Lebenswelt und Wissenschaft 9783787319435, 9783787323999

Unter dem Titel "Lebenswelt und Wissenschaft" hat der XXI. Deutsche Kongreß für Philosophie (Essen 2008) Frage

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German Pages 1480 Year 2011

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Lebenswelt und Wissenschaft
 9783787319435, 9783787323999

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Deutsches Jahrbuch Philosophie Band 2: Lebenswelt und Wissenschaft

Deutsches Jahrbuch Philosophie Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Band 2

Felix Meiner Verlag Hamburg

Lebenswelt und Wissenschaft XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg – Essen Kolloquienbeiträge

Herausgegeben von Carl Friedrich Gethmann

in Verbindung mit J. Carl Bottek und Susanne Hiekel

Felix Meiner Verlag Hamburg

IV



Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1943-5

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Da-Tex Gerd Blumenstein, Leipzig, www.da-tex.de, Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

Ö f f e n t l i c h e Vo rt r Äg e

Carl Friedrich Gethmann Philosophie – zwischen Lebenswelt und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Julian Nida-Rümelin Lebenswelt und Praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Wolfram Hogrebe Riskante Lebensnähe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

Jürgen Habermas Von den Weltbildern zur Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Kollo q u i u m 1

Das Arzt-Patient-Verhältnis im Wandel Dieter Birnbacher Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Urban Wiesing Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-Patient-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Kollo q u i u m 2

Technik und leben Armin Grunwald Einführung: »Technik und Leben – zur neuen philosophischen Aktualität eines klassischen Themas« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Mathias Gutmann Leben und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Christoph Hubig Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt. Neue Heraus­forder­ungen für eine Technikethik als Ermöglichungsethik . . . . . . . . . . 146

VI

Inhalt

John Dupré  What Is Natural About Human Nature? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Kollo q u i u m 3

Räume der Expressivität Wolfram Hogrebe Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Markus Gabriel Kontingenz oder Notwendigkeit? Schelling und Hegel über den modalen Status des logischen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Horst Bredekamp Das sprechende Werk: Hans Memlings Danziger Altar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Guido Kreis Für eine Philosophie des objektiven Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Kollo q u i u m 4

Phänomenologie der Theorie: der lebensweltliche Grund des Theoretischen Karl-Heinz Lembeck Einführung: »Phänomenologie der Theorie: der lebensweltliche Grund des Theoretischen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Karl Mertens Nach und vor der psychologischen Forschung. Überlegungen zu einer Phänomenologischen Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . 231 Barbara Merker Husserls lebensweltliche Kritik am physikalistischen Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . 249 Thomas Fuchs Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . 262

Kollo q u i u m 5

Rechtsphilosophie und Rechtstheorie Eric Hilgendorf Einführung: »Themenwechsel. Versuch einer Lagebestimmung der deutschsprachigen Rechtsphilosophie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

VII

Inhalt

Matthias Jestaedt Rechtstheorie als Euthanasie der Rechtsphilosophie? Hans Kelsens Ergänzungs­these gegen Gustav Radbruchs Verdrängungsthese . . . . . 282 Thomas Gutmann Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Winfried Brugger Menschenwürde, Menschenrechte und Rechtsphilosophie im anthropologischen Kreuz der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Kollo q u i u m 6

Sprache und Kommunikation Günter Abel Einführung: »Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Dagfinn Føllesdal Husserls Begriff der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Hans Julius Schneider Unsagbarkeit, Ungegenständlichkeit und religiöse Erfahrung. Ludwig Wittgensteins Überwindung des Notationsparadigmas der sprachlichen Darstellung . . . . . . . 395 Pirmin Stekeler-Weithofer Wissen und Begriff. Zum normativen Status generischer Sätze

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

410

Kollo q u i u m 7

Die Renaissance von Dispositionen in der gegenwärtigen Naturphilosophie Michael Esfeld Einführung: »Wozu Dispositionen?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Andreas Bartels Dispositionen in Raumzeit-Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Andreas Hüttemann Eine dispositionale Theorie der Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Stephen Mumford / Rani Lill Anjum Dispositional Modality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

VIII

Inhalt Kollo q u i u m 9

Argumentation und Rhetorik – Philosophische Fragen Christof Rapp Einführung: »Argumentation und Rhetorik – Philosophische Fragen« . . . . . . . . . . 485 Holm Tetens Beweiskraft und Rhetorik – das Beispiel der Metaphern und Analogien

. . . . . . . . .

489

Manfred Kienpointner Fiktive Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Christian Kock The difference between the rhetorical and the philosophical concept of argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539

Kollo q u i u m 10

Wissenschaft zwischen Erkenntnisanspruch und Praxisrelevanz Martin Carrier Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Paul Hoyningen-Huene Was ist Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 Alfred Nordmann Was wissen die Technowissenschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566

Kollo q u i u m 11

Personalität, Persönlichkeit und personale Identität Dirk Hartmann Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Logi Gunnarsson Allein im Spiegelkabinett? Zu personaler Identität und multipler Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Michael Quante Identifikation in Relation: Anmerkungen zum evaluativen Selbstverhältnis menschlicher Personen . . . . . . . . . 603

Inhalt

IX

Kollo q u i u m 1 2

Filmphilosophie / Filmästhetik Ludwig Nagl Einführung: »Thinking through Cinema«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Birgit Recki Film. Die Suggestionskraft des Mediums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Lorenz Engell Affinität als technisches und epistemisches Vermögen des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Gertrud Koch Die filmische Fiktion

..........................................................

657

Kollo q u i u m 13

Lebenswelt – Technik – Wissenschaft Bernhard Irrgang Einführung: »Lebenswelt und Technologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Peter Janich Handwerk und Mundwerk. Lebenswelt als Ursprung wissenschaftlicher Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 Walther Ch. Zimmerli Kolonialisierung – revisited. Aspekte einer Philosophie der technologischen Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692

Kollo q u i u m 14

Gedächtnis, Vergegenwärtigung und Symbolisierung in den Kulturwissenschaften Rudolf Lüthe Einführung: »Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften« . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Oswald Schwemmer Symbol und Existenz. Zum Verhältnis von symbolischer Darstellung und individueller Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Gottfried Gabriel Vergegenwärtigung in Literatur, Kunst und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 Barbara Patzek Erinnerung in den Geschichts- und Kulturwissenschaften: Historische Erinnerung und kulturelles Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746

X

Inhalt Kollo q u i u m 1 5

Grenzen der Sprache Hans J. Schneider Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 759 Tilman Borsche Entgrenzung des Begriffs der Sprache

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

767

James Conant Eine Skizze von Wittgensteins Spätkritik am Tractatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784 Georg W. Bertram Sagen, was man so sagt. Über Freiheiten und Unfreiheiten des Sprechens und Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798

Kollo q u i u m 16

Die Lebenswelt, der Markt und die Wirtschaftsethik Peter Koslowski Einführung: »Die Lebenswelt, der Markt und die Wirtschaftsethik« . . . . . . . . . . . . . 815 Birger P. Priddat Moral entrepreneurship. Zu einer Theorie der Moraldynamik

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

818

Ian Maitland Der Markt als Schule der Tugenden oder: Die Wirtschaft als ethische Anstalt betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 Alexander Brink Legitimität und Verantwortung in Netzwerken: Auf der Suche nach einer normativen Theorie der Unternehmung . . . . . . . . . . . . . . . . 845

Kollo q u i u m 17

Transzendentalphilosophie und Lebenswissenschaften Christoph Asmuth Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Günter Zöller Eine »Wissenschaft für Götter«. Die Lebenswissenschaften aus der Sicht Kants . . 877 Christoph Binkelmann Leben und leben lassen. Zum Stellenwert der Philosophie zwischen Lebenswissenschaften und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893

XI

Inhalt

Thomas Sören Hoffmann »Leben« als Chiffre der Totalität. Der Lebensbegriff des transzendentalen und dialektischen Idealismus und seine Relevanz im »Jahrhundert der Lebenswissens­chaften« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 909

Kollo q u i u m 1 9

Ortsbestimmung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Lebenswelt. Europäische, indische und chinesische Wege zwischen Tradition und Innovation Claudia Bickmann Einführung: »Ortsbestimmung der Philosophie zwischen Wissenschaft und Lebenswelt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927 Rainer Enskat Tradition und Innovation in Lebenswelt und Wissenschaft – eine Zerreißprobe für die Urteilskraft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940 W. Schmidt-Biggemann Zumutung Tradition. Wie weit lassen sich Lebenswelten konstruieren? . . . . . . . . . . 970 Yi Guo Knowledge, Value and Life-World – Reconstruction of Philosophy of Dao

. . . . . .

