Lebenswelt Großstadt: Eine phänomenologische Studie 9783495808085, 9783495487242


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German Pages [297] Year 2016

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Inhalt
Vorwort
A Hinführung
I. Phänomenologische Vorstellung
II. Methodische Vor-Überlegungen
B Schauen Ordnen Konstituieren
I. Das Prinzip aller Prinzipien
II. Die Intentionalität
III. Ordnung – Bilder der Großstadt
IV. Die Oberflächen der Lebenswelt ›Großstadt‹
V. Oberfläche und Untergrund
C Wirkliches In-der-Welt-sein
I. Lebenswelt ›Großstadt‹ als Da-sein und So-sein
II. Leibhafte Anthropologie
III. Der großstädtische Zeit-Raum als anthropologische Endzone
IV. Stimmung und Gestimmtsein
D Das Wesen schauen
I. Der Blick der Wissenschaften auf ›Großstadt‹
II. Psychoanalyse und Phänomenologie
III. Das Wesen vorstellen
IV. Ästhetische Phänomenologie
V. Der phänomenologische Blick
E Großstadt Existenz
I. Die Moderne
II. Moderne Großstadt
III. Großstadt-Reflexionen
IV. Fundamentale Anthropologie
V. Existentielle Reflexion der Reflexionen
VI. Das endlose Geschäft reflexiver Reflexion
VII. Selbst-Leistung
VIII. Lebenswelt ›Großstadt‹ als wirklich-transzendentale Ortschaft
IX. Lebenswelt ›Großstadt‹ als existentielle Perspektive
X. Theoretisches und praktisches In-der-Welt-sein
F Existentielle Phänomenologie
I. Eine ›kleine‹ Phänomenologie der Interpersonalität
II. Das ›Vor-Bild‹ Husserls
III. ›Klassische Phänomenologie‹ und ›existentielle Phänomenologie‹
IV. Krise des Philosophierens
V. Der Naturalismus
VI. Existentielle Verwirklichung des ›idealistischen‹ Lebenswelt-Begriffs
VII. Der erweiterte Phänomenologie-Begriff
VIII. Reflexion und Krisis
G Gestalt und Gestaltung der Lebenswelt Großstadt
I. Daseins-Raum: Lebenswelt ›Großstadt‹
II. Endspiel ›Großstadt‹
III. Verinnerlichte Welt-Großstadt
IV. Daseins-Welt
V. Großstadt-Kunst
VI. Krank-sein
VII. Großstadt und Religion
Literaturverzeichnis
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Lebenswelt Großstadt: Eine phänomenologische Studie
 9783495808085, 9783495487242

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A

Wolfgang H. Gleixner

Lebenswelt Großstadt Eine phänomenologische Studie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495808085

.

B

Wolfgang H. Gleixner Lebenswelt Großstadt

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

Diese Arbeit reflektiert die Großstadt phänomenologisch konsequent als ›Lebenswelt‹. Die Lebenswelt Großstadt vorgestellt als Gestalt und Gestaltung wirklich wesentlichen Menschseins hier und jetzt. Damit, und das ist ein Ziel dieser Untersuchung, lässt sich eine Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt nicht von einer existentiell gerichteten Anthropologie lösen. – Wir leben, arbeiten, lieben und leiden eben nicht in einer Lebenswelt an und für sich. Nicht eine abstrakt eingeführte Lebenswelt wird als das Fundament unseres Daseins vorgestellt, also unseres Wahrnehmens, Erkennens, Fühlens; nicht sie ist Horizont unseres Krankseins, unserer Kunst und unserer Religion. Sondern die Lebenswelt Großstadt wird phänomenologisch eingeführt als ›die‹ wirkliche Wirklichkeit unseres wirklich wirklichen Da-und-So-seins. So reflektiert sich die Lebenswelt Großstadt phänomenologisch als ›aktives‹ und ›passives‹, als ›willkürliches‹ und ›unwillkürliches‹ existentielles Aktgeflecht, in und mit dem sich das leibhafte Dasein ganz und gar als In-der-Welt-sein eingefaltet erlebt. Lebenswelt Großstadt und unser Da-und-So-in-der-Welt-sein können phänomenologisch also gleichgesetzt werden. Somit ist Daseins-Analyse Lebenswelt-Analyse und umgekehrt. Das hätte – und darauf macht diese Arbeit besonders aufmerksam – Folgen für Psychologie, Medizin, Psychiatrie und nicht zuletzt auch für die Theologie.

Der Autor: Wolfgang H. Gleixner, Studium der Theologie (Philosophisch-theologische Ordenshochschule St. Augustin), Philosophie und vgl. Religionswissenschaft an der Universität Bonn. Promotion 1985. Bis 2014 Wissenschaftlicher Referent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover (fiph). Buchveröffentlichungen zur Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

Wolfgang H. Gleixner

Lebenswelt Großstadt Eine phänomenologische Studie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © grandeduc – Fotolia.com Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48724-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80808-5

https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A Hinführung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Phänomenologische Vorstellung . . . . . . . . . . . . . II. Methodische Vor-Überlegungen . . . . . . . . . . . . .

B Schauen Ordnen Konstituieren

. . . . I. Das Prinzip aller Prinzipien . . . . II. Die Intentionalität . . . . . . . . . III. Ordnung – Bilder der Großstadt . .

. . . .

. . . .

. . . .

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. . . . IV. Die Oberflächen der Lebenswelt ›Großstadt‹ . V. Oberfläche und Untergrund . . . . . . . . .

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. . . . . .

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9 11 11 22

. . . . . .

25

C Wirkliches In-der-Welt-sein . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

I. Lebenswelt ›Großstadt‹ als Da-sein und So-sein . . . . .

49

25 27 31 39 40

II. Leibhafte Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

III. Der großstädtische Zeit-Raum als anthropologische Endzone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

IV. Stimmung und Gestimmtsein . . . . . . . . . . . . . .

66

D Das Wesen schauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

I. Der Blick der Wissenschaften auf ›Großstadt‹ II. Psychoanalyse und Phänomenologie . . . . .

. . . . . . . . . . . . IV. Ästhetische Phänomenologie . . . . . . . . V. Der phänomenologische Blick . . . . . . . .

III. Das Wesen vorstellen

. . . . .

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. . . . .

69 73 77 83 87

5 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

Inhalt

E Großstadt Existenz

. . . . . . I. Die Moderne . . . . . . . . II. Moderne Großstadt . . . . III. Großstadt-Reflexionen . . .

. . . .

. . . . IV. Fundamentale Anthropologie .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . . .

. . . . . V. Existentielle Reflexion der Reflexionen . VI. Das endlose Geschäft reflexiver Reflexion . VII. Selbst-Leistung . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

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. . . . . . . .

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95 95 98 106 108 114 124 127

VIII. Lebenswelt ›Großstadt‹ als wirklich-transzendentale Ortschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134

IX. Lebenswelt ›Großstadt‹ als existentielle Perspektive . . .

140

X. Theoretisches und praktisches In-der-Welt-sein . . . . .

143

F Existentielle Phänomenologie

. . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Eine ›kleine‹ Phänomenologie der Interpersonalität . . . 145 II. Das ›Vor-Bild‹ Husserls . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

III. ›Klassische Phänomenologie‹ und ›existentielle Phänomenologie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Krise des Philosophierens

155

. . . . . . . . . . . . . . . . 160

V. Der Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

VI. Existentielle Verwirklichung des ›idealistischen‹ Lebenswelt-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168

VII. Der erweiterte Phänomenologie-Begriff . . . . . . . . .

174

VIII. Reflexion und Krisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

182

G Gestalt und Gestaltung der Lebenswelt Großstadt . . . . . .

189

I. Daseins-Raum: Lebenswelt ›Großstadt‹ II. Endspiel ›Großstadt‹ . . . . . . . . . . III. Verinnerlichte Welt-Großstadt . . . . . IV. Daseins-Welt

. . . . . . . . . . . . .

V. Großstadt-Kunst . . . . . . . . . . . .

. . . . .

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. . . . .

6 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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189 192 200 206 209

Inhalt

VI. Krank-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Großstadt und Religion

234

. . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

7 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

Vorwort

Wir kommen nicht umhin, uns selbst, immer wieder und von Anfang an, systematisch zu reflektieren. Radikal, wirklich, wesentlich, kurz – philosophisch! Das ist nicht einer bloß theoretisch gerichteten Neugierde geschuldet. Ein nach wie vor umlaufendes (geradezu ›rührendes‹) Missverständnis der universitären Philosophie. Sondern Philosophieren ist praktisch ›notwendig‹ und notwendig ›praktisch‹ für uns. Nur als wortwörtlich so ›Reflektierende‹ können wir miteinander, in einer uns gemeinsamen Welt, wirklich menschengemäß, ›menschenwürdig‹ leben. 1 Eine so gerichtete Reflexion unser selbst ist zweifellos eine nicht gerade einfache philosophische Herausforderung. Um das zu sehen, genügt ein Blick in die Geschichte der Philosophie. – Not tut, und das mehr denn je, ein wirklich radikales Reflektieren. Also eine existentielle Reflexion der Reflexionen. Das ist, und es kann nicht anders sein, vor allem eine existentielle (auch eine anthropologische) Herausforderung für uns Philosophierende selbst. Wir als Philosophierende stellen uns selbst für uns selbst radikal infrage. – Jeder idealistische Hochmut, jede transzendentale Selbstgewissheit, jede wissenschaftliche Sicherheit ist für uns wirklich endgültig dahin! – Das Denken, das sich diesem radikal philosophischen Selbstverständnis stellt, ist die existentielle Phänomenologie. Sie müht sich, und das wortwörtlich, um die ›wirkliche Ortschaft‹ der notwendig ›verunsicherten reflexiven Reflexion‹. – Das erste ist, uns selbst mit und in unserer ›Lebenswelt‹ radikal zu schauen. Ausdrücklich: von Anfang an! Ohne ideologischen Zorn und utopischen Eifer! Sich also nicht durch diese oder jene, ich sage das in allem Ernst, beeindruckenden philosophischen Vorstellungen (›Ideale‹) der ›abendländischen‹ Tradition den Blick verstellen zu lassen. Im Übrigen ist dabei die phänomenologische Tradition ausdrücklich nicht ausgenommen.

1

Hans Wagner. Die Würde des Menschen. Würzburg 1992.

9 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

Vorwort

Wirklich selbstverantwortliches Philosophieren ist von Anfang an systematisches Philosophieren. – Das benennt auch die entscheidende Herausforderung für unser Philosophieren selbst. Im Blick ist also konsequent ein wesentlich-wirkliches Philosophieren, eine systematische Phänomenologie. Wie von selbst drängt sich dabei die Lebenswelt ›Großstadt‹ nach vorne. Die ›Logik dieses systematischen Philosophierens‹ und eine ›Reflexion des Da-in-der-Welt-seins‹ sind nämlich wesentlich-wirklich aufeinander verwiesen. Schon allein aus diesem Grunde ist, diesseits aller philosophischen Moden, eine Phänomenologie der Existenz, unseres wesentlich wirklichen Existierens, notwendig. Nicht abstrakt, anthropologisch verstiegen und ›idealistisch unwirklich‹. Sondern als Reflexion unseres Da-und-So-in-der-Weltseins. Kurz und knapp: Wir existieren nur ›mit‹ einer wirklichen Lebenswelt. Diese wirkliche Lebenswelt hier und jetzt ist für uns die Lebenswelt ›Großstadt‹. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ausdrücklich gefasst als notwendig existentielle Gestalt und Gestaltung unseres ›modernen‹ Daseins. Von diesem wirklich-wesentlichen So-Da aus bestimmt sich nicht nur unser alltägliches Nachdenken über dieses oder jenes, es ist nicht nur der Horizont unseres Handelns, sondern diese für uns ›wesentliche Ortschaft‹ zwingt uns vor allem selbst zu einer radikalen existentiellen Reflexion unserer Reflexionen. – Diese Arbeit will nicht mehr aber auch nicht weniger, als die Aufgabenstellung einer Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ einführen und im Grunde ›vorzeichnen‹. – Als ›wissenschaftlicher Referent‹ am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover konnte ich diese Arbeit entwerfen und ausführen. Mit großer Dankbarkeit sehe ich auf diese für mich ›sehr guten Jahre‹ zurück. –

10 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

A Hinführung

I.

Phänomenologische Vorstellung

Ein ›Zeit-Raum‹ wird durch Schlüsselbegriffe ›geordnet‹. Und so auf diese Weise, in dieser Form, historisch und systematisch ›dicht‹ vorgestellt, reflektiert und (möglicherweise) verstanden. 1 ›Die Großstadt‹ ist in diesem Sinne zweifellos ein Schlüsselbegriff der Moderne. Wir sind, so scheint es, mit diesem Wort, mit dieser ›Sache‹ vertraut. Und das ganz ohne Definition. Ohne diese oder jene wissenschaftliche oder philosophische Vorgabe. Dieser ›Begriff‹ ist, woher auch immer genommen, als Wort, Vorstellung oder Bild, irgendwie als soziale, politische oder auch architektonische Form ganz fraglos zwischen uns präsent. Zuerst und zumeist sicher als eine ›Leermeinung‹. Allgemein und unbestimmt! ›Die Großstadt‹ ; ›großstädtisch‹ ; ›das Großstädtische‹ ; ›Menschen in der Großstadt‹. – Diffus also konnotiert. Wir gehen damit um, ohne dass uns ein ›wirkliches Etwas‹, eine konkrete Gestaltung, bestimmte Formen dieser oder jener Großstadt vor Augen stünden. Oder auch so: ›Großstadt‹ als – je nachdem – eigenartig anschlussfähig: beispielsweise an ›Angst‹, ›Unbehagen‹, ›Verbrechen‹, ›Freiheit‹, ›Freizügigkeit‹, ›Anonymität‹, ›Einsamkeit‹, ›Begegnung‹, ›Bedrohung‹, ›Unübersichtlichkeit‹, ›Abwechslungsreichtum‹, ›Kultur‹ und ›Barbarei‹. Irgendwie ›alles zugleich‹ ; irgendwie eigenartig ›unlösbar ineinander verschmolzen‹ ; irgendwie eine uns ›vertraute Gemengelage‹. Kurz, etwas, das uns ›anrührt‹. – Das ist zu reflektieren! – ›Ich bin da‹. Ein ›Dasein‹, in dieser und in keiner anderen Welt! ›Ich lebe da‹, – mit meinen Ängsten, Hoffnungen, Forderungen, Phantasien! Ein Dasein selbstverständlich mit all den Anderen, die gleich mir So-Da sind; von denen ich weiß (›die Anderen im Allgemeinen‹), ohne sie zu kennen. All dies ›reflektiert‹ sich Vgl. dazu Friedrich H. Tenbruck. Die unbewältigten Sozialwissenschaften. Graz. Wien. Köln 1984. S. 195.

1

11 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

A Hinführung

wirklich als wirklich in dieser meiner Welt. – ›Reflektiert sich‹ von Anfang an als unsere wesentlich-wirkliche Wirklichkeit. Die ›Großstadt‹ also als unsere ›lebensweltliche Lage‹. Schon die unterschiedlichen wissenschaftlichen Vorstellungen der Großstadt sprengen jede ›leicht eingängige‹ Definition. Aber erst eine ›existentielle Reflexion‹ führt uns ein in ihre unheimlich durchdringende Komplexität als ›unsere Lebenswelt‹. Dieses Ineinander-greifen, Ineinander-spielen von willkürlichen und unwillkürlichen Leistungen, Wahrnehmungen und Reflexionen. Das ›Äußere‹, das ›Innere‹, das ›Soziale‹, das ›Private‹ sind als ›Lebenswelt‹ verflochten, mitsamt ihren Widersprüchen für uns ineinander ›gefugt‹. Sie Reflektieren, wir mögen darauf aufmerken oder nicht, unser So-Da-in-der-Welt-sein. Auch dort noch, wo diese sich so zeigenden Vorstellungen, Ordnungen, Ideen sich gegeneinander stellen; oder auch von uns vergessen, nicht beachtet, verdrängt werden. – Diese Einsicht wird uns nun begleiten. Schon allein darüber ließe sich trefflich philosophieren. Beschreibend, kritisch und natürlich auch praktisch konstruktiv. Um sich so auf diese Weise ›nützlich‹ philosophisch einzubringen in diesen, seit über einem Jahrhundert laufenden, wissenschaftlichen und philosophischen Forschungsdiskurs. Mitzuarbeiten also an ›vernünftigen Erklärungsmodellen‹ der Großstadt. Kurz, ausgerichtet auf ›die Großstadt‹ als (irgendwie) scheinbar auch wissenschaftlich vertraut unvertraute soziale, gesellschaftliche, kulturelle, ökonomische, historische Gestalt und Gestaltung. Diese Perspektiven, Vorstellungen, diese ›Fragezeichen‹ ergeben auch philosophisch durchaus Sinn. – Und doch ist unser eigentliches Interesse wesentlich anders gerichtet. Wir sind radikal ausgerichtet auf uns selbst. Also ein ›existentieller-anthropologischer Blick‹ ! Unsere Philosophie, unser Philosophieren wird als ›existentielle Phänomenologie‹ bestimmt, eingeführt und entfaltet. Ihre volle ›anthropologische‹ Gestalt, ihre methodische Form, ihre Arbeitsweisen und Perspektiven zeigen sich praktisch, d. i. in der konkreten Durchführung als Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹. – So genügen hier vorerst einige wenige allgemeine Hinweise. Hinweise, um, mit Blick auf die phänomenologische Tradition, durchaus naheliegende Fehldeutungen ›von Anfang an‹ (zumindest) zu minimieren. – Unser phänomenologisches Arbeiten sucht nicht die abschließende Antwort für eine ›Philosophie der Großstadt‹. Sie behauptet nicht die unbedingte Geltung ihrer Vorlagen. Die existentielle Phänomeno12 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

I. Phänomenologische Vorstellung

logie eröffnet stattdessen (nicht mehr aber auch nicht weniger) die Lebenswelt ›Großstadt‹ als existentiellen Denk- und Handlungsraum für unser wesentlich-wirkliches Da-in-der-Welt-sein. Das ist eine radikale reflexive Leistung. Ausdrücklich ›radikal‹, ausdrücklich ›reflexiv‹ und – ausdrücklich ›existentiell konstitutiv‹ ! Nämlich als Gestaltung der Selbstwahrnehmung des wirklichen Daseins als wesentliches In-derWelt-sein. Das ist eine konstruktive, konstitutive Selbst-Wahrnehmung. Als philosophische Gestaltungen sind das ›phänomenologische Bestimmungen reflexiver Reflexion‹ der so von uns wahr-genommenen wesentlichen Wirklichkeit unseres Daseins. Phänomenologisch bleiben wir also ganz traditionell auf ›das Wesen‹ ausgerichtet. Ein umstrittener Begriff. Das wird uns noch ausführlich beschäftigen. – Das Wesen der Lebenswelt ›Großstadt‹ ist nun nicht etwas, das am Ende unserer gemeinsamen reflexiven Arbeit ›schwarz auf weiß‹ vorläge und etwa in eine Definition gepresst werden könnte. – Schauen wir nur weiter einfach selbst hin und leben uns in die uns bewegende, uns irritierende, uns faszinierende ›Großstadt‹ ein. 2 Schon in dieser Form können wir, soviel schon jetzt, das wirkliche Wesen unserer ›Lebenswelt‹ schauen. Und das ohne jede spekulative Verrenkung. ›Das Wesen schauen‹, ›die Wesensschau‹, – ist also das Ergebnis unserer phänomenologischen Arbeit der reflexiven Reflexion. 3 Ganz schlicht im Sinne von: Ich habe nun verstanden, weil ich es selbst eingesehen, es selbst geschaut, es selbst leibhaft erfahren habe. 4 – Das ist zunächst ein phänomenologisches Zurecht-legen unterschiedlichster Perspektiven. Also eine Konstitution von (sagen wir) ›Wahrnehmungsreihen‹. Beispielsweise: aufeinander aufbauend, sich ergänzend, Ganz im Sinne Husserls. Jede gesellschaftliche Einheit, zuunterst das Individuum selbst, habe »ihre innere Struktur, ihre Typik, ihren wunderbaren Reichtum äußerer und innerer Formen, die im Strom des Geisteslebens selbst erwachsen, sich wiederum umwandeln und in der Art der Umwandlung selbst wieder strukturelle und typische Unterschiede hervorheben lassen. (…). Leben wir uns durch innerliche Intention ein in die Einheit des Geisteslebens, so können wir die in ihm waltenden Motivationen nachfühlen und damit auch das Wesen und Entwicklung der jeweiligen Geistesgestalt und ihre Abhängigkeit von den geistigen Einheits- und Entwicklungsmotiven verstehen.« (Logos. S. 323.) 3 Selbst (beispielsweise) unsere ›Verwirrung‹, die ›Perturbation‹ angesichts der Unübersichtlichkeit der großstädtischen Lebenswelt, kann als existentielle Wesenseinsicht vorgestellt werden. 4 »Auch Wesenserschauungen müssen erarbeitet werden (…).« (Adolf Reinach. Was ist Phänomenologie. München 1951. S. 71). 2

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A Hinführung

in Spannung zueinander tretend, sich widersprechend usw. – Springen wir beispielsweise in die ›jüngere‹ Geschichte des Menschen. Dafür braucht es an dieser Stelle noch keine ausgedehnten historischen Studien. Bleiben wir im ›offensichtlich Allgemeinen‹. Der lebensweltliche Horizont, das In-der-Welt-sein, hat sich zweifellos verändert. Ganz allgemein: vom Gehöft, Dorf, Markt zur Großstadt, zur Megapolis. Das ist nun nicht nur eine bloß ›architektonische Neugestaltung‹ des jeweils bebauten, umhegten Raums. Sondern (schauen wir hin) in dieser Gestaltung ›reflektiert und entfaltet‹ sich immer auch der Mensch als einer, der sich so ›reflektieren und entfalten‹ kann. – Schauen wir nun hin auf unser So-hin-schauen. Also auf unsere unterschiedlichen Perspektiven. Ist diese ›Entfaltung‹ beispielsweise ein Fortschritt oder ein Niedergang? Eine bloß ›quantitative Veränderung‹ oder die Vorführung neuer humaner ›Qualitäten‹ ? Sehen wir also in dieser ›Progression‹ ein psychologisches, soziologisches Problem, eine Herausforderung oder die Lösung? – Was nehmen wir selbst (›ich‹ mit meinen Interessen) als wirklich wesentlich wahr? – Greifen wir aber nicht vor. Wie auch immer, zumindest eines scheint uns phänomenologisch gewiss. Offensichtlich bestimmen, also ›konstituieren‹ schon die jeweiligen ›Perspektiven‹, und das sind durchaus Reflexionen eines Da-in-derWelt-seins, die ›wahrgenommene Wirklichkeit‹. Und auch das sehen wir. Das Hinschauen auf diese Wirklichkeiten ist selbst, gleichgültig ob es ausdrücklich im Blick ist oder nicht, eine wirkliche Vorstellung der Wirklichkeit. Phänomenologisch sind es also Beiträge zur Herstellung der Welt, die es zu reflektieren gilt. – Eines können wir also schon jetzt nicht mehr übersehen. Unsere phänomenologische Reflexion dieser Reflexionen der Wirklichkeit eines Da-und-So-in-der-Welt-seins lässt jeden ›spekulativen Idealismus‹ zurück. Das wird uns bis zur letzten Zeile beschäftigen. – Unsere existentiellen Reflexionen weisen also dem Begriff ›Lebenswelt‹ Großstadt eine prominente Stellung zu. Damit sind wir, so scheint es, ›anschlussfähig‹ an die phänomenologische Tradition. – ›Lebenswelt‹ ist bekanntlich ein Begriff, eine Vorstellung aus Edmund Husserls ›später‹ Philosophie. 5 Es ist nicht irgendein Begriff. Sondern einer der folgenreichsten Begriffe der Phänomenologie. Nicht nur phi-

Dass Heidegger bereits 1927 von der ›Weltlichkeit der Welt‹ gesprochen hat und die ›Weltgebundenheit des Daseins‹ in den Blick rückt, darf nicht vergessen werden.

5

14 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

I. Phänomenologische Vorstellung

losophisch bedeutsam! Wir finden diesen Begriff ›Lebenswelt‹, nicht selten ohne weitere historische Hinweise, inzwischen als selbstverständlich auch außerhalb der traditionellen Phänomenologie. – Aber bleiben wir hier innerhalb phänomenologisch ausgerichtetem Denken. Alfred Schütz, um nur einen (bekannten) Namen zu nennen, entwirft die ›Lebenswelt‹ als Leitbegriff für eine ›verstehende Soziologie‹. Husserl selbst entfaltet die ›Lebenswelt‹ in seiner ›Spätphilosophie‹ als wirklich-wesentliches Fundament für einen (wie er meint) dringend notwendig gewordenen ›geltungstheoretischen und geltungspraktischen Neuaufbau‹ der Wissenschaften. Dem Begriff ›Lebenswelt‹ wird also etwas sehr Fundamental-Praktisches aufgetragen. Und zwar jeder erkenntnistheoretischen, ontologischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Vorstellung das ›schlichte Sinnfundament‹ als wirklichwesentlich vor Augen zu führen. Darauf hinzuweisen, darauf wieder einzuschwören, sei, so Husserl, die wahre Aufgabe eines wahrhaftigen Philosophen. Kurz und knapp: Die ›Lebenswelt‹ wird hier vorgestellt als der seit Galilei vergessene, ›unbedingte Arbeits-Raum‹ der Wissenschaften. – In Husserls Blick letztendlich die radikale Fundierung der (immer abendländischen) ›wissenschaftlichen Vernunft‹. Im Übrigen gedacht, geplant als ein generationenübergreifendes Projekt, das Husserl für ›uns Abendländer‹ als wieder ›identitätsstiftend‹, als wirklich überlebensnotwendig fasste. – Das ist nun von Anfang an unserem existentiell gerichteten Arbeiten näher als es zunächst scheinen mag! – Aber ›schauen‹ wir phänomenologisch einfach weiter zu! Schauen ›hin‹ und ›zu‹ wie beispielsweise diese oder jene Gestaltungen, Ordnungen, Ideen der Lebenswelt ›Großstadt‹ wirklich-wesentlich zusammenspielen und so unser So-Inder-Welt-sein auch existentiell bestimmen. – Von Anfang an sind wir hier also selbst als wesentlich wirklich mit in unserem Blick. Bei der Gestaltung unserer Reflexionen besinnen wir uns zunächst auf das ›Naheliegende‹. Das Naheliegende? Das ist: auf all das, das sich uns selbst auf der ›lebensweltlichen Oberfläche‹ zeigt, sich uns, wie auch immer, als So-Da vorführt. Ohne uns lange bei der Frage aufzuhalten, ob es (für uns) ›interessant‹, ›originell‹, ›modisch‹ und philosophisch auffällig sei. – Diese ›Reflexionen‹ lassen sich nicht, daran können wir nicht vorbeisehen, durch ein starres System ›tradierter philosophischer Begriffe‹ vorstellen. Wir selbst als (auch irrationales) ›Da-und-So-inder-Welt-sein‹ verweigern uns wirklich, von Anfang an, einer ›handhabbar‹ geschlossenen Form der neuzeitlich-philosophisch oder wis15 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

A Hinführung

senschaftlich ›vernünftigen‹ Gedanken. 6 Dieser Traum einer a priori gültigen Systematik ist für uns ›praktisch‹ ausgeträumt. Keine Wahrnehmung, keine Vorstellung, keine Reflexion der Wirklichkeit wird phänomenologisch mehr über den ›bloß theoretischen Leisten‹ einer erdachten ›unbedingten Geltung‹ geschlagen. Wir brauchen uns daher nicht mehr an dieser oder jener wissenschaftlichen oder philosophischen Forderung nach einem ›geschlossenen System‹ abarbeiten. 7 Kurz und knapp: Wir halten uns stattdessen (zunächst) an das, was auch einer alltäglichen Sicht zugänglich sein könnte. – In unserem Blick also auch dieser unser, vor unser aller Augen liegende, ›wirklich wirkliche Horizont‹. Unsere (wie wir sagen) ›Welt‹, in der wir ›schicksalhaft‹ (oder wie immer wir es deuten und nennen) ›So-Da‹ sind. – Schon dieses erste ausdrückliche Hinschauen lässt keine weiteren sinnvollen Zweifel zu. Unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ und die ihr zugehörigen Formen, Stile und Reflexionen, einschließlich ihrer (unserer) wissenschaftlichen und ästhetischen Deutungen, gestalten sich phänomenologisch als komplexe existentiell fundierte Leistung der Reflexion eines Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Denken wir beispielsweise an die vielbesprochenen ›Ausdifferenzierungen der Großstadt‹. Ausdifferenzierungen – gesellschaftlich, sozial, ökonomisch. Beispielsweise und wahllos Verkehr, Verwaltung, Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, natürlich und nicht zu vergessen Arbeit. Bildung, Freizeit und Vergnügen u. ä. Wir reflektieren (also, vergessen wir es nicht: ›konstituieren‹) diese ›Lagen‹, ›Gestaltungen‹ oder ›Prozesse‹ nicht nur als bloße soziale, ökonomische, technische oder politische Phänomene. Auch nicht nur als eine ›Vorführung‹, eine ›Erfahrung‹ unserer begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten. Beispielsweise als eine durchaus anthropologisch sinnvolle Gestaltung unserer Begrenzung des Wahrnehmens und Handelns. – Sondern phänomenologisch gelesen zeigen sie uns, uns wirklich selbst, ›mit‹ (also nicht nur ›in‹) unseren wesentlich unübersichtlichen existentiellen Lagen. Nie ist unser Arbeiten, selbst wenn wir es wollten, wenn wir uns bemühten, begrenzt auf die Wahrnehmung dieser oder Wir mögen es bedauern oder nicht. – Nie erfährt dieses ›existentiell‹ verunsicherte Philosophieren die Festigkeit, die ›sichere Würde‹ einer unbedingt geltenden philosophischen Idee. 7 Wobei wir aber keineswegs diese wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Vorstellungen ›überheblich‹ abtun. Sondern sie sind uns als mögliche Deutungen, Perspektiven, selbst phänomenologische Hinweise auf großstädtisches Dasein. 6

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I. Phänomenologische Vorstellung

jener als komplex bezeichneten ›Dinge‹, ›Vorlagen‹, ›Objekte‹. All diese theoretischen und praktischen Ausdifferenzierungen der Lebenswelt ›Großstadt‹, das kann nun wirklich nicht anders sein, verweisen uns auf uns als Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Eine Einsicht unserer phänomenologisch reflexiven Reflexion darf dabei aber von Beginn an nicht übersehen werden. Diese unsere Erfahrung einer ›existentiellwirklichen Unübersichtlichkeit‹, unser Unvermögen einer wesentlichen Übersicht über unser ›ganzes‹ Da-Sein, wird doch offensichtlich durch uns selbst vorgestellt und benannt. Z. B. durch uns selbst gelesen als ›Fragment‹, ›Ausschnitt‹, ›Perspektive‹ u. ä. – Folgen wir dieser Spur noch etwas. Wir selbst sind es also, die uns als ›Fragmente‹, als ›Rollen‹, als ›Teile‹, als ›existentiell-brüchig‹, als ›anthropologisch-fragwürdig‹ konstituieren und fassen. Wir selbst sind es aber auch, die uns phänomenologisch selbstbewusst als ›fragile Existenz‹ und so als Da-in-derWelt-sein reflektieren. – Aber lassen wir uns hier noch nicht allzu sehr auf abstrakte, erkenntnistheoretische Überlegungen ein. Das wird uns ›in jedem Fall‹ nicht mehr aus den Blick geraten und uns immer wieder beschäftigen. Es bleibt dabei, weil wir es selbst sehen, es selbst ›reflektieren‹, es selbst ›schauen‹ ! – Diese selbst-geschaute Gestalt und diese selbst-vollzogenen Gestaltungen der ›phänomenologischen Reflexion‹ sind für uns nun existentielle Herausforderung und Leitfaden zugleich. Wirklich wesentlich und wesentlich wirklich ›zugleich‹ ! Aber wir schauen dabei nicht nur unmittelbar auf uns selbst als So-da. Sondern schauen auch auf die für uns hier und jetzt ›mittelbaren‹ Wahrnehmungen. Also beispielsweise die Reflexionen der Wissenschaften, der Kunst und der Philosophie. Diese oder jene ›begriffenen‹ Vorlagen; beispielsweise von der als ›unübersichtlich‹, als ›krisenhaft‹ vorgestellten ›modernen Welt‹. ›Theorien‹ also ›Vorstellungen‹, ›Schaustücke‹, Vorlagen, die, ob sie darauf aufmerken oder nicht, phänomenologisch selbst schon diese Perspektiven, eben Leistungen, Wirklichkeiten unserer Lebens-Welt vorstellen. – Von Anfang an ist unser Schauen auf unser Schauen auf unser Schauen als wesentlich in unser Arbeiten eingeschlossen. Eine Radikalität, die unsere phänomenologische Reflexion selbst also von Anfang an ausrichtet. Wo immer wir auch ansetzen, hinschauen, phänomenologisch reflektieren, werden wir auf uns selbst als Da-und-So-in-derWelt-sein zurück-verwiesen. – Also auch auf uns, die wir uns selbst philosophisch so in den Blick nehmen. Unsere phänomenologische Re17 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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flexion ist reflexive Reflexion, Reflexion der Reflexionen. So nimmt sie sich, auf diese Weise eines Sich-ausrichtens-auf, als ›ein sich ausrichten auf‹, selbst wahr. Also als konstitutive Arbeit, als eine Leistung reflexiver Reflexion, an der Eröffnung der Lebenswelt ›Großstadt‹ als unseren wesentlich existentiellen Denk- und Handlungsraum. – Hier gilt es nun genau hinzuschauen. Es ist nicht so, als ob die Lebenswelt ›Großstadt‹ uns und unserem phänomenologischen Arbeiten irgendwie ›gegenüberstünde‹. Uns irgendwie als ›Forschungs-Objekt‹ vorläge. (Wir lassen uns daher mit den Wissenschaften nicht auf einen Wettbewerb ein, wer wohl die originelleren Beiträge zu einer ›Großstadtforschung‹ beibringen könnte). Sondern unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen ist selbst eine Gestaltung der wesentlichen Wirklichkeit unseres Da-und-So-in-dieser-Welt-seins. – Ein Arbeiten also ausdrücklich entlang unserer ›Intentionalität‹. Konkret, – die existentielle Reflexion des ›Daseins‹. Das Dasein, das sich in den ›objektiv‹ gerichteten Wissenschaften (das entspricht der ›Logik der Wissenschaft‹) selbst aus dem Blick verliert. – Wir können es auch so vorstellen. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert sich selbst wortwörtlich ›in uns‹, in Form unserer phänomenologischen Reflexion der Reflexionen. ›Reflektiert sich‹ als das, und darauf sei hier schon aufmerksam gemacht, endgültig existentielle Spiel der Moderne. Anthropologisch als ein für uns nun ›So-und-nicht-mehr-anders-sein‹. Das also ist nun phänomenologisch weiter zu entfalten. In unserem Blick das wirkliche Wesen der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Es phänomenologisch zu fassen braucht eine Vielzahl von Beschreibungsreihen. Das und so ist phänomenologische Grundlagenforschung! Erst wenn sich hier ›Wesentliches wirklich‹ zeigt, also sich uns selbst ›selbst‹ vorstellt, sich aufweist in ›phänomenologischer Evidenz‹, – erst dann geben wissenschaftliche Einzeluntersuchungen ›Sinn‹. – Unser phänomenologisches Schauen binden wir daher von Anfang an nicht an diese oder jene bestimmte Großstadt. 8 Es kann phänomenologisch gar nicht anders sein! Genauso wenig verbleiben wir bei Ganz im Sinne (des ›Phänomenologen‹) Robert Musil. »Es soll auf den Namen der Stadt kein besonderer Wert gelegt werden. Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahnten, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung uns Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander, und gleich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem Gefäß ruht, das aus einem dauerhaften Stoff von Häusern, Gesetzen,

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diesem oder jenem Einzel-Phänomen des ›Großstadt-Lebens‹. Beispielsweise: Bei den Bewegungsformen in der Großstadt, der Beschleunigung, dem Verkehr, der Anonymität, der Masse, den Kommunikationsformen u. ä. – Zweifellos ausdrucksstarke Gestalten und Gestaltungen, ›Phänomene‹ der modernen Großstädte, des GroßstadtLebens. Für uns sind es aber bereits schon konkrete Vorstellungen, Reflexionen eines Da-und-So-in-der-Welt-seins. So interessiert uns auch nicht die Geschichte dieser oder jener Großstadt. Nicht als ob wir phänomenologisch die eben immer auch systematische Bedeutung des Werdens und Geworden-seins eines Zeit-Raums ganz und gar außer Acht lassen könnten. – Aber wo immer wir auch ansetzen, wir werden ›notwendig‹ zurückkommen zu der, wie ich meine, fundamental wesentlichen Wirklichkeit unseres Daseins als Da-und-So-in-der-Weltsein. Kurz und knapp: Wir können uns nicht mehr wirklich ausweichen. ›Uns‹ als diese Da, wir, die So-Da-sind, als So-Da-reflektieren, in dieser und in keiner anderen Lebenswelt. – Unser phänomenologisches Schauen darf sich nicht durch umlaufende, um ›wissenschaftliche Objektivität‹ bemühte Sichtweisen in die Pflicht nehmen und einengen lassen. Das schließt ein Zur-Kenntnis-nehmen von wissenschaftlichen Vorstellungen, Perspektiven, Sach-Lagen, Theorien nicht aus. Im Gegenteil! Aber das wissenschaftlich Auffällige, Interessante, Nach-vorne-drängende zeigt erst mit unserer Reflexion dieser ›Reflexionen‹ sein wirkliches, nämlich ›existentielles Wesen‹. So interessiert uns beispielsweise nicht die soziologisch, psychologisch und medizinisch eingeführte, begriffene ›Pathologie des großstädtischen Bewusstseins‹ als eine von den Wissenschaften als ›objektiv‹ vorgestellte Herausforderung. Sondern interessiert uns als eine Gestaltung, eine ›Reflexion‹, eine schon existentielle Selbst-Deutung Da-und-So-in-der-Welt-zusein. Kurz, als ›medizinische‹ Vorstellung einer ›Vorstellung‹, die sich in und mit der Lebenswelt ›Großstadt‹ (ob sie darauf aufmerkt oder nicht) existentiell so reflektiert wie sie sich ›reflektiert‹. – Diese phänomenologische Reflexion des Selbst-Verständnisses So-Da-zu-sein entwirft also erst die Möglichkeit, den modernen ZeitRaum, die Lebenswelt ›Großstadt‹ wissenschaftlich zu reflektieren. – Denken wir in diesem Zusammenhang, um noch ein Beispiel zu nenVerordnungen und geschichtlichen Überlieferungen besteht.« (Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 10).

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nen, an das viel diskutierte großstädtische Phänomen der Masse. Der Begriff, die Vorstellung, das Bild sind uns nicht nur aus der Literatur sehr vertraut. Sondern von uns geschaut als eine durch uns selbst erfahrene und so für uns selbstverständliche Institution. Gerade deswegen aber eine eigenartig ›hintergründige Einrichtung der Großstadt‹. Eine wirkliche Macht, eine Mächtigkeit, mit der wir immer wirklich, wortwörtlich auch unwillkürlich ›rechnen‹, darauf ohne weiteres ›eingestellt‹ sind! – Gerade aber diese so offensichtliche Selbstverständlichkeit verstellt uns den Blick auf die wesentliche Wirklichkeit der Masse. Phänomenologisch sind es auch hier so ›schlicht‹, so ›simpel‹ scheinende Fragen, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen. Da ist eigenartig Beunruhigendes, das uns existentiell herausfordert. Und sogar unser Selbst-Schauen (reflexive Reflexion) intensiviert. – Etwa, ›wie zeigt sich diese (uns als so selbstverständlich scheinende) Masse‹ für uns wirklich als wirklich? – Als Funktion? Als Zustand? Als fiktive Vorstellung? Als literarisch eingeführtes Bild? Als Symbol? (Ab) wann und in welchem Zusammenhang begreifen wir eine Ansammlung von Menschen als Masse? Wer stellt die Masse? Wer beobachtet die Masse? – Ist die Masse also überhaupt wirklich wirklich? Oder ein ›bloß‹ konstruierter Begriff? Eine literarische Fiktion? Eine politische Drohung? Eine entworfene Kulisse? Von wem? Mit welcher Absicht? Als Idee der Angst, des Erschreckens, der Sorge? Bin ›ich‹ Teil der Masse? – Zumindest eines fällt auf und ist ganz offensichtlich. Ein geradezu paradoxer Eindruck. Nämlich dass ›die Masse‹ hier und jetzt geradezu ›massenhaft‹ in Erscheinung tritt. Nicht mehr also eine Ausnahme. Bloß ein Phänomen da oder dort und gelegentlich. Sondern, und es scheint uns (und auch das gibt zu denken) geradezu als selbstverständlich, als die Regel der Lebenswelt ›Großstadt‹. Als eine wesentlich wirkliche Gestalt und Gestaltung unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Und noch eines drängt sich ›mir‹ wie von selbst auf. ›Die Masse‹, so scheint es mir, sind immer bloß irgendwelche ›massenhaft sich zusammenballenden‹ Anderen. – Wie auch immer, ganz offensichtlich! Wir ›GroßstadtMenschen‹ haben uns wirklich einander umstellt (wir können nicht anders), sind wirklich-wesentlich in- und miteinander verflochten. 9 Beispielsweise New York. »Ein Zustand der Vielheit, der nunmehr eine spezifische Lebensform verlangt. 12 Millionen Menschen in New York vereint als Quantität verlangen eine spezifische Form des Lebensstils. Deshalb ist das amerikanische Wort, das mit einem gewissen Stolz ausgesprochen wird: das New York nicht eine Stadt sei, son-

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Um uns da, – auch als ›Bild‹, als ›Gedanke‹, als ›Eindruck‹, ›Vorstellung‹, ›Befürchtung‹ ! Wir sind es selbst, so oder so, sind wirklich immer um-einander-herum. ›Eben Massenhaft‹ ! Und sei es nur als Lärm, als ›Lichtverschmutzung‹, als Geräuschkulisse (als Murmeln, Geraune, Stimmengewirr). ›Man‹ steht sich im Wege; ›man‹ nimmt sich die Aussicht; ›man‹ stößt und bedrängt einander; ›man‹ ängstigt sich gegenseitig. 10 – Da scheint es auch ganz in der Ordnung, dass ›ich‹ als Da-in-der-Welt-sein, in der Regel, von vorneherein und unwillkürlich, auf bloße ›Typen (in) der Masse‹ eingestellt bin. Beispielsweise und ganz wahllos: Kunden; Schüler; Hundebesitzer; attraktive Frauen; Touristen; Bettler; Taxifahrer usw. Im Übrigen ist das durchaus eine Entlastung. Ganz ›praktisch‹. Selbst diese oder jene ›registrierten‹ Ungleichzeitigkeiten, Unterschiede sind nun als ›typisch‹ So-da (›ich weiß an jedem Ort bescheid‹ !) aufgehoben und – ›entschärft‹. 11 – Das entdeckt die existentielle Gestaltung unseres So-in-der-Welt-seins. Unser reflektiertes Selbstverständnis im Horizont unserer so aus- und eingerichteten Lebenswelt ›Großstadt‹. – Diese soziologisch vielverhandelte Masse ist also auch in unserem phänomenologischen Blick als Gestaltung des In-der-Welt-seins. Und so als das uns existentiell tangierende, reflexiv konstituierte ›Subjekt der Großstadt‹. – Nicht mehr und nicht weniger! Alle Wege führen zu uns selbst als Da-und-So-in-der-Weltsein zurück. – dern ein ›style of life‹, eine Lebensform, völlig richtig.« (Alexander Mitscherlich. Massenpsychologie. In: Gesammelte Schriften. Band IX. S. 269.) 10 Menschen in Massen, das sei, so Karl Riha, der zentrale Aspekt einer »großstädtischen, an Reizüberflutung resultierenden Simultanübersetzung: in ihr lösen sich die überschaubaren Beziehungen der Menschen untereinander auf, wie sie für ländliche und kleinstädtische Bezirke charakteristisch sind; an ihre Stelle tritt eine spezifische Herausforderung, die den einzelnen aus seinen festen Verbindungen löst und ihn in dynamischer Weise dissoziiert. Dieser Vorgang kann als belebend, als Schreck und eben auch negativ erfahren werden.« (Menschen in Massen. Ein spezifisches Großstadtsujet und seine Herausforderungen an die Literatur. In: Tilo Schobert (Hg.). Die Welt der Stadt. München. Zürich 1991. S. 119.) 11 Auch wenn Adolf Loos darauf aufmerksam macht, dass das Tempo der kulturellen Entwicklung unter den Nachzüglern leidet. »Ich lebe vielleicht im jahre 1908, mein nachbar lebt um 1900 und der dort im jahre 1880. Es ist ein unglück für einen staat, wenn sich die kultur seiner einwohner auf einen so großen zeitraum verteilt. (…). Bei uns gibt es in den städten unmoderne menschen, nachzügler aus dem 18. Jahrhundert, die sich über ein bild mit violetten schatten entsetzen, weil sie das violett noch nicht sehen können.« (Ornament und Verbrechen. (1908). In: Trotzdem. Gesammelte Schriften 1900–1930. S. 82.)

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A Hinführung

Fassen wir es vorläufig so. Die Großstadt ist als Lebenswelt, phänomenologisch gelesen, die für uns hier und jetzt ›notwendige Form‹ unserer wirklichen Existenz. 12 – Das stellt, das gestaltet nun den phänomenologischen Leitfaden unserer existentiellen Reflexion der Reflexionen. Kurz und knapp: Phänomenologische Wahrnehmung der Lebenswelt ›Großstadt‹ ist als reflexive Reflexion wesentlich-wirklich (also ›notwendig‹) immer auch ›existentielle Selbstwahrnehmung‹. Kurz: ein theoretisches und praktisches Selbstverständnis. Und auch umgekehrt. Existentielle Selbstwahrnehmung ist wesentliche Wahrnehmung der Lebenswelt ›Großstadt‹. –

II.

Methodische Vor-Überlegungen

Sind wir noch bei unserer ›phänomenologischen Sache‹ : der Lebenswelt ›Großstadt‹ ? Scheint es nicht so, als hätten wir uns verfangen in allgemeine, abstrakte erkenntnistheoretische Lagen? – Das sind durchaus berechtigte Fragen. Lassen wir uns aber selbst durch uns selbst nicht beirren! Diese Reflexionen der phänomenologischen Form der Reflexion, sind alles andere als ein bloß ›literarisches Ornament‹. Eines drängt sich uns nämlich von Anfang (als wesentliche Anfangsfrage) an auf. Die scheinbar so formale, abstrakte phänomenologische Reflexion der Reflexionen bringt mich mir selbst, eben als Wahrnehmenden meiner Wahrnehmungen, vor Augen. Ich bin wahrhaftig immer selbst wirklich und ganz konkret mit in diesem philosophisch scheinbar abstrakten Spiel. Kurz und knapp: Als Reflexion der Reflexion der Reflexionen der Existenz ›schauen‹ wir phänomenologisch auf unsere wirkliche Wirklichkeit, auf unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Unsere existentielle Phänomenologie ›leistet‹ sich also als Gestalt und als Gestaltung ›reflexive Reflexion‹. Sie wird uns nun ausrichten, uns bewegen, uns weitertreiben und in Form bringen. Das fordert uns von Anfang an auch methodisch heraus. – Vor allem in einem können wir keine Zugeständnisse machen. Die Rechtfertigung unseres Arbeitens, einschließlich der Sicherung unserer Methoden, ist allein ›Sache der Phänomenologie‹, unseres phänomenologischen Reflektierens. In gewisser Weise erfüllt eine Phänomenologie der Großstadt auch die Forderung von Yves Lacoste ›den Raum‹ philosophisch nicht zu vernachlässigen. (Vgl. Geschichte der Philosophie. Band VII. Frankfurt/M 1975. S. 284.)

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II. Methodische Vor-Überlegungen

Keine Wissenschaft, keine Kunst, keine historische Vorlage (von wem auch immer) kann unser phänomenologisches Arbeiten in Geltung setzen. Jede phänomenologische Arbeit hat also vor diesem Hintergrund immer und von Anfang an sich selbst mit zum Thema. Es käme sogar einer ›inneren Auflösung‹ der Phänomenologie gleich, würde diesem phänomenologischen Selbst-Auftrag nicht systematisch entsprochen. Diese unverzichtbare Selbstgestaltung, also Selbstdenken; Selbstschauen; Selbstverantworten, führt unsere existentielle Phänomenologie als wirkliche philosophische Grundlagenforschung ein und entfaltet sie. 13 – Wir sind selbst durch uns selbst herausgefordert, herausgefordert uns in eine Position zu bringen, von der aus wir eine Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ philosophisch-sicher vorstellen können. 14 – Welch eine Herausforderung! Sie beginnt eben nicht erst mittelbar mit der Vorstellung, der deskriptiven Entfaltung unseres ›Projektes‹ Lebenswelt ›Großstadt‹. Sondern schon mit unserem phänomenologischen Hinschauen auf unser Hinschauen; mit der existentiellen Reflexion auf unsere Reflexionen. Ludwik Fleck beispielsweise, ein Praktiker, der die Arbeit des Schauens im mikrobiologischen Labors und an Seziertischen gelernt hat, erinnert uns daran, dass schon der Akt – vermeintlich – ›schlichten Wahrnehmens‹, also die bloße Fassung einer ›uns (wie wir meinen) unmittelbar gegebenen Vorlage‹ als ›dieses da‹, alles andere als selbstverständlich ist. Fleck verweist auf die ›Geschichte der Anatomie‹. Jede Epoche, so schreibt er, sei sich darin immer sicher gewesen, den Aufbau und die Gestaltung des Körpers ›wirklich‹, also ›objektiv‹ zu sehen und beschreiben zu können. Und tatsächlich, ihre jeweiligen ›Denk-Stile‹ vorausgesetzt, habe jede dieser Epochen auch in sich vollkommen ›klare Begriffe‹ benutzt. Das darf nicht verwundern, »da doch (ganz selbstverständlich) Klarheit in Zurückführbarkeit auf andere stilgemäße Begriffe beruht.« 15 – Das sind nun schon für eine ›allgemeine Erkenntnistheorie‹ fundamentale Fragen. Indem wir nun uns selbst als Da-und-So-in-derWelt-sein mit ins Spiel bringen, radikalisieren, d. i. verwirklichen wir »Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen, und insofern kann eine schlichte Erzählung – erzählte Geschichte – ebenso ›tief‹ die Welt bedeuten wie eine philosophische Abhandlung.« (Maurice Merleau-Ponty. Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. S. 18.) 14 ›Philosophisch-sicher‹ – also nicht soziologisch, psychologisch, ›ästhetisch‹. 15 Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. (1935) Frankfurt/M 1980. S. 51. 13

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diese erkenntnistheoretischen Perspektiven existentiell. – Wir Philosophierenden sollten uns daran immer wieder erinnern. Die sich für uns daraus ergebenden Forderungen sind, so denke ich, nun sehr klar. Immer noch gilt selbstverständlich die phänomenologische Ausrichtung: ›hin-zu den Sachen selbst‹. – Das ist aber, vor diesem Hintergrund, offensichtlich einfacher gesagt als getan. Reflexion braucht Wahrnehmung. Phänomenologische Wahrnehmung braucht Reflexion der Reflexion. Der phänomenologische Blick, das phänomenologische Schauen darf nicht mit einer ›naiven‹ Ding-Ausrichtung, nicht einmal (sogar: vor allem nicht!) mit einem ›wissenschaftlichen Wahrnehmen‹ gleichgesetzt werden. Der phänomenologische Blick entwirft sich selbst ausdrücklich als eine davon ›wesentlich‹ unterschiedene Wahrnehmungsgestaltung. Diese Form eines, ausdrücklich auf das wirkliche Wesen gerichteten, Schauens bestimmt unser Forschen. Davon wird noch ausführlicher zu sprechen sein. – Schon allein dadurch, und das ist für uns von besonderem Interesse, hat unser phänomenologisches Arbeiten, andere ›Innen- und Außen-Horizonte‹ als die Wissenschaften. – Vor allem aber: wir Phänomenologen verlieren uns selbst als ›So-Schauende‹, als diese ›So-Gerichteten‹, ›So-Eingestellten‹, ›So-Interessierten‹, ›So-Reflektierenden‹, nicht mehr aus unseren Augen.

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B Schauen Ordnen Konstituieren

I.

Das Prinzip aller Prinzipien

Die Phänomenologie entfaltet sich also entlang einer ›Logik des systematischen Schauens des Schauens‹, der ›Reflexion der Reflexionen‹. Das bestimmt geradezu das Ideal der phänomenologischen Forschung. Bestimmt es ›theoretisch‹ und ›praktisch‹. 1 – Phänomenologisches Arbeiten ist schauen und reflektieren, reflektieren und schauen. Und, letztendlich (es kann nicht anders sein) ein Schauen und Reflektieren unseres wesentlich wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Das ist weder ein bloß willkürliches, noch ein ›spekulativ gewaltsames‹ Sichselbst-Vorstellen. Sich selbst wissenschaftlich auf irgendeinen Begriff bringen. Oder ein sich so ›in Form bringen‹, um diesem oder jenem philosophisch gedachten ›anthropologischen‹ Ideal zu genügen. Kurz, weder sich selbst als idealistisch unbedingtes Dasein zu produzieren noch der Versuch, sich mit einer ›empirisch ausgerichteten Anthropologie‹ wissenschaftlich naturalistisch auf den Begriff zu bringen. – Zu leisten ist von uns in Wirklichkeit phänomenologisch etwas sehr ›Einfaches‹. Etwas ›systematisch Einfaches‹, das allerdings historisch erst hier und jetzt mit der Moderne augenfällig werden konnte. Und zwar, zum einen, die ausdrücklich philosophische Wahrnehmung und reflexive Entfaltung der existentiell bedrängenden, irritierenden Wirklichkeit unseres ›So-Da-Seins‹ als ›In-der-Welt-sein‹. Unser Dasein, – das (betrachten wir es wie wir es wollen) in dieser Lebenswelt ›Großstadt‹ unlösbar eingeflochten ›wirklich existentiell reflektiert‹. Zum anderen, und eng damit verbunden, ist unser nun phänomenologisches Selbst-Verständnis als ein Entwurf einer existentiellen Anthropologie. Wortwörtlich! Unsere existentielle Phänomenologie ist als reflexive Reflexion die um sich wissende Fundamental-Philosophie. Der Denken wir beispielsweise an die ›phänomenologisch arbeitenden‹ Psychiater des Wengener Kreises.

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B Schauen Ordnen Konstituieren

theoretische und praktische Grund unseres Da-und-So-in-der-Weltseins. Das ist im Übrigen ganz in der Ordnung der Geschichte der Reflexion. Keineswegs also einer Mode, einer, im 20. Jahrhundert so beliebten, ›Rhetorik des Fundamentalen‹ zuzuordnen (›Fundamentalkritik‹ ; ›Fundamentalopposition‹ u. ä.). – Ausdrücklich eine ›Fundamental-Philosophie‹, die sich nicht bloß ›geltungstheoretisch-abstrakt‹ setzt. Sie benennt ausdrücklich und sogar vor allem auch die praktisch entscheidenden philosophischen Herausforderungen der Moderne. Zumindest wir (blicken wir nur auf uns) haben uns, diesem philosophischem Projekt folgend, phänomenologisch darauf einzustellen und auszurichten. Und zwar so: Methodisch, anschaulich und praktisch! Und vor allem auch: phänomenologisch ›vorsichtig‹ ! Ausdrücklich ›vorsichtig‹ mit allen Konsequenzen. – Roman Ingarden (beispielsweise) schlägt vor, schon den ›Bereich der Gegenstände‹, der phänomenologisch in den Blick genommen werden soll, zunächst immer nur ›vorläufig‹ zu bestimmen. Gleichsam ein sich einlassen auf eine (nämlich unsere) bloß ›ungewisse Gewissheit‹. Und so, das folgt daraus, nie nachzulassen, hinzuschauen auf das eigene Hinschauen. »Wir tun es vorläufig, d. h. wir sind im Vorhinein immer bereit, eine Änderung an der zunächst auf diese Weise gemachten Bestimmungen des Gegenstandsbereichs vorzunehmen, falls der Verlauf der Untersuchung uns dazu zwingen sollte.« 2 – Das ergibt auch für eine ›existentielle Phänomenologie der Großstadt‹ Sinn. Roman Ingarden beschreibt also eine auch für uns gültige ›vorsichtig methodische Verwirklichung‹ phänomenologischer Grundlagen-Arbeit. – Vor allem eines fordert uns dabei ausdrücklich. Das phänomenologisch unverzichtbare ›Prinzip aller Prinzipien‹. Daran, so schon Husserl, müsse sich jede phänomenologische Vorstellung messen lassen können. Und zwar, (erinnern wir uns): Nur jede ›originär gebende Anschauung‹ kann Rechtsquelle der Erkenntnis sein. Nur was »sich in der Intuition originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet«, sei einfach hinzunehmen, »als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt.« 3 – Das ist nun auch unser methodischer Stab und Stecken. Daran halten wir uns! Daran lassen wir uns messen! Ein phänomenologisches Arbeiten, gleich an was oder worüber, hat sich letztendlich immer ›an-

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Das literarische Kunstwerk. Tübingen 19723. S. 3 f. Hua. III. S. 51.

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II. Die Intentionalität

schaulich‹ gesichert zu bewegen. Das bestimmt und legitimiert selbstverständlich auch unsere Wesens-Schau der Lebenswelt ›Großstadt‹.

II.

Die Intentionalität

Von hier aus entfaltet sich die existentielle Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ anschaulich und treibt sich folgerichtig methodisch und ›sachgemäß‹ weiter. Ausgerichtet auf das ›wirkliche Wesen‹. – Das ›wirkliche Wesen‹ ? Unser phänomenologischer Blick geht durch die architektonischen Formungen der Großstadt, ihre sozialen, gesellschaftlichen Schichtungen, diese oder jene großstädtischen Lebensweisen. – Vor allem aber nehme ›ich‹ mich selbst mit meinem Schauen, meinen Wahrnehmungen, meinen Reflexionen der Lebenswelt ›Großstadt‹ selbst als wesentlich wirklich, als konstitutiv wahr. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert uns (wortwörtlich) als Da-und-So-in-derWelt-sein. Wir selbst ›sind so‹, d. i. ein Bilden, Gestalten, Konstituieren, als Dasein ›mit‹ unserer Welt. Wirklich wesentlich! So-Da – mit dieser unserer Welt und mit keiner anderen! Nie anders als So-Da! Eine Welt-Habe, ein Welt-Sein, das von Anfang an nicht in einer ›privaten Innerlichkeit‹ aufgeht. Unser Dasein und unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ sind ›praktisch wesentlich‹, also notwendig aufeinander verwiesen. Phänomenologisch (schauen wir nur hin) willkürlich und unwillkürlich aufeinander eingespielt und so und nicht anders als existentiell geordnet. – Eine ›korrelative Wirklichkeit‹, die für uns als selbstverständlich zuerst und zumeist unauffällig ›So-Da-ist‹. – Das alles setzen wir im alltäglichen Umgang miteinander und mit uns selbst als fraglos gültig voraus. Die phänomenologische Reflexion der Reflexionen lässt aber daran keinen Zweifel. Unser Da-und-So-inder-Welt-sein lässt sich nicht (nie!) nur als ein ›Subjekt für sich‹ vorstellen. Nicht als ›reine Vernunft‹ wirklich-wesentlich begreifen, die sich gegenüber, irgendwie losgelöst, unter anderem auch eine Welt habe. – Lassen wir uns nur nicht durch umlaufende Theorien den Blick verstellen! – Sehen wir uns und unserer ›wesentlich wirklichen WeltHabe‹ selbst zu. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ interessiert uns phänomenologisch nicht als eine architektonische, ›soziologisch‹, ›gesellschaftlich‹, ›ökonomisch‹ oder ›psychologisch‹ gesetzte Wirklichkeit. Oder als ein mehr oder weniger tragfähiges Fundament für eine darauf bezogene Erkenntnistheorie. Wir reflektieren die Lebenswelt ›Groß27 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

B Schauen Ordnen Konstituieren

stadt‹ phänomenologisch als unser uns nun notwendig (ganz und gar) zugehöriges ›existentielles‹ Korrelat. Kurz, – wir schauen auf unser uns wesentlich wirkliches, willkürliches und unwillkürliches Da-und-Soin-der-Welt-sein. Selbst noch die scheinbar allgemeinsten oder sehr abstrakten Vorstellungen dieser ›modernen‹ Welt-da, beispielsweise die der Kunst, der Literatur, der Wissenschaften ›reflektieren‹ wir als Formen und Gestaltungen unseres existentiellen Selbst-Verständnisses Da-und-So-in-dieser-Welt-zu-sein. Sie werden als ›praktische‹ oder ›theoretische Überblendungen‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ und so als ihr selbst zugehörig reflektiert. All diese Theorien, Vorstellungen, Deutungen, Anschauungen, Bilder erscheinen nun in einem anderen, in einem neuen ›existentielle Licht‹. Sie sind ausdrücklich ›Leistungen‹ eines sich selbst ›reflektierenden‹ Da-und-So-in-der-Welt-seins. Das, was uns in Wirklichkeit vor Augen liegt, liest sich als eine komplexe existentielle Textur, die sich ›phänomenologisch‹ nicht in ›Subjekt‹ – ›Objekt‹, einen ›Innen-Leben‹ – ›Außen-Horizont‹, willkürliche – unwillkürliche Akte trennen lässt. – Wir schauen hin und zu, ganz ›Sach-gemäß‹. Wir reflektieren uns so phänomenologisch selbst. – Einfach wesentlich wirklich! Was immer wir ›wie‹ in unseren Blick nehmen, nie ist diese wesentliche Wirklichkeit durch ein ›schlichtes, selbstvergessenes Protokollieren‹ erreicht. 4 – Unser philosophisches Arbeiten entfaltet sich ›entlang‹ unserer ›existentiellen Intentionalität‹, unseres wirklich wesentlichen ›In-der-Weltseins‹. Die phänomenologische Reflexion ›reflektiert‹ die Lebenswelt ›Großstadt‹ als ›Zusammenfassung‹ oder als ›Verflechtung‹ intentionaler Gestaltungen. Kurz, als theoretisches und praktisches Korrelat unseres leibhaften Da-Seins. Das leibhafte Da-Sein erfasst sich wesentlich als wirkliches Da-und-So-in-dieser-Welt-sein. Kein erkenntnistheoretischer, kein metaphysischer Riss trennt also den wirklichen Menschen ›praktisch‹ von seiner Welt. – Der Begriff ›Intentionalität‹ denkt sich phänomenologisch kurz und knapp: wirklich wesentlich und wesentlich wirklich. – Ein philosophisch ›anspruchsvoller Begriff‹. Er ordnet durch die notwendige Fassung der ›existentiellen Lage‹, der ›DynaDieser »Rückgang auf die ursprüngliche Lebenswelt ist kein solcher, der einfach die Welt unserer Erfahrung, so wie sie uns gegeben ist, hinnimmt, sondern er verfolgt die in ihr bereits niedergeschlagene Geschichtlichkeit auf ihren Ursprung hin – eine Geschichtlichkeit, in der der Welt erst der Sinn einer ›an sich‹ seienden Welt objektiver Bestimmbarkeit zugewachsen ist auf Grund ursprünglicher Anschauung und Erfahrung.« (EU. S. 44)

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II. Die Intentionalität

mik So-Da-zu-sein‹, der ›Gestaltung‹ auch (und es kann gar nicht anders sein) unsere phänomenologische Wahrnehmung, unsere Reflexion der Reflexionen als wirklich wesentlich. – Diese (nennen wir sie) ›existentielle Intentionalität‹ ist keineswegs eine bloß ›metaphysische Bebilderung einer erkenntnistheoretischen Verlegenheit‹. Etwa, wie kommt eine eigentlich ›weltlose, reine, absolute Vernunft‹ zu ›einer Welt-habe‹ ? Vielmehr verwirklicht die ›Leistung der existentiellen Intentionalität‹ unsere Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹. Eine Leistung, die, so fordert es das fundamental-philosophische Selbstverständnis, selbst zu reflektieren ist. – Auch diese phänomenologische Vorstellung der ›Intentionalität‹ ist alles andere als ›einfach‹ getan. Nur kurz im Vorbeigehen dieser Hinweis. Schon ein flüchtiger Blick in die phänomenologische Literatur mag die philosophischen Schwierigkeiten vor Augen führen. Die Begriffe, Deutungen, Gestaltungen der ›Intentionalität‹ bewegen sich zwischen ›erkenntnistheoretisch trivial‹ und ›metaphysisch verstiegen‹. – Bleiben wir aber nun wirklich ganz bei uns! Die Intentionalität, das können wir selbst ›sehen‹, selbst ›wahrnehmen‹, ist weder ein theoretisches Hilfsmittel für eine ›DingOntologie‹, noch eine Konstruktion einer idealistisch gedeuteten Vernunft. Die ›Intentionalität‹ benennt zumindest für uns ganz schlicht, selbst noch die unwillkürliche, praktisch-notwendige Form unserer wesentlichen Wirklichkeit als Da-und-So-in-der-Welt-sein. ›Meine‹ Existenz und ›meine‹ Welt (und keine andere ›habe‹ ich) sind nie anders als intentional organisiert. Das eine ist praktisch nie ohne das andere. Mensch-sein, sagen wir es so, verleiblicht notwendig die Form seiner ›existentiellen‹ Intentionalität. – Es reicht also vor dem Hintergrund dieser ›existentiellen Notwendigkeiten nicht hin, ›Intentionalität‹ als ein bloßes ›hinrichten-auf‹, ›wahrnehmen-von‹, ›hinwenden-zu‹ zu beschreiben. Daran halten wir fest. Unsere Intentionalität gestaltet (›formt‹, ›lässt sehen‹) unsere existentiell wesentlich wirkliche Selbstund Welt-Fassung. – Die ›leibhafte Existenz‹, das ›So-existieren‹, kann sich willkürlich (beispielsweise reflektierend) und ›unwillkürlich‹ zu sich selbst und zu seiner Lebens-Welt verhalten. Also beispielsweise, ›einsichtsvoll‹ oder ›verschlossen‹ gegenüber den Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten So-Da-zu-sein. – Wie auch immer! Immer aber gestaltet in Form der ›existentiellen Intentionalität‹. So-Da-zu-sein, also gerade so und nicht anders, ist die, vor unseren Augen selbst liegende Ausgangszone für unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen. Unser wesentlich wirkliches Dasein 29 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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›reflektiert‹ sich uns phänomenologisch ›anschaulich konkret‹ als ein ›intentionales Geflecht‹. Oder so, wir zeigen uns uns selbst als ein System aktiver und passiver Daseins-Leistungen. (Das gilt für uns selbst noch als träumendes Dasein). – Diese phänomenologische Gestaltung der Intentionalität ist also nie und nimmer ein bloß erkenntnistheoretisch relevanter Akt ausgerichtet hin zu diesen oder jenen Weltstücken, Dingen, Sachlagen. Sondern ist für uns wirklich und wirksam als unser dichtes ›existentielles‹ Gewebe. Beispielsweise komplex aufeinander aufbauender, ineinander gefalteter, vor allem rückbezüglicher (repulsiver) Bewegungen unseres Da-und-So-seins. 5 Das sind, im Übrigen, alles schon Bewegungen eines Daseins im ›interpersonalen Raum‹. – Diese ›konstitutive Potenz‹ der Intentionalität darf daher nicht idealistisch einseitig gerichtet gelesen werden. Die Intentionalität gestaltet ganz und gar unser In-der-Welt-sein. Gestaltet es als unsere selbstverständliche Befindlichkeit, wirklich gemeinsam bei Dingen und bei uns selbst sein zu können. Kurz in einem Satz, sich so in und mit unserer Welt wirklich befinden zu können. Das ist kein bloßes nachträgliches ›Abtasten-von‹, – von mir wesentlich gelösten Welt-Dingen. Ein notdürftiges Überqueren (nicht mehr als eine bloße Spekulation) eines erkenntnistheoretisch herausfordernden, problematischen Zwischen. Wir sehen und erleben ›unsere Intentionalität‹ selbst. Sie ist praktisch verankert als unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. Also wirklich, leibhaft, eben existentiell. Der gesamte Zusammenhang unseres Lebens, so schreibt Wilhelm Szilasi zu Recht, sei durch diese Struktur ›Intentionalität‹ bestimmt. 6 – Diese leibhaft wirkliche Intentionalität

Diese Komplexität dieses In- und (möglicherweise auch) Gegeneinander intentionaler Akte zeichnet Husserl an einem Beispiel so. »Widerstreit liegt in den Intentionen, in den anschaulichen Akten. Aber sie streiten miteinander nicht, es sei denn, dass ich ein Phantasiebild in das Blickfeld der Wahrnehmung hineindeuten will. Phantasiere ich eine Linie in das Papier hinein, so erlebe ich den empirischen Widerstreit. Die Linie ist nicht darin, das Papier ist unbeschrieben. Stelle ich aber das Kinderzimmer vor, so streitet die Vorstellung nicht mit der Wahrnehmung, obwohl ich beide zugleich in wirklicher Lebendigkeit halten kann. Doch geht schon daraus hervor, dass es sich nicht um einen ernstlichen Widerstreit handelt, da ich akustische Phantasiebilder doch beständig im inneren Sprechen habe, ohne dass diese sich mit dem aktuell Gehörten stören. Und schließlich verschwindet auch die Wahrnehmung des Gesichtsfeldes nicht, während ich mir irgendein Gemälde vorstelle (…) jedenfalls die Intention kann ich auf beides ungestört festhalten, wie ich es bei der Vergleichung tue.« (Hua. XXIII. S. 150/151) 6 Einführung in die Phänomenologie Husserls. Tübingen 1959. S. 17. 5

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benennt, halten wir es für uns fest: die existentielle Bedingung der Möglichkeit unseres wesentlich wirklichen Welt-Seins.

III. Ordnung – Bilder der Großstadt Das Folgende hat uns schon beiläufig beschäftigt. Auch die philosophischen, theologischen, literarischen, ästhetischen Wahrnehmungen, Reflexionen, Bestimmungen, Vorlagen sind für unser phänomenologisches Schauen selbst Ereignisse, Gestalten und Gestaltungen unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Also Ereignisse, Gestalten und Gestaltungen unseres intentional organsierten Da-und-So-in-der-Welt-seins. Gehören somit zur ›Sache‹ unserer phänomenologischen Arbeit. – Unser ›Hinschauen‹ auf diese oder jene Perspektiven ist ausdrücklich ein Hinschauen ohne jeden ›spekulativen Überschuss‹. Erst dieses schauende Hinschauen, ohne Zurückweisung und Abwertung dieser oder jener ›Wahrnehmung der Großstadt‹, entwirft den umfassenden phänomenologischen Horizont für unser gemeinsames Arbeiten. – Das Ausschauhalten nach ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ (in) der Lebenswelt ›Großstadt‹ ist an dieser Stelle phänomenologisch folgerichtig. ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ (dazu gehören die Theorien der ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹) sind phänomenologisch gelesen unsere uns zugehörigen Daseins-Gestaltungen. Nicht also (abgeleitete) soziologische, ökonomische, psychologische, ästhetische, architektonische ›objektive‹ Herausforderungen. Wir denken, beschreiben, entwerfen einen ›wesentlich-wirklich existentiellen Ordnungs-Begriff‹, der den wissenschaftlichen, ›technischen‹ Vorstellungen von Ordnung und Unordnung ›vorausliegt‹. – Eine philosophische Reflexion dieser ›ordentlichen‹, ›geordneten‹ oder auch ›unordentlichen‹, ›ungeordneten‹ Grund-Muster ›So-Da-zusein‹, so scheint es mit der ersten Durchsicht, sollte uns nicht allzu große Mühe machen. Ist doch schon die ›Oberfläche der Großstadt‹, augenscheinlich gestaltet, geformt, – so und so geordnet. Also, für uns und ohne weiteres, eine erlebbare, sichtbare, wortwörtlich ›erfahrbare Ordnung‹. Eine durch uns erlebbar gestaltete Lebens-Form. Etwas, mit dem wir, Gott sei Dank, schon im Alltag selbstverständlich rechnen (können). Konkret, eine Vielzahl ineinandergreifender, sich unterstützender, aufeinander aufbauender Ordnungen. Beispielsweise und (scheinbar) ganz willkürlich: Straßen, Nebenstraßen, Fahrrad- und 31 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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Gehwege, Ampelanlagen, Hinweisschilder, Spielplätze, Parkzonen, Abfallkörbe u. ä. Wir wissen, ohne viel nachzudenken, Bescheid. Vorlagen für und an uns gerichtete, appellierende Forderungen, sich entsprechend zu verhalten. Also Muster, Vorschriften, die zuerst und zumeist erfüllt oder missachtet, die aber immer, so oder so, ›verstanden‹ und ›praktisch erfahren‹ werden. – So bildet sich für uns, ganz selbstverständlich, eine wirklich wesentlich ineinander gefaltete, alles andere als ›einfache‹ Grund-Ordnung der Lebenswelt ›Großstadt‹. Ein, nun reflektiert, phänomenologisches Ordnungs-Muster, das sich durch die unterschiedlichen lebensweltlichen Ordnungen (Variationen von Ordnung) vorstellt und sich selbst als wesentlich zeigt. – Erinnern wir uns daran, dass für uns erkenntnistheoretische, ontologische Modelle oder soziologische und psychologische Überlegungen, Vorstellungen ›eingeklammert‹ bleiben. Lassen wir alle umlaufenden vielverhandelten sozialen, gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen, ökologischen Probleme einer Ordnung der ›großen Städte‹ auf sich beruhen. Wir, so haben wir es vereinbart, schauen zunächst einfach hin und zu. Vor allem hin und zu auf uns selbst als so eingefugtes, so geordnetes Daund-So-sein! – ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ zeigen sich uns phänomenologisch also ›wie von selbst‹. Sie zeigen sich nun ›reflektiert‹ als existentielle Grund-Muster; als unsere Grund-Spiele; und zeigen sich ›von Anfang an‹ mit einer uns ›irritierenden eigenartigen Verweisungsdichte‹. Sich beispielsweise aneinander bildend; sich also aneinander entfaltend. Sie stehen (›verlaufen‹, ›gelten‹) in der Regel nicht nebeneinander. Sondern einfach so: das Eine ist nicht ohne das Andere. – ›Großstadt‹ und ›Ordnung‹, so scheint es uns also, bedingen einander. Eine ineinander verflochtene Korrelation! Sind, das sehen wir, durchaus sogar Ausdruck einer Notwendigkeit. – Das wird nun nicht zuletzt auch durch die unterschiedlichen Wissenschaften wie selbstverständlich vorausgesetzt, so eingeführt, vorgestellt, gedeutet und ›reflektiert‹. Etwa: Diese ›Ordnungen der Großstadt‹, diese sozialen, gesellschaftlichen, politischen, architektonischen Vorgaben, Regelungen, Muster. Um ein bedeutendes Beispiel zu nennen: gedacht als Bedingungen für die vielzitierte ›moderne Freiheit‹. Also als eine ›straff‹ organsierte ›Lebens-Gestaltung‹, die nun, so sagt man, wirkliche Freiräume ›für uns‹ erst ›möglich mache‹. – Diese so hergestellte ›Freiheit‹ ist also schon ganz praktisch ein sehr bedeutsamer ›Hintergedanke‹ der Großstadt. – Das ist selbstverständlich auch in unserem phänomenologischen Blick. Von uns ›gelesen‹ als wortwörtliche ›Reflexionen un32 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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serer selbst‹. Also als lebensweltlich ›konstitutive Potenz‹, die uns uns als ›So-da‹ endgültig vorführt. Wirksame Bilder, selbstverständliche Vorstellungen, die es nun existentiell phänomenologisch zu reflektieren gilt. Zweifellos und von Anfang an sind das nicht bloß ›deine‹ oder ›meine‹ privaten Angelegenheiten. Sie sind, in einem sehr genauen Wortverständnis zusammengefasst, als ›unser‹ für uns gemeinsames Projekt. Und das von Anfang an! Ich mag darauf aufmerken oder nicht. Wir sind, zumindest, grundsätzlich aus- und eingerichtet ›in‹ und ›durch‹ unsere gemeinsamen Erfahrungen von Ordnung und Unordnung. Also, ob wir es wollen oder nicht, im Grunde schon so ›horizontal‹ und ›vertikal‹ lebensweltlich-großstädtisch eingefaltet. – In einem Satz: wir sind, wie immer wir uns das zu Recht legen, wo immer wir auch leben, ›Zeit-Genossen‹ dieses unseres lebensweltlichen Raumes. Du und Ich wir werden (sind) getragen, eingerichtet, geordnet durch eine gemeinsame ›Ortschaft‹, – eben durch unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. – Nun, so allgemein, so ›großzügig‹ gefasst, sollte es wenig Streit geben. Darauf können wir phänomenologisch aufbauen. In unserem Blick also offenbar zu Recht diese von uns so gelesene, uns gemeinsame Lebenswelt. – Denken wir uns (beispielsweise), weiter ein in ihre uns eigenartig ›zustehende‹ Ordnung (Ordnungs-Muster) der Freiheit. Eine, auch das drängt sich uns phänomenologisch wie von selbst auf, durchaus zwiespältige Erfahrung. – Offensichtlich und selbstverständlich ist für uns zunächst vor allem auch unsere geordnete (von den unterschiedlichsten Seiten zugesprochene) ›Selbst-Bestimmung‹ und ›Selbst-Verantwortung‹. Das aber ist phänomenologisch unlösbar verflochten, verknotet mit der ›Ordnung‹ und ›Un-Ordnung‹ unserer uns gemeinsamen Lebenswelt ›Großstadt‹. Auch das ist offensichtlich augenscheinlich nun ganz unabhängig von dieser oder jener ›Großstadt‹. Diese existentielle Grund-Erfahrung von Ordnung und Un-Ordnung verweist uns, ohne jede ›reflexive Verrenkung‹, auf uns selbst als Daund-So-in-der-Welt-sein. Nicht nur als so oder so gestimmtes Dasein. Der Mensch als Da-und-So-in-der-Welt-sein stellt sich selbst mit der (auch unwillkürlichen) Herstellung einer Ordnung, so oder so, her. 7 Vgl. z. B. Karl Löwith. »Was die ›Einrichtung‹ dem Blick des Menschen zu verstehen gibt, ist nichts anderes als der Mensch, und zwar nicht als etwas, was notwendigerweise mit dazu gehört, sondern als einen, zu dem eine solche Ordnung gehört.« (Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. München 1928. S. 32.)

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Unabhängig davon, ob er sie im Einzelnen immer befolgt oder nicht. Das Dasein ist immer ein Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Das sind nicht nur Fragen für eine, sagen wir, ›politische Philosophie‹. Sie zeigen phänomenologisch unser Da-Sein als eine von Anfang an uns gemeinsame ›Welt-Ordnung-Habe‹. – So ist es für uns auch historisch nicht weiter verwunderlich, dass die Entfaltung der Lebenswelt ›Großstadt‹ mit Formen von mehr oder weniger ›selbstverständlichen‹ Reglementierungen einhergeht. 8 – Schauen wir beispielsweise hin auf den ›äußeren Rahmen‹ großstädtischer Ordnungen. Also die ›theoretische‹ und ›praktische‹ Stadtplanung. Etwa: Die (wie) selbstverständlich immer auch ordnende Architektur, die Straßenführungen, Ampelanlagen, Wege für Fußgänger, Radfahrer, Spielplätze, Rasenflächen (›Betreten verboten‹ ! ›Hunde sind hier anzuleinen‹ !), Parks usw. Möglichkeiten unseres Da-in-der-Welt-seins. – Die Idee dieser Ordnungen, einschließlich der Unordnung, lassen sich nun ohne weiteres, also wiederum ohne ›spekulative Gewaltsamkeit‹, in mythologisch, theologische, mathematische oder technische Bilder überführen. Nur scheinbar führen diese Bilder weg von uns. – Von der ›heiligen Stadt auf dem Berg‹, über ›anatomische Metaphern‹, die Beschreibung der Stadt mit ›körperanalogen Funktionsbildern‹, 9 bis zum Ordnungsparadigma ›Maschine‹. Das sind ›Bilder‹, die aus der Lebenswelt ›Großstadt‹ (unserem Da-und-So-in-der-Welt-sein) wirklich phänomenologisch herausgelesen werden können. Die unterschiedlichsten Bilder, Metaphern, (meinetwegen) ›Visionen‹, ›Alpträume‹, Sehnsüchte konnotieren, fassen, verdichten den ›Begriff Großstadt als Lebenswelt‹. Diese so aufgeladenen, auch wesentlich so ineinander verflochtenen ›Ordnungs-Bilder‹, ästhetische, wissenschaftliche, technische, theologische ›Mustergestaltungen‹ sind selbst ›konstitutiver Ausdruck‹, sind (möglichweise auch unwillkürliche) ›existentielle Reflexionen‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Das ist phänomenologisch of-

›Selbstverständlich‹, – selbst wenn sie uns als ›unsinnig‹, ›überflüssig‹ scheinen. Man könne – so Robert Musil – »weder auf die Straße treten, noch ein Glas Wasser trinken oder die Elektrische besteigen, ohne die ausgewogenen Hebel eines riesigen Apparats von Gesetzen und Beziehungen zu berühren, sie in Bewegung zu setzen oder sich von ihnen in der Ruhe seines Daseins erhalten zu lassen.« (Der Mann ohne Eigenschaften. Neu durchgesehene und verbesserte Auflage. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 156.) 9 Karin Wilhelm. Detlef Jessen-Klingenberg. Funktionen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen. Gütersloh. Berlin 2004. S. 43. 8

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fensichtlich! Aber zuerst und zumeist wie selbstverständlich in die Wirklichkeit der Lebenswelt ›Großstadt‹ ganz unauffällig eingefaltet. – Eines kann dabei von uns nicht übersehen werden. Und zwar so: Für uns ist in Wirklichkeit kein Dasein über unser Da-und-So-in-derWelt-sein hinaus möglich. Trivial und doch existentiell entscheidend! – Das ist keine Erfindung. Keine philosophische Konstruktion. Wir schauen einfach selbst hin und zu auf das, was sich uns selbst zu schauen gibt. All diese Wirklichkeiten und diese Möglichkeiten der Ordnung (Muster, Formen, Gestaltungen, Reflexionen) als unser existentieller Grund kommen für uns phänomenologisch in den Blick. – Und genauso klar sehen wir nun phänomenologisch die ›Grenzen der verwirklichten großstädtischen Ordnung‹. Unsere reflexive Reflexion der Ordnungen der Lebenswelt ›Großstadt‹ entwirft auch, und es kann phänomenologisch nicht anders sein, die ›Krisis unserer Ordnungen‹. Ausdrücklich nicht als ›Defizit‹. Sondern als ein anthropologisches ›Potential‹ ! – Der Mensch als Da-in-der-Welt-sein kann in ›Unordnung‹ leben, nicht aber in ›Nicht-Ordnung‹. Die Nicht-Ordnung ist der Tod, das Nicht-mehr-Da-sein. Unordnung ist weil unsere existentielle Ordnung ist. Da sind (wieder wahllos) ›Verkehrschaos‹, Straßenschäden oder (wir nehmen es wahr) Streit, Auseinandersetzungen, Spannungen, Lärm und Gewalt. – Unsere Bilder von ›Großstadt-Ordnung‹ erhalten erst durch diese, uns vertrauten, immer ›wirklich möglichen‹ Bilder von Unordnung, diesen dazugehörigen ›Störungen‹ ihre wesentliche Bedeutung. 10 – Denken wir in diesem Zusammenhang an das Krankheitsbild ›Schizophrenie‹. Nur auf den ersten Blick mag diese Zusammenstellung hier befremdlich scheinen. Aber auch jedes Kranksein reflektiert existentielle Ordnung. ›Schizophrenie‹ ist phänomenologisch zu lesen als ein Versuch eines Daseins, jenseits der sozial gültigen Regulierungen ›traditioneller‹ Ordnungen, eigene selbst-stabilisierende Ordnungsmuster gegen alle erlebten ›äußeren‹ und ›inneren‹ Widerstände, Umbrüche, Irritationen beizubehalten. (Darauf werden wir zurückkommen). Oder, denken wir auch an Daseins-Gestaltungen wie ›Angst‹, ›Einsamkeit‹, ›Unsicherheit‹, ›Haltlosigkeit‹ in der Lebenswelt ›Großstadt‹. Reflektieren wir diese oder ähnliche (ausdrücklich) ›existentiellen Ordnungs-Muster‹ (!) ohne allzu eng angelegte medizinische oder psychologische Vor-Stellungen. – Vergleichbar: ›Oberfläche und Untergrund‹; ›Horizont und Grenze‹ oder ›Nachbarschaft und Fremde‹.

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Ganz offensichtlich: Die Lebenswelt ›Großstadt‹, unser Da-in-derWelt-sein, gibt sich uns als eine uns zuerst und zumeist selbstverständlich scheinende ›Zusammenstellung von Ordnungsfiguren‹. (›Kaum der Rede wert‹ !) Ein Gefüge also von ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹. Dieses So-Da-sein bindet uns, wie von selbst, an die ›Oberfläche‹ des gesellschaftlichen Lebens. 11 – Schauen wir nur wieder genauer hin. Unser alltägliches Da-und-So-in-der-Welt-sein, aber auch die Kunst und die Literatur bezeugen es uns. Dass diese unsere alltäglich gelebten, gefühlten, erlittenen Spannungen, aber vor allem auch z. B. das grundsätzlich existentielle Scheitern, die Verzweiflung, die vergeblichen Versuche vor sich selbst zu fliehen, – kurz, ›die Ordnung der Unordnung‹ als wesentliche Möglichkeit uns uns ›zur existentiellen Verfügung‹ halten, – endlich wirklich Da-sein-zu-können. Das macht uns auf eines aufmerksam. Unsere Lebenswelt ›Großstadt‹, als Da-und-So-in-der-Welt-sein, entzieht sich einem nur einseitig angelegten ›rationalen‹ Maßnehmen. Zumindest hier wird es kaum ernsthaft Widerspruch geben können. Nämlich beides, ›Chaos‹ und ›Ordnung‹ sind offensichtlich, genauso wie Vernunft und Unvernunft, Wirklichkeiten, ja Potentiale unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Das viel verhandelte, beschriebene, beklagte, ›Chaos der Großstadt‹, diese, wie man glaubt, ganz und gar neuen Formen Da-zu-sein brauchen, ja fordern, sind ausgerichtet auf eine angemessene, auch unwillkürlich sich gestaltende, Regulierungsdichte. – Das ist wohl wahr! Aber der ›Soziologe‹ Henri Lefebvre (um nur ihn zu nennen) verzerrt, so scheint es mir, die Bedeutung dieser ›faktischen dialektischen Ordnungsfigur‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Richtig ist, das haben wir gesehen, dass die ›großstädtischen Ordnungen‹ grundlegend ›Unordnung‹ beinhalten. Aber diese ›Unordnung‹ ist keineswegs »ausschließlich Laster, Verschmutzung (geistige, moralische, soziale) Krankheit.« 12 Sondern phänomenologisch ein notwendiger Teil, eine konstruktive Seite unseres ›notwendigen existentiellen Grundspiels‹. Also eine wesentliche Formung unseres wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Auch ›Unordnung‹ ist damit eine phänomenologisch ›notwendige Institution‹ unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. – Gleich ob fiktiv, geträumt, bildhaft Die Psychoanalyse begreift diese ›Vorgaben‹ erkauft durch ›Triebverzicht‹ ; der uns gleichzeitig aber (schauen wir nur genau hin) uns unsere Privat-Räume einräumt und so unseren Eigensinn für uns freigibt. 12 Die Revolution der Städte. Frankfurt/M 1990 (1976). S. 101. 11

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und literarisch vorgestellt oder leibhaft erfahren. Sie zeigt uns phänomenologisch uns selbst als lebensweltlich wesentlich wirklich. Gleichermaßen also sind ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ unsere uns existentiell zugehörigen Daseins-Gestaltungen. ›Das und so bin ich‹ ! – Hier braucht es für eine weitere Entfaltung, das mag an dieser Stelle noch etwas überraschen, der unterstützenden Mitarbeit einer phänomenologisch fundierten Tiefenpsychologie. Aber wir werden sehen! – Gestalt und Gestaltung der ›Unordnung‹, so scheint es uns schon im Alltag, bricht eigenartig regelgerecht herein. Sie zeigt sich, erwartet unerwartet, und wirft uns auf uns selbst zurück. – Um ›Unordnung‹ wahrzunehmen, zu ›spüren‹, braucht es keine politischen Gutachten, keine wissenschaftlichen Bestimmungen, kein besonderes Gespür. Denken wir beispielsweise wieder an ›Verkehrschaos‹ (wir nehmen es wahr), ›Lärm‹ (wir hören ihn), ›Verschmutzungen‹, ›Streit‹, ›Verbrechen‹ (eine Schlagzeile; eine ›Nachricht‹ im Radio) usw. Eigenartig selbstverständliches! – Schon allein dass von allem ›viel-zu-viel-daist‹ ! Da-ist, scheinbar (so beklagen wir) ohne Ordnung, ohne jede Regel. – Beispielsweise, unüberhörbar dieser ›maßlose‹ Dauerlärm der Großstadt. 13 (›Das macht mich noch verrückt‹ !) Mit dem Lärm ›okkupiert‹ die Großstadt alle unsere ›Räume‹. Besetzt und durchdringt uns. – Oder, der ›Großstadt-Schmutz‹, der ›Abfall‹ (›der Anderen‹). Er sei, so wird gesagt, nicht gleichzusetzen dem Schmutz auf dem Lande. Das ›Schmutzige‹, der Abfall, der ›Dreck‹ der Großstadt, wird zum Sinnbild des leibhaftig Verkommenen und des ›seelisch Verwahrlosten‹ (ein ›Drecks-Kerl‹). Der Schmutz der Großstadt gehe wortwörtlich unter die Haut. Er verunreinige Geist und Seele. Bringe den Menschen wesentlich aus seinem ›natürlichen Gleichgewicht‹ (usw.). – Auch hier wieder diese (uns so oder so vertraute) ›bestürzende Erfahrung‹. Lassen wir uns nur phänomenologisch darauf ein! Wo immer wir auch hinblicken, was immer wir ›reflektieren‹, wir können uns als Da-und-So-in-der-Welt-sein nicht entkommen. Die räumliche und zeitliche Oberflächenstruktur der Großstadt, ob ordentlich oder Das ist nicht nur eine Frage der ›Lautstärke‹. Man könne – so lässt Raymond Chandler feststellen – »keine Mahlzeit mehr zu Ende bringen (…), ohne dass irgendein männlicher oder weiblicher Schnulzensänger einem etwas von einer Sorte Liebe vorrülpst, die so altmodisch ist wie eine Turmuhr oder irgendeine Hammondorgel dem Gast in die Suppe jazzt.« (Gefahr ist mein Geschäft. Zürich 1976. S. 215 ff.); auch: »Der Verkehrslärm vom Boulevard kam in Wellen, wie Brechreiz.« (Leb wohl mein Liebling. Zürich 1976. S. 95.)

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unordentlich, ›reflektiert‹ unser Dasein. Das ist nun wortwörtlich eine ›Reflexion‹. – Nur nebenbei, die Kunst, vor allem die ›Großstadt-Literatur‹, denken wir an die ›Großstadt-Romane‹, machen uns auf diese unsere existentiellen Lagen So-Da-zu-sein aufmerksam. Aus gutem Grunde reflektieren wir also die Kunst, die Literatur, als Vorführung, Gestaltung, als ein Entwerfen, als ›Reflexion‹ der existentiellen Ordnung und Unordnung der Lebenswelt ›Großstadt‹. Kurz, der Irritation und Perturbation unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Sie verweist selbst dort noch, wo sie sich (beispielsweise) ›ironisch‹ zu distanzieren sucht, auf uns und ihre Herkunft aus der Ortschaft Lebenswelt ›Großstadt‹. Auch das wird uns noch ausführlich herausfordern. – Eines scheint uns nun dabei ganz und gar trivial. Aber gerade deswegen braucht es phänomenologisch unsere besondere Aufmerksamkeit. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist also ganz und gar ›unsere Welt‹. Ihre ›Ordnung‹ also, ihre ›Muster‹, ›Gestalt‹ und ›Gestaltung‹, ist in Wirklichkeit unsere ›existentielle Ordnung‹. Sie ist, einschließlich der ›irrational‹ scheinenden Unordnung, unsere wesentliche ›Gestalt‹ und unsere wirkliche ›Gestaltung‹. – Bleiben wir nur weiter konsequent phänomenologisch gerichtet. ›Lesen‹ wir die Begriffe ›Ordnung‹ und ›Unordnung‹ also als unsere konstitutiven existentiellen Lagen. Als Gestalten und Gestaltungen unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. ›Ordnung‹, so denken wir es uns, entfaltet sich doch wahrnehmbar, beispielsweise als ›Ratio‹ ; stehe für ›sichtbare Planung‹ ; ›nachdenkbare Logik‹ ; für ›durchdachte Institutionen‹ u. ä. ›Unordnung‹ stehe umgekehrt für die Auflösung dieser ›Gründe‹, dieser unserer uns gemeinsamen ›Grund-Lagen‹. Also denken wir hier beispielsweise ganz selbstverständlich und ›folgerichtig‹ an ›Unvernunft‹, ›Irrationalität‹. Oder auch, und sogar verschärfend: an ›Chaos‹, an ›Abgründe‹. – Zugeschrieben wird es nicht zuletzt dem ›gefährlichen‹ Einbruch aus dem ›Unbewussten‹. Dieser ›modernen Form‹ der (einer) Transzendenz. Etwa Traum, Rausch, ungezügelte Sexualität u. ä. – Das sind für uns phänomenologisch aber nicht weniger erlebte, erfühlte, erträumte, erhoffte oder auch befürchtete Wirklichkeiten und wirkliche Möglichkeiten unseres Da-in-der-Welt-seins. Das sind, in einem Satz: wirkliche Möglichkeiten, konstitutive Potentiale der Lebenswelt ›Großstadt‹, unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins.

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IV. Die Oberflächen der Lebenswelt ›Großstadt‹

IV. Die Oberflächen der Lebenswelt ›Großstadt‹ Scheinbar ganz unabhängig von alledem. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert sich uns, zunächst und zumeist, als unsere augenscheinliche (›objektive‹) Oberfläche. Ein ›Oberflächen-Spiel‹ ! Genauer, ›als die Oberfläche der Moderne‹. Das meint nun nicht etwa ›Oberflächlichkeit‹, Wahrnehmungen ohne jede Reflexion. Sondern Gestaltungen, Bewegungen, Lagen, Perspektiven, – vorgestellt als ›Systeme‹, die sich selbst so zeigen und für sich selbst einstehen. Im Übrigen auch ethisch und ästhetisch! Alles ganz augenscheinlich! Literarisch sogar (da und dort) entfaltet als ›neuer Mythos des Da-seins‹. – Denken wir nur, um ein Beispiel zu nennen, an die besonders eindringlichen expressionistischen ›Bilder‹. Sie sind anthropologische Darstellungen, ästhetische Vorstellungen und ethische Einstellungen (Ängste, Hoffnungen, Wünsche) zugleich. Immer aber eine (wortwörtlich) ›ästhetische Auseinandersetzung‹ mit der uns bedrängenden Oberfläche der Lebenswelt ›Großstadt‹. Das ›Lichtermeer‹, der ›Pulsschlag modernen Lebens‹, ›Moloch Großstadt‹, ›Menschenverschlingendes Ungeheuer‹ u. ä. 14 Selbst noch die ›Psychologie‹ meint die Oberfläche der Lebenswelt Großstadt. Aber nicht nur ›Bilder‹ vom Verlieren und Verloren-sein (in den Häuserschluchten, ›in der Menge‹), von Bedrohung, schicksalhaftem Untergang oder auch, und damit eigenartig verbunden, einer geradezu ›unheimlichen Attraktivität der Großstadt‹ (das ›Begehren‹ ; süchtig nach großstädtischem Leben; die Großstadt als ›Prostituierte‹), sondern auch ›Bilder‹ der Hoffnung, der Erlösung (›bist Du allein, von allen Freunden verlassen, geh in die Stadt‹), einer erfüllten Ordnung, 15 vom Finden (des Glücks, Reichtums, Liebe, sexueller Erfüllung). – Also, wie auch immer. Kurz und knapp: Die ›Großstadt-Oberfläche‹, das Großstadt-Leben, unser Da und So erzählt, stellt uns phänomenologisch aus, führt uns uns vor. Wir können uns selbst selbst wahrneh-

Vgl. z. B. Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Neu herausgegeben von Kurt Pinthus. (1920). Hamburg 1959. 15 Erlebbar »eine harmonische Beziehung zwischen Innen und Außen, die Anwesenheit des Vielen in Gestalt unterschiedlicher Tätigkeiten und eine auf den öffentlichen Raum bezogene Privatheit, überhaupt die sichtbare Bedeutung des öffentlichen Stadtraums zur Vergegenwärtigung der Sinnhaftigkeit urbanen Lebens.« (Michael Müller, Franz Dröge. Die ausgestellte Stadt. Zur Differenzierung von Ort und Raum. Basel 2005. S. 30.) 14

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men, reflektieren. Können uns uns so oder so auf dieser ›Oberfläche der Lebenswelt‹ zurechtlegen. – Es ist also kein Zufall, sondern ganz in dieser unserer Ordnung, dass schon die Impressionisten die ›Wahrnehmung der Oberfläche‹ (zwar aus unserer Sicht: ›naiv‹) zum ›malerischen Prinzip‹ erklärten. 16 Diese ›unmittelbar‹ zugängliche, erfahrbare ›Großstadt-Oberfläche‹ (denken wir hier vor allem auch an das ›Material der Großstadt‹: Beton, Stahl, Glas) verändert nun nicht nur die wahrnehmbare, scheinbar ›objektive‹ Gestaltung, die ›materielle Fläche‹ dieser unserer Welt. Sondern gestaltet zugleich unser Wahrnehmen, das Sehen unserer Sehweise und unsere ›Reflexionen‹. Verändert, vor allem und nicht zuletzt die Psychoanalyse hat uns darauf aufmerksam gemacht, unsere Vorstellungen von unserer ›leibhaften Selbstauffassung‹. Also auch und zuerst und zumeist unbemerkt, wie wir uns selbst und unser Da-Sein wahrzunehmen haben; denken wir hier vor allem an die unterschiedlichen Modelle von Krank- und Gesundsein. – Das Wirkliche ist wahr und es ist uns wahrnehmbar gegeben, ist auf der Oberfläche ›erfahrbar‹. (Das schließt für uns, phänomenologisch, Formen einer ›mittelbaren Wahrnehmung‹ natürlich nicht aus).

V. Oberfläche und Untergrund Wir nehmen dieses Selbstverständnis zur Kenntnis, ohne uns allzu sehr davon beirren zu lassen. – Die existentielle Phänomenologie ist eine ›Schule des Erkundens‹, der ›Erfahrung‹, der ›Wahrnehmung‹, der ›Reflexion der Reflexionen‹, – kurz: ein Schauen des ›Schauens‹. Das sind philosophische Leistungen, die sich auch philosophisch keineswegs von selbst verstehen. Dieses ›phänomenologische Schauen‹ ist, auch das gehört hierher, ausdrücklich keine ›Kunst für einen Einzelnen‹. Es braucht von Anfang an das Miteinander-Arbeiten einer Die Realität werde von den Impressionisten »als ein sich unentwegt veränderndes Zeitkontinuum erfahren (…). Zum An-sich der Gegenstandswelt gibt es keinen erkenntnistheoretischen Zugang, sie ist lediglich eine provisorische Fiktion. Alle individuellen Lebensvorgänge werden als radikal verzeitlicht erlebt. Dieser Erlebnisform korrespondiert die Vorstellung, dass das Ich nichts Festes mehr sei, sondern nur ein dem physikalisch beschreibbaren Elementenkomplex von Farben und Tönen usw. analoger, lockerer Zusammenhang von Empfindungen und Erinnerungen.« (Jutta Held. Norbert Schneider. Sozialgeschichte der Malerei. Köln 19982. S. 379.)

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phänomenologischen Forschergemeinschaft. Ein Gemeinschaftsprojekt selbst noch als ›Streit‹ ; noch als miteinander-streiten. – Schauen wir also selbst hin und zu. Nicht ›die Welt‹ unmittelbar, allgemein und schlechthin ist ›das Erste‹ unserer Welt-Erfahrungen, unserer Reflexionen, unseres gemeinsamen Weltverständnisses. Sondern ›Welt‹, die sich uns zuerst und zumeist, gleich wie, als ›alltägliche Erfahrung‹ von diesem oder jenem ›Da‹ zeigt. ›Welt‹ ist immer ›irgendwie so da‹ als unsere, eben zuerst und zumeist fraglos gegebene, wirkliche Lebenswelt. – Hier von bloßer ›Außen-Welt‹ zu sprechen, würde nun unserer ›phänomenologischen Reflexion‹ dieser ›Erfahrung‹, die immer auch ›natürlich‹ Selbst-Erfahrung ist, nicht gerecht. Diese uns ›von Grunde auf‹ gemeinsame Lebenswelt ist auch philosophisch nicht wirklich hinter-denkbar. Auch nicht dann, wenn wir als Philosophierende ›das Ganze‹ der Welt, ›die Welt überhaupt‹ oder sogar den ›Welt-Grund‹ (›warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?‹) in den Blick zu nehmen versuchen. – ›Die Welt‹ (wie immer wir uns drehen und wenden) ist phänomenologisch letztendlich ein von uns konstituierter, so oder so ›gestimmter‹ und ›reflektierter‹ Lebens-Raum. Die phänomenologische Reflexion fasst diesen gestimmten, reflektierten Lebens-Raum, unsere ›existentielle Ein-Räumung‹ systematisch zur ›Lebenswelt‹. Also bestimmt unser Dasein mitsamt unseren willkürlichen und unwillkürlichen Wahrnehmungen und Reflexionen zu einem wesentlich wirklichen ›Da-und-So-in-der-Weltsein‹. Das ist ausdrücklich kein spekulativ erfundener Begriff. Unsere Lebenswelt als Da-und-So-in-der-Welt-sein reflektiert sich (wortwörtlich) als unsere wirklich wesentlich-wirkliche Gestalt und Gestaltung. So ›reflektiert‹ ist diese unsere Lebenswelt phänomenologisch nicht mehr ein ›Etwas‹, das als ›Objekt-Bestand‹ unabhängig von unserem Da-und-So-in-der-Welt-sein wäre. Genauso wenig ist umgekehrt unser eigentliches (!) Dasein als ›reines Ich‹, als ›absolute Vernunft‹, losgelöst von unserer Lebenswelt zu denken. Phänomenologisch reflektieren wir hier immer uns selbst, so scheint es, als eine wesentlich ›einfache Wirklichkeit‹. – Das verändert auch den Begriff, das Selbstverständnis ›der Großstadt-Oberfläche‹. Diese wirkliche, existentielle Einfachheit unserer von uns so gefassten Lebenswelt ist aber nicht wirklich ›einfach‹ und ›schlicht‹ auf den philosophischen Begriff zu bringen. Zunächst offensichtlich so: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist als intentional gestaltete wesentliche Wirklichkeit ›so da für uns‹. Sie ist ›so-da‹ im Sinne einer für mich selbst41 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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verständlichen Vorgegebenheit. Wir werden hier im Vorbeigehen auf die Potenz der ›passiven Leistungen‹ unseres In-der-Welt-seins aufmerksam. Husserl beschreibt das als eine ›Gestaltung der Wirklichkeit‹ ohne (zunächst) willkürliches ›subjektives Zutun‹. Also ein Vorhanden-sein von etwas, das »immer bereits da ist«, »ohne Hinwendung des erfassenden Blickes, ohne alles Erwachen des Interesses (…) Diesen Bereich passiver Vorgegebenheit setzt alle Erkenntnisbetätigung, alle umfassende Zuwendung zu einem einzelnen Gegenstand voraus; (…) Wir können auch sagen, aller Erkenntnisbetätigung voran liegt als universaler Boden eine jeweilige Welt.« 17 – Das sind für uns (phänomenologisch) keine bloß erkenntnis- oder geltungstheoretischen Fragen. Das mag für Husserl so gewesen sein. Dass sie allerdings auch in diesen Kontext gehören, ist damit natürlich nicht geleugnet. Unsere existentielle Reflexion ›erfasst‹, ›erdenkt‹, ›reflektiert‹ sich selbst, was immer sie erfasst, erdenkt, reflektiert als ›unsere Möglichkeit‹ eben So-Da-inder-Welt-zu-sein, als wesentlich auch in diesem unserem wirklichen Mit- und Gegeneinander. So phänomenologisch als wesentlich gesetzt ist sie wirklich gerade durch die mögliche Vielfalt, diesen so oder so sich zeigenden Variationen, dem so ›offenen‹ Reflexionsraum. Mit einem Satz: – all das immer ›wahrgenommen‹ als eine ausdrücklich existentielle Gestaltung der Reflexionen unserer Welt- und Selbst-Wahrnehmung. – Das entfaltet nun eine merkwürdige philosophische Spannung. Eine ›Spannung‹ oder sagen wir: eine ›Krisis‹ ; ausdrücklich aber keinen ›Widerspruch‹. Unser uns phänomenologisches Selbst-Erfassen als Daund-So-in-der-Welt-sein, dieses ›sich-so-bestimmen‹, ist ein wirklichwesentliches Er-fahren unserer ›Welt‹ durch uns. 18 Diese ›alltägliche Er-fahrung‹ ist phänomenologisch ein selbstverständliches ›Welt-sein‹ und zugleich ein ebenso selbstverständliches ›Welt-haben‹. Die phänomenologische reflexive Reflexion dieser unserer, wortwörtlich, leibhaften Erfahrungen zeigen uns unser uns zuerst und zumeist selbstverständlich scheinendes ›Welt-haben‹ ›natürlich‹ mitsamt unseren EU. S. 24. ›Erfahrung‹ eingeführt als einen neuzeitlichen Bewegungsbegriff. Seit dem 18. Jahrhundert – so Reinhart Koselleck – werde unser gesamter Sprachhaushalt »auf einen notwendigen Wandel, auf Wechsel und auf planbare Veränderung hin (eingestimmt). Die zentralen Leitbegriffe lauten Entwicklung, Fortschritt, Geschichte selber, Reform, Krise, Evolution und eben Revolution.« (Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt/M 2006. S. 45.)

