, den Simulacren, sehen wir, dass sie unweigerlich zu einer Quelle des Mythos Ägypten werden, da sie nicht als Simulacrum, sondern als maßstabgetreue Kopien, als Ebenbild, rezipiert werden. 3. Facette: Das Unheimliche im Mythos Ägypten Mit dem Fund des Tutanchamun 1922 scheint der Mythos Ägypten vollumfänglich bestätigt zu werden: Ein dekadenter Pharao, der so reich war, dass er einen Goldschatz von unermesslichem Reichtum mit ins Grab nahm. Es ist also doch wahr, dass Geheimnisse vergraben sind, dass Schätze in Wüstengräbern gefunden werden und dass die Ägypter aufs Jenseits fixiert waren. Mit Tutanchamun gewann der Mythos Ägypten eine neue Form, die sowohl von altbekannten Assoziationen besetzt wurde, aber auch neue Assoziationen hervorrief. So wurde der Mythos Ägypten um einen neuen Begriff reicher: den Fluch. Tutanchamuns Entdeckung und seine Fundumstände führten dazu, dass dem Mythos die besonders hervorzuhebende neue Assoziation des Fluches hinzugefügt wurde, die von den Formen Tutanchamun, Dunkelheit, Grab und Mumie evoziert wird. Wir haben den Fluch mit Schelling folgendermaßen definiert: Der Fluch ist die konzentrierte malevolente Energie des Willens, der demjenigen Unglück oder den Tod bringt, der
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das Grab Tutanchamuns stört oder auch nur in Berührung mit dessen Grabbeigaben kommt. Der Mythos nach Barthes wurde an dieser Stelle um eine neue, eine emotionale Komponente angereichert. Wir konnten mit Freuds Theorie des Unheimlichen nachweisen, dass sowohl der Fluch als auch andere Assoziationen mit dem Alten Ägypten von einem Gefühl des Unheimlichen begleitet werden können. So ließ sich die besondere Wirkmacht des Fluches erklären, die nicht allein rational zu begründen ist, sondern auch emotional. 4. Facette: Die bewusste Produktion des Mythos Ägypten Wir haben gesehen, dass Tutanchamun als Star zu begreifen ist, der zu einem »Pantheon von best sellers«3 zählt, weshalb er immer wieder und immer häufiger ausgestellt wird. Allein sein Name und seine ikonische Maske generieren, wie von selbst, Publikum. Deshalb haben wir vom Mythos Tutanchamun gesprochen. Auch wenn man von einem Mythos Tutanchamun reden kann, ist er als Form freilich trotzdem dem Mythos Ägypten untergeordnet. Schönheit, Schatz und Reichtum sind neben dem Fluch die herausragenden Motive des Mythos Tutanchamun, die bis heute fortwirken. Ab den 1960er Jahren treten aber noch zwei weitere Motive in den Fokus der Tutanchamunrezeption: die Assoziation Kunst beziehungsweise Kunstwerke mit Tutanchamuns Grabbeigaben und die Assoziation, dass es sich dabei um ein Kulturerbe handelt, um etwas, was der ganzen Menschheit gehört, nicht nur Ägypten. Die bewusste Produktion des Mythos Ägypten konnten wir in der Blockbuster-Ausstellung Treasures of Tutankhamun sehen, die die Sehgewohnheiten der Besucherinnen bediente. Die Ausstellung rückte die Motive Kunstwerk und Schönheit stark in den Mittelpunkt der Inszenierung, denn die Exponate wurden isoliert voneinander und das heißt, ohne ihren kulturellen Kontext, präsentiert. Neben ihrem künstlerischen Wert wurde auch immer wieder der materielle Wert der aus Gold oder vergoldeten Materialien bestehenden Exponate betont. Die Hervorhebung des Goldes verstärkte unweigerlich die Assoziationen Reichtum, Dekadenz und Schatz mit Tutanchamuns Grabbeigaben. Das Ausstellungsnarrativ folgte der Geschichte der Entdeckung des Grabes durch Howard Carter. Die Ausstellung wurde so inszeniert, dass sich die Besucherinnen wie Carter fühlen konnten. Die Form des Mythos und das Mittel der Inszenierung, die Dunkelheit, wurde dementsprechend in der Ausstellung eingesetzt. 5. Facette: Fortschritt Das dritte Kapitel zeigte die Extrempunkte im Umgang mit dem Mythos auf, und zwar die beiden Facetten Fortschritt und Rückschritt. Wir haben gesehen, dass ei-
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Adorno: »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«, a.a.O., S. 22.