981

Heiner Roetz Tradition und Traditionskritik in der antiken chinesischen Philosophie . . . . . . . . . . . 1007 Ram A. Mall Philosophie: Vom Denkweg zum Lebensweg unter besonderer Berücksichtigung der indischen Philosophie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023

Kollo q u i u m 2 0

Angewandte Logik und Informatik Elke Brendel Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041 Karl-Georg Niebergall Unendlichkeit ausdrücken und Unendlichkeitsannahmen machen . . . . . . . . . . . . . . . . 1045 Peter Schroeder-Heister Schluß und Umkehrschluß: Ein Beitrag zur Definitionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065 Heinrich Wansing Negation in der konstruktiven Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093

XII

Inhalt Kollo q u i u m 21

Simulation sozialer Phänomene J. McKenzie Alexander Evolution, morality and the theory of rational choice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111 Rainer Hegselmann und Oliver Will Modellieren der Humeschen Moral- und Politiktheorie –  Das Computer-Modell ​HUME​ 1.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124 Claus Beisbart und Stephan Hartmann Computersimulationen in der Angewandten Politischen Philosophie – ein Beispiel 1151

Kollo q u i u m 2 2

Willensfreiheit und Schuldfähigkeit Hans-Ludwig Kröber Handlungssteuerung und Entscheidung zur Straftat aus psychiatrischer Sicht . . . . . 1165 Marcus Willaschek Der Begriff der Willensfreiheit im deutschen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185

Kollo q u i u m 2 3

Umweltethik – Philosophie der Landnutzung Konrad Ott Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1207 Ulrich Hampicke Naturschutz als Problem der Gerechtigkeit unter Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1215 Kristian Köchy Vielfalt als Wert? Zur aktuellen Debatte um die Biodiversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1227 Thomas Potthast Landwirtschaft und Lebenswelt – Philosophische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1249

XIII

Inhalt Kollo q u i u m 2 4

Philosophie der Wissenschaften vom Menschen Oswald Schwemmer Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271 Ugo Perone Emotionalität als anthropologische Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1277

Kollo q u i u m 2 5

Phänomenologie der Lebenswelt: Dimensionen nichtwissenschaftlicher Erfahrung Gregor Schiemann Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1289 László Tengelyi Die Erfahrung in der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1294 David Carr Vorwissenschaftliche Erfahrung und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1305 Kollo q u i u m 2 6

Philosophie der Musik Georg Mohr Einführung: »Musikphilosophie – Musikästhetik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1317 Jürgen Stolzenberg Über das Hören von Melodien. Überlegungen zu einer Phänomenologie des musikalischen Zeitbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1327 Simone Mahrenholz Musik als Herausforderung für philosophische Erkenntnis-Konzeptionen . . . . . . . . 1340 Kollo q u i u m 27

Quellen des Wissens Thomas Spitzley Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1361 Christian Nimtz A Priori Wissen als Philosophisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1365 Oliver R. Scholz Das Zeugnis anderer als soziale und kulturelle Erkenntnisquelle

. . . . . . . . . . . . . . . . 1386

XIV

Inhalt Kollo q u i u m 2 9

Hochschuldidaktik der Philosophie Johannes Rohbeck Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1405 Volker Steenblock Philosophische Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1409 Johannes Rohbeck Didaktische Transformation philosophischer Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1426 Thomas Rentsch Der Status der Philosophie in hochschuldidaktischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 1439

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1451

Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert die öffentlichen Vorträge und wissenschaftlichen Kolloquien des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie, der unter dem Titel »Lebenswelt und Wissenschaft« vom 15. bis 19. September 2008 an der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen stattfand. Veranstalter des Kongresses war die Deutsche Gesellschaft für Philosophie e.V. unter ihrem Präsidenten Carl Friedrich Gethmann, Professor für Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Schirmherr des Kongresses war der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Jürgen Rüttgers, in dessen Vertretung der stellvertretende Ministerpräsident und Minister für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen, Professor Dr. Andreas Pinkwart, der den Kongreß am 15. September 2008 eröffnete. Im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung hielt der Präsident der Gesellschaft den in diesem Band dokumentierten Festvortrag. Der Kongreß beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit Fragen, die an der Nahtstelle von philosophischem Denken und fachwissenschaftlichen Forschungen einerseits sowie philosophischem Denken und aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen andererseits liegen. Das Kongreßthema spielt dabei auf Husserls Krisis-Schrift an, in der das Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaft mit Blick auf die Fragen der theoretischen Philosophie als Begründungsverhältnis, mit Blick auf die Fragen der praktischen Philosophie als Aufklärungsverhältnis expliziert wird. Im Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaft sieht Husserl das Fundament des »Europäischen Menschentums«, d. h. – etwas zurückhaltender ausgedrückt – die Basis für die Selbstverständigung einer wissenschaftlichtechnischen Kultur über ihre theoretischen und praktischen Grundlagen. Fragestellungen des angesprochenen Typs werden in den letzten Jahren unter den Titel der »Angewandten Ethik« oder »Angewandten Philosophie« subsumiert. Dazu gehören die Themengruppen des technischen Handelns, des Umgangs mit der Natur und der medizinischen Ethik. Diese drei Bereiche spielten in der Tat im Kongreßprogramm eine wichtige Rolle. Es wurden aber auch Themenbereiche angesprochen, die bei den bisherigen Kongressen eher am Rande standen, wie die Rechtsphilosophie, die Musikästhetik oder die interkulturelle Philosophie. Unter Rückgriff auf eine von Hermann Krings eingeführte Redeweise können diese Fragen den exoterischen Aufgaben der Philosophie in Abgrenzung zu den esoterischen Aufgaben zugeordnet werden. Der Kongreß sollte der Öffentlichkeit demonstrieren, was die professio­nelle Philosophie (d. h. die »Berufsphilosophen«, im deutschen Feuilleton ein beliebtes Objekt von Sottisen) für die Gesellschaft durch ihr Denken »tut«. Selbstverständlich kann die Philosophie ihre exoterischen Aufgaben nur wahrnehmen, wenn sie auf ihre esoteri-

XVI

Vorwort

schen Rückräume zugreifen kann. Deswegen haben sich die Kolloquien und Sektionen vor allem auch mit diesen Übergangsverhältnissen befaßt. Die traditionellen Subdiszi­ plinen der Philosophie wie Logik, Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie, aber auch Ethik, Kulturtheorie und Ästhetik waren mit dieser Akzentsetzung präsent. Es gab dagegen keine speziellen philosophiehistorischen Kolloquien und Sektionen. Von den Referenten wurde vielmehr erwartet, daß sie die historischen Bezüge in ihre Überlegungen integrieren. Allerdings gab es eine durch die Themenstellung des Kongresses motivierte Ausnahme: die Phänomenologie. Mit Bezug auf diese haben sich mehrere Kolloquien und Sektionen mit dem Lebenswelt-Thema befaßt. Neben den Kolloquien und Sektionen gab es zwei öffentliche Abendvorträge, für die Julian Nida-Rümelin und Wolfram Hogrebe gewonnen werden konnten; den Abschlußvortrag hat Jürgen Habermas gehalten. Die öffentlichen Vorträge sind zusammen mit dem Festvortrag der Eröffnungsveranstaltung in diesem Band dokumentiert. Jürgen Habermas wurde gemäß Beschluß des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Philosophie e.V. bei der Abschlußveranstaltung die Ehrenmitgliedschaft der Gesellschaft verliehen. Der Kongreß hatte etwa 1000 Teilnehmer; es wurden ca. 350 Vorträge gehalten. Dabei kamen nicht nur deutsche Philosophen zu Wort, sondern auch eine Reihe (insgesamt 66) von Rednern aus dem europäischen und nicht-europäischen Ausland – aus Belgien (2), den Niederlanden (4), der Schweiz (16), Österreich (5), Dänemark (1), Norwegen (1), Ungarn (1), Rumänien (1), Weißrußland (1), Italien (3), Frankreich (3), Großbritannien (7), Griechenland (1), der Türkei (1), Mexiko (2), China (4) und den USA (13). Besonderer Dank gilt den Sponsoren des Kongresses. Hauptsponsor war die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Der Kongreß wurde ferner finanziell von der Kulturstiftung Essen, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Universität Duisburg-Essen unterstützt. Der Universität Duisburg-Essen ist zudem für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses für den Druck der Kongreßakten zu danken. Herrn Carl Bottek M. A. und Frau Dr. Susanne Hiekel gilt der besondere Dank des Herausgebers für die redaktionelle Bearbeitung des Bandes.

Essen, im Dezember 2010

Carl Friedrich Gethmann

Öffentliche VortrÄge

Carl Friedrich Gethmann Philosophie – zwischen Lebenswelt und Wissenschaft Julian Nida-Rümelin Lebenswelt und Praktische Philosophie Wolfram Hogrebe Riskante Lebensnähe Jürgen Habermas Von den Weltbildern zur Lebenswelt