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›passiven Vorleistungen‹. – Auch unsere phänomenologische Reflexion unserer Erfahrung mit Blick auf ›das Wesen‹ bewegt sich nicht ›idealistisch‹ unwirklich wie ›Ort-los‹. Auch sie gestaltet sich, und zwar von Anfang an, mit dem so konstituierten Horizont unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie ist also von Anfang an notwendig auch unsere wirklich wesentliche Ortschaft des Philosophierens. – So entwerfen, bestimmen und entfalten sich nun als wesentlich die wirklichen Horizonte; also die Ortschaft unseres Daseins. Und selbstverständlich sind damit unlösbar verknüpft die existentiellen Bedingungen unserer überhaupt möglichen Welt-Erfahrungen. Einschließlich der Erfahrungen, die, wie auch immer, als ›Darüber-hinaus‹ (nicht nur metaphysisch oder theologisch) gesetzt und bestimmt werden. Auch dieses (begreifen wir es als) ›Überschießen‹ ist Erfahrung. – Schauen wir hier etwas genauer zu. Denken wir an unsere alltäglichen Erfahrungen mit den von uns so genannten ›Oberflächen der Großstadt‹. Reflektieren wir diese so oder so ›erfahrenen Oberflächen‹ ganz schlicht als eine phänomenologische Anzeige auf ein ›unterhalb‹ dieser Oberflächen. Das ist ganz offensichtlich und braucht keine ausgeprägte Phantasie. Sogar so offensichtlich, dass es uns zuerst und zumeist keiner Rede Wert erscheint. – Irgendein Unterhalb braucht es doch, um Oberflächen als wirkliche Oberflächen ›erfahrbar‹ zu machen. Eine schlichte Setzung. Sie wird wohl kaum Widerspruch hervorrufen. – Unser so gestalteter Augenschein, der zuerst und zumeist keine Fragen aufwirft, weitet sich phänomenologisch mit der reflexiven Reflexion existentiell. Also als nun ausdrücklich unsere Gestaltung, auch SelbstGestaltung, die selbst etwas für uns Bedeutsames zu verbergen scheint. – Fragen wir einfach nach, ohne unsere Möglichkeiten ›einfach zu schauen‹ um einer ›aufregenden‹ Spekulation willen zu vernachlässigen. Was also ›verbirgt‹ diese (ausdrücklich) unsere lebensweltliche Gestalt und Gestaltung der Oberfläche? Welche (wenn wir schon davon sprechen) ›Gründe‹ unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ tragen uns wirklich wesentlich? In diesem Zusammenhang drängt sich auch nach vorne: Welche für mich überhaupt möglichen Abgründe, Grundlosigkeiten bedrohen mein Da-und-So-in-der-Welt-sein? 19 Wie stehen diese unsere ›augenscheinlichen Oberflächen‹ phänomenologisch zu einem uns ›verborgenen Untergrund‹ ? Vielleicht ein ›irrealer Abgrund‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ ? Wie zeigt sich, dokumentiert sich 19

Ein ›Untergründiges‹, mit dem die Kunst, vor allem auch der Film gerne ›spielt‹.

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unser lebensweltlicher Untergrund auf der uns ›alltäglich scheinenden‹ Oberfläche? Schließlich das alles eigenartig fassend: welche Träume, Albträume, welche Projektionen, welche Identifikationen, was an (eigenartig genug) ›sichtbarem‹ Unsichtbaren gestalten, leisten und ordnen das ›Wahrnehmungsfeld‹, die ›Ästhetik‹, die ›Psychologie‹ der Großstadt-Oberfläche? 20 – Zuerst und zumeist sind wir selbstverständlich für uns ›so-da‹. Bewegen uns ohne diese beunruhigenden Fragen nach ›Gründen‹ und ›Abgründen‹ unserer Lebenswelt. Zumindest lassen wir sie, in der Regel, nur dann und wann, zumeist nur ›spielerisch-ästhetisch‹ zu. Unsere Lebenswelt ›Großstadt‹, so scheint es, zeigt, dokumentiert geradezu unseren ›festen Willen zur festen Oberfläche‹. ›Das Wirkliche‹, das ›Sichtbare‹ gilt uns in der Regel, also alltäglich-praktisch, als durchaus hinreichend begründet, hinreichend verlässlich, als, wie man sagt, ›objektiv-gestellt‹. Wir halten es also, kurz und knapp gesagt, so: Unsere ›brauchbare‹ Wahrheit ist für uns auf dieser ›Oberfläche mit ihrem Unterhalb‹ wirklich erfahrbar. – Aber gerade diese ›Oberfläche‹ ist phänomenologisch alles andere als selbstverständlich. Schon ein phänomenologisch etwas breiter ausgerichteter Blick führt es uns vor. – Die Moderne haben wir gesetzt, vorgestellt und verdichtet als unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie entfaltet sich vor unseren Augen und in uns (so können wir es in uns lesen) als eine Erfahrung einer stetigen Zunahme von ›Komplexität von fast allem‹. Das ist in der Tat, schauen wir nur phänomenologisch genau hin, ein eigenartig anmutendes, durch uns mitinszeniertes ›Oberflächen-Spiel‹. Ein sich fortschreitend ausdifferenzierender ZeitRaum-Fächer unserer lebensweltlichen Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten. Also beispielsweise all unsere uns überhaupt möglichen Bewegungen und Erfahrungen innerhalb der (nun als globales System gedachten) Großstadt. Das fordert zunächst ganz abstrakt eine psychologische Kompetenz: Ständig vorstellen, bauen, zurücklassen, vergessen, erinnern, neu ordnen usw. Aus dieser phänomenologischen Perspektive scheint das aber selbst wie ein buntes Panorama Da-zusein; eine ›ungeordnete Ordnung‹. – Oder denken wir an diese oder jene unterschiedlichen Materialien, Gestalten und Gestaltungen, ›Anmutungen‹, ›Vorlagen‹, mit denen wir umgehen, die uns herausfordern, uns mehr oder weniger heftig tangieren. Und – das alles scheint 20

Meisterhaft vorgestellt durch Edgar Allan Poe und Alfred Kubin.

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uns ganz selbstverständlich. Die wir so oder so uns uns zuordnen, uns uns ›einverleiben‹. Ineinander, nebeneinander, miteinander, gegeneinander. Also gesellschaftlich, sozial, kulturell, politisch, architektonisch, religiös, magisch usw. usf. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹, um auch darauf aufmerksam zu machen, verspannt, und auch das ganz augenscheinlich, das Gewesene mit dem Jetzt im Blick auf Kommendes usw. Das scheint uns (auf dem ersten Blick) wie eine unwillkürlich anmutende Vorstellung linearer Zeitlichkeit. – Entfernen wir uns aber noch nicht allzu sehr voneinander. Ob dem nun im Einzelnen zugestimmt wird oder nicht. Zumindest an einem aber können wir Augenscheinlich nicht mehr ›vorbeisehen‹. Das sogenannte ›Ganze der Großstadt‹ oder das Gesamt unseres lebensweltlichen Zeit-Raum-Fächers ist ganz ›offensichtlich‹ nicht mehr wirklich anschaulich zu fassen. – Das ist nun ein erhebliches Problem auch für unsere phänomenologische Arbeit, für unser Schauen. Es scheint uns wie ›unfassbar‹, gleich welche Perspektive wir auch einnehmen. – Im Blick beispielsweise das ›Panorama‹ dieser oder jener Großstadt. Oder unsere Suche nach dem Zentrum der Lebenswelt ›Großstadt‹. Weder Zentrum noch Peripherie scheinen uns noch als eine ›sichtbar bestimmbare Qualität‹. – Grundsätzlich ›erfüllbare Gesamt-Wahrnehmungen‹, wie sie uns aus der Vergangenheit überliefert werden, sind uns in der modernen Großstadt ein für alle Mal verstellt. Schon allein weil es für uns erkenntnistheoretisch relevante Orte ›außerhalb‹ (›meta‹) der Lebenswelt ›Großstadt‹ nicht mehr gibt. Nie liegt sie als ›unsere Ortschaft‹ ›vor‹ oder ›hinter‹ oder ›neben‹ uns. – Diese offenbar praktische und theoretische ›Unüberschaubarkeit‹, diese ›philosophische Unübersichtlichkeit‹ unserer Lebenswelt ›reflektiert‹ sich auch als eine ›Ausdünnung‹ dieser oder jener Traditionsbestände. ›Institutionen‹, ›Muster-Gedanken‹, die noch dem neuzeitlichen Menschen zumindest einigen existentiellen Halt gegeben haben. Vor allem dieser eigenartig ›unaufgeregte‹ ›stille‹ Verlust der tradierten gemeinsamen Daseins-Sicherheiten, ›abendländischen‹ Daseins-Werten, gestaltet, ob wir darauf aufmerken oder nicht, auch unser Selbst- und Welt-Wahrnehmen. 21 Wir erfahren an uns selbst, sehen wir auch hier nur genau hin, einen ›Rückzug‹ der traditionell Selbst der Weg nach ›Innen‹ bietet uns keine ›bergende Tiefe‹, keinen ›Flucht- und Schutzraum‹ mehr. Auch unsere (sogenannte) Innenwelt ist Gestaltung unseres Daund-So-in-der-Welt-seins.

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sinnstiftenden Institutionen. Diese ›Einrichtungen‹, die traditionell ›das Ganze des Mensch-seins‹ im Blick zu halten beanspruchen, also anthropologische Oberfläche und Tiefe des Seins zugleich ›verstehen‹ und ›deuten‹, zeigen sich selbst perturbiert, irritiert, selbst in sich haltlos. – Zumindest das: Eine lebendige, positive Verortung in die Lebenswelt ›Großstadt‹ will ihnen, so scheint es uns, nicht mehr wirklich gelingen. – Das alles ist, offensichtlich, schwer auf einen philosophischen Begriff zu bringen. – Schauen wir zunächst wiederum auf unser ›HinSchauen‹. Es ist die ›phänomenologische Reflexion der Reflexionen‹, die uns die Lebenswelt ›Großstadt‹ als für uns wesentlich-wirklich und wirklich wesentlich in den Blick gerückt hat. Dabei hält (und das auch weiterhin) unser phänomenologisches Wahrnehmen unsere Reflexion in unserer wirklichen Wirklichkeit. Wahrnehmen, Denken, Reflektieren sind also für uns die ›wesentlich konstitutiven Modi‹ unseres wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Diese unsere so gestiftete, so geleistete wesentliche Wirklichkeit ›reflektiert‹ sich phänomenologisch nun als ausdrücklich unsere existentielle Gestaltung. Ich bin da, (nur) lebensweltlich wesentlich-wirklich da, als Da-und-So-in-der-Welt. – Die von uns so konstituierte, d. i. so geschaute wirkliche Wirklichkeit darf selbstverständlich nicht ›positivistisch eng‹ gesetzt werden. Unser durch die Phänomenologie reflektiertes, existentielles Leisten ist kein einer positivistischen Forschung analoges Tun. Unsere ›Sache‹ ist unsere, als wesentlich-wirklich-existentiell konstituierte Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie ist es mit all den damit verflochtenen Daseins-Horizonten. Unsere also immer existentiell gerichtete Reflexion der Reflexionen bewegt sich wahrnehmend, reflektierend, schauend in diesen für uns ›wirklichen‹ Horizonten unseres Da-und-So-in-der-Weltseins. Alle wissenschaftlichen, theologischen, metaphysischen Vorschriften halten wir uns dabei entschieden vom Leib. Wir klammern sie ein, ohne sie allerdings ›durchzustreichen‹. Wir nehmen sie so ›in der Klammer‹ zur Kenntnis als unsere konstitutiven Gestaltungen unserer Lebenswelt Großstadt‹. – ›Schauen‹ ist keine Umschreibung für ›spekulieren‹. Wir schauen also wirklich wirklich! – Und schauen wirklich im Grunde immer uns selbst! Und so gesehen drängt sich uns selbstverständlich, ›natürlich‹ auch ein wirklich geschautes ›Darüber-hinaus‹ auf. Beschreiben wir es etwas ›paradox‹ als ›reflektierte‹ Wirklichkeiten einer ›existentiellen, immanenten Transzendenz‹. – Schauen wir beispielsweise noch einmal 46 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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konkret auf unser ›Wahrnehmen der Oberfläche‹ und des ›Untergrunds der Oberfläche‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie ›reflektieren‹ sich in- und miteinander. Lassen wir hier alle sich aufdrängenden ›psychoanalytischen Vorstellungen‹ (als hermeneutische Modelle) beiseite. – Fragen wir phänomenologisch schlicht: Wie ›zeigt‹ sich dieser ›Untergrund der Oberfläche‹ unserer Lebenswelt uns auf der ›Oberfläche‹ der Großstadt? Was zeigt sich hier uns von selbst? Was steigt auf aus diesen Lagen? Vor allem aber, was zeigt sich uns selbst von uns selbst? – Schon eine erste phänomenologische Übersicht lässt uns auf eine Differenz aufmerksam werden. Auf ›unsere Oberfläche‹, auf ›meinen Untergrund‹. Welche meiner ›untergründigen‹ Projektionen, Phantasien, Träume, Angstträume, Hoffnungen gestalten und ordnen die Oberfläche ›unserer‹ (uns doch gemeinsamen) Lebenswelt ›Großstadt‹ ? – Diese Wahrnehmungen, Phantasien werden, schon das ist bemerkenswert, in Kunst, Literatur, Film für uns veröffentlicht, in Szene gesetzt, werden ästhetisch allgemein annehmbar gemacht. Etwas eigenartig vertraut Unvertrautes! Sie sind selbst noch als reflektierte Reflexionen wahrnehmbare, wirksame Möglichkeiten ›unseres‹ (also doch gemeinsamen!) Bewusstseins. – Das sind ausdrücklich keine tiefenpsychologischen Konstruktionen. All das ist phänomenologisch einsichtig, ist Gestalt und Gestaltung der Reflexion unseres Da-und-So-in-der-Weltseins. – Dein Entsetzen, beispielsweise bei dieser oder jener ›Vorführung‹, bei Deinem Blick auf dieses oder jenes ›Bild‹, zeigt mir, dass Du weißt, von was ich spreche. 22 – Oder schauen wir bei dieser Gelegenheit wirklich hin auf das ›wirkliche Unterhalb‹ einer Großstadt. Es zeigt sich uns und wir sehen es eben gelegentlich als Gewirr von Röhren, Leitungen, Schächten, Kanälen, Durchbrüchen u. ä. Auch damit sind nun, eigenartig genug, unsere ›untergründigen‹ Selbst-Verständnisse ›verschmolzen‹. Also nicht nur als bloße Anlässe für diese oder jene Konnotationen. Das sind uns ›unwillkürlich tangierende‹ wie selbstverständlich in unseren Alltag ›eingeflochtene‹ Phrasen, Leermeinungen, Immer wieder bei Raymond Chandler. Beispielsweise: »Da draußen in der Nacht der tausend Verbrechen sterben Menschen, werden verstümmelt, von fliegenden Glas zerschnitten, vom Steuerrad zerquetscht oder von schweren Reifen. Menschen werden zusammengeschlagen, ausgeraubt, gewürgt, vergewaltigt und ermordet. Menschen waren hungrig, krank, gelangweilt, verzweifelt vor Einsamkeit oder Reue und Angst, waren zornig, grausam, fiebernd erregt, von Schluchzen geschüttelt. Eine Stadt, nicht schlimmer als andere, eine Stadt, reicher und kraftvoll und stolz, eine Stadt verloren und verlassen und voller Leere.« (Der lange Abschied. Zürich 1975. S. 276.)

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B Schauen Ordnen Konstituieren

Phantasien, Bilder und Geschichten. Vorlagen, um unsere untergründigen Gestimmtheiten uns selbst vorzustellen. Zumindest so! All diese wirklich bewegenden existentiellen Verweise (›ich weiß ganz genau von was Du sprichst‹ !) auf etwas ›Untergründiges‹, ›Abgründiges‹, ›Unheimliches‹. Ausdrücklich ›etwas‹, nicht ›in‹ mir, auch nicht außerhalb ›meiner‹, nicht ›oben‹, nicht ›unten‹. Sondern uns existentiell als Da-und-So-in-der-Welt-sein zugehörend. – Hier also ›liegen‹ (befinden sich) unsere uns wirklich ›bewegenden‹ lebensweltlichen Unterwelten. 23 – Das sind natürlich keine ›theologisch‹ gedachten Höllen. Keine mythisch-metaphysisch angereicherten Hinter- und Unterwelten. Es sind schlicht je meine existentiellen Selbst-Erfahrungen, der eben wirklich wesentlichen Unter-Gründigkeit unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. – Oder phänomenologisch als von uns ›eingelesene Wahrnehmungen‹ unserer Großstadt-Existenz, die ihre ›Oberfläche‹, unwillkürlich, untergründig auflädt und auch ›ästhetisch‹ bestimmt. 24 –

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Durchaus zu verbildlichen als ›Röhren‹, ›Schächte‹, ›Höhlen‹, ›Durchbrüche‹ u. ä. Das ist ein ›es für uns annehmbar Machen‹ unserer existentiellen Abgründe.

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C Wirkliches In-der-Welt-sein

I.

Lebenswelt ›Großstadt‹ als Da-sein und So-sein

Bleiben wir bei dem für uns Augenscheinlichen. – Offensichtlich, und das nehmen wir im Übrigen als Bestätigung für unser Arbeiten, und auch dafür brauchen wir keine soziologischen oder psychologischen Lehrbücher, ist die moderne Großstadt (auch noch auf den zweiten Blick) alles andere als ›homogen geordnet‹. – Eher schon so: Die ›Großstadt‹ ist (oder scheint) verwirrend ›vielgestaltig‹. Eine gebräuchliche Metapher spricht von einem ›Häusermeer‹, passend dazu ein ›Gewoge von Menschen‹. Dieser ›Unübersichtlichkeit‹, wo immer wir hinsehen, hinhören, können wir uns nicht entziehen. Das entwirft, gestaltet auch, und das wiederum ganz unwillkürlich, unser lebensweltliches Da-und-So-in-der-Welt-sein. 1 Reflektieren wir das so. Diese irritierende Vielgestaltigkeit unseres Soseins, in das sich das großstädtische Dasein, gewollt oder auch nicht, auslegt, einschreibt, ›sich wie geworfen vorfindet‹, drängt uns phänomenologisch nicht zuletzt zur Frage nach unserer ›eigentlichen‹ Identität. – Etwa so: ›In welchem Zusammenhang, in welchen lebensweltlichen Kontexten, mit welchem Verhalten, bin ich wirklich wirklich‹ ? Also, wirklich wesentlich ich selbst? Die Reflexion der Lebenswelt ›Großstadt‹, so scheint es uns phänomenologisch, entwirft nun mit diesem Blick auf unser So-Da-sein unseres Existierens auch unser Vgl. z. B. (aus einer anderen Perspektive) Eike Gebhardt. »Insofern die Geschichte der Neuzeit die Geschichte der Urbanisierung ist, ist psychologische und soziale Fragmentierung zwar auch ein Stadtphänomen, grundsätzlich aber wohl eher ein Epiphänomen der Moderne (…). Jedenfalls diagnostizieren seit Jahrzehnten (lange vor den moralischen Dekonstruktionsthesen) Sozialwissenschaftler das Ableben der idealtypisch stimmigen, gefestigten Persönlichkeit. Sie sei unfunktional geworden, horizontale Mobilität sei angesagt, rascher Identitätswandel auf schnell wechselnden Anforderungen.« (Die Stadt als moralische Anstalt. In: Die Unwirklichkeit der Städte. Reinbek bei Hamburg 1988. S. 288.)

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C Wirkliches In-der-Welt-sein

viel beredetes, großstädtisches Zugleich von ›Sein und Schein‹. 2 – Also Gestalt oder Typus, Rolle oder Eigen-sein, Form und Muster; Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit, Image, Charakter, wie immer auch diese Zuordnungen lauten mögen. – Schon diese verwirrenden Einsichten, Perspektiven allein, sind philosophisch, anthropologisch sehr folgenreich. – Es sind, und das ist grundlegend, wirkliche Einsichten, phänomenologische Wahrnehmungen und ganz ausdrücklich keine spekulativ unterlegten Konstruktionen, Erfindungen. Es sind phänomenologische Befunde. Schauen wir nur einfach weiter zu! – ›Die Großstadt‹, ganz zweifellos also eine fortwährende ›Sensation für die Sinne‹. 3 Für uns ›Moderne‹ zuerst und zumeist eine eigenartig selbstverständliche Gestaltung. Aufmerksamkeit erhält von uns nur das ›ganz Außergewöhnliche‹, das (warum auch immer) als ›Sensation‹ empfundene. 4 – Wie immer wir diesen Befund deuten mögen. Augenscheinlich gilt zumindest das Folgende für unseren Alltag: Der ›flüchtige Kontakt‹, die ›schnelle Nummer‹, die ›zusammenhanglosen Anekdoten‹. Dieses ›Spiel (mit) der (unserer) Welt‹ ordnet auch unser Selbstverständnis. 5 Bei Raymond Chandler so: »Eine langbeinige blonde Frau, Typus Showgirl, lag in einem der Lehnstühle hingelümmelt. (…). Aus zehn Meter Entfernung sah sie wie einsame Spitzenklasse aus. Aus drei Meter Entfernung sah sie wie etwas aus, was nur aus zehn Meter Entfernung gesehen werden sollte.« (Das hohe Fenster. Zürich 1975. S. 46.) 3 Z. B. New York, – ruhelos »unentwegt Aufbau und Zerstörung. Gleichgültig sieht sie zu, wie Mom-and-Pop-Stores, Five-an-Ten-Läden, der Schuster an der Ecke über Nacht verschwunden, von David’s Cookies, Benettons, Forbidden Planets zu Star Magie werden. Als hätte es ein Gestern nie gegeben, fegt sie liebliche Häuserreihen hinweg, ersetzt sie durch glitzernde Türme, die sie als Aushängeschilder benutzt, verwandelt Slums in Domizile der Reichen.« (Carin Drechsler-Marx. Ich liebe New York. Dortmund 1988. S. 7.) 4 »Tja, sagt Hiney (…) ich habe einfach keine Lust, meine Zeit an diese Niggermorde zu verschwenden. Springt nichts dabei raus. Keine Photos. Kein Artikel. Nicht mal drei Zeilen in der Steckbrief-Rubrik. Verflixt, da waren mal fünf Nigger – wohlgemerkt gleich fünf –, die hatten sich gegenseitig die Kutteln zerschnitzelt, drüben an der 84. East. Alle tot. Kaltes Fleisch. Und die Pressebanditen wollten nicht einmal hinkommen.« (Raymond Chandler. Cherchez la femme. In: Mord im Regen. Zürich 1976. S. 167.) 5 Reflektiert vorgeführt durch die Kunst. Beispielsweise Monet. Er habe sich, so Jutta Held und Norbert Schneider, vor allem für die »flüchtigen, undefinierten Geschlechterbeziehungen« interessiert, die sich vor dem Hintergrund der modernen Freizeit und Stadtkultur ergeben. So habe er das »konventionelle Bild von Gemeinsamkeit« modifiziert und »stattdessen die Zufälligkeit und geringe soziale Verankerung der Begegnung« akzentuiert. (Sozialgeschichte der Malerei vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Köln 19882. S. 375.) 2

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I. Lebenswelt ›Großstadt‹ als Da-sein und So-sein

Unser ›wie-‹, ›wann-‹, ›wo-‹, ›womit-Verhalten‹. – Das sind unsere ›Spiele‹ in unterschiedlichen ›Räumen‹. Das erinnert uns daran, dass es phänomenologisch nicht den einen ›Großstadt-Raum‹ gibt. Sondern da sind für uns, so eingestellt, eine Vielzahl unterschiedlich wahrnehmbarer, erlebbarer, lebbarer, also ›wirklich wirklicher GroßstadtRäume‹. Mit einer Ordnung, die sich erst auf den zweiten Blick zeigt. Etwa zunächst: nebeneinander, miteinander verflochten, sich überlagernd, aufeinander hinweisend, konkurrierend usw. Das sind ausdrücklich nicht bloße zeichenhafte, ästhetisch, literarisch erfundene, fiktive Räume. Sondern phänomenologisch konkrete, wirklich stattfindende Räumlichkeiten unseres Da-und-So-seins. Sie sind ›wirksam‹ als ›Einräumungen unserer Existenz‹. Etwas lapidar: Wir ›räumen ein‹ ; und wir werden ›eingeräumt‹ ; – und das unentwegt! Diese Räume als unsere Einräumungen bestimmen uns also auch lebensweltlich-existentiell als ›So-Da‹. – Sie sind für uns beispielsweise diskret oder unübersichtlich, schrill, bedrohlich, aufregend oder bedrückend, faszinierend, anregend. Diese Räume sind ›da‹ als ›Tun‹ und als ›Erleiden‹, immer aber als Möglichkeiten unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Also hintergründig als so oder so gestimmte, unterlegte Erfahrung meines Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Kurz und knapp: Diese, nennen wir es unbeholfen genug, ›Einräumungen‹ sind phänomenologisch die ›Ausstellungs-Räume unseres Daseins‹. Also, in einem genauen Wortsinne, die Vorführungen, Entfaltungen unseres wesentlich-wirklichen Daund-So-in-der-Welt-seins. Darüber hinaus zu fragen, ›wer oder was bin ich wirklich wirklich‹, gibt nun phänomenologisch wenig Sinn! Auch die Trennung von ›meinem Außen‹ oder ›meinem mir zugehörigen Innen‹ lassen wir hier auf sich beruhen. Also die sich aufdrängende Frage nach der ›eigentlichen Identität‹ (›meine Seele‹ ; ›Ich als transzendentales Bewusstsein‹ u. ä.) unseres Da-und-So-seins klammern wir ein. Stattdessen einfacher, phänomenologisch schlichter: ›Wer‹, ›was‹, ›wann‹, ›in welchem Zusammenhang‹ werde ich mir als ›So-Da‹ mit meiner Lebenswelt auffällig? – Die offensichtlichen ›Großstadt-Räume‹ als unsere lebensweltlichen Räumlichkeiten, sind ›selbstverständliche‹ Formungen, ›EinRäumungen‹, ›Gestaltungen unserer Bewegungen‹ ; kurz: wirkliche Möglichkeiten unseres (eben) ›vielfältigen‹ Daseins. – Dieser Fächer: ›Da-und-So-in-der-Welt‹ ist zuerst und zumeist als Gestalt und Gestaltung fraglos da. Stellt die Grundlage auch für jede medizinische und psychologische Anthropologie. So ist beispielsweise unsere lebenswelt51 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

C Wirkliches In-der-Welt-sein

liche Vielfalt eingelagert, selbst noch in unsere ›gedankenlosen‹ Bewegungsmuster für unterschiedliche ›Räume‹. 6 Man nennt es wohl ›unwillkürliches Raumgefühl haben‹. Beispielsweise: Straße, Trottoir, Allee, Kirchenraum, Marktplatz, Caféhaus, Passage usw. Auch die als ›sehr privat‹ gedachten Räume sind noch, sehen wir dabei nur genau auf uns hin, Ein-Räumungen unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. – Am eindringlichsten werden diese ›konstitutiven Großstadt-Räume‹ durch die Kunst ›reflektiert‹. Also, ›literarisch vorgestellt‹, ›ins Bild gesetzt‹, ›polemisch pointiert‹. 7 – Denken wir (wieder nur beispielsweise) an Futurismus oder Expressionismus. – Schon ein bloßes ›sich auf oder entlang der Straße bewegen‹, sie etwa ›überqueren‹ (wollen), ist ›stimmig gerichtet‹ auf die Vorstellung der Straße als ein bestimmter Daseins-Raum, ist existentielle Ein-Räumung, ist ein ›So-sein‹ für unser ›Da-sein‹. Alle Räumlichkeiten sind als unsere Ein-Räumungen ›wirklich‹ existentiell auch leibhaft eingelagert. Eingelagert als unterschiedliche Muster ›So-sein-zu-können‹, ›sein-zu-müssen‹ in unser Lebenswelt. Wahrhaftig, – das sind unsere ›inneren Groß-Stadtlandschaften‹. 8 Ja das und so sind unsere für uns ›notwendigen Welt-Muster‹. Herausforderung für theoretische und praktische Philosophie. – Knüpfen wir an uns schon bekannte Großstadt-Phänomene (›Perspektiven‹) an. Beispielsweise: Ordnung, Unordnung, Oberfläche, Untergrund, Horizont und Grenze. Das sind unserer Lebenswelt schauend abgenommene ›Modi‹. Phänomenologisch sind es zugleich wirkliche und mögliche Gestaltungen unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Also kurz, es sind die ›existentiellen Vorlagen‹ für unser In-der-WeltUnübertroffen dicht, wie so oft, bei Raymond Chandler. »Ich knüpfte das Band auf und sah den Stoß Hochglanzphotos durch, die das Päckchen enthielt. Leute in professioneller Pose. Nicht alle waren Frauen. Die Männer hatten Flachgesichter und trugen Rennbahnkleidung oder Make-up. Revuegirls und Komiker der hinterletzten Schmiere. (…) ihre Gesichter waren fadenscheinig schäbig wie der Rock eines Buchhalters.« (Mord im Regen. Zürich 1976. S. 173 f.). »Ein gutgebautes Gesicht. Irgendetwas fehlte diesem Gesicht. Früher hätte man dieses Etwas vielleicht Kinderstube genannt, aber jetzt wusste ich kein Wort dafür. Das Gesicht sah zu erfahren und zu beherrscht für sein Alter aus. Zu viele Angriffe waren darauf gemacht worden, und es war, um sie abzufangen, etwas zu unverbindlich geworden.« (Das hohe Fenster. Zürich 1975) 7 Beispielsweise und wahllos: Die ›Dachkammer des Künstlers‹ ; das ›Atelier‹ ; im ›Caféhaus‹, an der Kneipentheke, ›Salon eines Bordells‹ ; der ›Hinterhof‹ usw. 8 Beispielsweise als ›Verhaltens-Räume‹ ; ›Gestaltungs-Räume‹ ; ›Entfaltungs-Räume‹ ; oder: Räume für ›Einsichten‹, ›Ängste‹ ; ›Hoffnungen‹, auch: ›Sport‹, ›Entspannung‹ usw. 6

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I. Lebenswelt ›Großstadt‹ als Da-sein und So-sein

sein. Gewährleistungen für unser uns selbstverständliches, alltägliches Verstehen und Selbst-Verstehen! Die Welt als unsere ›Lebenswelt‹ steht mir, mit diesen unseren ›intentionalen Gestaltungen‹ zuerst und zumeist nicht mehr überwältigend fremd (›draußen‹) gegenüber. Sie mag ›ungeordnet‹, ›unübersichtlich‹ scheinen. Sie bleibt trotz allem als Gestaltung unserer existentiellen ›Reflexion der Reflexionen‹ phänomenologisch fassbar. – Diese Grund-Ansicht verlieren wir nun nicht mehr aus den Augen. – Die phänomenologische reflexive Reflexion erfährt wortwörtlich die Lebenswelt ›Großstadt‹. Eine, wie auch immer uns durch uns vorgestellte, ›wirkliche Erfahrung‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ als unsere wesentliche Wirklichkeit. Diese ›wesentliche‹ Wirklichkeit ist eine phänomenologisch konstituierte ›Wirklichkeit‹. Sie ist wesentlich wirklich als unsere Lebenswelt. Und ist so-da vor jeder idealistischen oder positivistischen Trennung in ›Subjekt‹ – ›Objekt‹ ; ›Innen‹ – ›Außen‹ ; oder, ›Oberfläche‹ – ›Untergrund‹ u. ä. Schon allein die Einsicht, dass unsere Lebenswelt sich ›mir‹ so zeigt, ›mir‹ beispielsweise, faktisch so zuhanden ist, ›mich‹ auf diese oder jene Weise, durch dieses oder jenes ›So-Da‹ bedrängt, berührt, von ›mir‹, ich mag wollen oder nicht, nicht mehr wirklich zurückgelassen, ›gestrichen‹, werden kann 9 – all das gestaltet eine dichte ›anthropologisch herausfordernde Fuge‹. Ein existentieller Gedanke: Wir-so-da, der sich den neuzeitlichen erkenntnistheoretischen und transzendentalen Vorstellungen theoretisch und praktisch entzieht. Und daher auch mit ihren philosophischen Mitteln, Möglichkeiten, Einstellungen nicht wirklich praktisch entfaltet werden kann. – Sehen wir hier noch etwas genauer hin und zu. – Unsere existentiell-phänomenologische Forschung ist, das kann nun nicht anders mehr sein, korrelativ gerichtet. Nicht ›Welt-Objekte‹, also Dinge, Stücke oder, wie es gerne genannt wird, ›Seiendes‹, sind ›allein‹ in unserem phänomenologischen Blick. Nicht einmal das literarisch und wissenschaftlich so viel verhandelte, historische Faktum ›Großstadt‹ interessiert uns wirklich (also existentiell). Das alles umreißt durchaus bedeutsame ›Forschungs-Objekte‹, denen sich die Forschenden, so will es ihr ›Beruf‹, zuwenden, von denen sie sich selbstverständlich aber auch wieder abwenden können. Tatsächlich, es sind, es bleiben, so oder Wenn man (z. B.) von einem Ereignis, einer Sachlage, einem Zustand sagt: ›Das verfolgt mich bis in meine Träume hinein‹ !

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C Wirkliches In-der-Welt-sein

so, (nennen wir es) ›hergestellte Forschungs-Objekte‹ für diese oder jene ›Wissenschaft‹. – Wir sind phänomenologisch wortwörtlich ›radikal‹ anders eingestellt. Was immer wir tun, wir schauen hin auf unser wesentliches Dasein als wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-sein. Das ist ein wesentlich-wirkliches Selbst-Verständnis. Einschließlich der unterschiedlichen Fassungen eines Sich-selbst-verstehens als intentionale Gestaltung wesentlich wirklichen Welt- und Selbstverständnisses. Also eine existentielle Reflexion der Reflexionen des leibhaften Daseins. Eine reflexive Fassung unseres Da-Seins, das hier und jetzt, ob es darauf aufmerkt oder nicht, mit seinem Fühlen, Denken, Werten, Reflektieren sich (unwillkürlich) als ›Großstadt-Existenz‹ bewegt und organisiert. – Wenden wir es also, wie wir es wollen. Wissenschaftlich, ästhetisch, theologisch oder philosophisch! Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist und bleibt in allen möglichen existentiellen Lagen unser wesentlich wirklicher Daseins-Horizont. Eben nicht nur, unterstreichen wir es, eingesehen als ›sozialer, gesellschaftlicher Außenraum‹. Sondern als existentielle Form und Formung aller uns überhaupt möglichen ›Lebensspiele‹ hier und jetzt. – Schauen wir nur immer genau hin auf uns selbst. Wir sehen es nämlich ›in‹ uns selbst (es ›reflektiert‹) und es drängt sich uns (wie) von ›außen‹ auf. Unsere wesentlich wirkliche Lebenswelt ist ›die Großstadt‹. Nicht nur als diese bestimmte soziale, gesellschaftliche, politische Form eines Miteinander-Leben (müssen). Als ein da und dort dicht bebauter Raum mit ›Menschen-Massen‹. Sondern als wesentliches Fundament und wirklicher Horizont unserer existentiellen Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Bestimmung. Ausdrücklich: Praktisch und theoretisch! Also auch als Kunst, als Wissenschaft, als so oder so gelebte Religion (als so gelebte Konfession), nicht zuletzt und sogar auch als ›Philosophie‹. Also folgt daraus: unsere phänomenologischen Großstadt-Reflexionen sind nicht gedacht als eine irgendwie abstrakt vorgestellte oder erfundene Form für eine bloß theoretische Anthropologie. – Unsere Wahrnehmung der wirklichen Wahrnehmungen, also unser ›Schauen auf uns selbst‹, bindet uns. Daran halten wir uns. Unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ ist als unsere wesentlich wirkliche Gestaltung von uns erleb-, ja wortwörtlich erfahrbar. Und so phänomenologisch existentiell entfaltet drängt sich ihr wirkliches Wesen scheinbar wie von selbst und aus sich selbst uns entgegen. – Das darf nun nicht als ›intuitionistisch‹ abgetan werden. Das Wesen der Lebenswelt ›Groß54 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

I. Lebenswelt ›Großstadt‹ als Da-sein und So-sein

stadt‹ wirklich phänomenologisch zu fassen, einzusehen, zu verstehen, philosophisch vorzustellen, braucht eine Vielzahl unterschiedlicher, methodisch gesicherter ›Beschreibungsreihen‹. – Unsere ›Arbeits-Instrumente‹ sind auch weiterhin: ›Schauen schauen‹ und ›Reflexionen reflektieren‹. Das sind theoretische und praktische nachdenkbare, nachlebbare philosophische Handlungsvollzüge. Ganz konkret ist es die aktive Entfaltung eines ›dichten, komplexen Materials‹ in Form wirklicher, wesentlich gerichteter Deskriptionen. Kurz, ein unentwegtes ›Nachzeichnen‹ und ›Nachverstehen‹ der existentiellen Intentionalität. Das ist, um hier nicht auf eine falsche Spur (des Positivismus) zu führen, ausdrücklich eine aktive Gestaltung unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit als wesentliche Wirklichkeit. Kurz, das ist in jeder Lage eine existentielle Leistung der phänomenologischen Konstitution. All das gesammelt in unseren zwei phänomenologischen Leit-Gestaltungen (eigentlich sind es ›Überschriften‹): ›Schauen‹ und ›Reflexion‹. – Wir werden sehen, dass gerade diese Formen (ganz selbstverständlich) auch die methodische Selbstfassung, also die existentielle Selbstbestimmung der Phänomenologie als anthropologische GrundlagenForschung, ermöglichen. – Vor diesem Hintergrund lässt sich aber eines nun schon ohne weiteres vorstellen. Das dürfen wir hier nicht mehr übergehen. ›Das Großstädtische‹ als ›moderne‹ gesellschaftliche Lebensform und soziale Lebenswelt zeigt sich ›natürlich‹ schon vor aller phänomenologischen Reflexion. Und ›zeigt sich‹ nicht zuletzt durch wissenschaftliche Vorstellungen. – Das ist zwar ganz offensichtlich. Aber erst die phänomenologische Reflexion der ›Intentionalität‹, also unsere geschaute Fassung ›entlang‹ unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins, führt uns die Lebenswelt ›Großstadt‹ als unsere komplexe, notwendig intra- und interpersonale Gestaltung vor Augen. Das ist die phänomenologisch reflexive Reflexion eines nun wortwörtlich existentiellen Selbst-Verständnisses. Dafür braucht es die Leistung auch unserer Akte einer (nennen wir es) methodischen Einfühlung in die Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Wir finden es also bestätigt. Phänomenologische Forschung ist, wo immer wir ansetzen, notwendig angelegt als ›Korrelationsforschung‹. Das ist selbst eine existentielle Bestimmung, eine konstitutive Selbstfassung, die das weitere Arbeiten methodisch und sachlich ausrichtet. Wir entwerfen ›Großstadt‹ von Anfang an nicht als bloß soziologisch bedeutsame Formation, nicht als nur historische oder architektonische 55 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

C Wirkliches In-der-Welt-sein

Vorlage. (Das alles ist sie natürlich auch!) Sondern, gleich was immer wir uns im Folgenden noch vor Augen führen, wir denken uns ›Großstadt‹ als wesentliche Gestalt und wirkliche Gestaltung unserer ›existentiellen Intentionalität‹. Phänomenologisch durch uns ›gespiegelt‹ als reflexive Reflexion. Das benennt die Voraussetzung, den EinsatzRaum, für jede ›Großstadt-Forschung‹. – Nun grenzt sich, beinahe wie nebenbei, auch unser phänomenologischer ›Wesensbegriff‹ weiter ein. Vor allem (ich kann gar nicht oft genug daran erinnern) verweigert er sich ausdrücklich jeder neuzeitlichen ›idealistischen‹ Vorstellung. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ kann phänomenologisch nicht wirklich wesentlich eingesehen werden als beispielsweise invariante Gestaltung eines ›zeitlosen Gedankens‹, einer ›unbedingten Idee‹ o. ä. – Uns Phänomenologen bleibt nur eines: Wirklich Schauen und existentiell Reflektieren! Schauen wir immer wieder einfach hin und uns zu. Wenn auch möglicherweise unaufhebbar irritiert und perturbiert! Vor allem ohne uns durch diese oder jene, in allem Ernst, sehr beeindruckenden philosophischen Ideen, Gedanken und Ziele den Blick verstellen zu lassen. Zu Grunde legen wir ausschließlich unsere Wahrnehmungen, Einsichten und Vorstellungen unserer ›Wirklichkeit‹. Sie stellen die phänomenologischen Leitfäden der Reflexion der Reflexionen. – Denken wir also beispielsweise wahllos und ungeordnet an: Straßen, Wege, Übergänge, Gebäude, Plätze, Kaufhäuser, Kirchen; oder Geräusche, Lärm, Stimmengewirr, Musik, Schreien; oder, und auch das gehört hierher, das Aufblitzen von Gewalt, Erotik, Einsamkeit. Also kurz, das ›Wahrnehmen‹, ›Registrieren‹, ›Begreifen‹, ›Benennen‹, (gleich wie) von ›Alltäglichem‹ oder von Unoder ›Außerordentlichem‹. Wir sehen, ordnen zu und meinen in der Regel zu verstehen! Oder wir ›sehen‹ scheinbar unmittelbar KunstWerke, religiöses Handeln, Verhalten, Krank-sein, Mode, Schönheit, Elend. – Das ist, wie auch immer, in unserem Blick. Wir nehmen es doch selbst wahr! Möglichweise ›nur‹ im Vorbeigehen. Willkürlich (›das lass ich mir nicht entgehen‹) und unwillkürlich (›das ist mir wirklich gar nicht aufgefallen‹)! Es mag uns ›bewusst‹ angehen oder auch nicht! Darauf werden wir noch ausführlicher zurückkommen. – Wie auch immer. Wir lesen die Lebenswelt ›Großstadt‹ also als existentielle Anzeige. Als wesentlich wirkliche Vorstellung, Gestalt und Gestaltung unseres Da- und Soseins. Es mag uns vorgeführt werden was auch immer, von wem auch immer. Alles spricht in ihr wesentlich von uns selbst! – Wenn man so will, ist schon das ›historische 56 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

II. Leibhafte Anthropologie

Werden der Großstadt‹ eine systematische Entfaltung unseres ›anthropologischen Fächers‹. Das scheint uns so trivial; und wird doch (vermutlich gerade deswegen) philosophisch vernachlässigt. Mein Daund Sosein ist zweifellos, so und so und so, intentional unlösbar verflochten, verknotet, verschmolzen mit dieser unserer Lebenswelt. – Es gibt keine philosophische, methodische Alternative für den Bau einer wirklich fundamentalen Anthropologie. Wir fragen phänomenologisch nach unserem von uns als wesentlich gesetzten Dasein. Wir-SoDa in dieser uns gemeinsamen Lebenswelt ›Großstadt‹. Dafür befragen wir unser wirkliches Da-und-So-in-dieser-Welt-sein. Geschaut als ein unmittelbar und mittelbar sich gestaltendes Dasein. Aber immer als ›Etwas‹, das uns selbst als ›selbst vor Augen liegt‹. – In unserem Blick, sowohl die sogenannten ›wirklichen‹ Erscheinungen, Formen, Gestaltungen, also (sagen wir) ›die Großstadt‹, ›das großstädtische Leben‹, das Treiben in der Großstadt; genauso aber auch die uns, so oder so, angetragenen Möglichkeiten, Ideen, Bilder, Fragen, Deutungen, Reflexionen. – Alles gibt uns phänomenologisch reflektiert Auskunft über unser wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-sein! – Wir entkommen uns in keinem Fall. Das ist ausdrücklich eine phänomenologische Auskunft. Also von uns nicht soziologisch, psychologisch, historisch ›objektiv‹ gelesen. 10 – Sondern eben mit allen Konsequenzen phänomenologisch-existentiell konstituiert!

II.

Leibhafte Anthropologie

Diese existentielle Form der reflexiven Reflexion braucht keine ›intellektuellen Verrenkungen‹, keine ›psychologische Labors‹, keine transzendentale Fassung durch eine ›reine Vernunft‹. – Wir sind mit unserer wirklich radikalen Reflexion vor allem praktisch anthropologisch gefordert. Wortwörtlich also eine ›systematische Reflexion unseres hier Auch nicht ›neurobiologisch‹. Aber eine durchaus auch für uns bemerkenswerte Perspektive bei António R. Damásio. »Die physiologischen Operationen, die wir Geist nennen, entstammen der Gesamtheit der strukturellen und funktionellen Organisation und nicht dem Gehirn allein: Geistige Phänomene lassen sich nur dann ganz verstehen, wenn wir die Wechselwirkung des Organismus mit seiner Umwelt einbeziehen. Dass die Umwelt zum Teil erst aus der Aktivität des Organismus entsteht, unterstreicht nur, wie komplex die Wechselwirkungen sind, die wir berücksichtigen müssen.« (Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München 19983. S. 18.)

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C Wirkliches In-der-Welt-sein

und jetzt‹ ! Gefordert, – das eigene, zuerst und zumeist selbstverständlich gelebte Da-und-So-Sein endlich phänomenologisch in seine wesentliche Wirklichkeit einzustellen. – Das ist für uns eine phänomenologische Selbstverständlichkeit. Also: Eine existentielle Reflexion der (unserer) Reflexionen. Durchaus eine ›schlichte‹ Arbeitsform der Phänomenologie. ›Schlicht‹ aber mit philosophisch beeindruckenden Konsequenzen. Sowohl theoretischen als auch praktischen. – Überlegen wir so: ›Ich selbst‹ in und mit meiner Welt lasse mich wirklich auf mich selbst in und mit meiner Welt endlich, leibhaft ein! Das ist das eben auch ›praktische‹ Fundament jedes immer auch lebensweltlich ›gerichteten‹ Selbst-seins, Selbst-verständnisses. – Diese Reflexion der Lebenswelt ›Großstadt‹ verändert also auch ›praktisch‹ unsere Selbstwahrnehmung. Und selbstverständlich umgekehrt. – Das kann nun, denken wir hier vor allem an die ›Vorstellung der Intentionalität‹, gar nicht anders sein. Jede existentielle Selbst-Fassung ›zeigt sich‹ phänomenologisch mit ihren wirklichen Weltverhältnissen. Das darf nicht als eine bloß ›schwache Zusammenstellung‹ eingeführt werden. Nur eine Möglichkeit unter anderen denkbaren Möglichkeiten. Wir sind intentional nicht (unter keinen Umständen!) nur irgendwie auch auf ›Welt-habe‹ hin ausgerichtet. Sondern sind wirklich wesentlich, ganz und gar in unsere-Welt-da eingespannt und, so und nicht anders, als existentiell-leibhaft gestaltet. Unser Dasein ist notwendig (nie anders als) Da-und-So-in-der-Welt-sein. Das ist wirklich die wesentliche, die einzig möglich wirkliche Gestaltung einer ›Identität‹ : eine ›leibhafte Existenzialität Da-und-So-in-der-Welt‹. Das ist keine Substanz! Das ist phänomenologisch unsere Erfahrung als ›reflexives Selbst‹ ! Kurz und knapp. Es gibt kein wirkliches und wesentliches Mensch-sein ohne wirkliche und wesentliche Welt-habe. Jeder Zweifel daran wird durch sich selbst sinnlos! – ›Wir sind‹ wesentlich intentional eingestellt! Sind leibhaft wirklich so-da! Unlösbar verknotet mit unserer wirklich wirklichen Welt-habe – ›unserer Lebenswelt‹ ! Und diese unsere ›Lebenswelt Großstadt‹ spiegelt, ›reflektiert‹ unser Daund-So-sein. – Das ist die phänomenologische Vorlage für jede weiterführende Reflexion der Lebenswelt ›Großstadt‹. Da bleibt, das nur als eine Erinnerung im Vorbeigehen, kein Raum mehr für einen ›idealistischen Hinter-Gedanken‹. – Unser wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-sein fundiert sich ›deskriptiv‹ durch eine phänomenologische Anthropologie. Mensch-sein heißt ›leibhaft-wirklich-existieren‹. Also sinnen58 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

II. Leibhafte Anthropologie

haft-sinnlich, räumlich und zeitlich, kurz, lebensweltlich-wirklich organsiert. Ganz und gar! – Auch die ›philosophische Vernunft der Neuzeit‹, so sollte man meinen, kann nicht umhin festzustellen, ›ich bin da‹ als ein Leib (nicht als bloßer ›Körper‹), der mit seiner Welt ›wirklich intentional‹ verflochten ist. – Da-bin-ich; So-bin-ich-wirklich. Bin-wesentlich-da als eingefaltet in unsere, uns von Anfang an gemeinsame Lebenswelt ›Großstadt‹. Meine ›Unwillkürlichkeit‹ ist davon nicht ausgenommen. 11 Sich auf die philosophische Suche nach einem ›wirklichen Jenseits‹ dieser unserer wirklichen Grund-Form einzulassen, gliche dem ›märchenhaften Wettlauf‹ zwischen Hase und Igel. – Jede Form der ›Reflexion der Moderne‹, etwa der Kunst, der Literatur, der Religion, ›erfährt‹ das Dasein als immer schon wesentlich wirkliches So-Da-in-dieser-seiner-Welt. – Und es ist hier und jetzt die Lebenswelt ›Großstadt‹, die für uns phänomenologisch wirklich alle Möglichkeiten So-Da-zu-sein einschließlich der reflexiven Reflexion umfasst und ordnet. Jede unserer ›inneren‹ und ›äußeren Landschaften‹ zeigt sich letztendlich als ›Provinz der Großstadt‹ und reflektiert sich also als unsere ›Lebenswelt‹. – Auch, um darauf eigens hinzuweisen, unser ›Fühlen‹, ›Träumen‹, selbst noch der ›Wahnsinn‹ bilden keinen welt-jenseitigen Fluchtpunkt. ›Jenseits‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ ist für uns ›wirklich wesentlich nichts mehr‹. – Denken wir beispielsweise an die ›Natur‹, die ›Landschaft‹, die (wie man wohl sagt) ›ländliche Heimat‹. Auch sie lesen wir phänomenologisch ›nur‹ noch als Metaphern einer ›großstädtischen Sehnsucht‹. 12 – Auch das sind keine Vermutungen, sondern ›unsere‹ phänomenologischen Befunde. So ragt ›die Natur‹, um nur dieses Beispiel zu nennen, nur noch als irgendwie so oder so zugerichteter Restbestand in unsere ›großstädtische Lebenswelt‹. Etwa als (von uns so gelesener) ›Naherholungsraum‹, als ›Wasserschutzgebiet‹, ›Badesee‹, ›Kleingarten-Anlage‹, ›Naturlehrpfad‹, ›Reservat‹ ; um hier von ›Golfanalgen‹, ›Gärtnereien‹, ›Obstplantagen‹ und ›Baumschulen‹ ganz zu schweigen. – Schauen wir auch in diesem Fall kurz auf unser Schauen. ›Das Land‹ und ›die Großstadt‹ werden also durch unseren Blick, unser Sowahr-nehmen zu unseren uns bewegenden anthropologischen Mustern. Das sind auch, so scheint es uns phänomenologisch, mitschwinDas wäre ein eigenes spannendes Thema. Eine Sehnsucht, die sich nicht zuletzt auch an politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Utopien ›abarbeitet‹.

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gende, konstitutiv ›wirksame‹ Wertungen. Beispielsweise und verbreitet: die Vorstellungen der Lebenswelten als Gestaltungen, als Ausdruck für ein ›eigentliches‹ oder ›uneigentliches‹ Da-in-der-Welt-sein. Natur oder Un-Natur; Reinheit oder Schmutz; gesund oder verdorben; Einfalt oder Raffinesse; Frömmigkeit oder Hybris. Der heile, urwüchsig-naive Mensch vom Lande, eingebunden in die Erde, den Kreislauf der Natur; oder der durch den ›Pesthauch der Städte‹ 13 verdorbene Großstädter. 14 Dekadenz oder Natürlichkeit! – Schon mit der ›Vormoderne‹ bereitet sich dies vor. Also diese uns nun so selbstverständlich scheinenden ›Perspektiven‹ und ›Wertungen‹ ; implizit und nicht zu vergessen auch die damit sich entfaltenden Sehnsüchte. – Das ist uns auch historisch vertraut. Denken wir dabei nicht nur an Jean Jacques Rousseau. 15 Lesen wir es aber auch nicht als bloße ›moderne, modische oder wert-konservativ gerichtete Sozial-Kritik‹. Sondern als eine lebensweltliche, (eben) wirkliche Gestalt und Gestaltung der wesentlich existentiellen SelbstSorge, einer Angst und einer ›ungewissen‹ Sehnsucht in diesem und in keinem anderen Lebens-Raum. Das werden wir in einem anderen Zusammenhang noch einmal aufgreifen. – Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, sich Fühlen und Gestimmtsein ›reflektieren‹ sich phänomenologisch mit ihren konstitutiven Bedeutungen. Da-und-So-sein als ein wirklich komplexes existentielles Welt- und Selbst-Verhältnis. Das ist, wortwörtlich, unser ›sichum-uns-selbst-sorgendes‹ Verhalten. Das verlieren wir, was immer wir tun, praktisch nicht aus unserem Blick. – So sind es also unsere ›Perspektiven‹, die uns selbst als Da-und-So-in-der-Welt-sein ›entwerfen‹. Das lässt uns nicht zur Ruhe kommen! Blicken wir daher noch einmal genauer auf diese konstitutive Potenz anthropologischen Selbstverständnisses. – Zwei ›große Linien‹ lassen sich ohne weiteres historisch ausmachen. Für uns sind dies auch phänomenologisch bedeutsame Vorstellungen, die im Übrigen aber alles andere als in sich Raymond Chandler. Lebwohl mein Liebling. Zürich 1976. S. 146. Wortwörtlich gedacht bei Ottokar von der March. »Krankheitsstoffe aber flattern zu Millionen in der Luft herum, wir brauchen nur ein paar Tage ›Großstadtatmosphäre‹ zu atmen und wir besitzen das zweifelhafte Vergnügen, eine Herde von Bazillen im Leibe zu haben.« (Die Neurotischen. Zit. nach: Die Wiener Moderne. Literatur. Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981. S. 241.) 15 Raymund Meyer schreibt im Blick auf die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts: »Die allgemeine Zivilisations- und Kulturkritik der letzten Jahre hatte das naturgemäße Leben zu einer neuen Religion erhoben.« (Dada in Zürich. Frankfurt/M 1990. S. 88.) 13 14

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II. Leibhafte Anthropologie

einheitlich systematisch geschlossen vorgetragen werden. – Da wird beispielsweise ein (sehr unterschiedlich vorgestelltes) ›ideales Leben‹ jenseits der modernen großen Städte, jenseits ›der Moderne‹ erträumt und erhofft. Etwa ein ›echt‹ humanes Zeitalter ›nach‹ den großen, naturfernen, menschenfeindlichen, unwirtlichen Städten. Umgekehrt und dem gerade entgegengesetzt – und nicht weniger entschieden, nicht weniger kämpferisch – werden (nennen wir es) ›progressive‹ Forderungen vertreten. Etwa so: Diese großstädtische Welt solle als mögliches ›humanes Potential‹ nicht nur gelten gelassen (hingenommen), sondern ausdrücklich als für unser Mensch-sein notwendig angenommen werden. Um es so weiter, umfassend menschlicher zu entfalten. – Schauen wir hier noch etwas näher hin, ohne zu werten. Der Mensch, so wird beispielsweise ausgeführt, rücke mit der Entfaltung der großen Städte ein in seine Welt. In seine ihm nun wirklich eigene, wirklich wesentliche Bestimmung ›als nun wahrer Mensch‹. Er erfahre sich hier und jetzt als das wesentlich Andere ›bloßer Natur‹. Dieser nun ›wahre menschliche Mensch‹ stehe der Natur als ›frei‹ gegenüber und sogar entgegen. 16 – Erst als dieses vielgestaltige, vielschichtige Muster ›Großstadt-Existenz‹ zeige der Mensch ›unwillkürlich endgültig‹ seine ›menschlichen Möglichkeiten‹. Er entfalte, nach und nach, seine ihm wesentlich humanen Anlagen, den Fächer seiner Potentiale. Beispielsweise (und vor allem), die wesentliche Wirklichkeit seiner kulturellen Vielfalt, die Formen, die Variationen eines Mit- und Für-Einander, die Ausbildung einer Toleranz u. v. m. 17 Das seien Merkmale des HumaVgl. Arnold Hauser. »Die rohe, ungeformte, von der Kultur unberührte Natur verliert ihren ästhetischen Reiz und das Ideal der Natürlichkeit, wird von einem Ideal der Künstlichkeit verdrängt. Die Stadt, die städtische Kultur, die städtischen Vergnügen, die ›vie factice‹ und die ›paradis artificiels‹ erscheinen nicht nur unvergleichlich anziehender, sondern auch viel geistiger und seelenvoller als die sogenannten Reize der Natur. Die Natur ist an und für sich hässlich, gewöhnlich, formlos, erst durch die Kunst wird sie genießbar.« (Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. Sonderausgabe. München 1973. S. 944 ff.); Benno von Wiese schreibt, der »moderne Künstler braucht die die künstlichen Paradiese, und so vermag das Kaffeehaus eine stellvertretende Bedeutung gewinnen.« (Die deutsche Novelle. Band I. Von Goethe bis Kafka. Düsseldorf 1956. S. 308.) 17 Dazu Alexander Mitscherlich. »Die städtische Ausbeutung war so schlimm wie auf dem flachen Land, aber in den Städten entwickelte sich die Menschheit in ihrer Geschichte, wenn auch langsam genug, auf eine Freiheit hin, die einerseits als anonyme Achtlosigkeit für die anderen ausgelegt werden kann, aber auch als ein in allen Wechselfällen sich äußerndes und unablenkbares Streben nach Autonomie des Denkens und Handelns. Der urbane Spott über Philistertum und Aberglauben ist uralt.« (These zur 16

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C Wirkliches In-der-Welt-sein

nen, die der ›bloßen Natur‹ wesensfremd seien. Auch das dürfe als ›Evolution‹ gedeutet werden. – Diese gewiss sehr unterschiedlichen, ja sich widersprechenden Beschreibungen unserer Welt sind nun keine bloß historischen Zufälligkeiten. Oder nur ›Einzel-Perspektiven‹ ! Bloßer Ausdruck dieser oder jener Gestimmtheit. Also dieser oder jener Biographie geschuldet. Kurz, subjektiv (›ideologisch‹) gefärbte ›Weltanschauungen‹. – Mit diesen und durch diese gespannten, oft auch widersprüchlichen (!) ›SelbstWahrnehmungen‹, ›Selbst-Bestimmungen‹, reflektiert sich unser ›gespanntes großstädtisch-modernes‹ Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Unsere Lebenswelt ist also von Anfang an ein ineinander gefaltetes System von Sehweisen, Vorstellungen, Konstruktionen, ›Landschaften‹. Sich als So-Da bestätigend und unterstützend oder sich widersprechend und bekämpfend. – Wie auch immer, es scheint, dass wir so durch uns ›offen reflektiert‹ für uns erst wirklich wesentlich fassbar werden. – Unsere existentielle Phänomenologie nimmt das alles so und zunächst ›ohne weiteres‹ in den Blick. Dieses möglichst unverstellte Wahrnehmen (daher auch immer ein Schauen auf unser Schauen) phänomenologischer Reflexion ist selbst ›Selbst-gestaltung der Reflexion‹. – Diese Reflexion wird, einmal ›methodisch‹ auf den Weg gebracht, notwendig auf sich als konstitutive Leistung und überhaupt als anthropologisches Potential aufmerksam. Sie radikalisiert sich anthropologisch als wirkliche, reflexive Reflexion. Das ist die uns nun auch existentiell-repulsiv gestaltende Struktur unseres So-Da-in-der-Welt-zuseins. Eine Struktur, davon bin ich überzeugt, die auch historisch nicht mehr zurückgenommen, systematisch nicht mehr wirklich außer Kraft Stadt der Zukunft. Frankfurt/M 1971. S. VII.); diese (ob zu Recht oder auch nicht) wahrgenommene Enge ›ländlicher Existenz‹ beschreibt Raymond Chandler so. Er lässt Philip Marlowe resümieren. »Wäre ich in der Kleinstadt geblieben, in der ich geboren bin, hätte ich in der Eisenwarenhandlung gearbeitet und die Tochter des Chefs geheiratet, hätte fünf Kinder gehabt und ihnen am Sonntagmorgen aus dem Witzblatt vorgelesen, hätte Kopfnüsse verteilt, wenn sie ungezogen waren und mich mit meiner Frau darüber gestritten, wieviel Taschengeld sie kriegen sollten und welches Radio- und Fernsehprogramm schon etwas für sie wären und welche nicht. Ich wäre vielleicht sogar reich geworden – kleinstadtreich. Ein Acht-Zimmer-Haus. zwei Wagen in der Garage, jeden Sonntag Huhn und das Readers Digest auf dem Wohnzimmertisch, die Frau mit gußeisernen Dauerwellen und ich mit einem Gehirn wie ein Sack Portland-Zement. (…). Ich wähle die dreckige, widerliche, vergaunerte Großstadt.« (Der lange Abschied. Zürich 1975. S. 253.)

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III. Der großstädtische Zeit-Raum als anthropologische Endzone

gesetzt werden kann. Weder idealistisch noch naturalistisch. – Unsere phänomenologische Reflexion führt sich also selbst als eine wirklich existentiell gebundene Handlung ein. Das ist das ›philosophische Handeln‹ eines konkret leibhaften Da-und-So-in-der-Welt-seins. Kurz: Mit dieser wirklich radikalen Form der existentiellen Reflexion setzen wir ›uns selbst‹ ›uns selbst‹ wesentlich wirklich aus. –

III. Der großstädtische Zeit-Raum als anthropologische Endzone Wir schauen nun hin nicht nur auf diese oder jene großstädtischen Sachzusammenhänge, Lagen, Funktionsweisen, Organisationsformen, Weltstücke. Sondern vor allem auf uns selbst; auf uns als diese-da, die sich so, im ›Horizont dieser Welt‹, selbstverständlich als wesentlich wirklich reflektieren. Philosophisch, anthropologisch eingeführt durch uns als Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Diese ›existentiellen Reflexionen‹ unserer lebensweltlichen Wirklichkeit fordern uns phänomenologisch immer weiter heraus. Nicht bloß erkenntnistheoretisch, psychologisch, psychoanalytisch oder soziologisch. Sondern eben ausdrücklich ›existentiell‹. Unsere existentielle Phänomenologie als reflexive Reflexion des Da-und-So-in-der-Welt-seins bringt die je eigenen radikal gerichteten reflexiven Handlungen nun ausdrücklich in eine philosophisch-anthropologische Form. Sie ist in diesem Sinne, der endliche Entwurf, die wirkliche Einrichtung oder (nennen wir es) die anthropologische Konstitution unseres lebensweltlichen Horizonts innerhalb dem für uns überhaupt Wahrnehmen und Selbstwahrnehmen möglich ist. – Der Mensch als Dasein ist hier und jetzt also gleich wo er lebt unlösbar eingefugt in die Lebenswelt ›Großstadt‹. Nicht nur in dem Sinne einer (in der Literatur immer gerne ›bebildert‹) ›natürlich‹ emotional-engen Verbundenheit von ›Einem mit seiner Landschaft‹. Also das, wohl jedermann vertraute, Anhänglich-sein an den Zeit-Raum seiner Herkunft. Das ist dieses sich besonders ›tief‹ gebunden fühlen an den einen Raum, den wir ›Heimat‹ oder auch ›unsere Heim-Welt‹ nennen. – Wir haben hier etwas anderes im Blick. Und zwar etwa so: ein Mensch mag beispielsweise Paris, Berlin, London oder New York verlassen und sich in die sogenannte ›Provinz‹ zurückziehen. Mag also, wie man sagt, nicht mehr in Paris oder Berlin ›zuhause‹ sein. – Aber 63 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

C Wirkliches In-der-Welt-sein

aus der Lebenswelt ›Großstadt‹, unserem wesentlich-wirklichen Daund-So-in-der-Welt-sein, kann er nicht ›herausfallen‹. Aus ihr kann er lebend nicht entlassen werden. Sich selbst daraus wesentlich nicht lösen. Fassen wir diese phänomenologische Perspektive etwas genauer. Die Lebenswelt ›Großstadt‹, die uns hier phänomenologisch interessiert, ist unser uns nun notwendig ›existentieller Versammlungsort‹. Also nicht irgendein sozialer, architektonisch so oder so gestalteter Zeit-Raum neben anderen gleich-wesentlichen, sozialen, ›bloß‹ anders gestalteten Zeit-Räumen. – Eine Unterscheidung zwischen ›außen‹ und ›innen‹ führte uns im Übrigen auch hier in die Irre. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist der uns hier und jetzt wirklich und wahrhaftig existentiell durchdringende ›Horizont‹. Das ist eine Gestalt und Gestaltung, die uns alle als ›Zeitgenossen‹, als ›wir-so-da‹, wo immer wir leben, wesentlich ›grundiert‹. Damit ist ›die Großstadt‹ phänomenologisch nicht mehr nur ein möglicher Aufenthaltsort. Einer anthropologisch gleichgültig neben anderen! Sondern als unsere, für uns nun notwendige, unsere ›einzige‹ Lebenswelt. Und sogar die, zwar abendländisch gestaltete, aber hier und jetzt weltbestimmende Endzone. 18 – Wir bewegen uns dabei ausdrücklich nicht auf den Spuren von Oswald Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹. 19 Sondern dieses ›Bild‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ als ›weltbestimmender Endzone‹, konstituiert sich phänomenologisch durch unsere reflexive Reflexion unseres Da-undSo-seins. Das wird uns nun als ›Anschauung‹ begleiten. Sehen wir an einer Stelle wiederum noch etwas genauer hin. – Denken wir in diesem Zusammenhang an die folgenden uns vertrauten Redewendungen. So wird etwa gesagt: dieser da oder jene dort seien ganz und gar ›Stadtkinder‹. Oder wir lesen: Otto Dix habe ›typische Großstadtmenschen‹ ins Bild gesetzt; oder der Expressionismus sei Vgl. auch Hans Jonas: »Die Stadt des Menschen, einstmals eine Enklave in der nichtmenschlichen Welt, breitet sich über das Ganze der irdischen Natur aus und usurpiert ihren Platz.« (Das Prinzip Verantwortung. In: M. Schütz (Hg.). Risiko und Wagnis. Pfullingen 1990. S. 177.) 19 Oder (noch drastischer) Theodor Lessing. »Eine grausam unerbittliche Maschine walzte Kultur dahin über Sage und Traum, Musik, nackte Schönheit, Sonnen- und Sternenglauben, Baumkult, Feldkult, fromme Einfalt, Sinnbild, Sitte, Brauch, Sang und Lied.« (Die verfluchte Kultur. (1921). München 1981. S. 16 ff.) »Der nordische Mensch der ermatteten Sonne, eingekäfigt in Kleider und Häuser, Pflichten und Begriffsgehäuse, gebannt in die große Steinwüste einer zwangsläufig gewordenen Werkerei, kann nur Flüchtling werden oder Zerstörer.« (Ebd. S. 51.) 18

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III. Der großstädtische Zeit-Raum als anthropologische Endzone

›Großstadtkunst‹ u. ä. – Offensichtlich wird davon ausgegangen, ganz selbstverständlich vorausgesetzt, es zeige sich ein uns allen (offenbar mehr oder weniger) vertrauter ›großstädtischer Habitus‹. Wir könnten damit, so lesen wir diese Perspektive, an diesen oder ähnlichen ›Bildern‹ dieses ›Großstädtische‹ (geradezu) unmittelbar selbst wahrnehmen. Und könnten es so lesen und zuordnen und immer wieder erkennen. Also da wäre ein ›Irgend-Etwas‹, ein ›Habitus‹, eine ›großstädtische Identität‹ unabhängig vom Geschlecht, von Rasse, diesen oder jenen familiären Bindungen, genetischen Anlagen, der Bildung. So sagt man beispielsweise: der da sei eine typische ›Großstadtpflanze‹. – Wie auch immer im Einzelnen. Dieses ›Großstädtisch-Typische‹ ist phänomenologisch nun wirklich da. Mag es bei manchen ausgeprägter sein (denken wir auch an manche Karikaturen im Simplicissimus), bei anderen verdeckter. Wir sehen es selbst, es zeigt sich uns. Und wir nehmen es, so scheint es uns, ›ohne weiteres‹ auch an uns selbst wahr! – Diese Fragen können uns nun nicht mehr wirklich loslassen. Merken wir hier nur noch auf eines auf. Phänomenologisch sind das ›phänomenologisch‹ keine sehr überraschenden Befunde. Unser ›So-Da-inder-Welt-sein‹ zeigt sich für uns wirklich-wesentlich und wesentlichwirklich. Ist es doch unsere, zuerst und zumeist verdeckte, weil selbstverständliche ›Ortschaft‹, unser Zeit-Raum, mit dem wir uns ›bewegen‹. Das ist (darauf haben wir uns schon eingestellt) ›philosophisch reflektiert‹ das anthropologisch wirkliche Fundament unseres Weltund Selbstverständnisses. 20 Kurz und knapp: Das zeichnet uns! Ist daher also an uns ablesbar! – Dass das ausdrücklich philosophische Einsichten sind, braucht an dieser Stelle wohl kaum mehr eigens entfaltet werden. Unsere Beschreibungen reihen sich auch hier nicht ein in diese oder jene wissenschaftlichen oder literarischen Vorstellungen ›der Großstadt‹, ›des großstädtischen Lebens‹, ›der Menschen der Großstadt‹. Das mag bedauerlicherweise für manchen schon Anlass genug sein, unser Arbeiten nicht weiter zu beachten. Eine Phänomenologie der Großstadt als Lebenswelt ›reflektiert‹ uns selbst, es mag uns genehm sein oder nicht, reflektiert uns als wesentlich-wirkliches Daund-So-in-der-Welt-sein. – Verdichtet in einem Satz: Die Lebenswelt Verkürzt bei André Glucksmann: »Das berühmte ›In-der-Welt-sein‹, das die Philosophieprofessoren seit einem Jahrhundert plagt, ist letztendlich bloß ein Bei-sich-sein, das ursprünglich Lebenswelt, vorprädikatives Universum, perspektivistischer Glaube, home sweet home, Heimat, Verwurzelung hieß.« (Am Ende des Tunnels. Berlin 1991. S. 239.)

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C Wirkliches In-der-Welt-sein

›Großstadt‹ ist die notwendige Selbst-Erfahrung des Mensch-seins hier und jetzt. –

IV. Stimmung und Gestimmtsein Zwei Sätze geben unseren reflexiven Reflexionen Struktur und Richtung. 1. Unsere wesentlich wirklich existentielle Selbst-Erfahrung ist unser Fundament für unsere philosophisch-anthropologische Arbeit. 2. Die Lebenswelt ›Großstadt‹, abendländisch konturiert, wird phänomenologisch eingesehen, anthropologisch gefasst und reflektiert, und so als unser ›existentieller Horizont‹ bestimmt. Das begreift den ›fundamental-anthropologische Horizont‹, der alle Möglichkeiten unseres Da-und-So-in-der-Welt-sein, einschließlich unserer Selbst-Erfahrung, wahrhaftig reflektiert. – Sehen wir wieder auf unser Wahrnehmen selbst. Beispielsweise ›Stimmung‹ und ›Gestimmtsein‹ eingeführt ausdrücklich als fundamentale Wahrnehmungspotentiale. Das mag für eine ›Phänomenologie der Großstadt‹, die ja selbst phänomenologisch streng zu reflektieren ist, philosophische Bedenken hervorrufen. ›Stimmungen‹ und ›Gestimmtsein‹, so kann eingewandt werden, seien wohl eher dem ›Material der Psychologie‹ zuzuschlagen. Räumen wir daher in dieser Form, ganz nebenbei und unter der Hand, nicht der Psychologie, einer sich als ›empirisch‹ begreifenden Wissenschaft, das letzte Wort über unsere Arbeit ein? – Darüber hinaus aber könne mit guten Gründen eingefordert werden, philosophisch streng zwischen ›Irrationalem‹ und ›Rationalem‹ zu unterscheiden. Wobei als ausgemacht gelten dürfe, wo das Philosophieren, die Philosophie, anzusiedeln seien. Kurz und knapp: Darüber solle es also zwischen Philosophen grundsätzlich keinen Streit geben. ›Stimmungen‹ seien, wie auch immer betrachtet, bloß ›subjektive Wahrnehmungen. Seien, im Gegensatz zu einem klaren, einer philosophischen Aufklärung zugänglichen ›Denken von Gedanken‹, untergründig, unwillkürlich, schon begrifflich äußerst vage und blieben selbst einer ›versuchten Begründung‹ (durch die Psychologie) durch sich selbst entzogenen. (›Ich weiß nicht was soll es bedeuten, dass ich …‹. – Das ist uns allen sicher vertraut!). In einem Satz: ›Stimmungen‹ und ›Gestimmtsein‹ seien ›Repräsentanten‹, ›Abkömmlinge‹, einer philosophisch (interpersonal) ›uneinsichtigen Innendimension‹, die möglicherweise durch psychologische Untersuchungen, mehr 66 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

IV. Stimmung und Gestimmtsein

schlecht als recht gefasst (gefolgert, definiert) werden könnten. Keinesfalls aber für eine fundamentale anthropologische Begründungs-Leistung hinzugezogen werden könnten. – Sei es nun damit wie es will. Phänomenologisch scheint uns zumindest eines klar. Dem gilt nun kurz unsere Aufmerksamkeit. – Schon allein das bislang Entfaltete, das so Vorgestellte, wäre für unsere weitere Reflexion der Lebenswelt ›Großstadt‹ hinreichend, um unsere ›Stimmungen‹ in den phänomenologischen Blick zu rücken. ›Meine Stimmungen‹ sind, was immer sie sonst noch für eine psychologische Ordnung ›vorstellen‹, offensichtlich eines – nämlich nahe an ›meiner‹ leibhaften, ›irrationalen‹ Existenz. Also mir offensichtlich dicht ›assoziiert‹ ! Näher ›an mir selbst‹, als es ›unsere Vernünftigkeit‹, die eine ›streng-rationale Übersicht über das Da-Sein‹ zu behalten sucht, je sein kann. – Schauen wir nun daher noch genauer hin auf diese ›Wirklichkeit‹, dieses eigenartige Verhältnis ›meiner Stimmungen, meines Gestimmtseins zu mir selbst‹. Eines fällt uns sicher sofort auf. Trotz dieser doch unbestreitbaren, geradezu ›existentiellen Nähe‹ zu ›mir‹ (der ich mir, das ist eigenartig genug, meiner Stimmungen ›bewusst‹ bin), sind ›meine Stimmungen‹ aber sich selbst gegenüber wie ›blind‹ und ›taub‹. Ihr Potential, also ihr ›Bewusstsein von existentieller Nähe zu uns selbst‹, entfalten sie erst (sozusagen) ›nachträglich‹ durch die reflexive Reflexion. Sie erst benennt oder bezeichnet, begreift ›Stimmungen‹ und ›Gestimmtsein‹ als wesentlichen Eindruck, als Ordnungen unserer Selbst, also unserer anthropologischen Wirklichkeit. Sogar als wesentliche Wirklichkeiten unseres intentional ›organisierten‹ Da-und-So-inder-Welt-seins. – Mit dieser Form der ›radikalen Reflexion‹ erhalten sie auch ihre konstitutive Bedeutung für eine Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹. So kann sich beispielsweise mein Da-Sein ›objektiv eingestimmt‹ finden, wie ›angegangen‹, wie ›überwältigt‹ von unserer ›Welt‹. So kann mich eine bestimmte ›Welt-Dort‹ (als Erfahrung, sogar als Erinnerung, als Gedanke) ›ausfüllen‹ oder ›entleeren‹, ›aufregen‹ oder ›abstumpfen‹, ›euphorisieren‹ oder ›lähmen‹, ›ängstigen‹ oder ›froh machen‹. Oder – diese Rede ist uns allen sicher vertraut: Da sagt einer, dass sich ihm ›der Pulsschlag‹ dieser Groß-Stadt aufdränge; oder das ›Gewoge da und dort wie Champagner‹ auf ihn wirke u. ä. 21 – »Draußen wurde es jetzt dunkel. Das rauschende Lärmen des Verkehrs war etwas leiser geworden, und die Luft, die durch das offene Fenster drang, war noch nicht kühl

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C Wirkliches In-der-Welt-sein

(Irgendetwas macht mich ›fröhlich‹ oder ›traurig‹, bereitet mir ›Unbehagen‹ ; – was aber genau? Ich weiß es nicht!). Nur kurz etwas im Vorbeigehen. Und möglichweise ist das mehr als nur eine ›vage Analogie‹. Wir kennen eine vergleichbar ›unwillkürliche Gestimmtheit‹ auch aus der Religionsgeschichte. – Wiederum ist es aber vor allem die Kunst, die für uns diese ›unsere Stimmungen‹, diese ›Gestimmtheiten‹ ins Bild, ins Werk setzt (möglicherweise nur als dieses Werk-da) und so als ›lesbare‹ und ›sichtbare‹ Daseinslage für ›mich‹ verdichtet, vorstellt und ›reflektiert‹. – Diese ›Stimmungen‹ der Lebenswelt Großstadt, die also wirklich unsere sind, bilden als Welt-Habe (denken wir dabei aber auch an das sich Selbst-Verstehen) unsere ›moderne Welt‹. Im Übrigen einschließlich der philosophisch (vor allem existentialistisch) ausführlich verhandelten, so oder so wahrgenommenen und (wie man meint) ›begriffenen‹ Befindlichkeiten wie Angst, Verzweiflung, Ekel. –

wie in der Nacht, sondern hatte einen müden Abendgeruch aus Staub, Abgasen, Sonnenlicht, das von heißen Mauern hochstieg; sie roch schwach nach dem Essen von tausend Restaurants und, vielleicht wenn man eine Nase wie ein Jagdhund hatte, ein bisschen nach jenem unverkennbaren Katergeruch, den die Eukalyptusbäume bei warmem Wetter in den Villenquartieren oben auf den Hügeln über Hollywood ausströmten.« (Raymond Chandler. Das hohe Fenster. Zürich 1975. S. 97.)

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D Das Wesen schauen

I.

Der Blick der Wissenschaften auf ›Großstadt‹

Auch an dem Folgenden können wir philosophisch nicht mehr vorbeisehen. Wir haben es phänomenologisch ›von Beginn an‹ zur Kenntnis zu nehmen und ausdrücklich als Potential zu begreifen. Und zwar: Der ›Zeit-Raum der modernen Großstadt‹ ist wissenschaftlich dicht vermessen. Ein Blick in die entsprechenden Literatur-Listen, die Zeitschriften, Vorlesungsverzeichnisse scheint Bestätigung genug. Die Großstadt, ihre Geschichte, das großstädtische Leben, die Herausforderungen, auch die Zukunft der Großstadt (u. ä.) werden durch die unterschiedlichsten Wissenschaften breit entfaltet, vorgestellt und ›erklärt‹. – In diese wissenschaftliche Arbeit mischen wir uns ausdrücklich nicht ein. Aus philosophischen Gründen! Darauf haben wir uns immer wieder aufmerksam gemacht! Sind wir doch offensichtlich ganz anders eingestellt und ausgerichtet. ›Wir‹ Phänomenologen wollen zu den, so haben wir es genannt, ›wesentlich wirklichen Sachen‹. Darauf richten wir unser Augenmerk. Die Wissenschaften arbeiten, wissenschaftlich ganz zu Recht, ›selbstvergessen‹ mit einer ›Faktenlage‹, die als ›objektiv-stimmig-überprüfbar‹ zugerichtet und begriffen werden soll (und kann). – So sollte es keine Probleme bereiten, die jeweiligen Perspektiven zu unterscheiden. In einem Satz so: Die ›existentielle Phänomenologie‹, die ›phänomenologische Reflexion der Lebenswelt Großstadt‹ ist eines und die der Wissenschaften, die ›wissenschaftliche Ausrichtung‹, beispielsweise der Psychologie, Soziologie, Geschichtswissenschaften, ein ganz anderes. 1 – Und dennoch sind auch diese Wissenschaften, ihr

Dazu auch L. Wittgenstein: »Die Physik will Regelmäßigkeiten feststellen; sie geht nicht auf das, was möglich ist. Darum gibt die Physik, auch wenn sie vollständig entwickelt ist, keine Beschreibung der Struktur der phänomenologischen Sachverhalte.« (Wittgensteins Schriften. Frankfurt/M 1984 usw.; hier zit. nach Merrill B. Hintikka. Jaakko Hintikka. Untersuchungen zu Wittgenstein. Frankfurt/M 1990. S. 200 f.)

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D Das Wesen schauen

Arbeitsstil und ihre Ergebnisse in unserem Blick. 2 Und das philosophisch zu Recht! Sogar ›notwendig‹ ! Sie sind in unserem Blick also nicht nur nebenbei und irgendwie. Die ›Reflexionen der Wissenschaften‹ beschäftigen uns philosophisch. Sie fordern uns ausdrücklich phänomenologisch heraus. – Wir maßen uns nicht an, über den wissenschaftlichen Arbeitsstil, die wissenschaftlichen Arbeitsergebnisse, über Stimmigkeit und Geltung ihrer Theorien zu ›urteilen‹. Sondern so: diese wissenschaftlichen, ›empirischen‹ Vorstellungen, auch die wissenschaftlichen Formen und Gestaltungen, sind für uns (wortwörtlich) ›phänomenologische Vorlagen‹. 3 Sogar vor allem mit ihren oft genug sich widersprechenden, irritierenden Deutungen. 4 – Das ist für uns, das schon jetzt, ein wirklich wertvoller Dienst! Die Wissenschaften leisten (neben der Kunst) für uns die Herausforderung für eine reflexive Reflexion. Wir entsprechen dieser Herausforderung ›entlang‹ unserer existentiellen Intentionalität, unseres Da-und-So-in-der-Weltseins. Die ›wissenschaftliche Form‹ gehört ausdrücklich als Möglichkeit zu unserem Da-und-So, unserer Selbst- und Welterfahrung. – Das ist nun, um darauf eigens hinzuweisen, für uns keine bloße Frage (nach) einer Methodologie oder einer Erkenntnis- oder Wissenschaftstheorie. 5 Reflexionen, Vorstellungen, die wie selbstverständlich (nach wie vor) auch der existentiellen Phänomenologie gerne zugeordnet werden. – Denken wir hier beispielsweise, um nur an einer Stelle etwas näher hinzusehen, an die Psychologie. ›Großstadt‹ und ›moderne Psychologie‹ verweisen schon historisch aufeinander. Die Entfaltung der Genauso wie Kunst und Literatur. Das sind keine willkürlich-gewaltsamen Konstruktionen. Wissenschaftliche Reflexionen fordern von sich aus eine Reflexion der Reflexion. 4 Viktor von Weizsäcker schreibt dazu passend. Der Ansturm der Fakultäten müsse heute ausgehalten werden. »eine Fakultät sagt, ›ich bin die Philosophie‹, eine andere ›ich bin die Theologie‹. Auch die Physik, die Physiologie, die Psychologie sprechen in dieser Ich-Form, als ob es etwas in der Natur gäbe, während es doch immer nur um Institutionen, Betriebsgemeinschaften, Übereinkünfte über eine Methode handelt. Das alles sind spezifische Gewohnheiten, die man vielleicht gerade jetzt einmal aufgeben muss, auf die Gefahr hin, isoliert dazustehen, ohne Hilfe und Anerkennung.« (Pathosophie. Göttingen 19672. S. 10.) 5 Das gilt im Übrigen schon für Husserl. »Husserls Phänomenologie hat als solche durchaus nichts zu tun mit Erkenntnistheorie, noch weniger stellt sie eine spezielle erkenntnistheoretische Richtung dar (…).« (Ludwig Binswanger. Vorträge und Aufsätze. Ausgewählte Werke. Band 3. Heidelberg 1994. S. 40 f.) 2 3

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I. Der Blick der Wissenschaften auf ›Großstadt‹

›Großstadt als Lebenswelt‹ und die Geschichte der modernen Psychologie sind eng verbunden. Das ist schon historisch kein historischer Zufall. Natürlich sind auch die übrigen modernen Wissenschaften im Grunde ›städtische Institutionen‹. Aber sie denken nicht notwendigerweise ›großstädtisch‹. Die Psychologie hingegen ›reflektiert selbst‹, sie mag eigens darauf aufmerken oder nicht, das Großstädtische. Sie hat sogar ihr ›eigentliches Forschungsobjekt‹ (das Da-und-So-in-dieserWelt-sein) mitgestaltet. 6 – Die Geschichte der neuzeitlichen und modernen Psychologie ist eine Geschichte der Emanzipation aus der traditionell philosophisch und theologisch gebundenen ›Seelenkunde‹. Diese ›metaphysisch-spekulativen Seelenerkundungen‹ sind (was immer sie sonst noch trägt) ›substanz-ontologisch‹ fundiert und eingestellt. ›Reduktiv‹ angelegte Perspektiven. Sie verfehlen schon allein deswegen die ›komplexen‹ Wirklichkeiten unseres ›modernen So-Seins‹. Also unser sich lebensweltlich entfaltendes, systemisch verknotetes, großstädtisches Dasein. 7 Einschließlich unserer existentiellen Irritationen und Perturbationen. – Die moderne Psychologie als wesentlich großstädtische Wissenschaft ›reflektiert‹ also (erinnern wir uns) gleich, ob sie eigens darauf aufmerkt oder nicht, die ›großstädtische Existenz‹. Sie tut es nicht nur als so eingestellte empirische Wissenschaft des, im weitesten Sinne, ›unwillkürlichen Verhaltens‹. 8 Sondern auch auf oft ganz verschlungenen, verdeckten, ja abwegig scheinenden Wegen. Denken wir beispielsweise an unsere psychologisch gedeuteten (oft auch ›instrumentalisierten‹) ›alltäglichen Sprachspiele‹ ; oder die mit ›psychologischen Bildern‹ ›aufgeladene‹ Großstadt-Kunst. – Auch diesen Hinsichten geben wir eine phänomenologische BeSchon allein weil, wie Karl Bühler schreibt, jedes Menschenwerk etwas von der seelischen Eigenart seines Schöpfers in sich trägt. (Die Krise der Psychologie (1927). Frankfurt/M 1978). Ähnlich Karl Jaspers. »Nun haben alle sinnhaften Objektivitäten eine Seite, die sie zugleich als unwillkürlichen Ausdruck einer Seele verstehen lassen, etwas, das man ihren Ton, ihre Melodie, ihren Stil, ihre Atmosphäre nennt. – Insofern ist alles Ausdruck und damit – nach altem Sprachgebrauch – im weitesten Sinne physiognomisch.« (Allgemeine Psychopathologie. Berlin. Göttingen 19597. S. 231.) 7 Nun liefert umgekehrt die ›neue Psychologie‹ die Bausteine für eine angemessene theologische und metaphysische Anthropologie. 8 »Die Psychologie vertieft unser Verständnis dafür, wie wir als Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und handeln.« (David G. Myers. Psychologie. Heidelberg 2005. S. IX.); »Psychologie ist die Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung und Analyse des Verhaltens und der geistigen Prozesse befasst.« (Hilgards Einführung in die Psychologie. Heidelberg. Berlin 2001. S. 4.) 6

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D Das Wesen schauen

deutung. – ›Die Sache‹ selbst aber bleibt für uns unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie bleibt in unserem Blick selbst dort noch, wo wir diese oder jene ›Sehweisen‹, ›Perspektiven‹ (beispielsweise der Wissenschaften, der Psychologie oder der Kunst) existentiell reflektieren. Also auf den ersten Blick von der phänomenologischen Grund-Forderung ›zu den Sachen selbst‹ abzuirren scheinen. In dieser, so mag es mancher deuten, ›sehr umständlichen‹ Weise einer ›aufgefächerten‹, sich sogar, wie es scheint, immer weiter auffächernden Korrelationsforschung ›Da-und-So-in-der-Welt-sein‹ wird eine Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ entfaltet. Und dafür braucht es, das hat uns immer wieder beschäftigt, unser phänomenologisches Schauen schauen, braucht es unsere reflexive Reflexion. – Das benennt nun auch unsere, von den Wissenschaften nicht nur methodisch unterschiedene, phänomenologisch-fundamentale Ausrichtung. ›Die Großstadt‹ selbst wird in den verschiedensten Wissenschaften also zweifellos vorgestellt und besprochen. 9 – Unsere grundsätzliche, wesentlich-wirkliche, eben ›existentielle Verflochtenheit‹ mit der Lebenswelt ›Großstadt‹ aber ist den Wissenschaften kein Wort der Erwähnung wert. Die Psychologie dabei ausdrücklich nicht ausgenommen. – Daran aber haben wir immer wieder und von Anfang an erinnert. Vor allem auch uns selbst! Verstellt doch gerade diese scheinbare Selbstverständlichkeit unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins den Blick auf unsere wesentlich wirklich existentiellen Bedingungen Dazu-sein. Wir sehen, denken, reflektieren, ›leben‹ ganz selbstverständlich von unserer ›Ortschaft‹, unserer ›Lebenswelt‹ aus, die wir selbst aber nicht in unserem Blick halten. 10 – Aber selbst noch diese so gerichteten, ›selbstvergessenen Vorstellungen‹ verweisen uns phänomenologisch-anthropologisch auf uns als ›Da‹ und ›So‹. All diese wissenschaftlichen, kultur- und kunstgeschichtlichen Zusammenfassungen, Vorstellungen ›großstädtischer Wirklichkeiten‹, nehmen wir als wirkliche Möglichkeiten, uns ›existentiell‹ zu reflektieren, phänomenologisch als wesentlich zur Kenntnis. Es sind Gestaltungen, Entwürfe, Bilder, Deutungen, kurz Formen, sich seines Soseins hier und jetzt, Dass dieser vielstimmige Diskurs uns schon mit seiner Vielstimmigkeit phänomenologisch interessiert, liegt auf der Hand. 10 Aus einer anderen Perspektive schreibt Josef Schumpeter: »Je näher eine Epoche der unseren liegt, desto weniger verstehen wir sie: unsere eigene verstehen wir am allerwenigsten.« (Geschichte der ökonomischen Analyse. Zweiter Teilband. Göttingen 1965. S. 927.) 9

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II. Psychoanalyse und Phänomenologie

eben in und mit dieser Lebenswelt, als wesentlich wirklich zu vergewissern. Hierher, das behalten wir weiter im Blick, gehören auch die ›künstlerischen Selbstauslegungen‹. Auch diese im weitesten Sinne immer noch ästhetischen Vorlagen lesen wir phänomenologisch als Dokumente willkürlichen und unwillkürlichen großstädtischen Selbstbewusstseins. – Fassen und verdichten wir es so. All diese wissenschaftlichen Perspektiven, diese Vorstellungen ›großstädtischer Welt‹ sind für uns nicht bloße ›nachträgliche Reflexionen‹. Wissenschaftliche Theorien, die uns philosophisch nur ›am Rande‹ zu interessieren bräuchten. Sondern wir lesen sie als ›konstitutive Potentiale‹, die uns selbst als Da-sein ›in‹ der Großstadt ›so‹ herstellen. –

II.

Psychoanalyse und Phänomenologie

An einer anthropologischen Perspektive, einer Form ›radikal-existentieller‹ Reflexion, können wir phänomenologisch aber auf keinem Fall vorbeidenken. – Die Wissenschaft, die sich mit am Entschiedensten auf die Reflexion ›existentieller Forschung‹ einlässt, theoretisch und praktisch, ist die Psychoanalyse. 11 Sie ist daher ein herausfordernder, oft irritierender, immer aber (zumindest für mich) ein bevorzugter Gesprächspartner einer existentiellen (anthropologisch fundierten) Phänomenologie. 12 Ausdrücklich: ein ›Gesprächspartner‹ ! Nicht ›Lehrer‹, ›Belehrer‹ oder ›Erzieher‹ der Phänomenologie. Schon gar nicht ist die Psychoanalyse für uns ›die‹ entscheidende, uns ausrichtende, geltungssichernde Institution‹. 13 – Gleich wie wir uns zur Psychoanalyse als Psychotherapie stellen. Zumindest das eine gilt für uns: Die Bedeutung der Psychoanalyse, überhaupt der ›Tiefenpsychologie‹, kann für eine Fassung der Moderne, der Lebenswelt ›Großstadt‹, unseres So-Da-in-der-Welt-seins, Die so leidenschaftlich diskutierte Frage, ob denn die Psychoanalyse überhaupt ›Wissenschaft‹ sei oder ein bloßes Glaubenssystem, darf hier unberücksichtigt bleiben. 12 Das ist ausdrücklich nicht auf Sigmund Freud begrenzt. 13 Michel Foucault macht aufmerksam: »Es würde sich lohnen, ein wenig auf einem zeitlichen Zusammentreffen zu insistieren. 1899 erscheinen die logischen Untersuchungen von Husserl. 1900 erscheint die Traumdeutung von Freud. Zweifache Anstrengungen des Menschen, sich seiner Bedeutung zu versichern.« (Einleitung zu: Ludwig Binswanger. Traum und Existenz. Bern und Berlin o. J. S. 13.) 11

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kaum überschätzt werden. Aus verschiedenen Gründen. Sie ist beispielsweise phänomenologisch schon ganz allgemein als ›MethodenSet einer Tiefen-Hermeneutik‹ von Bedeutung. Eine methodische Gestaltung also des Wahrnehmens und Schauens auf das Wahrnehmen und Schauen. – Schon das radikal gerichtete ›methodische SelbstSchauen‹ verbindet sie also mit unserer Phänomenologie. 14 Als ›Tiefen-Hermeneutik‹ zeigt und gestaltet sie die vieldeutige und mehrwertige ›Lage der Moderne als unsere uns zugehörige Lebenswelt‹. Also ihre (unsere) ›Schatten‹, das ›Verdeckte‹, das ›Verdrängte‹, das ›Irrationale‹, das ›Vernunftlose‹, kurz, das ›Unbewusste als Wirklichkeit‹. – Das hat im Übrigen ›Tradition‹. Sie ist, das darf philosophisch nicht außer Acht bleiben, die historische und systematische Schnittstelle, die praktische ›Verknotung‹ mehrerer Denklinien der Neuzeit. 15 Vor allem (halten wir uns an die großen Überschriften) der ›Aufklärung‹, der ›Romantik‹, des ›Naturalismus‹, auch eines ›modernen (positivistischen) Szientismus‹. 16 – Schon dieses Eingebunden-sein in die abendländische Reflexionsgeschichte wäre Anlass genug, das psychoanalytische Denken philosophisch zu beachten. – Die psychoanalytische Literatur hat diese ›historischen Linien‹ (oft ›rücksichtslos‹) systematisch konsequent entfaltet. Und hat so, ob beabsichtigt oder auch nicht, die Grenzen ›neuzeitlichen Selbst-Verstehens‹ praktisch vorgeführt. 17 – So bietet die Psychoanalyse auch auf diese Weise ›unbeabsichtigt‹ die Möglichkeit, unseren, für uns so eigenartig existentiell verschränkten Zeitraum, ›die Moderne‹, phänomenologisch reflektiert wahrzunehmen. Denken wir dabei nicht nur an die Formen, Gestaltungen und das Aussprechen, die Vorführungen, das Begreifen ›seelischen Leidens‹. An diese oder jene Ent-deckung ›pathologischer Muster‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Sicher auch das zeigen uns die Studien Freuds. Offensichtlich von ihm vorgestellt als Belege, als beeindruckende Wir lesen die Psychoanalyse so, gleich wie sie sich selbst einordnet. Z. B. Odo Marquard. Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. 19882. 16 Die Liste der ›philosophischen Väter‹ der anthropologischen Grundlagen der Psychoanalyse reicht von Hobbes bis Nietzsche. 17 Freuds Vorbehalte gegen die Philosophie (um das mindeste zu sagen) sind bekannt. Nichts desto weniger beansprucht er (auch) ›philosophische Fragen‹, die er naturalistisch konfigurierte, einer tiefenpsychologisch endgültigen Lösung zuzuführen. Die psychoanalytische Kritik hat also die Form der tiefenpsychologischen Reflexion philosophischer Fragen. 14 15

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II. Psychoanalyse und Phänomenologie

Zeichnungen eines Leidens an und mit der Moderne; Zeichnungen, die selbstverständlich für uns in diesem Sinne auch kulturgeschichtlich bedeutsam sind. – Aber schauen wir phänomenologisch darüber hinaus – nicht aber darüber ›hinweg‹. Die Psychoanalyse selbst, schon als ›Reflexionstyp der Moderne‹, verweist uns grundsätzlich auf unser lebensweltliches Selbstverständnis Da-und-So-zu-sein. Einschließlich unserer uns hier und jetzt zugehörigen existentiellen Irritationen, unseren uns zugehörigen Möglichkeiten krank-zu-sein. – Schauen wir phänomenologisch hier wieder noch genauer hin und uns zu. Die Psychoanalyse ›reflektiert‹ sich durch ihr eigenartiges Schauen notwendig selbst. – ›Reflektiert‹ sich mit diesem ›hintergründigen‹ Blick als eine ›moderne Einrichtung‹. Geradezu als eine Institution der Lebenswelt ›Großstadt‹. Die Psychoanalyse als ›misstrauische‹ Tiefenhermeneutik entfaltet sich also reflexiv eingesetzt als psychologisches Verstehen des problematischen Selbst-Verstehens. – Das ist durchaus zu lesen als eine Form der existentiellen Phänomenologie. Als eine mögliche Gestaltung der phänomenologischen Zuwendung existentieller reflexiver Reflexion. Denken wir in diesem Zusammenhang (im Vorbeigehen) nur an die Vorstellungen phänomenologisch gerichteter Psychiatrie. – Da ist beispielsweise der uns verbindende Arbeitsgang: Hören, Wahrnehmen, Reflektieren, Schauen! Und dann das Dazugehörende: Hören auf das Hören, Wahrnehmen des Wahrnehmens, Reflektieren des Reflektierens So-Da-zu-sein. Erst so, als strenge reflexive Reflexion, erfüllt sich phänomenologische und psychoanalytische Anschauung. – Dafür braucht es im Übrigen, um das noch einmal anzusprechen, keinen von den Naturwissenschaften entliehenen ›Wissenschaftsbegriff‹. Verdichten wir es so: Der Auf- und Ausbau der Psychoanalyse, ihre hermeneutische Herausforderung, ihre Ausrichtung, ist die selbst selbstwahrgenommene, verwirrte und perturbierte Gestaltung des Daund-So-in-der-Welt-seins. 18 Darin ist sie, um das wenigste zu sagen, ›vergleichbar‹ einer existentiellen Phänomenologie. – ›Intentional‹ richtet sich die Psychoanalyse theoretisch und praktisch auf die Forderungen und Überforderungen des ›modernen Daseins‹ durch die Lebenswelt ›Großstadt‹. Hier nur von ›kranken Seelenleben‹ zu sprechen wäre phänomenologisch ganz und gar nicht ›sach-gerecht‹. Das (soDass nicht alle Psychoanalytiker die Radikalität psychoanalytischer Reflexion, psychoanalytischer Hermeneutik wahrhaben wollen steht auf einem anderen Blatt.

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genannte) ›Nervöse‹, die ›hysterischen Phänomene‹, schon dieses oder jenes so oder so geformte, aufsteigende, unwillkürliche Begehren, unsere ›Tendenzen So-Da-zu-sein‹ – all das wird nun schlicht eingesehen als die für uns wesentlich wirklichen existentiellen Möglichkeiten. – Oder auch: die Reflexionen unserer, vor allem auch unwillkürlichen, eigenartigen ›alltäglichen Darstellungen‹ ›zwischen‹ Zeigen und Verbergen eines Da-und-So-in-der-Welt-seins usw. usf. – Wir also lesen diese ›psychoanalytischen Reflexionen‹, gleich ob diese oder jene psychoanalytische Schule uns darin folgt oder nicht, phänomenologisch als existentiell wesentliche Vorstellungen: Eben als lebensweltlich folgerichtige ›Schauspiele‹ großstädtischen Da-und Soseins. Die Psychoanalyse ist für uns so (mit dieser Sicht) eine phänomenologisch bedeutsame, ›selbstreferentielle Einsicht‹. Also ein wirkliches Schauen unser Selbst; – kurz, eine Reflexion unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. – Sie ist also weit davon entfernt ›nur‹ eine Sammlung ›therapeutischer Techniken‹ zu sein. Das ist sie sicher auch! Aber die Psychoanalyse als phänomenologisch gesetzte, existentiell gerichtete Tiefen-Hermeneutik entfaltet einen für uns nun bedeutsamen radikalen Selbst-Bezug. Ein konstitutives Potential der (für unsere) Moderne. – Anliegen, Anspruch, Begehren, Ängste, Leiden, Scheitern und Gelingen großstädtischen Daseins lassen sich phänomenologisch-anthropologisch aus diesen Vorstellungen, diesen Hinsichten, diesen Reflexionen herauslesen. – Für mich ist die Psychoanalyse sogar ›tatsächlich‹ eine philosophische Gestaltung von Krisis und Reflexion, von Verzweiflung und Reflexion. 19 Mehr geht anthropologisch nicht! Sie bietet deshalb auch, und das ist ganz folgerichtig, tiefenpsychologische Perspektiven für existentiell gerichtete, existentiell fundierte Überlegungen zur Kunst, Religion und natürlich zum Krank-sein. Wir lesen diese psychoanalytischen Vorlagen also nicht nur als eine uns psychologisch und medizinisch bereichernde ›Materialsammlung‹. Sondern, das mag nun auf Widerspruch stoßen oder nicht, als einen phänomenologisch unverzichtbaren Beitrag einer, wortwörtlich, ›großstädtischen Ästhetik‹. Als diese ›Ästhetik unserer Lebenswelt‹, unseres Daund-So-seins ist die Psychoanalyse auch ›die‹ Arbeitsfläche für unsere existentielle Phänomenologie. 20 Vgl. dazu meine Arbeiten: Krisis und Geltung. Berlin 1999; und: Reflexion und Verzweiflung. Ein Beitrag zu einer Phänomenologie der Moderne. Essen 2003. 20 Selbst noch die spekulativen Lese-Arten der ›Großstadt-Kultur‹ sind existentielle 19

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III. Das Wesen vorstellen

III. Das Wesen vorstellen Wir haben ein konkretes Arbeitsziel. Von uns selbst gesetzt und selbstverständlich durch uns selbst in Geltung zu halten und zu verantworten. Und zwar: Die existentielle, anthropologische Vorlage für eine Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie ist, dem phänomenologischen Anspruch entsprechend, systematisch vorzustellen, zu entfalten und reflexiv zu ›konstituieren‹. – Das ist nun, so mag es dem in der Philosophie sich bewandert Fühlenden im Vergleich zu den als ›klassisch‹ geltenden, traditionell-großen Herausforderungen der Philosophie scheinen, ein eher ›überschaubarer Gedanke‹. Philosophisch geradezu schlicht, ›einschichtig‹ ausgerichtet und wohl auch methodisch (›bloß schauen‹ !) nicht sehr herausfordernd. Möglicherweise ›faktisch‹ und ›historisch‹ von einigem Interesse! In einem Satz: Eine Art ›philosophische Vorschule‹. – Aber schauen wir nur selbst auf unsere ›Sache‹ : unser Da-und-So-in-der-Welt-sein! Schon ein erster Überblick führte es uns vor und belehrte uns darüber, dass unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ eine augenscheinlich (wahrnehmbar) ›verknotete Sache‹ ist. Und das (repulsiv) bis in die einzelnen ›Facetten der Wahrnehmung der Reflexionen‹ unseres Wahrnehmens, unseres Reflektierens hinein. – Wahrhaftig also, und dabei bleibt es auch mit Blick auf die Geschichte, die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist wirklich eine wesentliche philosophische (weil existentielle) Herausforderung. Daran haben wir uns weiter auszurichten und darauf haben wir uns einzustellen. – Wir kommen nicht umhin, uns selbst immer wieder und ›von Anfang‹ an, auf diese komplexe Sach-Lage einzulassen, uns darauf einzuschwören. Also uns dieser ›unserer verknoteten Wirklichkeit‹ selbst zu stellen. Auf eines haben wir dabei von Anfang an ausdrücklich zu achten. Und darauf haben wir uns von Beginn an selbst zu Recht immer wieder aufmerksam gemacht. Vorstellung und Entfaltung der ›Lebenswelt Großstadt‹ ist ganz und gar eine phänomenologische, eine systematische Leistung. Sie ist existentiell und anthropologisch wirklich so eingestellt oder sie verfehlt ihre wesentliche Absicht! Und diese unsere wesentliche Absicht ist nun als das für uns ›Wesentliche‹ Vorstellungen, existentielle Selbst-Behauptungen, denen sich das phänomenologische Interesse mit Gewinn zuwenden kann. Eben als mögliche Selbstdeutungen großstädtischen So-Da-seins; als ein verzweifelter Versuch, dem eigenen irritierten Erleben eine ›vernünftig‹ fassbare Bedeutung zu geben.