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ne Gleichzeitigkeit von Fortschritt und Rückschritt in Bezug auf die Produktion und Reproduktion des Mythos in aktuellen Ausstellungen besteht. Fortschritt bedeutet, dass uns im 21. Jahrhundert ein neuer Umgang mit dem Mythos Ägypten in Ausstellungen begegnet. Das heißt konkret, dass er in Ausstellungen thematisiert wird, was es prinzipiell möglich macht, ihn zu entlarven. Sowohl die Ausstellung Hollywoodʼs Egypt als auch die Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva beschäftigten sich mit der populären Rezeption des Alten Ägypten und thematisierten damit gleichermaßen den Mythos Ägypten. Statt dass der Mythos wie in den vorangegangenen Ausstellungen durch die jeweilige Inszenierung immer wieder evoziert und reproduziert wurde, ermöglichten diese beiden Ausstellungen, durch ihre fortschrittliche Inszenierung, den Mythos zu entlarven. a) Mythologie durch Analogie Das kann, wie wir gesehen haben, geschehen durch eine Veränderung der Sehgewohnheiten der Besucherinnen mit Hilfe des Vergleichs zweier Exponate wie in der Ausstellung Hollywoodʼs Egypt. Ein altägyptisches Totenbuch und ein FilmTotenbuch aus The Mummy wurden gemeinsam inszeniert, was es möglich machte den Mythos zu entlarven durch das, was Barthes die dritte semiologische Kette genannt hat. b) Mythologie durch Wiederholung Anhand der Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva konnten wir die Entwicklung des Mythos Kleopatra über zwei Jahrtausende verfolgen: Kleopatra haben wir als leere Form gelesen, die je nach Zeitgeist mit anderen oder neuen Assoziationen befrachtet wird, während ihr die immer gleichen Motive trotzdem anhaften bleiben. In dieser Ausstellung wurde die Geschichte, die Biografie eines Mythos gezeigt und nicht die historische Person Kleopatra. Hier wird der Mythos offen zur Schau gestellt, indem seine Rezeptionsgeschichte inszeniert wird. So offenbart sich der Mythos in der Wiederholung der immer gleichen Assoziationen innerhalb der gleichen Formen und Formelement. Die Besucherin hat so die Möglichkeit, den Mythos Kleopatra als Mythos zu lesen und nicht als Fakt. Diese Entlarvung des Mythos durch Wiederholung wurde von Barthes in Mythen des Alltags kurz angedeutet, wir haben seinen Ansatz hier am Beispiel expliziert und konkretisiert. Als Fazit zu dieser Facette des Mythos, dem Fortschritt, können wir festhalten: Indem diese beiden Ausstellungen nicht zur Reproduktion des Mythos beitragen, kann man sie als fortschrittlich betrachten. 6. Facette: Rückschritt Der Mythos gilt auf Grund der beiden fortschrittlichen Ausstellungen allerdings nicht als überwunden; ganz im Gegenteil: Zeitgleich gibt es Ausstellungen wie Scanning Sethos, die ihn in seinem gesamten Spektrum durch eine reaktionäre Inszenierung evozieren und reproduzieren. Reaktionär ist diese Inszenierung, insofern
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sie sich beinahe ausschließlich an der Inszenierung und dem Konzept Belzonis orientiert, anstatt sich mit zeitgenössischen Präsentationsweisen auseinanderzusetzen. Der Rückschritt manifestiert sich hier unter anderem durch die klassischen Motive und Formen des Mythos Ägypten, die bereits 200 Jahre zuvor in Belzonis Ausstellung etabliert wurden. Das heißt konkret, dass wir mit Hilfe unserer Ausstellungsanalyse nachweisen konnten, dass hier auf die Ursprünge des Mythos im 19. Jahrhundert zurückgegriffen wurde. Wir haben auch den Mythos Technik kennengelernt. Die Technik wird zur neuen Hieroglyphe, indem sie so inszeniert wird, dass sie die Assoziationen rätselhaft und magisch hervorruft. Dass die Technik dabei selbst zum Gegenstand der Inszenierung, zum Exponat wird, anstatt bloß eines ihrer Mittel zu sein, zeigt: Nicht die Technik wird in den Dienst der Vergangenheit gestellt, sondern die Vergangenheit wird in den Dienst der Technik gestellt.