Philosophie – zwischen Lebenswelt und Wissenschaft Carl Friedrich Gethmann

Wörter können Konjunkturen haben, und wenn es so etwas wie das philosophische Wort des Jahres gäbe, dann wäre »Lebenswelt« in den letzten Jahren ein guter Kandidat gewesen.1 Das Wort »Lebenswelt« ist im übrigen ein gutes Beispiel für die Ursachen, die das Verständnis der Philosophie dem Laien oft so schwer erscheinen lassen. Die Philosophie hat scheinbar keine Fachsprache wie die Pharmakologie oder die Mathematik, und die Wörter »Leben« und »Welt« sind zwar nicht gerade klare, aber doch wohlbekannte Wörter der Gemeinsprache, deren Verständigungsfunktion meistens keine Probleme bereitet. »Lebenswelt« hört sich daher irgendwie vertraut an, wirkt aber im fachlichen Gebrauch der Philosophen doch fremd. Dieser Umstand hat manche Philosophen auf den Gedanken gebracht, auch für die Philosophie eine artifizielle Fachsprache zu benutzen. Die versteht dann zwar auch kein Laie, aber er macht sich dann wenigstens keine falschen Hoffnungen, und der Experte hätte dann ein präzises Verständigungsinstrument zur Verfügung, das nicht durch die Gemeinsprache gestört wird. Dieses Projekt kann jedoch aus vielen Gründen als gescheitert betrachtet werden, u. a. auch, weil die von der Philosophie behandelten Probleme nicht Spezialistenprobleme, sondern Jedermannsprobleme sind. Sie müssen sich daher auch gemeinsprachlich vermitteln lassen können. Zu den elementaren Aufgaben der Philosophie gehört somit immer auch die semantische Übersetzungsarbeit zwischen der Gemeinsprache und den wissenschaftlichen Fachsprachen, was zu der nicht ganz einfachen Situation führt, daß die philosophische Sprache selbst irgendwie beiden und doch keiner der zwei Sprachsphären wirklich angehört. »Lebenswelt« geht auf Edmund Husserls Begriffsprägung zurück, v. a. in der sogenannten »Krisisschrift«, als deren Entstehungszeit die Jahre 1935/36 gelten. Das Buch erschien jedoch wegen der historischen Ereignisse erst 1953. Nur wenige hatten vorher Einblick in die teilweisen Vorveröffentlichungen in den dreißiger Jahren und in das Manuskript, das unter abenteuerlichen Umständen während des Kriegs nach Leuven gerettet wurde. Die Rezeptionsgeschichte der Husserlschen Lebensweltkonzeption beginnt also erst in der Mitte der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Die verbale Konjunktur des Wortes »Lebenswelt« bedeutet jedoch nicht, daß Husserls mit dem Begriff der Lebenswelt verbundene philosophische Konzeption Konjunktur hätte. Meistens meint man mit »Lebenswelt« so etwas wie »Alltag«, »Alltagserfahrung«, »common sense« 1  Das könnte auch für die englischsprachige Philosophie gelten. Wo nicht gleich das deutsche Wort vorgezogen wird (es ist zum Glück nicht immer nur der »Blitzkrieg« oder die »Empfindsamkeit«, die in der englischsprachigen Welt an das Deutsche erinnern), ist die Nachbildung »lifeworld« (als Adjektiv sogar »lifeworldian«) anzutreffen.

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oder ähnliches, jedenfalls eine Art Kollektion von Phänomenen bestimmter Art. In diesem Wortgebrauchskontext wird der Ausdruck vor allem in der Soziologie verwendet.2 Husserl will mit seiner Philosophie der Lebenswelt dagegen zunächst die Frage bearbeiten, die die Philosophen seit den Griechen »das Anfangsproblem« nennen, eine Fragestellung, die schon als solche eine philosophische Errungenschaft ist, weil sie das skeptisch-aufklärerische Projekt der Philosophie bereits unterstellt: Wenn sich die überkommenen Überzeugungen des Menschen aus verschiedenen Gründen als unzuverlässig erweisen und wenn Philosophie und Wissenschaften, aber auch Ethos und Recht für bestimmte Überzeugungen Anspruch auf allgemeine Geltung reklamieren, dann stellt sich zwangsläufig die Frage, worauf man sich zwecks Einlösung dieser Geltungsansprüche stützen kann. Womit kann verläßlich der Anfang des Wissens gemacht werden? Mit dem Begriff »Lebenswelt« wird also in der Phänomenologie Husserls nicht ein Ensemble von Sachverhalten, schon gar nicht von wissenschaftlichen Tatsachen, verstanden werden. Was ein »Sachverhalt« oder eine »Tatsache« ist, läßt sich nur als Produkt von Thematisierungen und gegebenenfalls Objektivierungen aus einer Lebenswelt heraus beschreiben, d. h., Sachverhalte und Tatsachen werden durch Handlungen zu einer Welt konstituiert. Mit dem Begriff »Lebenswelt« faßt Husserl demgegenüber zunächst das Ensemble derjenigen operativen und gelegentlich diskursiven Evidenzen zusammen, soweit sie jeweils prä-diskursive Einverständnisse des menschlichen (Zusammen-)Lebens fundieren. Lebenswelt ist nicht das Ensemble der constituta, sondern der constituentia. 3 Dies impliziert, daß die »Welt«, in der wir leben, nicht die wissenschaftlich objektivierbare Akkumulation von vermeintlichen oder wirklichen Sachverhalten (Tatsachen) ist: Das wirklich Erste ist die ›bloß subjektiv-relative‹ Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens. Freilich für uns hat das ›bloß‹ als alte Erbschaft die verächtliche Färbung der δόξα. Im vorwissenschaftlichen Leben selbst hat sie davon natürlich nichts; da ist sie ein Bereich guter Bewährung, von da aus wohlbewährter prädikativer Erkenntnisse und genauso gesicherter Wahrheiten, als wie die ihren Sinn bestimmenden praktischen Vorhaben des Lebens es selbst fordern.4 Husserls Arbeitsdefinition von »Lebenswelt« verbindet diese mit dem Bereich der guten Bewährungen und der technischen wie praktischen Routinen, die Menschen sich, herausgefordert durch die Probleme der Lebensbewältigung, erarbeiten. Diese guten Bewährungen sind jedoch bereichsspezifisch gültig, abhängig von bestimmten Wissens-

Diese Wortgebrauchstradition geht vor allem auf den Ansatz einer phänomenologischen Soziologie bei Alfred Schütz zurück, vgl. ders., Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt; ders./ T. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Für die weitere Entwicklung vgl. u. a. R. Grathoff, Milieu und Lebenswelt. 3  An diesem methodischen Kontext wurde in der Erlanger Schule festgehalten. Vgl. J. Mittelstraß, »Das lebensweltliche Apriori«; C. F. Gethmann, »Martin Heidegger«; ders., »Einheit der Lebenswelt  – Vielheit der Wissenschaften«; R. Welter, Der Begriff der Lebenswelt; ders., »Die Lebenswelt als ›Anfang‹ des methodischen Denkens«. 4  E. Husserl, Krisis, 127. f. 2 

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ständen, nicht alternativlos und instabil über die Zeit hinweg. Werden die Probleme der Lebensbewältigung hinreichend drastisch, drängen sie somit zu Wissensformen, die bereichs- und überzeugungsinvariant, exklusiv und zeitlich stabil – also wissenschaftlich gültig – sind. Husserl verbindet so mit dem Begriff der Lebenswelt ein Fundierungsprojekt, so daß »Lebenswelt« in eine begrifflich-funktionelle Dyade mit »Wissenschaft« eingespannt ist. Die Lebenswelt umfaßt das Ensemble derjenigen operativen und kognitiven Überzeugungen, mit deren Hilfe sich der Mensch mehr oder weniger erfolgreich in seiner Welt zurechtzufinden sucht und deren Defizite ihn veranlassen, zu versuchen, durch die Ausbildung wissenschaftlichen Wissens und anderer universeller Geltungsphänomene wie Ethos und Recht diese Defizite zu kompensieren. Wissenschaft ist auf die lebensweltliche Praxis funktionell bezogen, überschreitet sie jedoch, tritt zu ihr auch in (unter Umständen sogar antagonistische) Spannung, wirkt auf die Lebenswelt poietisch (technisch) und praktisch (sozial) zurück. Dieses Fundierungsprojekt erscheint als einfach, ja geradezu schlicht, aber hat es philosophisch in sich: Die Folgen für die Lebenswelt, die Wissenschaft und die Philosophie sind hochkomplex, ja wir können nicht sicher sein, ob das Projekt überhaupt durchführbar ist und nicht die Möglichkeiten des menschlichen Geistes vielleicht sogar überfordert. An dieser Stelle, aus Anlaß der Eröffnung eines Philosophiekongresses sollen vor allem die Anforderungen untersucht werden, die die Philosophie selbst zwischen Lebenswelt und Wissenschaft zu erfüllen hat.

1.  Lebenswelt und Wissenschaft Husserls-Krisis Schrift ist ein in nüchterner Wissenschaftsprosa geschriebener Text, und manches, was uns heute als emphatisch oder dramatisch vorkommt, ist lediglich im Stil seiner Zeit verfaßt. Persönliche Erfahrungen spielen auf der expliziten Textebene keine Rolle. Man darf jedoch unterstellen, daß Husserl durch seine persönlichen Erfahrungen eine Schärfe des zeitdiagnostischen Blicks gewonnen hat, die vielen seiner zeitgenössischen Kollegen, vor allem auch seinem bekanntesten Schüler, Martin Heidegger, offenkundig nicht zu Gebote stand. Der hoch geehrte Husserl (Ehrendoktorate der Universitäten von Paris, Prag, London, Boston) bekam als Jude in den letzten Jahren seines Lebens die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus zu spüren. Er wurde am 6. April 1933 durch badischen Erlass unter Rektor Sauer beurlaubt. Während der kurzen Rektoratszeit seines Schülers Martin Heidegger an der Freiburger Universität wurde dieser Erlaß am 20. Juli 1933 wieder aufgehoben. 1936 mußte der Siebenundsiebzigjährige aber noch den Entzug seiner Lehrbefugnis und weitere Schikanen wie die Aberkennung des Professorentitels erleben; ferner wurde das Ehepaar Husserl im Sommer 1937 aus der Freiburger Wohnung vertrieben. Husserl starb wenig später (1938). Die Entwicklungen in Europa ab 1933 sah Husserl daher schon in einer kritischen Distanz, und seine Rede von der Krise des europäischen Menschentums war von erstaunlicher prognostischer Kraft. Husserl diagnostiziert genauer eine dreifache Krise, besser eine Krise in dreifacher Steigerung hinsichtlich ihrer Bestimmung und ihrer Folgen:

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Die erste Stufe der Krise ist eine Krise der Wissenschaften. Sie hängt unmittelbar mit dem Fundierungsprojekt zusammen. Die Wissenschaften haben das Bewußtsein für ihr lebensweltliches Fundament verloren. Man mag dies allerdings, wenn überhaupt, für einen theoretischen Defekt halten, den man aus wissenschaftstheoretischen Gründen kompensieren sollte, der für sich genommen aber die Rede von einer »Krise« als verbale Überdramatisierung erscheinen lassen könnte. Diese erste Krise bringt jedoch ein zweite hervor: Eine sich ihrer lebensweltlichen Wurzeln nicht mehr bewußte Wissenschaft kann für sich und ihre technischen Folgen kein Verständnis mehr vermitteln. Die Menschen stehen dem, was in der Wissenschaft und auf ihrer Grundlage geschieht, mit Unverständnis, ja dem Gefühl der Fremdheit gegenüber. Es wird nicht mehr wahrnehmbar, was Bacon mit dem Projekt der neuzeitlichen Wissenschaften mitgegeben sah, nämlich die Befreiung des Menschen von naturhaften und sozialen Zwängen. Die Wissenschaften wirken auf das lebensweltliche Bewußtsein nicht als Instrument der Aufklärung zurück und verlieren ihre Immunkräfte gegen Pseudowissenschaften und Obskurantismen aller Art. Während der Verlust der Fundierungsfunktion der Lebenswelt bezüglich der Wissenschaften noch eher als innertheoretisches Problem angesehen werden könnte, ist der Verlust der Aufklärungsfunktion der Wissenschaften gegenüber der Lebenswelt von durchaus weittragender lebenspraktischer Bedeutung. Der Verlust der Aufklärungsfunktion hat jedoch erst die Krise im dritten Sinne und Vollsinne zur Folge, nämlich die Krise des »europäischen Menschentums«. Husserl sieht das Syndrom von Aufklärung, Wissenschaft und Humanismus gefährdet, das schon der griechischen Philosophie als Telos vorschwebte und das sich seit der Renaissance als Kern des europäischen Menschentums herauskristallisiert hat, das Projekt, »ein Menschentum aus philosophischer Vernunft sein zu wollen und nur als solches sein zu können«5. Die Rede vom »europäischen Menschentum« lädt freilich zu Mißverständnissen vieler Art ein. Will Husserl hier den Slogan vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen soll, lediglich durch ein Genesen der Welt am europäischen Wesen ersetzen? Einen derartigen Okzidentalchauvinismus hat man Husserl gelegentlich vorgeworfen, und daß mit der Kritik am Eurozentrismus durch die Philosophie der Postmoderne kulturtheoretisch etwas Richtiges getroffen wird, ist nicht zu leugnen. Es geht jedoch um etwas anderes. Nicht Europa als Region und nicht das partikuläre kulturelle Leben sind nach Husserl in einer Krise, sondern die Allgemeingültigkeit beanspruchenden Wissenschaften. Wissenschaften sind aber nichts Nationales (freilich gab es auch dieses Mißverständnis), sondern etwas Universelles. Mit der Krise des europäischen Menschentums meint Husserl nichts weniger als die Krise der Selbstverständigung der globalen wissenschaftlichtechnischen Kultur. Diese hat zwar in Europa ihre faktisch-historischen Wurzeln, aber sie prägt unsere Welt insgesamt. Daß die Chinesen mit so viel Stolz ein spezifisch europäisches Sportfest, die Olympiade, akquirieren und inszenieren, mag erstaunlich sein. Daß sie einfach dieselbe Physik treiben wie Afrikaner, Südamerikaner und alle anderen,

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Krisis, 13.

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erscheint uns selbstverständlich. Das europäische Menschentum, das Husserl meint, ist also kein regionales Phänomen kultureller Selbstverständigung, sondern Husserl dia­ gnostiziert die Krise der globalen wissenschaftlich-technischen Kultur. Legt jemand eine Diagnose vor, fragt man nach der Therapie. Die Therapie erscheint sich aus einem einfachen konversen Schluß zu ergeben: Wir müssen uns wieder vergegenwärtigen: 1. d as Fundierungsverhältnis zwischen Lebenswelt und Wissenschaft; 2. das Aufklärungsverhältnis zwischen wissenschaftlichem Wissen und lebensweltlich-pragmatischen Überzeugungen; und schließlich 3. das Selbstverständigungsverhältnis des modernen Menschen hinsichtlich der normativen Grundlagen der wissenschaftlich-technischen Kultur. Das wäre, jedenfalls in strategischer Allgemeinheit, die Therapie. Wer aber ist der Therapeut? Die Aufgabe der Überwindung der drei Ausprägungen der Krise spricht Husserl umstandslos der Philosophie zu. »Wir sind also – wie könnten wir davon absehen – in unserem Philosophieren Funktionäre der Menschheit«6. Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, die eingestürzte Brücke erneut zu errichten, d. h. die Krise zu bewältigen: • durch Rekonstruktion der Fundierungsverhältnisse zwischen lebensweltlichen Nöten und der funktionellen Etablierung wissenschaftlichen Wissens; • durch die damit ermöglichte Aufklärungsarbeit der Wissenschaften gegenüber mehr oder weniger gut bestätigten lebensweltlichen Überzeugungen; • durch die Ausbildung eines lebenspraktisch wirksamen normativen Konsenses im Rahmen einer wissenschaftlich-technischen Kultur. Das Fundierungsunternehmen von der Lebenswelt zur Wissenschaft mag man als ehrgeizig bezeichnen; dann ist das Aufklärungsprojekt der Wissenschaften gegenüber der Lebenswelt zweifellos kühn; das Verständigungsprojekt ist schon wegen seiner Ausmaße aber zweifellos als verwegen zu bezeichnen. Die Aufgabentriade ist also alles andere als von verzagter Bescheidenheit geprägt, und man fragt sich sofort, ob und – wenn ja – wie eine kognitive Anstrengung unter den Restriktionen des Menschenmöglichen überhaupt zur Bewältigung einer solchen Aufgabe möglich ist.

2.  Die Zwischenstellung der Philosophie Daß die von Husserl der Philosophie zugeschriebene Funktion durchaus prekär ist, sieht man sofort, wenn man die Metapher der Brücke aufgreift und fragt, wie denn in der Dyade von Lebenswelt und Wissenschaft eine Brückenfunktion überhaupt möglich

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Krisis, 15.

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ist. Wie soll man denken, daß es eine Form von Forschung und Wissen gibt, die funktionell weder lebensweltliche Überzeugung (δόξα) noch im üblichen Sinne Wissenschaft (ἐπιστήμη) sein kann. Philosophie, die ihre Aufgabe angemessen wahrnimmt, befindet sich in einer Zwischenstellung zwischen lebensweltlichem Meinen und wissenschaftlichem Wissen, die funktionell auf beide Rationalitätsformen bezogen und jeweils von deren innerer Struktur und Dynamik abhängig sind. Das bringt die Philosophie in eine in gewisser Hinsicht kognitiv labile Rolle, die unter anderem den auffälligen Sachverhalt erklärt, daß dem philosophischen Laien nicht ganz einfach zu vermitteln ist, was Philosophen so treiben, während die, die sich professionell mit Philosophie befassen, offenkundig keine Probleme haben, ihre intellektuellen Aufgaben zu identifizieren. Wer von der Aufgabe der Philosophie okkupiert ist, muß – um auf eine Bemerkung Wilhelm Kamlahs anzuspielen7 – zwei intellektuelle Enttäuschungen schon hinter sich haben: (a) Er muß eingesehen haben, daß lebensweltlich Evidenzen schnell ihre dissensund konfliktberuhigende Kraft verlieren (u. a. weil sie durch Ressentiments, Halbwissen, einseitige Diät, Pluralitäten und Inkohärenzen durchsetzt sind); (b) er muß anderseits eingesehen haben, daß Einzelwissenschaften nur auf der Basis gehaltreicher Präsuppositionen funktionieren, die man nicht so ohne weiteres für bare Münze nehmen darf. Philosophie setzt enttäuschte Kennerschaft voraus, d. h. die Energie, die man zum Philosophieren nun mal braucht, erwächst (i) aus dem Zusammenbrechen der lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten; (ii) der Einsicht in die Voraussetzungshaftigkeit wissenschaftlichen Wissens; (iii) dem Willen, den daraus erwachsenen Zweifel durch einen Neuaufbau der Grundlagen des Wissens und Handelns zu überwinden. Die Labilität philosophischer Rationalität bedeutet auch, daß es zwei Neigungen gibt, sie in falscher Weise aufzulösen – kurz: Erbauungsphilosophie einerseits, Szientismus andererseits. Auf der einen Seite steht die Philosophie in Gefahr, sich als eine Form lebensweltlicher intelligenter Unterhaltung mißzuverstehen (dazu sind auch heute wieder aktuelle Versuche zu rechnen, Weltanschauungsphilosophien zu kreieren, obwohl nicht zu verkennen ist, daß diese Unternehmungen beim bücherkaufenden Publikum eine beachtliche Konjunktur haben). Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, daß Philosophie versucht, sich zur Wissenschaft unter Wissenschaften zu stilisieren und sich damit auf die Ebene einzelwissenschaftlicher Intelligenz zu begeben (diesbezüglich haben der frühe Wittgenstein und Carnap durchaus immer noch ihre Anhänger). Philosophie ist weder Geistes- noch Naturwissenschaft und ist auch nicht als Fall eines anderen Disziplinentyps (System-, Integrations-, …-wissenschaften) zu betrachten, insoweit ist sie strukturell vielleicht der Mathematik am ähnlichsten. Philosophie läßt sich schließlich nur unter sich selbst subsumieren.