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wirklich vorzustellen! Die Kunst und die Wissenschaften, beispielsweise die Malerei, die Literatur oder die Sozialwissenschaften, die Psychologie, die Medizin oder die Psychoanalyse, stellen uns ›nur‹ ›Bilder‹ und ›Begriffe‹. ›Geltungsansprüche‹, die wir als ›bedeutsame Möglichkeiten‹ einer existentiellen Selbstgestaltung, der Selbstbehauptung, auch der Selbstverantwortung in der Lebenswelt ›Großstadt‹ entdecken und reflektieren. – Wieder kurz und knapp: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist ausdrücklich wesentlich und von Grunde auf eine phänomenologische Wirklichkeit. Als das durch uns Geschaute, und nur als das, ist sie unser phänomenologischer Forschungshorizont, unsere ›philosophische Intention‹. Vielleicht so: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist unser ›anthropologisches Wahrnehmungsfeld‹. Also ›Horizont all unserer überhaupt möglichen Bewegungen‹ und zugleich unser ›phänomenologisches Wahrnehmungsmuster‹. – So sind beispielsweise schon unser Zeigen, Beschreiben und Reflektieren ganz praktisch (also wirklich wirklich) daraus geleistete konstitutive Akte. Phänomenologische, also intentionale Leistungen einer nun wesentlich-wirklichen, sich auch selbst-reflektierenden Welt-Gestaltung! – Dieses phänomenologische Arbeiten fordert von uns ein Sich-einstellen-auf, ja ein existentielles Mitschwingen mit unserer wirklichen, so erfahrenen, so geschauten Lebenswelt. Und das phänomenologisch immer wieder von Anfang an! Das sind nicht zuletzt auch ganz praktische Gestaltungen einer wahrhaft ›mühseligen‹ existentiellen Reflexion der Reflexionen. Das heißt für uns ausdrücklich phänomenologisch wirklich mit uns sein. Wirklich ›wir-selbst‹ als ›ich-selbst‹ reflexiv da! Als von mir selbst reflektiertes Da-und-So-in-der-Welt-sein! Auch von dieser eher praktischen Herausforderung aus, einer Selbst-Herausforderung, gestaltet sich also unser phänomenologisches Arbeiten als reflexive Reflexion unseres Da-und-So-seins. – Darauf sind wir nun eingeschworen. Wir entfalten unsere existentielle Phänomenologie der Großstadt immer mit Blick auf ›unser wirkliches Wesen‹. – Die Rede von ›dem Wesen‹ könnte philosophisch, phänomenologisch nun leicht in die Irre führen. Und hat es tatsächlich auch oft genug getan. Sollte, so ist etwa zu Recht zu fragen, das ›Wesen einer Sache‹ nicht klar, deutlich und begrifflich ›einfach‹ vorgestellt werden können? – Warum sich hier also nicht philosophiegeschichtlich orientieren? Beispielsweise also: die Einführung (der Rückgriff auf eine) einer philosophisch als ›invariant‹ eingeführten Form (auf eine Art ›platonische Idee‹). Etwas ›praktisch oder auch theoretisch Ideales‹, 78 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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etwas ›Unbedingtes‹, um das herum oder von dem aus ›Seiendes‹ (was auch immer) sich erst bilden, für uns in Geltung gesetzt werden kann. ›Philosophisch Begriffenes‹ also! – Auf das unser Erkennen, unsere Einsicht, unsere Wissenschaften und unsere Philosophie immer und grundsätzlich, kurz ›wesentlich‹ bezogen blieben? – Sollte, so ist ernsthaft zu fragen, sich nicht auch unsere ›konkrete‹ phänomenologische Arbeit an der Lebenswelt ›Großstadt‹ daran messen lassen? Wozu dann also diese ›umständlichen Umstände unseres Reflektierens des Reflektierens‹ ? – Mit einem kurzen Satz: Das ist nicht der ›Wesensbegriff‹ unserer existentiellen Phänomenologie. Das ›Wesen der Großstadt‹, um hier nur davon zu sprechen, ist nicht irgendein ›metaphysisch Invariantes‹, eine ›absolute, platonische Idee‹, eine ›unbedingte Substanz‹. Das Wesen ist nicht abstrahiert von diesem oder jenem ›So-Da‹ (von Berlin, München, Paris, London). Oder ein ›begriffenes, ideales Etwas‹, das für uns Phänomenologen schließlich und endlich (irgendwie) ›wissenschaftlich-objektiv‹ bereitläge. ›Etwas‹, von dem aus ›Großstadt‹ nun auch philosophisch ›gründlich sicher‹ begriffen werden könnte (›Ach, das ist das Wesen der Großstadt‹ ?!). – Sondern so: ›das Wesen‹ wird von Anfang an von uns als wirklich ›konstituiert‹. Konstituiert (nicht erfunden) durch unseren phänomenologischen Blick. Konkreter, verwirklicht als eine ›Serie‹ phänomenologischer Hin-sichten. Das also ist die durch uns eingerichtete, durch uns zu verwirklichende Form des phänomenologisch methodischen Schauens. Das ist im Übrigen (wenn man diese Begriffe bemühen möchte) ein ›Sein‹ und ein ›Werden‹ zugleich. Es gestaltet und entfaltet sich als diejenige Qualität, die je unserer reflexiven Reflexion entspricht. Unserem wirklichen, radikalen Reflektieren ›entlang‹ unserer existentiellen Intentionalität. Das und nur das entspricht der uns als letztmöglich ›einsichtigen Wirklichkeit‹ So-Da-zu-sein. 21 Von Anfang an ist das ›wirkliche Wesen der Lebenswelt Großstadt‹ also eine methodische Gestaltung und eine ›Sach-Leistung‹ phänomenologischer Reflexion. Eine phänomenologische Leistung; ein methodisches Entwerfen; eine interpersonale Konstitution! – Es ist weder ›wissenschaftlich objektiv‹ noch (beispielsweise) ›literarisch subjektiv‹ (ein ›ästhetisches Als-ob‹) zu rubrizieren. Es ›zeigt‹ dem Reflektierenden Gestalt, Gestaltung, Vorstellung, die auf ihn selbst, auf seine existentiellen Möglichkeiten ›IntenAuf welche Weise hier die ›Interpersonalität‹ als ›existentielle Gestalt‹ ins Spiel kommt, wird noch zu zeigen sein.

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tionalität‹ zu leben, sich so selbst fassen zu können, zurückweist. Kurz und knapp: Das Wesen der Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert sich phänomenologisch als ein sehr komplexes, existentielles Eingewoben- und Verwoben-sein unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Offensichtlich ein existentielles Potential und zugleich eine philosophische Herausforderung. 22 – Denken wir dem noch ein Stück weit nach. – Unser Blick zielt ganz offensichtlich nicht auf diese oder jene Einzel-Daten einer (bestimmten) Großstadt. Also auf diese oder jene, so oder so aufbereiteten Zahlen, auf ein, wie man sagt, statistisches Material. Beispielsweise, Ausdehnung, Einwohnerzahl, Kaufkraft, Verbrechen oder architektonische Besonderheiten, soziale Brennpunkte, Infrastruktur o. ä. So als wäre unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ eben nur ein besonderer sozial, gesellschaftlich, ökonomisch und architektonisch gestalteter und in diesem Sinne zu entfaltender historischer Lebensraum. – Es gilt stattdessen unseren im Grunde wahrhaftig ›schlichten philosophischen Gedanken‹ konsequent phänomenologisch weiter zu entfalten. Und zwar den phänomenologischen Gedanken, dass die Lebenswelt ›Großstadt‹ wesentlich wirklich unser, d. i. der für uns hier und jetzt ›notwendige Zeit-Raum‹ ist. Uns wirklich und wahrhaftig ›umfassend‹. Wir mögen das wollen oder nicht. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist also unsere uns wesentlich zugehörige existentielle Ortschaft. Kein ›zufälliges, für uns noch veränderbares Da‹. (Im Sinne von: Ich kehre der Großstadt nun endgültig den Rücken und ziehe auf das Land!) Sondern sie ist unsere geradezu ›schicksalhaft notwendige Ortschaft‹ ! Durchaus gedacht mit Blick auf das Mensch-Sein hier und jetzt und in Zukunft! Das ist nicht zu verwechseln mit einem, wie man sagt, ›großstädtischen, urbanen Lebens-Gefühl‹. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist nicht nur eine gelegentliche, möglicherweise für den einen oder anderen sogar selbstverständlich gewordene, immer aber bloß ›faktische‹ Grundierung des Daseins. (›Ich lebe seit einem Jahr in London‹ !) Sondern sie ist für uns alle, wo immer wir uns aufhalten, grundsätzlich die existentielle Vorgabe, hier und jetzt So-Da-zu-sein. Sie ist die wirklich wesentliche Bedingung der Möglichkeit unseres gemeinsamen So-in-der-Welt-seins. – Vgl. dazu Ludwig Landgrebe. »Es ist ja das Bedeutsame und Fruchtbare des phänomenologischen Wesensbegriff, dass er nicht aprioristische Konstruktion besagt, sondern die Forderung in sich schließt, das ganze reiche Material philosophisch fruchtbar werden zu lassen, das die Erfahrungswissenschaften an die Hand geben.« (Phänomenologie und Metaphysik. Hamburg 1949. S. 17.)

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Vergewissern wir uns kurz. Unser phänomenologisches Arbeiten entlang der Intentionalität, also Hinschauen auf unser Hinschauen, Zeigen auf unser Zeigen, unser Beschreiben beschreiben, unser Reflektieren reflektieren, – ist auch philosophisch nicht selbstverständlich. Es ist von uns selbst, immer wieder auf seine Brauchbarkeit für eine Konstitution der ›Philosophie der Großstadt‹ hin zu befragen. Das sind ganz offensichtlich Leistungen, die nicht ein für alle Mal ›sicher‹ auf den Weg gebracht sind. (Wir können uns keinem historisch vorliegenden Gedanken ›ruhig‹ anvertrauen.) Sondern es ist eine unser ›Hinschauen auf unsere Sache‹ stetig begleitende Arbeit. Nicht unserer ›persönlichen Unsicherheit‹, sondern unserer ›Sache‹ geschuldet. Das zwingt uns zu einem ›schwerfälligen‹ Denken ›im Kreis‹. – In unserem phänomenologischen Blick ist also das ›wirkliche Wesen‹, die wesentliche Wirklichkeit der Lebenswelt ›Großstadt‹. Methoden eines ›empirischen Vergleichens‹, einer soziologischen, psychologischen oder historischen Analyse, soviel ist nun klar, reichen dafür nicht. – Unser Aus-Schau-halten nach dem von uns gesuchten wirklichen Wesen braucht die Leistung, das methodische Leisten der ›Wesensschau‹. Das scheint ›spekulativ‹ : – Wesensschau!? Wir folgen damit offensichtlich der phänomenologischen Tradition. Unbestritten: Die Wesensschau ist geradezu das ›phänomenologische Schibboleth‹. Allerdings, und auch das gehört hierher, ist diese von uns als ›verbindlich‹ gesetzte phänomenologische Grundform, um das wenigste zu sagen, wissenschaftlich und philosophisch sehr umstritten. Bezweifelt wird schon die ›theoretische‹ Möglichkeit einer Aussicht auf ›das Wesen‹. Dieses Verfahren eines vorgeblich streng phänomenologischen Arbeitens sei eben kein überprüfbar methodisch wissenschaftliches Leisten. Könne also (eine wissenschaftstheoretische Grundvoraussetzung) in keinem Falle falsifiziert werden. – Lassen wir die einzelnen Auseinandersetzungen um unsere ›phänomenologische Grund-Lage‹ hier aber außen vor. Setzen und entfalten wir ›Wesensschau‹ zunächst direkt praktisch als möglichst einfach ›handhabbares konstitutives Leisten‹. Eine Arbeitsform also, sogar ein (wortwörtlich) Selbstverständnis, das methodisch streng und unermüdlich Ausschau-hält nach der ›wahrnehmbaren‹ philosophischen Bedeutung der uns ›vorliegenden‹, uns ›herausfordernden Dinge‹. 23 Oder noch schlichter: Eine Reihe Ein eigenartiges, aber durchaus zutreffendes Bild bei José Ortega y Gasset; ein Bild, das auch für die phänomenologische Arbeit zutrifft: »Die großen philosophischen Pro-

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von ›willkürlichen‹ Denk- oder Suchbewegungen, mit der Ab-Sicht auf das ausdrücklich für uns begriffen wirklich Wesentliche. – Die ›Entfaltung‹ dieses wenig ›spektakulären‹, wirklichen Wesensbegriffs sollte wohl kaum große Mühe machen! Aber gerade die ›praktische‹ Durchführung zeigt es uns selbst: Leichter (theoretisch) gesagt, als (praktisch) getan. – Diese scheinbar phänomenologisch so ›schlichten praktischen‹ Denkbewegungen (›hin-zu‹) nötigen uns als Erstes zu komplexen Reflexionen. Nämlich zu einer unnachgiebig ›radikalen‹ Gestaltung der ›reflexiven Reflexion‹. Wiederum eben von Anfang an nicht erkenntnistheoretisch abstrakt, sondern existentiell. Wir sind nämlich wirklich durch uns selbst herausgefordert. Und welche Herausforderung könnte sich für uns schon ›herausfordernder‹ gestalten? Gerade das zwingt uns zu dieser nicht zur Ruhe kommenden Radikalität. Herausgefordert sind wir als wirkliches ›Da-in-der-Welt-sein‹. Herausgefordert immer wieder und von Anfang an. Also selbst Selbst-anschauen und selbst Selbst-reflektieren! Diese Wirklichkeiten, die uns existentiell bedrängen, uns philosophisch herausfordern, die zu gestalten uns aufgetragen sind (die Frage allerdings bleibt: von wem?), sind phänomenologisch nicht ein ›Reich der reinen Ideen‹. 24 Im Sinne von rein, absolut, unbedingt, invariant: irgendwie ›jenseits‹ unserer wirklichen Lebenswelt! Wir halten phänomenologisch also nicht Ausschau nach einer ›unbedingten‹, ›ewigen‹, ›platonischen‹ Wahrheit. In unserem Blick sind – wir selbst als ›Da‹ und ›So‹. Eben als wirklich wesentliches und endlich-leibhaftes In-der-Welt-sein, das sich so selbst auffällig wird, sich selbst so herausfordert. – Dieser Gedanke hat uns schon bisher begleitet. Dieser Gedanke

bleme erfordern eine ähnliche Taktik, wie sie die Juden befolgten, um Jericho und seinen inneren Kern einzunehmen; nicht im direkten Angriff, sondern durch allmähliche Einkreisung, mit jedes Mal angezogener Krümmung und dem fortgesetzten Schall dramatischer Posaunenstöße in den Lüften.« (Was ist Philosophie? Gesammelte Werke. Band 5. Stuttgart 1996. S. 317.) 24 Maurice Merleau-Ponty dringt zu Recht darauf: »Wir sehen die Sachen selbst, die Welt ist das, was wir sehen: Formulierungen dieser Art sind Ausdruck eines Glaubens, der dem natürlichen Menschen und dem Philosophen gemeinsam ist, sobald er die Augen öffnet; sie verweisen auf eine Tiefenschicht stummer Meinungen, die unserem Leben inhärent sind. Aber seltsam an diesem Glauben ist, dass wir – sobald wir versuchen, ihn als These oder als Aussage zu formulieren, sobald wir fragen, was dieses Wir, dieses Sehen, das Ding und die Welt sei, – in ein Labyrinth von Schwierigkeiten und Widersprüchen geraten.« (Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 19942. S. 17.)

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IV. Ästhetische Phänomenologie

richtet auch unser weiteres Arbeiten aus. – Unser Anschauen und Reflektieren als Gestaltung ›existentieller Intentionalität‹ verbleibt also ausdrücklich, d. i. wesentlich wirklich in unserer lebensweltlichen Wirklichkeit der Großstadt. Das ist eben nicht nur eine erkenntnistheoretische Frage. Das ist Gestaltung eines fundamentalen, folgenreichen Selbst-Verständnisses. Wir können uns selbst als Dasein nie und nimmer wirklich geltungstheoretisch-abstrakt zurücklassen. Der neuzeitliche Idealismus ist an dieser schlichten Einsicht verzweifelt. Wir selbst sind es, die von Anfang an wesentlich-wirklich uns und unsere ›Welt-Erlebnisse‹ ›reflektieren‹. – Das wird daher zu Recht auch weiterhin unsere Aufmerksamkeit binden. Auf eines haben wir uns aber dabei einzustellen. Die Arbeit reflexiver Reflexion (als Grundleistung der Konstitution des wirklichen Wesens) gestaltet sich phänomenologisch, ob es uns genehm ist oder nicht, als ein ›endloses Geschäft‹. – Das ist, fügen wir hinzu, ausdrücklich kein Mangel. Sondern, wir werden es sehen, eine Stärke. Und ist so ein philosophisches Potential.

IV. Ästhetische Phänomenologie Erinnern wir uns. – Jede philosophische, theologische, sogar jede wissenschaftliche Suchbewegung, radikal reflexiv gefasst, verweist uns auf uns als Da-und-So-in-der-Welt-sein. Das ist nach wie vor in unserem Blick. Wir sehen es also selbst. – Daher gilt uns auch weiterhin Folgendes als nachvollziehbar und begründet: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert uns unser Da-und-So-sein. Wahrnehmen, Reflexion und selbst Selbst-Schauen sind für uns phänomenologisch einander zugeordnet, einander sogar ›verpflichtet‹. – Die Vorlagen für diese reflexiven Reflexionen entwirft eine Phänomenologie, die sich vor allem ›ästhetisch‹ einführt und entfaltet. Also eine ›ästhetische Phänomenologie‹. Das ist nicht bloß irgendeine ›modische‹ Variation phänomenologischen Schauens, Wahrnehmens, Reflektierens. Oder gar ein ›leerer‹ Titel ohne phänomenologische Leistung. Sondern die ›ästhetische Phänomenologie‹ ist wortwörtlich die Grundlage, zeichnet die Grundlinien für unser Arbeiten. Also die notwendige Gestalt der anschaulich fundierten ›phänomenologischen Reflexion‹. – Diese ›ästhetische Phänomenologie‹ entfaltet sich vor allem in erkenntnis- und geltungstheoretischen Fragen, Einstellungen und Vor83 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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lagen. 25 Fassen wir die ›ästhetische Phänomenologie‹ zunächst ganz schlicht als ein wirkliches Wahrnehmen, ein wesentliches Schauen, also ›der Grund‹ für eine reflexive Zuwendung. Oder so, die Gestalt und Gestaltungen, die in einem genauen Wortverständnis ›ästhetisch‹, also sinnlich, leibhaft, wesentlich-wirklich fundiert und ausgerichtet sind. – Die ›Titel‹ ›ästhetisch‹ und ›phänomenologisch‹ werden hier möglichst weit gefasst. Werden vor allem nicht auf diese oder jene der vorliegenden ›Schulmeinungen‹ ausgerichtet und verengt. Nicht einmal begrenzt auf das Fach ›Philosophie‹. Dass uns das traditionelle Fragen nach dem ›Schönen‹ oder dem Wohlgestalteten nicht weiter interessiert, wir es zumindest hier außen vor lassen, ist eigens hervorzuheben. – Denken wir beispielsweise (und um zumindest einen Namen hervorzuheben) an Ernst Jünger! Er hat es ästhetisch und auch phänomenologisch zu einer beeindruckenden Meisterschaft gebracht. – Hierher gehört im Übrigen auch manches, was dem Expressionismus zugeordnet wird. Vor allem in der als ›expressionistisch‹ rubrizierten Literatur finden wir ausdrucksstarke Gestaltungen, existentielle Vorführungen, sinnliche Fassungen, kurz ›ästhetisch-phänomenologische Beschreibungen‹ lebensweltlicher Selbst-Erfahrungen. – Es sind nicht nur als ›ästhetisch‹ (so oder so) anzusprechende, ›bildhafte‹ Einsichten. Sondern eben ästhetisch gestaltete phänomenologische Entwürfe. Also, wirkliche, mehr oder weniger systematisch vorgestellte ›existentielle Reflexionen‹. Wenn auch nicht angelegt als radikale Reflexion der Reflexionen. Aber immer gefasst als wahrhaftig erfahrene, erlittene und in eine dicht anschauliche Form gebrachte Einsichten in ein Da-und-So-inder-Welt-sein. (Ich denke hier beispielsweise an Gottfried Benn). Ob dabei der ›Anspruch der Phänomenologie‹, ›wirklich wesentliches unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ vorzustellen‹, immer ›verwirklicht‹ worden ist, ist für uns zunächst ohne Belang. – Allerdings, und das kann nicht übersehen werden, bewegen wir uns hier diesseits traditioneller philosophischer Vorstellungen. Wir lesen diese ›ästhetischen Betrachtungen‹ also losgelöst von diesen oder jenen (reichlich vorliegenden) philosophischen Kunsttheorien und Ästhetiken. Genauso wenig sehen wir darin, (psychologisierend oder soziologisierend), bloß ›originelle oder Dass dieser ›ästhetische Grund‹ der Phänomenologie wenig Aufmerksamkeit erhält, verwundert mich angesichts einer Philosophie, die überwiegend auf den universitären Betrieb eingestellt ist. Der wirklich wesentlich existentielle Horizont der Philosophie bleibt dabei weitgehend verstellt.

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gar pathologische Spielformen‹ ›Einzelner am Rande der Gesellschaft‹. Also Vorführungen ›krankhafter Muster des modernen Mensch-seins‹ oder ganz außergewöhnliche Werke, die auf ganz außergewöhnliche ›Individuen‹ verweisen. – Sondern stattdessen ganz schlicht: Diese sogenannten ›modernen Kunst-Werke‹ reflektieren für uns unsere ›allgemein‹ existentiellen Erfahrungen der Lebenswelt ›Großstadt‹. Erfahrungen eines uns vertrauten Da-und-So-in-der-Welt-seins. Konkret also: ›wirkliche Reflexionen‹ der existentiellen Zumutungen, Widerfahrnissen, Irritationen, Sehnsüchten, Ängsten, Hoffnungen, Abgründen – kurz, ›die unübersichtlichen Lagen‹, denen sich der moderne Mensch als Da-Sein ausgesetzt findet. 26 In der Kunst der Moderne gewinnt augenscheinlich »tatsächlich das Thema des umstellten Einzelnen an Raum.« 27 – Aber eben nicht nur. Sondern auch so: es sind für uns phänomenologisch ›konstituierte Bild-Räume‹, die eindrücklich (ob sie wollen oder nicht) die wirklichen und möglichen ›Oberflächen‹ der modernen Lebenswelt ›Großstadt‹ entwerfen. Ernst Jünger stellt seiner Schrift ›Das abenteuerliche Herz‹ den Satz voran: »Dies alles gibt es also«. Es sind also Entwürfe unserer existentiell wirklichen LebensWelt-Anzeige. 28 – Das eröffnet, erschließt sich wirklich-wesentlich unserem Blick, unserem phänomenologischen Schauen. Zu Recht lesen wir diese ›ästhetischen Vorlagen‹ also (auch) als phänomenologische Leistungen. Konkret als Herausforderung oder (möglicherweise) als einen konstruktiven Widerspruch unserer reflexiven Reflexion. – So oder so von uns aber immer wahrgenommen als ›Bestätigung‹ unserer Arbeit! Sie geben uns vor allem wirklich phänomenologisch zu schauen. Phänomenologisch abstrakt so: Diese uns wie auch immer vorgestellten ›Bilder‹ sind ausdrückliche, möglicherweise auch ›bloß unwillkürliche‹ Gestalten und willkürliche Gestaltungen einer ›verborgenen‹ existentiellen Intentionalität. – So sind diese Arbeiten auch von uns zu Das darf nicht verwechselt werden mit: Großstadt als ›Genre‹. Ernst Jünger. Der Waldgang. Frankfurt/M 1952. S. 42. 28 Ganz anders der Kunsthistoriker Martin Damus. »Die Kunst hält der Welt keinen Spiegel mehr vor und bietet keine Bilder von ihr feil. Kunst transzendiert nicht mehr das Gegenwärtige, antizipiert nichts Zukünftiges, verweist auf kein Noch-Nicht. Die Welt, das Hier und Heute hat keinen Kontrapart, weder in einem Anders-Sein noch in einem Noch-Nicht, noch in einer Utopie.« (Kunst in der BRD. 1945–1990. Funktionen der Kunst in einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1995. S. 435.) 26 27

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lesen. Als ›ästhetische Reflexionen‹ des verstörten und irritierten ›Großstadt-Menschen‹. Lebenswelt ›Großstadt‹, Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, Stimmung und Reflexion, Existenz und Gemeinschaft sind hier wirklich als wesentlich ›dicht‹ ineinander ›verschoben‹. – Noch ein Hinweis auf etwas, das unter keinen Umständen (auch kunsthistorisch nicht) übersehen werden sollte. Das sind nicht mehr, und das kann gar nicht mehr anders sein, ›schöne‹, gefällige, eingängige ›Bilder‹. Also problemlos nachvollziehbare ›Reflexionen‹ großstädtischen Daseins. Also ›Großstadt-Geschichtchen‹. Im Sinne eines fehlgedeuteten Heinrich Zille. (›Das ist mein Milieu‹). – Das wird uns auch weiterhin herausfordern und nicht mehr loslassen. – Fassen wir es also so: Wir reflektieren nun auch diese ›ästhetisch phänomenologischen Reflexionen‹. Uns interessiert dabei nur ganz am Rande die ›künstlerische Ausführung‹, die ›technische Gestaltung‹ u. ä. Stattdessen reflektieren wir die mehr oder weniger verborgene ›existentielle Einstellung‹ und die (mehr oder weniger verborgene) ›phänomenologische Vorstellung des Schauens‹. Also beispielsweise, die ›Lese-Formen‹, ›Wahrnehmungs-Stile‹, ›Perspektiven‹, ›implizite Deutungsmodelle‹ u. ä. Letztendlich: – das Zusammenspiel von Reflexion und Verzweiflung. Was immer auch im ›reflexiven‹ Blick ist, es sind für uns immer zugleich mehr oder weniger bewusst gesetzte, ›existentielle Selbst-Beschreibungen‹, ›Selbst-Entwürfe. Also ›ästhetische‹ Gestaltungen ›entlang‹ der existentiellen Intentionalität als Da-und-So-inder-Welt-sein‹. 29 – Für den Expressionismus, um noch einmal auf ihn zurückzukommen, ist ›die Großstadt‹, korrelativ der ›GroßstadtMensch‹, schon von vorneherein eine sehr bedrohliche und bedrohte Selbstverständlichkeit. 30 Schon diese Wahrnehmung einer ›existentielAlfred Lorenzer schreibt: »Würden wir das Feld der verschiedenen Künste und präsentativen Symbolbildungen des Menschen abschreiten, dann entfaltete sich allmählich ein Panorama nicht von Gegenständen, sondern von Aspekten der Welterfahrung, der Lebensentwürfe in ›ganzen Situationen‹.« (Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt/M 1984. S. 31.) 30 Wie kaum eine andere ›Bewegung‹ zeigt der Expressionismus (gleichermaßen durch Sujet und Form) den ›großstädtischen Menschen‹ als wesentlich irritiert und perturbiert. Nicht nur diese ›Wirklichkeit des Großstädtischen‹ setzen die Expressionisten beeindruckend ins ›Bild‹, sondern sie ordnen auch die Wahrnehmung der Restbestände der ›Natur‹ von der Lebenswelt ›Großstadt‹ her. Karl Ludwig Schneider verweist beispielsweise auf Georg Heym. Bei ihm zeige sich die dem vormodernen Menschen vertraute Naturverbundenheit »in unheimlicher Fremdheit und Verfratzung, und das Gefühl der Naturverbundenheit ist so stark erschüttert, dass selbst die Stille und Ruhe der 29

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len Selbstverständlichkeit‹ ist phänomenologisch beredt. Mit dem Expressionismus ›empfindet‹ sich das ›moderne‹ Da-in-der-Welt-sein als ausweglos, verzweifelt, bedroht, ›endgültig‹. Es organisiert mit seiner ›Kunst‹ sein Wahrnehmen, seine Reflexion der ›wirklichen Wirklichkeit großstädtischer Lebenswelt‹. – Das so gesetzte Existieren ist also als Kunst-Werk keineswegs eine ›dumpfe‹, ›reflexionslose‹ Selbstempfindung. Ausdruck eines bloß privaten Scheiterns irgendeines Einzelnen, der mit der Welt und sich selbst nicht zu Recht kommt. – Kurz und knapp: Das sind (ausdrücklich) ›unsere ästhetischen Vorlagen‹, die, phänomenologisch gelesen, uns auf uns selbst ›als Da-und-So-in-derWelt-sein‹ verweisen. Unsere wesentlich wirkliche ›existentielle Zerrissenheit‹, wahrgenommen, vorgestellt, ins Bild gesetzt und reflektiert. Das bestimmt (›konstituiert‹) also unser Da-und-So-in-derWelt-sein. Wo immer wir auch ansetzen, das ›gleiche Bild‹. Wir können uns mit unseren ›reflexiven Reflexionen‹ offensichtlich nicht entkommen. Als diese für uns nun ›existentielle Ausweglosigkeit‹ kommt das Wesen der Moderne nun auch ›ästhetisch‹ verdichtet als Lebenswelt ›Großstadt‹ endgültig in unseren Blick.

V. Der phänomenologische Blick Sehen wir an dieser Stelle ruhig noch etwas genauer hin. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ wird phänomenologisch vorgestellt, phänomenologisch ›geschaut‹. Das Schauen ist ausdrücklich eine Gestaltung, sogar das Fundament philosophischer Reflexion. Diese ›philosophische Vorführung‹ (also eine ›Aktivität‹) braucht aber selbst, das entspricht dem phänomenologischen Selbstverständnis, eine philosophische Einführung. – Eine Absicht trägt das Unternehmen der Philosophie bis auf den heutigen Tag. Das ist ein Prozess, Ausdruck einer Gestaltung, eine geradezu beeindruckende historische Kontinuität. Sie erscheint auch systematisch so selbstverständlich gültig, dass es, so wird vorausgesetzt, kaum weiterer Worte bedarf. In einem Satz etwa so: Die Philosophie sei Landschaft als quälender Druck empfunden wird. Landschaft ist hier zum Spiegelungsraum einer Krisenstimmung geworden (…).« (Das Bild der Landschaft bei Georg Heym und Georg Trakl. In: Der deutsche Expressionismus. Formen und Gestalten. Göttingen 19702. S. 54.)

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selbstverständlich, was immer sie in den Blick nimmt, ausgerichtet auf ›Wahrheit‹. ›Wahrheit‹ dabei begriffen als ›unbedingte‹, möglichst ›absolute Gestalt‹ und (neuzeitlich) ›transzendentale Gestaltung‹ ! Selbstverständlich also ein Gedanke der Vernunft! Sich dahin auszustrecken, sich dem verpflichtet wissen, das wird als Stärke der Philosophie, als Ethos eines Philosophen gesehen. Das sei gerade ihr unterscheidendes Merkmal im Vergleich zu sonstigen Formen der ›Weltzuwendung‹. – Man verweist beispielsweise gerne auf die anders bestimmte Einrichtung, die davon grundsätzlich unterschiedene Intention des wissenschaftlichen Arbeitens. Oder auch der Verweis auf unsere ›praktisch‹ angelegten Einsichten, mit denen wir unseren Alltag zu ›bewältigen‹ versuchen. Zumindest, um darauf noch einmal zurückzukommen, diese im Vergleich mit den neuzeitlichen Wissenschaften unterschiedliche Absicht des Philosophierens ist in der Tat kaum zu übersehen. Also wir sprechen von einer ›philosophischen Stärke‹ !? Durchaus! – Diese philosophisch exklusive Intention benennt aber auch zugleich ihre Fragwürdigkeit. Das deutlich zu benennen gehört hierher. Sehen wir also nun auf diese unvergleichliche Eigenart der Logik des Philosophierens phänomenologisch etwas näher hin. Sie berührt nämlich ganz wesentlich unser Vorhaben. – Lassen wir uns phänomenologisch zunächst auf die (auch existentiell) beunruhigende Merkwürdigkeit ein, dass das Philosophieren sogar selbst philosophisch nicht selbstverständlich ist. – Wie immer wir uns also philosophisch positionieren. ›Im Grunde‹ bleibt unser Philosophieren, eine ruheloses, letztendlich systematisches Ausschau-halten (ein ›endliches Unterwegs-sein‹) nach ›möglicher Letztgültigkeit‹ unseres theoretischen Selbst- und Weltverständnisses. 31 Philosophieren ist, zumindest seiner Anlage nach, Reflexion der Reflexion der Reflexion der Reflexion. Ein eigenartig ›dramatisch endloses‹ (vielleicht sogar, und wer könnte das Gegenteil behaupten) ›grundloses‹, möglichweise sogar ›absurdes‹ Geschäft. – Das bleibt auch ›praktisch‹ nicht folgenlos! Wenn wir unser Philosophieren ›sachgerecht‹ so einführen, verbinden wir damit das Eingeständnis, dass wir, die Philosophierenden selbst als Philosophierende, in einer (nicht zuletzt) auch existentiell beunruhigenden ›refle»Wer überhaupt Philosoph im höchsten Sinne werden will, gemäß der platonischen und cartesianischen Idee einer universalen Wissenschaft aus absoluter Rechtfertigung, muss es ursprünglich durch solche Selbstbesinnungen werden, muss es werden auf eigenen Wegen rationaler Selbstgestaltung und Selbsterkenntnis.« (Hua. VIII. S. 3.)

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xiven Vorläufigkeit‹ leben (›müssen‹). Das ist also, das liegt auf der Hand, wirklich keine bloß ›theoretische Frage‹. Sich auf diese Weise philosophisch zu positionieren trifft ganz und gar wesentlich uns selbst. Trifft und betrifft uns als ›diese-hier-So-Da‹. Uns also, die sich unserer eigenen Reflexion der Reflexion nicht entziehen können. – Offensichtlich, so scheint es zumindest mir, ist eines. Offensichtlich, so glaube ich, selbst für jenen, der aus diesen oder jenen Gründen dieser existentiellen Radikalität nicht folgen möchte. Denn dafür braucht es keine wissenschaftlichen Belege, keine metaphysischen Spekulationen, keine angestrengten Reflexionen. – Und zwar braucht das ›philosophische Selbstverständnis‹ selbst, ganz unabhängig von der jeweiligen thematischen Ausrichtung dieser oder jener Gestaltung eine radikal-reflexive, ausdrücklich philosophische Zuwendung. Genauer: Eine existentielle Zuwendung! – Also nicht idealistisch, nicht positivwissenschaftlich ausgerichtet! Wir können, was immer wir wie reflektieren, eben philosophisch nicht von uns selbst als ›diese-hier-wirklichSo-Da‹ absehen. Die philosophische Selbstzuwendung der Philosophie ist immer grundsätzlich eine radikale Reflexion, die ›mich‹ selbst als Dasein mit einführt. Das ist unumgänglich! Das ist notwendig! Die philosophischen Suchbewegungen werden also von Anfang an nicht von einer bloß ›erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Absicht‹ getragen. Sie sind immer im Grunde veranlasst und getrieben durch eine existentielle Irritation des ›verzweifelt-wachen‹ Menschen. – Hier nun ist der philosophische Ort der existentiellen Phänomenologie! Sie ist ausdrücklich existentielle Reflexion der Reflexionen dieser unterschiedlichsten Musterbildungen des Da-in-der-Welt-seins. Beispielsweise, und nur um die bedeutendsten zu nennen (die uns auch hier immer wieder ›kreuzen‹): Der Kunst, der Wissenschaften, der Theologie und selbstverständlich auch der Philosophie selbst. – Aber selbst noch als so radikal Reflektierende verbleiben wir wirklich wirklich ›in‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Das ist von entscheidender Bedeutung. Denn wie immer wir uns philosophisch einstellen und ausrichten und phänomenologisch zu positionieren versuchen. Eine absolut gültige Über-Sicht von einem Ort außerhalb unserer Lebenswelt ist uns wirklich ein für alle Mal verwehrt. Also von Anfang an ist kein ›ideales, unbedingt geltendes Außerhalb‹ in Sicht. – Selbst unsere so radikal aufgelegte ›existentielle Phänomenologie der Großstadt‹ ist, und das kann phänomenologisch gar nicht anders sein, eine Denk- und Suchbewegung eines wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Sie bleibt 89 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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eine wesentlich-wirkliche Reflexion (eine ›gemeinsame Leistung‹ von ›mir‹ und dem ›Leser‹, der ›Leserin‹) und bleibt selbstverständlich ganz ausdrücklich innerhalb unseres wesentlich wirklichen großstädtischmodernen Zeit-Raums. – Diese Einsicht gestaltet nun auch praktisch und konkret unser phänomenologisches Arbeiten. Vor allem bleibt unsere existentielle Phänomenologie als Anschauung und reflexive Reflexion fundiert ›in‹ und ausgerichtet ›auf‹ wesentliche Wirklichkeit unserer Lebenswelt. Das ist nicht etwa meinen ›persönlichen‹ Vorlieben geschuldet. Das umreißt (begreifen wir es so) die ›Logik phänomenologischer reflexiver Reflexion‹. Ein ›methodisch-gebundenes‹, ›unentwegt bewegtes‹ Vorstellen von uns selbst als Da-und-So-in-der-Welt-sein. In unserer Wirklichkeit verunsichert, verzweifelt und doch gerade so Selbst- und Welt-bewusst! – Das ist nun wahrhaftig eine Stärke! Selbst noch als dieses so vorgestellte, mühsame, ›umständliche‹ Arbeiten! Also diese reflexiven Leistungen, anschaulichen Vorführungen in Gestalt unterschiedlichster Beschreibungsreihen mit wechselnden Perspektiven. Phänomenologische Vorstellungen, die sich nicht (mehr) durch die philosophische Tradition, durch wissenschaftliche Vorschriften beschränken lassen. (Das und so und nicht anders ist Philosophie!) – Ausgerichtet und bezogen sind und bleiben wir dabei, der ›phänomenologischen Logik‹ entsprechend, auf ›wirkliche Wesensbilder‹. Zunächst sind das nichts weiter als ›unsere bewegten Bilder‹, die anschaulich reflektiert, immer weiter ›bloß‹ ›bewegte Bilder‹ evozieren. So bleiben uns auch ganz praktisch ausschließlich unsere (Selbst-)Wahrnehmungen, unser Hinschauen und unsere existentielle reflexive Reflexion. Eine, so scheint es problematische ›philosophische Armut‹ ?! – Unser Fundament bleibt das ›Prinzip aller Prinzipien‹. Das phänomenologisch Erste ist also: Hinschauen auf unser wirkliches Hinschauen und sogar Hinschauen auf die mögliche Vielfalt unsers Hinschauens. Die Reflexion des ›phänomenologischen Blicks‹ ist der Grund unseres uns Selbst-Wahrnehmens. Einschließlich unserer phänomenologischen Selbstfassung, Selbstbestimmung, als Da-und-So-in-der-Weltsein. 32 – Von einem dürfen wir auch weiterhin nicht abweichen. WahrNur im Vorbeigehen hier ein Hinweis auf die ›Gestaltkreis-Lehre‹ Viktor von Weizsäckers. Dieter Wyss schreibt: »Wird die Selbstbewegung der Lebewesen, die Verschränkung von Wahrnehmen und Bewegen erkannt, so folgt daraus unweigerlich, dass

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nehmen und Verhalten, Zustände und Bewegungen, Vorstellungen und Weltanschauungen des Daseins werden phänomenologisch nicht ›reflektiert‹, nicht ›entworfen‹ hin auf den als ›wissenschaftlich objektiv‹ gedachten großstädtischen Zeit-Raum. Beispielsweise die jeweiligen durch die Wissenschaften gesetzten, als signifikant geltenden Muster. Also die nun als objektiv gültig eingeführten, so vorgestellten ›Gitter von Raum und Zeit‹. Nennen wir sehr willkürlich (beispielsweise): Planung, Abfolgen, Verwalten, Ordnen; all diese oder jene wirklichen oder auch möglichen Geschichten, ›Mythen‹ (in) großstädtischen Zeit-Räumen. Denken wir dabei an (nennen wir es) ›Ein-Räumungen‹, die soziologisch, psychologisch, historisch abgesichert als typisch ›großstädtisch notwendig‹ gelten. Und weiter. In unserem Blick sind aber nicht nur die so oder so entdeckten, ›faktischen Befindlichkeiten‹ des ›modernen Großstädters‹ dieser oder jener Großstadt. Also diese oder jene ›gefühlten‹, so oder so ›angetragenen‹ Zustände eines ›zufällig historischen‹ So-Da-In-seins. Etwa das ›Lebensgefühl der Berliner in den 20er Jahren‹ ; sein ›Wahlverhalten‹ ; oder diese AufbruchsStimmung der Münchner Moderne (literarisch so oder so dokumentiert); oder ›das oder das sei typisch für die Menschen in New York um 2012‹ ; oder gar ›der Wiener an sich liebe Wein, Weib und Gesang‹. – Kurz, auch hier gestalten wir unser phänomenologisches Arbeiten, unsere reflexive Reflexion, eben nicht als ein bloßes Nachzeichnen oder gar ein sich geltungstheoretisches Stützen auf diese oder jene (empirischen) soziologischen oder psychologischen Vorlagen. – Sondern unser jeweiliges Wahrnehmen, Reflektieren, Schauen der modernen Lebenswelt ›Großstadt‹ selbst, einschließlich der wissenschaftlichen, ästhetischen und philosophischen Vorstellungen, (dabei nie das Prinzip aller Prinzipien aus dem Blick verlierend) ›denken‹ wir phänomenologisch als existentielles Gestalten unseres wesentlich wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Beispielsweise nicht, dass das ›Wiener Lebensgefühl‹ so oder so sei (oder auch nicht), interessiert uns, sondern

eine mechanistische Biologie, die die Lebewesen wie Objekte behandelt, nicht in der Lage ist, lebendiges Geschehen zu verstehen. Mit der Erkenntnis der Selbstbewegung der Lebewesen wird ihre Subjektivität als ein fundamentales neues Prinzip in die Biologie eingeführt. (…). Der Gestaltkreis definiert sich jetzt als die Einheit des Subjekts mit seiner Umwelt, die es durch Bewegen und Wahrnehmen ständig herstellt.« (Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Entwicklung, Probleme, Krisen. Göttingen 19775. S. 306.)

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dass diese Perspektiven, diese ›Hinsichten auf‹ überhaupt so vorgestellt werden können. – So entfaltet sich uns ›die moderne Großstadt‹. Phänomenologisch konstituiert und eingesehen als unsere existentielle Zeit und unser existentieller Raum. Kurz, als unsere uns nun wesentlich wirkliche lebensweltliche Ortschaft. Wir als So-Da-in-dieser-Welt und in keiner anderen mehr. – Das also ist als ›unsere phänomenologische Vorstellung‹ vorzustellen, methodisch zu entfalten und so philosophisch-streng zu fassen und zu sichern. Immer wieder und von Anfang an! – Die Bedenken, die Einwände, die Widersprüche dagegen brauchen sicher nicht lange gesucht, nicht mühsam konstruiert werden. Etwa so: Ist denn wirklich auszuschließen, und die Frage drängt sich nun ›tatsächlich‹ auf, dass unser phänomenologisches Hinschauen-auf ›das Wesen des Wirklichen‹, also der dafür notwendige ›phänomenologische Blick‹, selbst nicht eine bloße Selbsttäuschung ist? Eine dieser willkürlich philosophisch-spekulativen Gestaltungen. (Nicht gerade, wir wissen es, eine Rarität in der Geschichte der Philosophie). Eine Vorstellung also, die sich einer wissenschaftlichen Überprüfung durch eine, sogar offen vorgetragene, ›Immunisierungsstrategie‹ entzieht. Etwa so: ›ich sehe etwas, was Du wissenschaftlich nie in den Blick bekommen kannst‹. – Zweifellos problematisch! Trotzdem bleibt das eine unser Fundament, davon rücken wir auch mit ›guten phänomenologischen Gründen‹ (die es vorzustellen gilt) nicht ab: Die ›Großstadt‹ – als diese von uns phänomenologisch geschaute ›existentielle Gestaltung‹, reflektiert als dieses ›lebensweltlich Phänomen‹, als dieses für uns wesentliche Da und So – ist wissenschaftlich nicht fassbar. – Selbst wenn uns nun das von Seiten unserer Kritiker zugestanden werden sollte, könnte von diesen aber hinzugefügt werden, dass es auch keine, wirklich nicht die geringste Veranlassung gebe, anzunehmen, dass das ausgerechnet philosophisch möglich sein sollte. Man wird uns, nicht ganz zu Unrecht, auf die Geschichte der Philosophie verweisen. Unabhängig davon, und das komme noch verschärfend hinzu, sei grundsätzlich überhaupt zu bezweifeln, dass ein solches Unternehmen überhaupt irgendeinen praktisch-relevanten Sinn ergebe. Kurz und knapp also: es sei ganz und gar fraglich, ob sich diese Mühe, dieser Aufwand überhaupt wissenschaftlich, philosophisch oder lebenspraktisch lohne. Stehen wir denn nicht wahrhaftig vor sozial, gesellschaftlich, politisch drängenderen Fragen? Auch und sogar vor existentiell Herausfordernderem? Schließlich und nicht zuletzt sogar mit Blick auf das Philosophieren selbst? – 92 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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Die Einwände sind nachvollziehbar. – Gestehen wir es uns ein. Auch ein methodisch strengstes phänomenologisches Arbeiten könnte [wohl kaum] einen, in diesem Sinne wissenschaftlich eineindeutigen Begriff, überhaupt ein wissenschaftliches Verständnis der Lebenswelt ›Großstadt‹ vorstellen. Das ist ja ganz offensichtlich eben nicht nur ein bloßes ›Wahrnehmungsproblem‹. Also eine theoretisch zu bewältigende Herausforderung für eine (beispielsweise) angemessenere Erkenntnistheorie; für passendere, wissenschaftlicher ausgerichtete ›strengere‹ Methoden o. ä. – Über all diese Einwände können wir nicht so ohne weiteres hinweg denken. Sie beiseiteschieben! Schon unser eigener Anspruch: eine ›anthropologisch-existentielle Grundlagen-Forschung‹ vorzustellen, lässt es nicht zu. Also sehen wir hier einfach phänomenologisch noch näher hin auf die phänomenologische Ausrichtung unserer Arbeit! Das Erste ist eine bedeutende Einschränkung. Eine ›klare wissenschaftliche‹ Definition, eine eineindeutige Vorstellung der Großstadt liegt nicht in unserer Absicht. Nicht etwa weil ›die Trauben der wissenschaftlichen Erkenntnis‹ uns von vorneherein philosophisch unerreichbar scheinen. Sondern für uns Phänomenologen sind das wirklich-wesentliche Hinschauen, Wahrnehmen, Beschreiben und ein existentiell gerichtetes, fundiertes Reflektieren (eben die reflexive Reflexion) erklärtes Ziel. Das also war und ist ›unser positives Ziel von Anfang an‹. – Unser so Hinschauen rückt uns auch praktisch in die Nähe der Kunst. (Davon wird noch ausführlicher zu sprechen sein). So sprechen wir beispielsweise eben nicht von ›der Großstadt‹ als einem ›technischen oder sozialen Gebilde‹. Beispielsweise einem mehr oder weniger komplexen Ensemble von Häusern, Straßen, Kreuzungen, Plätzen, Bahnhöfen, Flughäfen; oder von dieser oder jener ›großstädtischen Architektur‹ ; also den ›Glasbauten‹, diesem Hochhaus; den neuen Materialien, Formen usw. Das alles wäre ›tatsächlich‹ mit seinen Eigenarten, Besonderheiten, Prinzipien, Funktionen, empirisch, technisch, sozial, – wissenschaftlich – zu beschreiben und historisch und systematisch ›übersichtlich vorzustellen‹. Kurz, es wäre also so in eine wissenschaftlich oder ›philosophisch‹ begriffene Form und ›handhabbare‹ Aussage zu bringen. 33 – Für uns phänomenologisch Reflektierende ist die Großstadt als existentielle Lebenswelt aber unsere uns intentional ›vor-lieDenken wir in diesem Zusammenhang an die Möglichkeit ›Übersicht herzustellen‹ in Form von Stadtplänen (aller Art).

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D Das Wesen schauen

gende‹ Ortschaft. Notwendig also! Also als die existentielle Bedingung Da-und-So-in-der-Welt-zu-sein. Also hier und jetzt so-sein-zu-können und so-sein-zu-müssen. – So sind wir für uns selbst (sicher merkwürdig genug) zugleich auch die existentiellen Zumutungen unseres phänomenologischen Schauens auf unser Schauen. Eigenartige SelbstVorstellungen unserer, für uns so in den Blick kommenden, wesentlich existentiellen Wirklichkeiten. Kurz, wir selbst sind die phänomenologische Herausforderung unserer intentionalen Formen und Formungen, für unser nun auch ›philosophierendes‹ Da-und-So-sein. – Und das alles spielt wirklich wirklich ›vor unseren Augen‹, ›reflektiert‹ wirklich als wesentlich in und mit unserem phänomenologischen Blick.

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I.

Die Moderne

Von hier aus klärt (reflektiert) sich auch die historische Eigenart unserer ›großstädtischen Moderne‹. – Der historische Korridor zwischen ›Neuzeit‹ und ›Moderne‹ wird, um das mindeste zu sagen, sehr unterschiedlich vermessen. 1 Ein Blick in die entsprechende Literatur lässt über die jeweiligen Motive kaum einen Zweifel. Zugrunde gelegt werden also unterschiedlichste ›Zeitbestimmungen‹, von denen aus erst diese oder jene Gestaltungen und Veränderungen des Denkens und Handelns geordnet werden. 2 So gibt es für uns phänomenologisch auch wenig Sinn, sich auf diese Diskussionen der Philosophiegeschichte, der Geschichtswissenschaften, der Wissenschafts- und Kunstgeschichte im Einzelnen einzulassen. – Nehmen wir stattdessen ›die Moderne‹, unserer phänomenologischen Ausgangslage entsprechend, als den ZeitRaum der Lebenswelt ›Großstadt‹. Damit sind wir selbst ›anschaulich begriffen‹ als Da-und-So-in-der-Welt-sein mit in unserem Blick. Dieser Blick auf ›die Moderne‹ reflektiert sich für uns also als existentielle Selbst-Bestimmung, als lebensweltliche Selbst-Verortung. Wir sprechen auch hier ausdrücklich nicht nur von einer Wahrnehmung unseres Alltags-Lebens. Diese unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen, unser Hinschauen auf das wesentlich-wirkliche unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ ist fundiert, in der durch uns so bestimmten Moderne. Wir sind also auch mit unserer reflexiven Reflexion von Anfang an ›praktisch eingelebt‹ in unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. Kurz: Praktisch und theoretisch eingelebt in dieser unserer Lebenswelt. Unser eigenes Da-in-der-Welt-sein mit all den Fragezeichen, WidersprüZ. B. Peter L. Berger. Thomas Luckmann. Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen. Gütersloh 1995. 2 Als ›passend‹ ; ›nicht mehr hierher gehörig‹ ; ›veraltet‹ ; ›stimmig‹ ; ›der Zeit voraus‹ u. ä. 1

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chen, Leerstellen. – Ausdrücklich eben unseren Fragezeichen, unseren Widersprüchen, unseren Leerstellen! Diese so eigenführte ›Moderne‹ ist der für uns selbstverständliche Zeit-Raum. Selbst noch im Widerstreit. Beispielsweise in einer nicht seltenen, theoretisch vorgebrachten oder praktisch gelebten ›Gegnerschaft‹ (denken wir an die unterschiedlichsten zivilisationskritischen Bewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts) bleibt er unser DaseinsHorizont. ›So‹ also leben, denken und ›reflektieren‹ wir wirklich wesentlich. ›So‹ und nicht mehr anders! Kurz, diese lebensweltlich ›gesetzte Moderne‹ ist der existentielle Zeit-Raum, aus dem auch wir Philosophierenden uns nicht wirklich zu lösen vermögen. – ›Die Moderne‹ umreißt, benennt, legt fest und begreift unseren uns gemeinsam notwendigen Lebenskreis. Unser praktisch und theoretisch sich entfaltendes So-Da-zu-sein, innerhalb dessen wir auch selbstverständlich reflektieren, auch wissenschaftlich tätig sind und auch philosophieren. – Da ist beispielsweise unsere Gesellschaft. So-Da mit diesen oder jenen anthropologischen Vorstellungen, wissenschaftlichen Vorlagen, selbstverständlichen Techniken, auch all den möglichen Lebensgestaltungen, Verhaltensweisen, Religionen und Spiritualität, sogar mit philosophischen Perspektiven auf sich selbst u. ä. So ordnen wir lebensweltlich, mehr unwillkürlich als willkürlich, unser Denken und Handeln, unser Welt- und Selbstverständnis. Die von uns so genannte, so selbstverständlich scheinende ›Moderne‹ als unsere existentielle Form, benennt, ordnet, bestimmt in der Regel ganz unspektakulär das Alltägliche. Bestimmt genauso aber auch das uns Un- und Außergewöhnliche, das Auffällige, selten ›Vorkommende‹. Also, die Ausnahmen, auch das Verbotene oder das Gefällige, den Missklang und sogar das Unheimliche. Bestimmt selbst noch das Unmögliche, die Utopie, die Transzendenz, unsere nie verstummende Sehnsucht nach dem ganz ganz Anderen. Nicht die theoretisch vielbesprochene ›Moderne‹, als historisch eingeführter, gesellschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher, ästhetischer oder religiöser Stil ›ermöglicht‹ die Reflexion der Reflexionen. Etwa als mehr oder weniger folgerichtige Fortsetzung neuzeitlicher Aufklärung. Sondern unsere lebensweltliche Moderne ›reflektiert‹ hier und jetzt ganz augenscheinlich als großstädtischer Zeit-Raum. Sie ist die lebensweltliche Ortschaft, die existentielle Sammlung all unserer überhaupt möglichen Befindlichkeiten. Wahrhaftig eine für uns und von uns ›umfassende Bestimmung‹ ! – Und das ist nun ganz in unserer 96 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

I. Die Moderne

phänomenologischen Ordnung. Diese existentielle Reflexion der Reflexionen, das können wir wirklich nicht mehr übersehen, gestaltet sich für uns zu einer zwingenden Form unseres Da-und-So-in-der-Weltseins. Eine existentielle Gestalt und Gestaltung, die uns, ob wir wollen oder nicht, unentwegt ›philosophisch weitertreibt‹. Vor allem immer wieder uns zu uns selbst als wesentlich wirkliches So-Da zwingt. Unser Da-und-So-in-der-Welt-sein zeigt sich uns, für nun alle unsere Lagen, für jedes Verhalten, als der für uns auch philosophisch ›unhinterdenkbar wesentlich wirkliche Grund‹. – Ob das die ›absolute Wahrheit‹ ist, ist für uns phänomenologisch ohne Belang. An dem einen aber halten wir uns auch ›geltungstheoretisch‹ fest. Die existentielle Reflexion der Moderne entdeckt, entfaltet, lebt mit unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Und dieses ›Entdecken‹, ›Entfalten‹ und ›Leben‹ gestaltet sich als ›konstitutive Potenz‹. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist so unlösbar ›existentiell eingefaltet und reflexiv verschränkt‹ mit unserem Da-und-So-inder-Welt-sein. Und wir haben in und mit diesen ›existentiellen Fugen‹ unsere selbstverständlichen Ordnungsmuster. 3 Auch sozial, gesellschaftlich, ökonomisch, sogar ›spirituell‹. – Ein geradezu ›wirklicher transzendentaler Gedanke‹. Wir fassen und beschreiben die Gestaltungen der Lebenswelt ›Großstadt‹, unserer großstädtischen Moderne, durch die existentielle Reflexion der Reflexionen; begreifen sie so mit uns abgestimmt und (folglich) als für uns ›endgültig endlich‹. – Das ist wahrlich nicht wenig! Diese reflexive Reflexion eröffnet den Zeit-Raum der endgültigen Entfaltung abendländischer Existenz. Schauen wir ›es‹ als ›wirklich endgültig‹ aber nicht als ›wirklich absolut‹ ! Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist mit unserer Perspektive geradezu die Erfüllung des ›abendländischen Logos‹. (Sicher anders als es sich die ›großen Logos-Denker‹ vorgestellt hatten). Also, und ohne jede Ironie, – die Lebenswelt ›Großstadt‹ eingeführt als wohl endgültig ›philosophische Zivilisation‹. 4 Dass das Ereignis dieser ›endlichen Endgültigkeit‹, eine ›formale Erschöpfung der Vernunft‹, nicht durch Darwin’sche, also ›biologische Muster‹ ›eingeholt‹ werden kann, sei hier eigens festgehalten. – Es sind vor allem die Kunst-Werke der Moderne, die uns darauf einschwören. Sie bringen sich dadurch selbst Also: die ›Vorlagen‹ für unser uns als selbstverständlich geltendes ›Alltagsleben‹, für ›Normalität‹ ; unser ›alltägliches‹ Verstehen, Denken, Handeln, Ordnen usw. 4 Vgl. Ernst Jünger. Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Sämtliche Werke. Band 9. Stuttgart 19992. S. 87 ff. 3

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E Großstadt Existenz

als konstitutive Selbst-Gestaltung unserer verzweifelten Moderne mit ins Spiel der reflexiven Reflexion. – Auch das sind, um das eigens zu unterstreichen, keine abstrakten Vorstellungen. Sondern phänomenologisch tragende, existentielle Selbst-Bestimmungen, also ›anschauliche‹, reflexive Reflexionen: von uns selbst als endgültig endlich gesetztes Da-und-So-in-der-Welt-sein.

II.

Moderne Großstadt

Diese Moderne ›zeigt‹ sich uns also als Lebenswelt ›Großstadt‹. Schauen wir einfach hin und zu! – Der erste Eindruck der ›Großstadt‹ ist verwirrend. Das ist ein Überwältigtwerden von sehr unterschiedlichen ›Bildern‹, – sichtbar, hörbar, fühlbar. – Lassen wir uns phänomenologisch darauf ein. Also Schauen, Reflektieren und Begreifen! Das drängt sich uns als erstes auf: Begrenzte Einsichten; unvollständige Bilder. Merkwürdig auf den ersten Blick: wir sehen es! Wir wissen um ein fehlendes Ganz-sein. Also: ›Tag aus‹ und ›Tag ein‹, so scheint es uns, nur ›Fragmente von diesem oder jenem‹. Das sind reflektiert ›unsere Fragmente‹, die sich uns wie selbstverständlich unvollständig geben und doch ›irgendwie‹ ineinander-gefugt, widerspenstig und doch sich ergänzend, widersprechend und doch (wie merkwürdig) ›aufs Ganze‹ gesehen zusammen-klingend scheinen. 5 ›So‹ ist unsere Welt! – Also nicht nur ›das Große-Ganze‹ (›der‹ Gott; ›das‹ Gute; ›das‹ Schöne, ›die‹ Wahrheit u. ä.) scheint sich aus unserer Wirklichkeit ›auszuklinken‹. Wahrnehmbar als nicht mehr wahrnehmbar. Auch der natürliche Zusammenhang unserer alltäglichen ›subjektiven Wahrnehmungsmomente‹ löst sich gleichsam vor unseren Augen auf. Schauen wir wiederum nur auf uns selbst! Unsere Zusammenstellung von ›Fragmenten‹ des Wahrnehmens, Vorstellens, Fühlens, Reflektierens zur Lebenswelt ›Großstadt‹ wird zu einer für unser Da-in-der-Welt-sein notwendig praktischen Grundleistung. Das sind, das wundert hier nicht mehr, ausdrücklich nicht bloß erkenntnistheoretische Fragen. Das ›Fragmentarische‹, ›unser‹ Fragmentarisches, bildet unseren Lebensstil, es ist nun ganz und gar unser anthropologisches Grund-Muster. Im Vielleicht im Sinne von Ludwig Landgrebe: »Jeder Widerstreit, jede Negation setzt einen Boden verbleibender Glaubensgewissheit voraus.« (Phänomenologie und Metaphysik. Hamburg 1949. S. 105.)

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Übrigen am eindringlichsten wieder durch die Kunst ›reflektiert‹ und vorgeführt. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹, phänomenologisch so gefasst, ist zugleich unsere Vorlage, unser Zustand, Halt und Bedrängnis. Sie ist, kurz und knapp: ›unser ganzes Leben‹. Sie entzieht sich also, das ist unser beunruhigender Eindruck, ›von Anfang an‹ jeder einfach angelegten, ›geschlossenen philosophischen‹ Theorie. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ darf nun gerade mit dieser Form, als ›allgegenwärtig beunruhigender Grund‹ unseres nicht mehr zur existentiellen Ruhe kommenden Philosophierens nicht aus den Augen verloren werden. – Unsere Hoffnungen, Ängste, Absichten, in Form gebracht als Kunst, Religion und Philosophie, ›reflektieren‹ im Horizont der Lebenswelt ›Großstadt‹. Das ist ausdrücklich nicht nur ein vages Bild. Sondern wir sprechen von einem ›wirklichen Reflektieren‹. Also nicht philosophisch abstrakt, ›ideell‹, modellhaft oder begrifflich-allgemein. Vielmehr ›geschaut‹, ›gespiegelt‹ als sehr konkrete ›Vorführung So-Dazu-sein‹. – Diese ›Reflexionen‹ sind nun phänomenologisch immer noch radikaler, entschiedener, noch existentieller zu reflektieren! Also historisch, methodisch und systematisch rücksichtslos! – Umso verstörender für uns, sogar umso widersinniger, wenn wir uns nun auch noch aus dem als sicher geltenden Halt wissenschaftlicher Vorlagen lösen! – Lassen wir uns nicht von unserem phänomenologischen Selbstverständnis abbringen. Klammern wir im Vertrauen auf unsere existentiell phänomenologische Arbeitsform der ›reflexiven Reflexion‹ auch weiterhin die wissenschaftlichen und selbst noch die uns angetragenen historischen Vorgaben, philosophischen Zusammenfassungen usw., und vor allem die damit verbundenen Geltungs-Ansprüche ein. In diesem Sinne entfalten wir unsere Vorstellungen, unsere ›Schau‹, Schritt für Schritt. Schauen wir also nur immer selbst hin und (vor allem auch) uns selbst zu. – Der Begriff ›Lichtung‹ ist durch Heidegger in das Philosophieren eingeführt worden. Legen wir alle ›verstiegenen‹ Auslegungsmöglichkeiten (und das sind bekanntlich nicht gerade wenige) beiseite. Lesen wir ›Lichtung‹ phänomenologisch einfach als den uns wirklich-wesentlich existentiell fassbaren Bezirk ›Da-sein-zu-können‹. Das ist der als ›wesentlich wirklich‹ durch uns entworfene Horizont der Lebenswelt. Also die Welt-Gestalt, die uns (nicht zuletzt auch ›unwillkürlich‹) fundamental existentiell bestimmt. Wir sind, so scheint es uns nicht nur philosophisch, wie schicksalhaft ›hinein-geworfen‹ und (wem oder was 99 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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auch immer) ausgeliefert! ›Da‹ nun ereignet sich ›notwendig‹ unser ›So-in-der-Welt-sein‹. Nicht und niemals abstrakt! Sondern wesentlich-wirklich. Und – schauen wir phänomenologisch nur genau zu – auch wirklich-wesentlich. In einem Satz: das ist der Horizont, der uns unser Da-Sein als So-Sein zeigt; es ›reflektiert‹; uns unser wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-sein als wesentlich endlich vorführt. 6 Hier ereignen, bestimmen und begrenzen sich unsere existentiellen Wirklichkeiten und ihre wirklichen Möglichkeiten. Einschließlich unseres Sterben-müssens und, möglicherweise, unser Hoffen auf ein ›trotzalledem‹ Weiterleben. Kurz und knapp: So und nicht mehr anders ist unser wesentlich wirkliches Da-Sein. Das bestimmt das Maß (oder macht es zumindest möglich) der für uns phänomenologisch einsichtigen ›existentiellen Wahrhaftigkeit‹. Selbst die Antworten der (natürlich immer möglichen und uns wirklich bedrängenden) Fragen nach Wert oder Unwert eines So-Da-seins (im allgemeinen) oder auch, damit eng verbunden, nach der Geltung dieser oder jener philosophischen, theologischen oder wissenschaftlichen Deutung bleiben für uns eingeklammert. – So haben wir es vereinbart. Nur von diesem uns nun wirklich selbst zugänglichen, existentiellen Grund her entfalten wir unsere Phänomenologie der modernen Großstadt. – Wer ›Großstadt‹ also, wie auch immer, denkt und vorstellt, z. B. kritisch, zustimmend, irritiert, verstört, verängstigt oder wissenschaftlich ›kühl‹, soziologisch, psychologisch, medizinisch oder ästhetisch – denkt und deutet und konstituiert ›unsere Moderne‹. Und, vergessen wir es nicht, reflektiert selbstverständlich sein ›So-Da-Sein‹. Das gilt im Übrigen phänomenologisch nun auch umgekehrt. Das wird uns noch an anderer Stelle ausführlicher beschäftigen. – Selbst die vielbesprochenen, auffälligen (weil ›augenfälligen‹) ›Ungleichzeitigkeiten‹ im So-Da unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ lesen wir als Gestaltungen unserer Moderne. So sind wir Da! – Das ist, um diesen Vorwurf an-

Vgl. dazu auch Ludwig Landgrebe. Welt – so schreibt er – begegnet uns als Inbegriff all unserer »Vorzeichnungen der möglichen Richtungen unseres Erfahrens, als der universale, allumspannende Horizont der Möglichkeiten unseres Erfahrens – wobei Erfahren ganz konkret verstanden sein soll, und nicht etwa nur als gegenständlich auffassendes Verhalten. Dass wir uns immer in Welt seiend finden, das heißt, dass wir uns immer im Besitz eines Universalhorizonts unserer Erfahrungen finden, im Besitz einer typischen Vorzeichnung für jegliches Verhalten in unserem Leben.« (Phänomenologie und Metaphysik. S. 43 f.)

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zusprechen, kein ›Fatalismus‹ ! Schauen wir hier beispielsweise noch einmal auf etwas, das uns von Beginn an begleitet hat. Jede unserer überhaupt möglichen Reflexionen ›reflektiert praktisch existentiell‹ die Lebenswelt ›Großstadt‹. Zeigt also die Möglichkeiten, denen sie selbst zu entsprechen hat. So ist die ›Kunst der Moderne‹ ausnahmslos ›Kunst der Großstadt‹. Genauso wie die ›Literatur der Moderne‹ ›Literatur der Großstadt‹ ist. Oder, und oft genug vergessen, sich das ›religiöse Leben der Moderne‹ als ›großstädtische Religiosität‹ sammelt und reflektiert. – Nun sind ›Großstadt‹ und ›Moderne‹, in dieser ›Allgemeinheit‹ vorgestellt und ›deskriptiv‹ (›phänomenologisch perspektivisch‹) umfasst, alles andere als wissenschaftlich eindeutig fassbare Titel. Das ist uns nicht entgangen. Eher schon scheinen sie in dieser Zusammenstellung unserer konsequent anthropologisch-existentiellen Zuordnung wie vage, sogar abgegriffene ›Größen‹. Wie ›Leerbegriffe‹, die gleich Variablen nun von unterschiedlichen Wissenschaften und Künsten ganz nach Belieben und Bedarf eingesetzt werden können. Nicht selten sogar (man wird auf manche Großstadt-Kritik um das 19. Jahrhundert herum verweisen) mit einer, auch unterschwellig ins Spiel gebrachten, ›emotional-irrationalen Färbung‹. Ganz offensichtlich: Das macht phänomenologisches Arbeiten mit diesen Begriffen (›zu den Sachen selbst‹) gewiss nicht einfacher. – Auch hier tun wir gut daran, uns zunächst nicht auf diese oder jene der vorgebrachten Vorstellungen einzulassen. Uns also nicht auf diesen oder jenen Vortrag, diese oder jene Vorlage (vorgebracht als ›Vorschrift‹) ›philosophisch‹ zu stützen. Stattdessen besinnen wir uns auf Husserls Forderung: uns strikt in ›phänomenologischer Urteilsenthaltung‹ zu üben und wirklich selbst hinzuschauen. – ›Großstadt und Moderne‹ gestalten sich, wie immer wir es uns im Einzelnen vor Augen führen, ganz offensichtlich schon historisch praktisch als ›Verweisungseinheit‹. Also konkret als ein von uns selbst im Alltag gesetztes, gelebtes ›Korrelat‹. Das ›moderne Leben‹ ist ›Großstadt-Leben‹ ! Das ›Großstadt-Leben‹, so sagt man, sei eben ein ›Leben auf der Höhe der Zeit‹ ! Eine ›praktische Vorführung‹, ›alltägliche Gestaltung‹, ›Entfaltung‹ und ›Verdichtung‹ unseres ›modernen‹ Da-undSo-seins. Das scheint so selbstverständlich, scheint uns nun auch philosophisch geradezu als ein ›trivialer Satz‹. Wie eine (beinahe) ›tautologische‹ Zusammenstellung ohne irgendeinen weiter führenden philosophischen Erkenntnisgewinn! – Aber, und das gilt für uns ganz allgemein: vor allem diese zuerst und zumeist als ›fraglos gültig‹, als 101 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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›doch selbstverständlich‹ etikettierten ›Sachlagen‹ geben uns phänomenologisch zu denken. ›Reflektieren‹ wir es phänomenologisch zunächst wiederum so: durch unser ›Hinschauen‹ auf unsere, phänomenologisch uns selbst vor unseren Augen liegenden ›Leistungen‹. Das sind schon der Form nach sehr bemerkenswerte Reflexionen. Die scheinbar so selbstverständlich vorhandenen ›lebensweltlichen Sach-Lagen‹ entdecken wir phänomenologisch reflektiert als unsere ›intentionalen Gestaltungen‹. Das ist ein (eigenartig ›offenes‹) phänomenologisches Entdecken und Einsehen ›entlang‹ unserer existentiellen Intentionalität. – Beispielsweise und ganz willkürlich: Diesen oder jenen Bau-Stil der Großstadt; die großstädtischen Moden; Lärm, Gerüche; auch, und zuerst und zumeist kaum beachtet, unsere (wie auch immer internalisierten) unterschiedlichen Bewegungsmuster, vom ›Überqueren einer Straße‹ bis zum ›Flanieren‹ und ›Shoppen‹ ; oder unsere alltäglichen ›typischen Kommunikationsspiele‹ (einschließlich Formen wie ›flirten‹, ›drohen‹, ›sich abweisend verhalten‹) usw.; kurz, diese durch uns verwirklichten, leibhaft gelebten Netzwerke von Da-und-So-sein. – Trotz allen ganz offensichtlichen, ganz augenscheinlichen Unterschieden (›was hat das schon miteinander zu tun‹ ?) ›reflektiert‹ sich phänomenologisch ein gleiches existentielles Muster. All diese Vorführungen, diese Leistungen (dazu gehören im Übrigen auch die ›Widerfahrnisse‹) ›großstädtischen Lebens‹ ›zeigen‹ sich uns, schauen wir phänomenologisch nur genau zu und verlieren uns selbst dabei nicht aus dem Blick als ineinander gefugte, ineinander gefaltete ›Innen- und Außenhorizonte‹ (geradezu ein ›Drittes‹) wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. 7 Das ist auch auf dem zweiten Blick alles andere als ›selbstverständlich‹. 8 – Nun ein weiterer kleiner Schritt. ›Großstadt und Moderne‹ können, ja müssen, als ›moderne Großstadt‹ und ›großstädtische Moderne‹ auch phänomenologisch ›zusammengelesen‹ werden. Eingeführt, gefasst, begriffen, reflektiert und geschaut als durch uns notwendig gesetztes ›existentielles Korrelat‹. Diese Zusammenstellung ist also für Anregend vorgeführt in dem mehrbändigen Werk von: Max von Boehn. Die Mode. Menschen und Moden im neunzehnten Jahrhundert. Nach Bildern und Blättern der Zeit. München 1919. 8 Karl Bücher anlässlich der ›Ersten Deutschen Städteausstellung‹ in Dresden: »So stellen unsere modernen Städte einen neuen Typus dar (…) dem keine frühere Städteform in unserem Kulturkreis gleicht.« (Zit. Nach: Karin Wilhelm. Detlef Jessen-Klingenberg. Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen. Gütersloh. Berlin 2006. S. 84.) 7

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uns nicht nur ›lebens-praktisch‹ gerechtfertigt. Ohne die Bedeutung dieser von uns alltäglich gelebten Selbstverständlichkeiten klein reden zu wollen, – die phänomenologische Reflexion fasst hier entschiedener, radikaler nach! ›Großstadt‹ und ›Moderne‹ verweisen eben nicht nur irgendwie aufeinander. Das tut so manches andere auch. – Sondern ›moderne Großstadt‹ und ›großstädtische Moderne‹ stellen sich phänomenologisch existentiell reflektiert gegenseitig als wirklich-wesentlich dar. Als wesentlich wirkliche für einander einstehende ›Referenzgrößen‹ ! Das heißt sie ›reflektieren‹ sich wortwörtlich als (›begreifen‹ wir es so) ›wirklich transzendentaler Horizont‹ für unser Existieren hier und jetzt. – An einem dürfen wir hier allerdings nicht nur nicht vorbeisehen. Wir haben es ausdrücklich sogar als Möglichkeit, als Potential konstruktiver Kritik zu entfalten. Das sind und bleiben ›von Anfang an‹ ausschließlich philosophische Fragen. – Das benennt oder bezeichnet nun alle unsere weiteren Hinsichten. Theoretisch und praktisch. Als Aufweis einer von unserer ›phänomenologischen Sache‹ (die Fassung unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins) her geforderten notwendigen Suchbewegung. Also ganz ausdrücklich konstitutiv und kritisch! – Nun können wir eine Einsicht noch deutlicher fassen: ›Die Großstadt‹ als unsere Lebenswelt, ihr wirklich existentielles Wesen, ist durch wissenschaftliche Erklärungen nicht nur nicht verstanden, sie ist als ›unsere existentielle Sache‹ grundsätzlich nicht im wissenschaftlichen Blick. 9 – Die existentielle Reflexion der Lebenswelt ›Großstadt‹ denkt und entfaltet sich daher auch ›implizit‹ (folgerichtig) als ›Kritik der neuzeitlichen Wissenschaften‹. Das ist also eine ›Zuwendung‹ zu den Wissenschaften und ihrem Denkstil, der wir phänomenologisch nicht wirklich ausweichen können. Konkret entfaltet als eine phänomenologische Reflexion der Perspektiven, der Arbeitsformen, der Reflexionen der Wissenschaften. Ausdrücklich aber eine ›Kritik‹ ohne jede Polemik, ohne jeden Gestus der ›theoretischen oder prakti-

Vgl. dazu Tilo Schabert. »In der Analyse ist eine Stadt immer die Stadt der Analyse, die Stadt des Verkehrsplaners oder die Stadt des Juristen, die Stadt des Geographen oder die Stadt des Soziologen oder die Stadt des Historikers oder die Stadt des Ökonomen. Deswegen bleiben auch alle Versuche erfolglos, eine wissenschaftliche und gleichzeitig allgemeine Definition für das Phänomen Stadt zu finden. Wissenschaftlich zerfällt jede Stadt in ›Städte‹. Den Zusammenhang einer Stadt finden wir nur vor und jenseits der wissenschaftlichen Analyse, in der Stadt unserer Anschauung.« (Wie werden Städte regiert? In: Welt der Städte. Hg. T. Schabert. München. Zürich 1991. S. 170.)

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schen Überlegenheit‹. 10 Diese ›Kritik‹ ist die Folge oder der ›Effekt‹ unserer phänomenologischen Besinnung auf die wesentliche Wirklichkeit unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Das ist eine phänomenologische Besinnung (dieses unser sich auf uns selbst als ›Da‹ und ›So‹ schauend besinnen), die nun ganz positiv eine konstitutive Potenz entfaltet. Ganz konkret: das Arbeiten an einem für uns anthropologisch nicht weiter hinter-denkbaren Fundaments Da-in-dieser-Welt-zu-sein. Das ›reflektiert‹ sich selbst-verständlich auch als lebensweltlich bestimmender Horizont, als eine existentielle Einordnung der Wissenschaften. – Auf eines sei hier aber nachdrücklich noch hingewiesen. Wir denken uns die (modernen) Wissenschaften nicht so, als wären sie außerstande, sich selbst differenzierten soziologischen und psychologischen Herausforderungen zu stellen. Als müssten wir die Wissenschaften als Wissenschaften philosophisch erst ›in die rechte Spur setzen‹ oder ›in eine geltungstheoretische Form bringen‹. Ganz im Gegenteil. Einzelwissenschaftliche Untersuchungen, gleich auf welchem Feld, denken wir für uns sogar phänomenologisch ›sinnstiftend‹. – Schauen wir hier nur genau hin. Diese Vorstellungen der Wissenschaften (Methoden, Hypothesen, Thesen) konstituieren sich selbst, gleich ob sie darauf aufmerken oder nicht, als ›reflexive Gebilde eines Da-und-So-in-der-Weltseins‹. Für uns sind es – so eingeführt – phänomenologische Potentiale. Als diese ›reflexiven Gebilde‹ sind sie nämlich ›anthropologische Leitfäden‹ für unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen. Sind also existentielle Vorführungen eines So-in-der-Welt-sein-könnens. Das Dasein, das sich durch seine eigenen ›als objektiv gesetzten‹ Entwürfe ›verstellt‹, sich als wesentlich-wirkliches ›existentielles In-derWelt-sein‹ aus den Augen verloren hat, tritt als notwendig geschautes ›So-Da‹ in den phänomenologischen Blick. Wir erfahren uns jetzt als ein sich selbst ›eigenartig ausgelieferter Entwurf‹. Zuerst und zumeist also den eigenen, als ›objektiv‹ hingenommenen ›Vorstellungen von Welt‹ ausgeliefert. Wir sind ausgestattet, und das ist auf den ersten Blick eigenartig genug, mit der (durchaus ›wesentlichen‹) Möglichkeit sich zu ›verfehlen‹. Auch das sind wir! Die radikal (existentiellen) reflexiven Reflexionen der phänomenologischen Untersuchungsreihen (dieser Vorlagen der Wissenschaften) machen den Blick frei auf uns selbst als Für den, mit Blick auf das neuzeitliche Philosophieren, wahrhaftig kein Anlass besteht.

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intentional gerichtetes Dasein. Also auf uns als selbstbewusstes Daund-So-in-der-Welt-sein; und, davon nicht zu trennen, auf unsere existentielle Gestaltung der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Wo immer wir auch ansetzen. Es bestätigt sich immer wieder. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist phänomenologisch eben nicht nur eine bloß zahlenmäßig große Ansammlung von Menschen, (die mich irgendwie als Masse ›bewegt‹), eine bestimmte Sozialform oder eine profilierte Architektur, eine Ensemble von Häusern, Plätzen, Verkehrsanbindungen; oder ein Angebot unterschiedlichster Dienstleistungen, Gestaltung von Vergnügungen oder ein ›dialektisches Spiel‹ von Gewalt und Ordnung. Nicht ein so und so bebauter, geordneter, gehegter oder unübersichtlicher Groß-Raum. Irgendein beliebiger Zeit-Raum innerhalb dem auch ›massenhaft‹ gelebt, gearbeitet, konsumiert, gefeiert, getrauert, geglaubt und gestorben wird. 11 Ein historisch gewordener Raum neben anderen historisch gewordenen Räumen. – Kurz, eine RaumZeit-Gestaltung, die grundsätzlich (auch historisch) wieder verlassen, wie auch immer also zurückgelassen werden könnte. Sondern die Lebenswelt ›moderne Großstadt‹ ist das existentielle Ereignis in und mit dem sich der ›notwendige‹ Horizont unseres Mensch-seins hier und jetzt vorstellt. Ausdrücklich (wie ich meine) ›endgültig‹ und für uns: nie anders als wesentlich leibhaft wirklich! In einigen Sätzen so verdichtet: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist wirklich wesentlich unser ›Ort‹, die ›existentielle Ortschaft‹, die ›Form‹ und das ›Muster‹ (wie immer wir es auch nennen wollen) für unser ›So-in-der-Welt-sein‹. Das wissenschaftliche und das philosophische ›Wissen‹ eingeschlossen. Damit ist sie also die uns existentiell ganz und gar durchdringende, durchstimmende Wahrnehmungs- und Erkenntnisform, ist unsere als selbstverständlich geltende ›Welt-Anschauung‹. Kurz, ist ›die‹ notwendige Gestalt und ›die‹ Gestaltung des ›modernen Daseins‹. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist für uns, drehen und wenden wir es, wie wir es wollen, ohne irgendeinen sozialen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen, philosophischen und ›existentiellen Ausgang‹. – Etwa nur so: »Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.« (Rainer Maria Rilke. Malte Laurids Brigge. Werke VI. Frankfurt/M 1987. S. 714.)

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III. Großstadt-Reflexionen Das ist, mit unserer ›großen‹ philosophischen Tradition gedacht, sicher nicht ohne Einspruch hinzunehmen. – Um philosophisch also von vorneherein nicht abzuirren, bedarf es noch einiger Anmerkungen. Ausdrücklich: ›Anmerkungen‹! Und zwar so: vorläufig vertiefend und ausdrücklich systematisch ausgerichtet auf die Lebenswelt ›Großstadt‹ als phänomenologisch lesbare Gestalt unseres Daseins. – Die vielbesprochene historische Entfaltung der ›abendländischen‹ Stadt zur modernen Großstadt zeigt sich zunächst, ›historisch augenscheinlich‹, als beeindruckendes Anwachsen von so oder so gestalteten, gedachten (mehr oder weniger) geplanten Siedlungen. Zeigt sich auch, und das ist damit verknüpft, als eine Ausweitung, eine Ausgestaltung oder eine Neuformatierung (von diesem oder jenem) innerhalb einer Ortschaft. Das alles mehr oder weniger aufeinander abgestimmt. Denken wir beispielsweise an Folgendes: einem sich Ausdehnen ›städtischer Anlagen‹ ; oder ein sich Etablieren, Festsetzen politischer oder religiöser Institutionen; oder ›ökonomischer Funktionen‹ ; oder auch ganz neuer sozialer Schichtungen (›Überlagerungen‹); oder ganz schlicht, die Einführung dieser oder jener Formen der Verwaltung; Verkehrsplanung und -anbindung; bestimmte Formen der Architektur u. ä. Was aber zur ›Großstadt‹ drängt, wirklich wesentlich, ist damit nicht einmal angesprochen, um von einer Klärung ganz zu schweigen. – Da sind ›vor-phänomenologisch‹ schon Fragen, die eine Antwort fordern. Nur um einige Beispiele zu nennen: Zwingt die Knappheit der Ressourcen ›Raum‹ und ›Zeit‹ Menschen dazu ›dichter‹ und immer dichter zusammenzurücken? Folgt diese ›Zusammenballung‹, diese ›Verdichtung‹ damit einhergehender ›Vermassung‹, vielleicht sogar einer geradezu natürlichen Notwendigkeit? Sagen wir: die Erfüllung eines genetischen Programms, Ausdruck einer ›Logik der Evolution‹. 12 – Muss also der Mensch mit seinesgleichen schließlich und endlich notwendig auf so ›engem Raum‹ leben? Ein erzwungenes Einanderaushalten! – Aber will er das wirklich? Nicht zuletzt, was macht dieses Zusammenleben auf Dauer mit dem Mensch-Sein? Etwas ›Konstruktives‹ ? Etwas ›Destruktives‹ ? – ›Konstruktiv‹, ›destruktiv‹ für wen oder

Dazu beispielsweise: Teilhard de Chardin. Der Mensch im Kosmos (1959) München 1994.

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was? U. ä. 13 – Lassen wir zumindest hier die naturalistisch-biologistischen, ökonomistischen oder psychoanalytischen Erklärungs-Modelle auf sich beruhen. 14 Halten wir uns auch bei diesen Fragen an das von uns phänomenologisch selbst ›Einsehbare‹. – Also in diesem Sinne dann so: Um 1900 (um nur eine Jahreszahl zu nennen) werden Verhaltensweisen, Lebensmodelle, Vorstellungen, literarisch, psychologisch, soziologisch und philosophisch herausgearbeitet und vorgestellt, die schon klar der Lebenswelt ›Großstadt‹ zugeordnet werden können. 15 Sogar schon in Form einer sehr selbstverständlich vorgebrachten Reflexion großstädtischer Formen, Typen, Einstellungen, Gestalten und Krankheiten. Jedermann scheint auch um die Jahrhundertwende bereits zu wissen, ›was hier die Sache‹ ist. – Denken wir beispielsweise an Sigmund Freud 16 oder Georg Simmel 17. Diese zwei Namen stehen für (auf den ersten Blick) sehr unterschiedliche Formen einer ›Großstadt-Reflexion‹ der Moderne. Lesen wir sie aber beide gleichermaßen als Verfasser von ›Vorlagen‹ (und ›beispielhaft‹) für eine ›neue Literatur-Gattung‹ : Die Großstadt-Literatur. Das ist eine Literatur, die wie selbstverständlich psychoanalytische, soziologische und philosophische Perspektiven umfasst, verdichtet und literarisch neu ›formatiert‹. – Das Nachdenken über diese ›neuen großen Ortschaften‹, ihre Form, Gestaltung, ihre ›Modernität‹, über die Menschen, die, so oder so, in diesen Groß-Städten nun leben, ›den neuen Seelenlandschaften‹ begleitet das 20. Jahrhundert. Eine Literatur, ausgedehnt, vielgestaltig, von einem Einzelnen nicht mehr wirklich zu Historisch auffällig und bemerkenswert ist die Anpassungsfähigkeit von uns Menschen: Physisch, psychisch und sozial. Auf jede Herausforderung der ›äußeren‹ und ›inneren‹ Natur haben wir Menschen (so scheint es uns) eine ›passende Antwort‹ gefunden. Jede dieser ›Antworten‹ verwirklicht Möglichkeiten von Menschen als: ›Wirda-in-unserer-Welt‹. Und hierher gehört sicher auch unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. 14 Beispielsweise: Großstadt als optimales System ›jeweiliges Erbgut‹ ›breit‹ zu streuen; große Auswahl von Sexualpartnern u. ä. 15 Wie eine bittere Karikatur bei Robert Musil: »Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hatte sich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wusste genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagt jeder davon, was ihm passte.« (Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg. S. 55.) 16 Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität. 17 Die Großstädte und das Geistesleben. In: Das Individuum und die Freiheit. Berlin 1984. 13

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fassen und, wie sollte es anders sein, natürlich unterschiedlich in Intention und Qualität. In einem aber kommen diese Schriften (soweit ich sehe) überein. ›Die Großstadt‹ sei jetzt unser, wir mögen wollen oder nicht, unabwendbares Schicksal. – So beschreibt beispielsweise der Soziologe und Philosoph Henry Lefèbvre schon in den 60er Jahren: ›die Verstädterung der Welt‹ als eine unabwendbare, endgültige globale Tendenz. Diese Tendenz wäre ein unleugbares Faktum von weltweiter Gültigkeit! »Die Revolution der Städte ist ein Phänomen, das die ganze Erde erfasst hat.« – Lefèbvre spricht es aus. Er bringt es (auch für uns) auf den Punkt. Die vollständige ›Verstädterung der Erde‹ als unsere wesentlich-wirkliche Wirklichkeit So-Da-zu-sein. Die großstädtischen Lebensmuster als nun ›erdumspannende Totalität‹. 18

IV. Fundamentale Anthropologie Auch historisch, soziologisch und psychologisch ist diese ›Dynamik der Großstadt‹ kaum zu leugnen. Also zunächst und offensichtlich drängend – soziologisch, ökologisch, ökonomisch, psychologisch! Das großstädtische Leben ist aber auch phänomenologisch in uns und um uns herum! Ein existentielles Spiel vor unseren Augen! Es ist ›sichtbar‹ für alle, die es sehen wollen. – Das zwingt uns nun auch unsere phänomenologische Perspektive, unser ›Schauen des Schauens‹ noch deutlicher, noch entschiedener herauszustellen. Wir werden dabei noch einmal auf unsere fundamental-anthropologische Ausrichtung aufmerksam. Das existentiell Wahrhaftige, das die wissenschaftlichen Vorlagen voraussetzen. Schon das mehr oder weniger ›Offensichtlich-vorliegende‹, das auch die Wissenschaften und die Künste interessiert, so oder so vorstellen, verdichten, fördern, ist für uns philosophisch bedeutsam. Nicht

Die Revolution der Städte. (1970) Frankfurt/M 1990. S. 123. Die Unterschiede zu unserer Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ sind aber überdeutlich. Vgl. »Unter verstädterter Gesellschaft verstehen wir (…) eine Gesellschaft, die aus (…) diesem Prozess (der Industrialisierung) hervorgegangen ist und die Agrarproduktion beherrscht und aufbraucht.« (7) »Das virtuelle Objekt ist nichts anderes als eine die ganze Erde umfassende Gesellschaft und die ›Welt-Stadt‹ jenseits einer weltweiten Krisis der Wirklichkeit des Geistes, jenseits der einst unter der Herrschaft des Ackerbaus entstandenen und im Verlauf der Ausweitung von Handel und Industrieprodukten beibehaltenen Grenzen.« (23 ff.)

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zuletzt interessiert uns selbstverständlich dieses Interesse der Wissenschaften und der Künste selbst. – Aber das alles stellt (obwohl bedeutsam, anthropologisch interessant) noch nicht das von uns gesuchte ›wirkliche Wesen‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Die für uns phänomenologisch entscheidende, die auf das wirklich Wesentliche gerichtete Frage bleibt so (trotz des nicht geringen reflexiven Aufwands) noch ungefragt. Und zwar: die nach den ›existentiell-wirklichen Bedingungen‹ dieser für uns sogenannten ›modernen Lebenswelt‹. Zu fragen ist konkret nach der Lebenswelt ›Großstadt‹ als unsere existentielle Lage; als unser wesentlich-wirklicher Zeit-Raum. Also das Fragen nach unserem ›Wir-ausschließlich-so-da‹ als Da-und-So-in-dieser-Welt. ›Wir‹, die wir, und davon gehen wir phänomenologisch aus, wo immer wir auch sind, nur noch ›da‹ und ›so‹ zu existieren vermögen. ›So‹ und nicht mehr anders! – Das braucht eine existentiell noch umfassendere, noch eingehendere anthropologische Entfaltung. – Eines haben wir von Anfang an festgelegt. Festgelegt und bestimmt, weil wir es selbst gesehen haben. Das von uns ›anschaulich‹ so Vorgestellte, einschließlich unseres Da-und-So-Seins, entwirft sich, ganz unabhängig von diesen oder jenen Inhalten, als konsequente, als radikale Entfaltung des phänomenologischen Gedankens der reflexiven Reflexion der Existenz. Daran kann für uns an dieser Stelle der Arbeit kaum ernsthaft noch ein Zweifel bestehen. – Das hat philosophisch theoretisch und praktisch weitreichende Konsequenzen! Eine Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ ist, diesen Gedanken ernst genommen, zugleich und von Anfang an (also unausweichlich) eine ›philosophische Einführung‹ in die ›Ortschaft fundamentaler Anthropologie‹. Also gerade das, was Husserl mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen hatte. So ist also, lesen wir diese Denkfigur ganz wörtlich, unsere ›reflexive Reflexion der Großstadt‹ als ein uns selbst ›endlich fundamental‹ als Da-und-So-in-der-Welt-sein vor Augen führen. Ausdrücklich ›leibhaft wirklich uns selbst‹ ! Also ›uns selbst‹ als wesentlich-wirklich und wirklich-wesentlich! – Sogar radikal so (und das hat sich uns immer wieder aufgedrängt), dass diese ›phänomenologische Reflexion‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ uns auch allgemein in die endgültige Ortschaft des Mensch-seins einführt. So kann es uns scheinen, als ob dieses ›Spiel‹, wir mögen uns dagegen wehren oder nicht, nun wirklich die Vollendung ›abendländischer Anlagen‹ einführt. – Kurz und knapp: Die ›Lebenswelt‹ Großstadt ist der phänomenologische Leitfaden der 109 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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wirklich wesentlichen Selbstwahrnehmung unseres Da-Seins. 19 – Das Deskriptive und das Normative lassen sich phänomenologisch (anthropologisch) als Da-So In-der-Welt-sein praktisch nicht mehr voneinander trennen. Das bestimmt nun auch unsere weiteren phänomenologischen Einsichten in unsere ›innere‹ und ›äußere‹ Lebenswelt. Sie ist in dieser ›anthropologisch existentiellen‹ Form der Horizont unseres Denkens; ist die wirklich wesentliche Bedingung unserer Reflexion. Und ›stellt‹ (das kann uns nicht mehr überraschen) auch die Möglichkeiten unseres Handelns, unserer Praxis. – Das alles kann uns deswegen nicht mehr verwundern: weil wir es selbst wahrgenommen, (wortwörtlich) erfahren haben. Wir haben uns selbst ›selbst reflektiert‹. Wo immer unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen bisher auch eingesetzt hat, – sie durchbricht ihren ›Einsatz-Ort‹ auf uns. Ohne Abstriche: auf ›uns‹ ! Auf uns, die wirklich Philosophierenden, auf uns, die wir in dieser Welt leben, denken, handeln, unsere Herkunft und unser Auskommen haben und ›dementsprechend‹ philosophieren. Wir sind ›SoDa‹, – da in dieser Welt und eben in keiner anderen (mehr)! – Beschreiben wir es so: Jede wirklich radikale Philosophie gestaltet sich oder auch ›scheint im Grunde auf‹, als ›phänomenologische Existenzphilosophie‹. 20 Lassen wir alle philosophiehistorisch möglichen Konnotationen außen vor. ›Ich selbst‹ liege nicht vor; bin nicht ›vorhanden‹ wie ein Ding, ein bloßes Weltstück. ›Ich bin immer da‹ als Da-und-So-in-derWelt-sein. Vorgestellt als ein Geflecht von Wahrnehmungen, Erfahrungen, Einsichten, Widerfahrnissen, Handlungen, Bezügen u. v. m. (Von uns selbst so benannt und unterschieden). Das sind nun, ich mag darauf aufmerken oder nicht, unsere mir selbstverständlichen Bestimmungen und Begrenzungen. Bestimmungen und Begrenzungen ausdrücklich auch für unsere unterschiedlichen Reflexionen. – Von Anfang an also schauen wir selbst ›hin‹, schauen hin und eben nicht Die ›existentielle Phänomenologie der Großstadt‹ ist damit die Bedingung der Möglichkeit für jede Anthropologie; kurz, sie ist wahrhaftig ›Fundamental-Anthropologie‹. 20 Es brauche eben, so Paul Ricœur, eine ›reflexive Methode‹, die das menschliche Handeln im Ganzen in den Blick nimmt, d. h. »das Streben nach Existenz, dem Wunsch nach Sein, das diesem Wunsch gleichursprünglich ist, wie auch die vielfältigen Vermittlungen, durch die hindurch der Mensch sich die ursprüngliche Setzung, die seinem Wunsch zugrunde liegt, wiederanzueignen versucht.« (Hermeneutik und Psychoanalyse. München 1974. S. 62.) 19

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zuletzt auf unser ›Hin-schauen‹ selbst. Das ist ein Wahrnehmen, Schauen und Reflektieren wahrhaftig in Fülle. Immer aber entlang unserer existentiellen Intentionalität. – Wir haben also ›in jedem Falle‹ wahrlich genug wahrzunehmen, zu schauen und zu reflektieren! – Das sind nun ›phänomenologische Zuwendungen‹, konstitutive Akte, vor jeder philosophischen Trennung in ›Subjekt‹ und ›Objekt‹. Diese und ähnliche ›Trennungen‹, welche Gründe auch immer dafür angegeben werden, sind ein ›willkürliches‹ Auseinanderreißen einer (nennen wir es) existentiellen Fuge, eines wirklich wesentlichen Korrelats. ›Etwas‹, das nicht unabhängig voneinander wirklich wirklich ist. Und auseinandergerissen bloße ›philosophische Kopfgeburten‹ bleibt. Sich nun aber (und auch das ist wahr) in diesem ›Zusammenspiel‹ einer nicht zur Ruhe kommenden ›Bewegung‹ nur schwer auf den Begriff bringen lässt. Das ist im Übrigen auch der Grund und das Ergebnis der in der philosophischen Tradition so verbreiteten idealistischen oder naturalistischen ›Reduktion‹. Gleich also ob diese oder jene Reduktion, es wird in jedem Falle an unserer ›wirklichen Wirklichkeit‹ vorbeigedacht. Das gilt unabhängig davon, wieweit sie irgendeinen ›wissenschaftlich Sinn‹ (Sinn ›für‹ diese oder jene Wissenschaft) geben oder nicht. Auf den Punkt: Wer es sehen will, kann es sehen! Unser uns wesentlich-wirklich zugehöriges Da-Sein (›dein wirkliches‹ und ›mein wirkliches‹) kann praktisch-existentiell weder biologistisch-naturalistisch noch idealistisch ›aufgehoben‹ oder ›verengt‹ werden. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹, als unser Da-und-So-in-der-Welt-sein, ist nun auch der ›wesentlich wirkliche Ort‹, ist die ›existentielle Ortschaft‹ unserer phänomenologischen Reflexionen. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist unser gemeinsamer, wirklicher Grund für diese unsere ›wesentlichen‹ anthropologischen Einsichten! ›Wohin sollte ich mich denn sonst noch wenden‹ ? Darüber kommen wir also in keinem Falle hinweg. Das eine ›ist‹ nicht wirklich ohne das andere. Das ist von uns selbst systematisch und historisch wirklich zu ›schauen‹. Dieses phänomenologische ›Selbst-Selbst-Erfahren‹ reflektiert sich als historische und systematische Einsicht in unser Da-undSo-in-der-Welt-sein. – Denken wir, um es uns zu illustrieren, beispielsweise noch einmal an die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Da formieren sich willkürlich und unwillkürlich die ›modernen‹ Formen großstädtischen Daseins. Also diese uns so vertraute ›großstädtische‹ Welt- und Selbst-Anschauung. Etwa: ein entsprechendes Raum- und 111 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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Zeitbewusstsein, Gestaltungen einer eigenen Ästhetik, Vorstellungen von Normalität und Krank-sein u. ä. 21 Vor allem, und damit immer verbunden, ein großstädtisches Selbst-Verständnis. 22 Das ›spiegelt‹ sich in der Kunst, der Literatur und (nicht zu vergessen) den ›psychoanalytischen Reflexionen‹. Diese Konstitution des ›modernen Selbst‹ ist fundiert in der Wirklichkeit der Lebenswelt ›Großstadt‹ und einer vorgezeichneten Möglichkeit nun ›so‹ wesentlich Da-zu-Sein. 23 Das zeichnet im Übrigen auch den endgültigen Bruch mit der Neuzeit. – Wir sind also wie selbstverständlich ›eingefugt‹ und zuerst und zumeist fraglos ›eingelebt‹ in diese unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. Unser Daund-So-in-der-Welt-sein. In diese uns wesentlich zugehörige Lebenswelt und eben in keine andere mehr. Das bestimmt nun auch, zuerst und zumeist kaum beachtet, unsere uns verbindende Zeitgenossenschaft. Unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ auch als Grund und Gestaltung der ›Interpersonalität‹. – Wir rennen hier, so scheint es zumindest, offene Türen ein. Ein Blick in die (nicht nur wissenschaftliche) Literatur bestätigt es. Und, fügen wir hinzu, auch phänomenologisch ›reflektieren‹ wir offensichtlich etwas für uns ganz und gar Selbstverständliches. Aber schauen wir trotzdem sogar gerade deswegen etwas genauer hin. – An einem aber lassen wir uns nicht mehr irre machen. Unsere existentielle Reflexion der Reflexionen wird es immer wieder bestätigen. Die Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ ist kein exklusives oder gar abwegiges, philosophisches Sonderthema. Sie hebt die für uns bedeutsame ›anthropologische Weite‹, ein existentiell wirklich Umfassendes, kurz, etwas philosophisch sehr Grundsätzliches und Grundlegendes in den phänomenologischen Blick. – Die Phänomenologie der Lebenswelt ›GroßDenken wir hier vor allem an die ›expressionistische Lyrik‹. Vgl. dazu: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Neu herausgegeben von Kurt Pinthus. 22 Vgl. z. B. Ludwig Binswanger. »Wenn wir uns klarmachen, dass die Individualität ist und nur sein kann, was die Welt ›als die ihre‹ ist, so müssen wir einsehen, dass jene empirische Induktion nur möglich ist auf Grund eines vorgegebenen Wesensverhältnis von Raum-Erleben und erlebten Raum, wonach nicht der Raum des Erleben induziert, noch das Erleben den Raum, vielmehr beide, Erlebnisform und Raumgestalt, nur die beiden Pole einer noetisch-noematischen Einheit darstellen.« (Das Raumproblem in der Psychopathologie. In: Vorträge und Aufsätze. Ausgewählte Werke. Band 3. S. 158.) 23 Aber auch das denken wir phänomenologisch ›schlicht‹ : und zwar als eine notwendige Entfaltung ›existentieller Anlagen‹. Dazu auch Charles Taylor. Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/M 1996. 21

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stadt‹ ist wirklich eine fundamentale Gestalt (genauer ›Gestaltung‹) phänomenologischer Anthropologie! Damit ist sie ausdrücklich eine (nach wie vor nötige) Entfaltung wesentlicher Fragen abendländischen Philosophierens. Mögen die philosophischen Moden sein, wie immer sie wollen! In und mit dieser existentiell-anthropologischen ArbeitsForm ›vertiefen‹ sich unsere Vorstellungen. Sie wurzeln sich systematisch und historisch ein in die Geschichte der Reflexion. – Wir sind verbunden mit der philosophischen Tradition und doch eigenartigerweise von ihr getrennt. Die historischen Vorlagen werden nämlich ›von uns‹ ›selbstverständlich‹ systematisch ›für uns‹ gewendet und ›verwirklicht‹. Das kann phänomenologisch gar nicht anders sein. Unser phänomenologischer Blick, diese existentielle Form reflexiver Reflexion, sucht unser ›wirklich wesentliches Da-und-So‹. Ausdrücklich das für uns ›wesentlich Wirkliche‹ ! Nicht aber in einem, weit genug gefassten, ›platonischen‹ Sinne. Sondern dieser Blick selbst ist schon als unser ›reflexiv geordnetes Hinschauen‹ phänomenologisch ein konstitutiver Akt der ›Selbst-Verwirklichung hier und jetzt‹. Und so eine anthropologische Leistung der Herstellung der Wirklichkeit des Wesentlichen und des Wesentlichen der Wirklichkeit. 24 Ich selbst als ›Wir-Soda-in-dieser-Welt‹ ! Der Kreis schließt sich. – Schon unsere phänomenologischen Begriffe verweisen aufeinander und ›zeigen‹ es. Nur ganz nebenbei: Das sind unsere ›wirklichen Werkzeuge‹, die als ›praktisches Arbeitszeug‹ selbst fortlaufend modifiziert und so reflexiv in Arbeit bleiben. Sie ›zeigen‹ also unsere reflexiv notwendige Selbst-Repräsentanz, unsere wesentliche Selbst-Bestimmung als Selbst-Verortung. Wieder kurz und knapp, das und so sind unsere ›existentiell-wesentlichen Vorführungen‹. – Im Übrigen ist zumindest diese existentielle Intention auf das ›wirklich Wesentliche‹ und ›wesentlich Wirkliche‹ den oft auch methodisch sehr eigensinnigen phänomenologischen Arbeiten gemeinsam. – In unserem phänomenologischem Blick ist also die Entdeckung, Beschreibung und die philosophische Fassung des ›wirklich existentiellen Wesens‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Das ist für uns ausdrücklich

Dieses phänomenologische Fragen nach dem wirklich Wesentlichen (dem Wesen) wird zunehmend auch im Namen der Philosophie perhorresziert. Die ›universitäre Philosophie‹ folgt dabei, ausdrücklich oder implizit, dem Wissenschaftsbetrieb. Der Wissenschaftsbetrieb legt fest, was ›sinnvoll‹, ›brauchbar‹, vernünftig‹, ›wertvoll‹ ist. Diese Festlegung entscheidet über Ansehen, Stellen und Gelder.

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eine Gestaltung unserer wirklichen Wirklichkeit Da-in-der-Welt-zusein. Genauer, notwendig wirklich So-Da-zu-sein! Das ist also alles andere als ein Entwurf einer ›idealen‹ Sonder- oder metaphysischen ›Hinter-Welt‹. Oder ein Ausschauhalten nach einer ›absoluten Ideenwelt‹ ›jenseits‹ unseres wesentlich wirklichen großstädtischen Da-undSo-in-der-Welt-seins. – Das ist immer deutlicher und unmissverständlicher herauszustellen. Wir denken die existentielle Phänomenologie als ›Philosophie der wirklichen Moderne‹. Eine ›Wirklichkeit‹, die sich uns als ›unsere nun mehr einzig mögliche Ortschaft‹ zeigt. (Gleich, ob wir es bejahen, uns verweigern, Kritik üben, nach Utopien Ausschau halten oder was auch immer). – Unsere existentielle Phänomenologie entfaltet sich also als ein wirkliches anthropologisches Philosophieren; ein Philosophieren, das aus existentiellem Grunde, sowohl den Naturalismus und Positivismus als auch jeden Idealismus zurücklässt. 25 –

V. Existentielle Reflexion der Reflexionen Das alles also soll eine ›existentielle Phänomenologie‹ als fundamentale Anthropologie leisten. Vor allem aber: eine wesentlich wirkliche Vorstellung einer Philosophie der Lebenswelt ›Großstadt‹ einführen! Ausdrücklich unsere Absicht, unser Anspruch: eine theoretisch und praktisch bedeutsame existentielle Reflexion als philosophische Fassung unserer ›Ortschaft‹ ! Das ist offensichtlich der Versuch einer sehr grundsätzlichen phänomenologischen Ordnung des Welt- und SelbstVerständnisses. Kurz: Ein nicht gerade bescheiden klingender Anspruch eine (anthropologischen) Grundlagen-Forschung vorzulegen. – Da sind von Anfang an Einwände möglich. Wirklich ernstzunehmende wissenschaftliche und auch philosophische Bedenken. Beginnen wir so: Eine moderne Großstadt, so wird man beispielsweise sagen, kann Plätze, Straßen, Bahnhöfe, Flughäfen, Hotels, Kaufhäuser, Banken, Verwaltungsgebäude, Parkhäuser, natürlich auch Wohnviertel, Schulen, Universitäten, Denkmäler, Museen und Kirchen ›haben‹. 26

Zu Recht schreibt Karl Jaspers: »Trotzdem Positivismus und Idealismus sich heftig befehden, stehen sie auf derselben Ebene: Im Verabsolutieren der sich ihnen schließenden Weltorientierung sehen sie Philosophie.« (Philosophie I. Philosophische Weltorientierung. Berlin. Göttingen. Heidelberg 1956. S. 213.) 26 Die Kirchen möglicherweise nur noch als wahrgenommene ›Erinnerungsräume‹. – 25

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Das alles lässt sich – auf die eine oder andere Art – in einen ›anthropologischen‹ Zusammenhang (etwa im Blick auf die Bedürfnisse, die sozialen, gesellschaftlichen Herausforderungen) bringen und so oder so wissenschaftlich untersuchen. – Gibt es aber im Denken dieser ›wissenschaftlichen Gedanken‹, im Gestalten, im Zurechtlegen der dafür benötigten Wahrnehmungen oder selbst im ›alltäglichen Verwirklichen‹ der wissenschaftlichen Selbst-Auffassungen ›etwas‹, das hier eine eigene, darüber hinausliegende philosophische Zuwendung überhaupt möglich macht? 27 – Variieren wir diese kritische Frage, verdichten und ›verbreitern‹ wir sie etwas: Gibt es überhaupt eine wesentliche, notwendig philosophische Form anthropologischer Selbst-Bestimmung, Selbst-Reflexion des großstädtischen Daseins? ›Etwas‹, das sich nicht in einem (›modernen‹, literarisch sehr verbreiteten) historischen, ästhetischen, allgemein feuilletonistischen Nachdenken über die ›großen Städte‹, die ›Mega-Cities‹ verliert? Also dieses heute sehr verbreitete, sich so oder so (besorgt oder optimistisch) ›auslassen‹ über die Kultur oder Zivilisation der Moderne. Etwa dem ›Blühen‹ oder dem ›Niedergang‹ der großen, großen Städte und das, was es mit dem Menschen ›macht‹. Das alles wird, da werden wir schnell fündig, vorgetragen auch in einer eher populär zu nennenden Form. Denken wir beispielsweise an diese eher ›journalistischen‹ Hinweise auf Chancen, Gefahren, auf die Krisen eines Lebens in der Großstadt. – Um hier nicht miss-verstanden zu werden: Man kann selbstverständlich berechtigt und begründet in diesen Formen von einer ›Soziologie‹ der Großstadt, des Großstadt-Lebens sprechen. – Oder auch (populär oder wissenschaftlich) Theorie und Geschichte der großstädtischen Architektur vorstellen; oder auf diese Weise auch das Wirtschaftsleben, die Religion oder die Kunst in der Großstadt auf den Begriff zu bringen versuchen. Und an diesen Vorstellungen ist wahrlich kein Mangel. Das ist sogar mit allem Nachdruck zu begrüßen. – Wie auch immer im Einzelnen. Ganz offensichtlich ist aber dies und darüber geraten wir sicher in keinen Streit: Die ›Welt der Großstadt‹, ›das Großstädtische‹, ›wir Großstädter‹ selbst, unser ›Leben, Denken, Verhalten und Handeln‹, unser So-Sein wird nicht nur intensiv erforscht und kritisch vorgestellt, sonAber auch das gehört (als Einstellung, als Möglichkeit) nun zu unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. 27 Damit wäre noch nicht entschieden, ob eine solche ›philosophische Zuwendung‹ überhaupt ›gebraucht‹ wird.