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Zusammenfassung und Ausblick
Im Folgenden wollen wir unsere wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammenfassen und einen Ausblick auf eine mögliche Entwicklung der Ägyptenausstellung geben. Die Ägyptomanie ist als Mythos von Ägypten einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht worden. Die Inszenierungen orientieren sich durchweg an der »Mutter aller ägyptischen Ausstellungen«. Belzoni errichtete somit das Grundgerüst für den Mythos in Ausstellungen, an dem es so gut wie keine Änderungen gibt. Wir haben allerdings gesehen, dass auf der Ebene des Begriffs, das heißt der einzelnen Assoziationen, durchaus ein Wandel stattfindet. Je nach Zeitgeist werden einzelne Assoziationen wie »grotesk« obsolet und andere, wie die Schönheit oder der Fluch, treten hinzu. Sie machen den Mythos in Bezug auf seine Inhalte variantenreicher. Ebenso können neue Formen auftreten, wie Nofretete oder Tutanchamun, die dann mit althergebrachten Assoziationen wie der Schönheit angefüllt werden oder neue hervorrufen wie den Fluch. Eine Entwicklung können wir bis gegen Ende des 20. Jahrhundert somit nur auf der Ebene des Begriffs und der Form beobachten; der Funktionsmechanismus und die Rezeption des Mythos dagegen gehen ihren immergleichen Gang. Erst im 21. Jahrhundert wird dieser immergleiche Gang in Ausstellungen durchbrochen, in denen der Mythos als Mythos thematisiert und offen zur Schau gestellt wird. Dieser Bruch stellt aber nicht das Ende der Reproduktion des Mythos Ägypten in Ausstellung dar, sondern vielmehr den Beginn zweier Entwicklungslinien: Auf der einen Seite steht die fortschrittliche Ägyptenausstellung, die den Mythos und damit sowohl die populäre Ägyptenrezeption als auch die wissenschaftliche thematisiert; auf der anderen Seite stehen
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sie sich beinahe ausschließlich an der Inszenierung und dem Konzept Belzonis orientiert, anstatt sich mit zeitgenössischen Präsentationsweisen auseinanderzusetzen. Der Rückschritt manifestiert sich hier unter anderem durch die klassischen Motive und Formen des Mythos Ägypten, die bereits 200 Jahre zuvor in Belzonis Ausstellung etabliert wurden. Das heißt konkret, dass wir mit Hilfe unserer Ausstellungsanalyse nachweisen konnten, dass hier auf die Ursprünge des Mythos im 19. Jahrhundert zurückgegriffen wurde. Wir haben auch den Mythos Technik kennengelernt. Die Technik wird zur neuen Hieroglyphe, indem sie so inszeniert wird, dass sie die Assoziationen rätselhaft und magisch hervorruft. Dass die Technik dabei selbst zum Gegenstand der Inszenierung, zum Exponat wird, anstatt bloß eines ihrer Mittel zu sein, zeigt: Nicht die Technik wird in den Dienst der Vergangenheit gestellt, sondern die Vergangenheit wird in den Dienst der Technik gestellt.