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W. Kamlah / P. Lorenzen, Logische Propädeutik, 21.

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Husserls eigenes Projekt in der Krisis-Schrift (das er in dem unvollendeten zweiten Teil mit dem Titel »Der Weg in die Phänomenologische Transzendentalphilosophie von der Psychologie aus« in Angriff nimmt) steht in der Gefahr, dem zweiten Fehler zu erliegen, weil es immer noch dem Gedanken einer »Philosophie als strenger Wissenschaft«8 anhängt und damit die kognitive Sonderstellung philosophischer Wissensbildung zu wenig gegenüber der Wissenschaftlichkeit der Einzelwissenschaften abzugrenzen scheint. Dies führt auf die keineswegs triviale Frage, wie die Philosophie ihre eigenen Geltungsansprüche darzustellen hat, wenn sie sich weder auf die Kontingenzen lebensweltlicher Überzeugungen reduzieren noch an dem Anspruch einzelwissenschaftlicher Wissensbildung Maß nehmen darf.

3.  Philosophisches Argumentieren 9 Liegt die spezifische Domäne der Philosophie zwischen und somit auch jenseits lebensweltlicher und wissenschaftlicher Rationalität, so kann ihre Aufgabe doch nicht ohne funktionellen Bezug auf diese bestimmt werden. So rechtfertigt man die Notwendigkeit der Philosophie auch am besten durch Rekonstruktion der systematischen Bedürfnisse lebensweltlichen und wissenschaftlichen Argumentierens.10 Das Argumentieren ist das Sprachspiel, in dem sich sowohl die lebensweltlichen »Bewährungen« als auch die wissenschaftlichen Wissensformen und damit schließlich auch die durch die Philosophie zu vertretenden Rationalitätsformen ausdifferenzieren.11 Lebensweltliches und wissenschaftliches Argumentieren läßt sich als regelgeleitete Abfolge von Redehandlungen eines bestimmen Typs rekonstruieren, als Diskurs. Diskursive Wissensbildung ist aber nur möglich, wenn sich Diskursparteien zumindest unabhängig vom jeweiligen Diskurs über etwas einig sind, was nicht bezweifelt wird. Diskursives Einverständnis ist nur möglich, wenn ein wenigstens implizites prä-diskursives Einverständnis besteht. (Intra-)Diskursive Rationalität (Verstand, ratio, διάνοια) setzt prädiskursive Rationalität (Vernunft, intellectus, νοῦς) voraus. Es dürfte sich hier um einen philosophischen Gemeinplatz (τόπoς) handeln, in welcher Terminologie er auch immer dargestellt wird. Diskursive Rationalität ist in lebensweltlichen Kontexten eine Angelegenheit von Erfahrung und Üblichkeiten, in wissenschaftlichen Kontexten eine Angelegenheit des Sach- und Fachverstandes. Insofern die Philosophie gegenüber den Wissenschaften den

Vgl. E. Husserl, »Philosophie als strenge Wissenschaft«. Einige Überlegungen dieses Abschnittes wurden schon in C. F. Gethmann / T. Sander, »Logik und Topik« mitgeteilt. 10  Vgl. C. F. Gethmann, »Ist Philosophie als Institution nötig?«. 11  Der hier gewählte Ansatz geht damit einen anderen Weg als die transzendentale Phänomenologie Husserls. Diese bewegt sich in der Sphäre eines Gewissheiten erzeugenden transzendentalen Ego, auch wenn Husserl die Grenzen dieses Mentalismus ansatzweise erkannt haben dürfte. Demgegenüber wird hier mit M. Heidegger und O. Becker davon ausgegangen, dass sich alle Geltungsansprüche erst durch kooperationsgetriebene sprachliche Interaktion konstituieren (oder wenigstens manifestieren). Vgl. dazu insgesamt C. F. Gethmann, Vom Bewusstsein zum Handeln.   8    9 

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Gesichtspunkt lebensweltlicher Rationalität eingebracht hat und noch einbringt, muß sie zwar mit der fortschreitenden Ablösung durch die Fachwissenschaften rechnen. Insofern sie jedoch den Bereich prä-diskursiver Verständigung vertritt, ist sie weder durch lebensweltliches Meinen noch durch wissenschaftlichen Verstand ablösbar. Die materialen Gehalte, die diskursiv zur Debatte stehen, und diejenigen, die das prä-diskursive Einverständnis bilden, sind ersichtlich nicht disjunkt. Was in bezug auf einen Diskurs Thema ist, kann in bezug auf einen anderen gerade Teil des prä-diskursiven Einverständnisses sein. Es können jedoch nicht alle Geltungsansprüche Thema ein und desselben Diskurses sein. Ohne ein jeweiliges prä-diskursives Einverständnis ist kein Diskurs zum Konsens zu bringen. Darüber hinaus gibt es jedoch prä-diskursive Einverständnisse, über die Einverständnis vor jedem Diskurs besteht, prä-diskursive Gehalte schlechthin. Mit Bezug auf diese kann daher von einer nicht einholbaren Prädiskursivität alles Redens und Handelns gesprochen werden. In der Erfahrung der Nichteinholbarkeit ist der Gedanke des Apriori verankert. Er liegt sowohl der platonischen Ideenlehre wie der Vorstellung eingeborener Ideen bei Descartes, dem Gedanken der Vernunftwahrheit bei Leibniz und dem Begriff der synthetischen Urteile a priori der Vernunft bei Kant zugrunde. Es ist nun leicht vorstellbar, daß in vielen Fällen der Ausgang eines Versuchs diskursiver Wissensbildung und damit die Frage der Begründetheit bzw. der Gerechtfertigtheit von prä-diskursiven Einverständnissen abhängen, und zwar so, daß der diskursive Dissens bzw. Konflikt auf die Inhalte des prä-diskursiven Einverständnisses zurückschlägt. In solchen Situationen stellt sich die Frage, mit welchem Recht prä-diskursive Einverständnisse als solche prätendiert werden. Über prä-diskursive Einverständnisse kann allerdings offensichtlich nicht nach Art diskursiver Wissensbildung entschieden werden, weil ansonsten das schwarze Loch des unendlichen Regresses lauerte. Diese Einsicht hat immer wieder zu der Meinung verleitet, über prä-diskursive Einverständnisse könne überhaupt nicht konsensuell befunden werden, und somit müßten die Grundlagen der Vernunft ihrerseits unvernünftig sein.12 Diese Schlußfolgerung wäre in der Tat unvermeidlich, stünden nicht Redemittel zur Verfügung, mit deren Hilfe prä-diskursive Einverständnisse zwar nicht gemäß den Regeln diskursiver Redeformen, gleichwohl aber in geregelter Weise herbeigeführt werden können. Vorschläge und Empfehlungen sind Beispiele für sprachliche Handlungen, durch die Elemente prä-diskursiver Einverständnisse eingeführt und in der Folge auch funktionell kontrolliert werden können. Der entscheidende Unterschied von Vorschlägen zu Behauptungen bzw. Empfehlungen zu Aufforderungen liegt darin, daß der durch einen Vorschlag bzw. eine Empfehlung geäußerte Geltungsanspruch nur unter der Bedingung aufrechterhalten wird, daß der Vorschlag bzw. die Empfehlung zustimmungsfördernd ist. Vorschläge und Empfehlungen können daher als ›schwache‹ Geltungsansprüche gegenüber den ›starken‹, beispielsweise dem Behaupten und 12  Diese Vorstellung ist in der jüngeren Diskussion v. a. in der Ritter-Schule als »Dezisionismus« bezeichnet worden; vgl. wegen des markanten Titels z. B. R. Spaemann, »Über nichtrationale Voraussetzungen des Vernunftgebrauchs«.