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dern auch ganz allgemein als besondere ›anthropologische Form‹ gezeigt, journalistisch und literarisch (ästhetisch ansprechend) ›bebildert‹. Es ist auch gerade so als Vorführung moderner Wirklichkeiten in unserem Blick. – Daher also noch einmal: ›Was‹ bleibt vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichsten Vorstellungen überhaupt noch für eine ›Phänomenologie der Großstadt‹ ? ›Was‹ bedenkt sie ›eigensinnig philosophisch‹ vor diesem wissenschaftlich, literarisch und ästhetisch schon so dicht vermessenen Hintergrund? – An Einem halten wir auch weiterhin (wie von Beginn an) fest. Eine bloße ›empirisch‹ festgemachte Beschreibung, gleich ob wissenschaftlich, ästhetisch, journalistisch, kann für uns weder philosophischer Grund noch philosophisches Ziel sein. Darauf lassen wir uns nicht ein. – Gerade deswegen sind wir besonders gefordert, uns und unser Schauen (auch auf diese Vorstellungen) immer wieder und immer wieder ›von Anfang‹ an systematisch einzuführen. Wir halten uns also phänomenologisch auch weiterhin wirklich an uns selbst! – Aber wie wir uns nun auch drehen und wenden. Es bleibt dabei: Es erheben sich ›von Anfang‹ an nicht nur wissenschaftliche, sondern eben auch philosophische Bedenken. Und ›Kritiken‹ oder ›Einwände‹, die aus den (sogenannten) ›eigenen Reihen‹ kommen, sollten besondere Beachtung bei uns finden. So will es auch zu Recht die philosophische Tradition. – Beispielsweise: eine Kritik an unserer eher ›formal‹ scheinenden Arbeitsgestalt der reflexiven Reflexion oder an unserem Begriff, unserer Fassung der Phänomenologie. Also dass wir den Titel ›Phänomenologie‹ ausdrücklich und ausschließlich anthropologisch und existentiell ›gerichtet‹ eingesetzt haben. Die Folge sei, so könnte eingewandt werden, eine anthropologische Verengung des Philosophierens. Sogar eine Gestaltung eines verhängnisvollen Relativismus. Und damit werde die Phänomenologie geradezu grundsätzlich als ›Geltungstheorie‹ verdorben! Also doch wohl ganz und gar das Gegenteil von dem, was Husserl und sein Schülerkreis beabsichtigten. – Dieses sich Sorgen um die ›philosophische Weite‹, den ›phänomenologischen Geltungs-Begriff‹, also den ›philosophisch unbedingten Grund‹, soll auf keinen Fall leichtfertig übergangen werden. Schon allein nicht, weil dieser Gedanke uns selbst umtreibt. Allerdings nun ›existentiell wesentlich wirklich‹ ! Das alles braucht tatsächlich Antworten. Lassen wir diese Sorge aber an dieser Stelle noch auf sich beruhen. – Schauen wir stattdessen einfach weiterhin konsequent auf uns selbst. In unserem Blick aber auch die uns vor allem durch die Wissen116 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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schaften selbst oder durch die Kunst vorgestellten ›Gedanken‹, die wir ›nach-denken‹. Mit dabei immer diese oder jene Ansprüche, diese oder jene nicht eigens benannten ›Modi‹. In den Wissenschaften selbst, im Kunst-schaffen, mag darauf eigens aufgemerkt werden oder nicht. – Wie auch immer. All das ist uns nichts wirklich Fremdes. Diese Sehweisen, Perspektiven, Vorstellungen sind mehr oder weniger deutlich ›in‹ und ›mit‹ uns präsent; und sind es, merken wir jetzt auf, zumeist wie selbstverständlich. 28 – Vor allem aber sind sie ›lebensweltlich praktisch wirksam‹. Besonders bemerkenswert dabei ist, dass sie zuerst und zumeist, wie es uns scheint, ganz ›unwillkürlich‹ wirksam werden. Sie zeigen sich uns mit ihren Konsequenzen, ihren ›Auswirkungen‹, – zeigen sich, ob wir es wollen oder nicht! – Die Phänomenologie, ›unser systematisches Philosophieren‹, schaut nun auch an diesem ›alltäglichen unwillkürlichen Vorstellen-von‹ nicht mehr vorbei. Sie ›reflektiert‹ diese uns (zuerst und zumeist) so ›selbstverständlich scheinenden Gedanken‹, diese ›Bilder‹, ›Formen‹, ›Stile‹ mitsamt den ›Auswirklungen‹ als unserer Wirklichkeit konstitutiv zugehörend. Also beispielsweise: als praktische Gestaltungen, als komplexe ›Lagen‹, Perspektiven ›auf‹ und Perspektiven ›von‹ unserer modernen Lebenswelt ›Großstadt, unserem Da-und-So-in-der-Welt-sein‹. – Unsere existentielle reflexive Reflexion zwingt auch hier den Blick radikal auf uns selbst. Hier vor allem auf unsere willkürlichen und unwillkürlichen Einstellungen. ›Einstellung haben‹, ›Einstellung vollziehen‹ oder so oder so ›eingestellt sein‹ u. ä. sind zunächst keineswegs bloß erkenntnistheoretisch oder psychologisch, also ›wissenschaftlich‹ oder ›wissenschaftstheoretisch‹ bedeutsame Vollzugsweisen. Auch nicht ein zu einem Tun, einer Tätigkeit, einer Wahrnehmung sich hinzugesellendes ›Gefühl‹ oder eine beispielsweise ›werthafte Gesinnung‹ usw. So wie man etwa sagt, man habe zu diesem oder jenem eine ›positive Einstellung‹ oder man habe bei diesem oder jenem Tun, kein ›gutes Gefühl‹. Sondern so: diese oder jene ›Einstellung vollziehen‹, ›sich einstellen auf‹, denken wir phänomenologisch ausdrücklich als ein ›konstitutives Leisten‹. Einschließlich der Konstitution von unterschiedlichen (auch ›passiv eingezogenen‹) ›Sinnschichten‹. – All diesen uns überhaupt möglichen ›Einstellungen‹ (wir lassen uns dabei nicht durch Husserl begrenzen), diesen ausdrücklich konstitutiven, bedeuWir sind damit vertraut als: ›Wissenschaftstreibende‹ ; ›Kunst-verständige‹ ; ›philosophisch Gebildete‹ ; kurz: Wir-Abendländer!

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tungsverleihenden Potenzen, liegt die uns beschäftigende lebensweltliche Einstellung wesentlich zugrunde und wirklich voraus. ›Ich bin‹ also beispielsweise verzweifelt, rücksichtslos, liebend, sorgend, vorsichtig, skeptisch, ästhetisch, glaubend eingestellt oder auch vernünftig, wissenschaftlich tätig oder irrational (was auch immer) innerhalb dieses uns unwillkürlich zukommenden Horizonts: Da-und-So-in-derWelt-zu-sein. – Denken wir beispielsweise an die Perspektiven der Wissenschaften und der Kunst als existentielle Weisen von ›Eingestellt-sein‹. Sie entfalten sich für uns nun phänomenologisch als Selbstdeutungen unseres großstädtischen In-der-Welt-seins. Diese phänomenologisch so gelesenen reflexiven Selbst-Deutungen als Gestaltung der existentiellen Reflexion der Reflexionen sind ausdrücklich und in einem strengen Wortsinne konstitutive, ›welt-verwirklichende, bedeutungsverleihende Leistungen‹. – Wieder kurz und knapp: der Mensch wird, wie immer er auch eingestellt sein mag, phänomenologisch auf sich selbst als Daund-So-sein aufmerksam. Auf sich selbst als (trotz allem und wie auch immer) im-Grunde-nicht-mehr-anders-sein-können. Mit dieser radikal wirklichen ›Reflexion‹ erst entdeckt er seine existentiellen Wirklichkeiten (einschließlich der wirklichen Möglichkeiten) als sein eben wesentliches Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Eine wirklich ›wirkliche Radikalität‹, die nicht zur Ruhe kommt und sich weitertreibt! – Die phänomenologische ›Reflexion der Reflexionen‹ erfasst sich selbst (eigenartig genug) als existentiell letztmögliche Hinterdenklichkeit. – Um diese phänomenologische Fassung dieser fundamentalen Entdeckung der Existenz als ›auswegloses‹ Da-inder-Welt-sein gruppiert sich unser weiteres Fragen. Der Mensch als Dasein fragt philosophisch ›radikal‹ nach sich selbst im Allgemeinen und im Besonderen. Er kann nicht mehr anders. Er fragt als Reflektierender immer auch nach sich selbst. Auch dort, wo er nach diesen oder jenen ›großen Dingen‹, nach dem ›Seienden‹, dem ›Sein‹, nach ›Gott‹ Ausschau hält. – Das hat für uns philosophische Konsequenzen. Es ist (wäre!) der Abschied aus der Selbstverständlichkeit neuzeitlichen Philosophierens. Jeder ›Ontologie‹, ›Erkenntnistheorie‹, ›Ästhetik‹, ›Natur-‹ oder ›Religionsphilosophie‹ liegt ›notwendig‹ eine Form ›existentieller Reflexion‹ zugrunde. Das ist unsere Dynamik, die nicht ermüdet, die sich nicht erfüllt! Selbst dort noch da ist, wo ein Philosophierender sich, scheinbar (immer noch) ganz selbst-vergessen, auf diese oder jene ›Denk-Gegenstände‹ ›objektiv‹ einzulassen vermeint. – 118 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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Das scheint nun trivial und wird trotzdem, vielleicht gerade deswegen, ›leicht‹ vergessen und nach wie vor ›philosophisch groß‹ übergangen. – Wir aber lassen uns von der Gestaltung des gegenwärtigen Philosophierens (den philosophischen Moden) nicht irritieren. Wir verbleiben, wie bisher, wesentlich wirklich selbst bei uns! Diese Haltung ist auch für eine anthropologisch gerichtete phänomenologische Arbeit ungewöhnlich. – Philosophieren will doch wie jede Wissenschaft, so könnte eingewandt werden, ›allgemeine Regeln‹ ›allgemein erklären‹. Will sogar darüber hinaus: Vorstellungen von diesem oder jenem ›unbedingt (ontologisch) sichern‹ und (erkenntnistheoretisch) auf ›Geltung hin ausrichten‹. Also so sollte man meinen, dass auch unser phänomenologischer Anspruch ganz auf der geltungstheoretischen Linie dieser ›wissenschaftlich-philosophischen Tradition‹ zu verbleiben habe. Darauf hat Husserl die Phänomenologie, die Phänomenologen, geradezu verpflichtet. Eingeschworen auf die Einführung und den Ausbau wesentlich grundlegend philosophischer Wahrheiten. – Nicht selten rücken sich philosophische Vorstellungen auch unabhängig von Husserls Leitbild ›einer wissenschaftlichen Philosophie‹ in die Nähe der ›Wissenschaften‹. Aber die ›klassische‹ Phänomenologie, das ist wahr, verbindet damit darüber hinaus einen (wie es Husserl nennt) ausdrücklich streng wissenschaftlichen Anspruch. 29 – Das sind die theoretischen Intentionen, die immer noch (aber eben nicht nur) das phänomenologische Denken ausrichten! Ein so gerichtetes ›wissenschaftliches Philosophieren‹ leiste das, so sagt man, durch methodisch vernünftiges Arbeiten in philosophischer Forscher-Gemeinschaft mit möglichst ›präzis gesetzten‹ Begriffen 30 und ›engmaschig‹ geführten Definitionen. – Dieses Insistieren auf ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹ beschreibt also (und nur das interessiert uns hier) das Fundament und das Arbeitsziel der Phänomenologen, die sich im Umkreis der ›klassischen‹ Phänomenologie Husserls bewegen. – Gerade hier wird die Differenz zu unserer ›existentiellen Phänomenologie‹ klar und deutlich. Diese oder ähnliche Gestaltungen ›wissenschaftlichen Philosophierens‹ beabsichtigen ihre ›Phänomene‹ durch Begriffe, ›vernünftig willkürlich‹ Vgl. dazu Husserls bekannten, viel diskutierten Aufsatz: Philosophie als strenge Wissenschaft. 30 Vgl. z. B. Wilhelm Kamlah. Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. Mannheim 1973. 29

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und ›methodisch folgerichtig‹, zu einer als ›streng wissenschaftlich‹, ›sachlich-objektiv‹ vorgestellten Wirklichkeit zu Recht zu rücken und so selbstverständlich in möglichst ›unbedingte Geltung zu setzen‹. – Im Unterschied dazu schauen wir geradezu ›schlicht‹ wirklich auf uns selbst. Unsere ›Arbeitsinstrumente‹ sind unser ›Schauen‹ (ein ›Schauen‹ – ausgerichtet auf das wirkliche Wesen) und unsere ›existentielle reflexive Reflexion‹. Weit entfernt von unbedingter Geltung. Das sind nämlich ›Gestaltungen‹ existentieller Phänomenologie (die im Übrigen immer wieder selbst von Anfang an ›hergestellt‹ werden müssen), die wir uns immer wieder selbst als ›wesentlich-wirklich ungesichert‹ vor uns stellen. – Das ist wahrhaftig und in Wahrheit eine existentielle Komplexität So-Da-zu-sein. Da-zu-sein mit diesen uns irritierenden ›ungesicherten‹ Welt- und Selbstwahrnehmungen. Die aber nun, und das ist noch auf den zweiten Blick eigenartig genug, zu einer (nennen wir es) ›phänomenologischen Vereinfachung‹ führen. Beispielsweise: Schon unsere ›Überschriften‹ denken sich nicht mehr als ›Ausführungsvorschriften‹, als schon ›wissende‹ Richtlinien der philosophischen Reflexionen. Also fertige Vorlagen für eine weitere, nach-denkend zu leistende, methodische Entfaltung einer zumindest schon im Grunde als ›objektiv‹ gewussten Sach-Lage. Sondern ›ich‹ setze sie als ›Aufforderung‹, das ›von mir‹ selbst als Selbst-Wahrgenommenes Eingesehene nun selbst als für sich selbst, als selbst wesentlich-wirklich wahrzunehmen, es also ›für sich‹ selbst zu schauen oder auch nicht, es stattdessen zu modifizieren, es durchzustreichen u. ä. Kurz, wir, die Forschergemeinschaft der Phänomenologen, ›schließen‹ nicht ontologisch, erkenntnistheoretisch auf absolutes, unbedingtes, ideales Sein. Sondern wir öffnen uns ›uns‹ gegenseitig als irritiertes und perturbiertes Da-Sein. ›Eröffnen‹ so für uns unsere wesentlich wirkliche Welt für uns. – Und das immer wieder und von Anfang an. Jedes so mit sich selbst für sich selbst vorgestellte ›Ich bin‹, ist dadurch mit seiner existentiellen Reflexion der Reflexionen wieder selbst als dieses wirkliche Da-und-So-inder-Welt-sein mit in dem (›unserem‹) ›endlosen‹ philosophischen Spiel. 31 – ›Reflexion‹ wird phänomenologisch also von uns, mit dieser Für den Gebrauch von ›ich‹ und ›mein‹ halte ich es mit Ernst Jünger. »Aus diesem Bewusstsein heraus meine ich auch, wenn ich mich mit mir beschäftige, nicht eigentlich mich, sondern das, was dieser Erscheinung zugrunde liegt und somit in seinem gültigsten und dem Zufall entzogensten Sinne auch jeder andere für sich in Anspruch nehmen

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existentiellen Gestalt, in einem geradezu wörtlichen Verständnis eingeführt. Ich selbst ›sehe‹, ›erfahre‹, ›erkenne‹ mich wirklich-wesentlich als den, der sich selbst und sein ›In-der-Welt-sein‹ wahrnimmt. Eben: als sehend, erfahrend, erkennend, deutend, wahrnehmend und reflektierend! Und so ›spiegele‹ ich konstitutiv wirklich meine Welt und mich selbst als Da-und-So-in-der-Welt-sein. 32 Und führe es (und auch das ist wesentlich) uns, den gemeinsam Forschenden, als (für) uns wesentlich-wirklich vor; und stelle es ›gerade so‹ immer wieder zur ›Kritik‹. – Lange (komplexe) Rede – kurzer (einfacher) Sinn: Unsere Phänomenologie setzt sich, begreift sich, stellt sich vor: als radikal existentielle Reflexion der Reflexionen. Zumindest als das! Diese existentielle Reflexion der Reflexionen, beispielsweise der Wissenschaften, der Künste, der Theologie, ist nicht ein hilfloser Ausdruck einer ›philosophischen Not‹. (›Wir wären gerne auch so wie die strengen Wissenschaften‹ !). Sondern gerade im Gegenteil. Es ist die Vorführung einer ›philosophischen Tugend‹. Also die Entfaltung einer wesentlichen Stärke. 33 Ein leider oft genug nicht hinreichend gewürdigtes Potential. Das gilt gerade für unsere Gegenwart! – Vor allem aber auf eines sei in diesem Zusammenhang noch eigens hingewiesen. Diese wortwörtlich ›reflexive Reflexion‹, dieser schon von ›der Form‹ her ›endlos angelegte Prozess‹, widerspricht keineswegs der vielbesprochenen ›phänomedarf.« (Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. In: Sämtliche Werke. Band 9. Stuttgart 19992. S. 34.) 32 Vgl. dazu die praktisch-konstruktivistisch-systemische Perspektive. »Was ein Mensch als Wirklichkeit erlebt, ist Ergebnis seiner Wahrnehmungsausrichtung. Ein Phänomen stellt keine relevanten Wirklichkeiten für einen Beobachter dar, solange er seine Aufmerksamkeit nicht darauf fokussiert. In der Kopenhagener Interpretation der Heisenbergschen Unschärferelation (Quantentheorie) wird daraus geschlossen, dass kein elementares Phänomen ein wirkliches Phänomen ist, solange es nicht beobachtet wird.« (Gunther Schmidt. Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg 2012. S. 182.) 33 Vgl. z. B. Erwin Straus: »Interpretieren wir aber den Menschen nicht mehr von der vollendeten Erkenntnis, sondern als erkennenden, d. h. als werdenden, jeweilig unganzen, dann erst gewinnen wir überhaupt die Möglichkeit, Empfinden und Bewegung, Erinnern und Irren zu verstehen; jetzt erst wird es möglich, das Wahrnehmen und das Empfinden deutlich zu scheiden. Denn dazu ist es erforderlich einzusehen, dass im Wechsel der Kommunikation das Subjekt anders wird. Es bleibt nicht unwandelbar ein Subjekt, das im Wechsel seiner Akzidentien bald Empfindungen, bald Wahrnehmungen, bald reine Gedanken, bald Wollungen in sich hat.« (Vom Sinn der Sinne. Berlin. Göttingen. Heidelberg 1956. S. 350.)

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nologischen Grund-Haltung‹ : wesentlich-wirklicher Sach-Forschung. Geradezu im Gegenteil: Nur so und nicht mehr anders erfüllt sich diese uns Phänomenologen (auch durch die Geschichte) verbindende Absicht phänomenologischer Forschung: ›Zu den Sachen selbst‹ ! Also erst die wirklich existentiell fundierten ›technisch-praktischen‹, ›theoretischen‹ und ›ästhetischen‹ Vorstellungen der Lebenswelt ›Großstadt‹, phänomenologisch reflektiert, sind ›unsere Sachen‹. Die ›Sachen‹, die phänomenologisch als wirklich geschaut vorzustellen sind. – Das also und so sind die durch uns phänomenologisch-reflexiv gesetzten ›Vorstellungen‹ konstitutiver Potentiale Da-und-So-zu-sein und Da-und-So-sein-zu-können. Gleich ob Lagen, Theorien, Ansichten, Kritiken – es sind, phänomenologisch ›radikal reflektiert‹, unsere ›horizontal oder (und) vertikal‹ organisierten ›Sedimente‹ von unseren Wahrnehmungsreihen. Letztendlich unsere existentiellen Verwirklichungen unserer uns wesentlichen Daseins- und Weltordnungen. – Das stellt unser ›Arbeitsmaterial‹, das es nun im Einzelnen ›reflexiv‹ zu entfalten gilt. – Nichts verflüchtigt sich mehr vor uns als (beispielsweise) ›bloß wissenschaftlich Objektive‹. ›Etwas‹, das irgendwie da ›draußen sein Wesen treibt‹ und eigentlich losgelöst ist von unserem eigentlichen So-Da; irgendwie immer ›vor uns‹ oder ›neben uns‹ sich befindend! ›Etwas‹, das zumindest nicht wesentlich zu uns gehörte. Das wir eben als ›objektiv wissenschaftlich als Gestalt der Welt‹ zur Kenntnis nehmen könnten, ohne dass es uns ›existentiell berührte‹. – Und umgekehrt sind nun auch die als ›bloß subjektiv‹ bestimmten Formen existentielle Wirklichkeiten unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins und werden von uns phänomenologisch eingeholt. Dabei denke ich beispielsweise an: meine sehr ›privat‹ gemeinten Zustimmungen (›wenn Du dazu meine persönliche Meinung hören möchtest‹) oder ›meine unverbindliche Kritik an der Großstadt‹ – oder unsere ganz individuellen Erfahrungen von ›je unserem Leiden‹ (dieser ›mein Schmerz‹ da, der geht nur mich etwas an!). Also Da und So als etwas, ›was‹ selbstverständlich diese Lebens-Welt als wirklich wesentlich uns zeigt. – Wir können es phänomenologisch gar nicht mehr übersehen. Gerade diese existentiellen Gestalten und Gestaltungen (aus wissenschaftlicher Perspektive: ›bloß subjektiv‹) führen uns unsere wesentliche Fassung der Lebenswelt ›Großstadt‹ wirklich vor. – An dieser unserer Wirklichkeit können wir zwar verzweifeln aber nicht mehr zweifeln. So verdichtet: Unsere Lebenswelt, ›da‹ und ›so‹, 122 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

V. Existentielle Reflexion der Reflexionen

liegt also nicht nur irgendwie mehr oder weniger ›objektiv vor‹ uns. So als stünde es uns noch frei, uns (auch) damit philosophisch zu beschäftigen oder eben auch nicht. Ein sehr spezielles Thema für ›Fach-Philosophen‹, beispielsweise für eine Ontologie, Erkenntnistheorie oder Sozialphilosophie. Als sei sie irgendwie auch perspektivisch so da: eben auch sozial, gesellschaftlich; oder als ›Objekt‹ für diese oder jene Theorie; oder als ›bloßer Begriff‹. – Aber selbst noch diese ›theoretischen‹, ›hoch-spekulativen theologischen‹ oder ›ästhetischen‹ Vor-Lagen (als Begriffe, als Bilder, Anweisungen, Deutungen u. ä.) gestalten repulsiv ›existentiell‹ unsere wirklich wesentliche Wirklichkeit. Ich selbst als dieses irritierte und perturbierte Da-und-So-in-der-Welt-sein kann mir also auch ›theoretisch‹ nicht mehr wirklich ausweichen. Gesetzt ich ›folge‹ meinem Reflektieren ›entlang‹ der Intentionalität. Die auch so in den Blick kommende Existenz (in) der Großstadt ist immer, gleich wie wir es drehen oder wenden, Aufforderung zu einer radikalen Reflexion der Reflexionen. – Blicken wir dabei noch nicht auf diese oder jene uns ›persönlich‹ bedrängenden ›Inhalte‹. Schauen wir stattdessen hin auf unsere ›lebensweltlichen Schemata‹, unsere uns so oder so als allgemein ›angetragenen‹ ›Ordnungs-Figuren‹ von Daseinsgestaltung. – Zweierlei können wir ohne weiteres daraus lesen. Da ist zum einen dieser (so scheint es uns) allgemeine, ›biologisch-anthropologische‹ Drang ›eine verbindliche Ordnung herzustellen‹. Das ist verständlich! Wir als Dasein, als In-der-Welt-sein sind gezwungen, uns ›praktisch‹ zu orientieren. Um so natürlich auch ›theoretisch-willkürlich‹ eine gemeinsame ›lebensweltliche Ordnung‹ herzustellen. Eine Ordnungs-Idee, die dann als wirkliche Wirklichkeit mehr oder weniger selbstverständlich gelebt wird; auch Grenzen einzeichnet, Unordnung bestimmt usw. – Sich aber willkürlich und unwillkürlich in und mit unserer Welt-so-da zu orientieren, gelingt auf Dauer uns nur durch eine Reflexion unseres Daseins als ein sich wesentlich wirklich setzendes In-der-Welt-sein. Erst das fordert ›Selbstbestimmung‹, entwirft ›Selbstverantwortung‹. Das heißt für uns konkret, eine phänomenologisch systematische Gestaltung einer nun wirklich wesentlich als ›endlos‹ angelegten Reflexionsschleife‹. – Das also sind die existentiellen Lagen, die theoretischen und praktischen Ordnungen, die Schemata, die Gestalten und Gestaltungen unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. – Über diese Wirklichkeiten kommen wir phänomenologisch wesentlich nicht mehr hinaus. Auf diese Weise, mit dieser radikalen reflexiven Form entfaltet sich der lebensweltliche Ho123 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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rizont innerhalb dem sich unser Denken der Gedanken, unsere Möglichkeiten zu handeln, zu reflektieren, unser Hoffen und Glauben, unsere Institutionen, also Kunst, Religion, Wissenschaft und Philosophie, vorstellen und bewegen. – Das trägt selbst noch ganz praktisch unseren phänomenologischen Auftrag. Jedes Erfahrungs- und Reflexionsmaterial ist phänomenologisch (nicht nachlassend) existentiell-wirklich zu reflektieren. Also die Arbeit der Wissenschaften, der Künste, der Philosophie (die hier ausdrücklich nicht ausgenommen werden kann). Unser Absehen also bleibt gerichtet auf unsere willkürliche und unwillkürlich gestaltete (nennen wir es so) ›lebensweltliche Ausdrucksgrammatik‹. Eingeschlossen dabei selbst noch unser Gedanke, die phänomenologische Reflexion der Reflexionen freizulegen, sie also zu beschreiben und sie phänomenologisch, d. i. als wesentlich wirklich vorzustellen. 34

VI. Das endlose Geschäft reflexiver Reflexion Eine Reflexion der Reflexion der Reflexion also! Von uns gemeinsam, also interpersonal ausgetragen und entfaltet als ›endlose Reflexionsschleife‹. – Lassen wir uns also nicht mehr weiter ablenken von idealistischen oder naturalistischen Vor-Schriften. Vor unseren Augen ›baut sich‹ unser komplexes, in sich gefaltetes, unser sich auf sich selbstselbst richtendes und sich so ›einrichtendes‹ Aktgefüge. Ein letztendlich existentielles Aktgefüge; – konstituiert und konstituierend zugleich. Das ist ein Entwerfen immer neu herausfordernder Anschlussstellen. – Kurz, wir selbst sind es wesentlich wirklich als Da-und-So-inder-Welt-sein, die uns bis zu unserem Ende zu denken geben. – Wir bleiben also ›einfach dicht‹ bei uns. Das macht aber ›unsere Sache‹ nicht wirklich ›transparenter‹ ! Das ist nun doch philosophisch etwas verwunderlich. Aber schauen wir selbst. – Schon eine ›PhilosoDieser Perspektive wurde und wird der Titel, eine ›phänomenologische Reflexion‹ zu sein, abgesprochen. Z. B. schon 1938 schreibt Caspar Nink: »Als Anpassung oder Mißverständnis ist es wohl anzusehen, wenn in der Gegenwart auch da oft von ›phänomenologischer Methode‹, ›phänomenologischen Untersuchungen‹ usw. die Rede ist, wo eine Berührung mit den Gedanken Husserls fehlt. Manche Untersuchungen, die aus Husserls Schule stammen, sind in der Tat nichts anderes als empirisch-deskriptive Forschungen.« (Sein und Erkennen. Untersuchungen zur inneren Einheit der Philosophie. Leipzig 1938.)

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VI. Das endlose Geschäft reflexiver Reflexion

phie der Großstadt‹ ist ein wahrlich weites und schwieriges Feld. Sowohl historisch, – aber vor allem systematisch. Denken wir beispielsweise und nebenbei, an die Vorlagen von Georg Simmel oder Walter Benjamin, aber auch (wir kennen keine Berührungsängste) von Oswald Spengler und Theodor Lessing. – Aber wir kommen nicht umhin, ›hinter‹ diesem wissenschaftlichen, philosophischem oder auch feuilletonistischen Thema ›Großstadt‹ (mit all seinen Vorführungen, Verführungen, Bewegungen, Zuständen, Konflikten, die es zweifellos Wert wären eigens bedacht zu werden) ›unsere Sache‹ phänomenologisch erst einzurichten. – Unsere existentielle Reflexion der Reflexionen entfaltet sich als eine Leistung unseres wesentlich wirklichen Da-und-Soin-der-Welt-seins. Und sie erfüllt sich erst als unser existentielles Einsehen in diese Einsicht, in diese ›Einsichtnahme‹. – Also als Schauen auf uns selbst als diese leibhaft-so-da, irritiert, perturbiert mit diesen ›reflektierten‹ Welt- und Selbst-Leistungen. Zu denen selbstverständlich auch die ›reflexive Reflexion‹ selbst gehört. – Ein phänomenologisches Arbeiten ›reflektiert‹ sich ›immer‹, was immer es reflektiert, als ›wesentlich wirklich existentiell‹. Konkret, es reflektiert sich als Akt, als Gestaltung, als Schauen des leibhaften Daseins als eingesehenes So-in-der-Welt-sein. – In diesem Zusammenhang eine kurze Anmerkung. Hier also nur ganz nebenbei. Obwohl diese ›Sache‹ alles andere als ein bloßes ›RandThema‹ wäre. Wir können hier einer Forderung nach einer ›Phänomenologie der Phänomenologie‹ phänomenologisch nur schwerlich ausweichen. Das liegt geradezu auf der Hand. Eben weil wir selbst als ›Da und So‹ unsere ›phänomenologische Sache‹ sind. Wir sind es wirklich und wesentlich! – Nun ist diese radikale und damit ›wirklich wirkliche Selbstbezüglichkeit‹, einschließlich eines nie nachlassenden, auch existentiellen Selbstzweifels, keine ›phänomenologische Willkür‹, keine überflüssige ›phänomenologische Gebärde‹. Wir können diese Reflexion der Reflexionen des Daseins also philosophisch (der selbsteigenen ›Logik‹ folgend) nicht wirklich beiseitelegen; – können sie nicht einmal ›geltungstheoretisch vernachlässigen‹ ; oder auch nur ›vorerst zurückstellen‹ ; erst später, wenn alle Fragen der Vernunft endgültig gelöst sind, wieder darauf zurückkommen. Im Übrigen ist das selbstverständlich nicht nur eine Herausforderung für das phänomenologische Arbeiten. Das entspricht der (wie mir scheint nicht selten vernachlässigten) ›logischen‹ Arbeitsform jeder systematisch gerichteten Philosophie. – Wir zumindest nehmen das sehr ernst! Das hat für uns ganz praktische 125 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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philosophische Konsequenzen! – Denken wir an die für alles systematische Philosophieren bedeutsame Grund-Forderung: keinem Schulzwang ›blind‹ zu folgen. Stattdessen selbst von Anfang an ›zu schauen‹ ; selbstverantwortlich ›zu denken‹ ; also wirklich ›zu reflektieren‹. Und so auch selbst Rechenschaft über jeden der ›Denkschritte‹ geben zu können. Das ist geradezu der Stab und Stecken jedes streng systematisch angelegten Philosophierens. – Das erste ist dabei immer: ›die Sachen selbst‹ ausdrücklich als selbst-Selbsteigen in den Blick zu nehmen. 35 – Dass sich, von dieser Vorlage aus, phänomenologische Reflexion selbstverständlich auch existentiell zu verwirklichen hat, kann nun nicht wirklich mehr verwundern. Denken wir es uns so: Nur was sich unserem (!) reflexiven Blick ›unverstellt‹, ›klar‹ und als ›selbst für uns Selbst gegeben‹ zeigt, darf Rechtsquelle unserer ›Erkenntnis‹ sein. – Nehmen wir diese prinzipielle ›Vorlage‹ auch weiterhin als regulatives Ideal für unser phänomenologisches Arbeiten. – Dieser scheinbar ›philosophischen Selbstverständlichkeit‹ hat Husserl zu Recht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Gerade weil der ›philosophische Alltag‹ das, trotz aller Ausrichtung auf die empirischen Wissenschaften, vernachlässigte. – Wir entnehmen dem aber auch die Aufforderung, uns von Husserls ›transzendentalem Idealismus‹ endgültig zu lösen. Und zwar: ohne dabei die ›Grund-Gedanken der Phänomenologie‹ zurückzulassen. Vielmehr im Gegenteil! Auf den ersten Blick mag das nun eigenartig widersprüchlich scheinen. Husserls Philosophieren war (mindestens) seit den ›Ideen‹ ganz offensichtlich ausgerichtet auf das ›Absolute des reinen Ich‹, auf ein ›geltungssicherndes transzendentales Bewusstsein‹. – Das denkt aber einen noch neuzeitlich gerichteten ›Idealismus‹. Also eine letztendlich immer noch ›spekulative Gestalt der Philosophie‹. Sie mag eingeführt werden auf welche Weise auch immer. Als ›erste Philosophie‹, mit Blick auf die Meditationen Descartes, oder als transzendentale Formatierung ›der Logik‹. Es bleibt eine Form, die die phänomenologischen Möglichkeiten, unsere für uns wesentlich wirkliche Wirklichkeit wahrzunehmen, von Grunde auf verGanz auf der Linie Husserls und seines ›Prinzips aller Prinzipien‹ : »Am Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich und in der ›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber nur in den Schranken, in denen es sich gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.« (Hua. III,1. S. 51.)

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VII. Selbst-Leistung

deckt. Die Absicht phänomenologischer Reflexion, davon sind wir überzeugt, erfüllt sich erst als ›Vorstellung‹ unserer für uns wesentlichen existentiellen Wirklichkeit. Also (Husserl hätte dem energisch widersprochen) als ein Arbeiten an der philosophischen Entfaltung unseres wirklichen Da-und-So-in-dieser-Welt-zu-sein. Wieder zusammenfassend in einem Satz: Die Phänomenologie reflektiert und verwirklicht sich existentiell: verwirklicht sich eben als ›existentielle Phänomenologie‹. Das ist ein systematisch, methodisch erarbeiteter Durchblick auf uns selbst, auf uns, die wir so Reflektieren. Damit ist eng verbunden ein ›radikaler Durchstieg‹ auf unser Dasein und davon wesentlich nicht mehr zu lösen: die wirkliche Wirklichkeit unseres Daund-So-in-der-Welt-seins. 36 –

VII. Selbst-Leistung Die existentielle Grundausrichtung und Herausforderung unserer phänomenologischen Arbeit sollten nach und nach deutlich geworden sein. – Damit haben sich aber auch die philosophischen und die methodologischen Probleme (Herausforderungen) unserer reflexiven Reflexion eigenartig verschärft. Sie drängen sich nun unübersehbar ›umfassender‹ und ›dichter‹ nachvorne. Sie werden uns mit dieser ›Aufdringlichkeit‹ auch weiterhin begleiten und uns nicht mehr verlassen. – Auf eines haben wir uns eingestellt. Waren wir doch schon von Beginn an immer wieder gezwungen darauf aufzumerken. Und zwar: Wir sind es selbst, die sich von unserem eigenen Arbeiten, also unserem Wahrnehmen, Reflektieren, Schauen, Fordern, sich aus allen philosophischen und wissenschaftlichen Vorgaben, aus allen tradierten Selbstverständlichkeiten und historischen Mustern lösen. Diese uns so oder so angetragenen Sehweisen, Perspektiven, Vorlagen klammerten wir ein. Wir setzten auf diese Weise zumindest ihre GeltungsZur ersten Aufgabe, so Maurice Merleau-Ponty, werde »der Rückgang auf die diesseits der objektiven Welt gelegene Lebenswelt, um aus ihr Recht und Grenzen einer objektiven Welt zu verstehen, den Dingen ihre konkrete Physiognomie wiederzugeben, das eigentümliche Weltverhältnis eines Organismus und die Geschichtlichkeit der Subjektivität zu begreifen; um Zugang zu gewinnen zum phänomenalen Feld der lebendigen Erfahrung, in dem Andere und Dinge uns anfänglich begegnen, zum Ursprung der Konstellation von Ich, Anderen und Dingen.« (Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966. S. 80 f.)

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ansprüche für uns außer Kraft. Das sind keine Versuche ›dieses-da‹ oder ›dieses-dort‹ zu widerlegen oder ›jenes-da‹ oder ›jenes-dort‹ zu bestätigen. Nur am Rande ein Hinweis, der an dieser Stelle sicher nicht mehr überraschen kann. Wir lassen uns keiner der ›philosophischen Schulen‹ und ›phänomenologischen Bewegungen‹ zuordnen. Selbst innerphänomenologische Kontroversen bleiben für uns außen vor. Wir reflektieren all diese uns vorliegenden Reflexionen als ›Behauptungen‹, als ›existentielle Perspektiven‹, als ›konstitutive Möglichkeiten‹, die geradezu so, eben als Behauptung, als Perspektive mit zu der Gestaltung der Lebenswelt ›Großstadt‹ gehören. – Also unsere ›philosophischen Handlungen‹ sind im Grunde (das ›wissen‹ wir) existentielle Reflexionen der Reflexionen. Für diese reflexive Reflexion reicht ganz offensichtlich eine psychologische oder philosophische Introspektion nicht hin. Und sei sie subjektiv noch so gewollt radikal gedacht. – Unser phänomenologisches Arbeiten leistet ›die Reflexion‹ unterschiedlicher Perspektiven. Es leistet sie als unsere Gestaltungen einer reflexiven Reflexion, mit Blick auf unser ›wirkliches Wesen‹. – Dieses strenge Wahrnehmen der Wahrnehmungen eines wirklich Wahrnehmenden, diese existentielle Reflexion der Reflexionen ist, so scheint es, selbst bei einer historisch und systematisch so ›spannenden Sache‹ wie es die ›Großstadt‹ ist, abstrakt und schwerfällig. Das mag, schauen wir nur ›kritisch‹ auf unsere Reflexionen, durchaus ein Eindruck sein, der nicht so ohne weiteres abgetan werden kann. Aber unsere ›reflexive Schwerfälligkeit‹ ist nicht die Folge oder das Ergebnis eines rücksichtslosen ›akademischen Glasperlenspiels‹. Unsere Ausrichtung auf unser wesentlich-wirkliches Da-und-So-inder-Welt-sein, unsere ›phänomenologische Sache‹ also, zwingt uns dazu. Zwingt uns, ›umständlich‹ die praktischen und theoretischen Vorstellungen der Erfahrungen der ›Großstadt‹ zurückzustellen in unseren intentional-wirklich-wesentlichen Horizont. – Das ist also für uns eine phänomenologische Grund-Leistung. Die Herstellung der Lebenswelt ›Großstadt‹ als unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. Um das mindeste zu sagen: wahrhaftig ein ›komplexes Verfahren‹ reflexiver Reflexion. Es ist aber, daran halten wir fest, nicht unsere Willkür sondern unserer ›Sache‹ geschuldet. – Im Besonderen sind es nun existentiell-hermeneutische Akte. Akte, die konstitutiv wesentlich wirklich sind, und die es selbst wiederum ›phänomenologisch umständlich‹ von Anfang an zu reflektieren gilt. – Wir folgen ›der Lebenswelt Großstadt‹ auf diese Weise, mit dieser phä128 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

VII. Selbst-Leistung

nomenologischen Form der reflexiven Reflexion, in unsere ›existentielle Ortschaft‹. – Das also ist das, was uns, von Beginn und von Anfang an immer wieder beschäftigt hat. Das verwickelte ›Innen‹ und ›Außen‹ unseres Daseins als Da-und-So-in-der-Welt-sein. So kann es, das aber nur am Rande, auch nicht wirklich verwundern, dass selbst Versuche einer Imagination, uns beispielsweise mit und in der Phantasie räumlich und zeitlich zu ›dissoziieren‹, ganz anders zu ›verorten‹, letztendlich nicht über unser ›wirkliches‹ In-der-Welt-sein hinauszukommen vermögen. – Lassen wir uns nun weiter darauf ein, so differenziert und (zugleich) präzisiert sich unsere phänomenologische Arbeitsvorgabe. Und zwar diese unsere uns so vorgestellte ›Sache‹ : Lebenswelt ›Großstadt‹ als wirklich wesentlich, also ›existentiell‹, zu beschreiben und vorzustellen. Davon nicht zu trennen ist es, sie als unser auch praktisch notwendiges Da-und-So-in-der-Welt-sein zu fassen. (Beispielsweise was heißt jetzt ›krank-sein‹ ; ›Religion haben‹ u. ä.?). – Dafür sind auch weiterhin, die unterschiedlichsten Reflexionen der Großstadt als ›Vorstellungen‹, als ›Prägungen‹, ›Gestaltungen‹ und ›Einfaltungen‹, kurz, als ›existentielle Intentionalitäten‹ unserer Welt-habe phänomenologisch zu reflektieren. – Zweifellos, um auch das hier noch einmal anzusprechen, sind das im Besonderen auch Fragen für eine phänomenologische Erkenntnistheorie. Aber für uns entscheidender, eben weil wesentlicher, weil wirklicher, weil ›praktischer‹, ist unsere reflexive Reflexion der Lebenswelt ›Großstadt‹ als diese unsere notwendig existentielle Ortschaft. In dieser existentiellen Gestaltung der lebensweltlichen Ordnung unseres Da-seins (Zuwenden, Schauen, Reflektieren) ist nun Deskriptives und Normatives miteinander verflochten. Diese in einem ausdrücklichen Wortsinne ›existentiellen Bewegungen‹ (selbst noch ›Widerfahrnisse‹ sind existentielle Bewegungen) werden von uns als uns wirklich wesentlich ›anthropologisch eingefaltet‹ eingesehen. Und phänomenologisch als durch uns selbst, beispielsweise literarisch oder wissenschaftlich, ›ausgestellt‹ wahrgenommen und ›letztendlich begriffen‹ durch unsere existentielle Reflexion der Reflexionen. Das ist, trotz aller Komplexität, auch ganz praktisch eine ›reflexive Rückstellung‹, eine ›philosophische Rückführung‹ der eben wesentlich wirklich uns gehörenden ›Sachen‹. – Das also sind unsere vorgestellten, eigenartig komplexen, ›notwendig existentiellen Selbst-Verschränkungen‹ als Da-und-So-in-der-Welt-sein. Sie fordern von uns, wir haben es selbst 129 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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gesehen, ein phänomenologisches Arbeiten ›entlang‹ der existentiellen Intentionalität. Unser Blick richtet sich also zu Recht ›umständlich‹ immer wieder hin auf unser Schauen schauen! – Denken wir beispielsweise zunächst an das Folgende. Bei allen durchaus möglichen Differenzen im Einzelnen, über Eines sollte im großen Ganzen doch eine Übereinkunft möglich sein. In diesen wirklich unüberschaubar ›sehr sehr großen Städten‹, den, wie man sie nennt, Mega-Cities, entscheidet sich die Zukunft der Menschheit. Entscheidet sich so oder so! Ich spreche nicht nur von der ›Großstadt‹ als mehr oder weniger geordneter ›sozialer Außen-Raum‹. Das Leben (›müssen‹, ›können‹, ›dürfen‹) in diesen ›weiten Lebenswelten‹ gestaltet nun ganz offensichtlich unser (das) Mensch-sein überhaupt. Uns scheint es selbst so, als ob die Lebenswelt ›moderne Großstadt‹ ›weltweit‹ der wirklich ganz und gar durchdringend bestimmende ›Zeit-Raum‹ sei. Sozial, gesellschaftlich, politisch, ökonomisch, ästhetisch usw. Vielleicht sogar, und wieder sei diese Aussicht eingeflochten, angelegt als ›anthropologisch endgültig‹ ; und gerade deswegen historisch so unvergleichlich. – Wie auch immer, ob dem nun in allem von allen so zugestimmt werden kann oder nicht, – zumindest in einem sollten wir Philosophierende auf einer Linie sein können: Mit Begriffen aus unserer philosophischen Tradition ist diese ›lebensweltliche Wirklichkeit‹ (›unsere Gegenwart‹ ; ›die Moderne‹ ; ›die gegenwärtige Welt‹ u. ä.) nicht mehr zu fassen, zu ordnen, zu verstehen, zu ›begreifen‹. Es ist so, als wären die uns von einem neuzeitlich vernünftigen Denken zur Verfügung gestellten Begriffe ›überfordert‹. Unsere wirkliche Wahrnehmung, gesetzt wir nehmen sie überhaupt zur Kenntnis, verwirrt uns als ›ungeordnet‹, ›chaotisch‹, ›irritierend‹. – So oder so ähnlich komme zum Ausdruck, komme zur Einsicht, dass unsere ›großstädtische Welt‹ mit erlernten, tradierten abendländischen Ordnungs- und neuzeitlichen Denkmustern nicht mehr recht begreifbar scheint. 37 – Die ›Kunst der Moderne‹ führt es uns besonders eindringlich vor. Gewollt oder auch nicht! Zeigt es: ›beredeter‹, ›reflektierter‹, als es den Wissenschaften und der Philosophie möglich ist. 38 Auch das wird uns noch ausführlich beschäftigen. Thomas Kleinspehn. Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Neuzeit. Reinbek bei Hamburg 1989. S. 250. 38 Das führte schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu eigenwilligen Zusammenstellungen. Z. B. im Blick auf den Futurismus: »Fort mit aller alten Kunst, 37

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Was uns, so oder so, wissenschaftlich-theoretisch, philosophisch oder ästhetisch durch die Wissenschaften, die Malerei, Literatur, Musik, den Film angetragen wird, schauen wir selbst als unsere lebensweltliche Gestalt und existentielle Gestaltung. Konkret in Form der existentieller Reflexion der Reflexionen. Wir halten uns mit unserer phänomenologischen Arbeit dabei selbst fest in unserem Blick. Selbstverständlich irritiert und perturbiert! Das liegt (ganz folgerichtig) auf der Linie einer existentiellen Phänomenologie. Wir können eben ›selbstverständlich‹ mit unserer Reflexion der Reflexionen uns selbst nicht entkommen. Weder ›wirklich‹ noch ›wesentlich‹. Also weder ›naturalistisch‹ noch ›idealistisch‹ ! – Hier kommen wir auch, das nur nebenbei, mit Descartes’ Gedankenführung überein. Allerdings anders, als von ihm beabsichtigt. – Nicht nur diese oder jene ›Theorie der Großstadt‹, diese oder jene ›Vorstellungen‹, Bilder und Gestaltungen unseres Daseins sind allein in unserem Blick. Sondern auch, und immer wieder von Anfang an, unser eigenes phänomenologisches Wahrnehmen, Anschauen und Reflektieren dieser theoretischen, ästhetischen und anthropologischen Vorlagen. – Kurzum, es bestätigt sich die Einsicht in diese phänomenologisch ›strenge‹ Arbeits-Form. Unsere phänomenologische Reflexion ist ein philosophisch ›eigenartig endlos scheinendes Geschäft‹. Lässt sich doch unsere reflexive Reflexion unseres Da-Seins nicht mehr willkürlich, nicht mehr willentlich vernünftig stilllegen. – An dieser wirklich mühseligen Arbeit, die immer aufs Neue eine existentielle Hinterdenklichkeit aufreißt, führt uns also kein Weg vorbei! Dass schon dieses unentwegte Drängen als Drängen, dieses uns existentiell beunruhigende Spiel der Reflexion der Reflexion der Reflexion von wesentlicher Bedeutung für eine phänomenologische Anthropologie ist, das braucht hier wahrhaftig nicht mehr viele Worte. 39 – hieß es, wir brauchen für unsere Zeit einen eigenen persönlichen Stil. Die bewegte Linie sollte ihn ergeben. Es fehlt nicht an solchen, denen Expressionismus, Kubismus, Futurismus als Nichtkunst an sich erscheinen will, als Bankrotterklärung der Malerei, die bereits insolvent war, ehe noch die große Schlussabrechnung der alten Kulturwelt erfolgte. Vielleicht haben wir in ihnen nichts anders zu sehen, als den tiefen Schatten, den der Bolschewismus vor sich herwarf, bevor er an die Zertrümmerung der Zivilisation ging.« (Max von Boehn. Die Mode. Menschen und Moden im 19. Jahrhundert. München 19252. S. 107.). 39 Da der ›selbstbewusste Mensch‹ »nicht weiß, woher er kommt, muss er alles ihm Mögliche auch als ihm zugehörig auffassen. Wann immer er etwas unerkundet lässt, muss er meinen oder fürchten, um einiges weniger zu sein, was er ist. Und so ist gerade

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Die Lebenswelt ›Großstadt‹ zeigt sich uns phänomenologisch also als ein verwirrendes, sehr komplexes, uns auch existentiell geradezu zwingendes ›Spiel‹. Ein ›Spiel‹, so scheint es uns nicht nur auf den ersten Blick, ›gespielt‹ auf unterschiedlichsten ›Bühnen‹. Jedes dieser ›Spiele‹, so könnte man glauben, sei Gestaltung oder die Übersetzung einer je eigenen offensichtlich objektiv gerichteten ›Handlungs- und Verhaltenslogik‹. Die Wissenschaften zumindest behaupten, es ›mit empirisch überzeugenden Gründen‹ so zu fassen. – Schauen wir aber als Phänomenologen selbst hin und uns zu. Da sind beispielsweise, Bahnhöfe, Kaufhäuser, Fußgängerzonen, Verkehrswege, Kliniken, Imbissbuden, Hotels, Museen, Universitäten, Plätze, Bars, Bordelle und Kirchen usw. Phänomenologisch sind das nun nicht nur ›Orte‹ außerhalb unserer selbst. Es sind ›Weltgestaltungen unseres Da-seins‹. Unsere Vor-Stellungen, die auf ›mich‹ wie natürlich-selbst-verständlich, irgendwie willkürlich und unwillkürlich ›einwirken‹, ›mich mit reflektieren‹. Sogar augenscheinlich ganz praktisch auf mich, mein Da und So einwirken. Zumindest also praktisch! – Dem wird wohl kaum ernsthaft widersprochen werden können. Für uns aber sind diese ›Wahrnehmungen unseres So-in-der-Welt-seins‹ (beispielsweise: unsere Bedürfnisse, die sich eine ›Welt bauen‹), nicht nur eine Herausforderung für Psychologie, Soziologie, Ökonomie. – Wir fassen uns phänomenologisch, anthropologisch bestimmender und existentiell eindringlicher. Unser Wahrnehmen unserer lebensweltlichen Weltfassung ist nämlich, so lesen wir uns, selbst schon als wirkliche Gestaltung und Reflexion wesentlich bedeutsam, also eingeführt von uns mit seinen ›existentiellen Auswirkungen‹. Und repulsiv wieder umgekehrt. 40 Das reflektiert uns nun als anthropologisches Ordnungsmuster mit existentiellen Auswirkungen. Auswirkungen, die unser Dasein als Daund-So-in-der-Welt-sein wesentlich in seiner ›Identität‹ bestimmen. Eben als ›Da-und-So‹ ! Das ist ausdrücklich ein ›Bestimmen‹ ; – und eben nicht nur irgendwie auch ›Tangieren‹. Wieder kurz und knapp: das sind uns selbstverständlich existentielle Gestalten und wirklich we-

der Dynamismus Ausdruck der Bewahrung seines Lebens.« (Dieter Henrich. Die Grundstruktur der modernen Philosophie. In: Selbstverhältnisse. Stuttgart 1993. S. 102 f.) 40 Das zeigt, dass neuzeitliche Vorstellungen, beispielsweise ›linear-kausal geordnete Funktionen‹ zumindest hier nicht greifen.

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sentliche Gestaltungen unserer (für uns scheinbar) ›inneren Lebenswelt‹. Denken wir das zu Ende: So kann es folgerichtig für uns keinen ›Aus-Weg aus unserer Lebenswelt Großstadt‹, keinen ›Flucht-Punkt‹ mehr für uns geben. Wirklich und wesentlich und existentiell: überall ist hier und jetzt für uns Lebenswelt ›Großstadt‹. Ich bin, wir sind, ausschließlich als Da-und-So-in-der-Welt-sein! Diesen Gedanken ›auswegloser Lebenswelt Großstadt‹ gilt es nun phänomenologisch auch weiterhin streng einzuhalten und existentiell reflexiv zu entfalten. Wir ›zeigen‹ (›reflektieren‹) so das anthropologisch wirklich wesentliche Fundament unserer Phänomenologie der Großstadt. – Die moderne (abendländische) Großstadt ist, so haben wir es vorgestellt, die umfassend theoretische und praktische Gestaltung und Gestaltung unseres Daseins. Unser uns notwendig zugehöriger ›Welt-Horizont‹. Wahrhaftig als unsere Lebenswelt ausweglos für uns! Dieser ›Horizont‹, ein ›Da‹ und ›So‹, wird ausdrücklich durch uns selbst und für uns selbst konstituiert. Streng phänomenologisch methodisch und sachlich entfaltet entlang unserer ›existentiellen (also leibhaften) Intentionalität‹. Dabei darf uns eines nicht aus dem Blick geraten. Wir ›begreifen‹ die Lebenswelt ›Großstadt‹ ausdrücklich als eine durch uns ›gemeinsam geleistete Gestalt‹. – Das ist eine wesentliche Vor-Stellung der ›Interpersonalität‹, die es phänomenologisch erst wirklich zu erfüllen gilt. Auch ihre phänomenologische Aufklärung und Verwirklichung geschieht dementsprechend entlang der Fassung unserer existentiellen Intentionalität. Wir bleiben, was immer wir unternehmen, ganz ›bei‹ und ›unter‹ uns! – So sollte es auch phänomenologisch nicht weiter irritieren, dass die Lebenswelt ›Großstadt‹ mit all ihren ›bunten‹, ›grellen‹ Vorstellungen uns trotz allem nicht wirklich wesens-fremd scheint. Zumindest nicht fremder, ungewöhnlicher, perturbierender, als wir es für uns selbst sind. – Reflektieren wir diesen Gedanken hier abschließend so. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist unsere ›endgültig existentielle‹ Wirklichkeit. Als unser Da-und-So-in-derWelt-sein zeichnet sie die überhaupt uns möglichen ›Bewegungen‹ unseres Existierens. Bewegungen, die sich beispielsweise als Wissenschaft, als Kunst, Religion und Philosophie ›zeigen‹. Das schließt, um auch daran noch einmal kurz zu erinnern, Deutungen, literarische Musterbildungen, Kritik, Utopien, Sehnsüchte nach dem (vermeintlich) ganz Anderen nicht aus. Hierher gehören auch und ganz selbstverständlich unsere Irritationen und Perturbationen und nicht zuletzt: unsere Versuche eines ›Verstehen des Selbstverstehens‹. – Und auch 133 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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hier gilt, dass sich das alles auch umgekehrt phänomenologisch unübersehbar in diese unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ einschreibt. –

VIII. Lebenswelt ›Großstadt‹ als wirklich-transzendentale Ortschaft Als Gedanke so einfach und in der Wirklichkeit so komplex. Das drängte sich uns auf. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist zum einen der ›anthropologisch selbstverständliche Grund-Text‹ unseres Da- und So-seins. Einen ›Text‹ den es phänomenologisch existentiell zu ›entwerfen‹ gilt. Und sie ist zum anderen aber selbst die ›Vorführung‹, die ›Bühne‹ der Bewegungen der Reflexionen (der Wissenschaften, der Kunst, Literatur, Theologie) und selbstverständlich auch unserer phänomenologischen reflexiven Reflexion. Das alles ist, so haben wir gesagt, vor allem auch praktisch nicht voneinander zu trennen. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist damit, wortwörtlich, unsere ›Arbeits-Stätte‹. Wir haben es daher mit Blick auf das wirkliche Wesen so miteinander verflochten: Eine Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ ist unsere wesentlich wirkliche Selbst-Gestaltung durch existentielle Reflexion der Reflexionen. Unsere existentielle Phänomenologie wird durch diese ›offene‹ Form, diesen reflexiven Selbstbezug, wirklich zu einer ›Arbeitsphilosophie‹. Davon wird auch immer wieder zu sprechen sein. – Von Beginn an war unser Arbeiten anthropologisch ausgerichtet und existentiell angelegt. Diese reflexive Reflexion, dieses ›Endlosgeschäft‹, ist eben nicht nur ein ›Nachzeichnen‹ einer wissenschaftlich als ›objektiv gedachten‹ ›Sach-Lage‹ oder einer (durch die Geschichte ›legitimierten‹) philosophischen ›Vorschrift‹. Sondern unser Dasein ›erfindet‹ (oder konstituiert) sich erst wirklich wesentlich mit dieser phänomenologischen Selbst-Entzifferung als ein So-Da-inder-Welt-sein. – Denken wir beispielsweise, wieder ganz allgemein, an diese uns (so oder so) vertraute Topographie einer beliebigen Großstadt. Als da sind: Plätze, Zentren, Parks, freie Räume, Hinterhöfe, Ränder, Durchbrüche, Passagen, Kreuzungen, Brücken, Unterführungen u. ä. Das alles sind für uns ganz selbstverständlich und unwillkürlich vertraute Möglichkeiten der alltäglichen Wahrnehmung, des Wahrnehmens, der Erfahrung, des Erfahrens, kurz, eines zuerst und zumeist ›gedankenlosen‹ Einsicht-nehmens in die Lebenswelt ›Großstadt‹. Reflexiv auf134 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

VIII. Lebenswelt ›Großstadt‹ als wirklich-transzendentale Ortschaft

gemerkt aber sind es ›Zeugen‹ und ›Zeugnisse‹ unseres wesentlichwirklichen Daseins-Raumes. – Also unsere phänomenologischen Vorlagen. Oder nennen wir es wie vorgeschlagen: unseren existentiellen Grund-Text für das Lesen unserer selbst; wir als (auch ›historisch‹, ›biographisch‹ und ›leibhaft‹ gebundenes) Da-und-So-in-der-Weltsein. Das alles zeigt sich von sich her. Zeigt, ob wir es darauf anlegen oder nicht, unser sich so ›Bewegen‹ und so ›Bewegen‹-können. Also beispielsweise sich (auch in Gedanken) ein- und unterordnen, überhaupt sich ordnen und begrenzen, ausgerichtet sein auf oder auch sich ausschließend oder einbeziehend verhalten usw.; – alles als ›Bewegungen‹ in und mit diesem Zeit-Raum ›Großstadt‹. Es sind also zugleich theoretisch anthropologische Vorführung und ganz praktische Bestimmung des Daseins als Da-und-So-in-der-Welt-sein. Geradezu wortlos gilt für uns: ein so und nicht mehr anders leben, existieren sollen und können. 41 Diese zuerst und zumeist so selbstverständlich gültige Topographie bestimmt, gestaltet und ordnet die Lebenswelt ›Großstadt‹ als das So-sein unseres Da. – Phänomenologisch ist das ein ineinandergefalteter Innen- und Außenhorizont. Ganz in dieser uns so selbstverständlichen Topographie der ›inneren‹ und ›äußeren‹ Lebenswelt erfolgen nun ohne weiteres alle ›Zuordnungen‹ als unsere uns ›bewegenden‹ Daseins- Bestimmungen. Zuerst und zumeist sicher ›unwillkürlich‹ und gedankenlos hingenommen als ›selbstverständlich‹ (vielleicht auch als ›schicksalhaft‹ ; ›gottgewollt‹). – Beispielsweise die vielbesprochenen als krankmachend erlebten Lagen. (›Die mir vom Leib bleiben sollen‹ ! ›Von denen wir uns zu schützen suchen‹ !). – Um hier nur an uns allen vertraute Phänomene zu erinnern. Denken wir an das sich so oder so als (wie wir es zu nennen pflegen) ›problematisch‹ Zeigende. Etwa das augenscheinlich ›existentiell Brüchige‹ oder die von uns so genannten ›Nachtseiten‹ der Großstadt. – Das alles wird als ›bloßer‹ ›Rand‹ festgelegt oder, mehr oder weniger imaginativ, ›Ordnungsbegriffe‹ vermessen natürlich nicht ›wertfrei‹. Das gilt ganz allgemein. Denken wir (beispielsweise) an das ›Zentrum‹ als heiligen Ort (Mythos des Zentrums). ›Zentrum‹ als Sammlung der Heiligkeit, der Kraft, der Macht, der (kosmischen) Bedeutung u. ä. Implizit findet sich dies, zumindest als Konnotation, noch heute. Wenn etwa von: Paris als ›Zentrum der Mode‹ gesprochen wird; New York: als ›Zentrum der zeitgenössischen Kunst‹. – Diese Begriffe (›Zentrum‹, ›Ränder‹, ›Grenze‹, ›Begrenzung‹, ›Durchbruch‹, ›freier Raum‹ u. ä.) sind also mehr als bloße ›kartographische‹ Festlegungen.

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dahin ›verschoben‹. Es wird auf diese Weise als eine (für unser alltägliches Dasein) ›bloße Randerscheinung‹ marginalisiert. Und so aus unserem uns von uns als wesentlich, als eigentlich Zugeschriebenen ›ausgegliedert‹. Das ist unabhängig davon, wo ›es‹ sich ›tatsächlich‹ befindet. Durch die Bestimmung eine ›bloße Randerscheinung unserer großstädtischen Lebenswelt‹ zu sein, bleibt unsere uns selbstverständliche scheinende Ordnung, unser ›mittleres Gleichgewicht‹ grundsätzlich stabil. Das Bedrohliche, Unheimliche, Gefährliche, das ›Dunkle‹, die ›Schatten‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ werden ›dort-draußen‹ fixiert. Da ist ihr Ort! Also ein ›Handeln‹ im Sinne von: ›Gefahr erkannt – Gefahr gebannt‹ ! Oder auch (und strategisch beliebt), ›Ausnahmen bestätigen die Regel‹ ! ›Das kriegen wir durch gezielte Maßnahmen in den Griff‹ ! – So wären diese oder jene ›Problemzonen‹, beispielsweise ›soziale Brennpunkte‹, lediglich handhabbare gesellschaftliche Herausforderungen für eine ›mögliche Reparatur‹ durch Sozialarbeit, Medizin, Therapie, Pädagogik oder Architektur. Also ›nichts weiter als‹ … politische, juristische, technische, letztendlich durch die Wissenschaften, durch die Vernunft zu beantwortende Fragen. Also vorgestellt als Sorge für eine rationale, aufgeklärte Stadtentwicklungs-Politik u. ä. Solange wir diesem von uns selbst als ›bedrohlich‹, als ›unheimlich‹ Wahrgenommenen (denken wir hier z. B. im Vorbeigehen auch an E. A. Poe; H. P. Lovecraft), diesen sogenannten ›bloßen Rändern‹, nur ›dort-draußen, irgendwo in der Großstadt‹ nachspüren, es uns als ›technische‹, medizinische Herausforderungen, als bedauerliche soziale Deformationen oder als ›gesellschaftspolitische‹ Fragen zurechtlegen (›die Politik hat sich darum zu kümmern‹ ! ›die Behörden sind hier gefordert‹) – solange bleibt uns unsere wesentlich-wirkliche Gestaltung der Lebenswelt ›Großstadt‹, ihre existentielle Gestalt, ihre anthropologische Herausforderung verborgen. – Bleibt uns durch unsere Vernunft selbst verstellt. – Hier finden sich nun auch phänomenologisch bedeutsame Spuren in der sogenannten ›Großstadt-Literatur‹. Und zwar gerade die uns besonders interessierenden ›existentiellen Zusammenhänge‹. 42 Also geVor allem James Joyce ›Ulysses‹. »Ulysses behandelt einen einzigen, wie zufällig herausgegriffenen Tag (mit viel Nacht) im Leben einiger Figuren in Dublin und ist eine der umfassendsten Darstellungen der Neuzeit und bei aller zeitlichen Befangenheit (16. Juni 1904) ein gültiges Abbild des menschlichen Aneinandervorbeilebens in der

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VIII. Lebenswelt ›Großstadt‹ als wirklich-transzendentale Ortschaft

rade mit Blick auf diese anthropologisch so bezeichnenden Fundierungen unseres wirklichen Mensch-Seins in und mit der Lebenswelt ›Großstadt‹. 43 Jeder Vergleich Mensch – Tier führt von vorneherein in ein ›unwirkliches Abseits‹. – Das ›Wesen der Großstadt‹ zeigt sich auch hier nie nur als bloße Ansammlung einsehbarer sozialer, gesellschaftlicher, architektonischer Ordnungen. Also als bloßes Ensemble von Häusern, Einkaufszentren, Plätzen, Straßen, Parks, Kirchen u. ä. Sondern (es mag uns während des Lesens sofort bewusst sein oder nicht) als unsere existentielle Form, als unsere Daseins-Gestaltung, eben als unser uns nun ›wesentlicher Lebensstil‹. Sogar und ganz phänomenologisch: als eine die Wirklichkeit Lebenswelt ›Großstadt‹ erst herstellende ›existentielle Welt-Anschauung‹. – Es mag beispielsweise diesen ›Berliner Alexanderplatz‹ mit seinem Milieu so noch geben oder nicht. Seine literarische Vorstellung zeigt uns, reflektiert uns, nach wie vor uns in unserer Welt. 44 – Das sind also (und davon sprechen wir) nach wie vor unsere Lebensmuster, unsere Daseinsgestaltungen in und mit der Lebenswelt ›Großstadt‹, die ästhetisch vorgeführt und phänomenologisch gelesen werden können. Als ›Lebens-Stil‹, als ›existentielle Form‹, als ›wesentliche Welt-Anschauung‹ eines wirklichen Daseins, das sich ›die Welt‹ als seine Lebenswelt ›Großstadt‹ zurecht legt. Als unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. Eben so – und nicht mehr anders. 45 – Schon (oder vor allem auch) ein ›ästhetischer Blick‹ zeigt also ›die modernen Großstadt.« (Fritz Senn. Nichts gegen Joyce. Aufsätze 1959–1983. Zürich 1991. S. 16.) 43 Beispielsweise die Lebenswelt ›Großstadt‹ staunend wahrgenommen von Ernst Jünger. »Es ist eine märchenhafte Landschaft, in der wir leben. Zuweilen, wenn man mit dem Zuge in eine große Stadt einfährt, und durch die unendlichen Zaubergärten technischer Gewächse rollt, durch diese stählernen Phantasien eines tätigen Geschlechts, wenn man die Zentren dieser Städte unter einem künstlichen Himmel flammender Bogenlampen sich am tausendfachen Toben und Aufschrei der Maschinen berauscht, empfindet man eine Ahnung von dem sonderbaren und eigentlich ganz Unmöglichen dieser Welt. Wohin sind wir gekommen, seit Goethe am Ende des Wilhelm Meister noch so ganz erdhaft von der Industrie sprechen konnte? Und wohin treiben wir?« (Feuer und Blut. Sämtliche Werke. Band 1. S. 67 f.) 44 Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. 45 Man legt sich diese Veränderungen so zurecht: »Die Jugend der 80er Jahre (des 19. Jahrhunderts) hat in Kunst und Dichtung auch in Deutschland die Revolution heraufgeführt, (…). Das Erlebnis trat an die Stelle des Ausgeklügelten und Spintisierten, die Gegenwart trat in ihre Rechte. (…). Sie suchte für die Kunst einen neuen Inhalt (…).« (Max von Boehn. Die Mode. Menschen und Moden im neunzehnten Jahrhundert. 1878–1914. München 1919. S. 74; 75.)

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Großstadt‹ als ›verinnerlichte Lebenswelt‹. – Oft beredt eingängig, dramatisierend dicht, spannend und ›ansprechend‹. Im Übrigen auch psychologisch und soziologisch vorgeführt durch die Gestaltung des ›Typus Großstädter‹. 46 Gleich ob als ›tragische Figur‹, als ›Scheitender‹, als ›Held‹ oder überzeichnet, deformiert als ›Karikatur‹ oder als einen beliebig ›modernen Jedermann der Großstadt‹ (wenn man so will: wirklich von allem etwas). 47 Phänomenologisch reflektieren wir diese ›Bilder‹, diese ›Vorführungen‹ als Gestaltung, als Vorgang, als Entfaltung des Grund-Schemas unseres Daseins: Also der ›eigentlich‹ existentiellen Intentionalität. Oder so (und in Anlehnung an Martin Heidegger), als ein Entwerfen unseres uns gemeinsamen Da-und-So-inder-Welt-seins. Zwischen ›Ulysses‹ und ›Tod eines Handlungsreisenden‹ !- Das gestaltet und reflektiert ganz selbstverständlich auch unseren lebensweltlichen Bestimmungsgrund unseres ›Wohnens‹. Also dieses ›sich umgreifender zu ordnen‹ und ›handgreiflich auszustatten‹, sich so oder so vor allem auch einen privaten Bewegungs-Raum einrichten u. ä. – Im Blick also, wo immer wir ansetzen, nicht mehr diese oder jene bestimmten, historisch gezeichneten Großstadt-Wirklichkeiten. Etwa: Berlin 1928, London um 1970, das New York der 80er Jahre, das Paris der Gegenwart u. ä. Sondern unsere uns, wo immer wir auch sind, gemeinsame Lebenswelt ›moderne Großstadt‹. Nennen wir es das ›Moderne‹. Das ist eine Gestaltung, eine Form, unsere Wirklichkeit, unser Muster So-Da-in-dieser-Welt-zu-sein. All diese unsere Raum-Gestalten! Ob darauf geachtet wird oder nicht, stellt das das uns verbindende, das ›horizontal‹ und ›vertikal‹ gespannte ›anthropologische NetzWerk‹. Das ist unser uns gemeinsamer ›Kosmos‹. – Ist also selbstverständlich auch, ohne an dieser Stelle nun weiter darauf einzugehen, der wesentlich-lebensweltliche Grund für eine Fassung der eben ›wirklichen Interpersonalität‹. Es ist also kein Zufall, dass die ›Interpersonalität‹ oder auch der Dialog, die Begegnung, das Mit-Sein, kurz, die Arnold Hauser fasst es soziologisch so. »Wenn also die Gesellschaft auch nie für den Einzelnen denkt, so denkt doch dieser, sobald er sich in einer gesellschaftlichen Situation befindet und in zwischenmenschliche Beziehungen verwickelt ist, einer ›Logik‹ der Situation gemäß, die mit seiner Denkweise als eines psychologischen Einzelwesens nicht identisch ist und eigenen, zweckrationalen, einheitlich zusammenhängenden Gesetzen entspricht.« (Kunst und Gesellschaft. München 1988. S. 66.) 47 Denken wir hier vor allem auch an die ›satirischen Fassungen‹ des ›typischen Großstädters‹ im ›Simplicissimus‹ 46

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VIII. Lebenswelt ›Großstadt‹ als wirklich-transzendentale Ortschaft

Konstitution des Anderen (wie immer wir es auch nennen) eine so entscheidende Herausforderung phänomenologischer Forschung ist. 48 – So also und nur so ›sind‹ wir wirklich und wesentlich Da! – Aus welcher Perspektive auch immer betrachtet: Jeder ›Weg‹ führt uns (geradezu zwanglos) zu diesen existentiellen Gedanken und Horizonten zurück. Unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ stellt die uns bis in unsere Privatheit durchdringend bestimmende Grund-Ordnung unseres Daund-So-in-der-Welt-seins. – Durchaus nachvollziehbar, wenn angesichts dieser für uns so umfassend existentiellen Bedeutung ›die Großstadt‹ geradezu als metaphysische oder religiöse ›Gewalt‹ (Gestalt, Potenz, Bild) eingeführt wird. 49 – In unserer phänomenologisch vorgestellten Wirklichkeit, für unseren phänomenologischen Blick, aber sind es ›nur‹ breit (nicht ›tief‹) aufgefächerte Formungen, Vorführungen, Einrichtungen, Vorgänge, Zustände, Bewegungen, Bilder, Begriffe, Stimmungen, die für uns unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ ganz selbstverständlich als eben ›wirklich existentiell‹ her- und einrichten. Wirklich und wahrhaftig, wir sind nie anders als lebensweltlich SoDa! – Auch von der, von uns schon kurz in den Blick gerückten, Großstadtliteratur wird das ›Großstädtische Da und So‹ nicht etwa erfunden, fingiert, konstruiert, bloß ›phantasiert‹. Sondern ›lediglich‹, wenn auch nicht selten, sehr grell gezeichnet, ›konturenscharf‹ ins Licht gerückt. – Vergessen wir nicht: Dass das uns nicht als bloße ästhetisch ansprechende, kunstvolle Gestaltung interessiert. Sondern als phänomenologisch bedeutsam von uns reflektiert wird. Dieser Vorzug der (sogenannten) ›schönen‹ Literatur sollte nun nicht mehr allzu sehr verwundern. Für uns phänomenologisch ›Schauende‹ drängt sich hier nämlich der Gedanke eines wesentlich existentiellen Grund-Stils auf. Ein ›Grund-Stil modernen Daseins‹, der sozusagen ›quer‹ zu WissenDazu Michael Theunissen. Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin. New York 19772. 49 Beispielsweise Norbert Mette. Der Stadt, so schreibt er, hafte »etwas Religiöses an, Faszinierendes und zugleich Erschreckendes. Seit alters her ist die Stadt Metapher für menschliche Sehnsüchte, aber auch für menschliche Maßlosigkeiten. Zwischen ›Jerusalem‹ und ›Babylon‹ pendeln die mit ihr verbundenen Visionen. Bis heute richten sich an die Stadt Erwartungen neuer Lebensmöglichkeiten in individueller Freiheit, mit denen jedoch schon bald die Erfahrungen neuer Abhängigkeiten einhergehen. Kurz: Stadt bezeichnet eine Utopie von Leben. Darum geht es in der Auseinandersetzung um die Kultur der Stadt immer auch im Kern um eine Auseinandersetzung um die Vorstellung, die sich die Menschen vom richtigen Leben machen.« (Gastkirche – mitten in der Stadt. In: Orientierung. 6/1991. S. 75.) 48

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schaft, Kunst, Religion und Philosophie liegt. Sich selbst mit seinem lebensweltlichen Dasein ›reflexiv‹ in den Blick zu nehmen. – Also ›unsere Welt-Anschauung‹ nicht mehr gefasst als eine beispielsweise bloß ästhetische oder wissenschaftliche Formfrage. Oder als eine historische Zufälligkeit, verwirklicht in diesem oder jenem ›Sujet‹, diesem oder jenem ›Begriffsgefüge‹, diesem oder jenem Charakter. Sondern als philosophische Einsicht in einen (nennen wir es mit aller Vorsicht) wirklich-transzendentalen Gedanken. Das ist ein ›Prädikator‹, der sich durch unsere unterschiedlichen Beschreibungen nach und nach einführt, verwirklicht und weiter festigt. Vorgestellt in Anlehnung an die neuzeitlich klassischen Fragen. Beispielsweise nach den wirklich-wesentlichen Bedingungen unserer phänomenologisch gesetzten Lebenswelt ›Großstadt‹. Allerdings auch hier phänomenologisch schlicht und ausdrücklich wirklich vorgestellt: als die notwendige Zusammenstellung von ›Horizont‹ (›Großstadt‹) und ›existentiellen Horizontbedingungen‹ (Da-in-der-Welt-sein) unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Also nie und nimmer eine Flucht in eine neuzeitliche Geltungstheorie. –

IX. Lebenswelt ›Großstadt‹ als existentielle Perspektive Die Existenz des Menschen müsse philosophisch – wir sind wieder bei Heidegger – aus der Wirklichkeit und dem Wesens seines Wohnens gedacht werden. Umgekehrt sei aber auch, und das sei ›tief‹ damit verbunden, unser Wohnen selbst aus dem Existieren heraus zu setzen. 50 – Lassen wir alles ›poetisch verstiegene‹ beiseite. Und schauen auch hier phänomenologisch selbst einfach hin und uns zu. Der Mensch, das ist wahr, arbeitet nicht nur, stellt her, verrichtet etwas, bewegt und bewegt sich, handelt mit dem oder jenem; oder siedelt und wohnt da oder dort, entwirft oder verwirft, plant und baut dies und das. Sondern mit all dem, stellt er sich selbst als Da-und-So-sein her. Er führt sich vor und stellt sich aus als ›so bin ich‹, ›so denke ich‹, ›so handle ich‹. Und zwar phänomenologisch immer als ›Da‹ und ›So‹ und ganz und gar eingefaltet, eingeflochten in seine ihm wesentlich und wirklich verbundene Lebenswelt. 51 – Unsere ›Lebenswelt‹ ist vor diesem Hintergrund selbstDichterisch wohnet der Mensch. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung. 1. Jahrgang 1954. S. 59. 51 Dazu beispielsweise Ludwig Binswanger. »Man denke nur an den Ausdrucksgehalt 50

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IX. Lebenswelt ›Großstadt‹ als existentielle Perspektive

verständlich vor allem auch als ›Wohn-Ort‹ kein beliebiger Um-Raum. Wirklich und wahrhaftig, – die Lebenswelt ist hier geradezu wortwörtlich ›Ort und Ortschaft des Daseins‹ ; ist augenscheinlich wahrnehmbar, ›begreifbar‹ die existentielle Perspektive des ›Reflektierens eines Daseins‹. Also selbst eine eigenartige Form unseres Daseins: ›von-derher‹ und zugleich ›auf-die-wir-zu‹ leben. So verdichtet: die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist auch mit dieser (wie man sagt) ›privaten‹ Gestalt: Daseins-Raum der (und für die) Selbsterfahrung und zugleich Muster unserer Welt-Anschauung. – Richten wir nun den Blick auf diese immer ›wirklich-dichte‹, zuerst und zumeist unwillkürlich vollzogene ›Welt-Anschauung‹. (Im Übrigen selbst eine ›willkürlich‹ hergestellte Perspektive ›reflektiert‹ unwillkürlicher Gestaltung). – Dieses unser so vorgestelltes, so als ›unser‹ Daseins-Raum aufgefächertes, zuerst und zumeist ›schlicht gelebtes‹ Hinsehen, Wahrnehmen, Ordnen und mehr oder weniger unmittelbares Verstehen und Begreifen, hat sich phänomenologisch als unsere selbst-verständliche Wirklichkeit, sogar als der wesentlichen Wirklichkeit selbst-verständlich zugehörig, verfestigt. – Wir erfahren wirkliche Wirklichkeit im Alltag, sie bestätigt sich uns Tag für Tag: Hier ist unsere Welt; sie ›ist‹ als Da und So! – Unsere so ›gefasste Welt‹ ist uns selbstverständlich. Selbstverständlich wie unser alltägliches Tun, wie diese uns vertrauten Handgriffe und Bewegungen. Damit gleich all diesen unseren zumeist (aber nicht unbedingt ›nur‹) ›gedankenlosen‹ Verrichtungen, Gestaltungen in und mit unserer Welt. (Es gibt eben ›Wissenschaften‹, ›Religionen‹, ›Kunst‹ usw.) So gesehen ist ›unsere‹ Welt selbstverständlich für uns zweifellos ›die‹ Welt! – Darüber braucht es zumeist wenig philosophische Reflexionen. Es sind eben Tag für Tag unsere wirklich ›gelebten‹ Angelegenheiten. Sozusagen: praktische und theoretische Praxis! Angelegenheiten, Verrichtungen. Also Handgriffe, Aufstellungen, Sach-Lagen in unserer so und da ›vorhandenen Welt‹. – Diese ›praktisch‹ so fundierten, in Grenzen auch philosophisch oder religiös reflektierten Welt-Anschauungen, werden (sogar zumeist) als ›so und so‹ ›unwillkürlich‹ tradiert. ›Vererbt‹ gleich von Räumen wie Kirchen, Fabriken, Arbeits- oder Wohnzimmern, von landwirtschaftlichen Räumen wie der ›unendlichen Ebene‹ und dem ›unendlichen Meere‹ oder einem engen, tiefen Gebirgstal, (…). Man denke aber auch an die räumlichen Ausdrucksgestalten, die von Menschen ausgehen, in deren Nähe uns das Herz bald aufgeht, bald sich zuschnürt.« (Das Raumproblem in der Psychopathologie. In: Ausgewählte Werke. Band 3. Heidelberg 1994. S. 149/150.)

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Arbeitstechniken, Gerätschaften oder Gebäuden. 52 Sie sind nicht nur als selbstverständlich geltende ›Maßnahmen‹ für eine Selbst-Gestaltung. Etwa als so oder so ›von mir wirklich‹ erfahren, so oder so ›von mir wirklich‹ wahrgenommen, so oder so reflektiert. Gleich all dem, was uns auch sonst noch mehr oder weniger zufällig und doch als wirklich zu umgeben scheint. Sondern diese durch uns ›gelebte LebensWelt‹ ist phänomenologisch der ›wirkliche transzendentale Horizont‹ für jede uns überhaupt mögliche theoretische, praktische oder ästhetische Hin-Sicht. Also eine konstitutive Potenz für all diese Ensembles von (selbstverständlich auch theoretischen) Verhalten, Moden, Riten, Vorschriften und Werten. Eingeschlossen selbstverständlich, das nur als Erinnerung, auch unsere Formen der Kunst, des Wirtschaftens, unserer Konfessionen. Und unser Philosophieren? Auch es bleibt hier ausdrücklich nicht außen vor. – Wir ›wohnen‹ also auch wirklich-wesentlich in dieser unsere Lebenswelt. Wir sind ›so-da‹ in unserer so bestimmten, so reflektierten und vor allem praktisch alltäglich so gelebten ›Welt-Anschauung‹. – Da können wir nun zu Recht an Heidegger anschließen. Das ›Wohnen‹ ist mehr als eine bloßes ›sich in einem Raum befinden‹. Unser ›Wohnen‹ als unser existentieller Daseins-Grund zeigt und (das ist phänomenologisch eigenartig genug) entzieht sich zugleich als verinnerlichter ›normaler‹ Lebens-Stil. 53 Eine ›vertraute‹ Wirksamkeit also, die sich gerade hinter ihrer für uns so selbstverständlichen Normalität ›meine Heim-welt zu sein‹ verbirgt. – Das drängt uns anthropologisch noch entschiedener zu uns zurück. Das ist nun eine weitere Vorlage für das phänomenologische Wahrnehmen. Für das phänomenologische Schauen unseres wirklichen (sozusagen: alltäglichen) Daseins als im Grunde existentielles Selbstwahrnehmen in dieser unserer lebensweltlichen Gestaltung. Kurz und knapp, ein sich wirklich unser wirkliches Dasein phänomenologisch schlicht ›vor Augen führen‹. Ausdrücklich aber als ganz und gar notwendiges ›So-Da-in-dieser-Welt‹. – Die Lebenswelt »Kinder lernen mitmachend ›verreisen‹, die Handlung selbst und das Wort, dergleichen ›ausgehen‹, ›sprechen‹, ›beten‹, ›spielen‹, ›einkaufen‹, vielerlei Verrichtungen der Arbeit in Küche und Garten, bis sie schließlich auch selbstständig, einkaufen und umgraben können.« Wilhelm Kamlah (Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik. Mannheim 1973. S. 40.) 53 So ist schon jeder Stil (beispielsweise der Architektur) immer auch eine Gesamtdarstellung, Ausgestaltung, eines Denkens, einer Lebensform, einer Haltung zum Sein. Auch, eine Vorstellung des: ›So bin ich‹ und ›so sehe ich mich‹ und ›das möchte ich sein‹. 52

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X. Theoretisches und praktisches In-der-Welt-sein

›Großstadt als Wohnstatt‹ ist wirklich-wesentlich die existentielle Ortschaft unseres Daseins. Wir sind ›Da und So‹ in unserer Welt. Sind ›Da und So‹ – und nicht mehr anders!

X. Theoretisches und praktisches In-der-Welt-sein Darüber gibt es für uns Phänomenologen keinen Streit mehr. (Darauf lassen wir uns hier zumindest nicht mehr ein). Die Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektieren wir nicht als eine bloße ›soziale Umwelt‹ neben anderen Umwelten. Eine gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und politische Angelegenheit; oder eine ›technische‹ Herausforderung für diese oder jene der Wissenschaften. Auch nicht bloß gefasst als ein auf eine bestimmte Weise geordneter, ›dicht‹ bebauter Raum. – Unsere phänomenologische reflexive Reflexion führte es uns mit uns selbst vor. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ zeigt sich uns als die wesentlich-wirklich existentielle Grundform unseres Daseins. Also auch als ›die‹ Gestaltung unseres Raum- und Zeiterlebens. Gleich aus welcher Perspektive auch vorgestellt. Ob ontologisch, erkenntnistheoretisch und anthropologisch! Sie ist damit, das hat uns bisher ausgerichtet, die reflexive Vorführung unseres wirklichen, leibhaften Selbst-Bewusstseins. Verdichtet in einem aus dem neuzeitlichen Philosophieren entnommenen Begriff: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ hat wirklich ›wirkliche existentielle transzendentale Dignität‹. Wobei eben das kleine Wörtchen ›wirkliche‹ nicht überlesen werden darf. – So bleibt auch unser weiteres phänomenologisches Arbeiten, trotz aller ›Rücksichten‹ auf Literatur, Kunst und Psychoanalyse – es sind, vergessen wir es nicht, systematische Rücksichten – philosophisch einsichtig und trennscharf. In einigen wenigen Sätzen so verdichtet. Die Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert die wesentliche Wirklichkeit dieser ›Ortschaft‹, unserer ›Wohnstatt‹, unserer Heimwelt, und reflektiert so, das kann phänomenologisch gar nicht mehr anders sein, uns selbst als ›Da-und-So-in-der-Welt-sein‹. Wir sind phänomenologisch also ausgerichtet auf den ›existentiellen Gedanken‹ (›Wir-So-Da‹), der erst die Möglichkeiten vorgibt oder einräumt, wissenschaftlich, künstlerisch, literarisch oder philosophisch zu arbeiten. 54 Existentielle Phänomenologie ist eben wahrhaftig anthropologische FundamentalPhilosophie!

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– Wir bewegen uns dabei philosophisch ›von Anfang‹ an nicht als ›absolutes Subjekt‹. Als etwas Unbedingtes, das sich ›vor‹ oder ›gegenüber‹ einer, so oder so gesetzten, ›objektiven‹ Welt setzt. 55 Sondern wir sind wesentlich wirklich als reflexives Da- und So-Sein; ausdrücklich gemeinsam, interpersonal ›mitten‹ in dieser unserer ›phänomenologischen Sache‹. – Reflektieren wir unser je eigenes Dasein als wesentlich wirklich, also ›in und mit‹ seiner wirklichen Wirklichkeit, so zeigt es sich in jeder überhaupt erdenklichen Lage ›lebensweltlich gerichtet‹, ›interpersonal eingerichtet‹ und so ganz und gar existentiell bestimmt. So also sind wir – so und nicht anders! Phänomenologisch augenscheinlich ist mein Existieren, also mein Drängen, sich Ausrichten, Wollen, Hoffen, sich Sorgen, Reflektieren eingeflochten in unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. Wir sind praktisch und theoretisch eben wirklich Dasein. Sind also konkret ›gemeinsam‹ Da-und-So-in-der-Welt. – Von hier aus nun, ich mag es wollen oder nicht, werden all die theoretisch und praktisch entscheidenden Grenzen unseres Existierens aus-, ein- und zugerichtet. – Jeder Versuch, wissenschaftlich, philosophisch oder auch (und nicht zu vergessen) theologisch ›wirklich wesentlich darüber hinaus zu Denken‹, erfährt sich wirklich als ›haltlos‹. Also als existentiell wahrhaftig ort-los. Kurz, wäre philosophisch wortwörtliche eine ›Idiotie‹. – Die wesentliche Wirklichkeit unseres uns gemeinsamen ›Da‹ und ›So‹ drängt sich hier endgültig nach vorne. Wir bemerken es, die Entfaltung der Interpersonalität, dieses sehr große Anliegen Husserls, ist alles andere als ein bloßer ›Nebenweg‹ einer phänomenologischen Erkenntnistheorie.

Dazu auch Karl Jaspers: »Nenne ich das Nichtich die Welt, so kann ich es doch nur mit mir zusammen, nicht ohne mich, zur Welt haben. Stelle ich mich der Welt gegenüber, so bin ich doch durch sie, was ich bin. So wenig die Welt, die ich kennen kann, ohne ich ist, das sie kennt, so wenig Ich ohne Welt, in der ich erst bin. Es ist keine ichlose Welt und kein weltloses Ich.« (Philosophie I. Philosophische Weltorientierung. Berlin. Göttingen. Heidelberg 19563. S. 62.)

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I.

Eine ›kleine‹ Phänomenologie der Interpersonalität

Die ›Interpersonalität‹ ist offensichtlich wirklich und wesentlich eine fundamentale Gestaltung unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Eine praktische Wirklichkeit für uns, die zudem nicht hinterdenkbar scheint. – Immer wieder sind wir auf Fragen aufmerksam geworden, die, so oder so, der ›Interpersonalität‹ zuzuordnen sind. Das verwundert phänomenologisch nicht. So lag die Bedeutung dieser Fragen für eine ›Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt‹ für uns von Beginn und von Anfang an geradezu auf der Hand. Schon allein faktisch zu schreiben und zu veröffentlichen, dass ich ›selbstverständlich‹ von Lesern, von Mitforschenden, von einem auch sprachlich gesetzten ›Wir‹ (›wir‹ als Phänomenologen) ausgehe! So ergibt es also Sinn, hier systematisch noch etwas genauer hinzuschauen. – Die phänomenologische Tradition hat sich mit einer Entfaltung der Theorie der Interpersonalität (der ›Intersubjektivität‹) immer wieder intensiv beschäftigt. Denken wir dabei natürlich vor allem an Husserl selbst. 1 – Aber auch hier kommen wir nicht umhin, uns aus seinen Vorlagen, seinen Vorschriften zu lösen. Vor allem aus der Einbindung seiner Gestaltung der ›Intersubjektivität‹ in eine geltungstheoretisch gerichtete, trotz allem (so sehe ich es) noch ›neuzeitlich vorgestellte‹ Transzendentalphilosophie. – Rücken wir ›phänomenologisch rücksichtslos‹, also systematisch, unsere Vorstellung der Interpersonalität im Kontext unserer existentiellen Reflexionen in unseren Blick. – Die erweiterte Frage nach den für uns ›wirklichen Anderen‹, ›meinem Wir‹, mit all den möglichen Konnotationen, ist auch für eine existentielle Phänomenologie eine anthropologische Fundamentalfrage. Für uns also zu stellen (zumindest) zunächst ganz unabhängig von Pädagogik, Sozialwissenschaften, Medizin, Psychiatrie und Therapie. Wir bleiben 1

Vgl. z. B. Hua. XIII; XIV: XV.

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dabei von Anfang an auch hier schlicht ›anthropologisch-existentiell‹ ausgerichtet. Allein das trennt uns von der transzendental-phänomenologischen ›idealistischen‹ Perspektive. Das meint: wir entfalten die ›Phänomenologie der Interpersonalität‹ konsequent im Horizont unseres wesentlich-wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Mit unseren Arbeitsprinzipien: Wahrnehmen, Reflektieren, Schauen, Beschreiben. – Da ist, phänomenologisch als Erstes und Auffälliges, die zuerst und zumeist fraglos hingenommene Selbstverständlichkeit des (der) Anderen. 2 Beispielsweise so: Wir sind füreinander da; stehen uns im Weg; machen uns Angst; begegnen uns; geben uns Trost; lieben uns (oder ausdrücklich auch nicht); arbeiten miteinander; sind gezwungen uns auszuweichen; oder auch, suchen uns auf (nicht nur ›heim‹); sehnen uns nach Begegnung mit diesem oder jener usw. usf. ›Andere‹ sind ›immer schon da‹ ; sind uns vertraut oder fremd oder gleichgültig. Kurz, wir haben ganz selbstverständlich, Tag für Tag, ›gute‹ und auch weniger ›gute‹ Erfahrungen mit Anderen. Wir ›leben‹ sogar mit Anderen als von uns ›internalisierten Schemata‹. ›Leben‹ selbst noch mit schon Verstorbenen, mit denen wir eigenartigerweise auch eine Art ›Gespräch‹ führen können. – Diese Anderen erleben wir nun immer in diesen oder jenen ›Rollen‹. Als Kunde, Geliebte, Gegner, Freund, Verwandter, Nachbar, Landsmann. Auch etwas ›unpersönlicher‹ als Hindernis, Unterstützerin; sogar als ›Lärm‹ ; oder nicht zuletzt als einer von diesen-Vielen-da, die mich ›nichts angehen‹. 3 – Zuerst und zumeist erfahre ich die Anderen als ›diese Anderen da‹ praktisch sogar gedankenlos. Ich erlebe sie mit allen ihren mich (möglicherweise) auch befremdenden, ängstigenden, verärgernden Varianten. Trotzdem aber, mein Verhalten zeigt es, erlebe ich sie immer ›im Grunde‹ als meinesgleichen. – Dass der Andere für mich ein Anderer, ein anderer Mensch ist, der mir aber ›wesentlich‹ gleicht, dass ›ich‹ also wesentlich immer Mir scheint die ›Interpersonalität‹ auch im gegenwärtigen Philosophieren ›philosophisch‹ eigenartig ›unterbelichtet‹. Zumindest wird ihr nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihr, angesichts der mit ihr verbundenen theoretischen und praktischen ›Probleme‹, zustehen würde. 3 Vgl. auch Karl Löwith. Das menschliche Individuum sei ein »Individuum der Seinsart der ›persona‹, (es existiere) wesentlich in bestimmten mitweltlichen Rollen (z. B. Sohn, nämlich seiner Eltern; als Mann, nämlich einer Frau; als Vater, nämlich von Kindern; aber auch als Schüler, nämlich seiner Lehrer; als Dozent, nämlich möglicher Zuhörer; als Schriftsteller, nämlich möglicher Leser.)« Der Mensch sei »überhaupt und von Grund auf an ihm selbst durch entsprechende Andere« fixiert. (Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. München 1928. S. XIII/XIV.) 2

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I. Eine ›kleine‹ Phänomenologie der Interpersonalität

schon ›wir‹ bin, ist eine ›Urgegebenheit‹. So scheint es uns auch phänomenologisch: aus ›gutem Grunde‹ ! 4 – Ausdrücklich also: Wir konstruieren nicht, sondern schauen wirklich einfach hin und uns selbst zu. Das hat uns bisher begleitet und wird auch weiterhin unser ›phänomenologischer Stab und Stecken‹ sein. Dadurch lösen wir die sich uns hier aufdrängenden Fragen ganz selbstverständlich aus jeder idealistischen und natürlich auch ›naturalistischen‹ Konstruktion. Erkenntnistheoretische Annahmen, transzendentale Konzepte, naturwissenschaftliche Modelle können eben nicht wirklich anstelle unserer wesentlichen Wirklichkeit gesetzt werden. – Lassen wir uns hier nicht von den ›großen‹ Namen beeindrucken. Unsere existentielle phänomenologische Anthropologie kann (um darauf eigens noch einmal hinzuweisen) keinesfalls einer idealistisch gerichteten Erkenntnistheorie subordiniert werden. Die Neigung dazu ist aus verschiedenen, nicht nur historischen Gründen, für eine phänomenologische Reflexion offensichtlich gegeben. Denken wir wieder an Husserl selbst. – Er sieht zwar auch (und das schon vor seinen ›Krisis-Abhandlungen‹), dass unsere Lebenswelt wesentlich ›wirkliche Wir-Welt‹ ist. Aber er vermeint diese für uns so selbstverständlich wirklich da-seiende Wir-Welt, letztendlich in einem ›absoluten Bewusstsein‹ fundieren zu müssen und zu können. So komme »ich doch darauf zurück mir zu sagen: Die Welt, die durch mein ganzes transzendentales Leben (…) als die eine und selbe Welt gemeinte war und ist und voraussichtlich als künftige ist, ist in fundierender Stufe oder Schichte universale intersubjektive Erfahrungswelt; aber diese Schichte geltender Welt ist selbst fundiert in dem, was von ihr in meine eigene universale Erfahrung fällt.« 5 Husserl ›reduziert‹ also letztendlich doch unsere wirklich wirkliche Welt (das ist nicht nur eine ›wirklich-scheinende Welt‹) auf eine je ›subjektiv transzendental geltende Wahrnehmungswelt‹, auf eine ›Geltung sichernde Form‹. – Aber schauen wir doch selbst auch in diesem Falle genau hin und uns zu. Ich komme nie auf wirklich nur mir als (beispielsweise) ein ›unbedingtes Subjekt‹ zugehörige Daseins-Lagen. Ich verbleibe auch ›in‹ und ›mit‹ meiner ›Wahrnehmungswelt‹ (also der Welt, die sich Das ›Gegenspiel‹ zu unserer Position wäre die Annahme eines ›wirklich wesentlichen Naturzustandes‹ (status naturalis); also der Mensch ein ›a-soziales Wesen‹. Die interpersonale Organisation der Lebenswelten also lediglich sekundär. 5 Hua. XV. S. 119 f. 4

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mir selbst nach Vollzug der transzendentalen Reduktion ›zeigt‹) in der Welt, die uns gegeben ist, die wir aktiv und passiv konstituiert haben – kurz, in der wir ›leben‹. – Und das und so ist die Lebens-Welt; die Welt in der wir leben! Daran gibt es (zumindest) für mich keinen Zweifel. Und Descartes’ folgenreiche ›philosophische Konstruktionen‹ ändern daran wenig. 6 ›Ich bin‹ von Anfang an als Da-und-So in meiner ›Wir-Welt‹. Schon ›Pathos‹, das ›Mitleiden‹, selbst wenn es bloß eine ›sekundäre repulsive Gestaltung‹ wäre, zeigt uns (zumindest ›faktisch‹) als wirklich (sogar) unwillkürlich interpersonal eingerichtetes Dasein. Nicht erst ist einer ein ›Individuum‹. Einer, der sich dann, wenn er es möchte und wenn es seine Lebensumstände zulassen, Anderen oder den Anderen zuwendet; und selbstverständlich, wenn er es möchte, sich wieder diesen Anderen-da grundsätzlich entziehen könne. Sondern »aus der ungeschiedenen Seinsfülle des Einander lösen sich erst Ich und Du heraus, um an-einander ihre Selbstheit zu gewinnen.« 7 Erst von hier aus, nennen wir es die ›primäre wirkliche Interpersonalität‹, erschließen sich alle unsere sozialen, gesellschaftlichen, politischen, selbst noch unsere ästhetischen Bezüge. 8 – Die Wissenschaften, denen es um ›das soziale Miteinander‹, ›das Gesellschaftliche‹ usw. geht, kommen hier immer zu spät. Bleiben wir aber ganz bei uns. Ich weiß nicht nur irgendwie von Anderen. Sondern ich ›er-lebe‹ sie praktisch als unabdingbar, also von Anfang an zu ›meiner‹ Welt, zu meinem ›In-sein‹, zu meinem ›wesentlichen Wir-sein‹ gehörend. Und das sogar bis in meine Träume hinein. Und wiederum gilt das selbstverständlich auch umgekehrt. Ich reflektiere mich selbst nie anders als ein Mit-sein für andere. 9 Die bekannten Schwierigkeiten Descartes’: »Doch da sehe ich zufällig vom Fenster aus Menschen auf der Straße vorbeigehen, von denen ich ebenfalls, genau wie vom Wachse, gewohnt bin, zu sagen: ich sehe sie, doch sehe ich nichts als die Hüte und Kleider, unter denen sich ja Automaten verbergen könnten.« (Med. II.) 7 Ludwig Binswanger. Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Ausgewählte Werke. Band 2. Heidelberg 1993. S. 13. 8 Denken wir hier beispielsweise auch an die (viel diskutierte) ›Wirkung der Tragödie‹. Vgl. dazu (z. B.) Hans Wagner. Aesthetik der Tragödie. Von Aristoteles bis Schiller. Würzburg 1987. 9 Und daher auch: sobald ein anderer »eintritt und mein ihn Wahrnehmen beginnt; sofort erkennend, bin ich für mich selbst nicht mehr ›anonym‹, obschon ich nicht primär auf mich gerichtet bin. Ich bin meiner selbst bewusst, auf ihn wahrnehmend gerichtet und in Vermittlung, und primär interessiert, was er sagt und noch sagen will.« (Hua. XV. S. 485.) 6

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I. Eine ›kleine‹ Phänomenologie der Interpersonalität

Sei es nun ›konstruktiv‹ oder ›destruktiv‹. Auch Gegnerschaft, Feindschaft ist Gestaltung unserer wirklichen Interpersonalität. – Der Andere ist (willkürlich und unwillkürlich) von Anfang und Beginn an Gestalt meiner mir unabdingbar zugehörigen, von mir, nicht zuletzt, verinnerlichten Mit-Welt. Also unserer uns gemeinsamen Wir-Welt. Das ist die Welt, die ich sicher auch mitgestalten kann. Deren (nennen wir es) ›ontologische Grund-Wirklichkeiten‹ mir aber wesentlich entzogen bleiben. Wie auch immer Einzelnes hier gedeutet werden mag. Und an hermeneutischen Einsichten ist nun wahrhaftig kein Mangel. Daran halten wir phänomenologisch konsequent fest. All diese beispielsweise in der Psychoanalyse, in der Sozialpsychologie oder in manchen ›strukturalistischen Diskursen‹ beschriebenen ›problematischen Gestaltungen‹ zwischen Menschen (Macht, Gewalt, Demütigungen, destruktiv sich auswirkende Abhängigkeiten, auch Übertragung und Gegen-Übertragung u. ä.) setzen als Bedingung, von Anfang an, unser gemeinsames Da-und-So-in-der-Welt-sein voraus. Ausdrücklich einschließlich unseres verinnerlichten ›interpersonalenRaumes‹. – Hier werden wir nun auf etwas anthropologisch Bemerkenswertes aufmerksam. Schauen wir dabei nur genau auf uns. –Auf etwas, dem auch in der phänomenologischen Literatur viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das, was wir hier ›Interpersonalität‹ nennen, ist kein willkürlich veranstaltetes ›Spiel‹. Beispielsweise die Einführung eines empirischen Ordnungsmusters angelegt für einen ›sozialen Raum‹. Also ›nur‹ eine sozialwissenschaftliche, sozialpsychologische Gestaltung für eine ›angemessen‹ zu organisierende ›Öffentlichkeit‹. – Dass wir gerade hier nun an unseren Begriff der ›Lebenswelt‹ (Großstadt) erinnert werden, ist kein Zufall. Eine ›existentielle Innen-Welt‹ von einer ›sozialen Außen-Welt‹ zu trennen, gibt für uns phänomenologisch keinen rechten Sinn mehr. Das unterstreicht unseren zentralen anthropologischen Gedanken, dass Mensch-sein Da-und-So-in-derWelt-sein heißt. Der Mensch könne phänomenologisch nicht (könne nie!) wirklich ›losgelöst‹ von seiner Lebens-Welt gedacht werden. Wobei ›Welt‹ eben nicht ein beliebiges, faktisches Außen ist. Ein ›Ich‹ lebt, existiert von Beginn an, es mag darauf aufmerken (können) oder nicht, in einer (nennen wir es aus ›Verlegenheit‹) ›primären Wir-Welt‹. Wobei die erst nachfolgende Ausdifferenzierung ›Innenwelt‹ – ›Außenwelt‹ eben ›sekundär‹ ist. – Die Reflexion meiner je eigenen Lebenswelt als Mitwelt zeigt mir nun mich selbst als diesen da, der ausschließlich 149 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

F Existentielle Phänomenologie

in und mit ›seiner Wir-Welt‹ wesentlich wirklich da-ist. 10 – Aus dieser ›Wir-Welt‹ herausfallen heißen wir: ›sterben‹. Also ein ›Nicht-mehrsein‹. Phänomenologisch in den Blick genommen reflektiert sich diese für uns ursprüngliche, primäre ›Wir-Formation‹ als Verflechtung willkürlicher und unwillkürlicher, praktischer und historisch und biographisch zunehmend auch theoretischer Akte. – Das ist nun nicht, sogar nie, ein zufälliges Miteinanderleben. Sich also unter anderem auch mit Artgenossen nebeneinander in ›Raum und Zeit‹ befinden können. Sondern anthropologisch grundsätzlicher, eben phänomenologisch wesentlicher. Unser Da-in-der-Welt-sein ist von Beginn und von Anfang an wirklich-notwendig, also nie anders als interpersonal organsiert, ausgerichtet und geordnet. ›Ich bin‹ daher phänomenologisch ›von Anfang an‹ notwendig, wesentlich im Modus des ›Wir sind so da in unserer Lebenswelt‹. 11 –

II.