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Im Folgenden wollen wir unsere wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammenfassen und einen Ausblick auf eine mögliche Entwicklung der Ägyptenausstellung geben. Die Ägyptomanie ist als Mythos von Ägypten einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich gemacht worden. Die Inszenierungen orientieren sich durchweg an der »Mutter aller ägyptischen Ausstellungen«. Belzoni errichtete somit das Grundgerüst für den Mythos in Ausstellungen, an dem es so gut wie keine Änderungen gibt. Wir haben allerdings gesehen, dass auf der Ebene des Begriffs, das heißt der einzelnen Assoziationen, durchaus ein Wandel stattfindet. Je nach Zeitgeist werden einzelne Assoziationen wie »grotesk« obsolet und andere, wie die Schönheit oder der Fluch, treten hinzu. Sie machen den Mythos in Bezug auf seine Inhalte variantenreicher. Ebenso können neue Formen auftreten, wie Nofretete oder Tutanchamun, die dann mit althergebrachten Assoziationen wie der Schönheit angefüllt werden oder neue hervorrufen wie den Fluch. Eine Entwicklung können wir bis gegen Ende des 20. Jahrhundert somit nur auf der Ebene des Begriffs und der Form beobachten; der Funktionsmechanismus und die Rezeption des Mythos dagegen gehen ihren immergleichen Gang. Erst im 21. Jahrhundert wird dieser immergleiche Gang in Ausstellungen durchbrochen, in denen der Mythos als Mythos thematisiert und offen zur Schau gestellt wird. Dieser Bruch stellt aber nicht das Ende der Reproduktion des Mythos Ägypten in Ausstellung dar, sondern vielmehr den Beginn zweier Entwicklungslinien: Auf der einen Seite steht die fortschrittliche Ägyptenausstellung, die den Mythos und damit sowohl die populäre Ägyptenrezeption als auch die wissenschaftliche thematisiert; auf der anderen Seite stehen
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konservative oder gar reaktionäre Ägyptenausstellungen. Die konservative Ägyptenausstellung will den status quo erhalten und Ausstellungen so inszenieren, wie das seit den 1970er Jahren gemacht wird. Die reaktionäre Ausstellung dagegen orientiert sich nicht am status quo, sondern an den Ursprüngen der Ägyptenausstellung im 19. Jahrhundert. Im 21. Jahrhundert sehen wir somit zur gleichen Zeit Fortschritt, Stillstand und Rückschritt der Ägyptenausstellung. Blicken wir von diesem Punkt zurück, so lässt sich keine lineare Geschichte des Mythos in Ausstellungen erkennen. Besonders deutlich wurde uns das an der Zirkularität der Wiederkehr der Inszenierung Belzonis, die wir in der Scanning Sethos Ausstellung beobachten konnten. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Geschichte der Ägyptenausstellung zirkulär ist; schließlich hat sich die Zirkularität nur in Bezug auf den von uns gewählten Endpunkt ergeben. Die Gleichzeitigkeit von Fortschritt, Stillstand und Reaktion, die ewige Wiederkehr bestimmter Inszenierungsmittel, das Zurück- und Hervortreten bestimmter Assoziationen lassen vielmehr den Schluss zu, dass die Entwicklung des Mythos Ägypten in Ausstellungen bis jetzt keinem klar erkennbaren Gesetz unterliegt, sondern von schwer zu durchschauenden Vorlieben des Zeitgeistes abhängt. Wir haben zum Beispiel gesehen, dass das Inszenieren mit Hilfe von Kopien im 19. Jahrhundert weit verbreitet war, und dass dieser Trend erst im 21. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurde. Genauso gut kann es aber auch sein, dass es in naher Zukunft wieder nicht mehr salonfähig sein wird, Ausstellungen mit Kopien zu machen, obwohl der Trend zurzeit sichtbar dahin geht, altägyptische Objekte und Monumente allein aus Gründen der Erhaltung zu digitalisieren und zu reproduzieren, um sie für kommende Generationen zu bewahren. Da es keine klare Entwicklungslinie in der Geschichte der Ägyptenausstellung gibt, lässt sich keine klare Prognose in Bezug auf die Zukunft abgeben, die mehr wäre als bloßes Raten. Sicherlich lassen sich etablierte Tendenzen aufzeigen, die weiterhin Bestand haben werden: So wird sich die Tendenz, Ausstellungen zu produzieren, die auf die Stars des Alten Ägypten fokussieren oder sich an ihnen orientieren, sicherlich weiterhin durchsetzen. Zum »Pantheon von best sellers«4 , die ein großes Publikum allein wegen ihrer Berühmtheit anziehen, gehören Stars des Alten Ägypten wie Tutanchamun, Nofretete, Kleopatra, Ramses II., Mumien aber auch Gold.5 In diesem Zusammenhang wird es aber auch weiterhin Ausstellungen geben, die die jüngeren Stars des Mythos Ägypten thematisieren, die Abenteurer, Ausgräber und
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Ebd. Als Beispiel sei hier die Jubiläumsausstellung Tutanchamun zu nennen, die auf Welttournee gehen sollte, um das 100-jährige Fundjubiläum zu zelebrieren, aber wegen der Covid19 Pandemie eingestellt wurde. Eine neue Großausstellung zu Ramses II. begann im Oktober 2021 ihre Tournee, die sie in verschiedene Länder führt.