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Auffordern, bezeichnet werden. Das Vorschlagen bzw. Empfehlen hat insofern einen wesentlich tentativen Charakter, als vor einem Diskurs noch kein Geltungsanspruch eingelöst werden kann. Gleichwohl können Vorschläge bzw. Empfehlungen funktionell kontrolliert werden. Erfahrungsgemäß stellt sich nämlich heraus, • daß manche Vorschläge bzw. Empfehlungen nicht auf Zustimmung stoßen, • oder zwar auf Zustimmung stoßen, der Diskurs aber dennoch nicht zu einer Zustimmung des Opponenten führt (es waren dann die »falschen« Vorschläge), • oder aber schließlich auf Zustimmung stoßen und zu einer gelungenen Begründung bzw. Rechtfertigung führen. In lebensweltlichen wie auch in anderen parteien- und kontextvarianten, also in diesem Sinne relativen Diskursen kann man es sich in der Regel leisten, es darauf ankommen zu lassen, ob sich prä-diskursive Einverständnisse aufgrund von Vorschlägen bzw. Empfehlungen einstellen. Anders verhält es sich bei absoluten Begründungen und Rechtfertigungen, also solchen, die im Kontext von Wissenschaft und Gesellschaft Anspruch auf allgemeine Anerkennung erheben. Ihr Gelingen hängt wesentlich davon ab, ob von einem prä-diskursiven Einverständnis ausgegangen wurde, dem nicht nur jedermann de facto zustimmt, sondern von dem bekannt sein muß, daß es jedermann zumutbar ist, so daß jeder zustimmen könnte, auch wenn die Voraussetzungen faktischer Diskursteilnahme nicht gegeben sind. Die Frage, ob es solche jedermann zumutbaren Vorschläge bzw. Empfehlungen gibt bzw. sie gefunden werden können, ist letztlich ausschlaggebend für die Frage, ob es überhaupt Wissenschaft und (rechtlich verfaßte) Gesellschaft geben kann. Vorschläge bzw. Empfehlungen werden nicht aufgrund von Diskursen als begründet bzw. als gerechtfertigt ausgezeichnet, sondern sie sind geeignet bzw. ungeeignet, Diskurse überhaupt erst zu ermöglichen. Somit stellt sich die Frage, wie sich geeignete Vorschläge bzw. Empfehlungen ermitteln lassen. Dazu müssen sie jedenfalls wenigstens drei Kriterien erfüllen: Sie müssen a) argumentationszugänglich, b) aussichtsreich und c) erheblich sein. Wer geeignete Vorschläge und Empfehlungen im Sinne dieser drei Kriterien entwickeln will, muß über erhebliche Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen, beispielsweise: • Diskursverläufe aus der Kenntnis von Regeln zu antizipieren; • Behauptungen und Rechtfertigungen auf deren Prämissen und Präsuppositionen hin zu analysieren; • die Verallgemeinerbarkeit von Begründungen und Rechtfertigungen abzuschätzen; • faktische Rede- und Handlungsgewohnheiten zu erkennen; • faktische Genesen von Dissensen und Konflikten zu rekonstruieren;

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• Unvollständigkeiten, Asymmetrien und Kommunikationsverzerrungen aufzudecken; und vieles mehr. Diese Aufzählung zeigt, daß die Fähigkeit, geeignete Vorschläge und Empfehlungen hervorzubringen, eine Kunst ist, die in lebensweltlicher Erfahrung ansetzte, aber doch über diese weit hinausgeht. Philosophie treibt man, wenn man die Instrumente untersucht, die über prä-diskursive Einverständnisse zu urteilen erlauben, wenn auch jenseits der Prozeduren diskursiver Wissensbildung. Als »Weisheit« kann man diejenige Disposition verstehen, die durch Erfahrung mit diskursivem Handeln und seinen Präsuppositionen entsteht. Die Philosophie ist die methodische Erzeugung dieser Dispositionen.13 Damit ist keineswegs gezeigt, daß es ohne Philosophie keine prä-diskursive Verständigung und somit keine kommunikativ geregelte Kooperation geben könnte. Ohne Philosophie jedoch ereignen sich prä-diskursive Einverständnisse bloß naturwüchsig. Ferner ist das Entstehen und Vergehen prä-diskursiver Einverständnisse an die Diskursparteien und -kontexte, also an Rede- und Handlungssituationen gebunden. In solchen kulturhistorischen Kontexten jedoch, in denen Interaktionsformen empfehlenswert werden, die die Situation jeweils transzendieren, d. h. in denen Kooperationsund Kommunikationsfähigkeit auch zwischen solchen Parteien bestehen muß, die nicht tagtäglich miteinander umgehen, verlangt die kommunikative Unterstützung menschlicher Kooperation prä-diskursive Einverständnisse, die parteieninvariant gelten. Für die Rechtfertigung der Philosophie kommt es also allein darauf an, ob eine menschliche Lebensgemeinschaft, sei sie Stamm, Volk oder Weltgesellschaft, die Herausbildung prä-diskursiver Einverständnisse naturwüchsigem Entstehen oder Vergehen überlassen will oder ob sie ein Interesse daran hat, prä-diskursive Einverständnisse besonders zu kultivierender Redeformen geplant zu erzeugen. Diskursive Wissens- und Willensbildung ist somit nur möglich, wenn sprachbegabte Wesen (ξῴα λόγον ἔχα) bereit sind, ihr eigenes Reden und Handeln dergestalt ernstzunehmen, daß sie die impliziten Verpflichtungen ihrer Redepraxis unter Umständen zu expliziten Annahmen ihrer Argumentationshandlungen machen.14 Nur wenn dies anerkannt ist, läßt sich die diskursive Auflösung von Dissensen und Konflikten zweck-, d. h. konsensgerichtet planen. Die Utopie einer Gesellschaft, in der Dissense und Konflikte ausschließlich mit diskursiven Mitteln aufgelöst werden, ist eine Grundvorstellung, die sich schon aus der Arbeit der griechischen Klassiker der Philosophie an dialektischen Redestrukturen unter rhetorischen, topischen und logischen Gesichtspunkten ergibt und die das Grundprinzip des menschlichen Zusammenlebens in friedlichen Gesellschaften darstellt.15 Durch

Vgl. C. F. Gethmann, »Kontemplation und Profession«. Vor allem R. Brandom hat auf den explizitmachenden Charakter von (logischen) Regeln und Prinzipien hingewiesen. Zwar gehen Sprecher mit jedem sprachlichen Vollzug implizite Verpflichtungen ein, aber erst das Explizit-Machen ermöglicht es, diese »commitments« diskursiv einzuholen und etwa im Falle von kommunikativen Störungen auch zum Gegenstand der Rede zu machen. Siehe R. Brandom, Making it Explicit; ders., Articulating Reasons. 15  Vgl. zu diesem Zusammenhang P. Lorenzen, Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, 228–292 (»Theorie des politischen Wissens«). 13  14 

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die Philosophie der Renaissance und die Zweckbindung der modernen Wissenschaften an das Bacon-Prinzip16, demgemäß der letzte Zweck aller wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen in der Befreiung des Menschen von naturhaften und sozialen Zwängen liegen soll, werden die philosophischen Grundlagen eines »europäischen Menschentums«, d. h. der Grundprinzipien einer aufgeklärten wissenschaftlich-technischen Kultur artikuliert. Diese Form des gesellschaftlichen Lebens hängt wesentlich von den prä-diskursiven Redemitteln ab, die die Mitglieder der Gesellschaft sich zu erarbeiten in der Lage sind, d. h. vom Zustand der Philosophie.

4.  Die exoterischen Aufgaben der Philosophie Redehandlungstypen wie das Vorschlagen und Empfehlen sprechen Formen sozialer Interaktion an, das Proprium philosophischer Arbeit zielt jedoch darüber hinaus auf Institutionalisierung. Die Arbeit an der Erzeugung prä-diskursiver Einverständnisse ist in der Philosophie professionalisiert und daher – wie alle professionelle Arbeit – »esoterisch«. Die perlokutionäre Zweckperspektive ist jedoch eine Exoterische17, die man nach einem Vorschlag (!) von J. Mittelstraß als die der »Gesellschaftsberatung«18 bezeichnen kann. Gesellschaftsberatung ist eine weniger emphatisch klingende, aber im Kern durchaus gleichgerichtete philosophische Aktivität wie die, die Husserl mit dem Ausdruck »Funktionäre der Menschheit« für die Philosophen anzielte. Die Erzeugung prä-diskursiver Einverständnisse im Kontext verfaßter Gesellschaften erfolgt somit im Rahmen des Sprachspiels der Beratung. Sosehr gilt, daß die esoterische Aufgabe der Philosophie in dieser exoterischen Zwecksetzung ihre Rechtfertigung findet, so sehr ist auch zur Kenntnis zu nehmen, daß es ohne die esoterische Arbeit keine Beratungsgehalte gibt. Die esoterische Arbeit am Argument (d. h. an Begriff, Vorschlag / Empfehlung, Begründung / Rechtfertigung), zu der auch die Verwaltung des Tresors der Argumente, d. h. die hermeneutische Verwaltung des schon Vorgeschlagenen und Empfohlenen gehört, ist unverzichtbar, und die Exoteriker unter den Philosophen verhalten sich zur esoterischen Arbeit ihrer Kollegen durchaus parasitär. Deswegen hat die Philosophie im Haus der Wissenschaften, der Universität, auch einen adäquaten Ort. Zwar muß die Philosophie nicht notwendig in Universitäten in­ stitutionalisiert sein, sie hat in ihrer Geschichte auch schon in Akademien und Klöstern, in tuskulanischen Gärten und Diplomaten-Kutschen, in Dombauhütten und Linsenschleifereien ihre Aufgaben wahrgenommen. Es geht also nicht so sehr um die Frage, ob die Philosophie auch woanders als an Universitäten existieren könnte, sondern ob eine Gesellschaft es sich leisten kann, die Philosophie intellektuell und institutionell vagabundieren zu lassen. Vor allem ist zu fragen, ob die Universität als Institution des C. F. Gethmann, »Wissen als Macht«. Die Unterscheidung esoterischer vs. exoterischer Aufgaben der Philosophie folgt einem Vorschlag von H. Krings, »Über Esoterik und Exoterik der Philosophie«. 18  J. Mittelstraß, »Wissenschaftskultur«. 16  17 