Das ›Vor-Bild‹ Husserls

Der ›ontologische Horizont‹ all unserer so oder so erlebten, theoretischen und praktischen Gemeinsamkeiten, einschließlich der Unterschiede, des Trennenden, des Missverstehens, des Unbehagens, (an dem wir ›natürlich‹ phänomenologisch nicht vorbeisehen können), ist unsere ›Lebenswelt Großstadt‹. Sie ist wesentlich wirklich unser gemeinsames Da-und-So. Und das unabhängig von diesen oder jenen historischen Gedanken; beispielsweise ›was‹ unsere Welt denn metaphysisch, theologisch, wissenschaftlich betrachtet sei. Die ›Lebenswelt‹ ist von Grund auf eine ›Wir-Welt‹ ! Das sind, so nehmen wir es wahr, wenn wir phänomenologisch wahrnehmend, schauend, reflektierend uns darauf ›einlassen‹, dicht ineinander verflochtene und so phänomenologisch gesetzte Wirklichkeiten und Möglichkeiten. Dazu gehören selbst noch unsere ›existentiellen Modi‹ wie: Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen (haben), Fragen (können), Zusammenhänge (willkürBei Löwith finden wir das so: »Wenn wir also nach den Anderen oder der Mitwelt fragen, so impliziert diese Frage diejenige nach dem Einen, für den die Anderen ›andere‹ und eine Welt sind, d. h. es wird nach ihrem Miteinander gefragt.« (1928. S. 1.) 11 Daher auch: »Was ein Mensch ist, lässt sich nur fassen im Hinblick auf die Rolle sozusagen, die er in seiner Umwelt, im Miteinander mit seinen Mitmenschen spielt.« (Ludwig Landgrebe. Phänomenologie und Metaphysik. Hamburg 1949. S. 35.) 10

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II. Das ›Vor-Bild‹ Husserls

lich oder auch unwillkürlich herstellen), Vorstellungen von diesem oder jenem da (haben oder gestalten) u. ä. Also all diese ›Möglichkeiten‹, die wir eben ›gemeinsam‹ als ›deine‹ oder ›meine‹ Selbstverständlichkeiten gelten lassen; sogar als ›Reflexionen‹ unseres Da-und-So gelten lassen müssen. Selbst dann noch, wenn wir sie nur ›widerwillig hinnehmen‹, vielleicht uns sogar entschieden dagegen wenden, als Unsinn abzutun versuchen oder gar als ›bloßen Wahn‹, als ›OrdnungsWidrigkeit‹, als ›Vergehen‹ oder Verbrechen entschieden zurückweisen. – Was und wie auch immer im Einzelnen. Immer handeln und denken, bejahen oder verneinen und bestrafen wir, soviel ist gewiss, ›innerhalb‹ unserer uns gemeinsamen Lebenswelt. Also, eingefugt in unsere Welt ›in‹ und ›mit‹ der ich wesentlich wirklich bin. Wie es scheint ein Da und So, eine ›wirkliche Wirklichkeit‹, die keines weiteren wissenschaftlichen oder philosophischen Beweises bedarf. – Diese ›in unserem Alltag‹ von uns fraglos hingenommenen ›wesentlichen Gemeinsamkeiten‹ (selbst Uneinigkeit, Streit, sogar Krieg gehören hierher) im Horizont unserer Lebenswelt sind als Anschauungen, Erzählungen, Bilder, Symbole, Zeichen, Begriffe, einschließlich der Leermeinungen; Erinnerungen; Phantasien, ›horizontal‹ und ›vertikal‹ geordnet. Ich weiß, nehme wahr, verstehe (zumindest grundsätzlich), finde mich zurecht (wenn auch möglicherweise nur mehr oder weniger) usw.! Zuerst und zumeist ist unser So-Da ein ›im Grunde‹ mehr unwillkürlich sich ereignendes Spiel. Wirklich ›variabel‹ eingerichtet, weich, anschmiegsam, plastisch, einschließlich unserer Begriffe; – und doch so, dass wir ›in dieser unserer Welt‹ gemeinsam darüber verfügen, gemeinsam ›leben‹ können; leben müssen. Dieses trotz allem ›Leben-können-mit‹ umfasst im Übrigen auch ›unsere Toten‹. – Auch das macht uns darauf aufmerksam, dass das wiederum keineswegs nur Fragen, Herausforderungen, Themen für eine Soziologie, Psychologie oder Kulturgeschichte sind. Genauso wenig wie ein bloßes ›Vorspiel‹ für eine erst nachfolgende existentielle Fundierung phänomenologischer Arbeit. (Erst ›spitzen wir den Mund‹ und dann, in einem zweiten später folgenden Schritt ›pfeifen wir‹ !) – Eher schon umgekehrt! Die reflexive Reflexion legt nämlich von Anfang an nicht nur die beispielsweise ›geltungstheoretischen‹ Bedingungen unseres Philosophierens fest. Sondern umreißt auch den existentiellen Horizont für die wesentlichen, lebensweltlich überhaupt möglichen Wirklichkeiten. Das ist eine ›phänomenologisch eigengeartete Normativität‹. Vorgestellt wird sie durch eine ›existentielle Logik‹. Eine ›Logik‹, die sich ausdrücklich 151 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

F Existentielle Phänomenologie

phänomenologisch deskriptiv ›entlang der Intentionalität‹ einführt und gestaltet. – Also eben nicht als eine durch uns lediglich ›passiv‹ zu leistende Nachzeichnung ›der‹ absoluten Wahrheit. Sondern unser phänomenologisches ›Wahrnehmen‹ der Wahrnehmungen, unsere ›Reflexion‹ der Reflexionen ist ausdrücklich ›Konstitution von Welt‹ und ist in einem besonderen Sinne dadurch auch ›unser existentieller SelbstEntwurf‹. Das Dasein ›erfährt‹ sich ›so reflektierend‹ wirklich-wesentlich als gestaltendes und (selbst-)entwerfendes Da-und-So-in-derWelt-sein. – Vergessen wir dabei eines nicht. Diese ›Leistungen‹ liegen nie als (historisch, biographisch) ›erledigt‹, als schon geleistet, als erfüllt ein für alle Mal hinter uns. Eine da und dort immer noch auffindbare Naivität. Wir denken unser Denken der Gedanken in der Form einer ›im Grunde‹ wesentlich unaufhebbar verunsicherten existentiellen Phänomenologie. Ein ›anthropologisches Philosophieren‹, das sich selbst als irritiert und perturbiert nie aus den Augen verlieren darf. – Wir sind damit im Übrigen näher bei der ›klassischen Phänomenologie‹ als es, zumindest auf den ersten Blick, den Anschein haben mag. – Aber schauen wir wieder selbst! ›Lebenswelt‹ ist ein von Husserl eingeführter, phänomenologisch dichter, fundamental gestalteter ›existentieller‹ Grundbegriff. 12 Nicht zuletzt von Husserl eingesetzt als ›Aufklärung der Aufklärung‹, also ›die wesentliche Vollendung‹ der endlichen (›abendländischen‹) Vernunft. 13 Von Husserl selbst sogar ins Spiel gebracht als Korrektur, ja als wirkliche Möglichkeit für einen ›philosophischen‹ Neuanfang der neuzeitlichen Philosophie und WisWobei Husserl, um das wenigste zu sagen, die Zuschreibung ›existentiell‹ sicher nicht gerne gesehen hätte. 13 Auffällig die nach wie vor sehr unterschiedlichen Fassungen und Konnotationen. Beispielsweise: Hans-Georg Gadamer und Ferdinand Fellmann. Gadamer schreibt: »Die Lebenswelt hat die allgemeine Struktur einer endlichen, subjektiv-relativen Welt, mit unbestimmt offenen Horizont, die sich im Ausgang von der eignen endlichen Lebenswelt und den ganz determinierten Varianten geschichtlicher Erinnerung – von den Griechen her – und in der Überwindung des objektiven Welt-Apriori der Wissenschaft in ihrem Geltungssinn erschließen mag.« (Die Wissenschaft von der Lebenswelt. In: Kleine Schriften III. Tübingen 1972. S. 198.) Fellmann deutet es so: »Ziemlich unerwartet ist Lebenswelt zur Losung der phänomenologischen Nachkriegsbewegung geworden, in der die Lebensphilosophie mit ihrer mit ihrer tragischen Gestimmtheit ihre Fortsetzung gefunden hat. Lebenswelt bezeichnet das Feld einer zwischen Ontologie und Anthropologie oszillierenden deskriptiven Erkenntnistheorie, der es vor aller Veränderung der Wirklichkeit um die Artikulation ihrer inneren Gespanntheit geht.« (Gelebte Philosophie in Deutschland. Denkformen der Lebensweltphänomenologie und der kritischen Theorie. Freiburg/München 1983. S. 23.) 12

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II. Das ›Vor-Bild‹ Husserls

senschaften. Diese Vorlagen werden von ihm nun entworfen als ein ›phänomenologischer Neu-Anfang‹. 14 Kurz und knapp: ›gedacht‹ als die reflexive Entfaltung eines als endgültig vorgestellten, wesentlichvernünftig umfassenden Sinnfundaments der Philosophie. Ein ›unbedingtes Fundament‹ also, das auch durch eine ›wissenschaftliche Vernunft‹ nicht mehr zurückgelassen werden kann. – Das sind nun ausdrücklich keine Vorstellungen, die nur für eine Wissenschaftstheorie bestimmt waren. Husserl war davon überzeugt, erst diese phänomenologisch radikale Rückbesinnung (eher ›Neubesinnung‹) auf dieses wirklich wesentliche Fundament der Wissenschaften, der wissenschaftlichen Vernunft, der ›wissenschaftlichen Philosophie‹, ermögliche auch praktisch die unumgängliche ›Neuformatierung der abendländischen Welt‹. Denn, und das hat Husserl ausdrücklich mit in seinem Blick, nicht nur die Wissenschaften brauchen angesichts einer ›bestürzenden Grund-Krise‹ eine Reflexion ihrer Fundamente. Sondern notwendig sei sie jetzt eine ›universale‹, ›umfassende‹, also eine philosophische Rechenschaft abendländischer Geistigkeit überhaupt. 15 Und auch hier gilt selbstverständlich: die Philosophie, das Philosophieren selbst, sogar vor allem, dabei mit eingeschlossen. – Weiten wir diesen Gedanken so: wir selbst als so Philosophierende sind mit ›in diese unsere Frage gestellt‹, sind durch uns selbst ›mit herausgefordert‹ ! (Und das gilt nach wie vor!) – Und trotzdem! Diese (sogenannte) ›späte Philosophie‹ Husserls verändert ausdrücklich nicht die grundsätzlich idealistische Ausrichtung und neuzeitliche Anlage seiner transzendentalen Phänomenologie. Husserls Lebenswelt-Phänomenologie denkt keine fundamental anthropologische Wende. Und ist selbstverständlich auch weit davon entfernt, irgendwelchen anthropologischen Vorstellungen ›das Wort zu reden‹. Husserl bleibt auch mit seiner ›Krisis-Abhandlung‹ ausgerichtet auf den Gedanken einer für uns, so denkt er es, ausdrücklich möglichen, ›unbedingten (transzendentalen) Wahrheit‹. Husserls Denken bleibt, trotz mancher auch resignativer Züge seiner ›späten Philosophie‹, hin-geordnet auf die Möglichkeit ›unbedingter Geltung‹, ausgerichtet auf ›absolute Vernunft‹. Davon ist er überzeugt: gerade diese ›historisch-kritische‹ Reflexion, diese radikale Besinnung auf unHusserl war, und das ist nicht übertrieben, wahrhaftig der ›große Anfänger‹ der modernen Philosophie! 15 Denken wir hier auch (aber nicht nur) an die historische Situation der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. 14

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sere Lebenswelt, ermögliche nun die ›unserer‹ Zeit abhanden gekommene ›letzte, absolute Selbsterkenntnis‹. 16 Das benennt nun trotz allem, in einer noch genauer zu beschreibenden Weise, auch den Weg unserer phänomenologischen Reflexionen. Husserl hat mit diesem so ›streng‹ gesetzten Begriff ›Lebenswelt‹ auch eine existentielle Deutung möglich gemacht, die er selbst (daran können wir nicht vorbeidenken) entschieden abgelehnt hätte. Konkret – eine radikal anthropologische, also fundamental-existentielle Reflexion unseres wesentlich-wirklichen Existierens im Horizont der Lebenswelt. 17 Das bestimmt systematisch und (nicht zu vergessen) historisch unsere Absicht, unsere Perspektive und die existentielle Gestaltungen unseres ›phänomenologischen Selbst-Schauens‹. In einem Satz: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert für uns, als das phänomenologisch letztmögliche Fundament unseres Da-und-So-seins. Und als diese nun wirklich anthropologische Gestalt und Gestaltung zeigt sich unser wesentliches In-der-Welt-sein. Unsere existentielle Phänomenologie ordnet sich also ausdrücklich nicht einem ›Relativismus‹ zu. ›Wir‹ werden für uns als die ›so-eingerichteten‹, ›so-eingestellten‹, ›so-ausgerichteten‹ wirklich wesentlich erfahrbar! Da und So sind wir! – Das ist tatsächlich eine ganz und gar (eben) ›fundamental anthropologische Hinsicht‹. Eine Perspektive, das haben wir zur Kenntnis zu nehmen, der Husserl zweifellos selbst nicht nur nicht gefolgt wäre, sondern sie sogar ganz entschieden als einen ›verhängnisvollen Verrat‹ an der phänomenologischen Arbeit gebrandmarkt hätte. Und sogar, so glaube ich (als einer ›Verkehrung‹ seiner geltungstheoretisch transzendentalen Absicht), den Titel ›Phänomenologie‹ abgesprochen hätte. – Wie also ›steht‹ nun eine existentielle Phänomenologie zur transzendentalen Phänomenologie Husserls? – Wie immer wir uns nun dazu im Einzelnen stellen. Eines können wir nicht achtlos beiseitelegen. Schon allein die fundamentale Absicht Husserls, eine ›Philosophie als Z. B. Husserls Krisis-Abhandlung. S. 472. Also kein ›freischwebender Existenzbegriff‹, den Albert Wellek zu Recht kritisiert. Bei allem schuldigen Respekt »vor dem Tiefengehalt des von den danach benannten Philosophen gemeinten Existenzerlebnisses: es steckt doch in der Absolutsetzung dessen etwas von der typisch abendländisch-neuzeitlichen Vermessenheit – zumal an Individualismus –, ja überdies etwas vom modernen Intellektualismus, trotz aller mit Fechterpose vollzogenen theoretischen Abwendung von oder gegen diesen.« (Ganzheitspsychologie und Strukturtheorie. Zwölf Abhandlungen zur Psychologie und Philosophischen Anthropologie. Bern und München 19692. S. 23.)

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III. ›Klassische Phänomenologie‹ und ›existentielle Phänomenologie‹

strenge Wissenschaft‹ auf den Weg zu bringen, ist nach wie vor tief beeindruckend. Nicht nur theoretisch. – Philosophieren wird bei ihm zu einer auch praktisch ›existentiell radikal‹ angelegten ›Anfangsleistung‹. 18 Eine Absicht, die nicht bloß mit Blick auf die Wissenschaften ›regulativ‹ sein sollte. Das Philosophieren verliert endgültig jede ›spielerische Leichtigkeit‹. Beispielsweise eine bloß ›ästhetische Freude‹ ; die ›Lust an stimmigen Gedankenbewegungen‹ ; oder ein ›kindliches‹ Staunen-können. Genauso wenig begreifen Husserl und sein Schülerkreis die Philosophie als ›Liebe zur Weisheit‹. Oder als eine Gestaltung abendländisch elitären Bildungswissens. Oder als ein bloßes theoretisches Ornament dieser oder jener Sachlagen. Oder als eine Art exklusives Kulturgut für Gebildete. Auch nicht (nicht einmal) als ein, sagen wir, pädagogisches Vorspiel zur Disziplinierung des wissenschaftlichen Denkens. Und was es da sonst noch für Beschreibungen für ›das Philosophieren‹ geben mag. – In einem Satz: Das Philosophieren gestaltet sich in der Nachfolge Husserls als angestrengtes, leidenschaftliches Ringen um »echten und wahren Sinn«, um den »Sinn des echten Menschentums«. 19 Das trägt auch uns! –

III. ›Klassische Phänomenologie‹ und ›existentielle Phänomenologie‹ Das also sind die auch für uns bedeutsamen historischen Vorzeichnungen, die theoretischen Vorschriften durch die ›klassische Phänomenologie Husserls‹. – Wir folgen ihnen gerade, indem wir sie systematisch und eigenwillig ›existentiell verwirklichen‹. Das ist, darauf sei ausdrücklich hingewiesen, kein gewaltsamer Bruch, keine ›phänomenologische Sezession‹ (originell zu sein um jeden Preis). Die Phänomenologie ist ›in sich selbst‹ angelegt als fortlaufende Gestaltung eines philosophischen Arbeitsprozesses. Sie ist eine Arbeits-Philosophie. Das sich so Entfalten entspricht der ›phänomenologischen Bewegung‹. Die Phänomenologie ist durchaus wortwörtlich eine ›Bewegung‹. Eine Bewegung und eben kein dogmatisch festgefügtes Schulgebäude. Sie darf, nimmt sie ihr Selbstverständnis als systematisch gerichtete ArEine Intention Husserls, der in der Literatur zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. 19 Vgl. z. B. Krisis-Abhandlung, § 6. 18

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beitsphilosophie ernst, kein Nachbuchstabieren dieser oder jener TextVorlagen (und seien sie vom ›Meister Husserl‹ selbst), gut heißen oder gar fordern. Husserl hat sich gerade dieser Gestalt seiner Phänomenologie verweigert. – In diesem Sinne schauen wir auch weiterhin selbst systematisch hin und uns wirklich zu. – Ein Selbstverständnis unseres phänomenologisch so gerichteten Philosophierens hat uns bisher geführt. Uns bewegt nicht mehr das ›unbedingt Ideale‹, das ›metaphysisch Tiefste‹, die ›absolute Geltung‹, auch nicht (noch weniger) diese oder jene ›philosophischen Moden‹. Mit unserem Blick, unserem Schauen, entfaltet sich schlicht ›nur‹ eine anthropologisch wirkliche ›phänomenologische Grundlagenforschung der Existenz‹. Das also ist unser Anspruch: eine phänomenologische Fassung unseres wesentlich wirklichen, wirklich wesentlichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Die noch neuzeitlich ›idealistischen Träumereien‹ (von) einer ›reinen, absoluten Vernunft‹, ein unbedingtes Grundlagen-Wissen usw. sind für uns wortwörtlich ›wirklich wirklich‹ ; und sind nun von Anfang an ausgeträumt. – Schauen wir auch weiterhin nur auf uns selbst! Das wirkliche Dasein, das leibhafte Da-und-So-in-der-Welt-sein, ist für uns das selbstverständliche Fundament auch unserer Vernunft und jeder (eben menschlichen) Vernünftigkeit. Einschließlich der ›philosophischen Reflexionen‹. Ausdrücklich nicht umgekehrt! Das haben wir nie aus den Augen verloren. Wir konnten es gar nicht übersehen. Es hat sich uns immer eindringlicher entdeckt. Unser Da-in-der-Welt-sein, unser so und nicht mehr anders sein (können), ist philosophisch keineswegs eine abstrakte Setzung. Beispielsweise eine bloß erkenntnistheoretische oder ontologische Variable. Oder eine willkürlich-theoretische Einführung eines philosophisch-spekulativen Als-ob u. ä. – Unser Dasein wird von uns wirklich sehr unterschiedlich erfahren. Differenziert oder einfach, möglicherweise sogar auch (theoretisch und praktisch) widersprüchlich eingesehen und erlebt. – Immer aber, das ist der Stand unserer Reflexionen, phänomenologisch ›existentiell vorgestellt‹ als unser intentional konkretes ›in-und-so-in-diese-Welt-gestellt-sein‹. – Die anthropologisch phänomenologische Grundformel dafür scheint uns ganz einfach: Ich bin wirklich Da! So bin ich wirklich! – Das benennt den phänomenologischen Horizont für unsere Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten. – Auch für die weiteren Schritte brauchte es nun keine ›intellektuellen Verrenkungen‹, keine ›spekulativen Konstrukte‹. ›Ich bin da‹ als ›Wir sind‹ ! Lesen wir das 156 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

III. ›Klassische Phänomenologie‹ und ›existentielle Phänomenologie‹

ohne jede ›philosophische Übertreibung‹. Wir sind ohne weiteres Da als Ich und Du. Darauf im Alltag achtend oder nicht. Eingeschrieben sind wir in diese unsere, uns im Grunde ›gemeinsame‹ Lebenswelt ›Großstadt‹. Meine, deine, unsere wirklich wirkliche Welt mit ihren in sich verschlungenen ›Innen- und Außenhorizonten‹ ist wesentlich unsere Lebenswelt; und ist es ›von Anfang an‹. – Um das nun, so fordert es die Phänomenologie, selbst einzusehen, und es nicht nur irgendwie nach-zu-denken, braucht es einen ›radikalen‹ Perspektivwechsel der Wahrnehmung, des Schauens und der Reflexion der Reflexionen. – Vergessen wir das auch in Zukunft nicht bei unserem gemeinsamen phänomenologischen Arbeiten! – Noch einmal reflektiert mit Blick auf Husserl. Husserl, so haben wir gesagt, denkt durchaus im Horizont der Moderne; das ist für uns gleich der Lebenswelt ›Großstadt‹. ›Wahrheit‹, ›Ordnung‹, ›Geltung‹ und (transzendental gesetzte) ›Menschen-Vernunft‹ werden von ihm als unsere ›Existenz bedrohend‹ ungesichert oder, um das mindeste zu sagen, als erheblich gefährdet erlebt. 20 Das neuzeitlich-idealistische Philosophieren von Descartes bis Kant sei weit davon entfernt ›die‹ Lösung für uns herstellen zu können. Es sei, so Husserl, in Wahrheit selbst sogar Ausdruck der ›Krisis des Mensch-seins‹. Es zeige mit dieser Gestalt die ›Verwirrung‹ und die ›Herausforderung‹ der wissenschaftlichen, der abendländischen Vernunft. – So etwa beschreibt (fasst) Husserl es in seiner ›Krisis-Schrift‹. Wieder finden wir uns in der Nähe dieser (von mir so genannten) ›klassischen Phänomenologie‹. Sehen wir hier aber, um nicht fehl zu gehen, noch etwas genauer hin. Und zwar schauen wir hin auf unsere je eigenen ›existentiellen Erfahrungen‹. – Diese ›Erfahrungen einer Gefährdung‹, eines ›Gefährdet-seins‹, gleich ob gefühlt oder gedacht, erlitten oder ›erfunden‹, ›reflektieren‹ sich eben nicht nur in den Wissenschaften und in der Philosophie. Also nicht nur als ein schon so oder so in eine allgemein ›vernünftige Form‹ gebrachtes System von Begriffen oder begriffenen Bildern. Ein bloß ›konsistentes‹ philosophisches System mit dem irgendwie ›gerechnet‹ werden kann. – Lassen wir uns nicht durch diese Form einer ›begrenzten Vernünftigkeit‹ unsere wirkliche Wirklichkeit theoretisch verstellen. Das kann, schauen wir nur genau hin, ›anthropologisch‹ doch gar nicht anders sein. Diese unsere Wirklichkeit ›reflektiert sich‹ umfasNaturalismus, Historismus, Relativismus sind die Chiffren für die letztendlich existentielle Gefährdung modernen Da-seins.

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sender, ›irrationaler‹, auch unfasslicher für eine allzu ›eng‹ stringent angelegte Vernünftigkeit! – Schauen wir beispielsweise wieder hin auf die als ›befreiend‹, ›bedrückend‹, ›verwirrend‹, ›unsinnig‹ oder ›bedrohlich‹ erlebten ›Kunst-Werke der Großstadt‹. Wir nehmen sie phänomenologisch als diese so breit gefassten Vorstellungen: ›das und so sind Kunst-Werke der Großstadt‹, existentiell sehr ernst. Eben als vielfältiger Ausdruck, als Verdichtung unterschiedlicher Perspektiven, kurz: als ›ästhetische‹ Gestaltung unserer lebensweltlich wirklichen Erfahrungen So-Da-zu-sein. – Vor allem Eines drängt sich auf und kann uns schon hier nicht verborgen bleiben. Das absolut Schöne und Gute, das unbedingt Wahre scheinen uns nur noch als ›historische Begriffe‹, als ›Erinnerungen‹ bedeutend zu sein. 21 Selbst als ›regulative Ideen der Kunst‹ sind sie für uns praktisch unbrauchbar geworden. – An dieser Stelle mag vorerst eine kleine kunstgeschichtliche Erinnerung genügen. Schauen wir beispielsweise auf die vielbesprochenen ›Dadaistischen Kunstgestaltungen‹, ihre ›technischen‹ Darstellungsformen, einschließlich der so vorgestellten Welt- und Selbstperspektiven. Offensichtlich und auch kunstgeschichtlich unbestritten sind sie eine sehr eindringliche Form ›großstädtischer Kunst‹. Selbst bei einer nur oberflächlichen oder ›nur dilettantischen‹ Betrachtung sehen wir es: ›Ortschaft dieser Kunst‹, ›Kunst-Form‹, ›Wahrnehmen‹ und ›Da-und-Soin-der-Welt-sein‹ verweisen hier aufeinander. – Collage und Montage, diese Prinzipien Dadaistischer Kunst lesen wir phänomenologisch nicht als bloß ›interessante Methoden, als künstlerische Experimente der Bildgestaltung‹. Sondern immer auch als unsere (nach wie vor) reflexive Selbstgestalt und Selbstgestaltung. Und so als uns zugehöriger ›Stil‹ unserer Großstadtwahrnehmung. – Also kurz und knapp: eine Verflechtung und ein Zugleich von ›Welt-Entwurf‹ und ›Selbst-Gestaltung‹ ! 22 Nicht nur einer bestimmten historischen Situation geschulRobert Musil fasst es so: Der Geist der Neuzeit hasse »heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinernden Abdruck, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung; weil unsere Kenntnis sich mit jedem Tag ändern können, glaubt er an keine Bindungen, und alles besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nächsten Tag der Schöpfung, wie ein Gesicht, zu dem man spricht, während es sich mit den Worten verändert.« (Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1978. S. 154.) 22 Vgl. »Für das Auftreten von Collage und Fotomontage als neuere künstlerische Medien gibt es knapp gesagt zwei Ursachen, eine technische: die Erfindung der Photographie und deren Rückwirkung auf die Kunst, und eine bewusstseinsmäßige: der Verfall eines von einer zentralen Idee zusammengehaltenen einheitlichen Weltbildes zuguns21

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III. ›Klassische Phänomenologie‹ und ›existentielle Phänomenologie‹

det. In der Tat sind es, lassen wir uns darauf ein, eigenartig verwirrende und irritierende Vorführungen einer nun wirklich (wortwörtlich) ›ästhetischen Reflexion‹ unseres In-der-Welt-seins. ›Wir‹ ›da‹ und ›so‹ in und mit einer uns, wie es uns selbst scheint, unverständlich gewordenen Welt; in und mit der wir ›uns wahrhaftig schwer tun‹. Schon diese ästhetischen Formen, einschließlich des Wahrnehmens und des Gestaltens des Wahrnehmens, machen uns also auf uns selbst und unsere Welt aufmerksam. Die Lebenswelt ›Großstadt‹, unser Da-und-So-Sein, reflektiert sich ästhetisch für uns wahrnehmbar wirklich wesentlich. Oder so: sie ›ist‹ selbst wirklich mögliche Gestaltung, geradezu ein ›Bausatz‹ für ästhetisches ›Lebens-Welt-collagieren‹ und ›LebensWelt-montieren‹. – Selbst wer hier Widerspruch geltend macht, zumindest in einem wird er sicher mit uns übereinstimmen. Das sind, gleich aus welcher Perspektive auch immer betrachtet, grundsätzlich ›Vorstellungen‹ unserer existentiellen Bestimmung. – Der ›moderne, großstädtische Mensch‹ sucht für sich selbst, für seine auch ›irrationalen‹ Erfahrungen, sein ›So-in-dieser-Welt-sein‹ neue Bilder, Metaphern, Begriffe, Prinzipien, Sehweisen und Methoden. Und das nicht nur in der Kunst. – Das drängt sich uns also auch mit den ›modernen Kunst-Werken‹ auf: – Dasein heißt hier und jetzt Leben ohne uns wirklich verpflichtende ästhetische, philosophische oder religiöse Perspektiven. 23 Das Wahre? Das Gute? Das Schöne? Nichts weiter als › weltanschauliche Angebote‹. – Das nun ist die allgemeine Ausgangslage ›der‹ Moderne. Literarisch aus ›gutem Grunde‹ auch gestaltet als ›Unbehagen an der (modernen) Kultur‹. Das bestimmt von Beginn an auch den philosophischen Einsatz Husserls. Er hat die theoretische und praktische Gestaltung der Lebenswelt ausdrücklich als wissenschaftliche, philosophische und existentielle Herausforderung angesprochen. Verdichtet in der Frage: ten eines pluralistischen (…) zusammengesetzten und nicht mehr in allen seinen Teilen zu erfassenden und zu überschauenden Bildes von der Welt, das unserem Bewusstsein heute seine Vorstellungsinhalte vermittelt.« (Collage und Montage. In: Tendenzen der zwanziger Jahre. 15. Europäische Kunstaustellung in Berlin. 19772. S. 3/30.) 23 Dazu schreibt Musil: »So ist der Geist der große Jenachdem-Macher, aber er selbst ist nirgends zu fassen, und fast könnte man glauben, dass von seiner Wirkung nichts als Zerfall übrig bleibe. (…). Unzählige Auffassungen, Meinungen, ordnende Gedanken aller Zonen und Zeiten, aller Formen gesunder und kranker, wacher und träumender Hirne durchziehen ihn zwar wie tausende kleiner empfindlicher Nervenstränge, aber der Schallpunkt, wo sie sich vereinen fehlt.« (Musil. 19782. S. 154.)

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was zu tun sei, um diese ›existentielle‹ Verwirrung, diesen ›Verfall der wissenschaftlichen Vernunft‹, den Niedergang abendländischen Menschentums, philosophisch zu wenden. – Aber noch mit seiner ›SpätPhilosophie‹, in seinem Blick schon Scheler und Heidegger, bleibt Husserl konsequent auf seiner neuzeitlichen Linie. Vergleichbar dabei durchaus den Neukantianern. Er hatte sich ihrem Denken, vielleicht mehr als er sich eingestehen wollte, immer deutlicher angenähert. Husserl versuchte eine Lösung der ›Krise der Philosophie‹, der ›Krise der Vernunft‹, durch eine, wie er glaubte, endgültige Verwirklichung transzendentalen Denkens. Konkret einer ›radikalen‹ Sicherung der ›wissenschaftlichen Vernunft‹ durch phänomenologische Reflexionen. Für Husserl war es seit den Logischen Untersuchungen, nie ernsthaft fraglich, dass es die Ideale: unbedingte Geltung, die absolute Wahrheit, die Logik, gebe. Genauso wenig zweifelte er an der Möglichkeit, dazu einen philosophischen, einen phänomenologischen Bezug, als ein ›unbedingtes‹ Fundament herstellen zu können. Er fragt ›neuzeitlich selbstverständlich‹ so: ›was ist‹ der unbedingte Legitimationsgrund der wissenschaftlichen Erkenntnis? Und, ›wo‹ zeigt er sich? Und durch welche Methoden wird dieser notwendige Anfang der wissenschaftlichen Philosophie und der philosophischen Wissenschaften (der ›zweiten Philosophie‹) ›entdeckt‹ und ›gesichert‹ ? – Danach also streckte Husserl sich ein ganzes Forscherleben lang aus. Seine Phänomenologie entfaltete sich als ein wahrhaftig angestrengtes Arbeiten, Sinn und Geltung für die Wissenschaften, die Philosophie und, nicht zu vergessen, weil davon wesentlich nicht zu trennen, das Mensch-Sein überhaupt vorzustellen. – Das bleibt auch für uns ›existentielle Phänomenologen‹ (nicht nur aus Pietät) nach wie vor grundsätzlich gültig. Allerdings nun so: als Gestaltung von existentiell zu verwirklichenden ›wesentlich-lebensweltlichen‹ Formen, Lagen und Bestimmungen. Das sind für uns die anthropologischen Weisen, die phänomenologisch hier und jetzt nicht mehr voneinander losgelöst zu denken sind. –

IV. Krise des Philosophierens Von diesem unseren als wirklich bestimmten Ort her nun eine weitere ›kleine‹, aber für uns notwendige ›Exkursion‹. Sie öffnet den Blick für einen hierhergehörenden wesentlich phänomenologischen Zusam160 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

IV. Krise des Philosophierens

menhang. – Vor uns also die so unterschiedlichen, sich durchaus auch widersprechenden Weltdeutungen und, immer dazugehörend, konstitutiven Selbstdeutungen der Wissenschaften, der Religionen, der Philosophie und der Kunst. Das alles nehmen wir wahr. Nehmen es hin, so wie es sich uns zeigt, sich selbst uns ›nahelegt‹, sich uns gibt. Vor allem in unseren Blick ausdrücklich als etwas Konstruktives für unser phänomenologisches Arbeiten kommt. Unserem Ausschau-halten nach dem wirklich wirklichen, dem existentiellen Wesen der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Selbst noch dass ›das Philosophieren hier und jetzt‹ sich selbst, gewollt oder auch nicht, als ›philosophisches Problem‹ vorführt, gibt für uns (wir haben davon gesprochen) existentiell Sinn. – Für uns Phänomenologen, die nicht mehr in Allem den geltungstheoretischen Vorlagen Husserls folgen (können), besteht also angesichts dieser ›phänomenologischen Fülle‹ kein Anlass, kein ›Grund‹ zu einer Resignation. 24 Wir nehmen es zunächst ganz schlicht als einen Hinweis auf unser, als existentiell ungesichert erlebtes Da-und-So-in-der-Weltsein. Und dementsprechend als Aufforderung, uns selbst noch radikaler, also noch wesentlich-wirklicher zu ›reflektieren‹. – Das liegt nun aus dieser Perspektive für uns gleichsam auf der ›Oberfläche‹. Wir haben es von Beginn an auch dementsprechend wahrgenommen, haben es nicht verdrängt! Für uns so ›phänomenologisch Schauende‹, so ›existentiell Reflektierende‹ wird schon unser Denken des Gedankens ›Lebenswelt Großstadt‹, so wie er sich uns schlicht zeigt, zu einer positiven philosophischen Herausforderung. Sehen wir uns nun auch weiterhin einfach zu. – Das Philosophieren, die Philosophie, der Philosophierende und sein Denken von Gedanken (das Philosophieren, die Philosophie, der Philosophierende) sind gleichermaßen selbst im philosophischen Blick. – Die Philosophie, das Philosophieren, auch ›der Philosophierende selbst‹ sind zweifellos historisch betrachtet schon sehr bedeutsame Kulturleistungen. Wirklich und wahrhaftig entfaltete Potentiale unseres Abendlandes! Und wer möchte es bestreiten: auch praktisch sehr fundamentale Kulturleistungen! Also schon historisch ist die Philosophie nicht irgendeine bloß begriffAnders Husserl, bei dem immer wieder eine tiefe, geradezu existentielle Besorgnis über den ›philosophischen Betrieb‹ durchscheint. Z. B.: Seit Mitte des vorigen (19.) Jahrhunderts sei, gegenüber den vorangehenden Zeiten, der Verfall unverkennbar. Oder: »Unselige Gegenwart«; »modisch literarischer Betrieb«; verloren gegangen sei »der Geist des Radikalismus philosophischer Selbstverantwortung«. (Cartesianische Meditationen. § 2.)

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F Existentielle Phänomenologie

liche Fassung von diesem oder jenem Zufälligen, Interessantem oder auch diesem oder jenem historisch Vereinzelten, dem man ›Allgemeingültigkeit‹ unterlegen möchte. Kurz und knapp: Die Philosophie ist keine historische Verwirklichung einer (mit Blick auf die Wissenschaften) bloß ›vorläufigen‹ historischen Form. Oder begriffen als ›vage‹ Vor-Leistung für eine (warum auch immer) ›aufbrechende‹ theoretische und praktische Weltaneignung. Sie habe noch – so wird behauptet – den Staub der ›theologischen Metaphysik‹ in den Kleidern. Daher habe der Philosophierende nun, das zu Grunde gelegt, endgültig ›den Stab‹ an die Wissenschaften weiterzureichen. Jetzt erst gelte wirklich und tatsächlich: ›Vom Mythos zum Logos‹. – Wir sehen es aber so: Das Philosophieren ist ›wahrhaftig‹ und ›von Anfang an‹ unsere notwendig existentielle Daseins-Gestalt. Ein sich wirklich ›systematisch‹ als So-Da-in-dieser-Welt zur Kenntnis nehmen. Als diese uns notwendige Daseins-Gestalt und Daseins-Gestaltung ist sie phänomenologisch, also existentiell und anthropologisch fundamental zu reflektieren. – ›Abendländisches Dasein‹ entdeckt sich, nun ganz ›horizontal‹, in dieser phänomenologischen Form der reflexiven Reflexion als endgültige (nicht ›absolute‹) Entfaltung eines ›systematischen‹ Gedankens in der Geschichte. – Diese eher formale Betrachtung der ›Geschichte der Philosophie‹ führt uns phänomenologisch etwas sehr bemerkenswertes vor Augen. Und zwar: Eine von Beginn an anthropologisch relevante Spannung zwischen ›Anspruch‹ und ›Wirklichkeit‹. – Schauen wir nur ohne ›philosophische Vor-Urteile‹ genauer hin. Die unterschiedlichsten Ausführungen der philosophischen Reflexion, die Versuche einer Verwirklichung des Anspruches, sind ›in Wirklichkeit‹ nie anders als grund- und haltlos. So kann es eben auch nicht dem Einfall eines genialen Einzelnen geschuldet sein, bekanntlich werden die unterschiedlichsten Namen genannt, dass das Philosophieren sich letztendlich selbst als ›radikal existentielle Reflexion‹ erreicht und einführt. Also ganz folgerichtig philosophisch auch vor sich selbst, dem eigenen Schauen, nicht haltmacht; vorausgesetzt es nimmt den eigenen Gedanken ernst – nicht haltmachen kann. – So ist dieses ›wirklich auf sich Zurückkommen-müssen‹, kein Ausdruck einer ›hilflosen Regression‹. (Im Sinne von: Nur das Philosophieren sei dem Philosophieren noch geblieben.) Im Gegenteil! In und mit dieser nun anthropologischen Form einer unentwegten existentiellen Reflexion der Reflexion der Reflexion, also dem Philosophieren über das Philosophieren eines wirklichen Philosophierenden, werden die Möglich162 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

IV. Krise des Philosophierens

keiten, das Potential des Philosophierens überhaupt erst entscheidend entfaltet und eingesetzt. – Diesen Gedanken legen wir uns phänomenologisch vor. – Gleich von welcher Perspektive wir das Werden der Philosophie auch betrachten. Eine sehr bedeutsame Veränderung in der ›philosophischen Landschaft der Moderne‹ können wir dabei nicht mehr übersehen. Sowohl die idealistischen ›Überheblichkeiten‹ als auch die positivistisch-szientistischen ›Unterforderungen‹ des ›neuzeitlichen Philosophierens‹ sind aus und dahin. Dahin beispielsweise ›der Glaube‹, und das selbst noch als Möglichkeit, zu wissen: ›was die Wahrheit an und für sich‹ sei. Und dahin auch die damit verbundene, vermeintlich ganz und gar aufgeklärte Sicherheit, theoretisch und praktisch endgültige Grenzen für ein gültiges humanes-vernünftiges Menschsein einziehen zu können. (›Ich weiß; ich soll; ich kann‹ !) Kurz in allem, wirklich allem, ›das entscheidend letzte Wort zu haben‹. – Die beiden sehr bedeutenden GrundSpielarten neuzeitlichen Philosophierens: Rationalismus und Empirismus, (die dem, in der einen oder andern Form zugrunde liegen), sind für uns nur noch Geschichte. Ihre historischen Leistungen bleiben dabei ausdrücklich für uns außer Frage. – Diese Einsicht in das ›Scheitern der naiv optimistischen Aufklärung‹ berührt uns philosophisch aber nicht nur historisch. Blicken wir nur auf das Philosophieren der zurückliegenden hundertfünfzig Jahre. Das Philosophieren entdeckt sich ›mit‹ diesem Zeit-Raum nach und nach als philosophisch selbst tief verunsichert, als wesentlich wirklich existentiell herausgefordert. Also nicht nur mit Blick auf das wissenschaftliche Denken und seinem gesichert scheinenden Anspruch. – Sondern das Philosophieren, die Philosophie, gestaltete sich durch sich selbst, der eigenen ›Logik‹ gemäß, als wirklich wesentlich, als fundamental erschüttert. 25 – Wir sind nicht etwa nun endgültig auf Abwege geraten. Haben nicht unser Anliegen aus dem Blick verloren. Es uns durch diese ›kleine Exkursion‹ ganz und gar verstellt. Sondern wir lesen diese (nennen wir es nun so) ›Krise des Philosophierens‹, als eine vor allem tiefe existentielle Verunsicherung unserer ›Ortschaft des Denkens‹. – Die Krise des neuzeitlichen Philosophierens ist eben keineswegs nur eine historische Frage, die dieser oder jener brüchig gewordenen Tradition geschuldet Die philosophiegeschichtlich beachtlichen, aber auch systematischen ›Rückgriffe‹ auf Descartes, Kant, Hegel oder (auch) Fichte sind dabei kein Widerspruch, sondern vielmehr eine Bestätigung!

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wäre. Oder, dieser oder jener philosophischen Methoden, die nun, angesichts der offensichtlichen wissenschaftlichen Erfolge seit dem 19. Jahrhundert, als unzulänglich, nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Sondern wir sehen es phänomenologisch so: Ein sich von Beginn an als ›im Grunde‹ wesentlich vernünftig behauptendes Denken von wahren Gedanken erfährt sich selbst gründlich entfaltend, zu seinem Erschrecken, in einem ›nicht-vernünftigen‹, ›unfassbar irrationalen‹ ›Da‹ und ›So‹ fundiert. – Was heißt das für uns? Nur auf dem ersten Blick mag es, vor diesem Hintergrund eigenartig anmuten, dass gerade in dieser ›Krise des neuzeitlichen Philosophierens‹ unsere philosophische Zuversicht wurzeln solle. Dass sich unsere phänomenologische Radikalität gerade daraus existentiell entfalte. – Davon gehe ich aus: Diese Krise der Philosophie zwingt zur existentiellen Phänomenologie. Schon allein dadurch, dass wir nun wirklich aufbrechen müssen aus einem für uns hier und jetzt ›existentiell unpassenden‹ (beispielsweise ›transzendentalen‹) Selbst- und Welt-Verständnis. Heraustreten aus philosophischen Selbstverständlichkeiten und sich philosophisch ›endlich‹ neu positionieren! Wieder abschließend kurz und knapp: die ›Krise der neuzeitlichen Philosophie‹, die wohl kaum ernsthaft geleugnet werden kann, wenden wir phänomenologisch zur ›existentiellen Krisis unseres Philosophierens‹. – Die neuzeitliche philosophische Grundhaltung scheint uns – uns, die wir nun wirklich lebensweltlich großstädtisch (modern) gebunden sind – existentiell brüchig; wir erfahren sie selbst, an uns selbst als für uns grundlos und fragwürdig. –

V. Der Naturalismus Daran haben wir uns nun zu halten. Reflektieren wir es zunächst wieder mit einem Blick auf Husserl. – Die ›transzendentale Position‹ Husserls, gesammelt, verdichtet in seinen ›großen Schriften‹, ausgerichtet auf eine endgültige ›Logik der Philosophie‹, ordnet nun, und zwar historisch und systematisch, auch die ›Gegner‹ der Phänomenologie. Im Sinne von: Für oder wider der Vorstellung einer unbedingten, geltungssichernden Vernunft. Für Husserl war es von Beginn an vor allem der Naturalismus (seine unterschiedlichsten Spielarten), der, wie er glaubte, philosophisch-geltungstheoretisch herausforderte. Genauer, das naturalistische, biologistische, psychologistische Denken und seine 164 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

V. Der Naturalismus

philosophischen und wissenschaftstheoretisch ›verderblichen Konsequenzen‹. Es sei der, dieses Denken bestimmende, offen vorgetragene oder verdeckte geltungstheoretische Relativismus (mit sehr praktischen Folgen), der die Phänomenologie zwinge, es ›kritisch im Auge zu behalten‹. – Und das gilt nach wie vor; also bis auf den heutigen Tag. Der Naturalismus formatiert und systematisiert sich erkenntnistheoretisch im 19. Jahrhundert vor allem in der Gestalt der ›Assoziationspsychologie‹ mit ihren ›mechanistischen Konstruktionen‹ des Bewusstseins. Verstärkt, ›modisch‹ aufgewertet und durchaus (in allem Ernst) ›wissenschaftlich‹ unterlegt werden diese Sichtweisen durch unterschiedliche Spielarten des Darwinismus. 26 Im 20. Jahrhundert entfaltet sich schließlich naturalistisches, biologistisches und positivistisches Denken (auch was die Begründung, ihre wissenschaftstheoretische Gestaltung und ›Dignität‹ betrifft) psychologisch, sozialwissenschaftlich und philosophisch sehr variantenreich. Der Naturalismus, die Verwendung des ›bestimmten Artikels‹ darf uns nicht in die Irre führen, kann also sehr unterschiedlich fundiert sein. Als ›wissenschaftliche Gestaltung‹ genauso, wie als ›Weltanschauung‹ oder, mehr oder weniger verdeckt, als ›ideologische Perspektive‹ usw. – Die Namen sind bekannt. 27 In einem aber kommen diese im Einzelnen also sehr unterschiedlichen Vorstellungen überein. 28 Und zwar in ihrer naturalistischen, positivistischen, und das ist letztendlich immer auch eine ›relativistische‹, Reduktion der auf Wahrheit, auf Geltung gerichteten Gedanken und Ideen der Menschen. – Ausdrücklich also nicht nur im Blick als bloß erkenntnistheoretische Frage. Sondern, so befürchtete Husserl, eine ›Verdeckung‹, sogar ›Zerstörung‹ der Idee des MenschSeins selbst. Und zwar gerade durch eine Reduktion (eine ›Relativie-

Wissenschaftsgeschichtlich in seiner Bedeutung zu Recht unumstritten. Aber auch die wirklichen philosophischen Konsequenzen des ›Darwinismus‹ dürfen phänomenologisch nicht unbeachtet bleiben. Z. B. »Wie die gigantischen Lichter einer Illumination sich vom schwarzen Nachhimmel abheben, so leuchteten die Riesenlettern des Namens Darwin durch Kunst und Dichtung. Keine Lehre hat auf das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts eine auch nur annähernd gleich starke Wirkung ausgeübt, wie sie der Darwinismus auf das geistige Leben nahm.« (Max von Boehn. Die Mode. Menschen und Moden im 19. Jahrhundert. München 19252. S. 71 ff.) 27 Denken wir beispielsweise (um nur einige Namen zu nennen) an Sigmund Freud und seine Schule; an Ernst Mach; Otto Neurath; Rudolf Carnap; Hans Reichenbach. 28 Unterschiedlich auch in ihrer wissenschaftlichen und philosophischen Qualität. 26

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F Existentielle Phänomenologie

rung‹) auf diese oder jene ›nur‹ biologischen, psychologischen, soziologischen oder historischen ›Tatsachen‹. 29 – Mir scheint diese umfassende Zurückweisung, diese oft ›polemisch‹ vorgetragene Ablehnung (›Verderberin‹ des philosophischen Gedankens) etwas ungerecht! Getragen werden die ›Naturalisten‹ nämlich durch einen durchaus anerkennenswerten neuzeitlich aufklärerischen Pathos. 30 Sie verstehen sich ›im Grunde‹ nicht weniger als ›Aufklärer‹ als die ›transzendental‹ ausgerichteten Philosophen. Behauptet und auch praktisch angestrebt wird eine strikt ›wissenschaftlich‹ orientierte und fundierte, durch und durch, wie man meint, ›vernünftig humane‹ Weltanschauung. Sie wird theoretisch ausdrücklich und durchaus mit praktisch relevantem Nachdruck vertreten. – Das ist der Gedanke einer für uns auch lebensweltlich bedeutsamen wissenschaftlichen Weltanschauung. Implizit eingerichtet als ein umfassend gültiger ›wissenschaftlicher Humanismus‹. Sie solle und könne, so wird behauptet, auch praktisch den wesentlichen Bedürfnissen des wirklich wirklichen, des endlichen Menschen Rechnung tragen. Dieses ›humane Selbstverständnis‹, geradezu ein ›Sendungsbewusstsein‹, ist für die philosophisch anthropologische Position dieser ›Schulen‹, ihren immer auch ›praktisch aufklärerischen‹ Anspruch von Bedeutung. – Ich denke hier beispielsweise an das philosophisch oft unterschätzte Denken der Mitglieder des ›Wiener Kreises‹. – Mit der ›Neurobiologie‹ als Leitwissenschaft – so Thomas Fuchs – sei das naturalistische Programm an einen entscheidenden Punkt gelangt. »Es begnügt sich nicht mehr mit der Reinigung der Natur durch Verschiebung von Qualitäten in das Subjekt. Auch das subjektive Erleben, das Bewusstsein selbst soll nun naturalisiert, auf physikalische Prozesse zurückgeführt werden.« (Das Gehirn ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart 2008. S. 19.) 30 Im Blick auf den Mythos bemerkenswertes bei Alfred Lorenzer: »Der Mythos verschwindet aus dem Feld der Erkenntnis. Er braucht weder akzeptiert noch aufgelöst zu werden. Er fällt durch die Maschen der partikularisierenden ›Rationalität‹ hindurch. Das, was er repräsentiert hatte, kann vergessen werden. Und das schließt einen weiteren Verlust ein: Die vordem vom Mythos repräsentierten sozialen und subjektiven Inhalte werden zu abstrakten Formeln entleert. Was nicht domestizierbar ist, verliert seinen Erkenntnisanspruch und rutscht in die Dunkelzone zwischen durchrationalisierten Erkenntnisbereichen. Der Zerfall der Gesamtdeutung ist die eine, die Praxisenthobenheit der Begriffe bei zunehmender Formalisierung ist die andere Folge. Der Rest wird pathologisiert zu Angst, Wahn und Melancholie – oder privatisiert als unvernünftiges Glücksverlangen, verlacht als Utopie, die keinen Platz mehr fand. Aufklärung, die einstmals die Kraft der Erkenntnis gegen das finstere Unheil mobilisiert hatte, schlägt um in Blendung.« (Das Konzil der Buchhalter. Frankfurt/M 1992. S. 105 f.) 29

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V. Der Naturalismus

Mögen nun Namen und Begriffe sich verändert haben. Das ›naturalistische Selbstverständnis‹ und seine ›wissenschaftliche Weltanschauung‹, und die damit verflochtenen theoretischen und praktischen Konsequenzen, sind sich im Grunde gleich geblieben. Denken wir in diesem Zusammenhang an manche der sehr breit und verallgemeinernd vorgetragenen neurobiologischen Perspektiven. 31 – Aber auch hier klammern wir alle Urteile als Vor-Urteile (zunächst) ein. Gleich ob sie uns zusagen oder nicht! Vor allem aber die der phänomenologischen Tradition selbst ›stillschweigend‹ entnommenen. Schauen wir immer wieder und von Anfang an selbst systematisch hin; einschließlich auf unser ›so Hinschauen‹ selbst! – Der ›naturalistische Blick‹ bleibt, das ist das erste, seinem eigenen Verständnis nach ausdrücklich naturwissenschaftlich begrenzt. Er ist also durch sich selbst (!) methodisch eng eingewiesen. 32 – ›Der Naturalist‹, so schreibt Husserl also zu Recht, sehe nichts anderes als Natur »und zunächst physische Natur.« 33 Das, was Wert sei, wissenschaftlich betrachtet, für eine Forschung ›vorgestellt‹ zu werden, stehe im Grunde also von vornherein fest. Es habe grundsätzlich einem bestimmten ›Modell von Wissenschaftlichkeit‹ zu genügen. Dementsprechend auch nach klaren ›positivistischen‹ Regeln, ›theoretisch‹ und ›praktisch‹ ›zugänglich‹ zu sein. Im Übrigen gelten diese Vorgaben nun auch für ein sich ›philosophisch‹ behauptendes Denken. – Wir aber schauen einfach hin und zu. – Der eigenartige Zirkel dieser naturalistischen Argumentation scheint uns (›augenscheinlich‹ also) offensichtlich! – Und trotzdem. Das sind erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Positionen, Vorstellungen, Einsichten, die nicht Etwa beispielsweise: Eric Kandel. Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute. München 2012. 32 Eine sachliche Engführung, die, wie Husserl zu Recht beschreibt, auf eine bestimmte ›Einstellung‹ zurückzuführen ist. »Den herrschenden Auffassungsgewohnheiten entsprechend neigt der Naturwissenschaftler dazu, alles als Natur, der Geisteswissenschaftler alles als Geist, als historisches Gebilde anzusehen und demgemäß, was nicht so angesehen werden kann, zu missdeuten.« (Logos. S. 294.) 33 Logos. S. 294. Denken wir beispielsweise an Iwan Petrowitsch Pawlow. In seiner wissenschaftlichen und weltanschaulichen Stringenz geradezu beeindruckend. Sein Forschungsziel, so schreibt er, sei eine restlose Rückführung jeder psychischen Tätigkeit auf die »Physiologie der Nervensysteme«. Konsequent spricht er von den »sogenannten« psychischen Formen. Die Psychologie habe Physiologie zu werden. (Vgl. Ausgewählte Werke, Berlin (Ost). Z. B. S. 306 ff.) 31

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mit leichter Hand abgetan werden können. Es verwundert uns nicht, dass Husserl sich daran ein Leben lang abgearbeitet hat. – (Zumindest ich halte daran fest): Eine ernsthafte, auch wertschätzende Auseinandersetzung darf dem ›Naturalismus‹ (in seiner ›Hochform‹ ; alle ›vulgären‹ Varianten lassen wir hier außer Acht) nicht verweigert werden. Es ist sogar so, dass Verdrängung, Missachtung oder gar Abwertung der im weitesten Sinne ›positivistischen Fragestellungen und naturwissenschaftlichen Herausforderungen‹ unser phänomenologisches Arbeiten nicht nur nicht fördern, 34 sondern im Gegenteil sogar unsere existentielle Gestaltung der reflexiven Reflexion blockieren. Allerdings aber – auch an dem Folgenden halten wir fest: Dieses schon um unserer Arbeit willen zu führende Gespräch kann nicht mehr mit den Mitteln, dem Selbstverständnis einer ›klassischen‹ transzendentalen Phänomenologie ›wirklichkeitsgerecht‹ geführt werden. Diese Einsicht bestimmt nun auch die Frage der Distanz und der Nähe unserer existentiellen Phänomenologie zu den Husserl’schen Vorlagen. –

VI. Existentielle Verwirklichung des ›idealistischen‹ Lebenswelt-Begriffs Wir konnten es gar nicht übersehen. Husserl, so haben wir es sicher zu Recht gesetzt, stellt sich sehr ernsthaft den Herausforderungen ›der Moderne‹. 35 Nicht erst mit den ›Krisis-Abhandlungen‹. Schon mit den ›Ideen‹ 36 eröffnete sich eine Möglichkeit, die Phänomenologie wortwörtlich ›als wirklich wesentliche Erfahrungswissenschaft‹ der Moderne, vielleicht sogar als eine ›Fundamental-Anthropologie‹ zu entfalten. 37 Wir werden mit dieser Schrift, so schreibt Husserl, »vom Jede Überheblichkeit, jeder philosophische Dogmatismus ist von Übel. Schon (beispielsweise) Alfred North Whitehead schreibt: »In der philosophischen Diskussion ist die leiseste Andeutung dogmatischer Sicherheit hinsichtlich der Endgültigkeit von Behauptungen ein Zeichen von Torheit.« (Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie. (1929) Frankfurt/M 1979. S. 27.) 35 In diesem Zusammenhang eine anregende Arbeit von Ferdinand Fellmann. Phänomenologie und Expressionismus. Freiburg i. Br./München 1982. 36 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. (Hua. III/1.) 37 Beispielsweise Ludwig Landgrebe: Es zeige sich – so schreibt er, sicher ganz im Sinne Husserls – »wie sehr unser modernes Leben zumeist selbst gar nicht mehr aus dieser Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit der Erfahrung lebt, wie sehr es schon von Vor34

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VI. Existentielle Verwirklichung des ›idealistischen‹ Lebenswelt-Begriffs

natürlichen Standpunkt ausgehen, von der Welt, wie sie uns gegenübersteht, von dem Bewusstsein, wie es sich in der psychologischen Erfahrung darbietet, und die ihm wesentlichen Voraussetzungen bloßlegen.« 38 – Aber auch hier bleibt Husserl letztendlich doch ›neuzeitlich‹ gerichtet. Aus seiner Sicht ganz folgerichtig. Er hat ausschließlich die ›unbedingte‹ Sicherung der Geltung der Erkenntnis der Wissenschaften und der Philosophie, kurz, der ›wissenschaftlichen Vernunft‹ im Blick. – Das ist selbstverständlich und nach wie vor ein wahrhaftig ›großes Ziel‹ ! Theoretisch und praktisch relevant! Unleugbar also ein bewundernswertes philosophisches Vorhaben! Auch für uns existentielle Phänomenologen! Diesen Gedanken zu ›verwirklichen‹ wäre auch ›lebensweltlich‹, denken wir an die von uns angesprochenen ›Krisen-Phänomene‹, wahrhaftig nicht wenig. Also von praktischer Bedeutung weit über die umlaufenden philosophischen Wissenschafts-Theorien hinaus. Einsichtig wird das vor allem, wenn man einen weiteren Gedanken Husserl mit hinzuzieht. Und zwar diesen. Diese gesuchte ›unbedingt vernünftige Wahrheit‹ habe phänomenologisch selbstverständlich auch die notwendige Bedingung für eine durchaus mögliche ›vernünftige praktische Weltgestaltung‹ darzustellen. – Daran hält Husserl bekanntlich zeitlebens fest. Seine Schriften (einschließlich seiner Forschungsmanuskripte) variieren diesen einen Grund-Gedanken. – Die wirklich wirkliche Lebens-Welt also, genauer unsere ›lebensweltliche Selbst-Erfahrung‹ Da-und-So-zu-sein, interessiert Husserl letztendlich in diesem Sinne (trotz allem) immer ›nur‹ als Herausforderung für ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch letztgültiges »Sinnfundament«. 39 – Das gilt auch für seine vielbemühte und zu Recht nicht nur von Philosophen oft zitierte (sogenannte) ›Spätphilosophie‹. Husserl entfaltet hier bekanntlich eine ›Phänomenologie der Lebenswelt‹. Aber auch hier bleibt er ausgerichtet auf die phänomenologische Wiederherstellung eines unbedingten Anfangs stellungen theoretischer Herkunft durchdrängt und geleitet ist, und wie es da immer neuer methodischer Anstrengungen bedarf, um unmittelbares Leben wiederzugeben und Welt, wie sie ihm zugänglich ist, zu verstehen und zu erfassen.« (Phänomenologie und Metaphysik. Hamburg 1949. S. 16.) 38 Hua. III. S. 5. 39 »Wollen wir also auf eine Erfahrung in dem von uns gesuchten, letztursprünglichen Sinn zurückgehen, so kann es nur die ursprüngliche lebensweltliche Erfahrung sein, die noch nichts von diesen Idealisierungen kennt, sondern ihr notwendiges Fundament ist.« (EU. S. 43 ff.)

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der wissenschaftlichen Vernunft. 40 Er benennt kritisch das historisch und systematisch problematische ›Vergessen‹ der geltungstheoretischen Bedeutung der ›Lebenswelt‹ durch die neuzeitlichen Wissenschaften. Die Wissenschaften hätten damit (und dadurch) ihren ›wesentlichen Arbeitshorizont‹ und ihr wirklich-wahres Fundament (und nicht zu vergessen: ihre ›philosophische Mission‹) aus dem Blick verloren. – Kurz und knapp so verdichtet: Die ›abendländische‹ wissenschaftliche Rationalität habe im Laufe ihrer neuzeitlichen Geschichte, getragen durch nicht zu leugnende ›technische‹ Erfolge, ›abgehoben‹. Sie habe sich ›methodisch eng eingestellt‹; habe sich von ihrem – von unserem – ›wesentlichen Sinnfundament‹, dem ›unbedingten Gedanken der Wahrheit‹ gelöst. Die wesentlich wirkliche Welt werde so abstrakt ›eingespannt‹ und reduktiv verstellt. Werde also als bloße ›Quantität‹ wissenschaftlich-technisch handhabbar zurechtgelegt. – Das hat nun auch für uns relevante Folgen. Ist also (ganz konkret) von ›anthropologischer Bedeutung‹. Das kann existenz-phänomenologisch gar nicht anders sein. Nicht zuletzt verengt und verzerrt sich nämlich, theoretisch und praktisch zunächst kaum bemerkt, der Blick des Menschen auf sich selbst. – Galileis Denken, seine ›natur-wissenschaftliche Sehweise‹ nimmt Husserl dafür als wissenschaftsgeschichtlich beredtes Beispiel, als Vorlage der nun sich entfaltenden Neuzeit. Galilei abstrahiere »von den Subjekten als Personen eines personellen Lebens, von allem in jedem Sinne Geistigen, von allen in der menschlichen Praxis den Dingen zuwachsenden Kultureigenschaften.« 41 – Dazu (beispielsweise) Walter Biemel in seiner Einleitung zur ›Krisis‹ : »In dieser Epoche seines Denkens beschäftigte ihn immer wieder das Problem einer Ontologie der Lebenswelt, das heißt der Welt, die vor jeglicher Wissenschaft immer schon zugänglich ist, so dass Wissenschaft selbst nur von der Verwandlung der Lebenswelt (…) her verstanden werden kann. Im Gegensatz ›Lebenswelt‹ und ›An-sich-wahrer-Welt‹ (der Wissenschaft) muss das Gewicht von der wissenschaftlichen Erfassung des Seienden als angeblich wahrer Welt auf die Lebenswelt verlagert werden.« (Hua. VI. S. XIX.) 41 Hua. VI. S. 60. Das sind alles andere als abgetane wissenschaftshistorische Fragen. Denken wir wieder an die ›Neurobiologie‹. Thomas Fuchs schreibt: Die ›naturalistische Reinigung der Welt‹ »von allen subjektiven, anthropomorphen Anteilen fördert ein Skelett der Natur zutage, das sich allerdings umso leichter zerlegen, manipulieren und technisch beherrschen lässt. Nach und nach gelang es auf diese Weise Subjektives und Qualitatives nahezu vollständig aus der wissenschaftlichen Welt zu verdrängen. Auch das Leben selbst ließ sich auf biochemische Molekularprozesse zurückführen, allerdings um einen hohen Preis: Was wir mit dem Sein von Lebewesen verbinden – Empfinden, Fühlen, Sich-Bewegen, Nach-etwas-Streben – wurde aus der Erforschung des Lebendigen ausgeklam40

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Husserl verdichtet hier unterschiedliche historische und systematische Studien der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Dieses historische Material bot sich geradezu ideal für eine weitere systematische Entfaltung der ›transzendentalen Phänomenologie‹ an. – Lassen wir das aber im Einzelnen auf sich beruhen. – Es scheint uns, zumindest auf den ersten Blick, nicht ganz abwegig, diese eigenwilligen ›historischen‹ Perspektiven Husserls, als eine im Grunde auch (in unserem Sinne) ›existentielle Sehweise‹ einzuführen. – Aber sehen wir etwas genauer hin. Husserl bleibt auch hier dem wissenschaftlichen Vernunftbegriff, bleibt dem Gedanken einer »universalen, letztfungierenden Subjektivität« ausdrücklich verbunden. Und trotzdem ist eines offensichtlich und wir haben es nicht übersehen: Mit seiner ›wesentlich wissenschaftstheoretisch‹ ausgerichteten, ›konstruktiven‹ Tat hat er (sicher ungewollt) für uns auch neue phänomenologische Horizonte eröffnet. ›Lebensweltliche Horizonte‹, die es nun existentiell und anthropologisch wortwörtlich zu verwirklichen gilt. Und zwar: konsequent systematisch zu verwirklichen! – Das ist wirklich und wahrhaftig ein phänomenologischer, wirklich-existentiell-anthropologisch gerichteter Blick auf die Lebenswelt ›Großstadt‹ ! Und ist damit die Herausforderung für eine reflexive Reflexion unseres Da-und-So-in-der-Weltseins. Wir stehen auf den Schultern von Husserl. Zumindest das. Seine Vorstellungen sind (nennen wir es so) der ›herausfordernde Anlass‹ der ›existentiellen Phänomenologie‹. Also für unsere anthropologische Phänomenologie. – Nicht mehr, aber auch nicht weniger! – Daran haben wir uns immer erkennbar ausgerichtet. Haben es von Beginn an unserem phänomenologischen Arbeiten zugrunde gelegt. Folgerichtig verabschiedete sich unsere existentiell gerichtete und ›anthropologisch‹ fundierte Phänomenologie ›geradezu zwangsläufig‹ von jedem ›idealistischen Gedanken‹. – Das also markiert und beschreibt unseren unumgänglichen Bruch mit der ›klassischen‹ Phänomenologie. – Und davon gehen wir nun auch weiterhin aus. Die ›philosophische Logik des Idealismus‹ mit ›ideal behaupteten Grenzziehungen der Vernunft‹, den als unbedingt eingeführten Vorlagen, den praktischen Forderungen und den geltungstheoretischen Bestimmungen der Wahrheit, kurz, diese neuzeitliche Form der ganz und gar ›aufgeklärten, transzendentalen Subjektivität‹ hat sich an der wirklichen Wirklichkeit unserer mert oder wiederum in eine subjektive Innenwelt verlagert.« (Das Gehirn ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart 2008. S. 19.)

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Moderne ›endgültig abgearbeitet‹. Und schauen wir hin auf unser Soin-der-Welt-sein: eben nicht nur ›theoretisch‹. Dieses Denken ist also (und nicht zuletzt) auch ›wirklich praktisch erschöpft‹. – ›Das Abendland‹ als ›idealistisch idealer Gedanke der Vernunft‹ ist, gleich aus welcher Perspektive wir es auch betrachtet haben, wirklich und wahrhaftig ›verendet‹. Es hat sich philosophisch (logisch) und auch theologisch ›vollbracht‹. 42 Das idealistische Philosophieren ist aber nicht bloß die Vorstellung oder eine Nachzeichnung oder eine historische Folge ›der Krise‹. Sondern es ist selbst ›die Krisis‹ ; also der als unbedingt behaupteten, unbedingt ausgerichteten ›absoluten Vernunft‹ wesentlich zugehörig. Diese ›Krisis‹ aber ist ausdrücklich kein Niedergang, keine ›Dekadenz‹. Im Gegenteil. Gerade als diese ›Krisis der Vernunft‹ ist dieses so geformte Philosophieren die ›philosophische Erfüllung‹ des abendländischen Gedankens. (Das historisch und systematisch zu entfalten wäre ein eigenes Thema. Wir lassen es hier auf sich beruhen). – Diese ›Geschichte der Reflexionen‹, also der Wissenschaften, der Theologien, der Kunst, der Philosophien, gilt es systematisch anthropologisch, also existentiell im Blick zu behalten. Das heißt für uns auch weiterhin, konsequent wesentlich (existentiell) hinzuschauen auf unsere Lebenswelt ›Großstadt‹, unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Unsere existentielle Phänomenologie ›reflektiert‹ die Selbstentfaltung des abendländischen Menschen in diesem Horizont, diesen so geschauten, so vorgestellten Horizonten als nun wesentlich wirklich. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ lesen wir also auch weiterhin diesseits des Idealismus als uns durchdringenden Horizont, mit und in dem sich unser Dasein als Da und So wesentlich vorfindet, reflektiert und wirklich entfaltet. Wirklich konkret – also auch: sozial, gesellschaftlich, ökonomisch, wissenschaftlich, ästhetisch, philosophisch und ›natürlich‹ existentiell. Das ist (um daran noch einmal anzuschließen), so scheint es, auch im Blick der Wissenschaften. ›Die Großstadt‹ wird, daran haben wir uns immer wieder erinnert, auch wissenschaftlich vorgestellt als eine historisch gewordene, ›die Moderne‹ mehr oder weniger bestimmende Gesamt-Lebensform. Also eingeführt als ein sehr weitreichender sozialer, gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und ökologischer Lebensraum. Eine ›historische Zeitgestalt‹, die nicht zuletzt die Strukturen, die Geflechte, die Abhängigkeiten des Mensch-Seins wesentlich Vor allem M. Heidegger führt es uns vor; oft auch als sublim eingeflochtener ›Subtext‹ : die Erfahrung des Scheiterns der abendländisch reinen Vernünftigkeit.

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neu ordnet. Sowohl konstruktiv als auch destruktiv. Auch diese Ambivalenz wird in den Wissenschaften nicht ausgeblendet. – Verändern wir nun etwas unsere Perspektive. Vor allem das ›anthropologisch Destruierende der Großstadt‹, so scheint es, interessiert die Literatur besonders. Denken wir hier nicht nur an Veröffentlichungen, die ›wissenschaftlich‹ ausgerichtet sind. – So sagt man, um nur eine sehr bekannte Formel zu nennen: die ›großstädtischen Ordnungen‹, die ›großstädtischen Gesellschaften‹ seien ›beziehungsloser‹, ›abstrakter‹, ›anonymer‹ als dörfliche oder kleinstädtische Gemeinschaften. Das natürliche Wir-Gefühl, das ein funktionierendes Zusammenleben erst ermögliche, verblasse, werde zurückgedrängt, werde überlagert oder bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. 43 Oder sogar so: die ›großstädtische Existenz‹ erscheine sich selbst und anderen ›total entfremdet‹ wie eine ›bloße Kunst-Figur‹. Sehen wir hier nun etwas genauer hin. – Das ist nämlich, wortwörtlich gelesen, eine sogar sehr treffende Beschreibung. ›Großstadt-Existenz‹ ist ja durchaus wirklich (und wir sind immer wieder bei Gelegenheit darauf aufmerksam geworden) eine Figur der modernen Kunst. Ist es doch die Kunst, die den ›ästhetischen‹ Begriff des ›großstädtischen Daseins‹ einführt, verdichtet, bebildert, auch eigenartig ›dissoziiert‹ und so zeigt. Also ganz praktisch ausstellt, vorführt und sogar als ›Paradigma‹ in Szene setzt. – Ohne allerdings, daran halten wir fest, ihr Bild ›Großstadt-Existenz‹ wirklich ›begründen‹ oder ›wesentlich fassen‹ zu können. Das aber können wir an dieser Stelle noch auf sich beruhen lassen. – In unseren Blick rückt ganz selbstverständlich nun der ›Begriff‹, die ›begriffene Sache‹, das ›begriffene Bild‹ der ›großstädtischen Existenz‹. Wir lassen hier auch weiterhin die unterschiedlichen Definition von ›Existenz‹ unberücksichtigt. Und das sind inzwischen bekanntlich nicht wenige. Wir haben ›Existenz‹ phänomenologisch ganz schlicht gelesen und uns praktisch beschreibend zurecht gelegt. Und zwar als unser uns ›reflexiv‹ zugängliches ›wesentlich-wirkliches Da-und-Soin-der-Welt-sein‹. Es geht uns hier phänomenologisch nicht im Geringsten um irgendeine außergewöhnliche Perspektive, um einen ori-

Vgl. z. B. Klaus Leferink. »Das Bewusstsein des Ausgeschlossenseins, des Abseitsstehens, des Verlusts von Zusammenhang mit dem Ganzen wird immer mehr zu einer Erfahrungsmöglichkeit des ganz normalen Individuums.« (Sympathie mit der Schizophrenie. Die Moderne und ihre psychische Krankheit. In: Schizophrenie in der Moderne. Modernisierung der Schizophrenie. Bonn 1997. S. 75.)

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ginellen Existenz-Begriff. – Wir arbeiten (wie bisher) mit möglichst wirklichkeitsgerechten Beschreibungen. Genauer, mit ›Beschreibungsreihen‹, die unser Da-und-So-in-der-Welt-sein als das wesentlich Gefüge unserer Wirklichkeit vorstellen und phänomenologisch zeichnen. Systematisch geschaut, ›deskriptiv sach-gerecht‹ – eben schlicht phänomenologisch! Unsere Existenz, unser Existieren, ›zeigt‹ sich und ›reflektiert sich‹ auf diese Weise als offene Gestaltung eines als notwendig lebensweltlich gedachten Da und So. Also zugleich ein Entwerfen unserer Lebenswelt und ein nicht davon zu lösender Selbst-Entwurf. Das alles zeichnet unsere phänomenologisch intentional gerichtete Form der existentiellen Reflexion der Reflexionen – Selbst für eine ›nur‹ theoretische Trennung unserer Wirklichkeit (aus welchen Gründen auch immer) in ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ besteht für uns phänomenologisch nicht der geringste Anlass. – Das ›Da-Sein‹ als dieses sich ›leibhaft So-da‹ verwirklichende, existentielle Gefüge sperrt sich praktisch gegen willkürliche theoretische (idealistische, naturalistische) Konstruktionen. Beispielsweise eben auch gegen wissenschaftliche oder philosophische ›Konstruktionen‹, die gründlicher, fundamentaler, kurz, ›vernünftiger‹ zu sein beanspruchen als unser phänomenologisch geschauter, entdeckter, wesentlich wirklicher Grund. – Zusammenfassend wieder kurz und knapp. Auch der entschiedenste Idealist kann letztendlich nur schwerlich leugnen, dass er es eben immer ›selbst‹ ist, eben dieser bestimmte da, der interessiert ist, der wahrnimmt, nachdenkt, reflektiert, zurückweist oder begründet. Dahinter kann er nicht wirklich ›sinnvoll‹ zurück: ›Ich bin es selbst‹ ! Bin selbst wesentlich wirklich so da! ›Ich bin es wirklich-wesentlich selbst‹ der diesen oder jenen Gedanken (einschließlich den des ›Absoluten‹) so oder so denkt. ›Ich bin‹ für mich selbst weder eine ›idealistische‹ noch eine ›naturalistische Konstruktion‹. ›Ich bin‹ wesentlich wirklich als dieser So-da! Gefasst in unserer ›knappen phänomenologischen Formel‹ : Ich bin Da-und-So-in-dieser-unserer-Welt. –

VII. Der erweiterte Phänomenologie-Begriff Knüpfen wir daran weiter an. – Wer es sehen möchte, sieht auch dies. Die (sogenannten) wesentlichen Fragen der Gegenwart, die nichts weniger als wirklich unsere sind, sind ›philosophische Fragen‹. – Auch hier bleiben wir im Übrigen, in unserem existentiellen Sinne, ganz 174 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

VII. Der erweiterte Phänomenologie-Begriff

dicht bei Husserls ›Krisis-Denken‹. Denken wir es phänomenologisch durchaus allgemein, also wirklich umfassend und (vor allem) wesentlich existentiell. (Ausdrücklich aber ohne die von Husserl erlebte, bestürzende historische Situation auch nur im mindesten ›klein‹ reden zu wollen.) Wir arbeiten auch in dieser Form an einer systematischen Reflexion der Reflexionen unserer Moderne. Also (ohne es zu übersehen) losgelöst von den dramatischen Erfahrungen, die Husserl in seinen letzten Lebensjahren machen musste. – Reflektieren wir es so: Die uns beschäftigende ›Krise der Moderne‹ ist für uns (immer noch, immer wieder) unsere philosophische Krisis. 44 ›Unsere philosophische Krisis‹ – in einem genauen Wortverständnis. Husserl selbst hat für uns den wissenschaftlich nicht leicht zu überschauenden ›systematischen‹ Zusammenhang hergestellt. In etwa so: ›Krisis der neuzeitlichen Wissenschaften‹ ist ›Krisis der neuzeitlichen wissenschaftlichen Vernunft‹ ist ›Krisis des abendländischen Menschentums hier und jetzt‹. 45 – Platon, davon ist Husserl überzeugt, hatte Sinn und Bedeutung der Philosophie, Sinn und Bedeutung von Wissenschaft noch im Blick. Der neuzeitliche Mensch aber, vor allem der der Gegenwart, begreife diesen Sinn und die Bedeutung »echter, lebendiger Wissenschaftlichkeit« nicht mehr. Und damit sei der Gedanke der ›großen Vernunft‹ theoretisch und praktisch zurückgelassen, sei das wesentliche ›Telos der abendländischen Menschheit‹ vergessen. – Mit verheerenden Folgen. Der neuzeitliche Mensch habe dabei nämlich nicht nur ›erkenntnistheoretischen Sinn‹ und ›transzendentale Geltung‹, sondern er habe das ›Was‹, das Wesentliche seines Daseins, seiner existentiellen ›Lebenswirklichkeit‹ aus dem Blick verloren. Diese ihn bedrängende, bedrückende ›Wahrnehmung‹ fordert Husserl Zeit seines Lebens philosophisch heraus. – Mit einem tiefen, (mich persönlich) beeindruckenden, ›wissenschaftlich‹ eindringlichen Ernst schaut Husserl also nicht nur auf die theoretische Situation der neuzeitlichen Philosophie. 46 (Entschieden wende ich mich gegen jede erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Verengung seiner Phänomenologie.) – Das heißt im Blick auf die 20er und 30er Jahre in Europa: Faschismus und Nationalsozialismus als ›Symptome‹ und nicht als ›Ursachen‹ dieser ›Zeitnot‹. 45 Als Ergänzung vgl. Reinhart Koselleck. »›Krisis‹ richtet sich gleichsam auf die Zeitnot, die zu begreifen, den Sinn des Begriffs ausmachte.« (Begriffsgeschichten. Frankfurt/M 2006. S. 205.) 46 Ausdrücklich nicht, wie man erwarten sollte, auf ›die Politik‹, ›die sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisse‹ u. ä. 44

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Das ist nun ausdrücklich keine Frage für eine (sagen wir) ›Psychologie der Phänomenologie‹. – Es ist im Übrigen auch nicht so, als wäre diese erschütternde ›Krisen-Wahrnehmung‹ nur eine phänomenologische Vorstellung, eine philosophische Sonder-Konstruktion. Registrieren wir, dass nicht nur Husserl ›die geistige Situation der Zeit‹ 47 dieser ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als (mindestens) problematisch, als philosophisch herausfordernd wahrgenommen hat. Diese ›literarische Gestaltung‹ einer ›spannungsgeladenen erlebten Welt-Habe‹, als geradezu existentielle Selbst-Gefährdung, ist vielmehr ein, sich zwar unterschiedlich ›aussprechender‹, nichtsdestoweniger aber ein durchgehender Zug (nennen wir es) ›moderner Gestimmtheit‹. 48 Kunst, Literatur, auch Wissenschaft und Theologie dieser Jahrzehnte geben davon beredt Zeugnis. 49 Oft auch indirekt und ungewollt. – Husserl aber hält geltungstheoretisch an Folgendem fest. Und das benennt im Übrigen die Differenz phänomenologischen Schauens zu all den anderen Perspektiven. Der Gedanke, ›die Idee des Abendlandes‹, vorgestellt als eingefaltet in Philosophie, Christentum, Wissenschaft, Aufklärung, Menschenrechte (usw.) ist – weil ›unbedingte Wahrheit uns als Vernunft vorliege‹. Sogar weil diese unbedingte Wahrheit für uns als theoretischer und praktischer Gedanke nach wie vor wirklich ›erreichbar sei‹. Sie zu entfalten und ›theoretisch‹ und ›praktisch‹ in die Weltgestaltungen zu implementieren sei die eigentliche Aufgabe, der Auftrag und sei zugleich Norm und Ziel philosophischer Vernunft. – Husserl denkt ausdrücklich diese ›Krise‹, diese (wir sagen) ›existentielle Krisis‹, die sich als ein ›krisenhafter Zustand‹ der Wissenschaften, der Gesellschaft, der Politik, der Kunst (als Symptom) zeigt, also nicht als unabänderlich endgültig. – Diese Perspektive ist, zumindest als ›PerKarl Jaspers. (1932) Berlin. New York 1979. Die Gesellschaft schon in den Jahrzehnten um die ›Jahrhundertwende‹ sei zwar (so der Zeitgenosse Max von Boehn) demokratisiert und stehe »jeder Autorität voller Abneigung gegenüber, aber sie schwelgt in einem Heroenkultus, der in weiten Kreisen zum Byzantinismus führt. In der Erziehung versagt das klassische Ideal, ohne dass man den Mut aufbrächte, mit ihm zu brechen und die Schule getrost auf den realistischen Boden zu stellen, den die Gegenwart fordert. Die verschiedenartigsten Strömungen gehen nebeneinander her. An den Ufern, gegen die sie branden, tragen sie auf ihren Wogen den Konfliktstoff von allen Seiten her zusammen. Die Atmosphäre ist mit Spannung überladen (…).« (Die Mode. Menschen und Moden im 19. Jahrhundert. 1878– 1914. München 1925. S. 86 f.) 49 Dazu auch: Alexander Mitscherlich. Ein Leben für die Psychoanalyse. Anmerkungen zu meiner Zeit. Frankfurt/M 19832. (Z. B. S. 109 ff.) 47 48

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spektive‹, auch noch unsere. Und wahrhaftig: – Not tut auch uns eine radikal philosophische Besinnung. Eine Besinnung, die wirklich wesentlich und wesentlich wirklich existentiell gerichtet ist. Also notwendig ist eine ›anthropologische Radikalisierung des Philosophierens‹ ! – Diese notwendige ›Radikalität des Philosophierens‹ ist nun ganz offensichtlich keine bloße Frage nach diesen oder jenen wissenschaftlichen Methoden. Oder eine Verfeinerung, ein Ausbau, eine Differenzierung von Begriffsnetzen u. ä. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der ›neuzeitliche idealistische Gedanke‹ einer unbedingten Normativität der Vernunft diese unsere ›wesentlich wirkliche Krisis der Moderne‹ nicht einmal entdecken kann. Um von einer Lösung ganz zu schweigen. – Das benennt die philosophischen Problemlagen. Sie stellen die nach wie vor uns bedrängenden existentiellen Herausforderungen vor. – Eines übersehen wir dabei nicht. Wie immer im Einzelnen diese Vorstellungen, Wahrnehmungen, Perspektiven und Reflexionen ›historisch‹ auch entfaltet worden sind, immer verdichten, gestalten, zeigen und reflektieren sie sich praktisch-existentiell für uns in der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Sie ist also auch für diese existentiellen, von uns nun als ›entscheidend‹ vorgestellten philosophischen Fragen der Moderne die wesentlich wirkliche Ortschaft, der ›phänomenologische Horizont‹. Ist also unser selbstverständlich vorausgesetzter existentieller Hinter- und Untergrund. ›Der Grund‹ für unser sich (wie auch immer im Einzelnen) ›selbst gestaltendes Dasein‹, das sich letztendlich selbst als ein In-der-Welt-sein herausfordert. Kurz: ›wir sind aufgefordert‹, uns nun als Da-und-So-in-der-Welt-sein theoretisch und praktisch ›zu reflektieren‹. – Da sind sie wieder: Unsere phänomenologisch wirklichen Wesensfragen. Sie bewegen uns immer noch theoretisch und praktisch; und bewegen uns mit nicht nachlassender Heftigkeit. Fordern uns existentiell heraus. Also nicht mehr als metaphysische Größen; als Chiffren einer Transzendenz oder als bloß wissenschaftliche Fragen und Probleme. Sondern sie zeigen und gestalten das Eine, das für uns wirklich Wesentliche. – Alle philosophischen Wege führen uns ›wirklich notwendig‹ zu uns selbst als Da-und-So-in-der-Welt-sein. Wirklich zu uns selbst. Wir, die wir uns nicht mehr ›idealistisch‹ zu überdenken, ›naturalistisch‹ zu verstellen, theologisch aufzuheben vermögen. Unser phänomenologischer Blick auf uns selbst gestaltet also, ganz unserer ›wesentlichen Sache‹ entsprechend, die wirklich wirklichen (einschließ177 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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lich der wissenschaftlichen, ästhetischen, philosophischen) Entscheidungen für das theoretische und praktische Selbstverständnis der Moderne. – Vor uns immer noch dieser mühsame, endlos scheinende ›Weg‹ existentieller reflexiver Reflexion. ›Elegante Lösungen‹, stimmige ›philosophische Fugen‹ (Begriffsartistik), ›erhabene Gedanken‹ sind wahrhaftig auch weiterhin nicht in Sicht. Unsere umständliche phänomenologische Reflexion der Reflexionen ist weder durch die Wissenschaften noch durch ›die Kunst‹ (von der Theologie schweigen wir ganz) substituierbar. Die Kunst-Werke oder die positiven Wissenschaften, beispielsweise die Soziologie, die Psychologie (die Psychoanalyse dabei nicht ausgenommen), sind immer schon, ob sie darauf achten oder nicht, existentielle Bewegungen, Wahrnehmungen, Leistungen, im Horizont der als historisch selbstverständlich hingenommenen ›Moderne‹. 50 – Erst eine phänomenologische Reflexion entfaltet als reflexive Reflexion des Da-und-So-in-der-Welt-seins, entdeckt selbst noch die unterschiedlichen ›Krisen-Wahrnehmungen‹ als Möglichkeit der wesentlich wirklichen (eben) existentiellen Selbstauffassung, der Selbstbestimmungen unseres Daseins. Oder so gesagt: sie entdeckt die nun ›existentielle Krisis‹ als unsere uns notwendige Selbstverortung (in) diesem Zeit-Raum, als (wortwörtliche) ›Reflexion‹ unseres Daund-So-in-der-Welt-seins. Als eben So-da-sein! So und nicht mehr anders! – Eine gewisse Nähe unserer Perspektive, unseres ›Schauens‹ zur ›lebensphilosophisch ausgerichteten Literatur‹ ist ganz offensichtlich. 51 Das ist ganz in der historischen und systematischen Ordnung. Unsere phänomenologische Reflexion fasst und gründet sich im Blick auf die (nicht ›hinter-denkbare‹) wirkliche Lebenswelt als unser So-Da-Sein. Gesetzt von uns als eine bewusst deskriptiv angelegte existentielle Reflexion anthropologischer Grund-Legungen. Systematisch schlicht und (so ist zumindest meine Absicht) ohne jede spekulative ›ÜbertreiWesensfragen sind eben nicht ›das Ding‹ der Wissenschaften. Diese oft unausgesprochene Selbstbegrenzung, diese methodische und sachliche Ein- und Vorsicht ist phänomenologisch zu würdigen. Die Feststellung Max Schelers gilt: »Jede Frage, die nicht durch mögliche Beobachtung und Messung im Verein mit mathematischer Schlussfolgerung zu entscheiden ist, ist keine Frage der positiven Wissenschaften.« (GSW. Band 8. Frankfurt/M 1997. S. 23.) 51 Ein erster Überblick durch Otto Friedrich Bollnow. Die Lebensphilosophie. Berlin. Göttingen. Heidelberg 1958. 50

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bung‹. – Das sich die Spannungen, die für uns offensichtlichen existentiellen Selbst-Widersprüche unseres Da-und-So-Seins auch, sogar vor allem auch ›lebensweltlich‹ zeigen, liegt für uns jetzt auf der Hand. – Das unterstreicht noch einmal, dass wir unsere wesentlich wirkliche Lebenswelt, also unser Da-und-So-in-der-Welt-sein, phänomenologisch nicht als bloß allgemein erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Möglichkeit oder Herausforderung für ein ›transzendental unbedingtes Fundament‹ lesen (können). Dieser neuzeitliche Weg einer ›idealistischen‹ Vorstellung, ›unbedingte Geltung‹ ein für alle Mal durch und als ›absolute Vernunft‹ einzuführen und zu sichern (gleichsam ein ›Gewaltakt der Reflexion‹), bleibt uns phänomenologisch verschlossen. Das beschreibt den, durch eine wirklich-wesentliche ›Sachlage‹, nämlich die Vorstellung der reflexiven Reflexion der modernen Lebenswelt ›Großstadt‹, erzwungenen radikalen Paradigmenwechsel der Philosophie. Das ist der Anfang der Philosophie der Moderne. Dementsprechend setzt sich auch unser nun existentieller Phänomenologie-Begriff. Der also unserer ›wirklichen Sach-Lage‹ wegen, über Husserls (im Grunde noch) neuzeitlich-idealistische Vorlage historisch und systematisch hinauszudenken beansprucht. – Das kann an dieser Stelle wohl kaum mehr wirklich überraschen. So waren, ohne dass ich im Einzelnen immer darauf hingewiesen hätte, von Beginn an auch die Phänomenologen (Frauen und Männer) der Münchner-GöttingerSchule, vor allem aber Max Scheler und Martin Heidegger mit in unserm ›systematischen‹ Blick. – Ausdrücklich: ›unser systematischer Blick‹ ! Das heißt vor allem und im Besonderen ›wirklich sich selbst‹ und ›sich selbst als wesentlich wirklich durch sich gesetzt‹ zur-Kenntnis zu nehmen. Allerdings ohne sich historisch, methodisch und sachlich im Vorhinein (wie auch immer) zu binden. – Es bleibt dabei! Nicht diese oder jene historische Vorlage, von wem auch immer, ist für uns phänomenologisch entscheidend. (Obwohl wir tatsächlich ›auf den Schultern von Riesen‹ stehen.) – Sondern entscheidend ist letztendlich unser Wahrnehmen, unser je eigenes Schauen, unsere je eigene reflexive Reflexion. – Zumindest an diesem Einen halten wir phänomenologisch ganz entschieden fest. Der Begriff und die phänomenologisch davon nicht zu lösende Sach-Lage Lebenswelt ›Großstadt‹ darf nicht in einer allgemein-abstrakten Perspektive einer idealistisch gerichteten Erkenntnistheorie oder einer als ›absolut‹ gedachten Ontologie verbleiben. Und natürlich genauso wenig, hier 179 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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braucht es nicht mehr vieler Worte, nur positiv-wissenschaftlich, etwa bloß ›gesellschaftstheoretisch‹, nur psychologisch oder nur historisch entfaltet werden. Die Grundlage unserer Arbeit ist weder so noch so eine willkürliche wissenschaftlich oder philosophisch ideale BegriffsKonstruktion. Weder idealistisch noch positivistisch gesetzt. Sondern eben phänomenologisch wirklich geschaut und reflektiert! – Selbst wenn wir die Lebenswelt ›Großstadt‹ als einen Horizont vermessen, innerhalb dem sich bestimmte Formen der Kunst, der Religion, des Krankseins historisch und ›empirisch-objektiv‹ zeigen, nehmen wir uns selbst als Da-und-So-in-der-Welt-sein, als wirkliche Existenz, wesentlich in den phänomenologischen Blick. Immer bin ›ich‹ es, der ›so ist‹, ›so handelt‹, ›denkt‹, ›reflektiert‹ usw. – Das zwingt uns, und das macht unsere ›Sache‹ von Anfang an nicht wirklich übersichtlicher, schon auf diese Möglichkeit so ›hinschauen zu können‹ selbst hinzuschauen, selbst zu reflektieren. Hinzuschauen also vor allem auch auf die Möglichkeiten unseres Schauen und unseres Reflektierens. Sich selbst auffällig werden können als einer, der sich selbst auffällig werden kann. Das heißt also, unsere vielgestaltigen ›äußeren‹ und ›inneren‹ Erfahrungen mit und in unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ ausdrücklich und wirklich wesentlich uns selbst als konstitutive Potenzen phänomenologisch zuzuordnen. Beispielsweise ein Einsehen haben in: unsere Wahrnehmungen, Einsichten, Vorlagen, Denkmuster; oder diese so selbstverständlich scheinenden, ganz unterschiedlichen FeedbackSchleifen sich nun zuzuordnen; und selbst noch unsere reflexive Reflexion existentiell einzuholen, als unsere wirklich wesentlich konstitutive Eigenart für ›unsere wesentliche Welt-habe‹. – Das alles ist nun unser (nennen wir es so) ›phänomenologisches Material‹. Von diesem ›unseren Material‹ aus entwerfen wir uns selbst als So-Da. Eine ›existentielle Reflexion‹, um so als wirkliches leibhaftes Selbst-BewusstesDasein ›endlich-selbstverständlich‹ wieder auf uns zurückkommen-zukönnen. – Vor allem mit der Leistung der reflexiven Reflexion der Lebenswelt ›Großstadt‹ wird unser Denken als unser Denken dieser so geformten Gedanken intentional eingerichtet. In dieser radikal existentiellen Form wird es ›endlich endgültig‹ auf die Spur gebracht. Es erhält für sich selbst als Da und So nun wirklich wesentlich und wesentlich wirklich ausdrücklich anschaulich Halt. – Das ist von grundlagentheoretischer und grundlagenpraktischer Bedeutung. In dieser Form der Reflexion der Reflexionen der Lebenswelt ›Großstadt‹, unseres Daund-So-in-der-Welt-seins, entwirft die existentielle Phänomenologie 180 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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die grundlagenphilosophischen Einsichten der (eben ›großstädtischen‹) Moderne. Entwirft sie ›praktisch‹ als das für uns wesentlich Wirkliche und ›theoretisch‹ als das philosophisch wirklich Wesentliche! – Mit dem Vollzug (das sind im Übrigen eine Vielzahl von phänomenologischen Untersuchungsreihen) wird sich ein bemerkenswerter ›existentieller‹ Zustand für uns freilegen. Auch das ist nicht wirklich neu. Es ist uns immer wieder aufgefallen und hat uns zumindest da und dort kurz beschäftigt. – Und zwar zeigt sich die, uns wesentlich wirklich bestimmende Reflexionsfigur ›reflexive Reflexion‹ philosophisch ganz ungewohnt als auch ›theoretisch letzt-endlich‹. Sie zeigt sich nämlich als die Vorstellung der ›abendländischen Erschöpfung der Reflexion‹. – Wir haben nun nicht etwa unser ›eigentlich nüchternes‹ Thema (die phänomenologische ›Sache‹) aus den Augen verloren und uns in einem spekulativen Dickicht verfangen. Diese ›Erschöpfung abendländischer Reflexion‹ reflektiert sich gerade als historische und systematische Entfaltung der Lebenswelt ›Großstadt‹. Die ›Geschichte der abendländischen Reflexion‹ bringt sich erst mit dieser ›existentiellen‹ und ›anthropologisch eben endlichen Form‹ in eine endgültig-wirkliche phänomenologische Gestalt. 52

So oder so ein verbreiteter Gedanke. Nicht nur bei dem nach wie vor umstrittenen Oswald Spengler. Beispielsweise auch Susanne K. Langer: »Wieder einmal sind die Quellen des philosophischen Denkens versiegt. Seit mindestens fünfzig Jahren lassen sich alle jene charakteristischen Symptome beobachten, die das Ende einer Epoche bezeichnen – die Manifestation des philosophischen Gedankens in immer mannigfacheren ›Ismen‹, wobei der Lärm der jeweiligen Anhänger dicht nebeneinander gehört und verurteilt werden kann, die Verteidigung der Philosophie als eines respekterheischenden und wichtigen Unterfangens, des Überhandnehmens von Kongressen und Symposien sowie eine Flut von textkritischen Editionen, von Überblicken, Popularisierungen und in Gemeinschaftsarbeit entstandenen Untersuchungen.« (Philosophie auf neuem Wege, Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Berlin 1965. S. 21.) Auch (geradezu ›klassisch‹) Herbert Marcuse: »Mit Hegel hat sich der Hauptstrom der westlichen Philosophie erschöpft. Der Logos der Herrschaft hat sein System gebaut und was nachfolgt, ist Epilog: die Philosophie lebt als eine spezielle (und nicht sehr lebenswichtige) Funktion in den akademischen Einrichtungen weiter.« (Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt/M 1969. S. 118.) Und Gotthard Günther schreibt: »Heute sind alle philosophischen Richtungen Sekten, die Logistik nicht ausgenommen. Die Philosophie hat ihren beherrschenden Öffentlichkeitscharakter, den sie zur Zeit Hegels besaß, für die Gegenwart eingebüßt.« (Idee und Grundriss einer nichtaristotelischen Logik. Zweite durchgesehene und verbesserte Auflage. Hamburg 1978. S. 32.)

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VIII. Reflexion und Krisis Also auch (selbst noch) die reflexive Reflexion spielt im Horizont unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Auch sie entwirft kein ›unbedingtes Außerhalb‹, einen immer wieder so intensiv gesuchten, philosophisch so ersehnten ›archimedischen Punkt‹, von dem aus (vermeintlich) ›die Vernunft‹ ein für alle Mal absolut gültige Einsichten vorstellen könnte. – An einem, so sollte man glauben, kann philosophisch hier und jetzt nicht mehr wirklich vorbeigesehen werden. Ein Streit darüber scheint von vorneherein unnötig (überflüssig). Das ist nämlich keine Frage, die ›spekulativ‹ zu entscheiden wäre. Wer es überhaupt sehen möchte, ›sieht‹ es selbst: Unser Da-in-der-Welt-sein stellt die existentiellen Bedingungen unseres So-Empfindens, So-Wahrnehmens, So-Reflektierens. Selbst jeder Gedanke (Bilder, Vorstellungen, Geschichten) eines theologischen oder metaphysischen ›Darüber-hinaus‹ bleibt als unsere existentiell-intentionale Gestaltung ›unwillkürlich‹ rückgekoppelt an unser Da-in-der-Welt-sein. – Von hier aus haben wir also zu Recht unsere phänomenologische Position als ›viel-fältig‹ entfaltet. Phänomenologisch so entfaltet – durchaus ›verunsichert und irritiert‹ ; aber immer (wie sonst) entlang unserer leibhaften Intentionalität. Phänomenologisch so einfach! Und doch wirklich so komplex! Existieren heißt wesentlich wirklich vielfältig Da-und-So-in-derWelt-sein. Zumindest auf den ersten Blick: wirklich unfassbar! Diese Einsicht verändert das Selbstverständnis der Phänomenologie. ›Ich bin‹ eben nicht nur wahrnehmend, erkennend, reflektierend, schauend (was auch immer), also intentional auf dieses oder jenes Weltstück, auch auf ›die Welt‹ als Ganzes oder gar auf ›Gott‹ und das ›Absolute‹ ›bezogen‹. Das finden wir ungefähr so schon bei Franz Brentano. – Sondern, darüber hinaus ›reflektiere‹ ich wortwörtlich; ›reflektiere‹ wirklich wesentlich meine intentional so gefasste, so verstandene, so begriffene, so geschaute Wirklichkeit meiner Selbst, mein auch ›unbestimmtes‹, ›irrationales‹ Da und So. Genauso sind beispielsweise von vorne herein, meine Entwürfe, Absichten oder auch ›Gegenstände‹, ›Sachlagen‹ für mich nie anders an-wesend als nur in unserer wirklich wirklichen Welt. Und ich selbst? – Ich bin von Anfang in und mit dieser ›unserer Welt‹ ; bin so wesentlich-wirklich da. Bin da! Letztendlich phänomenologisch als ›so‹ begriffen, verstanden, gefasst, konstituiert durch mich selbst als ›einer von uns‹. – Das ist phänomenologisch eben wirklich wesentlich so; so und 182 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

VIII. Reflexion und Krisis

nicht anders. Nur scheinbar denkt und fasst das eine sogenannte ›philosophische Trivialität‹. – Sehen wir nun noch näher hin auf uns! Lassen wir uns phänomenologisch dazu auf unser wesentlich wirkliches Dasein ohne philosophisch, theologisch oder wissenschaftlich ›anspruchsvolle Vorurteile‹ ein. 53 Nicht als ob diese Vorstellungen für uns, so oder so, philosophisch ›im Grunde begriffen‹ und damit schon entschieden (worden) wären. Keineswegs! Ihr Wahrheitswert, ihr Geltungsanspruch, ihre ›theoretische und praktische Tauglichkeit‹ mögen letztendlich sein wie auch immer. Wir setzen (zumindest vorerst) eine ›Klammer‹. Stattdessen denken, erschauen und entwerfen wir uns selbst für uns selbst. Also eine systematisch ausgerichtete, wirklich wesentlich selbst-fundierte, phänomenologische Anthropologie. Das heißt: wir schauen, ›reflektieren‹ auf uns selbst als wirkliches Da-undSo-in-der-Welt-sein. – Und schauen hin auf dieses unser Hinschauenauf uns selbst, unser so Denken, so Handeln. – Also schauen und reflektieren, reflektieren und schauen uns selbst! Das stellte sich uns von selbst vor. Von Beginn an sind wir darauf aufmerksam geworden und haben es nicht mehr aus unseren Augen verloren. Unsere existentielle Phänomenologie ist ein ›skrupulöses‹ und ein ›wesentlich endloses‹ Geschäft. – Blicken wir also vor diesem Hintergrund immer wieder und ohne Scheu auf uns selbst als ›Da-‹ und ›So-Sein‹. Konkret auf uns als diese ›wirklich leibhaften Menschen da‹, auf uns – in und mit unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Und auch das ist in unserem Blick: Wir-Da, in der von uns so oder so wahrgenommenen oder auch uns so oder so zugesprochenen, so oder so gestalteten ›Krise‹. – Ganz nebenbei hat sich hier also etwas phänomenologisch Wesentliches bemerkbar gemacht. Dem ist nun noch entschiedener nachzugehen. Das fordert phänomenologisch von uns, in einem ersten Schritt, eine begriffliche Differenzierung. Und zwar sind ›Krise‹ und ›Krisis‹ von uns phänomenologisch ausdrücklich zu unterscheiden. Sie dürfen philosophisch nicht gleichgesetzt werden. – Beschreiben wir es vorläufig so. Die auch wissenschaftlich vielverhandelten wirklichen ›Krisen der Moderne‹ ›reflektieren‹ sich uns phänomenologisch als un-

53 Gadamer verdichtet diese methodische Einstellung Husserls (der wir hier folgen) so: »Wer Philosoph sein will, muss sich von all seinen Vormeinungen und allem ihm Selbstverständlichen Rechenschaft geben, und sein ›Sitz im Leben‹ ist durch dies, sein besonderes Tun bestimmt.« (Kleine Schriften III. Tübingen 1972. S. 200.)

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sere existentiell wesentliche Krisis. 54 Unsere so reflektierte ›existentielle Krisis‹ ist nicht mehr ›festgelegt‹ auf bestimmte wissenschaftlich vorgestellte, uns so oder so vermittelte, uns verwirrende, bedrängende Lagen. Beispielsweise ökonomische, soziale, politische Ereignisse, Zustände, Widerfahrnisse u. ä. 55 Und für uns offensichtlich ist sie dort, in diesen durch das wissenschaftliche oder politische Denken eröffneten ›objektiv scheinenden‹ Zonen, selbstverständlich nicht wirklich einer Lösung für uns zuzuführen. Eine, blicken wir nur auf unsere jüngste Geschichte, ›verhängnisvolle Illusion‹ ! – Sehen wir hier phänomenologisch noch etwas genauer hin und zu. Eines, so scheint es uns jetzt, darf phänomenologisch vorausgesetzt werden. Wir sehen es nämlich hier und jetzt selbst. Aber auch historisch eingeordnet kann es, so sollte man meinen, nicht mehr wirklich übergangen werden. – Der Traum der neuzeitlichen Aufklärung hat sich bislang nicht erfüllt. Dieser viel besprochene philosophische Traum: die Herrschaft der ›reinen‹ Vernunft schaffe, zusammen mit den sich in und mit ihr einrichtenden theoretischen und praktischen Wissenschaften, einen ›hellen‹, ›endlich humanen‹, eben ›aufgeklärtvernünftigen‹ Zeit-Raum. Das also ist für uns ›Kinder des 20. und 21. Jahrhunderts‹ offensichtlich, also augenscheinlich. – Wir fügen hinzu: Zumindest im Blick für uns phänomenologisch Arbeitende. Für uns, die wir ›nur‹ einfach zu schauen beanspruchen. – Nun, wie auch immer, ich denke auch für jene, die an dieses ›neuzeitliche Projekt‹ so viel bewundernswerte, mühevolle Arbeit verwandt haben, sollte nun eines unübersehbar in den Blick gerückt sein. Und zwar: dass die sogenannte ›aufgeklärte Vernunft‹ gerade an sich selbst scheitert. Und dass dieses ›Scheitern der Vernunft‹ (des endlichen Menschen) durchaus ›in der Natur ihrer Sache‹ liegt. Das kann, so meine ich, eigentlich gar nicht übersehen werden. Um das wahrzunehmen braucht es nicht einmal unsere Vorstellung der phänomenologischen Reflexion der Reflexionen. – Verdichten wir es (beschreibend) so. Die ›Philosophie der Aufklärung‹ mit ihrer weitgehend ›reduktiven Anthropologie‹, gleich ob ideaDazu z. B. Walter L. Bühl. Krisentheorien. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang. Darmstadt 19882. Günther Rohrmoser. Religion und Politik in der Krise der Moderne. Graz. Wien. Köln 1989. Vgl. auch meine Arbeit: Krisis und Geltung. Berlin 1999. 55 Dass das nicht heißt, diese Not-Lagen philosophisch ›kleinzureden‹, als ›uneigentlich‹ abzutun, sei eigens betont. 54

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VIII. Reflexion und Krisis

listisch oder naturalistisch, wird der existentiellen wirklichen Wirklichkeit unseres ›komplexen‹ Mensch-Seins nicht gerecht. 56 Sie trennt, als sei das ganz ›natürlich‹, das ›Rationale‹ und das ›Irrationale‹, die ›Vernunft‹ und die ›Wirklichkeit‹, ›Denken‹ und ›Glauben‹, die ›Krisis‹ und die ›Reflexion‹, das Philosophieren und unser Leben und – nicht zuletzt – das ›Menschsein‹ und ›So-in-der-Welt-sein‹. – Das ist, gleich wie wir uns im Einzelnen philosophisch dazu stellen, anthropologisch alles andere als nebensächlich. So vergisst dieses Denken, um nur ein Beispiel zu nennen, die Bedeutung unserer uns nur leibhaft zukommenden Wirklichkeit. Kurz, vergisst also unser wesentlich wirkliches ›Leib-sein‹. Und vor allem verdrängt es auch die (hierher gehörende) für uns als leibhaftes, fragiles und endliches Dasein notwendige Verzweiflung. 57 Fassen wir es so: die Aufklärung deformiert unsere wesentlich existentielle Grund-Krisis (so-da-zu-sein) zu faktischen, historisch grundsätzlich durch ›die Vernunft‹ reparablen Krisen. So als sei ›die‹ Vernunft ein ›unbedingtes, absolutes Etwas‹, das ›über allen Wassern schwebt‹. So als sei die den Menschen belastende, beengende (auch irrationale) Wirklichkeit oder seine (auch leibhafte) Verzweiflung, gleich ob selbst verschuldet oder nicht, lediglich Ausdruck von noch ›unerzogenen Individuen‹. Und damit zusammenhängend, einer noch nicht hinreichend vernünftig geklärten Gesellschaft. Es gelte: ›Du kannst nämlich – wenn Du willst‹ ! Die fortschreitende Aufklärung der Religion, der Politik, der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Mensch-seins werde es ›letztendlich schon richten‹. 58 Es brauche dafür nur noch den forcierten Einsatz der entsprechend ›vernünftigen Sozialtechniken‹ ! Es brauche die passenden ›Lerninstrumente‹ ! Die ›menschengemäßen Architekturen‹ ! Die Verwirklichung ›liberaler Leitideen‹ ! Die Leistung der (selbstverständlich vernünftigen) Philoso-

Eine ganz andere Sicht bei: Ernst Cassirer. Die Philosophie der Aufklärung. (1932) hier: Hamburg 1998. 57 Hierher gehört im Übrigen auch die Psychoanalyse Freuds. Seine Psychoanalyse, das ist meine feste Überzeugung, scheitert geradezu als ›Philosophie der Aufklärung‹. 58 Dazu z. B. Alfred Lorenzer. Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse. (1984) Frankfurt/M 1993; ders.: Das Konzil der Buchalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. (1981) Frankfurt/M 1992. Ein anderer bemerkenswerter Blick auf die ›Geschichte der Moderne‹ bei Henry F. Ellenberger. Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie. Zürich 1985. 56

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phen! Kurz und knapp, es brauche eben noch viel, noch viel viel mehr und noch entschiedenere ›vernünftige Aufklärung‹. – Im Blick auf unsere wirkliche Wirklichkeit, unsere Lebens-Erfahrungen (Erfahrungen – vor allem mit uns selbst) – diese Sicht also als philosophisch ›naiv‹ zu markieren, ist nun ganz gewiss kein Defätismus. Eines, so sollte man meinen, kann auch einem noch so ›hochgestimmten, selbst-bewussten Aufklärer‹ nicht verborgen geblieben sein. Die aufmerksame Wahrnehmung des je eigenen Existierens, der eigenen Verzweiflung, des So-in-der-Welt-seins, kurz, der Reflexion entlang der je eigenen leibhaften Intentionalität, sollte genügen, um es selbst zu sehen. Unser wesentlich wirkliches und wirklich wesentliches Mensch-Sein bewegt sich hier und jetzt in und mit einer grundsätzlich existentiellen Spannung. – Einer sogar ganz ›offen ausgetragenen‹ Spannung. Diese Spannung wird willkürlich aber auch unwillkürlich ›reflektiert‹ in der Kunst, der (›schönen‹) Literatur, der Theologie, den Wissenschaften. Kurz, sie zeigt sich, führt sich vor, trägt sich aus, in all unseren Vorstellungen von unserer Lebenswelt ›Großstadt‹, unserem Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Es reicht philosophisch ›wirklich‹ nicht mehr hin, diese oder jene unserer Anlagen oder unsere so oder so erlernten Strategien oder bestimmte, wie auch immer tradierte Folien neuzeitlichen Denkens lediglich anzupassen, neu (modern) aufzulegen, irgendwie entsprechend ›passend modisch‹ herauszuputzen. Um auf diese Weise, in dieser Form die (wie man hie und da immer noch zu glauben scheint: historisch möglicherweise da oder dort erfolgreich gewesene) Human-Konzepte methodisch und sachlich anzureichern und nun endgültig zu verwirklichen. Dabei folgt man unbemerkt einem, in der ›systemischen Therapie‹ bekannten Muster eines Problemverhaltens: ›Mehr von dem Gleichen‹ ! 59 – Nach wie vor eine auch in der Philosophie verbreite Form eines abstrakten, akademischen Intellektualismus. Das sind, das ist meine Überzeugung, bloße ›akademische Planspiele‹, die die wesentliche Wirklichkeit unseres Daund-So-in-der-Welt-sein ausblenden. – Verdichten wir diese unsere existentielle Spannung phänomenologisch (zunächst vorläufig) durch die Begriffe ›Reflexion und Krisis‹. Sie benennen oder bezeichnen und ›konstituieren‹ die ›philosophisch formale‹, nichtsdestoweniger wirkliche ›Gestaltung‹ der ›inneren‹ und Vgl. (beispielsweise) Paul Wazlawik. Menschliche Kommunikation. Formen. Störungen. Paradoxien. Bern (usw.) 200310.