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Entdecker, die wie ihre Fundgegenstände ebenfalls zu Stars werden.6 Ihre Entdeckungsgeschichte wird zur Heldengeschichte, welche in den Ausstellungen erzählt wird. Der Mythos Entdecker, als Teil des Mythos Ägypten, wird weiterhin, vielleicht sogar zunehmend in den Ausstellungen reproduziert, um den Besucherinnen ein sinnliches Erlebnis der Entdeckung und eine Identifikationsfigur zu bieten. Wenn unsere Analyse uns auch nicht ermöglicht hat, die Zukunft der Ägyptenausstellung verlässlich zu prognostizieren, so hat sie doch aufgezeigt, welche Möglichkeiten die Ägyptenausstellung im Umgang mit dem Mythos hat. Für »die Rehabilitierung der außer- oder vorwissenschaftlichen Ägyptenrezeption« im Allgemeinen und im Ausstellungswesen im Besonderen hat sich bereits in den 1990er Jahren die Ägyptologin Julia Endrödi ausgesprochen und festgestellt: »Ausstellungen, die sich als Thema [lediglich, d. Verf.] Altägypten vornehmen, sind viel weniger anregend, weil sie die Rezeptions- und Forschungsgeschichte weiterhin bis auf weniges ausgrenzen.«7 Die populäre Rezeption des Alten Ägypten in Ausstellungen zu thematisieren, bietet, so haben wir gesehen, die Möglichkeit, den Mythos Ägypten zu zeigen und zu reflektieren. Die Thematisierung des Mythos wiederum ermöglicht es den Mythos zu entlarven oder ihn zumindest nicht weiterhin wie gewohnt zu reproduzieren. Hier haben sich zwei Wege gezeigt: Der vergleichende Blick ermöglicht es, Mythologie durch Analogie zu betreiben. Dieses Verfahren haben wir in der Ausstellung Hollywoodʼs Egypt angetroffen. Dabei wird die Besucherin mit zwei Exponaten konfrontiert, einem altägyptischen Original und einem modernen Simulacrum eines altägyptischen Objekts aus einem Hollywoodfilm. Der direkte Vergleich des Originals mit dem Filmrequisit ermöglicht es der Besucherin, den Mythos als Mythos zu entziffern. Das zweite Verfahren besteht darin, den Mythos in den Fokus der Ausstellung zu stellen und ihn durch Wiederholung zu enthüllen. Der Mythos Kleopatra wurde zum Beispiel in der Ausstellung Kleopatra. Die ewige Diva durch die Präsentation seiner sich wiederholenden Formen und Formelemente, der Exponate, und der sich ständig in ihnen wiederholenden Assoziationen offengelegt. Diese Offenbarung des Mythos funktionierte gerade deshalb so gut, weil auf eine wissenschaftliche Stellungnahme zur historischen Kleopatra verzichtet wurde. Die Ausstellung konzentrierte sich allein auf die Rezeptionsgeschichte der Kleopatra und präsentierte so eine Bestandsaufnahme des Mythos. Da der Einsatz von Technik in Ausstellungen nicht mehr wegzudenken ist und ihr Endresultat, in unserem Fall die Faksimiles, zukunftsrelevant sind, wäre auch ein reflektierter Umgang mit dieser Technik und ihr sinnvoller Einsatz in Ausstellungen zielführend. Die Technik sollte in Ausstellungen nicht im Vordergrund ste-
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Besonders Frankreich weist zurzeit eine besondere Vorliebe für solche Ausstellungen auf, in denen ihre Nationalhelden, die Gebrüder Champollion, gefeiert werden. Auch ein neues Museum, das den Champollions gewidmet ist, wurde errichtet. Endrödi: »Die Ewigkeit der Ägyptomanie«, a.a.O., S. 166.