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wissenschaftlichen Diskurses ohne institutionalisiertes Interesse für die prä-diskursiven Einverständnisse, die den Fachwissenschaften präsuppositionell zugrunde liegen, existieren kann. Universitäten als Orte des wissenschaftlichen Diskurses sind vorzügliche Orte, um sich eine prä-diskursive Reflexion zu leisten. Eine Universität ohne Philosophie sollte es daher nicht geben. Die exoterischen Aufgaben der Philosophie werden in den letzten Jahren unter den Titeln der »Angewandten Ethik« oder »Angewandten Philosophie« subsumiert. Dazu gehören vor allem die Themengruppen des technischen Handelns, des umsichtigen Umgangs mit der Natur und der medizinischen Ethik. Es sind aber auch Themenbereiche zu beachten, die in den gegenwärtigen Debatten eher am Rande stehen, wie beispielsweise die Rechtsphilosophie oder die Musikästhetik. Hier handelt es sich um Subdisziplinen der Philosophie, die vor allem deshalb auf Philosophiekongressen oft am Rande stehen, weil sie in der Regel anderen Fakultäten zugeordnet werden als die philosophischen Seminare bzw. Institute. Dabei zeigen sich übrigens nicht nur Passungsprobleme in die eine Richtung. Eine exoterisch ausgerichtete Praktische Philosophie, die an der Reflexion des Rechts vorbeiginge, bliebe leer, aber eine Rechtsphilosophie, die sich vom Stamm der Allgemeinen Philosophie löste, bliebe blind. Mit Zufriedenheit ist festzustellen, daß die jüngeren Rechtsphilosophen dies erkannt haben und den engen Kontakt zur übrigen Philosophie suchen. In den kunstbezogenen Subdisziplinen gibt es ähnliche Entwicklungen. Umgekehrt gilt jedoch, daß eine Philosophie, die sich als Geisteswissenschaft unter Geisteswissenschaften verstünde, sich auf die Verwaltung ihrer Vorgeschichte reduzieren und so gerade den Kontakt zur Lebenswelt verlieren würde. Sie würde ferner einen Prozeß der institutionellen Verselbständigung von Subdisziplinen wie Rechtsphilosophie und Medizinethik provozieren, weil diese aus der Verwaltung des historischen Bestandes der Philosophie keine (unmittelbare) Zuwendung zu ihren aktuellen Aufgaben gewinnen könnten. Es gibt eben echt neue Probleme in der Philosophie, und zur Frage der Verwendung embryonaler Stammzellen oder der Standortwahl großtechnischer Anlagen ist direkt weder bei Platon noch bei Kant etwas Hilfreiches zu finden. Es sollte daher immer mal wieder zu den Aufgaben der großen Philosophiekongresse gehören, der Philosophie selbst und der Öffentlichkeit die exoterische Funktion der Philosophie zu dokumentieren. Damit sollte demonstriert werden, was »Berufsphilosophen«, die im deutschen Feuilleton eine beliebtes Objekt von Sottisen sind, für die Gesellschaft durch ihr Denken »tun«. Damit sollen die esoterischen Aufgaben der Philosophie keineswegs als weltfremd denunziert werden, im Gegenteil, wie schon betont, kann die Philosophie ihre exoterischen Aufgaben nur wahrnehmen, wenn sie auf ihre »esoterischen« Rückräume zugreifen kann. Der vielgescholtene Elfenbeinturm bedarf insoweit dringend der funktionellen Rehabilitierung. Deswegen werden sich auch bei diesem Kongreß wie bei zukünftigen Philosophiekongressen viele Kolloquien und Sektionen die traditionellen Subdisziplinen der Philosophie wie Logik, Wissenschaftstheorie und Sprachphilosophie, aber auch allgemeine Ethik, Kulturtheorie und Ästhetik präsent sein. Einleitend wurden unter Rückgriff auf Husserls Zeitdiagnose in der Krisis-Schrift drei Aufgaben der Philosophie herausgestellt, nämlich die Fundierungsaufgabe, die Aufklärungsaufgabe und die Aufgabe der kulturellen Selbstverständigung. Indem die

Philosophie – zwischen Lebenswelt und Wissenschaft

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Philosophie diese Aufgaben übernimmt, hat sie eine Brückenfunktion zwischen Lebenswelt und Wissenschaft im Interesse beider, oder besser: Sie ordnet Lebenswelt und Wissenschaft funktionell aufeinander zu. Ist das aber nicht eine Selbstüberforderung, und klingt nicht bei dieser Selbstbestimmung der Philosophie die platonisch-hegelsche Selbstbestimmung der Philosophie als Grund- und Gesamtwissenschaft durch, die hinsichtlich des Fundierungsanspruchs als unbescheiden, hinsichtlich des Aufklärungsanspruchs als maßlos und hinsichtlich des Verständigungsanspruchs als wahnsinnig erscheinen könnte? Im Gegenzug stelle man sich aber einmal zwei Kontrollfragen: (i) Sind die Funktionen der Fundierung, der Aufklärung und der Verständigung überflüssig? (ii) Wenn sie aber nicht überflüssig, vielleicht sogar unabdingbar sind, wer soll sie wahrnehmen? Beantwortet man beide Fragen zugunsten der Philosophie, hat man selbstverständlich noch keine Garantie, daß diese Aufgaben auch erfüllt werden. Aber der Wunsch, der bei der Vorbereitung des hier eröffneten Kongresses leitend war, ist, daß erkennbar werden möge, daß der Kongreß an diesen Aufgaben arbeitet.

Literatur Brandom, Robert: Making it Explicit, Cambridge (Mass.) 1994. Brandom, Robert: Articulating Reasons, Cambridge (Mass.) 2000. Gethmann, Carl Friedrich: »Kontemplation und Profession«, in: W. Oelmüller (Hg.): Philosophie und Weisheit, Paderborn 1989, 108–121. Gethmann, Carl Friedrich: »Martin Heidegger«, in: N. Hoerster (Hg.): Klassiker des philosophischen Denkens. Bd.  2, München 1982, 72003, 274–316 (Wiederabdruck in C. F. Gethmann: Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin 1993; 3–48). Gethmann, Carl Friedrich: »Einheit der Lebenswelt – Vielheit der Wissenschaften«, in: Akadamie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.): Einheit der Wissenschaften. Forschungsberichte 4, Berlin 1990, 349–371. Gethmann, Carl Friedrich: »Ist Philosophie als Institution nötig?«, in: H. Lübbe (Hg.): Wozu Philosophie?, Berlin 1978, 287–312. Gethmann, Carl Friedrich: Vom Bewußtsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, Paderborn 2007. Gethmann, Carl Friedrich: »Wissen als Macht. Wissenschaftsphilosophische Überlegungen«, in: R. Emmermann u. a. (Hgg.): An den Fronten der Forschung: Kosmos – Erde – Leben (Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, 122. Versammlung, 21.–24. September 2002, Halle / Saale), Stuttgart u. a. 2003, 238–245. Gethmann, Carl Friedrich / Sander, Thorsten: »Logik und Topik: die Vernunft der Philosophie«, in: J. Cobet / C. F. Gethmann / D. Lau (Hgg.): Die Gegenwärtigkeit der antiken Überlieferung, Aachen 2000, 337–355. Grathoff, Richard: Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung. Frankfurt a. M. 1989.

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Öffentlicher Vortrag 1  ·  Carl Friedrich Gethmann

Husserl, Edmund: »Philosophie als strenge Wissenschaft«, in: Logos 1 (1910/11) 289– 340 (Wiederabdruck: W. Szilasi (Hg.): Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1965). Husserl, Edmund: Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie. Ein Einleitung in die Phänomenologische Philosophie (Husserliana Bd. 6), Den Haag 1953, 21962, Berlin u. a. 31976. Kamlah, Wilhelm / Lorenzen, Paul: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim 21973. Krings, Hermann: »Über Esoterik und Exoterik der Philosophie«, in: H.  Lübbe (Hg.), Wozu Philosophie, Berlin 1978, 148–163. Lorenzen, Paul: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, Mannheim 1987; Stuttgart ²2000. Mittelstraß, Jürgen: Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974. Mittelstraß, Jürgen: »Das lebensweltliche Apriori«, in C. F. Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, Bonn 1991, 114–142. Mittelstraß, Jürgen: »Wissenschaftskultur. Zur Vernunft wissenschaftlicher Institutionen«, in: Forschung und Lehre 17 (2010), 406–409. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932 (Nachdruck: Frankfurt a. M. 1974). Schütz, Alfred / Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Darmstadt und Neuwied 1975 (Neuaufl. Frankfurt a. M. 1979). Spaemann, Robert: »Über nichtrationale Voraussetzungen des Vernunftgebrauchs«, in: M. Zöllner (Hg.): Aufklärung heute, Zürich 1980, 116–127. Welter, Rüdiger: Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt, München 1986. Welter, Rüdiger: »Die Lebenswelt als ›Anfang‹ des methodischen Denkens in Phänomenologie und Wissenschaftstheorie«, in: C. F. Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, Bonn 1991, 143–163.