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›äußeren‹ Ortschaft unseres Daseins. Das ist nun wortwörtlich unser ›endlicher Bewegungs-Raum‹ ! ›Reflexion und Krisis‹ reflektieren zuerst und zumeist ganz allgemein den uns im großen Ganzen ›offen scheinenden Zeit-Raum unseres Lebensspiels‹. – Wir sehen aber hier noch einmal uns selbst zu. Und ›schauen‹ unser uns phänomenologisches Selbstbegreifen (So-Da-in-der-Welt-sein) nun als Gestaltung, hinter der wirklich ›nichts‹ mehr wesentlich anderes scheint. 60 – Unsere phänomenologischen Reflexionen folgten strikt dieser existentiellen Perspektive. Folgten ihr von Anfang an als phänomenologische Reflexion korrelativ geschauter, sehr unterschiedlicher Reflexionen. – Wir entfalten sie nun weiter (wir haben keine andere Möglichkeit) durch unsere phänomenologischen Vorstellungen unterschiedlich gerichteter, unterschiedlich fundierter, unterschiedlich gefasster ›Beschreibungsreihen‹. ›Beschreibungsreihen‹ von diesem oder jenem. (›Alle Wege führen nach Rom‹ !) Beispielsweise der Wissenschaften, der Kunst und der Philosophie. Vor allem das Philosophieren hat sich, davon gehen wir aus, immer wieder und immer noch radikal reflexiv auf sich selbst zu beziehen. – Zumindest wir existentielle Phänomenologen begreifen und setzen unser Philosophieren anthropologisch so: Wir ›reflektieren‹ auf uns selbst als nun phänomenologisch ›entdeckte‹, ›wirklich geschaute‹ dynamischen Formen; kurz: als ›existentiell-spannende‹ anthropologische Selbst-Entwürfe. Das heißt ausdrücklich: auch diese so reflektierten, ›selbstbezogenen Beschreibungsreihen‹ als ›existentielle Leistungen‹ mit in unseren phänomenologischen Blick nehmen. – Das also sind konkret unsere konstitutiven Gestaltungen lebensweltlich wesentlich wirklich leibhaft So-Da-in-der-Welt-zu-sein. – Das hat nun nicht nur philosophische Konsequenzen. Sondern erfasst auch die existentielle Herausforderung; ist also theoretisch und praktisch relevant. Das wird uns noch ausführlich beschäftigen. – Abschließend nun so: Gefordert wäre (geradezu paradox) eine existentielle Phänomenologie der Phänomenologie der Phänomenologie! Auch das gehört also mit zu unserem nie zu einem sicheren ›absolut gewissen‹ Ende gelangenden phänomenologischen Schauen des Schauens! – Um nur in diesem Zusammenhang auf eines hinzuweisen: All diese auch praktischen Formen wie, ›einstellen-auf‹, ›sich-einrichten‹, ›anschauen‹, ›wahrnehmen‹, ›vorführen‹, ›entwerfen‹ (usw.) sind ausdrücklich existentiell zu reflektieren als unsere Möglich60

Selbst ›das‹ oder ›ein‹ Unbewusstes gestaltet sich als System unserer Lebenswelt-da.

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F Existentielle Phänomenologie

keiten sich wirklich selbst-so-einstellen, sich selbst-so-einrichten, sich selbst-so-anschauen zu können usw. 61 – Verdichtet in einigen wenigen Sätzen: So also richtet sich unser ›phänomenologisch wesentlich wirkliches Schauen‹ ein und aus. Ein Schauen der wirklichen Wirklichkeit unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Wir sehen auf diese Weise als ›existentielle reflexive Reflexion‹ notwendig (und es kann gar nicht anders sein) immer auch ›endlich‹ uns selbst als Da und So. – Daher gilt (und der Kreis schließt sich): Diese scheinbar so begrenzten, wissenschaftlich eng fokussierten ›Krisen-Erfahrungen‹ sind in unserer phänomenologisch wesentlichen Wirklichkeit die Gestaltung der existentiellen Grund-Krisis des modernen Mensch-Seins in und mit seiner Lebenswelt ›Großstadt‹. –

Vgl. z. B. auch Paul Natorp. Er schreibt (und lotet dabei die Nähe seines Denkens zu Husserls Phänomenologie aus). »Diesen Aktsinn der Erkenntnis – jeder Art Erkenntnis, Präsentation wie Repräsentation – durchdenke man nur recht und mache vollen Ernst mit ihm, so wird die ›Deskription‹ notwendig zur ›Rekonstruktion‹. Das gilt aber nicht bloß vom letzten Konkreten, vom Urerlebnis, sondern notwendig auch die reinsten Wesenheiten können nun nicht mehr starr verbleiben, ihre ›Schau‹ wird vielmehr zum Erschauen, zum Erschaffen im Gedanken, zum Erdenken, weil vielmehr Ausdruck eines fortwaltenden Prozesses, als eines einmaligen Resultats.« (Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Herausgegeben, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Sebastian Luft. Darmstadt 2013. S. 266.)

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G Gestalt und Gestaltung der Lebenswelt Großstadt

I.

Daseins-Raum: Lebenswelt ›Großstadt‹

Wir sind immer noch auf unserem Weg. Nach wie vor ›bewegen‹ wir uns ›methodisch‹ und ›sachlich‹ mit und in unserer existentiellen Reflexion der Reflexionen. Kurz, ›wir sind wirklich mitten‹ in unserem Thema: Vorstellung und Entfaltung einer ›existentiellen Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt‹. Das ist ausdrücklich und wortwörtlich unsere (je meine) reflexive Reflexion. Sie erfährt sich im Vollzug (also jetzt in diesem Augenblick des Schreibens oder des Lesens) als wesentlich existentiell, als anthropologisch-wirklich eingebunden. Oder sagen wir es so: als eine, so scheint es uns, endlos endlich gestaltete und gerichtete Denkbewegung. ›Endlos‹ – weil sich immer wieder reflexive Horizonte öffnen lassen, ›endlich‹ – weil es eben (gleich was, gleich wie) an unser wesentlich wirkliches Dasein gebunden bleibt. Eine Reflexion der Reflexion der Reflexion also ›wirklich mitten‹ in diesem, sich, mit unserem Selbst-Schauen eröffnenden Horizont einer phänomenologischen Anthropologie. – Der Vorwurf, die Phänomenologie damit ›relativistisch‹ aufzuweichen, liegt nahe. – Aber sehen wir wieder selbst. Diese existentiell wesentliche Gestaltung ›radikaler Reflexion‹ ist im Übrigen (das kommt noch hinzu und scheint den Vorwurf zu stützen) auch eine ›Befindlichkeit‹. Sie ist praktisch nicht mehr von unserer alltäglich wirklichen Lebenswelt, unserem Da-und-So-in-derWelt-sein zu trennen. – ›Reflektieren‹ wir uns noch einmal (gleichsam als ›Nagelprobe‹) mit Blick auf die uns als wesentlich zu-stehende ›Krisis‹. Fragen wir uns also so: ›Wo‹ zeigt sich uns diese unsere uns ›wesentlich‹ zukommende existentielle Grund-Krisis? In welcher wirklich wirklichen Ortschaft verdichtet, formt, gestaltet sich die Geschichte unseres Da-undSo-seins einschließlich unserer ›inneren Lebensgeschichte‹ ? Wo leben wir diese uns gestaltende Geschichte unserer ›Reflexion und Krisis‹ ? Auch, und darüber im allgemeinen hinaus, durch welche wirkliche 189 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

G Gestalt und Gestaltung der Lebenswelt Großstadt

Raum- und Zeitgestaltungen formiert oder entscheidet und formatiert sich das Abendland, die abendländische Welt für uns ›endgültig‹ als unsere Moderne? – Davon gehen wir aus. Das gilt für uns als ›gesetzt‹. Es ist schlichtweg nicht mehr möglich, weder praktisch noch theoretisch, uns und unserem uns intentional zugehörigen So-in-derWelt-sein zu entkommen. Für diese Wahrnehmung (eigentlich fortwährende Wahrnehmungen) braucht es im Übrigen keine phänomenologische reflexive Reflexion! – Das ist, lassen wir es nur etwas auf uns wirken, durchaus eine unheimliche und sogar etwas bedrohlich scheinende Vorstellung. 1 Und zwar eben ganz konkret: diese eigenartig ›moderne Erfahrung‹ eines wesentlich Verflochten-seins mit unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ als unserem existentiellen Daseins-Raum! Uns also wirklich und wesentlich umfassend! Sie ist wortwörtlich für uns nun ›ohne Ausweg‹, ›existentiell also ausweglos‹. ›Nur der Tod kann uns (und wird uns) scheiden‹ ! – Wir sind mit unserem Suchen und Finden, sich so oder so Entfalten, unserem Gelingen oder Scheitern, unserem Leiden und unserem Hoffen, Glauben, Beten und Lieben in unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ notwendig ganz und gar verortet. Sie ist, diese Einsicht hat uns bisher begleitet, in wirklich keinem Falle unser bloß ›soziales, gesellschaftliches Spielfeld‹. Ein beliebiger (so und so gestalteter) Außenraum. Sondern sie ist Da als die wirklich wesentliche und wesentlich wirkliche bestimmende Gestalt und Gestaltung unseres Soseins. Gefasst in diesem Begriff: Lebenswelt ›Großstadt‹ ! Der Begriff ›Lebenswelt‹ greift selbstverständlich auch praktisch. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist unser für uns jetzt notwendiges Da-und-So-in-der-Welt-sein. Sie bestimmt uns wirklich-wesentlich im Allgemeinen und im Besonderen, also existentiell durchdringend. Sie durchdringt uns bis in unsere unwillkürlichen Muster hinein. 2 – BeiEine Beobachtung von Ernst Jünger: »Zur Orientierung über das Maß an Bedrohung, dem wir gegenüberstehen, bedarf es keiner verwickelten Berechnungen. Es genügt ein einfaches physiognomisches Studium, das sich in der Großstadt jederzeit sofort ausüben lässt. Man wird feststellen, dass das Gesicht des modernen Großstädters einen zweifachen Stempel trägt: den der Angst und des Traums, und zwar tritt das eine mehr in der Bewegung, das zweite mehr in der Ruhe hervor.« (Das abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Sämtliche Werke. Band 9. S. 80.) 2 Nun ist dieser Gedanke eines (mehr oder weniger dicht geknüpften) ›erkenntnistheoretischen‹ Zusammenhangs zwischen Dasein und Lebensraum nicht neu. Wir finden Vorlagen dazu schon von Winckelmann, Herder bis zu Cassirer. Beispielsweise Cassirer: Er schreibt, es gebe keine allgemeine, schlechthin feststehende Raumanschauung. Sondern der Raum erhalte seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst 1

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I. Daseins-Raum: Lebenswelt ›Großstadt‹

spielsweise ist sie eingeschrieben in unser Leib-sein. Kurz, die Form, also das Wesen, also die wirkliche Wirklichkeit der Lebenswelt ›Großstadt‹ verweist notwendig auf die Form, also das Wesen, also die wirkliche Wirklichkeit des Menschen hier und jetzt. Kurz und knapp: Wirklich und wahrhaftig ein ›existentielles Korrelat unseres MenschSeins‹ ! – Verlieren wir uns aber nicht in ›Abstraktionen‹. Schauen wir konkret auf uns. Da und So lebensweltlich verortet ist natürlich auch unsere ›existentielle Bedürftigkeit‹, unser ›wesentlich wirkliches Bedürftig-sein‹. 3 Wir sind also wirklich bedürftig ›so-da‹ ! Nicht nur nebenbei oder unter anderem auch! Sondern wirklich und wesentlich! – Denken wir hier im Besonderen an Krank-sein; an unsere Angst, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, unser Leiden und unseren Schmerz. (Ausdrücklich als ›existentielle Regel‹.) Darauf werden wir zurückkommen. – Verdichten und fassen wir es hier vorläufig so: Unser phänomenologischer Blick ›reflektiert‹ die uns bewegende wirkliche Ortschaft Lebenswelt ›Großstadt‹ als das für uns wesentlich-wirkliche Da und So. Das ist nun weder eine ›bloße‹ anthropologische, psychologische noch eine ›bloß‹ soziologische Reduktion. Damit keine offene oder verdeckte Gestaltung eines (von Husserl zu Recht so leidenschaftlich bekämpften) philosophischen Relativismus oder gar Skeptizismus. – Diese existentielle Reflexion der Reflexionen stellt immer weiter und immer wieder von Anfang an die phänomenologisch bestimmende Vorlage für unsere Arbeit. Ein philosophisches Arbeiten! Als Philosophieren ordnet es sich nicht ein in dieses oder jenes wissenschaftliche Begreifen ›der Großstadt‹, des ›Großstadt-Lebens‹. Unser Blick auf das wirkliche Wesen ist nicht ›stillgelegt‹ durch das, was historisch oder architektonisch, soziologisch, kurz ›empirisch gesichert‹ nun ›objektiv‹ als ›Großstadt‹, ›großstädtisch‹ angesprochen wird. Sondern für uns sind es ›wahrnehmbare‹, ›erlebbare‹, ›erfahrbare‹ Gestaltungen oder ›möglich von der Sinnordnung »innerhalb deren er sich gestaltet. Je nachdem er als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich die Form des Raumes. (…) Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene ein für allemal feststehende Struktur; sondern gewinnt diese Struktur erst Kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb deren sein Aufbau sich vollzieht.« (Mythischer, ästhetischer, theoretischer Raum. Bericht über den 4. Kongress für Ästhetik in Hamburg 1930. (Stuttgart 1931. S. 28 ff.)) 3 Von hier aus geht dann der phänomenologische Blick auf unsere ›Sehnsüchte‹, auf ›Transzendenz‹ und ›Utopie‹.

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G Gestalt und Gestaltung der Lebenswelt Großstadt

wirkliche Vorlagen‹ So-Da-zu-sein. ›Unsere Einsichten‹ also, die es erst phänomenologisch zu reflektieren und existentiell einzuordnen gilt. Unser ›philosophisches Maßnehmen‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹ bleibt somit weiter systematische (existentielle) Reflexion der Reflexionen. – Das schließt aber beileibe nicht aus, dass sich unser Blick herausfordern oder sogar in einer gewissen Weise ›binden‹ lässt, durch diese oder jene wissenschaftlichen Vorlagen oder durch diese oder jene Kunst-Werke. Wir reflektieren sie auch weiterhin als existentielle Hinweise auf ein konstitutives Wahrnehmen, eine ›Reflexion‹ unserer Lebenswelt. Also die Wissenschaften und die Werke der Kunst geben uns phänomenologisch Möglichkeiten: ›Reflexionen‹ reflexiv zu schauen. – Mit diesem so Arbeiten können wir nicht fehl gehen. Unsere reflexive Reflexion leitet zwanglos unser Schauen. Und verliert sich dabei selbst nicht aus den Augen. Wir reflektieren konsequent unser, uns selbst herausforderndes Da-und-So-in-der-Welt-sein; reflektieren konsequent diese unsere Lebenswelt ›Großstadt‹. – Das und so ist die moderne Großstadt als ›unsere Lebenswelt‹. Sie schauen wir als endgültige Gestalt und Gestaltung unseres Mensch-Seins. – Das ist nun unsere phänomenologische Perspektive mit weitreichenden praktisch anthropologischen Konsequenzen. –

II.

Endspiel ›Großstadt‹

Eine wesentlich methodische Eigenart phänomenologischen Schauens braucht dabei immer noch unsere Aufmerksamkeit. Wir klammern auch weiterhin alle theoretischen, wissenschaftlichen, philosophischen, theologischen und ästhetischen Vorlagen zur Großstadt ein; setzen sie (zumindest vorerst) also außer Geltung. In diesem Sinne ›vor‹ uns, irgendwie auch ›in‹ und so immer ›mit‹ uns, phänomenologisch allerdings außer ›Geltung‹ gesetzt, eine sehr breit gefächerte Literatur. Ansichten, Vorstellungen von so oder so aufbereiteten unterschiedlichen Perspektiven, Vorlagen und Wertungen. – Beschreibungen, Behauptungen, Erzählungen, Kritiken, Theorien usw. usf. Ein ›Gedanke‹ aber lässt sich trotz aller Unterschiede phänomenologisch herauslesen. Er drängt sich uns (wiederum) geradezu auf als einer, der unserm Dasein ›existentiell entspricht‹. All diese Vorstellungen, Bilder von Möglichkeiten des Welt- und Selbstverstehens, diese, so oder so eingeführten ›Gedanken‹ etwa, sich ›hier und jetzt‹ vernünftig human einrichten zu 192 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

II. Endspiel ›Großstadt‹

können (zu sollen; zu deuten; zu reflektieren), scheinen ›logisch ausgeschöpft‹. Als ob unser Verstehen und Selbstverstehen der Form nach nun endgültig geleistet sei. – Das erscheint dem, der auch nur etwas mit der entsprechenden Literatur vertraut ist, sicher wie eine der bekannten umlaufenden ›Untergangsphantasien‹. Diese Endzeit-Vorstellungen, die das 20. Jahrhundert begleiten. Aber schauen wir selbst genau hin. Unsere Vorurteile dabei fest im Blick. Lassen wir uns also nicht durch diesen oder jenen der umlaufenden ›großen Gedanken‹ irritieren. – Zunächst ein, möglicherweise, nur sehr ›subjektiver Eindruck‹. Es scheint uns also so, als sei das abendländische Dasein jetzt mit ihrer Gestaltung, der Form der ›reflexiven Reflexion der Großstadt-Existenz‹ ›vollbracht‹. Das ist diesseits aller Einzelbefindlichkeiten, eine offensichtlich hintergründige, aber keineswegs ›stumme‹ Grunderfahrung unseres Daseins. 4 So als ob das ›abendländische Da-Sein hier und jetzt‹ seine ineinander gefalteten Möglichkeiten, die Innen- und Außenräume interpersonal theoretisch und praktisch zu organisieren (beispielsweise, Wahrnehmen, Gestalten, Glauben, Denken, Werten, Bezweifeln, Reflektieren u. ä.), endgültig ›durchgespielt‹ habe. – Das ist nun (ganz ausdrücklich) keineswegs ein Nachreden, noch weniger ein Hoffen, ein ›Liebäugeln‹ auf Spengler’schen Untergang. Oder ein Einstimmen auf Heideggers ›Vorabend der ungeheuersten Veränderung der ganzen Erde‹. 5 Sondern ganz ›nüchtern‹. Wissenschaft, Kunst und Philosophie haben sich im Grunde, so scheint es mir, idealtypisch, beispielsweise, naturalistisch, idealistisch, skeptizistisch auf den Begriff gebracht; sich so ins Bild gesetzt; sich so, mit dieser entfalteten Form, Möglichkeiten der Gestaltung, sehen und hören lassen. Kurz und knapp haben sich endgültig theoretisch eingespielt und als ›unser Gedanke‹ praktisch erschöpfend vollbracht. Haben das, was es hier ›systematisch‹ überhaupt zu sagen gibt, formvollendet gesagt. 6 Was bleibt uns? Reminiszenzen, variantenreiche Wiederholungen, historisches Ordnen. – Beispielsweise auch bei Ernst Jünger. Der Kulturpessimist – so schreibt er – habe mit seiner Einschätzung Recht, »dass die Möglichkeiten eines bestimmten Lebensraums bis in die letzten Grenzen ausgeschöpft sind.« (Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. (1932). Stuttgart 1982. S. 214.) 5 Dieser Gedanke des ›Untergangs Europas‹ oder zumindest einer ›Zeitenwende‹ findet sich schon am Anfang des 19. Jahrhunderts. Dazu: Karl Löwith. Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Sämtliche Schriften 2. Stuttgart 1983. S. 483 ff. 6 Z. B. Wolfgang Max Faust fasst das für die Kunstgeschichte zusammen. Mit dem 4

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G Gestalt und Gestaltung der Lebenswelt Großstadt

Das hat, lassen wir uns darauf ein, nicht zuletzt durchdringende existentielle Folgen und praktische Konsequenzen. Vor allem als anthropologische Einsichten in die uns noch verbleibenden Möglichkeiten ›selbst-verständlich‹ Da-zu-sein. So kann beispielsweise ganz offensichtlich auch der ›abendländisch vernünftigen‹ Theologie (die im Übrigen nie wirklich ›das ganz Andere der Welt‹ in den Blick zu rücken versucht hat) keine uns noch wirklich überzeugende Sinnstiftung gelingen. Auch für sie scheint hier und jetzt zu gelten: Unsere ›logischen‹ Gedanken-Spiele sind gespielt! Game over! – Sehen wir einfach phänomenologisch hin und zu! Also ein Hinschauen ohne jede Polemik! Vorgeführt werden nur noch ermüdende Wiederholungen literarischer Muster! – Es scheint, als ob das ›Abendland‹ mit seinen lebensweltlichen Raum- und Zeitgestaltungen, ihren theologischen und philosophischen Vorstellungen und Reflexionen eben nicht mehr wirklich auf (nennen wir es) ›Hegelsche Vollendung‹ eingestellt sein könnte, sondern (auch ganz praktisch) auf eine ›reflexive Verendung‹. – Ein Hinweis auf den (wie man sagt) nicht zur Ruhe kommenden ›wissenschaftlich-technischen Fortschritt‹ ginge hier im Übrigen an unserer ›Sache‹ vorbei. – Das ist unsere Reflexions-Geschichte, die sich in abendländischen Institutionen wie Wissenschaft, Kunst, Theologie, Philosophie niederschlägt, aufzeichnet, verdunkelt und sich gerade so auch klärt. Ein eigenartig Verwirrendes ›zugleich‹ ! Die philosophisch vielgerühmte historische Entfaltung der Reflexion als Reflexion der Reflexion wäre damit in unserem Rückblick lediglich ›das Instrument‹ der das Abendland treibenden ›Verstörung‹. Unser Denken dieser (ausdrücklich unserer) Gedanken also ist ein sich endliches Entfalten durch ›immer kraftloser werdende‹ Reflexionsschleifen. – Und endlich ein ›EndSpiel Großstadt‹, das unser modernes Da-in-der-Welt-sein, so drängt es sich mir auf, geradezu ›schicksalhaft‹ gestaltet. – Wir beginnen, in diesem Horizont-So-Da, unser angestrengtes, so bemühtes theologisches und philosophisches ›Begreifen-wollen‹ nun endlich als horizontal-endlich, lebensweltlich ausweglos zu begreifen. 7 Wir haben uns zweiten Jahrzehnt (des 20. Jahrhunderts) formuliere sich »die mögliche Auflösung des tradierten, gattungsbezogenen Kunstbegriffs und des Begriffs vom Künstler. Der Futurist Severini prophezeite das Ende des Bildes und der Statue; Mondrian spricht von der Auflösung der Kunst; Max Ernst benennt das Ende des Künstlers als Schöpfer (…).« (Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln 1987. S. 191.) 7 Deutlicher als in der Philosophie wird dieser Gedanke durch die Tragödiendichtung

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(und darüber kann es kaum einen Streit geben) einzustellen auf ein Leben, ein ›Reflektieren‹, in einem zumindest geistig und geistlich (zumindest jetzt und so) ›endgültig‹ ausdifferenzierten Raum. 8 Je mehr wir beispielsweise über ›Gott‹, ›Welt‹ und ›Mensch‹ nachdenken, darüber ›reden‹, mit all den uns durch die Geschichte zur Verfügung gestellten philosophischen, theologischen, philologischen Möglichkeiten, desto mehr, so scheint es, verflüchtigen sich diese wuchtigen Gedanken. Sie werden ›unwirklicher‹, ›bedeutungsloser‹, ›unvernünftiger‹ und, eigenartig genug aber ›nicht nichtig‹, sondern je-für-mich ›existentiell drängender‹. – Wie auch immer es um den (sagen wir) ›objektiven‹ Wahrheitsgehalt dieser ›literarischen‹ Perspektiven bestellt sein mag. Diese Reflexionen der (vermeintlich oder wirklich) ›erschöpften Gedanken‹ unserer ›abendländischen‹ Welt sind nicht verborgen geblieben. Das hat Sorge, Unruhe und Untergangsphantasien ausgelöst. Nicht nur philosophisch, theologisch und literarisch. Sondern auch in unserem alltäglichen Da. Zwar, nicht selten, so oder so maskiert, verzerrt; praktisch so oder so verstellt; oder so oder so historisch entschärft und ›gemildert‹ zum Ausdruck gebracht. Lassen wir das hier auf sich beruhen. – Wir sehen uns phänomenologisch nun konkret so gefordert: Dieses unser sich so existentiell Sorgen sucht seine ›wesentlich wirkliche Ortschaft‹. Das ist ganz in der ›menschlichen Ordnung‹. Wenden wir uns hier phänomenologisch diesen so oder so vorgebrachten sorgenvollen Fragen selbst zu. Es kann uns philosophisch also nicht verwundern, dass das Werden der modernen Großstädte von Beginn an kritisch, literarisch, ästhetisch, wissenschaftlich und philosophisch begleitet wird. – Überwiegend ›kritisch‹ zwar, aber trotz allem nicht nur ablehnend oder nur mit aggressiv aufgeladenem Vorbehalt. Also durchaus unterschiedlich: also ausdrücklich so und so! Wie auch immer: auffällig ist das sich vordrängende große Interesse, die Leidenschaft, die Betrof›am Ende der Aufklärung‹ vorgestellt. Denken wir an Heinrich von Kleist. Benno von Wiese fasst es so: »Die Verzweiflung entsteht dort, wo der Mensch auf die Frage nach seiner ewigen Bestimmung keine Antwort findet. Dann steht Kleist vor der schrecklichen Drohung, mit der das ganze 19. Jahrhundert vorweggenommen wird, dass Gott nicht mehr antwortet, dass der Mensch vor das Nichts gestellt ist, dass alle Antworten verstummen.« (Die Deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. Tragödie und Theodizee. Tragödie und Nihilismus. Hamburg 19584. S. 286.) 8 Vielleicht erklärt das auch den unterschiedlich variierten Gedanken: ›Nur ein Gott kann uns noch retten‹ !

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fenheit, die bei diesen Fragen nach ›der Großstadt‹ oder das ›großstädtische Leben‹ oder ›dem Großstädter‹ sich zeigen. Diese Entfaltung, das Wachsen oder, je nach Perspektive, ›das Wuchern‹ der immer größerwerdenden-Städte wird gleichermaßen durch Philosophie, Kunst und Wissenschaft mit gespanntem ›existentiellem‹ Interesse, Neugierde und sogar Hoffnung kommentiert. Schon das 19. Jahrhundert kennt eine existentiell fundierte, durchaus ›differenzierte‹, literarisch-philosophische ›Großstadtkritik‹. Ins Auge fallen uns rückblickend aber mehr die oft grell pointiert und schrill vorgetragenen Sorgen, eine sich so meldende Furcht, die polemische Überblendung und eine damit verflochtene nicht nur untergründige Angst vor dem Werden der großen Städte. Also dem sich als unabwendbar vorstellenden, modernen Daund-So-in-der-Welt-sein. – Dieser Blick auf die Gestalt und Gestaltung ›moderner Groß-Stadt‹ (»das plötzliche Entstehen ungeheuer großer und hässlicher Städte«) 9 geht bereits über einzelne soziale, ökonomische, hygienische, gesellschaftliche Missstände hinaus. Ist also schon angelegt (und weitet sich deutlich) als eine allgemeine ›Zivilisationskritik‹, als ein Unbehagen an der ›Moderne‹, der ›verfluchten Kultur‹. 10 Etwa so vorgetragen und begründet. Die Großstädte seien, gemessen an anderen Lebensräumen wie Gehöft, Dorf, Markt, Stadt, ein ganz und gar unübersichtlicher Lebensraum. Ein Lebensraum, der den Menschen, das Mensch-sein ›wesentlich und ganz und gar verkrüppelt‹ – körperlich, seelisch, geistig, sozial. 11 Ja ›diese moderne Groß-Stadt‹ zeiFritz Stern. (Und) auch »hier waren die Deutschen gründlich: Im Jahre 1910 gab es in Deutschland fast ebenso viele Großstädte wie in allen übrigen Ländern des europäischen Festlandes zusammen.« (Kulturpessimismus als politische Gefahr. München 1986. S. 19.) 10 Denken wir hier an den fast vergessenen Theodor Lessing: »So gleicht die Kultur dem Baumeister, der den Mutterstoff für seine Bauten dem Erdreich entnimmt, welches die Bauten tragen soll. Alle die Riesendome des Geistes stehen auf dem unterhöhlten Grunde einer leergeschürften und nicht mehr wesentlichen Seele.« (Die verfluchte Kultur. (1921) München 1981. S. 31.) 11 So schreibt schon 1858 Ettelberger von Edelberg: »Die Wüste der Stimmung, der Leere des Gemüts, die Unbehaglichkeit des Seins (stehe) in genauer Wechselbeziehung mit der öden Flächen der Straßen, dem kahlen kunstlosen Schmuck unserer Kirchen.« (Zit. nach G. Albers. Städtebau und Menschenbild. In: Neue Anthropologie. Band 3. Sozialanthropologie. Herausgegeben von H.-G. Gadamer und Paul Vogler. Stuttgart 1972. S. 230.) Großstadtkritik als Zivilisationskritik auch bei Claude Levi-Strauss. Die Stadt habe aufgehört »eine in ihren Grenzen eingeschlossene urbane Landschaft zu sein.« Sie sei inzwischen zu einer Art schnell wachsendem Organismus geworden, ein Organismus, 9

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ge sich geradezu wie eine ›diabolische‹ Vollendung einer ›Gegen-Natur‹. Eine selbstentworfene oder selbstverschuldete ›Gegen-Natur‹ des und für den Menschen. – Das sind, ein Blick in die umfangreiche Literatur bestätigt es, nicht nur ›einzelne Stimmen‹. Im kritischen Blick sind vor allem, zunächst und zumeist, diese oder jene mehr oder weniger als ›anthropologisch‹ bedeutsam reflektierten ›Funktionen‹ der modernen Großstadt. Also beispielsweise ihre wissenschaftlich-empirisch fassbaren, beschreibbaren, sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen Funktionen. Eingeführt und ausdrücklich oder implizit unterschieden von den ›Gestaltungen‹ der historisch vertrauten Stadt. Diese Städte stellten die, wie man vermeint, noch menschen-gemäßen Stadt-Bilder; also unsere gemeinschaftliche Folie; seien so mit dieser Gestalt unser sozial natürliches Muster. Vertrautheit, Geborgenheit, Sicherheit, Nähe, verdichtet als Heimatlichkeit – all diese ›mitschwingenden‹ wunderbaren (romantischen, konservativen) Konnotationen. So als könne man immer noch und trotz allem den Gedanken der ›modernen Großstadt‹ dazu in ein angemessenes Verhältnis setzen. Also das als bedrohlich empfundene ›Hier und Jetzt‹ gemessen an einem fiktiven Damals. Beispielsweise einführen (im Sinne: ›warum nicht so‹ ?) als gleich oder ähnlich, nur irgendwie lediglich umfangreicher, ausgedehnter usw. – Wie auch immer im Einzelnen wir dazu stehen mögen. Kaum zu leugnen ist: Diese Bilder, Vorstellungen, Ängste drängen sich uns selbst immer noch, so oder so, wie unmittelbar auf. Ich mag wollen oder nicht! – Auch diese Vorstellungen lesen wir phänomenologisch als Gestaltungen unserer Lebenswelt. Sie sind für uns eben wirklich da, vor unseren Augen herausfordernd ›da‹, ›stimmen‹ uns scheinbar wie von selbst. – Sie liegen, schauen wir auf unser Sehen, phänomenologisch als ›lebensweltliche Oberflächen‹ vor unser aller Augen. Wir sprechen doch darüber, wir verstehen es (nach wie vor). Diese Selbstverständlichkeiten unseres uns (auch ›vertikal‹) verbindenden so Wahrnehmens (auch was sein soll, was wir nach wie vor vermissen) verwundern uns an dieser Stelle nicht mehr. Sind es doch phänomenologisch gelesen wesentlich ›internalisierte‹ Schemata unseres großstädtischen Daund-So-seins. Uns also aus einem verständlichen Grunde unwillkürlich »der einen zerstörerischen Virus ausscheidet, welcher an ihrer Peripherie – und in immer größeren Tiefen – alle Lebensformen zerfrisst.« (Strukturale Anthropologie II. Frankfurt/M 1975. S. 319.)

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(im Modus des ›Als-ob‹) vertraut erscheinenden Welt- und Selbstgestaltungen. – Verändern wir unsere Perspektive. Denken wir beispielsweise an die uns allen vertrauten typischen großstädtischen Formen, die selbstverständlichen Bewegungen, Muster und Zustände. Also ganz wahllos: Wohnen, Sich-beschäftigen, Beschäftigungs-los-sein, (ich nehme es wahr: herumsitzen; schlendern usw.); oder Organisation des Verkehrs, Erholung, Kaufen (shoppen) und Verkaufen, Vergnügen, Kommunikation, sich grüßen (oder auch nicht), sich begegnen, sich ausweichen usw. usf. – Sehen wir nun genau in diesem Zusammenhang hin, (das mag etwas überraschen) auf die für uns auffällige Zunahme dieser oder jener (von uns so benannten) ›Krankheitsformen‹. Auch das nehmen wir in der Regel wie selbstverständlich wahr. Also hinschauen auf die uns so oder so ›gezeigten‹ Befindlichkeiten Da-zu-sein. Etwa: ›ich fühle mich krank‹ !, ›er wirkt so abgespannt‹ !, ›mit ihm ist heute nichts anzufangen‹ !, ›sie kommt auch am Wochenende nicht mehr zur Ruhe‹ !, ›meine Kinder sind zur Zeit so gestresst‹ ! Eng damit verbunden, das uns vertraute Kennzeichnen bestimmten ›Verhaltens‹ als ›krank‹, ›abnorm‹, ›nicht regelgerecht‹ (dies und das fällt aus unserem, für uns eigenartig selbstverständlichen lebensweltlichen Rahmen). Oder von vorneherein das ›soziale Markieren‹ bestimmter somatischer, psychischer, seelischer Zustände als ›Deformation des Mensch-Seins‹. – Also all diese Krankheits-bilder in diesen ›so großen, wirklich großen Städten‹. (Die Frage, ob es überhaupt wirklich wesentliche Zusammenhänge zwischen unserem so gestalteten, internalisierten Alltag und diesen ›Auffälligkeiten‹ gibt oder nicht, lassen wir hier noch auf sich beruhen. Wir werden eigens darauf zurückkommen.) – Eine ›Vielfalt‹, die uns vertraut scheint. Eines aber ist phänomenologisch auf dem ersten Blick offensichtlich. Mag es im Einzelnen damit sein wie es will. Wir sind es doch zweifellos immer selbst, sind es als Da-und-So-inder-Welt-sein, die ›so wahrnehmen‹, ›so reflektieren‹, ›so konstituieren‹, es ›so benennen‹. Also es leibhaft uns selbst als uns selbst zugehörig vorführen, es sich uns so vor Augen stellen, zurechtlegen; es ablehnen; oder es auch zu verdrängen versuchen, es leugnen. Kurz, wir selbst sind es, bei denen all das (wie auch immer) als ›lebensweltlich‹ bedeutsam ankommt. Wir mögen in diesem oder jenem Falle darauf (auf uns selbst) achten oder nicht. Nur flüchtig betrachtet eine ›bloße‹ Trivialität. Phänomenologisch gelesen sind das ganz offensichtlich, es mag im Übrigen damit um die ›wissenschaftliche Richtigkeit‹ stehen 198 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

II. Endspiel ›Großstadt‹

wie es will, herausfordernde Selbst-Erfahrungen des Menschen als Daund-So-in-der-Welt-sein. – Eine ›Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt‹ darf auch an all diesen sozialen und existentiellen Formen, Mustern, also Zuschreibungen, Wahrnehmungen, Deutungen, Verweigerungen, Verdrängungen u. ä. großstädtischen Selbstverständnisses nicht vorbeisehen. Sie gehören phänomenologisch wesentlich mit zu unserer Fassung So-in-der-Welt-zu-sein. Es mag um die ›wissenschaftliche Objektivität‹ [also] damit stehen wie es will! – Um in diesem Zusammenhang noch einmal kurz auf die uns eher bedrückenden ›Selbst-Wahrnehmungen‹ zurückzukommen. Da sind also beispielsweise die uns so dicht, so aufdringlich, geradezu leibhaft vor Augen liegenden ökonomischen, sozialen, gesellschaftlichen Missstände. Sie drängen sich uns auf (wortwörtlich) ›mit allen Sinnen‹ ! Nicht als ob das alles historisch wirklich ›neu‹ wäre. Das ganz sicher nicht! Schon ein oberflächlicher Blick in die Geschichte lässt darüber keinen Zweifel. Möglicherweise gestaltet sich nicht nur die Erfahrung selbst, sondern auch die ›Dichte der Erfahrungen‹, also ›Quantität‹, Umfang oder die ›Vorstellung‹ der als bedrohlich wahrgenommenen Zustände auf engstem Raum, sich für uns nun als eine eigene ›Qualität‹. – Eines aber ist phänomenologisch wirklich wesentlich ›neu‹. Und zwar, dass sich das alles für uns im Grunde als ›unsere wesentlich existentielle Krisis‹ vorstellt und aufdrängt. Dass wir mit all diesen Fragen ausschließlich ›vor uns selbst stehen‹. Vor uns selbst als So-Da-in-der-Welt-sein. Eben ›So-Da‹ und nicht mehr anders. – Aber schauen wir zunächst einfach weiter hin und zu. – Offensichtlich also wird das ›großstädtische Leben‹ (gleich ob in London, Wien oder in Paris) philosophisch von Beginn an nicht nur als erweiterte soziale, gesellschaftliche, politische Formung oder als ein mehr oder weniger ›zufälliges‹ soziologisches lebensweltliches Muster wahrgenommen. So als ob eine ökonomische und politische Erklärung hinreiche. Sondern vor allem als eine anthropologisch existentiell-wesentliche, ganz bemerkenswerte, auch ›metaphysisch‹ defizitäre, (und wir fügen jetzt hinzu) als eine nun als ›für uns endgültig wahrgenommene‹ Daseins-Form. – Wie immer wir diese unterschiedlichsten Sichtweisen auf die ›großstädtischen Lebensformen‹ phänomenologisch ordnen, z. B. mit Blick auf Husserl, Heidegger, Scheler (oder auch Georg Simmel, Walter Benjamin), welche Folgerungen wir daraus ziehen (›Untergang‹, ›Verödung des Mensch-seins‹ oder Vollendung der Aufklärung, Herausfor199 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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derung und Chance), eines ist offensichtlich und darf, ganz unabhängig davon, nun mit einigem Recht weiter entfaltet werden: Die moderne Großstadt zeigt sich uns selbst als ›unsere Lebenswelt‹, begreift sich schon historisch als (ausdrücklich) unser irritierendes ›Schaustück Daund-So-zu-sein‹. Kurz, als eine faszinierende ›Vorführung‹, eine ›Inszenierung‹ und komplexe ›Verdichtung‹ scheinbar endgültig vollbrachter Möglichkeiten abendländischer Welt. 12 – Aber auch ›diesseits‹ aller historischen Deutungen erfahren wir uns in und mit der ›Großstadt‹. Die Lebenswelt ›Großstadt‹, so begreifen wir unseren Auftrag, reflektiert sich für uns phänomenologisch in Form der reflexiven Reflexion. Sie zeigt so unsere destruktiven und konstruktiven anthropologischen Potentiale als das für uns Wesentlich-Wirklich-Mögliche. – So haben wir uns selbst endlich als existentielle Bewegung, als lebensweltliche Gestalt und Gestaltung vor Augen. Allerdings phänomenologisch so, als ob wir wesentlich wirklich nur noch ›horizontal‹ geordnet wären. Aber schauen wir weiter hin und uns zu. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ – also welch eine wortwörtlich ›ungeheure‹ existentielle Selbsterfahrung! Also eine wirklich wesentliche (reflexive) Reflexion unser Selbst! – Die Literatur des Abendlands hat es immer geahnt, wir aber wissen es nun von und durch uns selbst, weil wir es an uns selbst sehen, selbst reflektieren, selbst schauen: Vieles ist ungeheuerlich! nichts ist ungeheuerlicher als der Mensch als Da-und-So-in-der-Welt-sein! –

III. Verinnerlichte Welt-Großstadt Das alles ist wahrhaftig nicht etwa etwas geheimnisvoll Verborgenes. Eine Vorstellung, eine Einsicht geleistet nur von einigen Wenigen. Wir alle sehen es, reflektieren es. Es braucht aber gerade deswegen, als diese selbstverständliche ›manifeste-da‹, ein phänomenologisch gestaltetes Entdecken, ein Schauen, eine ›phänomenologische Hermeneutik‹. – Es liegt also vor unseren Augen. Drängt sich aber nur dem vorurteilslos Schauenden (und dann) wie von selbst als uns wesentlich wirklich zugehörig entgegen. Wir können es also zumindest phänomenologisch als wesentlich-wirklich-existentiell gar nicht übersehen. In unserem Blick steht die Lebenswelt ›Großstadt‹, reflektiert als unser 12

Die Metaphern aus der ›Theaterwelt‹ sind hier nicht zufällig.

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Da-und-So-in-der-Welt-sein. Sie ist als Gestaltung der unterschiedlichsten Reflexionen breit aufgefächert. – Ganz offensichtlich ist auch, und das ist uns nicht entgangen, dass der modernen Großstadt, dem großstädtischen Leben der Moderne als großstädtischer Gesellschaftsform als Kunststil, als ›Perspektive‹, kurz, als ›Elend‹ und ›Triumpf‹, ›Verhängnis‹ und ›Schicksal‹, ›Herausforderung‹ und ›Chance‹ breite Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. – Auch hier kann also von Übersehen, Verdrängen, Verschweigen der ›modernen Großstadt‹ als Daseins-Form gewiss keine Rede sein. – Das hat uns, phänomenologisch reflektiert, als ›anthropologische‹ Selbst-Gestaltung der Lebenswelt ›Großstadt‹ beschäftigt. Denken wir auch hier zunächst (weil besonders beredt und eindringlich) an die ›Großstadt-Kunst‹. Vor allem an die, von einem Einzelnen kaum mehr zu überschauende, zu bewältigende (sogenannte) ›Großstadt-Literatur‹. Denken wir sie uns als eine Literatur, die sich ausdrücklich unter der Überschrift ›Großstadt‹ sammelt. – Die ›moderne Großstadt‹, das ›großstädtische Leben‹, der ›Mensch in der Großstadt‹ wurde und wird vor allem in der Kunst (vergessen wir hier vor allem den Film nicht) als interessanter, bestimmender, existentiell bedrängender, verwirrender ›Ort‹ eingeführt. Ort (Berlin, Paris, Wien, London) und ›innere‹ Ortschaft (ein Londoner, eine Wienerin usw. sein) zugleich! Die ›wissenschaftliche‹ oder ›ästhetische‹ Qualität dieser Vorstellungen ist für unsere Reflexion (zumindest zunächst) ohne Belang. Selbst noch die sogenannte ›triviale Kunst‹ (manche mögen schon über diesen Begriff die Nase rümpfen), denken wir an den ›Schlager‹, reflektiert für uns selbstverständlich Lebenswelt ›Großstadt‹. – So verdichtet: Das alles sind die uns interessierenden, zuerst und zumeist ›unbedachten Intentionalitäten‹ existentieller Welt- und Selbstordnung. Sie stellen uns nun auch weiter die phänomenologischen Leitfäden für eine ›existentielle Reflexion‹ unserer selbst. Wir folgen (immer noch) auch diesen ›wissenschaftlichen Vorlagen‹ und diesen ›ästhetischen Perspektiven‹. Und schauen sie phänomenologisch als existentielle Leistung und Geleistetes eines Da-und-So-in-derWelt-seins. Und das, vergessen wir es nicht, ausdrücklich ganz unabhängig von ihren ästhetischen oder wissenschaftlichen Qualitäten. Also kurz und knapp: Hinschauen auf das-da als diese für ›uns‹ (und eben nur für ›uns‹) hier und jetzt möglichen ›Formungen‹ intentionaler Gestalten und Gestaltungen der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Das sind phänomenologisch eben immer mehr als bloß interessante Denkspiele, 201 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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kreative oder lehrreiche und unterhaltsame Schaustücke. Sie entfalten nämlich durch sich selbst, zuerst und zumeist wenig beachtet, repulsiv eine beeindruckende ›existentiell konstitutive Potenz‹. Sie verbirgt sich nicht selten schon ›hinter‹ einer ›bloßen‹ Beschreibung, Darstellung, Erzählung (beispielsweise) von diesem oder jenem ›Erlebnis eines Interessanten‹, ›Denkwürdigen‹, ›Schauerlichen‹, ›Erfreulichen‹ des Großstadt-Lebens, eines Menschen-Schicksals ›in‹ der ›großen Stadt‹. – Wir zumindest also lesen, ›reflektieren‹ auch, vor allem auch, die ›Großstadt-Kunst‹ (unabhängig davon was dieser oder jener Künstler für sein Werk beansprucht) als willkürlichen oder auch unwillkürlichen Beitrag oder wortwörtlich als konstitutive Reflexionen zu einer ›Selbstherstellung‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. – Das wird uns noch einmal eigens beschäftigen. Hier genügt es zunächst uns eines in Erinnerung zurückzurufen. Und zwar dieses. Wir haben unsere anthropologische Hinsicht von Beginn an, als unsere uns überhaupt mögliche existentielle Grund-Lage von Anfang an gesetzt und phänomenologisch als wesentlich-wirklich nicht mehr aus den Augen verloren. Nicht mehr und nicht weniger! Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist also phänomenologisch keine kulturelle, gesellschaftliche oder soziale Gestalt, die irgendwie (sagen wir) ›vom Himmel gefallen‹ wäre oder sich als historische Zufälligkeit, diesem oder jenem Ereignis geschuldet, nun so für uns entfaltet hätte. – Halten wir uns auch weiterhin an unseren phänomenologischen Stab und Stecken! Schauen wir hin und uns selbst weiterhin genau zu. In unserem Blick also unser irritiertes und perturbiertes Selbstverständnis als Da-und-So-in-dieser-Welt-sein. – Wie immer wir also diese Fragen, (genauer) unser Fragen auch drehen und wenden. Unsere phänomenologische Fassung der Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert sich als ›fundamentale philosophische Anthropologie‹. 13 – Immer Das gilt auch für unseren Blick auf ›die Moderne‹, unsere je eigene Erfahrung von Modernität unserer Lebensweltgestaltung. Was nun ›das Moderne‹, die ›Modernität der modernen Großstadt‹ sei, was es also wesentlich ausmache, ist noch zu beschreiben. Dazu beispielsweise: Silvio Vietta. Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992. (z. B.) S. 273. – Eine eher ›vertraute‹ Deutung bei David Bell: »Unter metaphysischen Aspekt bedeutet Modernität die Abwendung von Gott und der Natur, jenen beiden Achsen des christlichen und des klassischen Denkens, und die Hinwendung zur Geschichte als dem Streben nach der Selbstverwirklichung des Menschen.« (Zur Auflösung der Widersprüche von Modernität und Modernisierung. Das Beispiel Amerika. In: Zur Diagnose der Moderne. Hg. Heinrich Meier. München. Zürich 1990. S. 23.)

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wieder werden wir, ob wir es wollen oder nicht, darauf aufmerksam. Unser Arbeiten entwirft sich, wir können es nicht leugnen, immer deutlicher geradezu im Widerspruch zur ›klassischen Phänomenologie‹, zur ›Phänomenologie Edmund Husserls‹. (Das ist allerdings eine Möglichkeit, die selbst in der Phänomenologie angelegt ist.) – ›Modernität‹, um mit augenscheinlich Offensichtlichem zu beginnen, entfaltet, zeigt, ja verdichtet sich phänomenologisch als Lebenswelt ›Großstadt‹. Das ist durchaus, gleich was wir in den Blick nehmen, ein ambivalenter Prozess. Das haben wir erfahren. Und darauf werden wir immer wieder zurückkommen. – Sicher wird zunächst einer so allgemein vorgetragenen Zusammenstellung von ›Modernität‹ und ›Lebenswelt Großstadt‹ nicht sehr heftig widersprochen werden. ›Die Großstadt‹ scheint doch wie das ›Schaufenster‹, wie ein ›Katalog‹ für unser ›Modern-sein‹. So zeigt sie sich beispielsweise ›bildhaft‹ : als das ›Warenlager‹ und zugleich als die ›Bühne‹ für uns, für uns, die wir uns ausdrücklich so in Form gebracht ›moderne Menschen‹ nennen. Eine Modernität also, die wie selbstverständlich das Soziale, Ökonomische, Gesellschaftliche, Kulturelle, auch das Religiöse formatiert und umspannt und als selbstverständlich reflektiert. – Aber phänomenologisch eben nicht nur das. ›Die Großstadt‹ ist bewusst und unbewusst und ganz praktisch die ›Ausstellung‹ unserer Begehrlichkeiten, unserer Lüste, Ängste, unserer Frustrationen, unserer ›Krankheiten‹ und unserer ›großen‹ und ›kleinen‹ Hoffnungen, das Intimste dabei mit eingeschlossen. Eine Zusammenfassung, Zusammenstellung, eine willkürliche und unwillkürliche Zusammenführung der Erfahrungen, des Wissens, des Könnens, des ›Träumens‹, des ›Philosophierens‹ und nicht zuletzt des Glaubens des ›abendländischen‹ Mensch-seins hier und jetzt. Die Großstadt ist als Lebenswelt noch in unsere ›kleinste‹, ›unscheinbarste Bewegung‹ eingefaltet. Eine Philosophie, eine ›Kritik‹ der Großstadt, das hat sich uns immer wieder und von Anfang an aufgedrängt, ist immer eine Philosophie, eine ›Kritik‹ der Moderne und auch umgekehrt. Das gilt zweifellos nicht nur für unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen. – Sehen wir an dieser Stelle nun wieder noch etwas genauer auf uns hin. Für uns (Phänomenologen) also stellen diese oder jene Erfahrungen ›in‹ und ›mit‹ dieser Welt auch die ›konkreten Forschungsleitfäden‹ für unsere ›reflexive Reflexion‹. Das ist die, so lesen wir es, gleich wie und was, phänomenologische Gestaltung, also die wirklich wesentliche existentielle Fassung meiner selbst als Da und So. Dass vor 203 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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allem auch ich selbst als dieses wirklich wirkliche Da-und-So-Sein zu meinen Selbst- und Welt-Erfahrungen gehöre, sogar zu meiner WeltGrund-Erfahrung, ist die für uns wesentliche Einsicht unserer Lebenswelt-Phänomenologie. – Das erinnert uns im Übrigen daran, dass unser anthropologisches Vorhaben ganz und gar ein philosophisches ist und (was immer wir auch ›reflektieren‹) ein philosophisches bleibt. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹, das folgt unmittelbar aus dieser phänomenologischen Reflexion unserer Weltgrunderfahrung, scheint für unsere Reflexionen nicht mehr als bloße soziale, architektonische, politische Raumgestaltung. Vielmehr reflektiert sie unsere wesentlich wirkliche Lebenswelt als intentionale Gestaltung und Gestalt unserer Existenz. In unserem phänomenologischen Blick bleibt also, was immer er auch wie ins Auge fassen mag, die Lebenswelt ›Großstadt‹ als Gestalt und Gestaltung unseres wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. (Denken wir das aber nicht als Form von ›Grund‹ und ›Folge‹.) Immer also sind wir uns selbst auf der Spur. Alle philosophischen Wege führen uns zu uns zurück. Gleich ob wir es beabsichtigen oder nicht. – Von Anfang an fordert uns also nicht nur die ›Großstadt‹ phänomenologisch heraus. Als beispielsweise ein uns so oder so umgebender, uns bedrängender Sozial-Raum, als ein dicht bebautes Areal oder als ein System von Gebäuden, Straßen, Plätzen oder durch maßlosen Lärm und ›Lichtverschmutzung‹. – Sondern diese unsere ›Zuwendungen‹, einschließlich dem, dass wir uns überhaupt auf diese Weise existentiell herausfordern lassen (müssen), sind selbst wiederum immer wieder als ›konstitutive Potentiale‹, als Vorstellungen eines eben so bestimmten Da-und-So-in-der-Welt-seins phänomenologisch zu reflektieren. – Schauen wir auch hier, an einer für uns besonders bedeutsamen Stelle, phänomenologisch noch etwas genauer hin. – Und zwar auf unser gemeinsames ›Philosophieren‹. Das ist offensichtlich, lassen wir alles andere auf sich beruhen, ein Philosophieren, ein phänomenologisches Reflektieren, ›in‹ unserer uns gemeinsamen Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie ›stellt‹ selbstverständlich auch ›in diesem Fall‹ den ›Horizont‹ all unserer Reflexionen und auch unserer reflexiven Reflexion. 14 Wie eine ›Perspektive‹, die Anschauungen, Vorstellungen, Begreifen er-

Eine Selbstverständlichkeit, die dem universitär organisierten Philosophieren nicht der Rede wert zu sein scheint!

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möglicht, zumeist aber selbst nicht in den Blick kommt. Und darüber hinaus: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist nun auch, wir können uns drehen und winden, als unser selbstverständlicher Bewegungs-, Erfahrungs- und Reflexions-Raum das ›anthropologische Fundament unserer phänomenologischen Arbeit‹. Das ist gesetzt (sagen wir) wie ein ›hermeneutischer Vor-Satz‹, der unser Arbeiten durchdringend bestimmt. – Und selbst diese ›Grund-Hermeneutik unseres Da-und-Soseins‹ bleibt eine Herausforderung für unser systematisches Denken. Erinnern wir uns an die, von uns selbst immer wieder eingeforderte, phänomenologische Forderung eines existentiell gerichteten sich selbst Selbstwahrnehmens, sich selbst Selbstverstehens und selbst Selbstbegründens. Eine Forderung, eingeführt nicht als bloße Möglichkeit neben anderen gleichwertigen Möglichkeiten. Sondern als ein notwendig ›existentielles Sollen‹ und ›existentielles Müssen‹. Wobei wir phänomenologisch Arbeitenden, auch darauf haben wir uns selbst immer wieder hin- und eingewiesen, kein unbedingtes ›ideal absolutes Fundament‹ zugrunde legen können. Beispielsweise ein ›transzendentales Ich‹, eine ›absolute Vernunft‹, auch nicht ›die Gesetze der Natur‹, ›der Evolution‹ o. ä. Also, irgendeine als ›fraglos sicher ausgewiesene Metaebene‹. Ein transzendentales oder ein wissenschaftliches Fundament, das für uns von Anfang an a priori gewiss, jenseits alles überhaupt möglichen Zweifelns fundiert ist. (Wie ein ›anthropologisches alpha und omega‹.) – Ganz offensichtlich, wir machen uns unsere Arbeit wahrhaftig nicht leicht. Nicht aus bloßer Willkür. Weil es uns so eindrücklicher schiene. Wie eine sich gewichtig und schwer-bedeutsam gebende ›philosophische Attitüde‹. Sondern so: Unsere existentielle Reflexion der Reflexionen folgt ›einfach unserer Sache‹. – Trotz dieser ›uns verwirrenden Umstände‹ besteht kein Grund zu einer Resignation. Lassen wir auch an dieser Stelle nicht zu, dass sich unser Blick, durch uns selbst, durch unsere theoretischen Bedenken verengt. Mag unsere zu reflektierende ›Sache‹ komplex sein, wie sie will. Ja – mag unsere Untersuchung auch aporetisch enden. Es bleibt dabei: Dieser reflexiv-reflexive Horizont gestaltet, so wie er sich uns zeigt, unsere wesentlich wirkliche Vorstellung. Bleibt also, genau so, der Ausweis unseres wirklich leibhaften Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Das ist unser ›phänomenologischer Gedanke‹. Gestaltet und vorgeführt als existentiell phänomenologische ›Sichtweise‹. Eine SelbstSelbst-Perspektive, die sich eben nicht, gleich wie, reduktiv verein205 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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fachen, sich vor allem nicht auf irgend-einen ›idealen‹ Begriff bringen lässt. –

IV. Daseins-Welt ›Welt‹, so Heidegger, sei nie nur eine bloße Ansammlung »der vorhandenen abzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge.« 15 – Zumindest darin stimmen wir mit ihm überein. Nur denken wir ›unsere Welt‹, unser ›So-Da‹, wesentlich wirklicher. Diese unsere wirkliche Lebens-Welt ordnet sich, scheinbar wie von selbst, ›großstädtisch‹. Nur zur Erinnerung: Das meint nicht nur irgendeine historische Gestaltung. Also (sagen wir) die Ordnung einer sozialen, gesellschaftlichen, politischen Lebensform. Etwa eine bestimmte Anzahl von Menschen auf ›engem (engstem) Raum‹. Oder eine besondere architektonische Form, also ›Raum‹ so zu bebauen, zu organisieren, zu strukturieren usw. Auch nicht nur eine Möglichkeit, sich in dieser modern genannten Welt da miteinander einzurichten. Kurz – eine historisch gewordene Möglichkeit eben neben anderen nach wie vor gegebenen Möglichkeiten. – Sondern die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist phänomenologisch, wo immer wir leben, unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. Ist also hier und jetzt unser notwendiger, uns existentiell zwingender Lebensgrund und unsere wirkliche Lebensgestalt. In einem Satz: Sie bestimmt uns wirklich wesentlich; und sie umfasst uns existentiell ganz und gar. So sind, um nur ein Beispiel zu nennen, diese (sicher zu Recht) viel besprochenen, architektonischen Sonderheiten einer Großstadt oder die ökonomischen, sozialen oder gesellschaftlichen Eigenheiten oder bestimmte politische oder ›technische‹ Formen großstädtischer Verwaltung u. ä. für uns nur ein ›äußerer‹ Hinweis auf ein lebensweltlich ganz und gar so ›verpflichtetes Da-und-So-sein‹. Also, kurz und knapp: Wir sind existentiell so verpflichtet, so gebunden, so gestaltet und geordnet. – Wir sind also so-da und wesentlich wirklich nicht mehr anders! – Nun ein ergänzender, hierher gehörender Perspektivwechsel. Unser ›existentielles Selbst-Bewusstsein‹ ist eine Leistung reflexiver Reflexionen. – Dieser Gedanke wurde von uns nicht ›neuzeitlich-idealis»Welt weltet und ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben. Welt ist nie ein Gegenstand, der von uns steht und angeschaut werden kann.« (Holzwege. Frankfurt/M 19806. S. 30.)

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tisch‹ eingeführt. Wir entfalteten stattdessen dieses ›Bewusstsein unseres So-Selbst‹ als dieser leibhafte Eine da, der nun wirklich notwendig ›Da-in-dieser-Welt-ist‹. – Das ist sicher auch eine Frage für eine philosophische Erkenntnistheorie. Aber eben nicht wesentlich. Es ist vielmehr unsere ganz phänomenologisch praktisch unterlegte Einsicht, unser Schauen, Tag für Tag, eben wirklich so-da-zu-sein. So-Da, – leibhaft, endlich, wesentlich wirklich zu sein. So-Da, d. i. ganz und gar eingefaltet in diese unsere wirkliche Welt. 16 Wir ›leben‹, wir existieren, also zuerst und zumeist praktisch-wirklich und selbstverständlich unser Dasein als So-in-der-Welt-sein. Diese alltäglichen oder auch außergewöhnlichen Erfahrungen einer ›selbstverständlichen‹ Selbst- und Welt-habe werden nun gesammelt, gestaltet, vorgeführt in KunstWerken, Literatur, Theologie und Philosophie. Wir sehen es selbst; das sind keine bloßen ›Nachzeichnungen‹ oder ›ästhetische Ornamentik‹. – Die Geschichte des Denkens, der Literatur, der Kunst – also der Reflexionen, der Gedanken, Bilder und Ideen könnte (sollte) aus dieser Perspektive neu geschrieben werden. – Schauen wir hin auf diese so reflektierten Welt- und Selbstsichten. Unsere phänomenologische Reflexion ist alles andere als ein gelassenes Nachsinnen über diese oder jene, uns so oder so vorgestellten, tradierten historischen Ereignisse, Vorkommnisse, Zustände. Sondern diese von uns nun ›existentiell‹ ausgerichtete Gestaltung ist eine letztendlich ›verzweifelte Selbst-Fassung‹ Da-und-So-in-der-Welt-zu-sein. Also eine ›existentielle Suchbewegung‹, die eben nicht über sich selbst, über existentielle Beweggründe, diese oder jene unserer Modi, ›philosophisch allgemein (›ohne Zorn und Eifer‹) hinwegsehen kann‹. Wortwörtlich: ›wir lesen uns selbst in uns selbst ein‹ ! 17 Und damit geben wir der eignen, uns wesentlich zugehörigen ›Verzweiflung‹ philosophisch Raum. – Diese radikal existentielle Intention phänomenologischer Daseins-Analyse, die immer auch Rilke hat mit den Duineser Elegien wie kein anderer lyrisch diesen Gedanken ›reflektiert‹. 17 Das erinnert uns auch an die Psychoanalyse und ihren Umgang mit literarischen Texten. »Der Interpret hat es mit einem Text zu tun, zu dem er sich in einer vielschichtigen Beziehung verhält. In dieser Beziehung spielen die Phantasien und Konflikte, die im Text enthalten sind, und die Phantasien und Konflikte des Lesers eine große Rolle. Die Figurenanalyse ist immer eine Phantasie-Analyse, eine Analyse der Gegenübertragung, der virtuellen Objektbeziehungen zu den fiktionalen Figuren, die im Akt des Lesens angeknüpft werden.« (Walter Schönau. Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Stuttgart 1991. S. 104 f.) 16

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Welt-Analyse ist, bleibt im Übrigen ›gültig‹, auch nach der möglichen Erfahrung des Ungenügens, eines Versagens der reflexiven Reflexion. 18 – Das können wir in uns gar nicht übersehen. Die ›irrationale Wahrheit der Unruhe des Herzens‹ behauptet sich wirklich gegen die ›Behauptungen der Vernunft‹. – Das sind also unsere existentiellen Erfahrungen. Über die, so sollte man meinen, auch philosophisch nicht hinweggedacht werden kann. (Aber – sehen wir uns doch einfach in der ›philosophischen Scene‹ um!) – Wie auch immer das Philosophieren der Gegenwart sich ausrichten mag. Zumindest für uns existentielle Phänomenologen bleibt nach wie vor ein Gedanke fundierend: Die wesentliche Wirklichkeit ›unseres‹, in dieser unserer Welt grundsätzlich ungesicherten Daseins. Er war geradezu die konstitutive Vorleistung, die treibende Kraft für unsere Reflexion der Reflexionen. – Vor uns nun, zumindest in Umrissen, ausgebreitet die wesentlich existentielle Grundlage der Moderne. Also unsere wirkliche Lebenswelt ›Großstadt‹. Also unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. Gemessen an den ›großen Ideen‹ abendländischer Philosophie und Theologie (das Gute, das Wahre, das Schöne, die Vernunft, der Gott, die Unsterblichkeit) scheint das sehr wenig zu sein. – Allerdings schauen wir nur genau hin. Wir bewegen uns mit unserer Einsicht sogar selbst noch innerhalb des Horizonts neuzeitlicher Ideengeschichte. Aber die historisch angelegte und so scheinbar gesicherte Selbstvergewisserung philosophischer Reflexion erfährt hier ihre wesentlich wirkliche Grenze in der Notwendigkeit unseres lebensweltlich gebundenen Daseins. Unsere existentiell angelegte Reflexion der Reflexionen ist nun die GrundVorstellung für das Wahrnehmen, die Erfahrung, die Reflexion in der Moderne. – Dass das keine soziologische, psychologische Nachzeichnung dieser oder jener Gedanken oder ›nur‹ irgend ein Vorschlag zu einer theoretisch oder praktisch faktischen Gestaltung des modernen Lebens ist, braucht an dieser Stelle nun keiner ausführlichen Begründung mehr. –

Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag, / den reinen Raum vor uns, in den die Blumen / unendlich aufgehen. Immer ist es Welt / (…). (Rilke. Achte Duineser Elegie)

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V. Großstadt-Kunst Wir (als Da-und-So-in-der-Welt-sein) sind also unlösbar existentiell verflochten mit unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Auch wir Phänomenologen. Unsere Reflexion der Reflexionen bleibt selbstverständlich darin eingefaltet. Selbst noch die denkbar abstrakteste Weltauffassung verweist letztendlich auf unsere existentielle Intentionalität als Form unseres (leibhaften) Da-in-der-Welt-seins. – Wie immer wir uns auch drehen und wenden, wohin wir uns auch ausrichten, worauf wir uns auch stützen: Wir sind und bleiben notwendig wesentlich wirklich lebensweltlich fundiertes leibhaftes Da-und-So-sein. Hier trennte sich, und das haben wir zu Kenntnis zu nehmen, endgültig unser Weg von Edmund Husserl und seiner ›transzendentalen Phänomenologie‹. Eine Trennung allerdings wie gesagt ohne Zorn und Eifer. (Zumindest von unserer Seite.) – Das eine haben wir immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven vorgestellt: Die Großstadt als unsere ›Lebenswelt‹ gestaltet, formt ganz augenscheinlich auch diese uns verwirrenden, irritierenden Vorstellungen des Existierens. So bizarr sich das noch auf den zweiten Blick geben mag, also grotesk und oft erschütternd unvernünftig! – Wir lasen diese ›unterschiedlichsten Vorführungen‹ phänomenologisch, diesseits aller psychologischen, soziologischen, historischen Deutungen. Lasen sie als wirkliche Möglichkeiten hier und jetzt so und nicht mehr anders ›Da-zu-sein‹, ›So-Da-sein-zu-müssen‹. Kurz, die Lebenswelt ›Großstadt‹ also wahrhaftig unsere nun einzige Bühne für ›unsere vielschichtigen Menschen-Spiele‹. Wir mitten darin (und nicht nur »Zuschauer«): Von ›irrwitzig‹, ›todernst‹, aufregend interessant bis alltäglich routiniert. – Um das wahrzunehmen braucht es noch kein Schauen, keine reflexive Reflexion der existentiellen Phänomenologie. – Das Bild der ›Bühne‹ darf nun aber phänomenologisch nicht zu eng gefasst werden. Beispielsweise: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist nicht, daran haben wir uns immer wieder zu erinnern, ein bloßer Spielraum, ein auswechselbares Spielfeld, eine Ortschaft neben anderen Orten. Und so für uns nur eine Lebens-Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten. So als hätten wir hier noch ernsthaft eine Wahl. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ gibt uns uns wirklich wesentlich vor; sie gestaltet, richtet aus und begrenzt uns. Alles zu gleich! Wir sprechen also zu Recht von ihrer konstitutiven, sogar von ihrer ›existentiell wirklich transzendentalen‹ Potenz. Unser Da-und-So-sein lebt und zeigt sich 209 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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hier und jetzt nie abstrakt, nie als eine anthropologisch allgemeine und absolute Form. Sondern verwirklicht sich, willkürlich und unwillkürlich, mit dieser ihrer Lebenswelt ›Großstadt‹. (Auch hier gibt es, das nur am Rande, Linien hin zur Psychoanalyse und auch praktisch zur Psychotherapie.) – Phänomenologisch sind es also ausschließlich unsere lebensweltlichen Wirklichkeiten und Möglichkeiten, die ›anthropologisch‹ zu reflektieren sind; weil sie uns selbst wesentlich ›reflektieren‹. – Auf eines sind wir immer wieder aufmerksam geworden. Diese existentiellen Vorstellungen, einschließlich der Vor-Stellungen hinter den Vorstellungen, lassen sich angemessener beschreiben, bebildern, vor Augen führen und erzählen als theoretisch wissenschaftlich erfassen und erklären. Daher auch der phänomenologisch hohe Stellenwert der Kunst im Allgemeinen und der Literatur im Besonderen. Vielleicht spricht wirklich ›die Kunst‹ das existentiell entscheidende ›Wort‹. 19 Sehen wir hier abschließend (ohne es ›abschließen‹ zu können) noch etwas näher hin und uns und unseren Werken zu. – Eines können wir auch kunstgeschichtlich nicht übersehen. ›Die Kunst‹ scheint, schauen wir auch hin auf die unterschiedlichsten Selbstdeutungen der Kunstschaffenden, mit dem 20. Jahrhundert zunehmend selbst für sich selbst ›haltlos‹ geworden zu sein. 20 Unsicher geworden nicht nur als ›gesellschaftliche Institution‹, sondern auch als sich selbst setzende ›ästhetische Reflexion‹, vor allem aber als ›unbedingte, invariante Idee‹. 21 Sie scheint für ihre Zuordnungen, ihre Formenspiele, ihre BehauptunVgl. dazu Ernst Jünger. »Die Kunst hat zu erweisen, dass das Leben unter hohen Aspekten als Totalität begriffen wird. Daher ist sie nichts Abgelöstes, nichts, was an sich und aus sich heraus Gültigkeit besitzt, sondern es gibt kein Gebiet des Lebens, das nicht als Material auch der Kunst zu betrachten ist.« (Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. (1932) Stuttgart 1982. S. 221.) 20 »Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.« (Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt/M 2003. S. 9.) 21 Wolfgang Max Faust schreibt im Blick auf Gehlen: »Mit dem Entstehen der abstrakten Malerei erreicht die Lingualisierung der bildenden Kunst im vom Künstler selbst verfassten Kommentar einen neuen Stellenwert. (…) Die aus dem Bild nicht mehr eindeutig ablesbare Bedeutung etablierte sich neben dem Bild als Kommentar, als Kunstliteratur und, wie jedermann weiß, auch als Kunstgerede.« (Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln 1987. S. 117.) Einen ersten Überblick gibt uns Martin Damus. Kunst in der BRD 1945– 1990. Reinbek bei Hamburg 1995. 19

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gen als ›Werk‹ nun auf sichernde Reflexionen aus Soziologie, Psychologie, Philosophie, vor allem den (Kunst-)Wissenschaften angewiesen zu sein. 22 So als ob die Kunst-Werke hier und jetzt nicht mehr für sich selbst ›zeugen‹, für sich selbst und vor sich selbst ›einstehen‹ könnten. – Dieses (zumindest) ›Verschwimmen des Kunst-Begriffs‹, verbunden damit eine geradezu bestürzende ›praktische Relativität‹, ja seine ›ästhetische Haltlosigkeit‹, all das ist für uns selbst phänomenologisch beredt. – Auf eines sei aber jetzt schon hingewiesen. Dies überstürzt als Vorführung, als Bestätigung eines zersetzenden ›ästhetischen Nihilismus‹ (eine ›Vernichtung aller Werte‹) zu deuten, ginge an der Sache der ›modernen Kunst‹ (der ›Kunst der Moderne‹) vorbei. 23 – Möglicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall. (Das aber nur als ein Hinweis nebenbei.) So bieten diese ›scheinbar ästhetisch unentschiedenen Kunst-Werke‹, die, davon gehen wir aus, die verwirrende Wirklichkeit der Lebenswelt ›Großstadt‹ mit entwerfen, sogar die Möglichkeit, sich unseres Glaubens, der Glaubensmöglichkeit, als eigenen existentiellen Modus ›reflektierend‹ zu vergewissern. Ausdrücklich – sich nun so selbst zu ›vergewissern‹. Und zwar wortwörtlich ganz ›augenscheinlich‹. Und ohne metaphysische oder theologische Theorie; ohne eine ›dogmatisch klar festgefügte und so einengende Konfession‹. Und hier könnte, trotz der vielleicht auch da und dort gewollten ›Haltlosigkeit‹ der modernen Kunst, ihre existentielle, ja theologisch unverzichtbare Bedeutung für uns liegen. – Aber der Reihe nach! – ›Was‹ ist also Kunst? Genauer: ›die Kunst‹, die sich selbst als ›die moderne Kunst‹ vorstellt? 24 – Diese so oder so ähnlich gestellten Fragen, oft polemisch eingefärbt, lassen sich phänomenologisch, davon gehen wir aus, nur noch im Blick auf die Lebenswelt ›Großstadt‹ beantworten. 25 – Also in diesem Sinne: ›Was‹ ist die Kunst heute? Als ›was‹ Dass sich die anderen ›großen‹ Einrichtungen des Abendlandes – Christentum und Philosophie – hier mit einreihen, ist für die Kunst-Schaffenden sicher kaum ein Trost. 23 Allerdings wahr ist auch: »Die Durchsicht von Ausstellungsberichten in Kunstzeitschriften vermitteln einen Einblick in den sich ständig weitenden, atomisierten Kosmos der Kunst. Es gibt nichts, das aus seinem Rahmen fällt, keinerlei Ausschließlichkeit, auch wenn es Kunst gibt, die einen Unbedingtheitsanspruch vertritt. Alles kann Kunst sein. Es gibt keine ausschließenden Kriterien, keine allgemeinverbindliche Ästhetik.« (Marin Damus. S. 431.) 24 Z. B. Hans Sedlmayr. Die Revolution der modernen Kunst. (1955) Mit einem Nachwort herausgegeben von Friedrich Piel. Köln 1996. 25 Arnold Hauser, der sich wenig um philosophische Vorstellungen bekümmert, schreibt: mit dem Fortschritt der Technik verbinde sich »als auffallendes Phänomen die 22

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gestaltet sich ein modernes Kunst-Werk? – Diesen Fragen können wir nicht ausweichen, sie nicht als ›laienhaft‹ abtun. Sie sind (sogar mehr denn je) eine Herausforderung sowohl für die Kunstwissenschaften als auch für die philosophische Anthropologie. 26 Wir lassen uns als Phänomenologen selbstverständlich auch in diesem Kontext nicht auf kunsthistorische Auseinandersetzungen ein. Sie bleiben samt ihren Ansprüchen ›eingeklammert‹. Und doch gestaltet sich ›die Kunst‹ von Anfang an ganz wesentlich als unsere philosophische Sache. Sie fordert uns schon allein durch ihre Form phänomenologisch heraus; sie bedrängt uns ausdrücklich dadurch existentiell. – Führen wir es uns so vor Augen. Die ›Kunst-Werke‹ (und sie sind phänomenologisch in unserem Blick) sind zunächst ganz schlicht, eine wirkliche Möglichkeit für eine phänomenologische Reflexion existentieller Reflexionen. Nicht anders als die theoretischen Vorlagen der Wissenschaften, die Vorstellungen der Theologie u. ä. Vorstellungen von etwas, das was wir ›lesen‹ und ›hören‹ können – Hier gilt es nun aber im Besonderen, phänomenologisch wirklich selbst hinzusehen. Auch auf den (mehr oder weniger aufdringlichen) ›kunstwissenschaftlichen Rahmen‹. Gerade wegen der bei diesen Fragen besonders offensichtlichen ›theoretischen Verwirrungen‹ und ›unterschiedlichsten Vorschriften‹ (beispielsweise wie ein Kunst-Werk zu lesen ist, wie wir auf ein Werk hinzusehen und zu hören haben). 27 – Diese ›Hin-Sichten‹ (einschließlich der ›Philosophien der Kunst‹) sind also selbst konstitutive Gestaltungen der Kunst-Werke. Also wir schauen und reflektieren! – Aber die angesprochene, nach wie vor ›beliebte‹ Frage: was denn ›die‹ Kunst an und für sich sei, klammern wir (vorerst) ein. Wir schauen und reflektieren stattdessen den ›Horizont‹, in dem diese oder jene Werke zu Kunst-Werken ›gemacht‹ und ›erklärt‹ werden. – Unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen führt uns auch hier ganz schlicht zu unserem Dasein

Entwicklung der Kulturzentren zu Großstädten im heutigen Sinne. Diese bilden den Boden, in dem die neue Kunst wurzelt.« (Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. (Sonderausgabe) München 1973. S. 929.) 26 Dass beide sich dieser Frage nicht wirklich stellen, steht auf einem anderen Blatt. 27 Beispielsweise Hans-Berthold Busse: »Die intellektuelle Beschäftigung mit Kunst, sei sie kunsthistorischer, kunstkritischer oder anderer Art, bringt das bleibende Problem mit sich, dass die Frage, was denn Kunst eigentlich sei, nicht allgemeingültig zu beantworten ist.« (Was ist ›Kunsthistorische Verbildung‹. München. Berlin 1986. S. 15.)

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als Da-und-So-in-der-Welt-sein. 28 Das kann phänomenologisch gar nicht anders sein; und braucht sicher zumindest an dieser Stelle keiner ausführlichen Begründung mehr. Für uns existentiell gerichtete Phänomenologen ist das (an dieser Stelle) nun eine Selbstverständlichkeit. Der ›Kunst-Raum der Moderne‹ ist der Großstadt-Raum, ist die Großstadt-Zeit. Selbst noch, auch hier ist das möglich, als dieser oder jener Verweis auf ›Beziehungen‹ eines irgendwie und irgendwo Darüber-hinaus. Beispielsweise durch ›gelenkte Assoziationen‹, ›Symbole‹, besondere Kontexte oder einen entsprechenden ›Meta-text‹. – Kurz und knapp also verdichtet in einem Satz: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist Grundlage und Ziel der modernen Kunst. – Schauen wir nun einfach weiter hin. Diese, wie man ganz allgemein sagt: ›modernen KunstWerke‹ sind zunächst einmal sehr eigensinnige, in eine auffällige, wortwörtlich ›ästhetische‹ Form gebrachte Gestaltungen. Hier wird es wohl kaum einen Streit geben. Also ›Etwas‹, das von einem Menschen oder von Menschen hergestellt, vielleicht auch für Menschen gemacht worden ist. Möglicherweise sogar von vorneherein als ›Kunst-Werk‹ beabsichtigt. Oder, und auch das kennen wir aus der neueren Kunstgeschichte, es wird von ›Betrachtern‹, aus welchen Gründen auch immer, im Nachhinein durch ausdrückliche Benennung (gleichsam durch Zuruf, durch Etikettierung) zu einem Kunst-Werk erklärt. – Ungeklärt (und im Hintergrund) bleibt dabei zunächst, nach welchen Kriterien diese Einordnung erfolgt. 29 – Nun – die reichlich vorhandene kunsthistorische Literatur bietet dafür ›Vorschläge‹. Für uns (ausdrücklich) ›Vorschläge‹ und nicht mehr. Beispielsweise: Schönheit, Vollkommenheit, Originalität, Kostbarkeit, das Ursprüngliche, das Interessante, die Verwirklichung einer Idee, kreative Neuerungen u. ä. Nehmen wir es mit den damit verflochtenen Ansprüchen (›das‹ und ›so‹ ist wahre Kunst oder wahrhaftige Kunst) zur Kenntnis. Vor allem diese AnsprüInteressant und wenig beachtet bei Wittgenstein. »Um zur Klarheit über ästhetische Ausdrücke zu kommen, muss man Lebensformen beschreiben. Wir denken, dass wir über ästhetische Urteile wie ›dies ist schön‹ zu sprechen haben, aber dann entdecken wir, dass wir diese Wörter überhaupt nicht vorfinden, wenn wir über ästhetische Urteile sprechen, sondern ein Wort, das fast wie eine Geste gebraucht wird und eine komplizierte Tätigkeit begleitet.« (Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen 1968. S. 32.) 29 Ein Gedanke von Hans Wagner. Die Kunst sei, so schreibt er, »Selbstbeziehung des Subjekts auf sich als leidendes, zerrissenes und unglückliches Bewusstsein. Sie hat Reflexionsstruktur, ist aber nicht theoretisch denkende Reflexion.« (Philosophie und Reflexion. München, Basel 19672. S. 279.) 28

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che klammern wir phänomenologisch ein und lassen sie hier auf sich beruhen; ohne sie durchzustreichen. – Eines aber ist phänomenologisch doch offensichtlich. Die lebensweltlichen Bedeutungen der Kunst, beispielsweise der Stellenwert oder die ›Funktionen‹ der Werke, haben sich entscheidend verändert. Gewandelt haben sich also nicht nur Formen, Inhalte, Materialien, (das können wir sehen und vergleichen), sondern auch (abstrakter) ›der Markt‹, die Auftraggeber, die ›Kunden‹, das Kunstinteresse. 30 – Dazu steht in einem engen Zusammenhang die willkürliche und unwillkürliche Zuschreibung von ›ästhetischen Kunst-Werten in unserer Lebenswelt‹. Also vor allem auch die soziale, psychologische, religiöse und, nicht zu vergessen, die philosophische Bedeutung, die der Kunst (›noch‹ ; ›wieder‹ ; ›erst jetzt‹) gegeben wird usw. 31 Und noch etwas lässt sich nicht übersehen, überhören, überlesen. Die ›Gedanken‹, die manche der ›Kunstschaffenden‹ ihrem Werk, ihrem Tun unterlegen, sind, so wollen sie es verstanden wissen, mehr denn je nicht nur von ästhetischer sondern auch von allgemeiner existentieller, sozialer, gesellschaftlicher Bedeutung. Auch das können wir nicht übersehen: Das alles ›zeigt‹ sich gar nicht so selten im Widerspruch, im Kontrast, zumindest im Unterschied zu den (nennen wir es) ›durchschnittlichen Perspektiven‹. – Wie immer es sich im Einzelnen nun damit verhalten mag. Auch darüber gibt es sicher unter uns kaum Streit: Ein Kunst-Werk ist phänomenologisch, was immer sonst noch theoretisch oder praktisch hineingelesen werden mag, schlicht ein ›intentionales Objekt‹. 32 Vorgestellt mit einer und durch eine bestimmte Einstellung. Konkreter: es sind miteinander oder ineinander verflochtene oder sich ›überlagernde‹ bestimmte Einstellungen. Also ganz ›Was‹ will ›Kunst am Bau‹ ? Oder, ›das Gemälde im Besprechungsraum einer Bank‹ ? Oder, ›die Skulptur im Hotelfoyer‹ ? Usw. 31 Hans Sedlmayr geht bis 1760 zurück. Von da an treten »im Gebiet der Kunst (…) Erscheinungen auf, die es nie und nirgendwo in der Weltgeschichte gegeben« habe; sie sprächen mit großer symbolischer Kraft »von Erschütterungen im inneren der geistigen Welt«. (Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol unserer Zeit. Salzburg 1948. S. 7 f.) 32 ›Objekt‹ – ist hier auch für uns »alles, worüber man nachdenken oder worauf man seinen Geist auch auf sonstige Weise richten kann.« (12) Wenn man »von einem intentionalen Objekt spricht, spricht man einfach von dem, worauf der Geist gerichtet ist, egal ob das existiert oder nicht. Ich setze voraus, dass unser Geist auf nicht-existierende Dinge gerichtet sein kann, auch wenn das zum schwierigsten Problem der Intentionalität führt.« (Tim Crane. Intentionalität als Merkmal des Geistes. Sechs Essays zur Philosophie des Geistes. Frankfurt/M 2007.) 30

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offensichtlich und ›in der konstituierenden Tat‹ : ›mein‹, ›dein‹ und ›unser konstituiertes Objekt‹ : ›Kunst-Werk‹ ! Also diese von uns so genannten ›konstitutiv-ästhetischen Einstellungen‹ sind beileibe keine ›gewaltsame Willkür‹. Sie machen ein Werk zu einem ›Kunst-Werk‹. – Das sind phänomenologisch, schauen wir nur genau hin und diesem ›Schaffen‹, auch dem des ›Betrachtens‹, und unserem Schauen zu, ineinander-verflochtene Akte. Möglicherweise diffus ineinander verfließend. Bewusst Gestaltetes, bewusst Gesehenes (dieses Material; diese Farben; diese Formen usw.); eingefaltet dabei: Vor-bewusstes und Unbewusstes, Aktives und Passives. Also ein ›vielfältiges Ensemble‹. Eben auch unwillkürliche, passive, ›bedeutungsverleihende Akte‹, an denen wir als ›Ensemble‹ phänomenologisch nicht vorbeisehen, vorbeidenken dürfen. Wir lesen sie ausdrücklich als ›Konstitutions-Leistungen‹, (selbstverständlich auch die Herstellung dieses ›Ensemble‹) unseres leibhaften Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Sehen wir uns nun gerade da (vor diesem oder jenem KunstWerk) selbst als Betrachter von Kunst-Werken genau zu. In dieser so vorgestellten ›reflektierten ästhetischen Formung‹ (eine ›Passung‹ selbst noch im Nicht-verstehen oder im Widerspruch), phänomenologisch ist das eine konstitutive Potenz, gestaltet sich nun auch wirklich unsere großstädtische Ansicht. Und zwar ausdrücklich als wesentliche Grundlage für geradezu unwillkürliche Wahrnehmung und SelbstWahrnehmung. 33 (Denken wir hier beispielsweise an die Dadaistischen Kunst-Prinzipien ›Collage‹ und ›Montage‹.) – Die Kunst-Werke sind also nie nur beliebige ›Forschungs-Objekte‹ für unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen. Sondern ihre, schon von sich selbst her, ›reflexive Ausrichtung‹, ihr Selbstverständnis, ihre Transparenz auf Lebenswelt, ihre Vorstellung eines Da-in-dieser-Welt-seins heben sie für uns phänomenologisch heraus. Ausdrücklich phänomenoloEinschließlich ›innerer Lebensgeschichten‹. Dazu auch (beispielsweise) Werner Hofmann. Er schreibt mit Blick auf Ernst Ludwig Kirchner. Die adäquaten Inhalte für das Kantige und Zerspellte stellten sich erst ein, als er sich »dem anonymen Menschen des großstädtischen ›theatrum mundi‹ zuwendete. Nun gewinnt die spitze Schärfe seiner Figuren eine symbolische Rechtfertigung: Umriss und Farbigkeit wirken verquält, hektisch und nervös erregt. Die schneidende Gestikulation scheint von den Nerven, nicht von den Sinnen zu kommen, der Ausdruck nimmt schmerzhafte Züge an. Der unfreie und beunruhigte, von Konventionen umstellte, der instinkthaften Unbekümmertheit entfremdete Mensch, wird hier veranschaulicht.« (Die Grundlagen der modernen Kunst. Stuttgart 19873. S. 267.)

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gisch, nicht psychologisch, nicht soziologisch, nicht kunstwissenschaftlich. Schon die ›Form‹, die ›Gestaltung‹ und ›Intention‹ einschließlich der Art und Weise der Darstellungen (z. B. verwirrend, fragmentarisch, langatmig komponiert, mit elitärem Abstand vorgetragen, manieristisch, zynisch, betroffen oder fasziniert) gibt uns phänomenologischanthropologisch zu denken. – Diese ›existentielle Bedeutung der modernen Kunst-Werke‹ ließe sich nun an jeder Kunstgattung zeigen. Aber bleiben wir noch etwas im Allgemeinen. Vor allem eines ist für uns phänomenologisch besonders bemerkenswert. Auch ›die moderne Kunst‹, das wird sich zeigen, intendiert mit ihren Werken eine ›wirkliche Wesensschau‹. Ob gefühlt oder erlitten oder möglicherweise auch nur als ein unwillkürlich erahntes ästhetisches Potential. 34 – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist also phänomenologisch wesentlich-wirklich die Ortschaft der ›modernen Kunst‹ ! Aber auch umgekehrt gilt: Die Kunst-Werke der Moderne gehören phänomenologisch zur Wesensbestimmung der Lebenswelt ›Großstadt‹. Also sichtbare, wahrnehmbare, kurz ›intentional vorgestellte Gestaltungen‹, wirklich konstitutive Vorführungen einer existentiellen Reflexion. – Das alles lässt sich nun auch ohne weiteres vor jeder ›philosophischen Bestimmung‹ belegen. Sehen wir einfach nur genauer hin. Die ›moderne Großstadt‹ wird augenscheinlich schon durch eine Vielfalt von KunstWerken ›markiert‹. Sie sind so selbstverständlich eingeflochten in die Großstadt, dass wir das eine nicht wirklich ohne das andere denken. In unserem Blick also zu Recht die Gestaltungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Aus- und Ansichten der Lebenswelt ›Großstadt‹ durch (oder in Form der) Werke die ›Kunst-Werke‹ genannt werden. 35 Diesen Titel, diese Zuschreibung: ›Kunst-Werke als Reflexion der Großstadt‹, möglichst weit gefasst. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist nicht bloß beliebiger Inhalt künstlerischer Darstellung. Ein Sujet neben anderen. Es gibt eine ›innere Nähe‹ zwischen dem ›phänomenologischen Schauen‹ und einem ›ästhetisch orientierten Blick‹. Die Phänomenologie hat als Form und methodische Gestaltung einer ›schauenden Reflexion‹ durch und durch auch (und notwendig) eine ›ästhetische Signatur‹. 35 Auch bei Husserl. Vgl.: »Außerordentlich viel Nutzen ist zu ziehen aus den Darbietungen der Geschichte, in noch viel reicherem Maß aus denen der Kunst und insbesondere der Dichtung, die zwar Einbildungen sind, aber hinsichtlich der Originalität der Neugestaltungen, der Fülle der Einzelzüge, der Lückenlosigkeit der Motivation über die Leistungen unserer Phantasie hoch emporragen und zudem durch die suggestive Kraft künstlerischer Darstellungsmittel sich bei verstehendem Auffassen mit besonderer Leichtigkeit in vollkommenen klare Phantasie umsetzen.« (Hua. III/1. S. 148.) 34

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Etwa diese oder jene großstädtischen Merkwürdigkeiten, die nachgezeichnet, ins Bild gesetzt, anekdotenhaft dargestellt, kritisch oder polemisch ›überzeichnet‹ werden. Also Augenfälliges, Modisches, Interessantes, Schönes, Skurriles aus dem ›Leben der großen Städte‹. (›So war Berlin in den 20er Jahren‹ ; ›Münchner Leben am ViktualienMarkt‹.) Nicht als ob das grundsätzlich ausgeschlossen sei oder einem Kunst-Werk verweigert werde. Denken wir hier wieder auch und im Besonderen an den Film. Aber vor allem und darüber hinaus verkörpert und gestaltet die Kunst der Moderne wirklich wesentlich unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. Unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ selbst reflektiert sich wesentlich mit diesen ›ästhetischen‹ Erfahrungen als unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. Wir konfrontieren uns ›ästhetisch‹ selbst (und auch das ist wahr und nicht zu übersehen) mit unseren existentiellen Möglichkeiten, Oberflächen, Unter- und Ab-gründen. 36 – Wir selbst also vermessen uns existentiell als Form und Inhalt dieser Kunst-Werke. 37 Ausdrücklich auch in Form der Rezeption. Wir, als dieser oder jener Einzelne da, mögen wollen oder nicht, es annehmen oder entrüstet zurückweisen, verständnislos ›davor stehen‹ oder gleichgültig daran vorbeileben – es sind ausdrücklich unsere Kunst-Werke, also so oder so ›Reflexionen unseres Da-und-So-seins‹. – Die Kunst-Werke fordern uns also ›selbsteinzusehen‹ als (nennen wir es so) ›anthropologische Lesezeichen‹. Das ›Kunst-Machen‹, so schreibt Joseph Beuys zu Recht, könne als eine wirkliche Forschungsmethode der Anthropologie betrachtet werden. 38 Sie bringe mehr über den Menschen in Erfahrung als eine bloß empirisch gerichtete, positivistisch orientierte ›NaturwisKunst gibt eben nicht »das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.« (Paul Klee. Schöpferische Konfession. 1920. In: Die zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler. Köln 1979. S. 176.) 37 Vgl. Heinrich Lützeler. »Wenn die Kunstwissenschaft nicht zur Fachwissenschaft einschrumpfen will, muss sie, ihrer existentielle Problematik bewusst, bis zu den Wurzeln menschlichen Daseins fragen.« (Kunsterfahrung und Kunstwissenschaft. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Darstellung des Umgangs mit der bildenden Kunst. Bd. 1. Freiburg/München 1975. S. 665.) 38 Vgl. dazu Wolfgang Max Faust. »Indem Beuys den Begriff von Plastik auf ›Denken‹, ›Sprache‹ und ›Handeln‹ bezieht, erweitert er ihn – notwendigerweise – auf den NichtKünstler. Beuys Forderung ›Jeder Mensch ein Künstler‹ ist somit nicht auf die allgemeine Produktion von ›schönen Dingen‹ bezogen, sondern auf die Erweiterung und Umformulierung des tradierten Kunstbegriffs, auch im Kontext sozialer Veränderungen.« (Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln 1987. S. 204.) 36

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senschaft‹. 39 Die Kunst also so reflektiert, verdichten wir es kurz und knapp, als eine, mehr oder weniger, systematische Exploration unserer Moderne, unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. 40 – Das darf mit Fug und Recht als eine auch phänomenologische Perspektive genommen werden. – All das ist nun kein gewollter, bewusst inszenierter Niedergang der ›schönen Künste‹. 41 Kein ›Verriss‹ der ›schönen Künste‹. Auch keinem handwerklichen Unvermögen der ›modernen Künstler‹ geschuldet (… ›das kann ja jedes Kind‹ ! ›Sie können es einfach nicht mehr‹ !). Vor allem auch keine ›Deformation des Mensch-seins‹. Also kein ›Verlust der Mitte‹. Kein Abgleiten in eine Uneigentlichkeit abendländischen Mensch-seins. Kein Ausdruck einer Dekadenz der Moderne! – Reflektieren wir es als ein gesammeltes, verdichtetes, eben als ein radikales, reflexives Durchspielen abendländischer Denk- und Handlungsmuster. Und das ist nun ganz in der Ordnung unserer abendländischen Reflexionsgeschichte! Es sind geradezu Versuche, die existentielle Reflexion ganz ›handfest‹ sicht- und hörbar zu gestalten. Also hier und jetzt uns selbst mit unseren wirklichen Möglichkeiten unseres So-in-der-Welt-seins zu erforschen. Diese ›existentiellen Forschungen‹ vorgestellt durch ›Kunst-Werke‹ (›ästhetische Explorationen‹) sind auf ihre Weise Gestaltungen der phänomenologischen ›Methode der Variation‹. – Wir denken ›Kunst der Moderne‹, ›Kunst der Großstadt‹, phänomenologisch also nicht als einen bloßen kunsthistorischen Epochenbegriff. Stattdessen als einen ›Vorschlag‹, eine ›existentielle Perspektive‹ oder als eine ›konkrete‹ Hinsicht auf den wesentlich wirklichen Horizont, mit dem wir selbst uns, mit und in Form unserer Kunst-Werke nun (als) endgültig so-da zu reflektieren haben. – Diese ›ästhetischen Einsichten‹ verändern im Übrigen auch unser Verständnis der Phänomenologie, der phänomenologischen Reflexion. Nach Detlef B. Linke, Reinhild Kappenstein. ›Joseph Beuys. Zwei Hirnschalen und drei Kreuze‹. In: Kunstforum International. Band 126. März – Juni 1994. S. 176. 40 Oft scheint es so, als ob auch die Künstler selbst die wesentliche Bedeutung ihrer Werke als ›Reflexionen des Da-und-So-in-der-Welt-seins‹ übersehen; sich sogar dieser Einsicht zu entziehen versuchen. Ein Künstler, so ist nach wie vor zu hören, sei lediglich ein ›sensibles Instrument‹, eine Art ›Seismograph‹ einer möglicherweise tief erschütterten Welt; nur ein Außenseiter, ein Beobachter, ein Nach-Zeichner, einer der lediglich ›spiegelt‹. 41 Nur wer, wie Hans Sedlmayr, ein (sagen wir) ›traditionelles Kunstideal‹ festhält und die wirkliche Wirklichkeit unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ nicht zur Kenntnis nehmen möchte, wird eine verhängnisvolle Erosion künstlerischer Potenz ausmachen können. 39

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Unsere existentielle ›Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt‹ ist vor diesem Hintergrund: die Einführung ›ästhetischer Reflexionen‹, die radikal reflektiert uns ›endgültig‹ als So-Da-in-der-Welt-sein zeigen. – Für uns sind diese so eingeführten, so ein- und ausgestellten Kunst-Werke, gleich ob ›Mal-Werk‹, ›Schreib-Werk‹, Hör-Werk, ›Film-Werk‹ oder ›Stein-Werk‹, Schlüssel für eine Phänomenologie der Großstadt. – Um gerade hier nicht fehlzugehen, sei an eines erinnert. Unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen der ›Kunst-Werke‹ klammert das vorliegende kunstwissenschaftliche und kunstphilosophische Denken (einschließlich der Theorien der Ästhetik) ein. Es mag mit ›der Geltung‹ stehen wie es will. Unsere systematische, radikale Rückbindung der Kunst-Werke in das Da-und-So-inder-Welt-sein heißt also ausdrücklich auch: sich aus traditionellen hermeneutischen Auslegungsmodellen dieser oder jener Kunsttheorien zu lösen. 42 Für unsere phänomenologischen Reflexionen reichen daher die seit dem 18. Jahrhundert entworfenen Begriffe und die damit verbundenen ›Perspektiven‹ der Kunstphilosophie und Ästhetik nicht mehr wirklich hin. (Damit aber brauchen wir uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Die entsprechenden Reflexionen werde ich an anderer Stelle vorstellen). – Wir Phänomenologen beanspruchen ›nur‹ (nichts weiter als) selbst methodisch zu schauen. Lassen wir also daher alle ›großen Begriffe‹, die geradezu reflexhaft mit ›Kunst‹ und ›KunstWerk‹ gesetzt werden, schlicht beiseite. Das schließt ein, daran haben wir uns immer wieder erinnert, selbst auch hinzuschauen auf unser Selbst-Hin-Schauen. Und das ausdrücklich ›von Anfang an‹ ! Unsere Reflexion der Reflexionen ist also selbst immer wieder zu reflektieren. Das heißt für uns nicht nur nicht zuletzt, sondern sogar vor allem selbst wirklich hinzuschauen auf uns selbst. Auf uns, auf unser DaSein, das wirklich wesentlich ein ›So-in-der-Welt‹ ist. Auf unsere Gestalt und Gestaltungen, unser willkürliches und unwillkürliches Handeln, unsere anthropologischen, ästhetischen, wissenschaftlichen Reflexionen, also unsere existentielle Intentionalität, einschließlich unsere ›gedankenlosen Selbstverständlichkeiten‹ u. ä. – Das alles sind,

›Die Kunst‹, ›das Kunst-Werk‹, wird auch in der ›klassischen‹ Phänomenologie nicht sehr nach vorne gestellt. Roman Ingarden dabei ausgenommen. Der Blick auf ›die Kunst‹ bleibt weitgehend im Kontext traditioneller Kunstphilosophie. Beispielsweise bei Hedwig Conrad-Martius oder Dieter von Hildebrandt.

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phänomenologisch gelesen, scheinbar selbstverständliche konstitutive Leistungen unseres Mensch-seins. Reflektiert durch uns nicht bloß als eine wirkliche Entfaltung; sondern auch als ein ›bildhaftes Entwerfen‹ unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Kurz: Kunst-Werke der Moderne ›reflektieren‹ und ›fokussieren‹ also wirklich und wahrhaftig nichts weniger als ›phänomenologisch‹ das Dasein als Da-und-So-inder-Welt-sein. Wobei auch zu Recht ›Unwillkürliches‹ und ›Irrationales‹ als Wesentlich-wirkliches mit in eine ›ästhetische Form‹ gebracht und ›lesbar‹ werden. Wahrhaftig, und übersehen wir es nicht: diese Gestaltungen und Vorführungen sind ein immer wieder wunderliches, bewusstes Spiel mit dem ›Unbewussten‹. – Auch mit diesem ›ästhetischen Interesse‹ bleiben wir also (selbstverständlich) phänomenologisch in unserem Horizont der Lebenswelt ›Großstadt‹. Wir können eben unserer Da-und-So-in-der-Welt-sein nicht wirklich (wie auch immer) ›übersteigen‹. Auch eine ›Ästhetik‹ reflektiert im Übrigen, sie mag sich das bewusst machen oder nicht, immer ›Lebenswelt‹ ! – Hören wir nun genau zu und hin. Auch die ›moderne Kunst‹ spricht von unserem ›reflexionslogisch erschöpften Da-und-So-sein‹. Von unserem verzweifelten ›In-der-Welt-sein‹, das nie wirklich über sich hinauszukommen scheint. – Phänomenologisch eingeschlossen dabei auch die ›subjektiven Erfahrungen‹ durch eine (nennen wir es) ›literarisch bildhaft‹ angebotene ›mittelbare Unmittelbarkeit‹. Also diese oder jene Möglichkeiten, uns auch unwillkürlich, durch ›selbstverständliche Einfühlung‹ zu reflektieren. – Denken wir hier nun wiederum im Besonderen an die sogenannte ›Großstadt-Literatur‹. Ausdrücklich von uns eingeführt als ›eigensinnige‹ literarische Fassungen unseres ›großstädtischen Da-in-der-Welt-seins‹. Die sogenannte ›literarische Qualität‹ ist für uns dabei philosophisch nicht das Ausschlaggebende, das für uns phänomenologisch (existentiell) Wesentliche. Zumindest nicht hier! Eines kann nicht verborgen geblieben sein: Unser phänomenologischer Blick auf die Kunst-Werke ist ganz und gar diesseits feuilletonistisch interessierender Fragen. Beispielsweise ob ein Werk ›ästhetisches Wohlgefallen‹ bei den ›Kennern‹ auszulösen vermag oder nicht, ist für uns nur ganz am Rande von Bedeutung. Und selbst dann noch nur als Frage, was diese oder jene Perspektive (diese Einstellung) an Gestaltungsmöglichkeiten Da-zu-sein vorstellt. – Das ist sicher befremdend für jene, die ein Kunst-Werk mit einem (nicht nur ›klassischem‹) ›Schönheitsideal‹ oder mit einem ›hohen‹ kulturellen, (sogar ›ethischen‹ und ›religiösen‹) ›Wert‹ in Verbindung zu brin220 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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gen versuchen. 43 Das Schöne vielleicht sogar gleichsetzen mit dem Wahren und dem Guten; zumindest aber mit formvollendet, stilsicher, interessant, originell-sein u. ä. – Diese (bleiben wir dabei) literarischen Vorstellungen sind für uns also phänomenologisch, wortwörtlich ›ästhetische Wahrnehmungen‹, ›existentielle Selbst-Reflexionen‹. Phänomenologisch sind es ›konstitutive Gestaltungen‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹, unsers So-in-der-Welt-seins. Und das in ›allen existentiellen Lagen‹. – Auffällig auch hier, dass vor allem die ›dunklen Seiten‹ großstädtischen In-der-Welt-seins vorgestellt werden. Also beispielsweise: ›Reflexionen‹ unserer Ängste, unseres Ekels, der Sorge, unserer Lüste, dieses oder jenes ›Vergeblich-sein‹ u. ä. Die Selbst-Kritik der Moderne, so mag es nicht nur auf den ersten Blick scheinen, wird in diesen ›ästhetischen Formen der Reflexion‹ konkret und zeichnet sich ein in ihre (unsere) Ortschaft. Ausdrücklich aber nicht als bloß historische oder soziologische Klärung großstädtischer Daseins- und Verhaltensweisen. (›So wird gelebt‹ ! ›Das gibt es auch‹ ! U. ä.) Nicht als ob ›konkrete soziale Kritik‹ und ›An-Klage‹ (›die Kriegsgewinnler‹) nun überhaupt kein Thema wäre. – Wir sprechen hier aber nicht von einer ›Literatur‹, einer Malerei, von Kunst-Werken, für die die Großstadt nur eine sozialkritische, sozial-pädagogische, eine ›politische‹ Kulisse bildet. Eine sonderbare Kulisse, die die vorgestellten ›Akteure‹ zwar lebens-wirklich, aber das Mensch-sein nicht wesentlich existentiell berührt. – Allerdings auch hier gilt: Unser wirkliches Wesen bleibt und eröffnet sich auch hier erst in unserem ›phänomenologischen Hinschauen‹. – Die einem Kunstwerk zugehörige Welt, so Heidegger, sei sein ›Wesens-Raum‹. 44 Nehmen wir diesen Hinweis schlicht wörtlich. Die Lebenswelt ›Großstadt‹, diese wesentlich wirkliche Welt für uns, ist auch der Wesens-Raum unserer Kunst-Werke. Das kann phänomenologisch nun gar nicht anders sein. Erst in und mit unserer ›LebensWelt‹ sind diese Werke ›Kunst-Werke‹. – Hören wir genau hin: Werke ›der Kunst‹. – Welch eine bedeutsame Zuschreibung. Aber schon das Wort ›die Kunst‹ allein, das entdecken wir jetzt, ›sagt uns ›wirklich‹ nichts mehr‹. 45 Diese modernen Werke der Kunst sind für uns eben

Nicht einmal das, beispielsweise mit und durch Poe oder Baudelaire nach vorne drängende ›schauerlich Schöne‹. 44 Ursprung des Kunstwerks. In: Holzwege. S. 26. 45 Leonardo Benevolo. Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 2. München 19843. S. 34. 43

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als ›ästhetisch wirklich‹ in unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ eingestellt. – Lassen wir also alle ›idealistischen‹ Vorstellungen auf sich beruhen. Die philosophischen oder kunstwissenschaftlichen Versuche ›die‹ Kunst, ›das‹ Kunst-Werk aus sich selbst heraus ›ideal‹ oder gar als ›unbedingte, unwirkliche Idee‹ zu begreifen. Die wirkliche Wirklichkeit unseres Daseins (das ist der existentielle Grund) als ›unwesentlich‹ (als philosophisch bedeutungslos, als relativistisch u. ä.) auszublenden, scheitern. Unsere wirkliche Lebenswelt ›Großstadt‹ bleibt als das Ausgeblendete, das Vergessene, Verdrängte in jedem Fall wirklich als wirklich in unserem ›Rücken‹ und wirft (bildlich) einen ›Schatten‹ auf unser Wahrnehmen. 46 – Schauen wir einfach weiter hin und zu. Ein Kunst-Werk wird also konstituiert. Immer wieder aufs Neue und immer wieder von Anfang an. Wird konstituiert durch eine ›Interpretationsgemeinschaft‹ innerhalb einer Lebenswelt. Zusammengehalten wird diese ›Gemeinschaft‹ im Übrigen auch durch (wie) ›unwillkürlich‹ eingesetzte, selbstverständlich scheinende Muster. Das lässt sich korrelativ weiter entfalten. Die durch uns so konstituierten und so gelesenen Kunstwerke zeigen, ›reflektieren‹ sich als ästhetische Vorlagen einer, ins Bild gesetzten oder ins Wort gehobenen, wesentlich-wirklich ›existentiellen Erfahrung unseres Daseins‹. Das können (beispielsweise) Bilder von van Gogh, den Brücke-Malern, Egon Schiele, den Expressionisten oder den Surrealisten sein; oder literarische Werke von Musil, Jünger, Trakl, Kafka, Benn oder Chandler. In einem kommen sie überein. Es sind ›Reflexionen‹ unseres wesentlich-wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Kein Werk also, das wir uns als Kunst-Werk vorstellen, ist ohne diese uns selbst-vorführende, uns selbst reflektierende ›existentielle Intentionalität‹. Das scheint so selbstverständlich, dass dem in den Kunstwissenschaften und in der Philosophie nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. – Der wirkliche Mensch als Da-und-So-Sein ist mit seinen Wahrnehmungen, seinen Bewegungen, den sich so ereignenden ErfahrunDenken wir an die (sogenannte) ›Neue Naturlyrik‹. Weder die ›magischen Beschwörungen‹ (Oskar Loerke), noch ein sich verlieren in diesem oder jenem als ›wunderbar‹ wahrgenommenen Einzelnen der Flora und Fauna, kann die moderne Lebenswelt ›Großstadt‹ wirklich zurücklassen. Das, was wir, zumeist wenig differenziert, ›Natur‹ nennen, ist, von welcher Perspektive auch immer in den Blick genommen, ein ›Verfügungs-Raum‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹; also Gestaltung unseres Da-und-So-in-derWelt-seins.