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hen, sondern ihr Endresultat. Das wären in unserem Beispiel der Ausstellung Scanning Sethos die Faksimiles, sowohl der Grabkammern als auch der Grabbeigaben wie dem faksimilierten Sarkophag Sethos I. So könnte man zum Beispiel Grabbeigaben und Grab mit Hilfe ihrer Faksimiles wieder zusammenführen. Denn wie wir wissen, wird der Sarkophag im John Soaneʼs Museum aufbewahrt. Das würde bedeuten, dass das Faksimile des Sarkophags nicht, wie in der Ausstellung Scanning Sethos geschehen, in einem isolierten Ausstellungsraum gezeigt wird, sondern in der Grabkopie selbst. Wenn man die Technik zur dreidimensionalen Reproduktion von Objekten hat, wäre es auch sinnvoll andere Grabbeigaben, wie zum Beispiel Uschebtis, zu faksimilieren – und das in authentischer Anzahl von über 400 oder über 800 Stück. Diese Menge faksimilierter Uschebtis würde den Besucherinnen ermöglichen, ihre Sehgewohnheiten zu ändern, und zu erkennen geben, dass es sich bei ihnen um eine Massenware handelte. So würde der Auratisierung des Einzelstücks wirkungsvoll begegnet. Zielführend wäre es, wenn in Ausstellungen, die die Farbigkeit ihrer faksimilierten Reliefs betonen, das Faksimile, wie die Hall of Beauties, auch gut ausgeleuchtet wird, so dass man diese Farbigkeit entsprechend wahrnehmen kann. Die Dunkelheit in Ägyptenausstellungen und die Assoziationen, die durch sie entstehen, bleiben nämlich in den meisten Fällen unreflektiert. Ob sie nun bewusst oder unbewusst eingesetzt wird, ob sie notwendig ist zum Schutz der lichtempfindlichen Exponate – all diese Umstände ändern nichts an der Wahrnehmung der Besucherinnen, die durch die Dunkelheit gesteuert wird. Denn diese assoziieren die Dunkelheit unwillkürlich mit einer Grabesatmosphäre, mit Tod; bisweilen wird auch das Gefühl des Unheimlichen ausgelöst. Natürlich können auch Ausstellungsmacherinnen die Dunkelheit bewusst zur Evozierung einer Grabesatmosphäre und zur Steuerung der Emotionen der Besucherinnen einsetzen. In diesem Fall sind sie Mythenproduzentinnen, die dann aber klar zu ihrer mythischen Inszenierung stehen sollten und diese reflektieren sollten. Mit Wissenschaftlichkeit, historischer Korrektheit oder authentischem Kontext aus didaktischen Gründen – weil es sich um Grabbeigaben handelt – hat die Dunkelheit aber nichts zu tun. Die Grabesatmosphäre erzeugt keinen Erkenntnisgewinn; sie erzeugt ein sinnliches Erlebnis und sie produziert den Mythos Ägypten in dem Augenblick, in dem die Besucherin die abgedunkelten Räumlichkeiten betritt. Jenseits konkreter Erkenntnisse scheint uns das bedeutendste Ergebnis unserer Untersuchung der Nachweis zu sein, dass die Ägyptomanie, auch wenn sie irrational und unwissenschaftlich ist, einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich ist und dass die wissenschaftliche Analyse der Ägyptomanie auch für die Ägyptologie unverzichtbar ist, insofern sie ihr erlaubt, sich in ihrer Beziehung zur Öffentlichkeit und zur populären Rezeption des Alten Ägyptens reflektiert zu verorten.