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gen, seinen Ordnungen (einschließlich der Ordnungen der Un-Ordnung), seinem Miteinander, seinen Reflexionen auf die Lebenswelt ›Großstadt‹ ausgerichtet. Und das in der Regel ganz selbstverständlich! Also zumeist unbewusst und unwillkürlich! Und das zeigt und gestaltet sich selbst noch mit den ›literarischen Figuren‹. So verweisen (beispielsweise) Raum und Raumerleben, Zeit- und Lebensgestaltung, biographische und gesellschaftliche Muster, nicht nur irgendwie ›lose‹ und nebenbei aufeinander. 47 Sondern sie bilden für uns ›ersichtlich‹ einen ›notwendigen‹, einen wirklich-wesentlichen Zusammenhang. 48 Das ist phänomenologisch nicht mehr wirklich ›hinter-denkbar‹. Dasein ist Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Das gilt nicht nur im Blick auf ›das große Ganze‹. So wäre es, das alles vorausgesetzt, mehr als verwunderlich, wenn nicht schon unsere ›alltäglichen Großstadt-Erfahrungen‹ verwirrend, beeindruckend, bedrückend, berauschend, diese besonderen Raumund Horizont-Erfahrungen, dieser unvergleichliche Lärm und dieses besondere Licht (einschließlich der sogenannten ›Lichtverschmutzung‹ !) nicht auch als ›ästhetische‹ Empfindung, Stimmung, als Kunst-Werk-Gestaltung zum Ausdruck kämen. Eben gerade so! Gleich wie genau, so oder so, immer aber als lesbare existentielle Gestaltung ›reflektiert‹ und eingeschrieben in unser Dasein. 49 – Aus welcher Perspektive also auch immer: ›Wir sind so-da (wir ›existieren‹) mit unserer Diesen Gedanken finden wir schon bei Winckelmann und Herder. Vgl. dazu: Peter Szondi. Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Frankfurt/M 1974. Angaben zu Quellen bei: Armand Nivelle. Literaturästhetik der europäischen Aufklärung. Wiesbaden 1977. – Dazu auch Wolfgang Schadewaldt. (Im Blick auf Parmenides): »Dass ein Mensch in seinem Denken begreiflicher wird aus der Landschaft, in der er gelebt hat, ist ja auch verständlich, wenn man nichts Phantastisches hineinträgt, sondern die Dinge rein denkerisch zu fassen sucht.« (Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen. Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1. Frankfurt/M 1978. S. 311.) Vgl. dazu auch: Georg E. Vaillant. Werdegänge. Erkenntnisse der Lebenslauf-Forschung. Reinbek bei Hamburg 1980. 48 Interessant auch aus der Sicht der Neurowissenschaften. »Wie wir Raum erfahren und uns in ihm bewegen, determiniert auf grundlegende Weise die Bildung unserer kognitiven Modelle.« (82) »Sogar unsere Vorstellung von Idee leitet sich von räumlicher Erfahrung ab, wenn wir sie als ›fortschrittlich‹ und ›progressiv‹ im Unterschied zu ›rückwärtsgewandt‹ charakterisieren.« (83) (Raoul Schrott. Arthur Jakobs. Gehirn und Gedicht. München 2011.) 49 Das geht noch über das von Paul Ricœur Vorgestellte hinaus: »Selbst wenn beispielsweise van Gogh nur einen Stuhl malt, stellt er damit den Menschen selbst dar, er ent47

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Lebenswelt‹ ! Die Lebenswelt ›Großstadt‹ reflektiert sich als die wesentliche, wirkliche, grundsätzlich stilbildende Gravur für unser Existieren hier und jetzt. 50 Inhalt und ästhetische Form und Formung sind in diesen ›existentiellen Reflexionen‹ ineinander verschlungen. – Das nennt im Übrigen auch die Bedingungen der vor allem in der Literatur der Moderne vielberedeten oder hintergründig mitschwingenden, bedrängend (eben) wirklichen Gefühle. Beispielsweise diese (und wer kennt sie nicht?) ›dunklen‹ Stimmungen – wie ›Heimatlosigkeit‹, ›Fremdheit‹, ›Unbehaustheit‹, auch ›Schmutz‹ und ›Enge‹. Das sind selbst schon Gestaltungen, Wirklichkeiten unserer existentiellen Reflexion, die uns gerade so von uns selbst eigenartig dissoziiert und eben nicht zuletzt ›ästhetisch‹ herausfordert. 51 – Immer ›weiter‹ oder (je nach Perspektive) immer ›enger‹ fokussierter wird unser Blick. Nicht was ›Kunst an sich‹ und ›idealerweise‹ sei, ist also für uns von Interesse. Sondern die geradezu trivial scheinende Wirklichkeit, dass Kunst-Werke wesentlich historisch-tatsächlich eingestellt sind in einen lebensweltlichen Kontext. In einem Satz oder mit einer Überschrift so gefasst: ›Die Kunst-Werke und ihre wirkliche Ortschaft‹. – So da zu sein ist den Kunst-Werken nun nicht etwa etwas Äußerliches. Dieses ›wirkliche Wesens-Verhältnis zur Lebenswelt‹ ist auch den Künstlern der Moderne selber nicht verborgen geblieben. In der ›Form‹, so Wassily Kandinsky, spiegele (›reflektiert‹) sich ›der Geist des einzelnen Künstlers‹. Die Form ›trage also den Stemwirft eine bestimmte Gestalt von ihm, er zeigt ihn als denjenigen, der über diese Welt verfügt.« (Hermeneutik und Psychoanalyse. München 1974. S. 25.) 50 In diesem Zusammenhang ein Blick auf Ernst Jünger. Er bewegt sich zwar als Randgänger der Moderne, bleibt aber dabei selbstverständlich ›in‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Dazu Thomas Kielinger: »Das Erlebnis der Großstadt Berlin weitet Ernst Jüngers Blick für das ›Märchen des Lebens‹. Hier gab es nichts zu verstehen, jedenfalls nicht in logisch-kausalem Sinne. Hier gab es einen unheimlichen Traum: den Abstieg der Zivilisation, der sich im ›höllischen Aspekt‹ der flimmernden Lichter, den ›teuflischen Eindrücken‹ der Großstadtcafes und der eisigen Isolation inmitten der Millionenstädte andeutete.« (Der schlafende Logiker. Ernst Jünger und der europäische Surrealismus. In: Hubert Arbogast (Hg.) Über Ernst Jünger. O. J. S. 142.) 51 Ronald D. Laing schreibt: Diese moderne Entfremdung gehe »bis an die Wurzeln. Eine Realisierung dessen ist notwendiger Ausgangspunkt für jede ernsthafte Reflexion über irgendeinen Aspekt zwischenmenschlichen Lebens heute. Aus verschiedenen Perspektiven gesehen, auf verschiedene Weise gedeutet und in verschiedenen Idiomen ausgedrückt, vereint solche Realisierung so verschiedenartige Männer wie Marx, Kierkegaard, Nietzsche, Freud, Heidegger, Tillich und Sartre.« (Phänomenologie der Wahrnehmung. Frankfurt/M 19736. S. 10.)

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pel der Persönlichkeit‹. Und weiter. Die Persönlichkeit könne aber »natürlich nicht als etwas außer Zeit und Raum Stehendes aufgefasst werden. Sondern sie unterliegt in gewissem Maße der Zeit (Epoche), dem Raum (Volk)«. Und endlich habe »auch jede Zeit eine ihr speziell gegebene Aufgabe, die durch sie mögliche Offenbarung. Die Abspiegelung dieses Zeitlichen wird als Stil im Werk erkannt.« 52 – Das ist (in unserem Sinne) als ›ästhetische Reflexion‹ geradezu eine ›praktische‹ Vorstellung einer Stufung der Konstitution des wirklichen Wesens der Kunst. Eine Vorstellung, die uns so auch phänomenologisch noch bewegt. Moderne Kunst-Werke (und nur von ihnen sprechen wir) sind, was immer sie wie in eine Form zu bringen versuchen, was immer wir darin zu ›lesen‹ vermeinen: Gestalten und Gestaltungen unseres Daund-So-in-dieser-Lebens-Welt-seins. Sie sind für uns auf diese Weise, in dieser existentiellen Form, wirklich wesentlich! Selbst noch als vermeintlich ›bloße‹ Anschauung einer, sagen wir, Sehnsuchtsleistung hin auf irgendein ›ganz Anderes‹. Also auch dieses (hier und jetzt oft ›stumme‹, auch ›verstummte‹) Warten und Hoffen auf eine ›noch ausstehende große Geliebte‹, wie es Rilke in seinen Duineser Elegien nennt, bleibt (was sonst!) rückgekoppelt und fundiert in dieser unserer Lebenswelt. – Zugegeben, das alles ist, gemessen an den tradierten philosophischen Gedanken zur Ästhetik, wirklich schlicht. Möglicherweise eben zu schlicht für die kunstphilosophischen Perspektiven, die auf Erhabenheit, Schönheit, Wahrheit, Eigentlichkeit und Geltung ausgerichtet sind. – Es mag damit stehen, wie es will. Wir lassen uns durch diese Vorschriften irritieren, aber nicht aus der phänomenologischen Spur bringen. Wir schauen nach wie vor phänomenologisch ganz schlicht, und schauen immer noch auch auf unser schlichtes ›So-Hinschauen‹. Konkret: wir schauen hin auf die lebensweltliche Gestaltung unserer ›Ästhetik‹, schauen hin auf unseren ›ästhetischen Blick‹. – Eines haben wir von Anfang an bei uns selbst nicht übersehen. Diese Wirklichkeiten und wirklichen Möglichkeiten unseres Wahrnehmens, unsers Bildens, Vorstellens, Einsehens, Reflektierens – also auch unser ›schauendes‹ Philosophieren – sind wesentlich eingestellt durch (nicht nur auf) die Lebenswelt ›Großstadt‹. Beispielsweise das Raum- und ZeitempfinÜber die Formfrage. In: Der Blaue Reiter. Herausgegeben von Wassily Kandinsky und Franz Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München/Zürich 19865. S. 139.

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den oder die Selbst- und Fremdwahrnehmung, überhaupt der Blick auf das Fremde und das ›Eigene‹ (die ›Heimat‹, das und der ›Andere‹). – Blicken wir beispielsweise auf die so selbstverständlichen Gestaltungen unserer alltäglichen Wahrnehmungsserien. Also die ›Verarbeitung‹ (das ist ausdrücklich eine ›existentielle Konstitution‹!) der Bilder, Eindrücke, Vorführungen dieser ›Wirklichkeiten-da‹, einschließlich der uns, so erfahren wir es Tat für Tag, unwillkürlich bedrängenden jeweiligen Gestimmtheiten u. ä. Fragen wir uns nun so und sehen wir hin ohne uns erkenntnistheoretisch festzulegen: Was tun wir damit? Wie stellen wir uns darauf ein? – Eigenartig auffällig nun! Geradezu paradox! – Dass uns das Unvertraute, dieser unentwegte Wechsel, das Überraschende, das Unübersichtliche für uns die alltägliche Regel ist, ja uns wie selbstverständlich als etwas eigenartig ›Vertrautem‹ scheint. 53 Von James Joyce (um nur auf hin hinzuweisen) in dem berühmten Schlusskapitel seines Romans ›Ulysses‹ ohne Punkt und Komma nachgezeichnet und inszeniert. – ›Großstädtisches Leben‹ heißt also: das Erleben fortgesetzter, geradezu aber eigenartig erwarteter Wahrnehmungsbrüche. Vom Medium Film verdichtet und mehr oder weniger kunstvoll instrumentalisiert. 54 Wir sind, ganz unwillkürlich, geradezu ›leibhaft‹, auf diese Gestaltung, diese Gestalten, diese Formen von Wahrnehmungen und Wahrnehmungen dieser Wahrnehmungen eingestellt. Nicht von ungefähr! Sind wir doch Da und So gezwungen uns damit zu arrangieren. In der Regel haben wir diese uns eigenartig ›vertrauten Wahrnehmungsschocks‹ irgendwie ausgeblendet; irgendwie in unser Leben ›als Regel‹ eingebaut. Etwa als ›gewohntes alltägliches Hintergrundrauschen‹ unserem In-der-Weltsein selbstverständlich zugeordnet. 55 – Dieses Spiel mit dem ›vertrauDer Surrealismus übernimmt geradezu das Moment der ›unentwegten Überraschung‹, des ›Schocks‹ als ästhetisches Prinzip. 54 Denken wir hier auch an die Gestaltung der ›Musikclips‹. Harte Schnitte; kurze Sequenzen; rascher Wechsel; unerwartete Bilder und Farben. Und das aber – alles ›erwartet‹. 55 Cool-sein, gleichgültig, abgeklärt, nicht mehr staunen wollen – werden geradezu zu einer ›großstädtischen Überlebensstrategie‹. Bei Gottfried Benn so in Form gebracht (übersehen wir das zeitgebundene, politisch nicht unbedingt korrekte): »Auf den Boulevards Steppenleben – lebhafte Bordelle und Uniformen. Das achte amurische Regiment – Friedensgarnison Lo-scha-go – macht Platzmusik, die langen Posaunen dröhnen. Die Bars füllen sich: Hawaiabfall und sibirisches Fleckblut. Weißer Wodka, grauer Whisky, Ayala und Witwe Cliquot aus ungespülten Römern (…). Auch innerlich wird dem Geschlagenen viel geboten: ein transatlantischer Bischof kommt angereist und 53

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ten Schock‹, dem ›gewohnt Unvertrauten‹, ein ›Konterkarieren‹ der als traditionell geltenden Wahrnehmungsmuster (einschließlich der ›sozialen, gesellschaftlichen Rituale‹), lässt sich in allen ›modernen Kunstwerken‹ als wesentliches Spiel ausmachen. ›Schocken‹ jetzt als künstlerisches Gestaltungsprinzip. Und so ein Sich-darauf-ausrichten, ein Sich-einstellen-auf als Prinzip des Herstellens, also auch des Betrachtens. Der ›Kunst-Interessierte‹ erwartet ›im Prinzip‹ im Kunst-Werk das eigentlich Unerwartete. Ein fehlender »Choc« enttäuscht! – Da gibt es sicher auch bloße modische Varianten. Vorstellungen nur mit Blick auf ›den Markt‹. Das ist aber sicher nicht das wirklich wesentliche der Kunst-Werke der Moderne. Und trotzdem gehört es phänomenologisch hierher. – Dieses So-oder-so eingestellt-sein auf das zu erwartende Unerwartete, ist für uns phänomenologisch von Interesse. Die modernen Kunst-Werke zeigen uns etwas Wesentliches ganz unabhängig von der schwierigen Frage nach ›künstlerischer Qualität‹. Allein schon durch ihre Gestalt und Gestaltung reflektieren sie unsere existentielle ›Textur der Lebenswelt Großstadt‹. Also konkret durch ihren eigenartig ›existentiellen‹ Bezug, möglicherweise auch nur durch eine, zunächst angebotene ›intentionale Leer-Form‹. Im Übrigen vergessen wir nicht: das sind Einsichten, die durch den Betrachter willkürlich und unwillkürlich selbst hergestellt und verwirklich werden. Also vor allem auch hier ›reflektiert‹ sich ein konstitutives Selbstverständnis unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. – Verbreitern wir nun etwas unsere Perspektive. Jedermann wird wohl eines ohne weiteres zugestehen. Kunst-Werke sind im großstädtischen Raum präsent. Und sei es nur als Name, Hinweis, Begriff oder auch im Spiel einer ›Konnotation‹. Kurz und knapp: Wir alle sehen und wissen von ›Kunst‹ ! Ohne möglicherweise zuerst und zumeist überhaupt irgendeinen ausgearbeiteten Kunst-Begriff zugrunde legen zu können. Also für uns eine geradezu alltägliche Selbstverständlichkeit von ›Kunst-Werken‹. Kunst-Werke – eine Selbstverständlichkeit in unseren Lebensräumen. Und sei es auch nur irgendein ›kunstvoll‹ gestaltetes Ornament an diesem oder jenem Gebäude; als Graffiti, Straßenkunst, (›das soll Kunst sein‹ ?); oder auch als Hinweis auf Galerien, Kunst-Museen, Ausstellungen, auf architektonisch ›bemerkenswert‹ murmelt: meine Brüder – ein Humanist zeigt sich und flötet: das Abendland – ein Tenor knödelt: o holde Kunst – der Wiederaufbau Europas ist im Gange.« (Die Ptolemäer. GSW 5. S. 1396.)

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gestalteten Bauwerken usw. – Zweifellos also: ›Kunst-Werke‹ gehören nicht nur irgendwie zum Stadtbild; sie sind eine kaum wegzudenkende Form, eine ›Formung‹, unserer ›Lebenswelt‹. Sie ›ragen‹ nicht nur irgendwie in unsere großstädtische Lebenswelt, sondern ›durchdringen‹ sie; und das geradezu wortwörtlich. Unmittelbar oder mittelbar. Beispielsweise als Hinweis, Symbol oder, zuerst und zumeist, ›nur‹ als Leermeinung. 56 – Das sind eben nicht nur die Museen, die Galerien mit ihren Kunst-Ausstellungen. Da ist das ›gestaltete‹ Museum selbst; die Oper und der Opernplatz oder auch die Richard-Wagner-Straße. Oder da sind ›Hinweise‹ auf Kunst-Ausstellungen, ›Plakate‹, die nun selbst künstlerisch gestaltet sind (und nicht selten als ›Kunst-Werke‹ gesammelt und ausgestellt werden). Da ist also nicht nur dieses oder jenes Kunst-Werk. Beispielsweise eine Skulptur oder auch ein kunstvoll gestalteter Brunnen auf diesem oder jenem Platz, vor diesem oder jenem Gebäude, in diesem oder jenem Park. Sogar der Platz selbst, das Gebäude, der Park, möglicherweise die Straßenzüge, der Stadtteil (sogar die Stadt selbst) können als ›Kunst-Werke‹, als verwirklichte architektonisch-ästhetische Ordnung, als ›Bau-Denkmäler‹ gesetzt, benannt und wahrgenommen werden. 57 – Oder da sind ›Bücher über Kunst‹ ; ›Kunst-Kalender‹ ; ›Reproduktionen von Kunst-Werken‹, Poster. Möglicherweise, das alles auch nur als flüchtige Wahrnehmungen im Vorbeigehen. Hierher gehören auch die mehr oder weniger ›kunstvollen‹ Comics. 58 Oder – da ist die Werbung; also Werbespots, die sich selbst als ›Kunst‹ (zumindest als ›kunstvoll‹) inszenieren; und so auch, ich mag darauf achten oder nicht, gesehen werden möchten. 59 Nicht zuletzt die mehr oder weniger erotisch aufgeladenen, mehr oder weniger ›kunstvoll‹ inszenierten ›Hochglanz-Bilder‹. Akte von Frauen und Männern Denken wir in diesem Zusammenhang auch an Hinweise wie: ›Die Wiener Moderne und Egon Schiele‹ ; ›Die Londoner Symphoniker‹ ; ›Berliner Sezession‹ ; ›Pariser Salons‹ usw. usf. 57 Dazu, Leonardo Benevolo. Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 19843; Adolf Loos. Trotzdem. Gesammelte Schriften 1900–1930. Wien 1997. 58 Dieses breit Aufgefächerte der Kunst der Moderne gelesen auch als Auffächerung der Lebenswelt ›Großstadt‹. Daher auch: Installation; Fotomontage; Video-Kunst usw. 59 Dazu Peter Koslowski: »Die wechselseitige Befruchtung zwischen Wirtschaft und Kunstproduktion reicht vom ästhetischen Lernen, über die Materialerkundung, die Erprobung neuer Techniken bis zur Einübung in das Handwerk. Im Austausch zwischen Kunst und Wirtschaft ist oft die Kunst diejenige, die neue Materialien einführt, und die Wirtschaft diejenige, die der künstlerischen Avantgarde folgt.« (Prinzipien der ethischen Ökonomie. Tübingen 1988. S. 150.) 56

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in den entsprechenden Magazinen. Kunstgeschichtliche Vorbilder lassen sich im Übrigen ohne viel Mühe ausmachen. – Alles in allem also: eine geradezu aufdringliche Präsenz von (in diesem ›weiten Verständnis‹) ›Kunst-Werken‹ in unserer Lebenswelt. – Diese so unterschiedlichen ›Vorlagen‹, gleich was sie theoretisch und praktisch trägt und rechtfertigt, sind für uns phänomenologisch eine ›konstitutiv geleistete Eigenart‹ unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Das sogenannte ›hohe‹ genauso, wie das bloß ›triviale Werk‹. – All das gehört nun wie selbstverständlich schon zur ›Stadtplanung‹. Man rechnet also zu Recht schon ganz ›pragmatisch‹ mit einer so breit aufgefächerten ›Kunst‹. ›Kunst-Werke‹, Gestaltungen der oder durch ›Kunst‹ sind, so sagt man beispielsweise, Blickfang, eine Stadtornamentik, und sie fördern gerade so das ›Stadt-Image‹ u. ä. 60 Brechen wir hier ab. – Das alles ist ohne großen theoretischen Aufwand einsichtig vorzustellen. Es gilt: Sieh einfach hin! Schwieriger scheint es schon, sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ der Grund, der Anlass, das Prinzip der Kunst-Werke der Moderne ist. – Erinnern wir uns zunächst: Diese Perspektive ist fundiert in einem phänomenologischen Kunst-Begriff, der die traditionellen Vorstellungen ›was Kunst sei‹ oder ›zu sein habe‹, unberücksichtigt lässt; diese Vorstellungen und Vorlagen ›einklammert‹. – So also zusammengefasst: Nicht irgendein ›ideales Subjekt der Vernunft‹ setzt, betrachtet und genießt Kunst-Werke. ›Schöne und wahre, also ideale Gestaltungen‹, die im Blick auf eine zeitenthobene Idee der Kunst in Geltung entworfen, ›gemacht‹, ›gebildet‹ worden sind. Sondern Kunst-Werke, gleich ob Bilder, Gedichte, Opern, Filme oder (nur) ›Plakate‹, werden von uns intentional vorgestellt, wahrgenommen und existentiell aufgefasst im Horizont unserer wesentlich wirklichen Lebenswelt ›Großstadt‹. – Zumindest dieses wenig aufregende, ›schlicht existentiell-intentionale Verhältnis‹ der Kunst-Werke, so sollte man meinen, kann philosophisch doch gar nicht übersehen werden. 61 Denken wir beispielsweise Dass das die Frage nach dem ›Wesen der Kunst‹ noch dringlicher macht, liegt auf der Hand. 61 Husserl hat sich sehr selten ausdrücklich auf diese ›ästhetischen Akte‹ eingelassen. (Z. B.) »Eine Landschaft, eine Theorie ästhetisch betrachten, ohne zu ihnen Stellung zu nehmen, nur um ihren ästhetischen Charakter zu würdigen – da kann beides ineinander übergehen: Die ästhetische Betrachtung fordert den Ausschluss des theoretischen Interesses, die theoretische Einstellung muss weichen der ästhetischen. (…) Das wesentliche 60

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allein an die philosophischen Konsequenzen dieser Hinsicht. Aber das ist noch nicht unsere Sache! – Schon der ›Wille zum Kunst-Werk‹ : also ein ›Planen‹, ›Denken an‹, ›sich geistig vor Augen führen‹, ›Vorbereiten‹, ›sich einstellen auf‹, ›Kunst machen wollen‹ oder ›etwas‹ als Kunst-Werk ausdrücklich setzen u. ä. bringt sich als Serie komplexer intentionaler Akte in eine ausdrücklich ›ästhetische Form‹. – Ebenso intentional gerichtet, ›existentiell-reflektiert‹ ist die Wahrnehmung, die Auffassung eines Werkes als Kunst-Werk durch einen ›Betrachter‹ (Kritiker, Genießer, Sammler usw.). Im Übrigen ist gleich, ob es mich persönlich ausdrücklich und unmittelbar als ›Kunst-Werk anspricht oder nicht‹ ! 62 – Also erst unsere dichten, ineinander verschränkten, aktiven und passiven, wesentlich wirklichen Konstitutionsleistungen ›machen‹ unsere KunstWerke. Der gemeinsame Grund aber dieser willkürlichen und (nie zu vergessen) unwillkürlichen Leistungen ist unser Da-und-So-in-derWelt-sein. – Es sind also wortwörtlich, wirklich und wahrhaftig ›unsere Kunst-Werke‹. Sie sind es, aus welcher Perspektive auch immer wir es betrachten. Betrachten wir das Betrachten. Kunst-Werke gestalten sich uns als Verflechtung aktiver und passiver, willkürlicher und unwillkürlicher ›intentionaler Akte‹. Akte, die nicht nur uns und unsere Lebenswelt, sagen wir, ›irgendwie dissoziiert‹, ›losgelöst objektiv‹ zeigen. So als wären sie ganz und gar ›unabhängige‹ Repräsentanten einer im Grunde ›ganz anderen (ontologischen) Qualität‹. Für uns bleibt es phänomenologisch dabei: Sie sind selbst wesentlich ›fundiert‹ in dieser unserer Lebenswelt ›Großstadt‹, also in unserem Da-und-So-in-derWelt-sein. – ist für die ästhetische Einstellung also (…) nicht die Phantasie, sondern die Einstellung auf das, was ästhetisch interessiert, Gegenständlichkeit im Wie.« (591); in einer Anmerkung zu einem Ms. von 1906 führt er aus: »Die Dinge, d. i. die Dingerscheinungen drücken immer etwas aus, bedeuten etwas, stellen etwas dar, nämlich für die Betrachtung der Kunst. Ästhetische Erscheinungen sind ausschließlich Erscheinungen, die eben etwas ausdrücken, darstellen, und dies nicht in der Weise eines leeren Zeichens. Sie drücken immer von innen her aus, durch ihre Momente der Analogie, und dann erst kommt der ästhetische Unterschied des ›schönen‹ und ›minder schönen‹, des ›schön‹ und ›häßlich‹ in Betracht. Was nichts ausdrückt, ist das ästhetisch adiaphoron.« (146) (Hua. XXIII.) 62 »Ein drastisches Beispiel sind sicher manche Werke von Beuys, die gelegentlich so überraschend sind, dass es auf den ersten Blick schwerfällt, sie unter den Begriff Kunst zu subsumieren.« (Martin Schuster. Horst Beisl. Kunstpsychologie. Wodurch Kunstwerke wirken. Köln 1984. S. 64.)

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Das hat für uns nun unterschiedliche Konsequenzen! Wir reflektieren die ›Reflexionen‹ der Kunst-Werke nicht (mehr) als einen ›ästhetischen Schein‹. Als eine für uns bloß ›passive Spiegelung‹. Ein unsere wirkliche Welt wie auch immer nur ›verdoppelndes oder idealisierendes Abbild‹. Sondern die Wahrnehmung eines Kunst-Werkes eröffnet mir die Möglichkeit, mich selbst als dieses ›exemplarische‹ Daund-So-sein anthropologisch einzuführen. Das meint konkret: wirklich existentiell einführen in die uns endlich zustehende Lebenswelt ›Großstadt‹. – Und auch daran möchte ich ausdrücklich festhalten. Die nun so gesetzten phänomenologischen Reflexionen der Kunst zeigen uns damit nun auch ›ästhetisch‹ die ›Erschöpfung‹ abendländischen Gedankens. Auch für die Kunst gilt also: ›es ist vollbracht‹ ! – Phänomenologisch offensichtlich ist nun das eine: dass diese ›Werke der Kunst‹ uns nicht gleichgültig als ›irgendwelche Objekte‹ (›Kunst-Objekte‹) gegenüberstehen. Sie reflektieren phänomenologisch reflektiert im Besonderen unsere Selbst-Wahrnehmung SoDa-in-dieser-Welt-zu-sein. So-Da und nicht mehr anders. Sogar auch so-da-sein-zu-wollen. Zeigen uns selbst noch im Vorbeigehen unsere möglichen Selbst- und Welt-Einstellungen. Sie sind philosophisch vorgestellt also zugleich Angebote für eine Ontologie und Anthropologie. – Zumindest aber eines, und darüber werden wir nicht in Streit geraten, sie fordern heraus, stören, irritieren, fallen ins Auge, befremden – oder lösen (auch oder trotzdem oder gerade deswegen) Wohlgefallen aus. Und das, gleich ob wir uns bewusst, ausdrücklich dem ›Wesen‹ der Kunst-Werke stellen oder nicht. ›Es geschieht eben ganz unwillkürlich‹ ! – Kurz, sie führen der phänomenologischen Reflexion (unserer reflexiven Reflexion) Möglichkeiten vor, wirklich So-Da-zu-sein. – Kunst-Werke, alle ›idealen Normen‹ bleiben für uns eingeklammert, verweisen uns wahrhaftig auf die Wirklichkeiten und Möglichkeiten unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Mehr nicht? Für uns nicht mehr! – Die ›modernen Kunst-Werke‹ sind also, in einem genauen Wortverständnis, ›Reflexionen‹ unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Das ist keine philosophisch ›gewaltsame‹ Konstruktion. Dabei wird, und auch das gehört als phänomenologische Wahrnehmung hierher, ›das Großstädtische‹ selbst zunehmend zu einer ›Metapher‹ für ein, im weitesten Sinne, ›ästhetisch‹ (›sinnlich‹) aufgeladenes Lebensgefühl. Unser Daund-So-in-der-Welt-sein bewegt sich also in diesem Sinne als ›Ästhetisierung und Inszenierung‹ seiner selbst. Es gilt: ›Wir-selbst-so-da‹. Gleich ob mit-, für- oder gegeneinander! Denken wir dabei nicht nur 231 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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an den ›Zwang‹ der Mode. (Sie bleibt für mich in ›Geltung‹, gleich ob ich ihren Vorlagen zu entsprechen versuche oder mich verweigere). – Man spricht auch in diesem Sinne vom, wie man so sagt, ›Pulsschlag‹ der Megapolis. Da sind ›Ideal-Bilder‹ von fast allem. Vorlagen, die unwillkürlich von uns als Vor-Schriften gelesen werden. – Das ist sicher nicht nur ein ›modisches Oberflächen-Spiel‹. ›Die Mode selbst‹ als dieses sich einfügen und (gleichzeitig) sich ›einstellen‹ ist keine bewusste Setzung (von wem auch immer)! Kein willkürlicher Plan liegt dem zugrunde! Die Versuche, hier zu steuern (das oder jenes zu ›instrumentalisieren‹), unterstreichen das. – ›Ästhetik‹ darf hier allerdings nicht zu pointiert kunstphilosophisch gedacht werden. Eines hat sich uns, unterschiedlich variiert, immer wieder aufgedrängt. Fragen nach ›klassischer Schönheit‹, nach ›interesselosem Wohlgefallen‹ oder gar nach dem Zugleich von ›Wahrheit‹ und ›Schönheit‹, all diese großen Ideen, auch die der Neuzeit, blicken an unserer wirklich-wesentlichen Wirklichkeit vorbei. Wenn denn ein historischer Vergleich sein soll, dann schon eher die ›Auffächerung‹, sogar ›Verstärkung‹ des ›romantisch Interessanten‹. Stylisch, cool, hip, abgefahren und geil! 63 Kurz und knapp: Das großstädtische Da-und-So-in-der-Welt-sein entwirft sich also selbst im Horizont der Lebenswelt ›Großstadt‹ als eine Art dazugehöriges ›Gesamtkunstwerk‹. Entwirft, formt, gestaltet sich willkürlich und unwillkürlich selbst als ›modernes Image‹ ! Es ist so, als ob unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ kein Zurückbleiben von ›dir‹ oder ›mir‹ hinter dem ›man lebt hier und jetzt so‹ dulde. – Das haben wir, so scheint es, längst schon internalisiert! Einschließlich des unsteten Wechsels, der raschen Bewegungen, der Dynamik (die wir so bewundern). Vielleicht daher auch, die von Georg Simmel beschriebene ›Ungeduld des Genießens‹. Ein problematisches Trachten, »in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Summe von Erregungen, Interessen, Genüssen zusammenzupressen.« 64 – Aber sehen wir hier noch genauer hin. Ein Kunst-Werk (in unse›Schönheit‹ sei nun – um dieses bekannte, viel bemühte Wort Lautreamonts aufzugreifen – die ›Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch‹. 64 Er fährt fort: »Die Buntheit des großstädtischen Lebens auf der Straße wie in den Salons ist von dieser durchgehenden Strebung sowohl Ursache wie Folge, und die Kunstausstellungen fassen sie für ein engeres Gebiet symbolisch zusammen.« (Über Kunstausstellungen. In: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Frankfurt/M 2008. S. 11.) 63

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rer weiten Setzung) stellt uns, lassen wir uns phänomenologisch darauf ein, nicht zuletzt auch unseren uns zuerst und zumeist verdeckten, verdrängten Daseins-Grund vor Augen. Wir brauchen uns hier nicht durch die Psychoanalyse belehren lassen. – ›Hinter‹ diesem Hier-SoLeben-wollen, Hier-So-Leben-müssen ›reflektiert‹ es unsere wirklich wesentlich Daseins-Angst. – Ein ›todernstes Spiel‹ : von uns sich zeigen als ›dieser eine da‹ und zugleich vor uns verdecken, sich als ›dieser eine da‹ als ›unwirklich‹, ›irrational‹ abdrängen. Ein ›Spiel‹ also – vor allem vor und mit sich selbst. Das Kunst-Werk gibt diesem ernsten Spiel eine für uns annehmbare ›ästhetische Gestalt‹. Zumindest zunächst! – Freud weist uns darauf hin. Uns scheint durchaus mit ›psychologisch überzeugenden Gründen‹ ! Er setzt bekanntlich die Kunst als die einzig legitime Form einer (wie er es nennt) ›Illusion‹. Kunst-Genuss als eine Lustquelle, eine positive Einrichtung, die auch dem ›aufgeklärtem Dasein‹ noch erlaubt sei. Kurz und knapp. Kunst-Genuss sei eine nicht neurotische Ersatzbefriedigung. Trotzdem aber, psychoanalytisch gedeutet, eine ›Ersatzbefriedigung‹ ! Eine, so Freud, ›milde Narkose‹. Aber auch der Kunst-Genuss könne eine nur flüchtige ›Entrückung aus den existentiellen Lebensnöten‹ schenken. 65 – Phänomenologisch reflektiert ist auch das nur eine Perspektive, die selbst als existentielle Gestaltung ›der Kunst‹ mit zu unserem Da-und-So-in-der-Welt-sein gehört. Wie auch immer es um ›die Wahrheit‹ dieser psychoanalytischen Deutung stehen mag. Wir lesen sie, wir schauen sie selbst als ästhetische Gestaltung So-Da-zu-sein. Phänomenologisch sogar als eine Art alltäglicher Sehnsuchts-Leistung. Vielleicht eine geradezu unwillkürlich aufsteigende ›gnostische Endzeit-Hoffnung‹. 66 Das ist keine verstiegene Spekulation über eine Spekulation. Eine ›metaphysische‹ Verzerrung dieser (doch ›wissenschaftlichen‹) psychoanalytischen Perspektive. – Lassen wir das aber hier auf sich beruhen. Wer zu schauen vermag, sieht es nun selbst. Wie es scheint ganz unwillkürlich öffnet sich hier unser phänomenologischer Blick hin auf die, im weitesten Sinne, ›existentiell-religiösen Fragen‹. Das wird uns Das ist weit weniger radikal gedacht als Freud und jene, die ihm hier folgen, dafür in Anspruch nehmen. Diese (nennen wir es) ›Erlaubnis zu ästhetischem Genuss‹ als Sinnstiftung, als ›milde Droge‹, ist eine ›bürgerlich-neuzeitliche‹ Perspektive. Eine Perspektive allerdings, die der existentiellen Wucht der großstädtischen modernen Kunst in keiner Weise gerecht werden kann. 66 Bis in die als ›trivial‹ geltenden Liedtexte hinein: ›Ein Schiff wird kommen …‹ ; ›Wann kommt die Flut, die mich hinwegnimmt, in ein anderes großes Leben‹ u. ä. 65

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im Folgenden noch beschäftigen. – Auf eines sei aber abschließend bestanden. Auch diese Vorstellung der Vorstellungen der modernen Kunst-Werke geschieht, gleich allen andern Vorstellungen, in der Lebenswelt ›Großstadt‹. Also ausdrücklich, und das gehört hierher, diesseits traditioneller Kulträume und Kulturträume. 67 –

VI. Krank-sein Uns bewegt unser wirklich-wesentliches, wesentlich-wirkliches Daund-So-sein. Das Dasein also, das entwirft, gestaltet, reflektiert, deutet, philosophiert, schaut! Das Dasein, das sich ängstigt, hofft, glaubt, sich um sich selbst müht, sich auf dieses oder jenes einlässt! Einschließlich auf sich selbst, der wirklich so ist. – Die Reflexionen der Phänomenologie, als existentielle Reflexion der Reflexionen, drängen uns nun selbst hin zur wesentlichen Wirklichkeit unseres Da-in-der-Welt-seins. Drängen uns hin, was immer wir in den Blick nehmen, zu unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Und das nach wie vor wie selbstverständlich auch bei diesen nun anstehenden Fragen! – Gerade deswegen steht (im Übrigen) in der phänomenologischen Frage, und davon nicht zu lösen, immer auch das praktische Leistungsvermögen unserer existentiellen Phänomenologie. Das ist uns ja auch nie aus dem Blick geraten. Unsere Reflexionen gestalteten sich als praktisch ausgerichtete TiefenHermeneutik unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Unentwegt halten wir also immer wieder und immer wieder von Anfang an Ausschau nach unserem wirklich wesentlichen und wesentlich wirklichen Dasein. – Gerade diese ›existentielle Hermeneutik‹ öffnet nun einen weiten Blick hin auf eine ›phänomenologisch eingeführte therapeutische Praxis‹. Erinnern wir uns hier noch im Vorbeigehen an die Psychiater des Wengener Kreises. 68 Sie haben beeindruckende Skizzen ›leidenden Daseins‹ (als Da-in-der-Welt-sein) gezeichnet. Kurz, psychiatrische Vorlagen für eine auch ›klinische Anwendung‹ phänomenologischen Schauens vorgestellt. Diese als ›Paradigma für phänomenologisches Auch die Konzepte der Museen, der Galerien, der Ausstellungen vermeiden in der Regel heute jede ausdrückliche Anlehnung an Formen des Sakralen. 68 Vgl. dazu Torsten Passie. Phänomenologisch-Anthropologische Psychiatrie und Psychologie. Eine Studie über den Wengener Kreis. Stuttgart 1995. 67

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Arbeiten‹ zu lesenden Schriften sind ausdrücklich keiner bestimmten phänomenologischen Schule verpflichtet. (Wie ich finde, ein sehr sinnvoller ›phänomenologischer Eklektizismus‹ !) Ludwig Binswanger, Victor Emil von Gebsattel, Eugéne Minkowski und Erwin Straus haben die Phänomenologie als Methode, als Haltung, Einstellung, als Schauen, praktisch neu bestimmt. Und gerade so nun auch als mögliche theoretisch ›phänomenologisch psychiatrische Grundlagenforschung‹ neu ausgerichtet. – Ihre ›theoretischen Einsichten‹, abgelesen von wirklichen Daseins-Nöten, sind darüber hinaus bedeutende Beiträge für eine Phänomenologie der Existenz. – Und damit (für uns ganz folgerichtig) nun auch eine Bestätigung für unsere ›Phänomenologie der Großstadt‹. 69 Es ist im Übrigen ganz in der philosophischen Ordnung, dass gerade in dieser (sagen wir) ›praktischen Psychiatrie‹ die Potentiale der existentiellen Phänomenologie ausgeschöpft werden. Im Übrigen entschiedener als in dem universitären Fach ›Philosophie‹. Das kann nicht verwundern. Vor allem ›praktisch‹ ist es wohl kaum möglich, vorausgesetzt ein Mensch lässt sich wirklich auf seine Welt ein, sich dem Drängen des ›leidenden Daseins‹ – dem fremden und dem eigenen – zu entziehen. Unsere existentielle Phänomenologie ist also, in diesem Sinne und aus gutem Grunde, von Anfang an auch praktisch ausgerichtet. So also umfassender aus- und eingerichtet als es dem traditionellen Philosophieren möglicherweise ›recht ist‹. Wir können uns dieser Ausrichtung nicht wirklich entziehen, schon allein auf Grund der ›Reflexion‹ unseres ›wirklich-existentiell‹ intentionalen Verfasst-seins. Ein kleiner Hinweis, um keiner Fehldeutung Raum zu geben: Unsere so (auch) praktisch gefasste ›existentielle Phänomenologie‹ ist keineswegs eine Vorlage für diese oder jene ›Sozialtechnik‹. So als ob es uns nur darum gehe, politische, gesellschaftliche, sozial praktische Handlungs-Anweisungen zu geben. Sondern so: wir entnehmen dem die Aufforderung (und sind dabei ganz nahe dem Denken der phänomenologischen Psychiater), die phänomenologische Reflexion noch entschiedener, noch ›radikal wirklich existentieller‹ zu vollziehen. – Unser Hinblicken auf unser phänomenologisches Schauen selbst als Gestaltung der ›phänomenologischen Praxis‹ war von Beginn an ein ständig mitschwingendes Thema unserer Reflexionen. Mit dieser also Die phänomenologische Psychiatrie ist also ausdrücklich kein ›Seitenweg‹ phänomenologischer Reflexionen. Denken wir vor allem an Ludwig Binswangers Studien zur Ideenflucht.

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auch praktischen ›reflexiv-reflexiven Arbeitsform‹ entfaltete sich unsere existentielle Phänomenologie zu einer ›wirklichen‹ Grundlagenforschung der Existenz, zu einer fundamental gerichteten Anthropologie. Eben nicht gedacht als bloße, von Husserl schon gewollte und geforderte ›Philosophie der Philosophie‹ oder als ›Logik‹ des wissenschaftlichen Philosophierens. Sondern darüber weit hinaus und im Besonderen als ein dem Da-Sein als In-der-Welt-sein (also wirklich für uns selbst) wirklich wesentlich gemäßes anthropologisches, philosophisches Fundament der ›Medizin‹. 70 Vor allem aber, und das werde ich an anderer Stelle entfalten, denken wir unsere ›existentielle Phänomenologie‹ als Beitrag für eine phänomenologische Psychotherapie. 71 – Das ist wirklich unserer Sache gemäß. Wir werden durch unsere eigenen phänomenologischen Intentionen ›notwendig‹ zu diesen Reflexionen gedrängt. – Ich begreife diese, nun nach vorne drängenden, ›praktisch gerichteten phänomenologischen Reflexionen‹ nicht als bloße wissenschaftstheoretische Vorarbeit für eine medizinische Anthropologie. Wir reflektieren unser wesentliches Da-in-der-Welt mit unserem wesentlich wirklich leibhaften So-Da-sein. – Und es ist (auch hier) die Lebenswelt ›Großstadt‹, die den für uns bestimmenden Welt- und Daseins-Begriff stellt. Nicht als Fassung bloß zufälliger ›Umgebung‹ (in der ich unter anderem auch ›krank‹ werden ›kann‹). Oder (nicht einmal) als erkenntnistheoretisch relevante medizinische Anschauungs- und Wahrnehmungsform. Sondern als unsere hier und jetzt einzig noch mögliche existentielle Grundform So-Da-zu-sein. Also kurz und knapp: uns auch ›praktisch‹ wesentlich wirklich grundlegend. Uns so grundlegend augenscheinlich vor aller theoretisch behaupteten und eingeführten Ordnung. Selbst noch jeder Gedanke eines ›heilsamen Darüber-hinaus‹, gesetzt (beispielsweise) durch Theologie, Soziologie, Philosophie, bleibt an unser wirklich lebensweltlich Da-und-So-in-derWelt-sein gebunden. – Das alles, so scheint es, ist für uns so selbstverständlich, dass es im Alltag (auch im wissenschaftlichen Alltag) keiner Rede wert ist.

Vgl. Medhard Boss. Grundriss der Medizin und Psychologie. Ansätze zu einer phänomenologischen Physiologie, Psychologie, Pathologie und Therapie und zu einer daseinsgemäßen Präventiv-Medizin. Bern. Göttingen. Toronto 19993. 71 Z. B. Ludwig Binswanger. Formen mißglückten Daseins. Ausgewählte Werke Band 1. Heidelberg 1992. S. 227. 70

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Ganz offensichtlich: Mein oder Dein sich ›krank-fühlen‹ – beispielsweise ›matt‹, ›unwohl‹, ›schwach‹, ›gedrückt‹ – lässt sich nun wirklich nicht aus unserer Lebenswelt lösen. – Rücken wir nun diese unsere wirklich alltäglichen Selbst-Erfahrungen als Erfahrungen in der Lebenswelt ›Großstadt‹ phänomenologisch zurecht. – Eines ist offensichtlich. Dass sich überhaupt und allgemein und grundsätzlich die Erfahrungen (schon die Erfahrungs-Möglichkeiten) von ›Raum‹ und ›Zeit‹ verändert haben, wird wohl ernsthaft kaum zu bestreiten sein. Die Dichtung führt es als bedrohlich oder Chance für das ›moderne Dasein‹ vor; die Malerei bringt es (so oder so) in Form und stellt es aus; und die Philosophie fasst es in Gedanken. Vor allem aber, durchaus in einer gewissen Abhängigkeit davon, sehen wir es an uns selbst. – Denken wir hier nun, in diesem Zusammenhang, an die viel besprochene (sogenannte) ›Unruhe des modernen Menschen‹. 72 Sie hat, und auch darin gehen wir sicher nicht fehl, ihren ›Ort‹, ihren ›GestaltungsRaum‹ in und mit der Lebenswelt ›Großstadt‹. Das erscheint uns als zweifellos. Denn wir ›erfahren‹ es Tag für Tag an uns selbst. Auch das ›So-erfahren können und müssen‹ gehört im Übrigen mit zu unserem uns existentiell bedrängenden großstädtischen Zeit-Raum-Erleben. – Es durchstimmt uns. Wo immer wir uns befinden. Und gestaltet – ›auch ganz unwillkürlich‹ – unser Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Das sei und so sei eben, wie man sagt, unsere uns zugehörige ›moderne Schnelllebigkeit‹ ! Also eben nicht bloß etwas außerhalb meiner selbst. Etwa wenn wir beispielsweise davon so sprechen: ›dieses Tempo des Verkehrs‹, ›die Dynamik in der Arbeitswelt‹, ›diese eng getakteten Produktionsabläufe gesetzt durch die Technik‹, ›die Geschwindigkeit der Herstellung und Verteilung von Waren‹, ›die nie abreißende Flut der Nachrichten‹ u. ä. Von uns wird das im Übrigen schon im Alltag nicht nur wortwörtlich eingesetzt und wirklich gelebt. (Heute habe ich ›Termin-Druck‹ ; morgen aber ›gönne ich mir Ruhe‹ !) Sondern gebraucht als eine allgemeine Beschreibung für unser So-in-dieser-Welt-sein. Als ein Ausruf, angesichts einer von uns als bedrohlich empfundenen ›wesentlichen inneren Lebensverfassung‹. Fortwährend Umgestaltung, rascher Wandel, erlebte Haltlosigkeit; kurz, ›Veränderung als Prinzip‹ wird, paradox genug, zu einer ›Dauer-Erscheinung‹. – Die Lebenswelt »Die ganze Psychologie der modernen Unruhe ist erklärlich aus ihrer jähen Konfrontation mit der Raum-Zeit.« Das meint Teilhard de Chardin. (Der Mensch im Kosmos. (1959) München 1994. S. 231.)

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›Großstadt‹, so sagt man also durchaus zu Recht, sei wahrlich kein ›Ort der Muße‹, ›des Verweilens‹. Es fehle uns eben und irgendwie ganz grundsätzlich an Zeit; oder auch: ›wir nehmen sie uns nicht‹ ; wir kommen nicht zur Ruhe; kommen nicht, wie die Theologen gerne sagen, zur ›inneren Einkehr‹. Stattdessen ein von uns so gelebtes: rastloses, atemlos machendes Kommen und Gehen; und sprunghaftes Denken und Tun; wahrnehmen und vergessen und wahrnehmen und vergessen; – ein immer ›auf dem Sprung‹ sein (müssen). 73 Wir haben immer und immer wieder, so scheint es uns, noch etwas vor (uns), etwas nicht erreicht, einen ›Ausstand‹. Dass das die Langeweile gerade nicht ausschließt, sei eigens vermerkt. – Es drängt sich uns phänomenologisch immer wieder auf. Gleich aus welcher Perspektive wir unser Dasein reflektieren und entfalten. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist wirklich nicht ein bloß so und so bebauter, so und so organsierter ›Außen-Raum‹. Und vor allem auch nicht unsere mehr oder weniger (was immer das überhaupt heißen mag) ›defekte‹, ›krankmachende Umwelt‹. Ein Zeit-Raum, der also für seine ›soziale Berichtigung‹, ›ökologische Entwicklung‹, seine ›humane Begradigung‹ bloß diese oder jene ›stimmige Technik‹, ›hohe medizinische Standards‹ und (das alles steuernd) eine ›vernünftig-aufgeklärte Politik‹ brauche. – Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist unser wesentlich wirkliches, existentiell bestimmendes Da-und-So-in-der-Welt-sein. Unsere willkürliche und unwillkürliche sich entfaltende existentielle Lebensgestalt und Lebensgestaltung. Die Grundform unseres Daseins, (die Trennung zwischen ›innen‹ und ›außen‹ haben wir phänomenologisch ›zurückgelassen‹), die, ob wir im Alltag darauf aufmerken oder nicht, unser Existieren nun wesentlich-wirklich durchstimmt, ausrichtet und gestaltet (›Gestalt gibt‹). So lange wir leben, entkommen wir uns als Da-in-der-Welt-sein nicht! ›Wir sind selbst wesentlich unsere Lebens-Welt‹ ! – Wir versteigen uns nicht! Wir bleiben ausschließlich bei dem, was wir selbst ›reflektieren‹ ; selbst phänomenologisch ›schauen‹ und uns so ›wirklich vor Augen führen‹. Allerdings ist das, erinnern wir uns, nicht bloß ein unmittelbares Wahrnehmen. Wir ›schauen‹ Schon der Impressionismus versucht die Großstadt als schnelllebig gestaltete Oberfläche in eine künstlerische Form zu bringen. »Die Herrschaft des Moments über Dauer und Bestand, das Gefühl, dass jede Erscheinung eine flüchtige und einmalige Konstellation ist, eine dahingleitende Welle des Flusses, in welchem man nicht zweimal steigt, ist die einfachste Formel, auf die der Impressionismus gebracht werden kann.« (A. Hauser. Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. (Sonderausgabe) München 1973. S. 930.)

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möglicherweise deutlicher als wir ›sehen‹ ! – Um hier nun ein kleines Beispiel zu nennen. Unsere ›moderne‹ Lebensgestaltung verdichtet sich für uns phänomenologisch ganz augenscheinlich im ›Symbol‹ der ZeitMessung. Die Uhr, die der Großstädter als ›Reif‹, als Schmuck, als ›Merkmal‹, ›Klammer‹ und ›Fessel‹ um das Handgelenk trage, sei, so Richard Sennett, wesentlich Merkmal und Kennzeichnung seiner Zugehörigkeit zu unserer Lebenswelt und seiner (willkürlichen und ›unwillkürlichen‹) Unterwerfung unter ein damit verknüpftes Zeitsystem. 74 Er mag im Alltag darauf achten oder nicht. Lassen wir das damit auch phänomenologisch weitreichend Verbundene hier aber auf sich beruhen. – Reflektieren und schauen wir im Blick auf uns nun also so: Wieder drängt sich uns zunächst zwanglos und wie selbstverständlich psychoanalytisches Denken auf. Denken wir hier aber eben ausdrücklich nicht nur an Freud und seinen engsten Schülerkreis. Wieder sehen wir also unsere auffällige, unsere auch phänomenologisch bemerkenswerte Nähe der ›Tiefenpsychologie‹ zu unseren phänomenologischen Reflexionen. – Da sind beispielsweise (und für uns von besonderem Interesse) Gemeinsamkeiten bei der theoretischen und praktischen Konzeption für eine wesentlich wirklichkeitsgerechte Anthropologie. Vor allem sind es, in diesem Kontext, ›theoretisch-methodische‹ Gemeinsamkeiten, die für unser phänomenologisches Fragen nach dem ›Krank-Sein‹ von praktischer Bedeutung sein können. 75 – Das kann uns an dieser »Als man im 19. Jahrhundert begann, die Städte nach den Prinzipien eines unaufhaltsam um sich greifenden Raumgitters zu strukturieren, war die Zeit schon längst einem ähnlichen Prozess unterworfen; die Uhr hatte ein Gitter über die Zeit gelegt.« (Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt/M 1991. S. 227.); dazu auch Georg Simmel. »Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters pflegen so mannigfaltige und komplizierte zu sein, vor allem: durch die Anhäufung so vieler Menschen mit so differenzierten Interessen greifen ihre Beziehungen und Betätigungen zu einem so vielgliedrigen Organismus ineinander, daß ohne die genaueste Pünktlichkeit in Versprechungen und Leistungen das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen würde. Wenn alle Uhren in Berlin plötzlich in verschiedener Richtung falschgehen würden, auch nur um den Spielraum einer Stunde, so wäre sein ganzes wirtschaftliches und sonstiges Verkehrsleben auf lange hinaus zerrüttet.« (Die Großstädte und das Geistesleben. In: Das Individuum und die Freiheit. Berlin 1984. S. 195.) 75 Einer der ersten, der eine konstruktive Nähe zwischen Phänomenologie und TiefenPsychologie gesehen hat, war Ludwig Binswanger. Er entwirft den Begriff der ›psychopathologischen Phänomenologie‹. »Seiner Ansicht nach dürfe sich die Psychopathologie bzw. Psychiatrie durch die Anwendung der Methode der phänomenologischen Wesens74

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Stelle nicht mehr wirklich verwundern. Psychoanalytische und phänomenologische Reflexion des Daseins ›verweisen‹ also grundsätzlich aufeinander. ›Verweisen auch und nicht zuletzt wirklich praktisch aufeinander‹ ! Nicht mehr aber auch nicht weniger. – Denken wir hier in diesem Zusammenhang auch an Viktor von Weizsäcker. Zu Unrecht ist er heute nicht nur philosophisch weitgehend vergessen. Er hat sehr eigenständig und eigenwillig phänomenologisches Denken und psychoanalytische Modelle philosophisch und medizinisch überzeugend einander zugeordnet. Und sie so beide als philosophisch-anthropologische Theorie und psychiatrisch-therapeutische Praxis verstärkt. Seine anthropologischen Reflexionen und sein medizinisches Handeln waren ausgerichtet auf die Gestaltung einer biographisch orientierten, psychosomatisch fundierten, ›ganzheitlichen‹ Medizin. Er eröffnet damit (auch) eine existentielle Perspektive auf das Dasein Da-und-So-in-der-Welt-zu-sein. Sein Denken und Handeln entfaltete sich als eine ›philosophische Medizin‹. Von ihm auch ausdrücklich ›lebensweltlich‹ und ›existentiell‹ gedacht und gewollt! Das ›Kranksein des Menschen‹, so schreibt er, sei wesentlich eine Darstellung der immer gleichen alltäglichen Lebenskämpfe: ›um Brot‹ ; ›Familie‹ ; ›gesellschaftliche Stellung‹ ; ›sinnliche Befriedigung‹ u. ä. ›Der therapeutische Blick‹ habe dieses So-Da-sein als wirklich-wesentlich aufzuspüren. Also auch der Arzt dürfe dieses, den ›Krankheiten des Mensch-seins‹ gemeinsame, ›ontologische Fundament‹ theoretisch und praktisch nicht unberücksichtigt lassen. 76 Kranksein sei ›existentiell‹ zu lesen als »ein Rückzug von unserem allgemeinen Bewusstsein auf unsere leibliche und unbewusste Existenz.« – Nähme der Medizinbetrieb (beispielsweise die Psychiatrie) das ernst, hätte das tiefgreifende therapeutische Konsequenzen. Zu verändern wäre schon der ›klinische Blick‹. Sagen wir es existenzphilosophisch verdichtet so: ein Perspektivwechsel sei einzuleiten: vom ›man zum selbst‹ ! 77 – schau eine Klärung und Reinigung ihrer Grundbegriffe erhoffen. Eine Wissenschaft könne ihr Vorgehen nur dann sinnvoll ausdifferenzieren, wenn sie ihre eigenen Begriffe soweit als möglich gereinigt und in ihren Beziehungen auf das ihnen zugrunde liegende Material geklärt habe.« (Torsten Passie. Phänomenologisch-Anthropologische Psychiatrie und Psychologie. Stuttgart 1995. S. 35.) 76 Diesseits und Jenseits der Medizin. Arzt und Kranker. Stuttgart 19502. S. 126 ff. 77 Dass die medizinische Theorie und Praxis wieder vom ›Selbst zum Man‹ drängt, kann nicht übersehen werden. – Aber auch das ergibt phänomenologisch Sinn. Denken wir in diesem Zusammenhang an die Entdeckung des ›kranken Menschen‹ als ›Kunden‹. Das

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Wir sehen nun darin keine Form eines (nennen wir es) ›medizinisch metaphysischen Individualismus‹. Sondern für uns ist das ausdrücklich eine ›medizinisch-anthropologische Vorlage‹ für unsere phänomenologische Reflexion der Reflexionen unseres Da-und-So-Seins. – Phänomenologisch folgerichtig ist jetzt (auch aus der Perspektive dieser ›philosophischen Krankheitslehre‹) die Reflexion der Reflexionen der ›Not der Zeit‹. Sie mag gedacht, gefühlt, erfahren oder, wie auch immer, sogar ›bloß‹ erfunden sein (›ich weiß wirklich nicht von was du sprichst‹). Wir reflektieren diese so oder so ›bebilderten‹ oder ›begriffenen‹ oder ›gefühlten‹ Vorstellungen in jedem Fall als uns phänomenologisch existentiell ansprechende, also als konstitutive SelbstGestaltungen, als Welt-Entwürfe: So-Da-in-unserer-Welt-zu-sein. Das sind ›theoretische‹ Perspektiven mit praktischen Konsequenzen. Es wirkt sich aus, ob darauf zuerst und zumeist ausdrücklich geachtet wird oder nicht. Es sind also anthropologische Hin-Sichten mit einer ›konstitutiven Potenz‹ für unser Krank-sein oder ›Gesund-sein. – Auch für diese phänomenologische Reflexion der medizinischen Reflexionen bemühen wir keine ›idealistischen Hinterwelten‹. (Die eine naturwissenschaftlich orientierte Medizin und Psychiatrie unter ›Immunisierungsstrategie‹ ablegen könnte.) Aber wir lassen uns ganz unabhängig davon darauf nicht ein: weil die durch uns so wahrgenommenen (und geschauten) Phänomene selbst wirklich unseren Blick, unseren ›philosophischen Einsatz‹ begrenzen. – Sehen wir also phänomenologisch auch hier ›nur‹ auf uns selbst und unser Schauen. Und sehen dabei unserem Schauen Schauen selbst wiederum zu. – Der Mensch als Dasein gestaltet sich nie anders als ›konkrete Befindlichkeit‹. Dazu gehört, dass er sich immer wirklich leibhaft ›wo‹ befindet (wie auch immer); und dass er immer in und mit seiner Lebens-Welt da-ist. Also als einer, der eben wesentlich wirklich So-Da-in-der-Welt-ist. Da-ist nun Krank-Sein eines Menschen als ›Symptom‹. ›Krankheit‹ und ›Gesundheit‹ als ›Ware‹, als ein geldwertes Gut. (Sicher etwas uns auch aus der Geschichte vertrautes.) David Morris (beispielsweise) stellt lapidar fest: Der Schmerz sei nun auf dem Markt angekommen. (Geschichte des Schmerzes. Frankfurt/M 1994. S. 371.); schon Gottfried Benn beschreibt das so: »Da sitzen die modernen Napoleons: die Hygieniker, Röntgenologen, Statistiker, und überschauen die Armeen: die Herzen sind früh abgenutzt: die Kriege, die Krisen, die Valutabaissen; der Blutdruck allgemein erhöht, Tonus der gereizten und gespannten Masse –: Sechs neue Institute mit zwei Millionen Dollar Forschungsquote zur Stützung des Kreislaufs und der Gefäße verzinst sich bei Hinausschiebung der Arbeitsunfähigkeit um durchschnittlich zehn Tage volkswirtschaftlich mit vier Prozent.« (Irrationalismus und moderne Medizin. GW 3. S. 709.)

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wesentlich ein leibhaft So-Da-sein. Nie bin ich reiner Geist, bloße Seele; ich-bin-da, eben mit diesen oder (und) jenen phänomenologisch wahrnehmbaren und beschreibbaren Modi. – Beispielsweise eben ›Da‹ als ›krank-sein‹ ; als Einer, der sich ›krank-fühlt‹, oder als ›krank‹ angesehen wird (›ich sehe es dir an, dass du krank bist‹ ; ›dein Verhalten ist krank‹). Diese Befindlichkeiten eines Daseins wie: ›krank- oder unwohl-sein‹, sich ›matt-fühlen‹, ›fiebrig-sein‹ oder schon überhaupt und anthropologisch ganz grundsätzlich ›krank-sein-zu-können‹, sind philosophisch existentielle Modi. – Krank-sein wird von uns nun phänomenologisch eingeführt als ›existentielle Regel‹. Eine ›existentielle Regel unseres So-Da-seins‹. Und so nicht entworfen als ›die‹ Ausnahme einer Regel. – ›Krank-sein‹ ist also phänomenologisch geradezu ein unspektakulärer, alltäglicher Modus unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. 78 – Auffällig ist hier die ›theoretische‹, vor allem aber auch wiederum eine ›praktische therapeutische‹ Nähe zwischen phänomenologisch und psychoanalytisch anthropologischem Denken. 79 – In der Psychoanalyse wird, um nur auf eines hinzuweisen, aus nachvollziehbaren Gründen bestritten, dass eine strenge Grenzziehung zwischen ›gesund-sein‹ und ›krank-sein‹ überhaupt möglich sei. 80 Dass ist alles andere als eine Petitesse. Jeder Hierher gehört im Übrigen auch das ›Sterben‹ als ›natürliches Verenden‹. Auch Heidegger und Freud lassen sich in denselben Horizont einstellen. Schon die Sorge um sich selbst als wirkliche Möglichkeit setzt im Grunde Freiheit eines Da-seins voraus. Also ein immer mögliches sich selbst reflektieren könnendes Da-und-So-in-derWelt-sein. Dem Dasein geht es schließlich und endlich immer, willkürlich und unwillkürlich (was immer es tut), um sein Sein(können). Das Dasein habe, so Heidegger, sein Sein nicht nur ›vor Augen‹, sondern auch ›in der Hand‹. Es könne sich so oder so zu seinem Sein verhalten. »Das Dasein ist als existierendes frei für bestimmte Möglichkeiten seiner selbst« (Die Grundprobleme der Phänomenologie. Frankfurt/M 19973. S. 391.) – Das ist für Freud und all jene, die ihm folgen, geradezu eine beredte ›philosophische Naivität‹. Eine Rechnung ohne den entscheidenden ›Wirt‹ – nämlich das ›Unbewusste‹. 80 Vgl. z. B. »Die Schizophrenie als das Phänomen der Gespaltenheit und des Selbstwiderspruchs wird heute nicht nur für den Bereich des Abnormen in Anspruch genommen, sondern in die menschliche Sphäre überhaupt übertragen. In einem solchen Verständnis wird die schizophrene Haltung zu einer Grundkategorie heutigen menschlichen Verhaltens und damit für das Selbstverständnis des modernen Menschen. Die Diskontinuität als die Zusammenhangslosigkeit der Dinge, die moderne ›Momentanität‹, erfährt das Innen und Außen in einer radikalen Isolation gespalten (…).« (Richard Schwarz. Probleme der menschlichen und geschichtlichen Existenz in der modernen Welt. In: Menschliche Existenz und moderne Welt. Teil II. Berlin 1967. S. 651.) 78 79

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Mensch schlage sich – und wer möchte das (mit Blick auf sich selbst) ernsthaft bestreiten – mehr oder weniger mit eigenen ›neurotischen Problemen‹ herum. Anzeige eines ›Krank-seins‹, ob ein Mensch das nun wahrhaben will, sich so eingeordnet wissen möchte oder nicht.« 81 Darauf werden wir noch genauer zurückkommen. – Bleiben wir also weiterhin strikt ganz bei uns! Und lassen wir uns von umlaufenden medizinischen Selbstverständlichkeiten nicht irritieren. – Als erstes drängt sich uns phänomenologisch diese (nicht nur begriffliche) Unterscheidung zwischen ›Krank-sein‹ und ›Krankheit‹ auf. Das benennt eine wesentlich existentielle Differenz! Sie ist nicht erkünstelt, philosophisch erfunden, eine bloße Konstruktion von Begriffen. Dieser Unterschied wird von uns phänomenologisch wirklich erschaut. ›Krank-sein‹ reflektiert sich uns als unser (›dein‹ und ›mein‹) ›existentieller Modus‹. Zeigt sich also als eine wesentliche Bestimmung (›wirklich wahrgenommen‹) unseres So-Da-zu-sein. – ›Krankheit‹, im Unterschied davon, ›begreifen‹ wir als ›konstruktive Zusammenfassung‹ oder ›Verdichtung‹, als (im Übrigen durchaus sinnvolle) Versuche medizinisches Vorstellen zu ordnen, ein Gestalten zielführender klinischer Kommunikation oder pragmatischen Begreifens, diagnostisches Zuschreiben u. ä. 82 Mit einem Satz: ›Krankheit‹ wird von uns phänomenologisch begriffen und eingeführt als ein ›wissenschaftlicher (klinischer) Reflexionsgegenstand‹. – Die Medizin als theoretische und praktische Wissenschaft hat nun, ob gewollt oder auch nicht, nicht das ›Krank-sein‹ im Blick. Sie beschäftigt sich wie selbstverständlich mit einem (mit ihrem) ›Reflexionsgegenstadt‹ ; also mit einer ›Vorstellung zweiten Grades‹. 83 Diese wissenschaftlichen Vorstellungen von ›KrankThomas Leithäuser. Individuum und Weltanschauung. Ein Beitrag zur psychoanalytischen Massenpsychologie. In: Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen Verstehens. Alfred Lorenzer zum 65. Geburtstag. Herausgegeben von Jürgen Belgrad. Frankfurt/M 1987. S. 167. 82 Radikal gefasst von den systemisch-konstruktivistisch arbeitenden Therapeuten. Beispielsweise Gunther Schmidt. »›Krankheit‹ wird, insbesondere auch psychische und psychosomatische, (…) nicht als ›wirklich wahres‹ Phänomen angesehen, sondern ebenfalls als Konstrukt.« (Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg 20124. S. 22.) 83 Vgl. dazu Hans Wagner. Innerhalb der Wissenschaften werden nicht nur »Erkenntnisse (oder was man jeweils dafür hält) erzeugt und gewonnen, diese werden vielmehr, sobald sie erzeugt und gewonnen sind, nicht gerade systematisch zwar, aber vielfach doch auch methodisch zu Reflexionsgegenständen gemacht: durch Kenntnisnahme, Stellungnahme, Übernahme oder Kritik, Korrektur u. ä. (…). Dass in erkenntnistheore81

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heiten‹, so Medard Boss, seien »eine Abstraktion, die von den einzelnen Weisen menschlichen Krank-Seins abgezogen« worden sind. 84 – ›Krank-sein‹ ist für den medizinischen Betrieb, für die medizinische Forschung, leider auch für das pflegerische Tun, weder eine bestimmende theoretische noch eine praktische Herausforderung. Diese für uns phänomenologisch wesentliche Differenz zwischen ›Krank-sein‹ und ›Krankheit‹ bleibt sogar philosophisch weitgehend unbeachtet. Der Arzt mitsamt des medizinischen Betriebs richtet sich nicht auf das ›Krank-sein‹ als das uns unbedingt existentiell zugehörige. Es wird, und das kann also gar nicht anders sein, wirklich übersehen. Ist für diese Hin-sicht eben wirklich nicht da! Der intentionale Strahl, die ›professionelle‹ Aufmerksamkeit des ›naturwissenschaftlich eingestellten Mediziners‹ ist bei seinem wissenschaftlich vorgeschriebenen Phänomen ›Krankheit‹. – Mit dieser medizinisch und philosophisch verbreiteten Gleichsetzung von ›Krank-sein‹ und ›Krankheit‹ scheint nicht nur eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch ›beeindruckende Herausforderung‹ für eine medizinische Anthropologie auf; sondern darüber hinaus eine anthropologische, existentiell beunruhigende Spannung. 85 – Vor allem sie ist in unserem Blick und gibt uns phänomenologisch zu denken. Wieweit diese ›Einseitigkeit‹ in der medizinischen Forschung Sinn ergibt oder gar ›notwendig‹ ist oder eben nicht, ist im Übrigen nicht entschieden. Das mag den einen oder anderen angesichts der medizinischen Erfolge etwas verwundern. – Wie auch immer! Eines gilt für uns als gesetzt: Unser ›Krank-sein‹ ist ein Krank-sein in und mit der Lebenswelt ›Großstadt‹. Die Zusammenstellung ›Großstadt und Krankheit‹ ist uns (wiederum auch aus der Literatur) vertraut. Dafür braucht es zunächst keine phänomenologischen Reflexionen. – ›Großstadt und Krankheit‹ ruft also, vorgestellt in tischer Unreflektiertheit, Wissenschaftler bei solchem Tun zuweilen wieder nur eine, obzwar andere, Beschäftigung mit dem ursprünglichen Gegenstand sehen möchten, ändert nichts an der wirklichen Sachlage, dass, zwar gewiss im Blick auf jene ursprünglichen Untersuchungsgegenstände, das Objekt solcher Beschäftigung die Erkenntnisse sind, dass es sich um eine Beschäftigung in der Weise der Reflexion handelt.« (Die Würde des Menschen. Würzburg 1992. S. 152.) 84 Grundriss der Medizin und Psychologie. Bern. Göttingen usw. 19993. S. 524. 85 Das setzt sich ausdrücklich nicht als ›Medizin(er)-Schelte‹. Ob es überhaupt möglich wäre, den Medizinbetrieb, das Gesundheitswesen, einschließlich der medizinischen, pflegerischen Ausbildungsgänge, anders zu gestalten, lassen wir hier auf sich beruhen.

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dieser Allgemeinheit, weder in der medizinischen Theorie noch in der alltäglichen Praxis große Verwunderung hervor. In der Großstadt, so weiß es beispielsweise die Literatur seit dem 19. Jahrhundert, finden sich qualvolle Enge, Unrat und Schmutz. 86 Bilder von dunklen, stickigen, lebensfeindlichen Räumen werden vorgeführt und steigen in uns auf. 87 Die Großstadt also als ›etwas‹ nicht dem Wesen, der Eigentlichkeit des Menschen Gemäßes. Etwas seinem Dasein sogar grundsätzlich Abträgliches. Dem ›Humanen‹ abträglich, destruierend – somatisch, psychisch und seelisch! 88 So werden beispielsweise Hektik und Lärm von Beginn an als wirklich krankmachende Merkmale großstädtischen Lebens benannt. Sie seien, so schreibt man schon im 19. Jahrhundert, die Ursache, der schon alltäglichen, als ›krankhaft‹ (als nicht ›normal‹) gewerteten ›Ruhelosigkeit‹, dieser für jedermann augenfälligen Zunahme der ›Nervosität des großstädtischen Menschen‹. – Das sind kritische Beschreibungen, auch Selbstzuschreibungen (einschließlich oft unausgesprochener) ›anthropologischer Modelle‹, zu denen wir keine medizinische Diagnostik brauchen. Vorgestellt mit uns verständlichen, auch heute noch vertrauten Metaphern. Unsere eigenen leibhaften Erfahrungen stehen dafür. Also begründet starke Wertungen. – Das WeBeispielsweise schon in den Romanen Charles Dickens’. (Z. B.) »Abscheuliches Novemberwetter. Soviel Schmutz in den Straßen (…). Der Rauch senkt sich von den Schornsteinen nieder, ein dichter schwarzer Regen von Rußbatzen, so groß wie ausgewachsene Schneeflocken, die in schwarzen Kleidern den Tod der Sonne betrauern wollen. (…). Nebel stromab, wo er sich schmutzig zwischen Reihen von Schiffen und den Uferunrat der großen, unsauberen Stadt durchwälzt.« (Bleakhaus. Ins Deutsche übertragen von Gustav Meyrink (1910). Zürich 1984. S. 9.) 87 »Das Wort ›Stadt‹ selbst ist zu einem Sammelattribut geworden für Unüberschaubarkeit und Wucherung, Masse, Lärm, Schmutz, Smog, Volksreden, Überbevölkerung, Hektik, Kommerzialisierung, Entfremdung, Entwurzelung, Anonymität, Funktionalisierung, Zersplitterung, Chaos, Prostitution, Rauschgift, Künstlichkeit, Ersatzbefriedigung, Bürokratisierung, Mechanisierung, Intellektualisierung, Moden – kurzum alles Perversionen eines unterstellten gesunden Naturzustandes: einfach, direkt, sauber, gesund, überschaubar, eben die befriedete Natur. (Eike Gebhardt. Die Stadt als moralische Anstalt. In: Klaus R. Scherpe (Hg.) Die Unwirklichkeit der Städte. Reinbek bei Hamburg 1988. S. 280.) »Dem TB-Patienten glaubte man durch einen Ortswechsel helfen, ja ihn kurieren zu können. Es gab die Anschauung, TB sei eine nasse Krankheit, eine Krankheit der feuchten und naßkalten Städte.« (Susan Sontag. Krankheit als Metapher. Frankfurt/M 1981. S. 19.) 88 Die Geschichte der Seelsorge in der ›großen Stadt‹, die Sorge um das Seelenheil des großstädtischen Menschen (der fremde Handwerkergeselle, der Mensch als Arbeiter, als Arbeiterin, als ›das gefallene Mädchen‹ usw.) wäre ein eigenes Thema. 86

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sen der modernen Großstadt sei also, so wird damals wie heute gefolgert, dem Wesen des Menschen grundsätzlich feind. 89 Durch diese so selbstverständlich gesetzte Bildersprache, durch diese medizinischen Zuschreibungen: (beispielsweise) ›krank‹, ›gesund‹ oder Fieber, Geschwür, Krebs u. ä., beschreiben, begreifen und entwerfen wir aber uns selbst mit als lebensweltlich so eingestelltes, so bestimmtes, sich so vorfindendes So-Da-sein. – Schauen wir hier phänomenologisch noch etwas näher hin. Im Blick bleibt unser uns auch unwillkürlich (bis in unsere Sprache hinein) bestimmendes Selbstverständnis von Krank- und Gesund-Sein. Die phänomenologische Reflexion von Krank- und (nicht ›oder‹) GesundSein entfalten wir entlang der anthropologisch wesentlichen Potenz der existentiellen Intentionalität. Diese für uns ›repulsive‹ Intentionalität setzten wir als Gestalt und Gestaltung, Form und Formung der Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie reflektiert uns also als Dasein, das sich selbst, auch unwillkürlich, als Da-und-So-in-dieser-Welt-sein erfährt. Unser sich phänomenologisch so reflektierendes, eigensinniges In-derWelt-sein, vorgestellt als ›intentionale Grundleistung‹, ist im Grunde eine philosophische Variation eines ›menschheitlichen Grund-Themas‹. 90 Und trotzdem (vielleicht gerade deswegen): ist unser wesentlich wirkliches So-Da aber auch phänomenologisch nicht ohne weiteres zu fassen. – Beispielsweise etwa so: Zu denken wäre dabei sicher an etwas anthropologisch wesentlich Fundamentales; auch Unwillkürliches. Also wesentliche Muster oder Gestalten, die sich uns nun ›ganz plastisch‹ ausdrücklich als lebensweltlich großstädtisch wirklich zeigen, sich so ›reflektieren‹. Und auf diese wirkliche Weise, in dieser wirklichen Form, mit diesen wirklichen Gestaltungen nun phänomenologisch ›konstituiert‹ werden. Ausdrücklich – weder eingeengt auf empirischneurobiologisch fassbare Schemata noch auf bloß metaphysisch überlegte, als ›absolut gedachte, unwirkliche‹ Formen (›hoch vom Himmel komme ich her‹). Es sind Phänomene, die sich uns nie anders als ›unseVgl. Alexander Mitscherlich. »Es könnte sein, dass die Struktur dessen, was wir gewohnheitsmäßig noch Stadt nennen, sich so verändert, dass sie kein Biotop mehr für freie Menschen ist, sondern eine soziale Umwelt, aus welcher, wie früher aus den natürlichen, unbegreifliche Katastrophen – Kriege statt Seuchen – hereinbrechen. Die große Arbeitslosigkeit, die ideologische Sturmflut des Nazismus und Faschismus waren solche Katastropheneinbrüche aus dem Milieu der technischen Massengesellschaft.« (Die Unwirklichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt/M 1965. S. 26 f.) 90 Dazu (beispielsweise) Erwin Straus (1956). S. 341. 89

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re wirklich wesentlichen‹ zeigen. Sich also nur so ausdrücklich als ›lebensweltlich da‹ vorführen oder äußern, uns sich uns so zeigen. Also sich uns nur vorstellen als Gestaltungen unseres ›So-Da‹. – Denken wir (wiederum nur beispielsweise) an die in der medizinischen Anthropologie immer wieder diskutierten ›phasisch-rhythmischen Lebenserscheinungen‹. Phänomenologisch als unsere anthropologischen Grund-Muster einsichtig, wahrnehmbar, zu erschauen: an all diese so selbstverständlich wirkenden Formen, Gestaltungen und Formungen unseres So-in-der-Welt-seins. Von uns erfahren als Widerfahrnisse oder als Handlungen. Ganz willkürlich nennen wir: Schlaf, Sexualität, das Wollen (als Begehren) von diesem oder jenem, Hunger, ›weiblicher Zyklus‹ u. ä. Das sind offensichtlich durchaus ›archaisch‹ zu nennende Phänomene. ›Gestalten‹, die sich aber nur innerhalb einer konkreten Lebenswelt als wesentlich (›so‹) verwirklichen können. Das Wesentliche ›zeigt und gestaltet‹ sich eben als wesentlich immer (notwendig) wirklich wirklich. Das ist unsere uns zustehende wesentlich lebensweltliche Wirklichkeit: unser Da-und-So-zu-sein. Sie lässt sich als diese unsere ›existentielle Gestalt‹ und ›wesentlich zeitliche Gestaltung‹ phänomenologisch ›selbst‹ so wahrnehmen. Nur so als ›für uns‹ und uns zugehörig überhaupt einzusehen. – Und nicht zuletzt ›erfahren‹ und ›vorgestellt‹, und damit kommen wir auf einen bestimmten Gedanken zurück, durch die existentielle Fassung der, zuerst und zumeist so selbstverständlichen, (so genannten) ›Rhythmik der Großstadt‹. Phänomenologisch ›etwas‹ selbstverständlich von uns geschaut und ›reflektiert‹ : und zwar als unsere leibhaft fundamentale Intentionalität. – Das braucht nun gerade auch hier unsere Aufmerksamkeit. Diese gelebte (so genannte) ›Rhythmik der Lebenswelt Großstadt‹ drängt sich nämlich in unserem existentiellen Modus ›Krank-Sein‹ als wirkliche Möglichkeit unserer anthropologischen Gestalt unübersehbar nach vorne. – Das Dasein, zunächst gleich ob es sich als gesund oder krank denkt, gibt sich selbst auf diese Weise, in dieser Formung einer grundsätzlich rhythmisierten Welt-habe, willkürlich und vor allem auch unwillkürlich Gestalt. Es ordnet so unterschiedliche Möglichkeiten So-Da-zu-sein als seine und unsere existentiell wesentliche Wirklichkeit. Das ist ein Hierarchisieren, Ein- und Ausgliedern, Verdrängen, Werten, Begreifen usw. Es legt also, ob es darauf aufmerkt oder nicht, damit zugleich seine Lebenswelt als ›verstehbare‹ Gestaltung aus. Kurz, es denkt, reflektiert und versteht sein Da-und-So-in-derWelt-sein selbstverständlich ›wesentlich praktisch existentiell‹. – Phä247 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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nomenologisch reflektieren wir uns als wesentlich-wirkliches Dasein (als Da und So). Ein Da, das sich in und mit diesem wirklich-leibhaften Selbstverständnis, unserer leibhaften Ordnung, so oder so, aber immer notwendig als Welt-Sein ›befindet‹ und ›befindlich gestaltet‹. – Das darf nicht als ›platter Naturalismus‹ abgetan werden! Auch unser ›Sosein‹ wird also ›existentiell‹ eingeführt als eine uns ›bewegende‹, uns wirklich wesentlich bestimmende, konstitutive Potenz. – Auf eines möchte ich noch einmal im Besonderen aufmerksam machen. (Wir haben nie versäumt es in den Blick zu nehmen.) Diese von uns als konstitutiv gesetzten Beschreibungen: ›So-Da-in-derWelt-zu-sein‹ sind phänomenologisch nicht einer bloß theoretisch wissenschaftlichen Absicht geschuldet. So als setzten wir damit ein mögliches ›stimmiges Muster‹, ein ›sinnvolles Erklärungs-Modell‹ und befriedigten so unsere wissenschaftliche Neugierde. Also als seien wir bloß theoretisch interessierte ›professionelle Zuschauer‹. – Wir Phänomenologen denken ›existentiell-praktisch‹ ; positionieren uns also aus philosophisch nach-vollziehbaren Gründen nicht nur ›theoretisch‹ so. Unser bisheriges (gemeinsames) Arbeiten sollte das hinreichend vorgestellt haben. Wir selbst sind hier, vor allem hier, von uns selbst her wirklich wesentlich praktisch gefordert. – Das berührt beispielsweise, und schon allein das ist eine existentiell drängende SelbstHerausforderung, ganz wesentlich Fragen einer ›Phänomenologie des Leib-Seins‹. Wir mühen uns ›anthropologisch‹ von Anfang an wirklich um unser wirkliches Da-und-So-in-der-Welt-sein. Das fordert phänomenologische Reflexionen auch als ausdrücklich ›praktisches Fundament‹. Die, so setzen wir es, im Übrigen als diese existentiellen Reflexionen der Reflexionen, nicht weiter sinnvoll ›hinter-dacht‹ werden können. – Wir sind also existentiell interessiert und so ›für uns praktisch‹ engagiert! Die Wissenschaften, die Kunst, die Literatur, um von der Theologie wiederum ganz zu schweigen, sind im Grunde lebensweltliche Gestaltungen dieser ›unserer anthropologischen‹ Anlage. So oder so: Es bewegt uns also wesentlich ›praktisch existentiell‹ ! – Man sollte meinen, auch das kann den ernsthaft Philosophierenden gar nicht verborgen bleiben. Und doch ist dieses Es (›geschieht ganz unwillkürlich‹) für uns zuerst und zumeist mit seinem wirklichen Wesen verstellt. Schon unsere für uns grundlegende existentielle Ordnung, ›im Grunde‹ verzweifelt und reflexiv So-Da-zu-sein, wird naturalistisch oder idealistisch ›eingeholt‹ und so ›verdeckt‹. Und (sagen wir es so) auf 248 https://doi.org/10.5771/9783495808085 .

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diese Weise: wissenschaftlich, theologisch und philosophisch ›dissoziiert‹. Beispielsweise schon durch das in der philosophischen Regel hingenommene, ontologische und anthropologische ›dualistische Modell‹ einer Subjekt-Objekt-Trennung. – Lassen wir uns also auch hier nicht durch diese oder jene Vorurteile, auch nicht durch die der eigenen ›großen‹ Tradition entnommenen, den Blick auf unser wirkliches Dasein mit seinen ihm wesentlich zugehörenden Modi verstellen (auf unser So-in-der-Welt-sein). – Mit diesem phänomenologischen Verständnis schauen wir also auch auf die historischen weltanschaulichen Grundlagen der neuzeitlichen Medizin und Psychologie. Gerade diese Reflexion der Geschichte der neuzeitlichen Medizin deckt einen ihr zugehörigen philosophischen Zusammenhang auf. Und damit auch die (oft impliziten) wissenschaftlichen Stärken und anthropologischen Schwächen der ›modernen Medizin‹. Im Übrigen bewegen wir uns hier auf historisch gut ausgeleuchteten Wegen. Etwa so: Die philosophischen Grundlagen für unsere medizinische Weltsicht liefere, so eine verbreitete Lehrbuchmeinung, Descartes. 91 Im Besonderen seine, wissenschaftsgeschichtlich so folgenreiche Trennung zwischen ›res extensa‹ und ›res cogitans‹. 92 Und in der Tat, historisch gibt es hier kaum einen Zweifel. Das 17. Jahrhundert ist insgesamt und ganz allgemein, im Besonderen aber für die Medizingeschichte und ihre Gestaltung anthropologischer Modelle des Krankoder Gesund-seins bedeutsam und folgenreich. Folgenreich und bedeutsam bis auf den heutigen Tag! Zu Recht wird hier sogar von einem Z. B. G. Kienle: »Das Denkmodell von Descartes hat einen so hohen Grad von Verbindlichkeit in der Medizin erlangt, dass der Wissenschaftscharakter eines Arztes sich geradezu an dem Grade seiner Zustimmung zu diesem Modell messen lässt.« (Das Paradigma in der Medizin. In: Pluralität in der Medizin. Der geistige und methodische Hintergrund. Bericht über ein Symposion der Medizinisch Pharmazeutischen Studiengesellschaft. Frankfurt/M 1980. S. 11.) Dazu auch Edgar Heim: »Die Krise der modernen Medizin ist äußerlich zwar vor allem durch die ökonomische und räumliche Wucherung ihrer Gebilde charakterisiert. Im tiefsten Grunde wurde sie aber schon im Mittelalter angelegt, als die Kirche der Wissenschaft den Körper überließ und für sich die Seele beanspruchte. Diese kartesianische Spaltung ist bis heute verantwortlich, dass das einseitig reduktionistische Denken des naturwissenschaftlichen Ansatzes nicht überwunden werden konnte und die psychischen und sozialen Prozesse im medizinischen Alltag wesentlich vernachlässigt werden.« (Krankheit als Krise und Chance. Stuttgart. Berlin 1980. S. 9 ff.) 92 »Und wenn ich vielleicht (…) einen Körper habe, der mir sehr eng verbunden ist, so ist doch (…) so viel gewiss, dass ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann.« (VI. Med.) 91

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›medizinischen Paradigmenwechsel‹ innerhalb unserer abendländischen Geschichte gesprochen. Ein auch wissenschaftstheoretischer Paradigmenwechsel, der die ›philosophische Aufklärung‹ mit grundiert. Also damit weit über die Medizin hinaus bestimmend geworden ist. – Schon die Fragestellungen, die Suchbewegungen der Wissenschaften verändern sich in der Folge (nach und nach) sehr grundsätzlich. Verbunden damit, und es kann ›praktisch‹ gar nicht mehr anders sein, eine ›horizontale‹ Neuausrichtung auf ›kritische‹ Erkenntnistheorie und ›wissenschaftlich fundierte‹ Anthropologie. Lassen wir hier die metaphysischen und theologischen Rückzugsgefechte unberücksichtigt. 93 – Gefragt wird zunehmend nicht mehr vorrangig, ›warum‹ etwas sei. Nicht mehr nach einem, nach dem metaphysisch letzten Grund. Gefragt wird nun nach dem, ›wie‹ etwas geschieht, zustande kommt, funktioniert. ›Wie‹ es sich ausbildet, ›wie‹ es für uns, auch auf welche Weise es wirksam wird; also Gestalt annimmt und, wenn möglich, ›repariert‹ werden kann. – Kurz, gesucht werden ›fassbare, nach-vollziehbare Kausalreihen‹. 94 Wobei die Rede vom: ›cartesianischen Denken‹ oder von ›cartesianischen Methoden‹, zumindest mit Blick auf die medizinische Anthropologie, sowieso eher als ›Überschrift‹ zu nehmen ist. Eine Überschrift, unter der sich (zumindest im Blick auf unsere medizinisch-anthropologische Fragestellung) eine Vielzahl von Namen sammeln lässt. Und das ist bezeichnend. Namen eben nicht mehr nur von ›Philosophen‹. Beispielsweise bekannte Namen wie Pierre Gassendi, Robert Boyle; aber auch weniger geläufige, medizin-historisch aber sehr bedeutsame wie (um nur einen zu nennen) Giorgio Baglivi (1668–1707). 95 – Nur am Rande. Das alles lesen wir auch als Bestätigung für unser phänomenologisches Selbstverständnis. Dass also eine existentielle Phänomenologie nie und nimmer Form, Gestaltung oder eine Neuauflage eines Cartesianismus sein kann. Etwa eine Art ›NeuCartesianimus‹ ; oder allgemeiner, eine ›Spielart irgendeines neuzeitlichen Idealismus‹. 96 (Eigenartigerweise ein, nach wie vor, auch unter Phänomenologen verbreitetes Verständnis der Phänomenologie.) – Wobei die (etwas unterschätzte) ›Romantische Naturforschung‹ eigens vorzustellen wäre. 94 Vgl. z. B. Heinrich Rombach. Substanz. System. Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft. Freiburg/ München 1965. 95 Z. B. Die Geschichte der Medizin im Spiegel der Kunst. Köln 1980. 96 Eine sehr beredte Notiz von Helmuth Plessner. Als Husserl und ich, so schreibt er, 93

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Ein Leit-Gedanke (der diese neuzeitliche Medizingeschichte ›spiegelt‹) bestimmt, so scheint es, geradezu wie selbstverständlich auch heute noch das alltägliche Handeln der Ärzte. 97 Er bestimmt (schon) ihren ›diagnostischen Blick‹ und gestaltet die ›Praxis der Krankenhäuser‹, der Kliniken und der Gesundheitsverwaltungen. Kurz, er gilt als gültig wie ein ›medizinisch anthropologisches Apriori‹. ›Krankheiten‹ seien im Grunde vor allem ›objektive‹ wissenschaftliche Herausforderungen für eine ›sehr eng arbeitende‹ Pharmakologie und Medizintechnik. Seien also diesseits jeder philosophischen Anthropologie bloß ›sehr komplexe naturwissenschaftliche und technische An-Fragen‹. 98 Die ›Diagnose‹ dementsprechend ein ›Registrieren‹, eine ›zusammenfassende Benennung‹ eines (im weitesten Sinne) körperlichen oder seelischen Schadens, eines (hoffentlich) mehr oder weniger reparablen ›Defekts‹. 99 Die ›Therapie‹ folgerichtig idealerweise eine zielgerichtete »einmal zusammen vom Seminar nach Hause gingen und vor seiner Gartentür angelangt waren, kam ein tiefer Unmut zum Ausbruch: Mir ist der ganze deutsche Idealismus immer zuwider gewesen. ›Ich habe mein Leben lang‹ – und dabei drückte er seinen dünnen Spazierstock mit silberner Krücke und stemmte sich vorgebeugt gegen den Türpfosten – ›die Realität gesucht‹. Unüberbietbar plastisch vertrat der Spazierstock den intentionalen Akt und der Pfosten seine Erfüllung.« (Husserl in Göttingen. In: Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie. Düsseldorf/Köln 1966. S. 154.) 97 Lassen wir die ›Sonntagsreden‹ der ›Medizin-Funktionäre‹ und der Politiker hier unberücksichtigt. 98 Der ›Phänomenologie‹ Viktor von Weizsäcker weist hier aber auf etwas für uns Wesentliches, etwas unsere Anschauung ›Tragendes‹. Dieses Gebäude der Medizin und Biologie stehe trotzdem »fest auf einem Unterstock von Begriffen, welche sie ausnahmslos aus einer dem Geist exakter und mathematischer Wissenschaft grundfremden Sphäre entnommen haben. Ich erinnere nur an den Begriff des Lebens selbst; an Begriffe wie Lähmung, Erregung, Ermüdung, Umstimmung, Anpassung, Willkür, Beseelung, Vererbung, Verwandtschaft, Krankheit, Tod und unzählige andere.« (Zum Begriff der Krankheit. In: Natur und Geist. Begegnungen und Entscheidungen. Gesammelte Schriften I. Frankfurt/M 1986. S. 481.) 99 Besonders im Blick auf die ›anthropologische Wirklichkeit des Schmerz-Empfindens‹. (Vgl.) »Die weitreichende kulturelle Verschiebung, die der Geschichte vom Schmerz ihre verdeckte Handlung gibt, konzentriert sich auf die Abschaffung des Sinns durch die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Die großen Durchbrüche in der Anatomie und Physiologie von Bell, Magendie, Müller, Weber, von Frey, Shiff und anderen Forschern des 19. Jahrhunderts schufen die wissenschaftliche Basis für die Überzeugung, dass Schmerzen lediglich die Resultate einer Reizung bestimmter Nervenbahnen sind. Wir sind die Erben dieses Wandels im medizinischen Denkens, nach welchem Schmerz nur als ein elektrischer Impuls begriffen wird, der durch die Nerven schießt.« (David Morris. Geschichte des Schmerzes. Frankfurt/M. Leipzig 1994. S. 13.) Und aus ›phänomenologischer Perspektive‹ : »Wer einen Schmerz verspürt, dem geschieht etwas (…)

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›Reparatur‹, eine möglichst vollständige Widerherstellung von Funktionen. 100 Diese wissenschaftliche Form und ›technische‹ Gestaltung der Diagnose und Therapie gelte es medizinisch (vor allem nun auch im Mikrobereich) weiter zu optimieren. – Entsprechend organisiert sind die Klinken, die Praxen, so ausgerichtet ist auch die Ausbildung der Ärzte, des medizinischen Personals. All dem liege nach wie vor und ganz selbstverständlich, so sagen es Kritiker, ein eben ›neuzeitlich dualistisches Menschenbild‹ zu Grunde. Da ist also ein Unbehagen, das die Medizingeschichte begleitet. Sich sehr unterschiedlich Gehör verschafft. Oft genug kämpferisch polemisch, auch wissenschaftlich sachlich, aber auch mit mehr oder weniger wissenschaftlich fundierten ›medizinischen Gegenmodellen‹. Eine Kritik vorgebracht sogar und vor allem auch von Angehörigen medizinischer Berufsgruppen. Dabei denken wir beispielsweise an den Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Ein verhängnisvoller ›Naturalismus‹, also ein ›Biologismus‹, ein ›technischer Mechanismus‹, ein ›lineares‹ Denken im Format ›Ursache – Wirkung‹, so schreibt er, bestimme das neuzeitliche medizinische Denken und therapeutische Handeln nach wie vor. Und das bis heute! 101 Es brauche somit, ausdrücklich um der leidenden Menschen willen, eine ›grundsätzder ist gewiss nicht mehr ein ruhiger Beobachter, der mit uninteressierter Passivität Eindrücke empfängt. Wenn jemand Schmerz spürt, dann gerät alles in Bewegung. Die Welt dringt auf ihn ein und droht, ihn zu überwältigen. Einen Schmerz empfinden heißt allemal, eine Störung in der Beziehung zur Welt unmittelbar erleben. Einen Schmerz empfinden heißt als zugleich sich-empfinden, sich in der Beziehung zur Welt, genauer, in der leiblichen Kommunikation mit der Welt verändert finden.« (Erwin Straus. Vom Sinne der Sinne. Berlin. Göttingen. Heidelberg 19562. S. 94.) 100 »Krankheit ist jede Störung der normalen Beschaffenheit oder der normalen Tätigkeit des Körpers, die geheilt, das heißt beseitigt oder gelindert werden kann.« (Bundesgerichtshof 1958. Zit. nach: Hans Thomas (Hg.). Menschlichkeit der Medizin. Herford 1993. S. 16.) 101 Dazu auch Dieter Wyss. Die Medizin laufe Gefahr, Ableger »einer materialistischpositivistischen Weltanschauung zu werden, wenn etwa ein Internist postuliert: ›die Theorie wird im Labor gemacht‹ ; wenn bei der Visite nicht mehr der Kranke, sondern nur noch seine Befunde, das EKG, die Leberwerte, die Proteine registriert werden und damit die Medizin, zum Nachteil des Kranken, zu einem Ableger eben einer objektivierend-materialistischen Ideologie wird.« (Vom zerstörten und wiederentdeckten Leben. Bd. I. Kritik der modernen Biologie. Göttingen 1986. S. 10.) Dazu auch die Autobiographie Alexander Mitscherlichs. Ein Leben für die Psychoanalyse. Anmerkungen zu meiner Zeit. Frankfurt/M 19832. Z. B. »Die Reduktion des Menschen auf ein reines Forschungsobjekt beherrscht ohnehin mehr und mehr das Heilungsstreben der Medizin – bis auf den heutigen Tag.« (S. 149/150.)

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lich andere medizinische-anthropologische Konzeption von Krankheit‹. Brauche also eine ›wirklichkeitsgerechtere‹, d. i. ›ganzheitlichere‹ Sicht auf das ›Körpergeschehen‹ und auf das immer ›leibhaft fundierte menschliche Verhalten‹. Kurz und knapp, eben eine andere Anthropologie »als die, welche der naturwissenschaftlichen Auffassung vom Menschen« folge. 102 – Sicher werde der ›menschliche Körper‹ (und ihn denkt man sich als Grund und Ziel medizinischer Interventionen) als sehr eigenartig komplex ›zusammengesetzt‹ gedacht. Differenziert, vielschichtig und durchaus multikausal geordnet. Trotz allem bleibe er mit dieser ›neuzeitlichen Sicht‹ medizinisch eine scheinbar natur-wissenschaftlich überschaubare, biologische, biochemische ›Sach-Lage‹. 103 – Dieses im Grunde also immer noch ›neuzeitlich mechanische Verständnis‹ der modernen Medizin, zeigt sich selbst dort noch, wo der ›Körper des Menschen‹, zumindest ganz allgemein, geradezu (wie man glaubt) systemisch in einen ›offenen sozialen Horizont‹ eingestellt wird. 104 Beispielsweise in der ›Sozialmedizin‹, ›Arbeitsmedizin‹, ›Sportmedizin‹ u. ä. – Allerdings, sei gerade an dieser Stelle an eines erinnert, sei eines sehr klar herausgestellt. Die nicht zu leugnenden (uns willkommenen) Leistungen der neuzeitlichen und modernen Medizin. Die offensichtlichen Erfolge dieser naturwissenschaftlich medizinischen Theorie und Gesammelte Schriften IX. Frankfurt/M 1983. S. 364. Das ist ausdrücklich nicht ›verkehrt‹. Muss aber erst wirklichkeitsgerecht geordnet werden. – Beispielhaft in einem Lehrbuch der (medizinischen) Psychologie. »Alles, was psychisch ist, ist gleichzeitig auch biologisch. Jede Idee, die Sie haben, jede Stimmung und jedes Bedürfnis ist ein biologisches Geschehen. Sie denken, fühlen und handeln mit Ihrem Körper. (…) Ohne Ihren Körper, d. h. ohne Ihre Gene, Ihr Gehirn, ohne die inneren chemischen Vorgänge und ohne Ihre äußere Erscheinung sind Sie einfach niemand, ein ›no-body‹.« (David G. Myers. Psychologie. Heidelberg 2005. S. 60.) 104 Vgl. Viktor E. (Freiherr von) Gebsattel. »Die Versuchung oder das Risiko, die Kathedrale mit der Summe der Steine zu verwechseln, d. h. den Menschen mit der Summe der menschlichen Eigenschaften, mit dem Inventar der menschlichen Charakterzüge ist ziemlich groß.« (5) Im Blick auf Freud und seine ›Schule‹ stellt v. Gebsattel fest: Es mache »den Stolz und die Befriedigung eines solchen Systems aus, dass das menschliche Leben in seiner Totalität mit Einschluss der Träume, des Bewusstseins, der neurotischen Erscheinungen, der geistigen Krankheiten sich in einem Blick umfassen lässt. Immer ist dabei der Hintergedanke, dass alles, was da Motiv und mechanische Tendenz ist, auf meiner Entscheidung lastet mit einem so großen Gewicht, dass die Freiheit jeder Entscheidung zu Null wird.« (13) (Anthropologische Gesichtspunkte in der Psychiatrie. In: A. Sborowitz (Hg.). Der leidende Mensch. Personale Psychotherapie in anthropologischer Hinsicht. Darmstadt 1965.) 102 103

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Praxis (Diagnose, Therapie, Schmerzbekämpfung, Prävention) dürfen nicht kleingeredet werden. Sie sind für uns unbestreitbar. 105 – Schauen wir nun wieder hin auf unsere anthropologisch existentielle Absicht. Diese (so haben wir es genannt) nach wie vor ›neuzeitliche Ausrichtung‹ der Medizin, ihre zugrunde liegende ›Philosophie‹, ›reflektiert‹ uns auch die Gründe für das Übersehen unseres uns als ›wesentlich‹ zugehörenden ›Krank-Seins‹. – Bleiben wir phänomenologisch strikt mitten in unserem existentiellen Horizont Lebenswelt ›Großstadt‹. Sie ist auch in diesem Fall die wesentlich wirkliche ›Grundierung‹ für uns Da-und-So-sein-zu-können und zu-müssen. Damit ist nicht nur ›Krankheit‹ als medizinischer Begriff, als ›Symptombeschreibung oder -zuschreibung‹ oder als therapeutische Herausforderung in unserem Blick. Sondern auch unser existentieller Umgang mit unseren Daseins-Möglichkeiten, -Bestimmungen, -Erwartungen und -Grenzen. Also unser uns selbstverständlich scheinendes, gerade ›So‹ und nicht mehr anders ›Da-zu-sein‹. – Unlösbar verflochten für uns als ›existentielle Zusammenstellung‹ : wirklich wesentlich ›zerbrechlich‹, ›fragmentiert‹ und ›endlich‹ Dasein-müssen, Dasein-dürfen, Daseinkönnen. – Unser ›Krank-Sein‹ also, phänomenologisch reflektiert, als eine unserer wesentlich wirklichen, ausgezeichneten existentiellen Möglichkeiten. Eine Gestalt und Gestaltung, sogar ein Potential, unseres wirklichen Da-in-der-Welt-seins. Eben nur ›So‹ und nicht anders. – Zur phänomenologischen Reflexion des Krank-seins gehört daher notwendig (das verwundert uns nicht mehr) die existentielle Reflexion der ›Ortschaft‹ unseres Sich-so-da-befindens. Das gilt, das nur am Rande, selbstverständlich auch im Blick auf ein selbstzerstörerisches, destruktives Verhalten. – Unbeirrt bleiben wir also in wirklich jedem uns möglichen Falle im Horizont unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. Der Mensch zeigt sich phänomenologisch im Allgemeinen und im Besonderen ›ausschließlich‹ als ›Dasein‹. Das Wesen des Da-seins ›reflektiert‹ sich als Existenz. Existenz ist leibhaft-gesammeltes DaSo-in-unserer-Welt-sein. So bestimmen, so lesen wir uns selbst! Dasein ist wesentlich-wirkliches und wirklich-wesentliches In-der-Welt-

105 Allerdings ist auch hier wieder phänomenologisch genauer hinzusehen. Die Epidemiologie (beispielsweise), so Hans Thomas, lehre uns »dass die frühere und spezifischere Diagnose der heute vorherrschenden chronischen Erkrankungen die Krankheitsdauer verlängert hat, aber nur in seltenen Fällen die Chance der vollständigen Gesundung dadurch erhöht wurde.« (Menschlichkeit in der Medizin. Herford 1993. S. 17.)

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sein. 106 Wir reflektieren uns selbst phänomenologisch als Da-und-Soin-der-Welt-sein. – Auch das sind (achten wir darauf) Reihen, Reihungen konstitutiver Akte. Unsere Leistungen. Leistungen phänomenologischer Arbeit (die Phänomenologie ist ›Arbeitsphilosophie‹). Ausdrücklich also keine spekulativen Konstruktionen. Die phänomenologische Reflexion der Reflexionen entwirft, zeichnet-ein und gestaltet vor allem (wir haben davon gesprochen) immer auch ›praktisch ausgerichtet‹ eine Fassung des Menschen als Dasein. Wir selbst also sind in unserem Blick als wirklich-wesentliches Da-sein. Wir, die so Da-So geschaut – von uns selbst so geschaut, sind mit unseren wirklichen Modi notwendig, also ausnahmslos eingefugt in unsere Welt. – Eine ›trivial‹ scheinende Selbstverständlichkeit, die wir aber auch weiterhin unter keinen Umständen aus den Augen verlieren dürfen. Das Welt-Sein ist für uns wirklich und wesentlich ›eine Welt-haben‹. Und dieses In-der-Welt-sein eines Daseins ist in allen Lagen nie anders als konkret. Kurz, ist wirklich-wesentlich! Ist immer Da und so oder so ›gestimmt‹ ; ›wirklich aus- und eingerichtet‹ in und mit diesen oder jenen ›Modi‹ ! Das ist unser anthropologisches Fundament! – Ein Dasein bleibt nun ein wesentlich wirkliches In-der-Welt-sein selbst noch als ›fiktive Figur‹ eines Romans. Diese Welt-da-für-uns ist nie abstrakt. Ist nie eine Welt schlechthin. Also irgendein Jenseits unserer Perspektiven. Eine bloße historisch invariante, ontologisch ideal-allgemeine Grundform. Eine erkenntnis- oder wissenschaftstheoretische Variable, ein bloßes philosophisches Prinzip. – Sondern unsere Lebenswelt ist für uns eine wesentlich-wirkliche, notwendig konkrete (eben hier und jetzt ›großstädtische‹) Welt-habe. Für uns zugleich: unser existentielles Muster, unsere ontologische Ordnung und unsere erkenntnistheoretische Perspektive! Ganz ausdrücklich aber nicht nur als eine von uns nur ›passiv‹ hinzunehmende Vorgabe. Sondern schauen wir auf uns selbst und unseren von uns willkürlich und unwillkürlich gefüllten, wirklich gelebten Lebens-Weltbegriff. Unser Dasein bestimmt sich also auch aktiv – ganz selbstverständlich – in, mit und von dieser seiner lebensweltlichen Ortschaft her. Unser leibhaftes Da-und-So-in-derWelt-sein ›zeigt‹ phänomenologisch (eben so und nicht anders) unser 106 Selbst noch die (scheinbar) ›privatesten‹ Gefühle und Stimmungen sind nicht hinreichend beschrieben: »solange nicht beschrieben ist, wie das menschliche Dasein in ihnen in-der-Welt ist, ›Welt‹ hat und existiert.« (Ludwig Binswanger. Vorträge und Aufsätze. Ausgewählte Werke Band 3. Heidelberg 1994. S. 254.)

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Wesen. Stellt es aus oder führt es vor und verwirklicht es so! Nicht zuletzt führt es uns selbst vor uns selbst. Unser Selbstverständnis als ›So-Da-für-uns‹ – so und wesentlich nicht (mehr) anders. Der Mensch, mit seinen Gestimmtheiten, Gedanken, Reden, Handeln, seinen Modi (auch seinem ›wesentlichen‹ Krank-sein), seinem Selbstverständnis, hat hier endlich seinen ›endgültigen Ort‹, seine ›anthropologische Ortschaft‹. – Vor diesem ›anthropologisch wirklich wirklichen Hintergrund‹ schärft sich noch einmal unser Blick auf die Bedeutung der ›existentiellen Intentionalität‹. Wir sehen es selbst: die ›Intentionalität‹ als leibhafte Gestaltung, als notwendige Form unseres ganz und gar wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins kann nun auch ›existentiell‹ nicht hoch genug veranschlagt werden. 107 Sie fundiert nicht nur eine stimmige, nach-denkbare Erkenntnistheorie diesseits idealistischer Konstruktionen. Schon allein das für sich genommen wäre bedeutsam genug. Darüber hinaus aber stellen wir uns nun selbst als Da-Sein fundamental-existentiell in die Welt, die Welt, die nun endlich-wesentlich und von Anfang an als ›Lebenswelt‹ unsere ist. – Phänomenologisch ist das also nun ganz offensichtlich! Unsere anthropologisch-praktische Gestaltung Da-und-So-in-der-Welt-zusein, einschließlich des existentiellen Modus ›Krank-sein‹, denkt sich dichter, existentiell eindringlicher als der ›klassische‹ Begriff der ›Intentionalität‹. Schon allein weil wir so das existentiell Leibhafte, eingebunden auch das Unwillkürliche, die aktiven und passiven Formen Daund-So-in-der-Welt-zu-sein gleichermaßen mit als für uns konstitutiv, als wirklich wesentlich begreifen. Unsere lebensweltliche Wirklichkeit wird nicht reduktiv gezwungen, nicht gewaltsam ›idealistisch vernünftig‹ (aber auch nicht ›naturalistisch vernünftig un-vernünftig‹) ›gemacht‹. Wir selbst sind so und nicht anders, ganz und gar, eben exis107 Lucien Goldmann beschreibt es so: Die traditionelle Philosophie habe das ›Subjekt der Erkenntnis‹, ›des Handelns‹ von der Wirklichkeit getrennt. In dieser Trennung liege einer der Hauptschwierigkeiten aller ›individualistisch gerichteten Philosophie‹. Die Lösung sei von der akademischen Philosophie des 19. Jahrhunderts vergessen worden. Husserl, Lukács und Heidegger hätten erst wieder daran erinnert. Der Mensch stehe »der Welt, die er zu verstehen sucht und auf die er wirkt, nicht gegenüber, sondern er steht in ihr, als ein Teil von ihr, und zwischen dem Sinn, den er in der Welt zu finden oder in sie hineinzutragen versucht, und dem, den er in seiner Existenz zu finden oder in sie zu bringen versucht, gibt es keinen radikalen Bruch.« (Lukács und Heidegger. Darmstadt und Neuwied 1975. S. 90 ff.)

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tentiell-wirklich-wesentlich unlösbar verflochten mit unserer Lebenswelt. – Das Wesen des Menschen darf also philosophisch zu Recht als ›eigentliches‹ Da-und-So-Sein vorgestellt werden. Es bestimmt sich phänomenologisch weder aufgrund eines ›darüber-hinaus‹ noch im Blick auf ›das biologische Leben im Allgemeinen‹. – Verdichten wir unseren Arbeitsgang kurz und knapp nun so. Auch ›unser Krank-Sein‹ phänomenologisch verstehen fordert eine Reflexion unserer existentiellen, wirklich-leibhaften Intentionalität. Das Menschen-Sein ist krank-sein in und mit seiner wirklich wesentlichen Lebenswelt. Krank-Sein also phänomenologisch gelesen, philosophisch gefasst, als Da-So-in-der-Welt-sein. 108 Ausdrücklich nur mit diesem existentiellen Modus sind wir ganz und gar wirklich wesentlich leibhaft So-Da. 109 Von hier aus entfaltet sich unsere phänomenologische Reflexion der medizinisch-anthropologischen Reflexionen. Und umgekehrt. – Von Beginn an ›bewegte‹ sich unser Fragen nach unserer Lebenswelt ›Großstadt‹, in diesem hier vorgestellten Horizont unseres wesentlich wirklich ›So-Da-zu-sein‹. Das ist, und auch das kann gar nicht anders sein, für unsere Reflexionen ›phänomenologischer Anthropologie‹ von ganz praktischer Bedeutung. 110 – In unserem Blick also das ›Krank-Sein‹ als wesentlicher Modus unseres In-der-Weltseins. So krank-zu-sein ist ›notwendig‹ für uns und ist anthropologisch-existentiell nicht wegzudenken! – Schauen wir nur hin auf uns selbst! Zweifellos sind wir mit unserem Leiden, unserem Unwohlsein, unseren Schmerzerfahrungen, 108 Sehr konsequent bei Medard Boss: »Was sich bei den verschiedensten Arten des Krank-seins beeinträchtigt findet, ist das sich-einlassen-können des kranken Menschen auf ihr Austragen in freien Verhaltensweisen gegenüber den Gegebenheiten seiner Welt. (…). Es sind dies der raumzeitliche Charakter des Daseins, sein Gestimmtsein, seine Leiblichkeit, sein Miteinander-sein mit den anderen Menschen in einer gemeinsamen Welt, die Offenständigkeit des Daseins und der Entfaltung dieser tragenden Möglichkeiten zur Freiheit des Daseins.« (Grundriss der Medizin und Psychologie. Göttingen 19993. S. 443.) 109 Das geht weit über das hinaus, was medizinisch in der Regel ausdrücklich ›Krankheit‹ genannt wird. Dieter Wyss lenkt unseren Blick auf: Vitalschwäche; Einschränkung kommunikativer Strukturen; Entfremdung durch Hypertrophie des Leistungsentwurfs; Extrem verstärkte Abwendung; Konflikterleidung; Ereignisse im Horizont von Trennung, Verlust, Begegnung mit dem Tod; Erschöpfung; Auslieferung an die Alltäglichkeit. (Der psychosomatische Kranke. Zwischen Krisen und Scheitern. Göttingen 1987. S. 2 ff.) 110 Nicht zuletzt für eine phänomenologisch gerichtete Psychotherapie.

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unseren Ängsten und sich um sich selbst ›ernsthaft‹ sorgen (Sorgenmachen), also unserer ›Fragilität‹ und ›Endlichkeit‹, wirklich wesentlich eingefaltet in unsere Lebenswelt. Wir sind ganz und gar, auch mit diesen, wie man meint, ›bloß privaten‹ Erfahrungen wesentlich wirklich eingenetzt, verwebt und eingespannt als Da-und-So in unsere, uns ›notwendig‹ zugehörige Lebens-Welt. – Die existentielle Phänomenologie entfaltet diese ›bloß subjektiv scheinende‹ Erfahrungs-Perspektive konsequent durch ›reflexive Reflexion‹, als Feststellung wesentlich wirklicher Fragilität unseres Da-und-So-seins. ›Krank-Sein‹!? – Das ist ausdrücklich kein anthropologisches Defizit, also kein DaseinsMangel, kein göttlicher Fluch! – Dieser Gedanke scheint befremdlich. Zumindest auf den ersten Blick. Denken wir nicht nur an unsere medizinische, philosophische und theologische Tradition. Schauen wir auch hin auf unsere (eigenen) Sehnsüchte, unser Wollen, auch auf unsere ›modernen Utopien‹. – Nehmen wir all das zur Kenntnis; – und klammern es ein; zumindest vorläufig. – Unser ›Hinausreichen‹ in diese Welt-da, dieses von Anfang an notwendig, also wesentlich-wirklich mit unserer Lebenswelt-sein, ›reflektiert‹ sich zunächst ganz augenscheinlich als ›Sorgestruktur des Daseins‹. Heidegger hat zu Recht darauf hingewiesen. Wir erfahren es selbst! Diese wirkliche Wirklichkeit unserer Lebenswelt zeigt sich uns ›im Grunde‹ selbst immer aufs Neue als ›eigengeartet Vor-Läufig‹ ; letztendlich als unser ›So-Sein zum Tode‹. 111 Das ist wahrlich eigenartig genug. Letzt-endlich sind wir und unsere Welt für uns, wo immer wir ansetzen, eine ›Vorführung‹, eine ›Reflexion‹ unserer bedenklichen existentiellen Fragilität. Das meint kurz und knapp: unseres ›wesentlich uns zugehörigen Krank-seins‹ (eben ein Krank-sein-zum-Tode). – Vermeiden wir hier jeden ›falschen Zungenschlag‹ ! Das ist phänomenologisch ein Gedanke ganz ohne jede ›aufgesetzte‹ Dramatik. Es ist die wirklich wesentlich reflexive Erfahrung ›meiner selbst als endliches So-Sein in unserer Welt‹. Wie immer wir uns dazu stellen (es übersehen, verdrängen, leugnen) diese Einsicht ›wirkt‹. Sie ist für uns also (wie auch immer) willkürlich und unwillkürlich existentiell bedeutsam! – Die Reflexionen auf diese unsere, wie ich meine, ›endgültige Ein- und Ausrichtung‹ liegen nun ganz in der

111 Wer hat uns also umgedreht, dass wir, / was wir auch tun, in jener Haltung sind / von einem, welcher fortgeht? (…) so leben wir und nehmen immer Abschied. (Rilke. Duineser Elegien. Die achte Elegie.)

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Konsequenz phänomenologischen Denkens. 112 Diese uns ›notwendig scheinende‹ Endlichkeit unseres Daseins (nie anders als eben So-Dazu-sein) fordert eben nicht nur ›einseitig medizinisch‹ heraus. Beispielsweise so: sich um seine Gesundheit sorgen (Präventionen, gesund ernähren, Sport treiben u. ä.), Angst haben vor Gebrechlichkeit (meinen Leib, meinen Geist nicht mehr ›im Griff‹ haben), in allem, wirklich allem ausgerichtet sein auf ›Leben‹. Sondern wir sind sogar vor allem ›philosophisch‹ gefordert! Und zwar hier ganz konkret: als das unvoreingenommene Wahrnehmen unseres existentiell konstitutiven Potentials ›wesentlich Krank-zu-Sein‹. Oder so: als die Aufforderung unser Dasein endgültig endlich ›Da und So‹ in dieser unserer Welt zu gestalten. – Das führt uns nicht von uns weg. Im Gegenteil! Mit und durch diese Einsicht, so Viktor von Weizsäcker, verdichten sich die unterschiedlichen anthropologischen und psychologischen Perspektiven auf uns selbst. Damit seien auch medizinisch wirklich und wahrhaftig jene ›anthropologisch-existentiellen End-Gedanken‹ gefunden, »auf die hin ausgerichtet jene verstümmelten, jene Teilgedanken und Teiltaten« erst verständlich werden. Jede Krankheit, so fährt er fort, werde verständlich als ein (welch ein seltsames Wort?!) »Teiltod«. Sei also ›philosophisch reflektiert‹ eine Vorbereitung auf »jene letzte Bestimmung« unseres Daseins. 113 – Das ist sicher auch phänomenologisch nicht einfach zu fassen. Weizsäcker zwingt aber damit (zumindest) den ›modernen‹ medizinischen Blick konsequent auf die, so oft verdrängte, wesentliche Wirklichkeit unseres wirklichen So-In-der-Welt-seins. Auf unsere uns ›bitter schmeckende Erfahrung‹ von unserer wesentlich fragilen Endlichkeit. Eigentlich ist ›diese (auch unwillkürliche) Erfahrung‹ ein eigenartig wortwörtlich ›uns‹ durchdringendes, ›uns‹ auch lebensweltlich gestaltendes ›Wissen‹. Ist also das wahrhaftige, das für uns ›letztsinnige‹ Fundament unseres uns gemeinsamen Selbst-Bewusstseins. – Unser Da-und-So-sein, fassen wir es phänomenologisch (›nüchtern‹) so, ist in wirklicher Wirklichkeit ein ›Sein-zum-Tode‹. – Kein Grund aber für philosophischen und theologischen Pathos! Krank-Sein und Sterben, es mag uns angenehm sein oder nicht, sind anthropologisch ganz gewöhnliche, also unspektakulär wirklich we112 Beispielsweise: Eugen Fink. Metaphysik und Tod. Stuttgart 1969. Paul Ludwig Landsberg. Die Erfahrung des Todes. Frankfurt/M 1973. Dolf Sternberg. Über den Tod. Frankfurt/M 1977. Irving D. Yalom. Existentielle Psychotherapie. 1989. 113 Diesseits und Jenseits der Medizin. Stuttgart 1950. S. 129.

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sentliche Fassungen unseres Daseins. Sie zeigen nicht ein ganz Anderes, etwas uns Fremdes, Skandalöses, eine ungehörige Form ›äußerer‹ Gewalt gegen uns Menschen. So und nur so »leben wir und nehmen immer Abschied«. – Das ›Krank-Sein‹, einschließlich unseres Sterbens, unseres ›Verendens‹, ist also ein anthropologisch unbedingter Modus (sogar eine Potenz) unseres ›endlichen‹ Existierens. Kein Endpunkt, irgendwann-einmal! Sondern von uns nun phänomenologisch gesetzt als unsere wirklich-wesentliche Gestalt und fortwährende Gestaltung unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. 114 – Das gerät uns nun nicht mehr aus dem Blick. Schauen wir uns vor diesem Hintergrund einfach weiter zu! – Auffällig ist, dass wir uns besonders ›störende‹, beispielsweise als ›anstößig empfundene‹ oder auch schon die nur sehr ›auffälligen‹ Verhaltensweisen eng mit der Lebenswelt ›Großstadt‹ verbinden. Wir tun das geradezu unwillkürlich, tun es wie selbstverständlich! – Beispielsweise die von uns als problematisch betrachteten ›seelischen Eigenheiten‹ (etwa: ›emotional abgestumpft sein‹) oder diese oder jene als sozial defizitär bezeichneten Zustände (etwa: ›verlottert sein‹) oder natürlich auch manche (sogenannten) ›Symptome‹ oder ›Krankheiten‹. – Denken wir hier beispielsweise nun vor allem an all das, was ›Neurose‹, ›neurotisch‹ 115 oder ›Hysterie‹, ›hysterisch‹ genannt wird 116 (ohne oft eineindeutig ›anthropologisch begriffen‹ zu sein) oder auch an Formen, genauer den Formenkreis der ›Schizophrenie‹. 117 Es sind phänomenologisch, was Theologische Fragen sind damit nicht berührt. Z. B. Viktor Frankl. Die neurotische Lebensproblematik unserer Zeit. In: Universitas 1972. Heft 1–6. S. 619 ff. 116 Vgl. z. B. Karl Jaspers. Allgemeine Psychopathologie. Berlin 19597. S. 601; oder, Erich Fromm. Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie. Frankfurt/M 19723. S. 194. 117 Z. B. Manfred Zaumseil. Klaus Leferink. »Zur kulturellen Vorbereitung der Schizophrenie gehört neben der allgemeinen Mobilmachung der Entwicklung des modernen Selbst und die Entstehung einer Kultur der Vermittlung der Subjektivität. Schizophrenie steht in einer konstitutiven Beziehung mit der neuzeitlichen Chance und Forderung, ein reflexives, sich selbst als problematisch wahrnehmendes Selbst zu entwickeln.« (Schizophrenie in der Moderne. Modernisierung der Schizophrenie. Bonn 1997. S. 52.) Die Schizophrenie als ›die Krankheit der Moderne‹ auch bei Ludwig Binswanger. Er beschreibt sie als Weise »des Mißglückens des Daseins im Sinne des jeweiligen ›An-einEnde-gelangens‹ oder ›Steckenbleibens‹ seiner eigentlichen geschichtlichen Bewegtheit, seiner eigentlichen Selbstigung also, ineins mit dem Nichtseinkönnen im Miteinander der Liebe und Freundschaft, als Weisen solchen Mißglückens stehen Verstiegenheit, Verschrobenheit, Manieriertheit tatsächlich in nächster Nähe zu den Daseinsweisen 114 115

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immer sie genau ›medizinisch (›klinisch‹) repräsentieren‹, (lassen wir die sehr unterschiedlichen Definitionen hier außen vor), in jedem Falle ›Schnittmengen‹ eines geistigen, seelischen, ›körperlichen‹ So-Da-indieser-Welt. Nun gibt schon diese alltägliche explizite Verortung ›suboptimal‹ empfundener Lebensgestaltungen phänomenologisch zu denken. – Etwa es wird gesagt, die Moderne sei geradezu augenfällig das ›Zeitalter der Nervosität‹. 118 Um das zu sehen, brauche es keinen psychologisch, medizinisch geschulten Blick. – Nun – zumindest eines fällt uns auch historisch auf. Schon in den Jahrzehnten um 1900 waren diese ›Krankheits-Bilder‹, diese (auch) oft ›diffusen‹ Selbst-Beschreibungen populär und allgemein im Gespräch. Als eine irgendwie defiziente Möglichkeit ›modernen Da-Seins‹. 119 Sicher ein ›Leiden‹; vielleicht aber auch als Merkmal, sogar als Auszeichnung der Zugehörigkeit zur ›Modernität‹. – Zweifellos aber so: Dieser sehr unspezifisch geführte ›Nerven-Diskurs‹ gehört zumindest literarisch zur Moderne. Gehört also, unserer phänomenologischen Deutung, unserer existentiellen Leseart nach, zu unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. 120 Für uns der Schizophrenie als den Weisen der ›Erstarrung‹ oder des ›Festgefahrensein‹ der eigentlichen geschichtlichen Bewegtheit des Daseins kat’exochen.« (Formen des mißglückten Daseins. Ausgewählte Werke. Band 1. Heidelberg 1992. S. 410.) 118 Joachim Radkau. Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 2000; Jean Starobinski weist im Übrigen darauf hin, dass schon 1804 Pierre-Jean-Georges Cabanis zu den vier überlieferten Temperamenten das ›nervöse Temperament‹ hinzugefügt habe. (Geschichte der Melancholiebehandlung. In bearbeiteter Übersetzung neu herausgegeben von Cornelia Wild. August-Verlag. S. 113.) 119 Vgl. z. B. Leopold Löwenstein. »Die socialen und Culturverhältnisse einer Zeit spiegeln sich auch in den vorherrschenden körperlichen Leiden ab. Was man als Modekrankheit bezeichnet, ist wesentlich die traurige Consequenz von Verhältnissen, deren gesundheitszerrüttendem Einflusse breite Volksmassen sich nicht zu entziehen vermögen. In der Gegenwart spielen die Rolle einer Modekrankheit in diesem Sinne jene Affektionen des Nervensystems, die vom großen Publikum als Nervenschwäche oder Nervosität gewöhnlich bezeichnet werden und in der Wissenschaft unter den Hauptsignaturen Neurasthenie und Hysterie figurieren. Die Zunahme dieser Uebel in den letzten Decennien lässt sich zwar nicht ziffermäßig feststellen, sie ist jedoch ganz allgemein und namentlich in den Großstädten, den Centren der industriellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeit, eine so augenscheinliche, dass sie bereits auch in nichtmedizinischen Kreisen, (…) ernste Besorgnis hervorgerufen hat.« (Die moderne Behandlung der Nervenschwäche (Neurasthenie), der Hysterie und verwandter Leiden. (1887). S. 105. Zit. nach: Alfred Lorenzer. Intimität und soziales Leid. Archäologie der Psychoanalyse. Frankfurt/M 1993. S. 86.) 120 Dazu Georg Simmel. Die Großstädte und das Geistesleben. (1903). In: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 1984; Karen Horney fasst es so: Der Ausdruck

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nachvollziehbar. Reflektiert er doch auch noch unser eigenes Selbstverständnis und Weltverhältnis. So verwundert es uns nicht allzu sehr, dass dieser ›Diskurs‹ auch heut nicht nur ›fachkundig‹ (therapeutisch, klinisch) im Focus der Medizin und der Psychologie geführt wird. – Sondern wir finden in der modernen Kunst, vor allem in der zeitgenössischen Literatur, nicht nur nebenbei Einblicke, Einsichten, Vorführungen, also mehr oder weniger ›ästhetische‹ Beschreibungen dieser ›Krankheits-Bilder‹. Nicht nur vorgestellt als (sagen wir) ›private Leidensgeschichte‹. Sondern eben auch so: Als ›Konstitution‹ eines, phänomenologisch eben sehr vielschichtigen, auch ›aktiven‹ existentiellen Verhältnisses. Beispielsweise einer ausdrücklichen ›Hin-ordnung-zu‹ ; ›sich-einer-Herausforderung-stellen‹ ; ›angemessene Formen und Gestaltungen einer existentiellen Reflexion‹ vorstellen u. ä. Die moderne Kunst ›spiegelt‹, verstärkt, gestaltet, entwirft, kurz, konstituiert von Beginn an diesen für die Moderne so bedeutsamen Diskurs mit. Das ist ein Thema, das es wert wäre, eigens entfaltet zu werden. Halten wir zumindest eines fest. – Für uns sind es phänomenologisch ›wirkliche Lesezeichen‹ einer schon existentiellen Reflexion der großstädtischen Lebenswelt. Diese phänomenologisch konstitutive Bedeutung der Kunst-Werke haben wir also zu Recht von Beginn an nie aus den Augen verloren. – Diese auch ästhetisch vorgebrachten Hinweise auf unsere ›Krankheitsbilder der Seele und des Leibes‹ sind also nicht nur diskriminierend gedachte Vorstellungen. Zumindest nicht in unserem historischen Rückblick! Auch das ist phänomenologisch beredt. Der Historiker Joachim Radkau (beispielsweise) vermag in diesem, mehr oder weniger, ›offenen‹, breit angelegten Diskurs um 1900 sogar einen ›positiven Beitrag für das Projekt Moderne‹ zu sehen. Diese ›Gespräche‹, ›Vorstellungen‹, ›Reflexionen‹ unterstützten (zumindest also das!) eine humane, aufklärerische, nach ›vorne treibende‹ Tendenz. Beispielsweise habe diese so breit und unterschiedlich angelegten Vorstellungen neuer Formen von ›auffälligem Verhalten‹, von ›neuen Leidensformen‹, die Möglichkeit geboten, über einige, im allgemeinen noch als problematisch empfundene Entwicklungen der Moderne, beispielsweise Arbeitswelt, Sexualität u. ä. ›zu reden‹ (S. 200). – Sicher ist das nun auch für ›neurotisch‹ könne, »obwohl er ursprünglich ein medizinischer Ausdruck ist, nicht benutzt werden, ohne dass man auch die darin enthaltenen kulturellen Faktoren berücksichtigt.« (Der neurotische Mensch unserer Zeit. Frankfurt/M 1984. S. 6.)

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uns eine bemerkenswerte Perspektive. Allerdings über eines können wir dabei phänomenologisch nicht hinwegsehen. Sie ist für uns schon ›historisch zu großflächig‹ und zu (sagen wir) neuzeitlich optimistisch gedacht. Unsere anthropologische Wirklichkeit wird gleichsam über einen ›idealistischen Leisten geschlagen‹. An die Stelle des wirklich ›leidenden Daseins‹, diesem (unserem) wesentlichen Sein-zum-Tode, wird die ›überwältigende‹ Idee eines großen menschheitlichen Fortschritts, eine positive Modernisierung des In-der-Welt-seins gesetzt. 121 – Oder sagen wir es so: ›Krank-Sein‹ und ›Krankheit‹ werden wie selbstverständlich gleich gesetzt. – Aber wir nehmen selbstverständlich auch diese Perspektive als eine ›Leistung der Moderne‹; als eine der Lebenswelt ›Großstadt‹ zugehörige, sie wirklich mitbestimmende, mitkonstituierende Selbstdeutung zur Kenntnis. Dabei bleibt es: Wir bewegen uns mit all diesen Fragen und versuchten Antworten im Horizont der Lebenswelt ›Großstadt‹. Sind (was immer wir tun oder lassen) immer ein ›Da-und-So‹ in unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. So-Da – mit all diesen Vorstellungen, Symptomen, Beschreibungen, ›Begriffen‹, Reflexionen, diesem oder jenem medizinischem Handeln und natürlich auch mit unserer existentiellen Reflexion der Reflexionen. SoDa – mit unseren so oder so gesetzten, so eingeführten, so vorgestellten, so genannten ›Krankheiten‹ und selbstverständlich mit unserem all dem zugrundeliegenden, wesentlichen Krank-Sein. – Schauen wir nun vor allem auch in diesem Zusammenhang hin auf Freud und die (›seine‹) Psychoanalyse! Freud hatte diese ›Phänomene‹ als willkürlich und unwillkürlich ›belastende Lebensentwürfe‹, also Muster, Pläne, Skripte, mögliche Gestaltungen eines Da-und-Sozu-sein im ›medizinischen‹ Blick. Sie ordnen und bestätigen (so lesen wir es) das anthropologische Fundament seiner ›philosophischen Psychologie‹, seiner ›Metapsychologie‹. Und sie sind so, ganz selbstverständlich, auch die ›intentionalen Objekte‹ für die psychoanalytische, die tiefenpsychologische Praxis, für die therapeutische Be-Handlung. – In diesem Kontext also sucht Freud einen theoretisch und praktisch ›stimmigen Grund‹, ein ›sozial-anthropologisches Modell‹, für diese 121 Schon bei Egon Friedell: »Auch die bekannte Krankheit, die als ›Nervosität‹ beschrieben wird, ist nichts anders als eine erhöhte Perzeptibilität für Reize, eine gesteigerte Schnelligkeit der Reaktion, eine reichere und kühnere Assoziationsfähigkeit, mit einem Wort: Geist. Je höher ein Organismus entwickelt ist, desto nervöser ist er.« (Kulturgeschichte der Neuzeit. (1927–1931) Ungekürzte Ausgabe in einem Band. München o. J. S. 66.)

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sich in der »gegenwärtigen Gesellschaft«, wie auch er meint, rasch ausbreitende ›Nervosität‹. 122 – Ohne im Einzelnen darauf einzugehen, 123 eines können wir festhalten. Gerade hier zeigen sich, phänomenologisch eingesehen, die Grenzen einer ›puristischen‹ psychoanalytischen Deutung. 124 Das drängt sich uns nämlich phänomenologisch geradezu auf. Freud setzt seine ›naturwissenschaftliche Theorie‹ über die Wahrnehmung des wirklichen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Er sieht wirkliche ›Phänomene‹. Phänomene, die er im Übrigen meisterhaft beschreibt. Reflektiert sie – ohne sie existentiell-wirklich-wesentlich zu schauen und zu ordnen. Seine, trotz aller nie nachlassenden SelbstKritik, mit naturalistischen (neuzeitlichen) Vorurteilen getrübte medizinisch-anthropologische Theorie verzerrt auch seine (wie ich finde nach wie vor sehr bedeutende) ›Meta-Psychologie‹. Er reduziert selbst die ›psychologischen Phänomene‹ (›wir nehmen sie wahr‹), beispielsweise die sehr unterschiedlichen Stile der ›Nervosität‹, der ›Neurasthenie‹, auf die, wie er meint, ›schädliche Unterdrückung des Sexuallebens der Kulturvölker‹. Vorgestellt also als ›bloß kausale‹ Auswirkungen, Konsequenzen, kurz, Krankheitsbilder einer sich auswirkenden ›rigiden bürgerlichen Sexualmoral‹. 125 – Das wird nun, unterschiedlich variiert, zu einem (als ›naturwissenschaftlich‹ gedachten) Fundament psychoanalytischer, konkreter Freud’scher Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Freud verengt, so fassen wir es, ›die Moderne‹, das ›innere Großstädtische‹, unsere Lebenswelt unseres Da-und-So-seins zu einer naturwissenschaftlich erklärbaren Gestalt und Gestaltung, einer psychologisch-medizinischen Inszenierung einer ›Spekulation‹, (beispielsweise) des oralen, analen, genitalen, auch und eng damit verbunden, aggressiven ›Trieb-Lebens‹. Die Folge? ›Wir‹ wären dementsprechend ›nichts weiter‹ als eng geführte ›Spieler‹, ja ›Marionetten‹, eines ›Schauspiels der Natur‹. Bewegungen zwischen ›Unterdrückung‹, ›Ver122 Vgl. (beispielsweise): Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität. Werke 7. Im Übrigen ist er nicht, wie gelegentlich zu lesen ist, der erste, der sich systematisch mit diesen Phänomenen auseinandergesetzt hätte. Er findet den ›Nervendiskurs‹ nicht nur bereits schon vor, sondern sogar schon im ›vollen Gange‹. 123 Das sei einer eigenen Arbeit vorbehalten. 124 Vor allem die phänomenologisch arbeitenden Psychiater des ›Wengener Kreises‹ haben darauf aufmerksam gemacht. Vor allem ganz ›praktisch‹ durch ihre methodisch und ›sachlich‹ anders vorgestellte und eingerichtete Arbeit und existentielles Arbeiten. 125 Herbert Marcuse spitzt diesen Gedanken kulturkritisch zu und glaubt ihn damit ›philosophisch‹ zu unterstützen und wirksam zu entfalten. (Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt/M 1969.)

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drängung‹ und ›Sublimierung‹ der Libido. 126 – Das ist nun nicht nur eine phänomenologische Perspektive, eine bloß ›philosophisch kritisch polemische Vorstellung‹ (die bekanntlich die Naturwissenschaften nie besonders beeindruckt hat). Auch tiefenpsychologische Schulen nach Freud, allen voran die ›Neopsychoanalyse‹, haben sich gerade in dieser Frage eigenständig positioniert. Und auch nicht gezögert, sich ausdrücklich gegen Freud zu stellen. Sie haben (wir sehen sie als ›die Modernen‹) vor allem nicht mehr an den lebensweltlichen Kontexten unseres Da-und-So-seins vorbeigesehen. Karen Horney, beispielsweise, kommentiert diese naturalistisch enge Position knapp und (wie ich meine) sehr treffend: »Historische und anthropologische Befunde bestätigen eine derart direkte Beziehung zwischen der Höhe einer Kultur und der Unterdrückung sexueller und aggressiver Triebe nicht.« 127 Oder Manès Sperber beschreibt, im Übrigen ganz auf der Linie seines Lehrers Alfred Adler, ›Neurose‹ ausdrücklich als ›soziale Erscheinung‹, also als eine Vorstellung im Kontext der Lebenswelt. Konkret als eine Vorstellung, »die charakterlogisch durch mangelhafte Sozialität des neurotischen Individuum gekennzeichnet ist.« 128 – Er benennt und deutet aus dieser Perspektive die auch philosophisch viel beredeten ›sozialen und anthropologischen Schieflagen‹ der ›modernen Gesellschaft‹, der großstädtischen Lebenswelt. Beispielsweise die dramatischen Veränderungen, sogar Auflösungen der bislang haltgebenden Normen, Strukturen, Konventionen; die Erschütterung, die Zersetzung der Familienverbände; die sich destruktiv auswirkenden, sozial verzerrten Beziehungen zwischen Erwachsenen und der Generation der Jugendlichen. – Von allgemeiner Bedeutung sei dabei, dass sich diese (er nennt sie ausdrücklich) ›Krankheits-Bilder‹ immer mehr einer sogenannten ›Normalität‹ der Moderne, also als ›Annehmbares‹, ›Durchschnittliches‹, irgendwie ›Dazugehöriges‹ angenäherten hätten. 129 – 126 Dass Freud hier etwas sehr wesentliches wahrgenommen hat, wird nicht bestritten. Phänomenologisch problematisch ist aber die dogmatische Unbedingtheit des Vortrags und Ausschließlichkeit der Behauptungen dieser Vorstellungen. 127 Der neurotische Mensch unserer Zeit. Frankfurt/M 1984. S. 177. 128 Individuum und Gemeinschaft. Versuche einer sozialen Charakterologie. Frankfurt/ M. Berlin 1981. S. 277. 129 Ähnlich Karen Horney. Es sei inzwischen »unmöglich, genau zwischen dem was neurotisch und dem was normal ist« zu unterscheiden (1984. S. 176). Vgl. dazu Viktor von Weizsäcker über den Wahn: »Das Wahnhafte gehört zu jenen Erscheinungen, die

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Zugegeben – diese ›psychotherapeutische Herstellung sozialer Kontexte‹ scheint auf den ersten Blick wenig originell zu sein. Aber die Bedeutung, die diese sozial-psychologischen Beobachtungen für eine Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt haben, sind alles andere als gering. Diese und ähnliche tiefenpsychologischen Modelle, sozialkritischen Erklärungsmuster, anthropologische Grundlagen für therapeutisches Handeln, reichen nun auch praktisch lebensweltlich wirklich wesentlich weit. ›Therapeutisch-praktisch also durchaus auch phänomenologisch weit‹ ! – Trotzdem aber sind sie für unser Anliegen phänomenologisch nicht ›existentiell umfassend‹ eingerichtet. Das heißt für uns konkret: Auch die Neopsychoanalytiker reflektieren das Da-und-So-in-der-Welt-sein phänomenologisch nicht entschieden, anthropologisch nicht radikal, kurz, nicht wesentlich wirklich existentiell genug. 130 – Uns geht es dabei ausdrücklich nicht um irgendwelche metaphysischen Tiefen. Wir fragten phänomenologisch nur ganz konsequent nach der anthropologischen, der existentiellen Ortschaft unseres wesentlich-wirklichen Krank-Seins. Von hier aus erst ergibt das weitere therapeutische Fragen ›letztmöglichen‹ Sinn. Beispielsweise auch unsere sehr unterschiedlich angelegten Suchbewegungen nach unserer so oder so möglichen, endlichen Verwirklichung Da-und-Soin-der-Welt-zu-sein. – In und mit der Lebenswelt ›Großstadt‹ sind wir uns nicht nur im Fortissimo eines Massenmörders, Amokläufers, Geisteskranken oder Vergifteten begegnen; sondern das Wahnhafte erscheint auch in den milderen Formen einer Verliebtheit, einer Phantasie, einer Einbildung, eines Traumes, die niemanden schaden.« (Pathosophie. Göttingen 19676. S. 23 ff.) Von Gebsattel sieht in der Neurose, dem neurotischen Verhalten, eine Tarnung der existentiellen Krise des Menschen. Die Neurose zeige sich (phänomenologisch) unterschiedlich. Letzten Endes aber sei sie immer eine Herabminderung der Seinsfülle, ein Unwirksam-werden der Werthierarchie und des Sinngehaltes des Daseins. (Vgl. in Sborowitz: Der leidende Mensch. Darmstadt 1965.) Robert Tucker eröffnet einen philosophischen Horizon: »In der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel fand das Faust-Thema Eingang in die Philosophie, was bedeutet, dass es verallgemeinert wurde. Man machte das absolute Selbst zu einer allgemeinen Norm für den Menschen, und so erhielt der Mensch ganz allgemein die Merkmale einer neurotischen Persönlichkeit.« (Karl Marx. Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos. München 1963. S. 30.) 130 Das ändert nichts an ihrer auch phänomenologischen Bedeutung. Beispielsweise wenn Karen Horney die Haltungen einer neurotischen Existenz geradezu als Gestaltungen eines Da-in-der-Welt-seins setzt. Sie nennt Weisen Da-zu-sein, die sich auch phänomenologisch einsehen lassen. 1. Geben und Empfangen von Liebe; 2. Bewertung der eigenen Person; 3. Durchsetzen können im lebensweltlichen Kontext; 4. Gestaltung von Aggression; 5. Gestaltung von Sexualität.

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auch als Krank-sein; sind so-da und nicht mehr anders. Von dort her sollten sich dann auch und letztmöglich die augenscheinlich weit auseinanderliegenden Formen, die sich so different gebenden Bilder der ›Neurosen‹, der ›modernen Neurasthenie‹ mit ihren intentionalen Gestaltungen existentiell verstehen und anthropologisch ordnen lassen. 131 –

VII. Großstadt und Religion Daran knüpfen wir unmittelbar an. Von hier aus entfaltet sich selbstverständlich auch unsere phänomenologisch existentielle Reflexion. – Nicht nur die Kunst, die Literatur zeigt und reflektiert es; und bringt unser Da-und-So-sein in eine entsprechende ›ästhetisch reflektierte Form‹. Sondern wir sehen es in unserem Alltag selbst. Erleben es (an uns) selbst. Gesetzt wir lassen uns überhaupt auf diese Wahrnehmungen ›schauend‹ ein. – Beispielsweise und ganz allgemein: diese Erfahrung einer zuerst und zumeist ›unspezifisch‹ sich bemerkbar machenden ›existentiellen Zerrissenheit‹. (Uns fehlt im Alltag dafür eine differenzierte Sprache.) Oder diese unterschiedlichen, so oder so vorgestellten, mehr oder weniger bildhaft in eine Sprach-Form gebrachten Wahrnehmungen verschiedener existentieller Extreme. Von uns ›gefühlt‹ – irgendwie – als unsere uns zugehörigen, scheinbar unauflösbaren Spannungen hier und jetzt ›So-Da-zu-sein‹ (›ich fühle mich heute wie ausgespuckt‹ ; ›ich könnte heute nur noch schreien‹ u. ä.). Oder da ist auch dieses sich immer wieder (eigenartig so vergebliche) Ausrichten nach immer Neuem. Da oder dort sei das ›Heil‹ ; so oder so sei ›die Lösung‹ möglich! Mit dieser oder jener Lebensgestaltung sei ›Sinn-Erfahrung‹ möglich. Etwa: beruflicher Erfolg; Anerkennung; Freundschaft; Liebe; intakte Familie usw. – Aber wie auch immer: letzten Endes fallen wir immer wieder zurück: ›I can’t get satisfaction‹. 132 Das sind ganz unspektakuläre alltägliche Erfahrungen eines, nennen wir es allgemein: ›existentiellen Leidens‹. Oder je nach Perspektive auch: Ausdruck eines (denken wir an Freud) Unbehagens an ›dieser Das werde ich in einer eigenen Arbeit (›Phänomenologie und Psychiatrie‹) entfalten. ›Warum werde ich nicht satt‹ ? – singen die ›Toten Hosen‹. ›Wann kommt (endlich) die große Flut, die mich hinwegnimmt in ein neues großes Leben?‹ ; – so die Sehnsucht von Witt und Heppner. 131 132

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Kultur‹. So scheint es uns; und das ganz unabhängig davon, ob wir es ›begreifen‹ oder nicht! – So verwundert es auch nicht, dass der ›Gesamtzustand der Großstadt‹ aus unterschiedlichster Perspektive (sozial, anthropologisch, metaphysisch und theologisch) als beispielsweise ›materialistisch‹, ›oberflächlich‹, ›nihilistisch‹ oder als ›gottlos‹ abgetan wird. 133 Der ›großstädtische Mensch‹, so sagt man (glaubt es sogar empirisch unterlegen zu können), sei ohne irgendein ›höheres Interesse‹, ohne jedes ›religiöse Gespür‹, offensichtlich ohne irgendein ›metaphysisches Bedürfnis‹. So könne einem ›klar Denkenden‹, so sagt man uns, eines nicht mehr wirklich verborgen bleiben: Die ›moderne Großstadt‹ (also die Form der ›weltumspannenden‹ Megapolis) gestalte einen ZeitRaum, der philosophisch und theologisch als ganz und gar ›dürftig‹ begriffen werden müsse. – Ja sogar so: Diese ›Moderne‹ sei ein ZeitRaum (und das komme ›verschärfend‹ hinzu), der zuerst und zumeist von seiner ›metaphysischen Dürftigkeit‹ nichts wisse. Der Mensch der Moderne, der ›großstädtische Mensch‹, habe sich, so scheint es also, mit seinem bloß ›vordergründigen, oberflächlich ausgerichteten DaSein‹ im Horizont einer ihm nicht einmal bewussten, eben seiner Sinnlosigkeit eingerichtet. Die metaphysische, theologische und möglicherweise auch damit zusammenhängende existentielle Dürftigkeit dieses Daseins sei praktisch verdrängt und vergessen. 134 – Eine, das drängt sich uns geistesgeschichtlich auf, geradezu ›gnostische Perspektive‹. – So überrascht es uns auch nicht wirklich, dass diese von einigen Philosophen und Theologen ausgerufene ›Verdüsterung der Erde‹, der Hinweis auf die ›Flucht der Götter‹, ›Abstumpfung der Seelen‹, wie es scheint, den modernen Menschen nicht wirklich ernsthaft beunruhigt. 135 – Schauen wir wiederum selbst hin und vor allem uns selbst zu. Schauen wir phänomenologisch hin, das ist ohne 133 Wobei die Bezeichnung ›nihilistisch‹ weder philosophisch noch philologisch zureichend geklärt wird. Die bloßen Verweise auf ›Nietzsche‹ werden diesem Phänomen nun wahrlich nicht gerecht. 134 Rilke in seinem ›Großstadt-Roman‹ (Malte Laurids Brigge): »Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritt, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? (…). Ja es ist möglich. (…). Ist es möglich, dass alle Wirklichkeiten nichts sind für (diese Menschen); dass ihr Leben abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer – ? Ja es ist möglich.« (Sämtliche Werke. Band VI. Frankfurt/M 1987. S. 727.) 135 »Der geistige Verfall der Erde ist so weit fortgeschritten, dass die Völker die letzte geistige Kraft zu verlieren drohen, die es ermöglicht, den (in Bezug auf das Schicksal des

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dogmatischen Zorn und fundamentalistischen Eifer! – Tatsächlich, manche unserer Lebensformen, alltäglicher Verhaltensweisen, Daseinsgestaltungen, Lebensplanungen könnten durchaus diese Rede von einer ›metaphysisch‹ und religiös ›dürftigen Zeit‹ stützen. Kurz und knapp: es mag scheinen, als ob diese Vorhaltungen ›in der Tat‹ nicht nur eine philosophisch und theologisch übertriebene dramatisierende Zuschreibung wären. 136 – Eines ist nun in diesem Zusammenhang trivial und offensichtlich nicht zu leugnen! Und ist gerade so, mit dieser Selbstverständlichkeit, für uns phänomenologisch beredt. Die Kirchen, mitsamt ihren Formen der ›organsierten Religiosität‹, ihren dogmatischen, liturgischen und pastoralen Gestaltungen, sind tatsächlich weitgehend aus den ›Zentren‹, dem ›Blickfeld‹ unserer Großstädte verdrängt. (Wie unterscheidet sich, beispielsweise, ein Karfreitag vom 1. Mai?) Schon ganz augenscheinlich bestimmen also ›die Kirchen‹ nicht mehr das Großstadt-Bild. – Blicken wir uns einfach weiter um. Die Kirchen als religiös gedachten Bauwerke, als ›Gotteshäuser‹ mit ihrem liturgischen, kultischen Zweck liegen, befinden sich, ordnen sich für uns ein irgendwo ›am Rande‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹. Gleichgültig ›neben‹ anderen Bauten, anderen Zwecken. 137 Oft genug kaum wahrnehmbar, kaum zu unterscheiden. 138 Das ›kirchliche Leben‹, also religiöse Weltsichten, Lebensvorlagen, Normen, Rituale, sind für unser Da-und-So-in-der-Welt-sein zumindest keine zentrale existentielle Ordnungsfigur mehr. (Möge das jeder bei sich selbst ›überprüfen‹.) Dafür brauchen wir nun wahrhaftig keine ›religions-soziologischen Erhebungen‹. Das ist für uns augenfällig. Der Großstädter kennt keine ihn wesentlich verpflichtenden ›heiligen Räume‹, kennt ›Seins‹ gemeinten) Verfall auch nur zu sehen und als solchen abzuschätzen.« (M. Heidegger. Einführung in die Metaphysik. Tübingen 19764. S. 29.) 136 Stefanie Flamm schreibt: »Wir haben uns damit abgefunden, unsere Mitte nicht zu finden, und stehen dazu. Denn wir haben uns mit sehr vielen abgefunden, und dann auch wieder nicht.« (Lifestyle ist alles was uns bleibt. In: Peter Kemper u. a. but I like it. Jugendkultur und Popmusik. Stuttgart 1998. S. 425.) 137 Vgl. dazu auch Wolfgang Trillhaas. Die Großstadt sei »nicht mehr die Welt, in der die Menschen darauf warten, dass der liebe Gott seine Hand auftut und gute Gaben gibt, sondern es ist die Welt, in der alles dem eigenen Fleiß, der wissenschaftlich-technischen Planung und der fortschreitenden Industrialisierung verdankt wird.« (Profanität – Säkularisierung – Säkularität. In: Richard Schwarz (Hg.) Menschliche Existenz und moderne Welt. Teil I. Berlin 1967. S. 198.) 138 Manche Verantwortliche der Kirchen werden sagen: ›das sei ganz bewusst so geordnet‹.

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keine ›heiligen Zeiten‹, keine ›heiligen Handlungen‹ mehr. (Wenn überhaupt, müsste hier auf die eigenartigen ›Rituale‹ bei Sportgroßveranstaltungen hingewiesen werden; oder einer sagt: ›die Zeit der samstäglichen Sportschau ist mir heilig‹.) – Nur noch selten werden traditionell religiöse Symbole ausdrücklich als ›geglaubte‹ religiöse Anker vorgestellt und gleichsam ›selbstverständlich gelebt‹. Eher schon werden sie vorgestellt als bloß ›historisierende Ornamentik‹ oder als ›stylischer Schmuck‹ ; unausgesprochen damit vielleicht noch verknüpft: eine verschwommene ›magische Konnotation‹. Religiöse Bauten, Zeichen, Formen werden wahrgenommen und auch so vorgestellt als museale, ästhetisch interessante Restbestände, exotisch, anheimelnd oder unheimliche Erinnerungen und Phantasien auslösend. Eingebaut in Stadtführungen (gleichwertig dem ›historischen Weinkeller‹). Sagenhafte Muster – verbunden mit ›es war einmal‹ ! 139 (Schade! Oder Gott sei Dank! Wir brauchen es nicht mehr.) – Nur gelegentlich mag sich bei diesem oder jenem, da oder dort, ein ›existentielles Unbehagen‹ einstellen und mehr oder weniger ausdrücklich zu Wort melden. Etwas fehle uns hier und jetzt mit dieser unserer ›Kultur der modernen Großstadt‹. 140 Sie bloß ›säkular‹ zu nennen, wäre phänomenologisch verfehlt! – Und auch die Reflexion unserer Wahrnehmung und Reflexion der Reflexionen selbst dürfen hier nicht außen vor bleiben. Sie gestaltet unseren ersten phänomenologischen Befund mit. Eine Vorstellung, auch das gehört hierher, ausdrücklich nur beschreibend und ohne Eifer, Betroffenheit, Kritik und Polemik. – Auffällig ist also, dass wir im großen Ganzen das alles vermerken (können) ganz ohne innere Erregung.

139 »Das religiöse Verstummen von Traueranzeigen, der Verlust öffentlich manifester religiöser Kontur staatlich sanktionierter kirchlicher Feiertage, die mobilitätsbedingte zunehmende Indifferenz der Partnerwahl gegenüber Konfessionsunterschieden, die Bekenntnisunschärfe der Sonntagsworte von Pfarrern im Fernsehen, die progressive Unscheu der Sightseeing-Touristen im Dom, die curriculare Entkanonisierung von Bibelund Gesangbuchkenntnissen – das sind Indizien für Säkularisierungsvorgänge der hier gemeinten Art.« (Hermann Lübbe. Religion nach der Aufklärung. Graz. Wien. Köln 1986. S. 11.) 140 Beispielsweise Alfred Müller-Armack: »Die Auflösung des Glaubens ist keineswegs ein rein theologisches Problem, das nur insofern existiert, als man die Dinge vom Standpunkt einer bestimmten Religion aus betrachtet, und das wesenslos wäre, sobald man ihn verlässt. Vielmehr sind sie eine konkrete Erscheinung mit höchst realen geistigen und sozialen Konsequenzen und als solche in der geisteswissenschaftlichen Betrachtung nicht zu übersehen.« (Das Jahrhundert ohne Gott. Münster 1948. S. 54.)

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Zumindest uns im Alltag damit nicht allzu sehr belasten. Auch das ist also phänomenologisch bemerkenswert. – So scheint uns die Behauptung also ganz und gar nicht mehr so abwegig, dass die Lebenswelt ›Großstadt‹ zumindest ›auf ihrer Oberfläche‹ a-religiös sei. 141 – Auch das ist sicher kein Hinweis auf einen ›Untergang des Abendlandes‹ (Oswald Spengler). – Aber gewiss ein sichtbares, augenfälliges Verenden ›dominanter abendländischer Kulturmuster‹ (zudem nun mal ›christliches Denken und Handeln‹ gehören). 142 Schon 1951 notiert Ernst Jünger, man habe nun mit »Gebieten« zu rechnen, »in denen die Kirchen nicht mehr vorhanden oder selbst zu Organen der Tyrannis verkümmert sind. Wichtiger noch ist die Erwägung, dass heute in sehr vielen ein starkes Bedürfnis nach kultischen Formen bei gleichzeitiger Abneigung gegen die Kirchen besteht. (…). Man könnte sagen, dass immer ein bestimmtes Maß an Gläubigkeit besteht, das durch die Kirchen legitim gestillt wurde. Nun frei geworden, heftet sich die Kraft an all und jedes an.« 143 – Gerade diese ›These‹ Jüngers ist für uns auch phänomenologisch von Interesse. Eine Frage drängt sich nämlich nach vorne und lässt sich nicht mehr zurückstellen. Was, wenn der in der Theologie, Philosophie, Psychologie und Soziologie verbreitete allgemeine Blick auf ›Religion und Gesellschaft‹ von vorne herein (und immer noch) zu eng gerichtet, 141 Der Großstädter lebe, als ob bei ihm nun endgültig das Ende der großen Erzählungen angekommen sei. Die ›Postmoderne‹ sei also durchaus mehr als nur ein bloß intellektuelles Spiel. Sie zeige sich als gelebter Alltag. 142 Es wird viel darüber nachgedacht, welche Gründe dieses, uns nun so selbstverständlich erscheinende, Verenden religiöser Institutionen habe. Für Karl Löwith (beispielsweise) ist das ganz in der historischen Ordnung des Abendlandes. »Die Aufnahme und Verarbeitung eines Bruchstücks griechisch-römischer Tradition durch die christliche Kirche und Theologie ist niemals eine einstimmige Einheit geworden, sondern stets ein gespanntes Verhältnis von Unvereinbaren geblieben, um bei Kierkegaard zu einer neuen Entscheidung für den christlichen Glauben und bei Nietzsche gegen das Christentum zu führen.« (Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident. In: Weltgeschichte und Heilsgeschichte. Sämtliche Schriften 2. Stuttgart 198. S. 577.) Für Ernst Jünger liegt es am Charakter der Kirchen als menschliche Einrichtungen: »In diesem Sinne bedroht sie stets eine Verhärtung und damit das Versiegen der spendenden Kraft. Darauf beruht das Traurige, Mechanische, Unsinnige an manchen Gottesdiensten, die Qual der Sonntage, dann das Sektierertum. Das ›Institutionelle‹ ist zugleich das Angreifbare; der durch den Zweifel geschwächte Bau stürzt über Nacht, falls er nicht einfach in ein Museum verwandelt wird.« (Der Waldgang. Frankfurt/M 1952. S. 90 f.) 143 Der Waldgang. S. 90.

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zu eng gefasst sei? – Also was, wenn durch diese ›neuzeitliche Perspektive‹ schon der wirkliche Umfang und die eben wesentlich lebensweltliche ›Ortschaft des Religiösen‹ verfehlt würde? Was, wenn ganz grundsätzlich unser für uns wesentliches (existentielles) Da-und-Soin-der-Welt-sein außerhalb dieser ›wissenschaftlich vernünftigen‹ Reflexionen verbliebe? – Und in der Tat, es scheint mir, als ob selbst ›große Teile‹ der ›kritischen‹ Religionsphilosophie der Gegenwart, um von der Theologie und den Kultur-Wissenschaften ganz zu schweigen, dem ›ideologischen Forschungsgrundsatz‹ folgten: ›mehr von dem Gleichen‹. Also immer wieder aufs Neue diese oder ähnliche Fragen wie: ›Säkularisierung – Ja oder Nein?‹ ›Leben wir in einer postsäkularen Gesellschaft?‹ ›Fördert und fordert der Monotheismus die Gewaltbereitschaft?‹ U. ä. Noch bedeutsamer als diese sehr einfach strukturiert anmutenden Frageschleifen ist für uns das Folgende: Die Philosophie setzt ganz selbstverständlich voraus, dass sie auch hier das ›letzte‹, das ›entscheidende Wort‹ zu sprechen habe. – Noch einmal: was also, wenn das ›Wesen unserer existentiell-wesentlich wirklichen Religiosität‹ nicht im Horizont dieser neuzeitlichen Vernunft verortet wäre? Wenn auch die traditionellen Formen wissenschaftlicher, philosophischer und theologischer (neuzeitlicher) Aufklärung hier ›wirklich‹ nicht greifen? 144 – Eine Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ darf sich vor allem bei diesen sogenannten ›großen Fragen‹ nicht durch psychologisch, philosophisch oder theologisch ›tradierte Selbstverständlichkeiten‹, diesen ›evident scheinenden‹ Ansichten der ›reinen‹ Vernunft bestimmen lassen. Wir schauen auch hier phänomenologisch wirklich selbst. Theologische, religionswissenschaftliche, soziologische, psychologische Vorstellungen klammern wir auch hier ein. Stattdessen (und das ist die Folge, das nehmen wir in Kauf) ein existentiell unsicherer, auch philosophisch ungesicherter Weg phänomenologischer ›Horizontuntersuchungen unseres Da-und-So-seins‹. Das kann auch hier zunächst nicht mehr sein als eine angestrengte anthropologische Spurensuche. Was hätten wir phänomenologisch ›in Wirklichkeit‹ sonst? – Getragen werden wir allerdings von einer ›starken intuitiven Überzeugung‹, die uns eine Möglichkeit unserer Wirklichkeit öffnet. Das scheint durchaus als ein ›Vor-Urteil‹ ! Und bestimmt sich tatsächlich auch genauso und als ›nichts weiter darüber hinaus‹ ! Und zwar: dass die wesentlichen, vor allem unwillkürlichen ›existentiellen‹ Ge144

Die Grenzen der Aufklärung mit Blick auf die archaische Wucht.

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staltungen der ›Religiosität‹ (des Mensch-Seins) nicht wirklich-wesentlich verschwinden, nicht wirklich verdunsten können. 145 – Wir schauen also phänomenologisch wie immer selbst hin auf uns selbst. Auf uns als dieses Da, das So-in-dieser-Welt-ist. Schauen hin, aufmerksam, unsicher und doch ›unbeschwert‹ von diesen oder jenen ›theoretischen Vorgaben‹. (Bei Kant lesen wir … ; Feuerbach meint … ; mit Blick auf Nietzsche …) Wir sind sogar ›rücksichtslos‹, wenn auch schweren Herzens, gegenüber unserer eigenen ›konfessionellen Tradition‹. – Von einem aber dürfen wir ausgehen: Die existentielle Bedeutung von (wie auch immer) ›Religiös-sein‹ kann für uns nicht ernsthaft bestritten werden. ›Religiöse Muster‹ zeigen sich phänomenologisch als existentiell wesentliche Gestalten und wirkliche Gestaltungen Daund-So-in-der-Welt-zu-sein. Zeigen sich sehr unterschiedlich. Also anthropologisch, sozial ›konstruktiv‹ (das Mensch-sein aufbauend, fördernd, entfaltend, entlastend u. ä.), aber durchaus auch und gar nicht so selten, denken wir beispielsweise an manche Fundamentalismen, als ›existentiell problematisch‹ (einengend, blockierend). – Aber gleich wie! Ein Dasein ist immer, wirklich immer in und mit einer das Da erst so ermöglichenden, es ausrichtenden, fundierenden, ›religiösen‹ SinnForm. Es mag diese Gestaltung, diese Formen und existentiellen Formungen nennen, wie es will. Das können nun willkürlich gesetzte aber auch unwillkürlich sich entfaltende Akte sein – immer aber sind sie phänomenologisch intentionale Akte. Daran können wir anknüpfen. Das ist also als Welt-Anschauung phänomenologisch ein existentielles Entwerfen ausdrücklich lebensweltlicher Wirklichkeiten. Eine konstitutive Potenz! Und eigenartig genug, auch das sehen wir: es ist zugleich auch ein diesen ›seinen‹ so gesetzten Wirklichkeiten selbst ausgesetzt sein! – Daher, aber das nur im Vorbeigehen, sind diese, so eng mit unseren Da-in-der-Welt-sein verknüpften, ›religiösen Muster‹ auf Dauer nicht substituierbar. (Mir ist um das Bleiben dieser Muster nicht bange.) – Das alles also haben wir vor diesem unserem lebensweltlichen Hintergrund wirklich als wesentlich vor Augen. Wir sehen es selbst als unser Da-und-So-sein. Daran können wir also gar nicht vorbeise145 Aus tiefenpsychologischer Sicht Erich Fromms: »Das Studium des Menschen führt uns zur Erkenntnis, dass das Bedürfnis nach einem gemeinsamen Orientierungssystem und einem Objekt der Hingabe in den Bedingungen des menschlichen Daseins tief verwurzelt ist.« (Gesamtausgabe. Band I. Religion. München 1989. S. 241.)

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hen. Und – wir sehen uns hier bestätigt. Die tradierten, überlieferten Formen, das als grundsätzlich ›unbedingt-gültig‹ gedachte Regelwerk, so wie es durch die Kirchen ›theoretisch‹ vorgestellt und ›praktisch‹ eingeführt und gefordert wurde und wird, scheinen für unser wirklich existentielles (leibhaftes) In-der-Welt-sein nicht mehr hinzureichen. Das ist, auch das sehen wir selbst, keine Frage von ›Veraltet-‹ oder ›Modern-sein‹, keine Frage einer ›pastoralen Pädagogik‹, eines ›effizienteren Unternehmenskonzeptes‹ – ›wie sage ich es meinem Kinde‹. Ein immer wieder behaupteter ›theologisch-pastoraler Fluchtweg‹. Sondern das ist (die Kirchen wollen es nicht wahrhaben) phänomenologisch existentiell herausfordernder. Das verweist uns nämlich auf die grundsätzlich anthropologische Frage nach unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ als existentieller Ortschaft. Also die Frage nach uns selbst als wesentlich-wirkliches So-Da-in-der-Welt-sein. Kurz und knapp: Praktisch ›So-Da-zu-sein‹ reflektiert als phänomenologische Aufforderung, sich der ›anthropologischen‹ Grund-Frage endlich zu stellen: welche religiösen Muster in dieser unserer Lebenswelt ›Großstadt‹ überhaupt wirklich noch existentiell gelebt werden – werden können. – Allerdings liegen hier die philosophischen, theologischen und religionswissenschaftlichen Schwierigkeiten geradezu auf der Hand. Eindrücklich dicht und unübersehbar! 146 – Das ist unsere Frage: In welcher Form sind diese unterschiedlichen, mehr oder weniger ›alltäglichen‹ existentiellen Gestaltungen ausdrücklich als ›religiöse Formen‹ zu fassen, so zu benennen und zu reflektieren? Also die Vorstellung einer ›Phänomenologie existentieller Muster‹, der Formen, der Rhythmen unseres Daseins u. ä., die sich in der Lebenswelt ›Großstadt‹ zeigen, bebildern (auch verdecken, entstellen) und sich vor allem wirklich als ›existentielle religiöse Sehnsüchte‹ reflektieren und dechiffrieren lassen. Phänomene also, die sich uns, für uns, von sich selbst her phänomenologisch als ›religiöse‹ zeigen, ›reflektieren‹ und entdecken lassen. Sich so, ganz ohne traditionell theologische Vorstellungen und kirchliche Zuschreibungen, phänomenologisch als, in weitestem Sinne, ›spirituell für uns‹ in Geltung setzen. – Nennen wir es eine Suche nach einer in die Lebenswelt ›Großstadt‹ eingefalteten, ›anonymen wesentlichen Religiosität‹. Also – existentielle Selbst-Wahrnehmungen, Denkbewegungen, Reflexionen, Deutungen, ›diesseits‹ oder ›wirklich jenseits‹ der 146 Auch hier gilt: Umso erstaunlicher ›die Fähigkeit‹ der Kirchen und ihrer Theologen daran vorbeizusehen!

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›vernünftigen Konfessionen‹. Sie liegen verborgen vor dem tradierten (›neuzeitlich-vernünftigen‹) theologischen und philosophischen Blick. – Das kann nun gar nicht anders sein. Mit diesem damit verflochtenen ›existentiellen lebensweltlichen Selbstverständnis‹ hat sich das Dasein unwillkürlich außerhalb der Hochreligionen verortet. Selbst dann, wenn es sich dort noch als eingeordnet glaubt. – Dabei haben wir nicht nur die in diesem Zusammenhang viel genannten Phänomene unserer Tradition ›fremder Religiosität‹ im Blick. 147 Sondern wir denken vor allem auch in diesem Falle an Formen, Gestalten und Gestaltungen der modernen Kunst. Beispielsweise an die ›existentiellen Reflexionen‹, die der Expressionismus (er ist in besonderer Weise ›spirituelle Reflexion‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹) uns vorführt. Zu Recht wird sogar von einer ›Theologie des Expressionismus‹ gesprochen. 148 – Das sind ›offensichtlich‹ großstädtische Bilder und Texte, ›Bewegungen‹, die uns, reflektieren wir sie ›radikal‹, zugleich eine (nennen wir es) ›archaisch anmutende Tiefen-Religion‹ zeigen (können). Eine wortwörtlich ›fundamentale Ästhetik‹ religiösen So-in-der-Welt-seins. Daseins-Gestaltungen, beispielsweise Verzweiflung, Trotz, Aufschrei, Auflehnung, Leiden und Suchbewegungen nach Sinn. Die aber nun in der Regel gesellschaftlich zurecht gelegt und so, trotz aller ›Anstößigkeit‹ (sähe man nur genau hin), ›alltagskonform transformiert und vernünftig veräußert‹ werden. – Diese zuerst und zumeist unbemerkten ›Konversionen‹ unserer uns wesentlich existentiellen Ängste und Hoffnungen, unserer ›Mythen‹, in unsere leibhafte Alltäglichkeit sind für uns die unwillkürliche Regel und nicht die willkürliche Ausnahme. Diese ›Tiefen-Religion‹ (wobei es auf den Begriff nun wahrlich nicht ankommt) ist nicht etwas, das ein Mensch hätte, wie er beispielsweise eine ›Konfession‹ hat oder eben nicht hat. 147 Beispielsweise die vor allem in den Großstädten seit dem 19. Jahrhundert sich verbreiteten (sogenannten) ›fernöstlichen Religionen‹. Von Tagore bis zu den Gurus der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Klaus Heinrich deutet es so: »Entkörperungsbedürfnis signalisiert eine übermäßige Belastung durch Verkörperungsanforderungen, die Gier nach jener Erfahrung Erfahrungsverlust – ›transzendentale Meditation‹, ›Yoga für Fortgeschrittene‹, Fitnesstraining unter dem Namen ›Zen‹ und die Askese, die sich im Nichthaftenbleiben übt, als Instrument der unbeteiligten Verfügung, darum nützlich fürs Management ebenso wie für den Davongelaufenen (…). Randphänomene spiegeln das Zentrum wider und agieren dessen Konflikt aus.« (Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte. Frankfurt/M 1983. S. 88.) 148 Wolfgang Rothe. Theologische, soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur. Frankfurt/M 1977.

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Etwas, zu dem er sich bekennen, dass er verlieren, wiederfinden oder ausdrücklich auch ein für alle Mal ablegen könnte. Nennen wir es mit einem Ausdruck Georg Simmels, eine wahrhaft ›letzte Seins-Bestimmtheit‹. – Das ist sicher kein sehr klarer, kulturell ausdifferenzierter Religionsbegriff. Also religionsgeschichtlich, theologisch, philosophisch ausgeleuchtet; vernünftig geordnet; sozial, gesellschaftlich, institutionell organisiert. Ausgestattet mit diesen oder jenen lehr- und lernbaren Inhalten, diesen oder jenen festgelegten Kulten, hierarchisch geordnet. – Zugegeben, das zu sehen ist nicht leicht für uns. Für uns, die wir hier auf große kultürliche Differenzen ›trainiert‹ und philosophisch eingeschworen sind: beispielsweise ›wahr‹, ›heilig‹, ›gut‹, ›schön‹, ›das Böse‹, ›die Sünde‹ u. ä. Für uns, die wir traditionell auch heute noch ›Religion‹ und ›Konfession‹ gleichsetzen. – Es ist also für uns nicht leicht, uns darauf einzustellen, dass gerade unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ diese Vorgaben der ›abendländischen‹ Tradition endgültig einebnet und praktisch vergleichgültigt. – Wie auch immer. Ob man sich im Einzelnen nun auf diese Perspektive einlässt, einlassen kann, oder nicht. Zumindest über das Folgende werden wir aber sicher nicht in Streit geraten. Und zwar: Es wäre vor diesem uns wesentlich-wirklichen existentiellen Hintergrund So-Da-zu-sein (eben beispielsweise als ›Krank-sein‹, fragil, verunsichert sein und vor allem als Sein-zum-Tode) doch sehr verwunderlich, wenn sich unsere Lebenswelt ›Großstadt‹ ganz ohne, in diesem Sinne, ›religiöse‹ Grund-Muster überhaupt gestalten und zeigen würde. – Diese für uns existentiellen Muster können mit ihrer ›wesentlich religiösen Farbe‹ verdeckt, verborgen, maskiert sein. Unserer alltäglichen Aufmerksamkeit entzogen, weil durch diese oder jene ›Verzerrungen‹ entstellt. Beispielsweise schon durch die eigenartigen, immer möglichen (zuerst und zumeist unbemerkt sich vollziehenden) ›Konversionen‹. Etwa sich aufzulösen scheinen in soziale, gesellschaftliche, ökonomische, auch ästhetische Gestaltungen; oder sich verflechten mit sehr unterschiedlichen Interessen, Interessen-Lagen unseres Da-und-So-Seins. 149 – Lassen wir uns nicht entmutigen. Das heißt für uns immer weiter, 149 So ist die Auslagerung des ›Ritus‹, des ›Kults‹ in Aktions-Kunst auffällig. Etwa bei Beuys. Volker Harlan schreibt mit Blick auf Beuys. »In diesem Sinn vollzog er auch seine Aktionen, die teils wie ein Ritus, teils wie ein Theaterstück abliefen.« (Was ist Kunst. Werkstattgespräche mit Beuys. Stuttgart 19965. S. 89.)

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immer entschiedener ›phänomenologisch Ausschau halten‹ nach ›religiösen Mustern‹, die sich möglicherweise eben nicht in dem historisch vorgegebenen, uns vertrauten Rahmen ›Religion‹ halten. 150 Also eine phänomenologische Suchbewegung nach ›existentiellen Suchbewegungen‹. Beispielsweise nach Sehn-Süchten, unwillkürlich sich einstellenden Antrieben (dahin, dorthin; das-da, jenes-dort); kurz, nach (sich möglicherweise selbst-fehldeutenden) existentiellen Grund-Spielen eines ›wesentlich irritierten‹ In-der-Welt-seins. Das sind Sehnsüchte, Grund-Spiele, die, davon gehen wir aus, eben nicht offen auf der Ebene ›der Vernunft‹, einer sozialen, gesellschaftlichen Vernünftigkeit zu finden sind. Also so oder so legitimiert sind durch anerkannte Traditionen. 151 Also Vorstellungen, die sich damit in Wirklichkeit auch den neuzeitlich philosophischen und theologischen Urteilen entziehen. Sich so nicht einmal sehen und schon gar nicht begreifen lassen. 152 Kurz – aufmerken auf ›Phänomene‹, die sich auch nicht mehr eineindeutig als ›profan‹ oder ›heilig‹, ›immanent‹ oder ›transzendent‹ benennen und unterscheiden lassen. Sagen wir es so: phänomenologisch ›existentiellen Glauben‹ in den ›irrationalen‹ Tiefen unseres Da-undSo-in-der-Welt-seins aufspüren, beschreiben und so für unseren Alltag

150 Das können Verhaltensweisen, Lebensstile, Selbst-Gestaltungen sein, denen man das Prädikat ›religiös-sein‹ herkömmlich nicht zuschreibt. Aus einer anderen Perspektive: Paul W. Pruyser macht die Therapeuten darauf aufmerksam, dass möglicherweise »uns die Patienten Antworten religiösen Inhalts geben, ohne dass es uns bewusst wird? Und vielleicht, ohne dass es ihnen selbst bewusst ist.« (Die Wurzeln des Glaubens. Eine Psychologie des Glaubens. Bern. München. Wien 1972. S. 27.) 151 Auf die aber auch die ›rational geordneten Kultur-Religionen‹ aufruhen. Andrew Samuels schreibt im Blick auf die ›Gottesvorstellungen‹ : »Ohne dogmatische und intellektualisierende Verkleidung fußen die Religionen auf Erfahrungen, die uns scheu und ehrfürchtig machen – Visionen, Enthüllungen, Transformationen, Wunder, Konversionen etc. Diese Dinge reichen tiefer als alle Versuche, in Gott einen glorreichen Vater oder anthropos sehen zu wollen, die den Wunsch des Ich spiegeln, Dinge ›da draußen‹ zu sehen, in der Projektion.« (Jung und seine Nachfolger. Neuere Entwicklungen in der Analytischen Psychologie. Stuttgart 1989. S. 181 ff.) 152 Im Übrigen sind wir, zuerst und zumeist, eben nicht auf die durch Philosophie und Theologie so nach vorne gestellten ›Letzt-Fragen‹ ausgerichtet. Zu Recht schreibt daher Paul W. Pruyser: Existentiell ausgerichtete Philosophen hätten »es mit der ontologischen Frage leichter als die Theologen klassischer Denkweise. Sie haben erkannt, dass die Argumente für die Existenz Gottes weniger wichtig sind für eine lebendige und echte Religiosität, als man bisher angenommen hatte. Sie haben den tiefgreifenden, jedoch sehr sublimen Irrationalismus aller religiösen Behauptungen erfasst.« (1972) S. 34.

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praktisch entdecken. 153 Phänomenologisch aufspüren vor allem als unsere eigenen, für uns bedeutsamen ›existentiellen Suchbewegungen‹, Form unserer wie ungerichtet wirkenden ›Unruhe unseres In-derWelt-seins‹. Hinschauen auf die zuerst und zumeist verdeckten ›archaischen Muster‹, maskiert vor allem durch vertraute Alltäglichkeit. – Vorstellungen, Inszenierungen also, die von uns phänomenologischreflexiv als Formen des ›anthropologisch wesentlich Religiösen‹ entdeckt und ›existentiell‹ gelesen werden. Das ist ausdrücklich nicht gedacht als Herstellung ›religiös-vernünftiger Sicherheiten‹. Als Apologie des Religiösen. Sondern es braucht und fordert, ja entwirft erst für unseren wahrhaftig ›existentiellen Glauben‹ die hier und jetzt einzig mögliche Ortschaft. 154 – Das lässt uns nun sehr grundsätzlich auf die ›ursprünglich existentielle‹ Kraft des Religiösen (überhaupt) aufmerken. Eine ›Kraft‹, die sich der nach wie vor verbreiteten religionstheoretischen Klassifizierung: ›konstruktiv‹ oder ›destruktiv‹ (o. ä.) entzieht. Wir werden phänomenologisch aufmerksam auf ein wuchtiges existentielles Potential, das durch die sogenannten ›Hochkulturen‹ nach und nach ›entschärft‹, geordnet, ›zugerichtet‹, zivilisiert, ›domestiziert‹, auch, und damit eng verbunden, ›politisch utilitarisiert‹ worden ist. Diese Versuche also, ›eigengeartetes Unheimliches‹, ›Nicht-geheuer-scheinendes‹, vielleicht auch ›Rückwärtsgerichtetes‹ und sogar möglicherweise politische Gemeinschaften ›Zersetzendes‹ mythologisch, theologisch, philosophisch, ›wissenschaftlich‹, sozial verträglich ›einzurichten‹. – Es scheint, als ob diese (nennen wir es vorläufig ganz allgemein) ›existentiell archaische Potenz‹ sich hier und jetzt mit der Lebenswelt ›Großstadt‹ wieder Raum verschaffe. Geradezu ›anonym‹. Also als religiöse Form, als existentielle Grund-Gestaltung des Religiösen noch weitgehend unbemerkt, noch ganz unwillkürlich ›wirkt‹. Und so mit seinem ›ursprünglich‹ religiösen Wesen nur verstellt für uns da153 Vgl. auch die immer noch anregende Arbeit von Robert Winker. Die Religion, so schreibt er, dringe »von einem jenseits der bekannten Bewusstseinshaltungen gelegenen Urgrund herein und erfüllt von da aus den ganzen Menschen mit ihren Leben. (…) Wenn der denkende, fühlende, wollende Mensch diese Tiefen, die er vielleicht hie und da in seinem Erkennen, seinem künstlerischen Schauen, seinem sittlichen Handeln wie ein dunkel bewusste Schranke fühlte, zu klar-bewusstem Leben erwachen fühlt, ist er religiös.« (Phänomenologie der Religion. Ein Beitrag zu den Prinzipienfragen der Religionsphilosophie. Tübingen 1921. S. 54.) 154 Der radikale Unterschied zwischen ›Vernunft‹ und ›Glaube‹ ist wesentlich; er kann selbst nicht vernünftig eingeebnet werden. Vgl. dazu Karl Löwith. Wissen. Glaube und Skepsis. Göttingen 19623. S. 6.

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ist. – Rufen wir hier (auch in diesem Fall) die moderne Kunst als Zeugin. – Zugrundegelegt wird von uns ein phänomenologisch ›sehr weiter‹ Religionsbegriff. 155 Die Schwierigkeiten (und die ›Vorhaltungen‹) liegen da geradezu auf der Hand. Wissenschaftlich, theologisch und philosophisch. Vor allem auch für und von uns selbst: ›Was‹ ist in diesem phänomenologischen Sinne überhaupt ein ›wirkliches religiöses Muster‹ ? Unser Blick ist, darauf haben wir uns selbst aufmerksam gemacht, zuerst und zumeist eingeengt durch unsere Tradition, unsere immer auch religiös gebundene Herkunft. Der erste Schritt daher auch hier: unsere religiöse Tradition einschließlich ihrer Theologien phänomenologisch einzuklammern. (Phänomenologisch Einklammern, sich eines ›Geltungs-Urteils‹ enthalten, ist nicht Durchstreichen!) In die Klammer gesetzt werden auch die, mit diesem ›neuzeitlich-aufgeklärtenvernünftigen Religionsbegriff‹ verbundenen, verflochtenen, so fundierten, als ›vernünftig vorgestellten‹ Normen, Regeln, Institutionen. – Nicht, als ob wir uns davon praktisch abwendeten und (beispielsweise) ein ›Jenseits der Moral‹ verkündeten und lebten. Nein! Wir schauen einfach hin und zu! Schauen hin – ohne uns ›dogmatisch‹, philosophisch, theologisch, religionswissenschaftlich festlegen zu lassen. – D. i. ein Ein-Schauen in die unterschiedlichsten existentiellen, möglicherweise auch ›irrational‹ anmutenden Suchbewegungen des ›großstädtischen Menschen‹. Sein (also unser) beispielsweise ›Ausschau-halten‹, ›Auf-dem-Sprung-sein‹ nach – so nennen wir es sehr allgemein – Glück, Erfüllung, Freude, der ›wahren‹ Liebe. 156 Oder da sind all diese, wieder uns durch uns selbst vertrauten, existentiellen Mühen sich ›einzuordnen‹, ›anzukommen‹, Grund-zu-finden. Beispielsweise, ›Heimatzu-haben‹, ›Heimat-suchen‹, ›ganz-zu-werden‹, Sinn zu finden. Oder unser (mehr oder weniger ›alltägliches‹) verzweifeltes Ringen um ›Er155 Ähnlich bei Heinz Robert Schlette. Der Titel ›Religion‹ – so schreibt er – meine nicht nur »die formale Grenzüberschreitung als solche und nicht bereits eine Beziehung zu Göttlichem oder Heiligem, vielmehr jede Weise der Beziehung zu einem als absolut akzeptierten Sinn, die über die philosophische Aporetik, über das rational Unentscheidbare, mittels einer Wahl oder Entscheidung hinausschreitet in eine Zone philosophisch nicht mehr erschließbaren Wissens und Vertrauens.« (Skeptische Religionsphilosophie. Zur Kritik der Pietät. Freiburg 1972. S. 39.) 156 Dazu auch Susanne K. Langer: »Religion ist ein schrittweises inneres Erschauen der Wesensstrukturen des menschlichen Lebens, und zu dieser Einsicht vermag beinahe jeder Gegenstand, jedes Handeln oder jedes Ereignis beizutragen.« (Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Berlin 1965. S. 157.)

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füllung‹, um Minderung der Selbst-Sorge, Milderung der Angst – und, nicht zu vergessen, all diese Formen einer mehr oder weniger heftigen ›Ekstase‹. Auch das gelesen als eine Gestaltung unserer mehr oder weniger verborgenen (verborgen gehaltenen oder uns selbst verborgenen) Sehnsüchte. Nicht zuletzt auch unsere, unser Dasein unwillkürlich, mehr oder weniger deutlich mitgestaltenden, privaten, (wie) ›kulthaften‹ Musterbildungen. Von uns eben nicht vorgestellt als therapiebedürftige neurotische Zwangshandlungen. – All das also phänomenologisch reflektiert als unser willkürliches und unwillkürliches Streben nach Sinn (den wir offensichtlich vermissen), unser sich ausstrecken nach einem ›Leben in Fülle‹ (das wir offensichtlich nicht haben). Kurz und knapp: Im phänomenologischen Blick, unserem Schauen, unserer existentiellen Reflexion: unser eigenes eigenartig ›unruhiges Herz‹. Und dabei ist eine unserer Möglichkeiten für uns hier ganz fundamental. Schauen wir nur genau hin. Und zwar unsere Möglichkeit, vielleicht sogar ein Zwang, zu radikalem Zweifel; von uns phänomenologisch eingesehen als Gestaltung der existentiellen Sorge um sich und um uns selbst. Vor allem ihn lesen wir phänomenologisch also als eine ›religiös‹ zu nennende Kraft. – Wie immer wir uns also drehen und wenden. Das theologisch immer wieder beschworene ›unbedingte Vertrauen‹ kann sich hier und jetzt phänomenologisch letztendlich (lassen wir alle kulturellen Vorlagen auf sich beruhen) nur auf dieses selbst wahrgenommene Drängen, diese selbst verspürte existentielle Unruhe, diesen immer wiederkehrenden Zweifel wirklich-wirklich beziehen. 157 – Auch hier können wir die Bedeutung der ›existentiellen Intentionalität‹ nicht wirklich übersehen. Also diese von uns als unsere wesentlich-wirklich-leibhaft gesetzte Intentionalität. Sie gestaltet sich als eine hochkomplexe Form einer theoretischen und praktischen ›Herstellung unserer Lebenswelt‹, unseres uns wesentlich (eben von Anfang an) gemeinsamen Da-und-So-in-der-Welt-seins. Das sind, reflektieren wir es ›abstrakt‹, mehrstrahlige, ineinander verflochtene, aufeinander aufbauende, auch untereinander ›konkurrierende‹, sich also so oder so zueinander verhaltende Akte, Aktgeflechte. Oder phänomenologisch auch so in unserem Blick: als mehrdimensionale ›Handlungen‹ ; oder 157 Selbstverständlich sind diese irritierten Suchbewegungen kein Sondergut der Moderne. Um dies zu sehen, genügt ein Blick in die Geschichte. Vgl. dazu (beispielsweise): Ulrich Linse. Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin 1983.

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auch passive, unwillkürlich scheinende ›Widerfahrnisse‹ usw. Also gleich ob willkürlich reflektiert oder nicht: Da sind ›Ansichten‹, ›Zuwendungen‹, ›Einstellungen‹, ›Reflexionen‹, die wie selbstverständlich für uns unsere Lebenswelt konkret ein- und ausrichten und vor-stellen. ›Symbolische Gestaltungen‹ sind dabei phänomenologisch ›ganz selbstverständlich‹ mit eingeschlossen. 158 – Diese konstitutiv aufbauenden Formen, Gestaltungen, auch diese oder jene unwillkürlich vorgenommenen Sicherungen unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins, so lesen wir es, tragen alle unsere theoretischen und praktischen existentiellen Angelegenheiten. Kurz, knapp und dicht: Durch diese willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen konstituieren und erfahren wir unsere Welt als durch uns wesentlich wirklich konstituiert. Mit diesen ›intentionalen Leistungen‹ wird dem Mensch-sein also zumeist schon unwillkürlich (auch das Unwillkürliche ist unsere Leistung) gleichsam ›selbstverständlich durch sich selbst Halt‹ gegeben. – Nun heißt Mensch-Sein phänomenologisch immer gemeinsam Daund-So-in-der-Welt-sein. So müssen sich folglich diese von uns gesuchten ›religiösen Gestaltungen‹, diese unsere ›existentiellen Lebensbewegungen‹ auch uns als lebensweltlich-wirklich-wesentlich für uns zeigen. – Möglicherweise, vor allem aus der Perspektive theologisch und philosophisch durchdachter Hoch-Religionen und ihren aufgeklärten ›vernünftigen‹ Reflexionen, zunächst als verzerrte, verdunkelte, sogar ›pervertierte‹ religiöse Formen und soziale Gestaltungen. Das seien, so könnte theologisch oder religionsphilosophisch gesagt werden, bloße ›Parodien‹ von Religion, ›wahrem religiösem Verhalten‹. Also vielleicht pathologische Gestaltungen einer ›Privatreligion‹. Also krankhafte, zwangsneurotische Vorstellungen, denen eigentlich der hohe Titel ›Religion‹ nicht zusteht. Die Psychoanalyse möge sich daran abarbeiten. – Diese Deutung (eine mehr oder weniger verdeckte ›Abwertung‹) verwundert uns nicht wirklich. Der abendländische Weg, einschließlich der christlichen Religion (ihrer Konfessionen), wurde und wird bis auf 158 »Symbole sind also nicht nur die diskursiv geordneten Zeichen der Sprache und die präsentativen Symbole der Kunst, sondern alle Produkte menschlicher Praxis, insoweit sie ›Bedeutungen‹ vermitteln«. (30) »Würden wir das Feld der verschiedenen Künste und präsentativen Symbolbildungen abschreiten, dann entfaltet sich allmählich ein Panorama nicht von Gegenständen, sondern von Aspekten der Welterfahrung, der Lebensentwürfe in ›ganzen Situationen‹.« (31) (Alfred Lorenzer. Das Konzil der Buchhalter. Frankfurt/M 1992.)

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den heutigen Tag ›vernünftig-willkürlich‹ ausgerichtet und gestaltet. Und das Zweifach: Zum einen mit Hilfe einer von Anfang an ›philosophisch‹ und ›wissenschaftlich‹ orientierten Theologie. Zum anderen durch das priesterlich, organisatorisch, bürokratisch rational geordnete System ›Kirche‹. Die Kirche ist mit ihren Einrichtungen, mit ihrer Theologie und auch von ihrem ›politischen‹ Selbstverständnis her eine ›kulturstabilisierende Macht‹. – Schauen wir weiter hin ohne Zorn und Eifer. Zweifellos sind diese kirchlichen Normen, Deutungen, Weltsichten historisch erfolgreich zu nennende Vor-Schriften für eine auch soziale und ökonomisch ›vernünftige‹ ›Lebens-Gestaltung‹. Wer aber hier in diesem kirchlichen Verständnis, in diesem so entworfenen Kontext ›nicht sammelt‹, der ›zerstreut‹. Mit den für ihn daraus folgenden entsprechenden Konsequenzen. – Und immer noch, vielleicht sogar mehr denn je, sind da theologische und pädagogische, auch ›utilitaristisch‹ zu nennende Versuche, ›konkurrierende‹ religiöse Erlebnisse, Vorstellungen, Erfahrungen, Lebensentwürfe, also diese ungeordnet scheinenden Bedürfnisse nach Sinn, diese ›wilden‹, wie regellos gelebten existentielle Daseinsgestaltungen ›aufzuklären‹ und ›vernünftig zu machen‹. Jeder sogenannte ›irrationale‹, möglicherweise ›asoziale‹ Überschuss wird nach wie vor ›perhorresziert‹. – Das hat, wir wissen es, nicht nur theologische Bedeutung. Das ›Religiöse‹ wurde und wird (also nach wie vor) auf diese Weise gesellschaftlich, sozial, politisch dienlich organisiert. Also verdeckt und offen instrumentalisiert. – Aber lassen wir auch das im Einzelnen auf sich beruhen. Verdichten wir es für uns so. Der Maßstab der als ›aufgeklärt‹ geltenden Religion (sie allein sei ernst zu nehmen und dürfe rechtmäßig ›Religion‹ genannt werden) ist ›im Grunde die abendländische Vernunft‹. Das Mystische, Mythische, Ekstatische, kurz, alle Formen, die aus dem (nennen wir es ganz allgemein) Unbewussten ›einfallen‹ (können), werden ›dogmatisch‹ überlagert, ›domestiziert‹, ›geordnet‹ und so ›auf Linie gebracht‹. 159 – Wir aber schauen einfach weiter hin und zu. Und schauen auch, das ist hier von besonderer Bedeutung, wiederum unserem so Schauen selbst zu. 160 – Unsere Phänomenologie der Lebenswelt ›Großstadt‹ re159 Aus der Perspektive C. G. Jungs. »Konfessionen sind kodifizierte und dogmatische Formen ursprünglicher religiöser Erfahrung.« (Psychologie und Religion. (1940) München 1991. S. 11.) 160 Das ist der Stab und Stecken unseres phänomenologischen Arbeitens. »Bei der Sache

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flektiert den wesentlich-wirklichen Zusammenhang von ›Zeit-Raum und religiösen Mustern‹. Das ist, nicht anders als bei ›Lebenswelt und Kunst‹ und ›Lebenswelt und Krank-Sein‹, eine ›korrelative und wesentliche Verflochtenheit‹. Nennen wir es eine ›phänomenologische Ur-Sache‹. Für uns ist das im Blick als eine mehr oder weniger ›geordnete Serie‹ von ›Reflexionen‹, die es phänomenologisch existentiell zu reflektieren gilt. – Das, was es da zu sehen gibt, ist wirklich und wahrhaftig nichts Außergewöhnliches! Das sind, und darauf haben wir uns ausgerichtet, durchaus alltäglich zu nennende existentielle Muster. Bei einer ersten oberflächlichen Durchsicht sogar: geradezu schlicht anmutende Gestalten und Gestaltungen eines eben So-da-in-der-Welt-seins. Nichts, so scheint es, das uns überwältigt, uns ›überfüllt‹ (Rilke). Also etwas ›spirituell Großes‹, etwas ›Erhabenes‹, das uns von Anfang an als ›ausdrücklich religiös‹ durchdringend beeindruckt. – Genauso wenig dürfen diese existentiellen Muster verwechselt werden mit irgendeinem, so oder so ausgebauten, theologisch reflektierten ›religiösen System‹. Aufgebaut auf beispielsweise religiösen Offenbarungen. Geordnet durch ›Zugangsbedingungen‹, also Regeln, Riten, Formen, Normen, Forderungen, Opfer, Tabus. – Sondern wir sehen sie phänomenologisch als ›unwillkürliche Bewegungen‹, als sogenannte ›irrationale Kräfte‹ (›religiöse Gestaltungen‹ geradezu ›hinter unserem Rücken‹), die sich zwar auch auf der Ebene dieser religiösen Systeme zeigen (können), sich aber dort gerade nicht als wesentlich dazugehörig ereignen. Eher sind sie ›metaphysischen Leerstellen‹ oder ›Sehnsuchtsvariablen‹ vergleichbar. ›Leerstellen‹, die uns unwillkürlich zwingen, uns unseren lebensweltlichen Möglichkeiten entsprechend praktisch zu positionieren und uns als Da-und-So-in-der-Welt-sein sinnvoll einzufinden, zu ordnen, auszurichten. – Es sind ›existentielle Leerstellen‹, die, so folgern wir, einen uns eigenartig bedrängenden, uns unwillkürlich beunruhigenden Fehlbestand anzeigen. 161 Verdichten wir es so: Wir reflektieren hier wirklich nichts anderes als ein anthropologisch äußerst eigenartiges ›Phänomen‹ (einen ›Zustand‹). Und zwar: Ein uns Aufmerksam-machen auf ein, sich für uns schmerzhaft bemerkbar masein heißt im Philosophieren nicht bei einem Gegenstand sein, sondern bei sich selber sein.« (Karl Jaspers. Philosophie. Band 1. Berlin 19563. S. 335 f.) 161 In einem Gedicht von Gottfried Benn so: Heute noch in einer Großstadtnacht / Caféterrasse / Sommersterne, / vom Nebentisch / Hotelqualitäten in Frankfurt / Vergleiche, / die Damen unbefriedigt / wenn ihre Sehnsucht Gewicht hätte / wöge jede drei Zentner. (Gesammelt Werke 1. Gedichte. Wiesbaden 1960. S. 339.)

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chendes ›Noch-nicht‹. 162 Wobei möglicherweise unser jeweilig konkret-persönliches uns in diese ›Leerstellen‹ (wie auch immer) lebensweltlich Einschreiben, einzuschreiben versuchen, diese ›Leerstellen‹ nie wirklich füllen kann. Auch das haben wir erfahren und erfahren es immer wieder aufs Neue! (Das sind nun aber Fragen einer ›theologischen Metaphysik‹, die uns hier nichts angehen.) – Hier kommen offensichtlich ›existentielle Muster‹, ›unwillkürliche Schemata‹ zum Tragen, die aus Sicht der ›aufgeklärten‹ Theologie befremden, unvernünftig, unreflektiert, ordnungslos, sogar ›krank‹ scheinen. 163 (Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass hier Theologie und Psychoanalyse übereinstimmen und, wenn auch mit unterschiedlichen Interessen, ›am gleichen Strang‹ ziehen.) – Das können nun ›Zustände‹ sein (beispielsweise zwar willkürlich gestaltete und herbeigeführte letztendlich trotzdem unwillkürliche Widerfahrnisse), die zuerst und zumeist eben nicht mit vernünftig religiösem Verhalten in Verbindung gebracht werden. Etwa Zwänge, Rausch, Trance, Traum, Sexualität, Spiel, Leib-Sensationen. Kurz, alle Erfahrungen von erlebter ›Ergriffenheit‹ und ›Besessenheit‹. – Besorgniserregende Unwillkürlichkeiten? Ein religiöser Wildwuchs? Unordnung? Bloße Surrogate? Kurz, eine verhängnisvoll asoziale Entwicklung? Ein ›neuer religiöser Individualismus‹ ? Möglicherweise, möglicherweise nicht! Wir Phänomenologen haben darüber nicht zu entscheiden. – Wir schauen nur zu, schauen uns zu! Wir reflektieren unsere Reflexionen. Wir lesen diese ›Vorstellungen‹ phänomenologisch schlicht als ›Entfaltungen individueller Religiosität‹ im Horizont unserer Lebenswelt ›Großstadt‹. 164 Zugegeben, und auch das nehmen wir zur Kenntnis, 162 Warst du nicht immer / noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles / eine Geliebte dir an? (Duineser Elegie. Erste Elegie.) 163 Bei Carl Amery eine Perspektive, die ich teile: »Dieser Alte Glaube, (…), ist nicht identisch mit dem verfassten Christentum. Seine Wurzeln und Ursprünge reichen in vorgeschichtliche Tiefen zurück. Mit fast allen sogenannten primitiven Religionen bzw. Kulturen teilt er bestimmte Ausprägungen des Weltgefühls, die dann im Katholizismus teilweise rezipiert wurden, aber auch in der Tiefenschicht des englischen bzw. des zentraleuropäischen übrigen Christentums eine Rolle spielten (und vielleicht heute noch spielen).« (Deutscher Konservatismus und der faschistische Graben. Versuch einer zeitgeschichtlichen Bilanz. In: Neue Soziale Bewegungen: Konservativer Aufbruch in buntem Gewand? Hrsg. Wolf Schäfer. Frankfurt/M 1983. S. 13.) 164 Vgl. dazu auch Helmut Bartling. Sighard Neckel: »Stadt (Urbanisierung) und Individualisierung gehören zusammen. Auch Stadt und Säkularisierung. Wobei die Stadt (der Städter) nicht grundsätzlich, wesentlich a-religiös ist; Stadt formt eine spezifische

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das sind in der Regel Lebens-Formen, Gestaltungen, ›Kulte‹, ›Rituale‹, die zuerst und zumeist eben nicht unter ›Religiosität‹ (›Religion haben‹ ; ›religiös sein‹, sich ›fromm verhalten‹) rubriziert werden. – Ein Blick auf die traditionell der Religiosität zugewiesenen ›Funktionen‹ (von wem?) lässt nun den Bruch, den Riss ahnen, der sich hier zeigt. Aus Sicht der gesellschaftlich, auch politisch legitimen (legitimierten) Konfessionen durchaus ein ›Skandalon‹. Diese ›lebensweltlich gestalteten, unwillkürlichen Formen‹ einer großstädtisch gelebten ›Religiosität‹, zuerst und zumeist gelebt und nicht reflektiert, entsprechen nicht unseren (christlichen) kulturellen Vorgaben von ›Religion haben‹. Den, wie auch immer tradierten, kulturellen Vorschriften. Also, was ein ›religiöser Mensch‹ zu glauben, zu leisten, wie er sich zu verhalten habe. ›Glaube‹ und ›Aberglaube‹ (schon ›Kirche‹ und ›Sekte‹) werden festgelegt. Also: ›Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen‹. – Denken wir hier vor allem auch an: ›soziales Wohlverhalten‹, ›gesellschaftlichen Anstand‹, ›moralische Selbstkontrolle‹, ›persönliche Anteilnahme am Leben der anderen‹, ›konstruktives Welt-Interesse‹ ; aber auch, Einordnung, Berechenbarkeit, Vernunft im Denken und Handeln und, gegenüber seinem Gott, in allen Lagen: Dankbarkeit. 165 – Religiöse und gesellschaftliche Anliegen haben sich historisch offensichtlich ›abgeschliffen‹ und erscheinen jetzt als geradezu ›deckungsgleich‹. Der ›gottesfürchtige Mensch‹ also, der ›ideale Staatsbürger‹ ! Zumindest sind das offensichtlich auch Vorlagen für eine umfassend soziale und vernünftige Lebensgestaltung. 166 Eine Möglichkeit der Religionen, der Spiritualität. Wobei die städtische Spiritualität auf die Form der Individualisierung verweist.« (Stadtmarathon. Die Inszenierung von Individualität als urbanes Ereignis. In: Klaus R. Scheppe (Hg.). Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek bei Hamburg 1988.) 165 Vgl. Bernhard Grom. Theologie und Psychologie im Dialog. Über die Frage nach Gott. Paderborn 1996. S. 21 ff. 166 C. G. Jung deutet es so. »Was man gewöhnlich und im allgemeinen ›Religion‹ nennt, ist zu einem erstaunlichen Grade ein Ersatz, dass ich mich ernsthaft frage, ob diese Art von Religion, die ich lieber als Konfession bezeichnen möchte, nicht eine wichtige Funktion in der menschlichen Gesellschaft habe. Sie hat den offensichtlichen Zweck unmittelbare Erfahrung zu ersetzen durch eine Auswahl passender Symbole, die in ein fest organisiertes Dogma und Ritual eingekleidet ist. Die katholische Kirche erhält sie aufrecht durch ihre absolute Autorität, die protestantische ›Kirche‹ (wenn man den Begriff noch anwenden kann) durch Betonen des Glaubens an die evangelische Botschaft.« (Psychologie und Religion. (1940) München 1991. S. 47.)

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›Währung‹, die auch in neuzeitlichen Kontexten Gültigkeit bewahrt hat; und immer noch trotz allem als ›annehmbar‹ gilt. – Von all dem sind die ›spirituellen‹ Phänomene, die wir hier im Blick haben, weit entfernt. Wir werden hier auf etwas aufmerksam, dass theologischdogmatisch überformt wird. Religionsgeschichtlich aber, sehen wir nur genau hin, nicht wirklich ungewöhnlich ist. – Mag unsere kirchliche Theologie auch eine bedingungslose Liebe zu Gott als fundamentale Grundform religiöser Existenz behaupten. 167 Aber schon die ›christliche Volksfrömmigkeit‹ selbst ist ›wesentlich‹ anders ausgerichtet. Und das ist (die Theologie mag sich hier winden) ganz in der ›praktischen‹ Ordnung unseres Da-und-So-in-der-Welt-seins. Die ›alltägliche Lebenswelt‹ stellt uns »unablässig vor eine Vielzahl von Problemen, die unbedingt eine Lösung erfordern.« 168 Der Mensch ›braucht‹ in der Regel ›seinen Gott‹, seine Macht, seine Anwesenheit, seinen Schutz und seine Begleitung. Gott ist dem Menschen vor allem wortwörtlich ein ›existentielles Lebens-Mittel‹ ; ist geradezu ein ›alltäglich praktisches Daseins-Instrument‹. Das Da-in-der-Welt-sein (›ich-so-da‹) sucht für sich selbst – vorsorglich – verlässliche Gestalt und eine entsprechende kultische Gestaltung. Das können nun ausdrücklich ›magische‹, ›religiöse‹, aber auch (nennen wir sie) ›alltägliche‹ Intentionen sein. Handlungen, Einstellungen, mit denen das Dasein, um seiner selbst willen über sich hinausgreift, hinauszugreifen sucht, hinauszugreifen glaubt. – Diese nur auf den ersten Blick sehr unterschiedlich gebauten ›intentionalen‹ Akte sind für uns von besonderem Interesse. Ob die Theologie diese Haltungen und Intentionen, diese Absichten als ›religiöse Formen‹ gelten lässt oder nicht, ist für uns phänomenologisch nicht entscheidend. Wir halten, so haben wir es vereinbart, ›theologisch und metaphysisch unbelastet‹ Ausschau nach den Mustern, die unser irritiertes und perturbiertes Da-und-So-in-derWelt-sein existentiell stabilisieren. – Vor allem für diese Fälle gilt, was uns schon bisher nie aus den Augen geraten ist. Die Lebenswelt ›Großstadt‹ ist phänomenologisch nicht ein nur beliebiger ›sozialer Raum‹, ein gesellschaftlicher, politischer Bezirk, innerhalb dem tradierte Religionen sich als diese oder 167 Wobei allerdings schon die Vorlage der ›Liebe zu Gott‹ als Forderung gestellt, als Gebot (Du sollst …) formuliert uns erreicht. 168 Astrid und Joachim Knuf. Amulette und Talismane. Symbole des magischen Alltags. Köln 1984. S. 181.

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jene ›Konfessionen‹ mit ihrem Regelwerk, ihren Kulten, ihrer pastoralen Praxis, soziologisch und psychologisch einsehbar gestalten. Sondern diese für uns wesentlich-wirkliche Gestalt und existentielle Gestaltung: Da-und-So-in-der-Welt-zu-sein lesen wir als hier und jetzt einzig mögliche Ortschaft (als ›existentielles Paradigma‹) für unsere religiösen Sehnsüchte. – Die Großstadt als dieser unser Zeit-RaumSo-Da ist selbst, gleich anderen versunkenen Lebenswelten, ›mythisch-religiös‹ aufgeladen. Das gilt ausdrücklich und ganz ohne jeden ›spekulativen Überschwang‹. Etwa so: Vorgestellt als das Versprechen, nun ›wirklich wesentlich Frei-zu-sein‹, erfüllter Sexualität, weltlicher Glückseligkeit. 169 Zumindest als wirkliche Möglichkeit. Das sind ›übergroße existentielle Leerstellen‹. Tiefenpsychologisch gedacht: Die Lebenswelt ›Großstadt‹ selbst als die (vermeintliche?) Bedingung der Möglichkeit für eine ›totale‹ orale und genitale Befriedigung. Die Erfüllung aller humanen Hoffnungen. Kurz, das von Beginn an gesuchte Paradies!? Die Bedingung für all unsere humanen Möglichkeiten!? Hier bin ich endlich wirklich Mensch, hier kann ich endlich sein! – Aufs Ganze gesehen nicht einfach zu ordnen. Es scheint uns zumindest nun auch phänomenologisch so, als ob hier als Lebenswelt ›Großstadt‹ zwei ›archaische religiöse‹ Daseins-Gestaltungen miteinander ringen. So als ob hier sich nun ein fundamentaler anthropologischer Dualismus als endgültig unentschieden einrichte. Für uns SoDa als ›wirkliche Möglichkeit‹. Ein wesentlich existentielles (archaisches) Spiel hinter dem konfessionell gesellschaftlichen Spiel der (und mit den) Hoch-Religionen. Da ist zum einen die historisch entfaltete tradierte, nun kulturell selbstverständliche Form gesellschaftlich verfasster Religiosität mit ihren Kulten, Dogmen, Bildern, Vorstellungen, Forderungen. Zum anderen die von uns phänomenologisch hier vorgestellten, oft verborgenen, maskierten Suchbewegungen und Sehnsüchte des Daseins als Da-und-So-in-der-Welt-sein. – Das braucht uns als Phänomenologen aber ›theologisch‹ und ›religionsgeschichtlich im Einzelnen nicht weiter zu interessieren. Aber wie auch immer: davon bin ich überzeugt. Der anthropologische Kreis schließt sich hier und jetzt. Auch das wirkliche Wesen des religiösen Da-Seins entdeckt sich wieder im Horizont der Lebenswelt ›Großstadt‹. Unsere uns zugehörige, unsere ›anthropologisch-ei169 Schon der ›Schlager‹ glaubt zu wissen: ›Bist du allein, von allen Freunden verlassen, geh in die Stadt‹.

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gentliche, unsere existentielle Gravur‹ scheint hier und jetzt auf. – Erscheint in welcher Form? Es bleibt uns wirklich wesentlich nicht mehr als unser dunkler Drang nach einem uns unbedingt verborgenen ›ganz Anderen‹, nach einem für uns grundsätzlich unbestimmbaren ›Nochnicht‹. Es bleibt (so mag es die vernünftige Theologie sehen) eine ›unvernünftige‹, undifferenzierte Ausrichtung nach einer ›fernen Geliebten‹. Damit formen sich (im Übrigen) diese ›religiösen Muster‹ der Lebenswelt ›Großstadt‹, die sich der Aufklärung verweigern, zu einem ›Widerstands-Potential‹. Also sich sperren-können gegen eine neuzeitlich philosophische, theologische und wissenschaftliche Vorstellung der Wirklichkeit, einer unumschränkten Herrschaft der instrumentellen Vernunft.

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