Literaturverzeichnis
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
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Filmverzeichnis
Cleopatra (USA 1934, R: Cecil B. De Mille) Cleopatra (USA, 1963, R: Joseph L. Mankiewicz) The Mummy (USA 1999, R: Stephen Sommers) The Mummy Returns (USA 2001, R: Stephen Sommers) The Ten Commandments (USA 1956, R: Cecil B. DeMille)
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Johann Georg Schütz, Friedrich Bury, »Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in der Campagna«, aquarellierte Federzeichnung. .......................................................................... 17 Abbildung 2: Mythossystem nach Barthes.................................................. 25 Abbildung 3: Bullock’s Museum, (Egyptian Hall or London Museum), Piccadilly. Coloured aquatint, attributed to T. H. Shepherd, 1815. ..................................... 60 Abbildung 4: Peripatetic placard, der für Belzonis Ausstellung wirbt. Aquarell von George Scharf (1788-1860). ............................................................... 65 Abbildung 5: Blick in Belzonis Ausstellung. Lithographie von Th. Kelly. ..................... 69 Abbildung 6: The Crystal Palace, London: the Egyptian Court. Photograph, 1854/1862........ 98 Abbildung 7: Tempel-Pavillon auf der Weltausstellung 1867. Abbildung 8: Besucherinnen im Ausstellungssaal des Tempel-Pavillons 1867. .............. 108 Abbildung 9: Blick in Tutanchamuns Grabkopie auf der British Empire Exhibition, Wembley. The Sphere, 24.05.1824, Zeichnung von D. Macpherson. ........................ 162 Abbildung 10: Selket. Abbildung 11: Tutanchamun als Harpunierer. ............................................. 178 Abbildung 12: Eingang zur Ausstellung Treasures of Tutankhamun im Met. Vergrößerung eines Fotos von Harry Burton. .................................................... 199 Abbildung 13: Blick in die Ausstellung Hollywoods Egypt. Rechts im Vordergrund: Filmkostüm. Im Hintergrund: roter Gang, der zu den (Kino)Sälen führt; rechts und links Filmplakate von Cleopatra (USA, 1963, R: Joseph L. Mankiewicz) und The Ten Commandments (USA 1956, R: Cecil B. DeMille). .............................................214 Abbildung 14: Book of the Dead aus The Mummy (USA 1999, R: Stephen Sommers) in der Ausstellung Hollywoods Egypt. Abbildung 15: Papyrusblatt aus dem Totenbuch der Asetweret. ........................... 220 Abbildung 16: Kleopatra – die ewige Diva: Installationsansicht. Andy Warhol, Blue Liz as Cleopatra, 1962. ................................................ 226 Abbildung 17: Blick in den ersten Ausstellungsraum von Scanning Sethos. Porträt Belzonis vorne rechts im Bild. ........................................................... 249 Abbildung 18: Blick auf die Inszenierung des Vorhangs, der Belzonis Entwurf des Grabeingangs Sethos I. zeigt. Im Vordergrund: Modell des Grabes Sethos I................. 256 Abbildung 19: Faksimile der Hall of Beauties, Zustand 1817. ................................ 258
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Mythos Ägypten — eine kultursemiotische Studie
Abbildung 20: Faksimile der Hall of Beauties, Zustand 2017. ............................... 259 Abbildung 21: Inszenierung des Sarkophags (Faksimile) von Sethos I. in Scanning Sethos. ..................................................................... 270
Geschichtswissenschaft Thomas Etzemüller
Henning von Rittersdorf: Das Deutsche Schicksal Erinnerungen eines Rassenanthropologen. Eine Doku-Fiktion September 2021, 294 S., kart., Dispersionsbindung 35,00 € (DE), 978-3-8376-5936-8 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5936-2
Thilo Neidhöfer
Arbeit an der Kultur Margaret Mead, Gregory Bateson und die amerikanische Anthropologie, 1930-1950 Juni 2021, 440 S., kart., Dispersionsbindung, 5 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5693-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5693-4
Norbert Finzsch
Der Widerspenstigen Verstümmelung Eine Geschichte der Kliteridektomie im »Westen«, 1500-2000 Mai 2021, 528 S., kart., Dispersionsbindung, 30 SW-Abbildungen 49,50 € (DE), 978-3-8376-5717-3 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5717-7
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Geschichtswissenschaft Frank Jacob
Freiheit wagen! Ein Essay zur Revolution im 21. Jahrhundert April 2021, 88 S., kart., Dispersionsbindung 9,90 € (DE), 978-3-8376-5761-6 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5761-0
Sebastian Haumann, Martin Knoll, Detlev Mares (eds.)
Concepts of Urban-Environmental History 2020, 294 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4375-6 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4375-0
Verein für kritische Geschichtsschreibung e.V. (Hg.)
WerkstattGeschichte 2021/2, Heft 84: Monogamie September 2021, 182 S., kart., Dispersionsbindung, 4 Farbabbildungen 22,00 € (DE), 978-3-8376-5344-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5344-5
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