Lebenswelt und Praktische Philosophie Julian Nida-Rümelin

1.  Vorbemerkung Ich setze mich im Folgenden mit der Rolle der Lebenswelt in der Praktischen Philosophie, der Rationalitätstheorie und Ethik, auseinander.1 Dabei verwende ich einen schillernden Terminus, der seit Husserls Krisis-Schrift – zum Leidwesen vieler Phänomenologen – Karriere gemacht hat. In weiten Bereichen der Sozialwissenschaften, in der Soziologie, in der vergleichenden Kulturwissenschaft, in der politischen Theorie, ist er wohl etabliert, allerdings in einer Bedeutung, die mit Husserls ursprünglichen Intentionen meist nur noch entfernt verwandt ist. Nun gebraucht Husserl selbst den Lebenswelt-Begriff in unterschiedlichen Bedeutungen, die auch hundert Jahre nach Erscheinen der Krisis-Schrift die Sekundärliteratur inspirieren. 2 Wie – hoffentlich – noch deutlich werden wird, ist die Aufweichung, ja Vervielfältigung des Lebenswelt-Begriffes für diesen Vortrag sogar von Vorteil. 3 An einigen Stellen seines Werkes greift Ludwig Wittgenstein zum Begriff der Lebensform, um das Gegebene, das jeder Prüfung und Infragestellung Entzogene zu benennen. Allein schon die Tatsache, dass die Interpreten streiten, ob es sich hier um eine spezifisch menschliche Lebensform, also etwas quasi Biologisches, oder um die ganze Vielfalt Die Abendvorträge richten sich jeweils an ein breiteres, philosophisch interessiertes Publikum. Ich habe daher in meinem Vortrag versucht, keine spezifischen Kenntnisse philosophischer Literatur vorauszusetzen. Die Argumente sollten – möglichst weitgehend – aus sich selbst heraus nachvollziehbar sein. Auf der anderen Seite geht es bei diesem Thema um ein zentrales Stück meiner eigenen philosophischen Positionierung. Der Ehrgeiz war daher, beides miteinander zu verbinden: Allgemeinverständlichkeit und philosophische Substanz. Ich habe diesen Vortrag bewusst völlig frei gehalten, um mich auf das Publikum einstellen zu können. Ich hatte kein Manuskript vorbereitet und war auch nicht darauf eingestellt, dass die drei Abendvorträge von Jürgen Habermas, Wolfram Hogrebe und mir in die Kongress-Proceedings integriert werden sollen. Ich bin aber der entsprechenden Aufforderung des vormaligen Präsidenten Carl Friedrich Gethmann gerne gefolgt und habe versucht, eine möglichst getreue Nachschrift meines Vortrages abzufassen, von dem kein Tonband-Mitschnitt aufgezeichnet worden ist. Der Vorteil der schriftlichen Fassung ist, dass man im Gegensatz zum mündlichen Vortrag problemlos einige Verweise hinzufügen kann, die den Interessierten Prüfungen und vertiefende Lektüre ermöglichen. 2  Vgl. als Beispiel für viele: G. Gillett, »Husserl, Wittgenstein and the Snark: Intentionality and Social Naturalism«; D. Welton, »The Systematicity of Husserl’s Transcendental Philosophy: From Static to Genetic Method«; ders., The Other Husserl; D. Carr, Phenomenology and the Problem of History; ders., Interpreting Husserl; S. Luft, »Husserl’s Theory of the Phenomenological Reduction«; sowie B. Waldenfels, »Die Abgründigkeit des Sinnes«. 3  Mein Gebrauch dieses Begriffes scheint mir nicht weit entfernt von demjenigen J. Habermas’ in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (Kap. VI, 1) zu sein, aber möglicherweise wird diese Vermutung in dem vorgesehenen Abendvortrag von J. Habermas falsifiziert. 1 

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von Lebensformen, wie sie in unterschiedlichen Sprachen und Interaktionsmustern ihren Ausdruck finden, handelt, zeigt, dass auch die Wittgenstein’sche Lebensform alles andere als ein präziser wissenschaftlicher oder philosophischer Terminus ist. Kein Zweifel kann jedoch daran bestehen, dass die Husserl’sche Lebenswelt in erster Linie epistemisch, die Wittgenstein’sche Lebensform in erster Linie praktisch gemeint ist. Die Verkoppelung des Praktischen mit dem Epistemischen über die Gebrauchstheorie der Bedeutung und ihre Spezifikationen in der Sprechakt-Theorie oder der Situations-Semantik baut jedoch Brücken zwischen diesen beiden Begriffen der Lebenswelt und der Lebensform.4 Lebenswelt bei Husserl und Lebensform bei Wittgenstein spielen eine jeweils unterschiedliche Rolle für die Fundierung unseres wissenschaftlichen Wissens und unserer alltäglichen Überzeugungen. Man kann die Wittgenstein’sche Perspektive radikalisieren (und damit weit über Wittgenstein selbst hinausgehen), dann wird alles letztlich zum Bestandteil einer je gegebenen Lebensform, jedes Argument, jeder mathematische Beweis, jede zwischenmenschliche Interaktion, jede sprachliche Äußerung. Wenn die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks sein in der Sprachgemeinschaft etablierter Gebrauch ist und der Gebrauch in Verhaltensmustern besteht, die ohne Einbeziehung propositionaler und nicht-propositionaler Einstellungen, zumal handlungsleitender Intentionen, beschreibbar sind (das Programm des logischen Behaviourismus), dann mündet die Rede von der Lebensform in eine Art von sozialem Naturalismus. Ich bin davon überzeugt, dass man damit Wittgenstein nicht gerecht wird, jedenfalls dass diese Auflösung alles Normativen, aller Intentionalität in gegebenen Verhaltensmustern sachlich unangemessen und epistemologisch undurchführbar wäre. Wir nehmen aufeinander als intendierende, als deskriptiv und normativ Stellung nehmende Individuen Bezug, die alltägliche Praxis der Verständigung und der Interaktion setzt eine komplexe Intentionalität impliziter voraus. Das Wittgenstein’sche Programm einer Gebrauchstheorie der Bedeutung muss normativistisch ausgeführt werden, wie es etwa Robert Brandom mit Making it Explicit versucht hat und wie es schon die Sprechakt-Theorie von John Austin und John Searle vorgezeichnet hat.5 Mein Changieren in den vergangenen Jahren zwischen den Begriffen Lebenswelt und Lebensform hat also systematische Gründe. Die Lebenswelt ist kein lediglich epistemischer Rahmen, sondern eingebettet – und nur in dieser Einbettung verständlich – in (zwischen-) menschliche Praxis und die Lebensform bleibt zu wesentlichen Teilen epistemisch und intentional verfasst.6 Der Sinn dieser Bemerkungen wird sich erst im Verlauf der folgenden systematischen Erörterung vollends erschließen. Diese hat zwei Teile, einen destruktiven und einen rekonstruktiven.

F. Mühlhölzer und ich haben vor einigen Jahren eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen eingeladen, um das Verhältnis von Lebenswelt und Lebensform, aber auch die Fundierungsproblematik wissenschaftlicher Theorien generell zu diskutieren (DFG-Rundgespräch vom 11.- 13. Oktober 2006 in der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung in München). Einige Beiträge zu dieser Tagung können auf http://www.julian.nida-ruemelin.de/rdgespr.html nachgelesen werden. Vgl. hierzu auch: C. F. Gethmann (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft; F. Mühlhölzer, »Naturalismus und Lebenswelt«, sowie J. Nida-Rümelin, Philosophie und Lebensform. 5  Vgl. J. L. Austin, How to do things with words; sowie J. R. Searle, Speech acts. 6  Vgl. J. Nida-Rümelin, Philosophie und Lebensform. 4 

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2.  Destruktion 2.1  Rationalität In den ökonomischen Disziplinen ist die Auffassung verbreitet, über eine in sich schlüssige und alternativlose Theorie der Rationalität zu verfügen. Diese hat sowohl einen normativen wie einen deskriptiven Status, insofern sie sowohl Handlungsempfehlungen als auch empirische Erwartungen begründet. Den Kern dieser Theorie bildet das Optimierungskriterium: Optimiere die Folgen deines Handelns, oder: Handle so, dass der Erwartungswert deines Nutzens (gegeben die Wahrscheinlichkeiten relevanter Umstände) maximal ist. In diesem Kriterium steckt eine doppelte Subjektivierung: Zum einen wird Nutzen über die subjektiven Präferenzen der Akteure bestimmt und nicht mehr, wie in den Frühzeiten der ökonomischen Theorie, über objektive Kriterien des Wohlergehens.7 Nutzenbestimmungen im Sinne objektiven Wohlergehens haben gegenwärtig allerdings Konjunktur, profilierte Ökonomen wenden sich von subjektiven Präferenzen als Basis der Beurteilung ab. Zum anderen werden die Wahrscheinlichkeiten über subjektive Erwartungen, also die Bereitschaft zu wetten (maximaler Wett-Quotient) bestimmt.8 Die Grundintuition lautet, dass rationales Handeln auf die Optimierung des eigenen Wohlergehens gerichtet ist. Das klingt so selbstverständlich, dass jede Kritik zunächst abwegig erscheint. Folgende Überlegung mag jedoch die Bereitschaft wecken, das ökonomische Rationalitätskonzept einer philosophischen Analyse zu unterziehen. Stellen wir uns die folgende Frage: Kann eine Handlung geboten sein, ohne rational zu sein? Mit anderen Worten: Kann es sein, dass wir eine Handlung vollziehen sollten, die irrational ist? Wenn wir auf diese Frage mit »Nein« antworten, dann können nur solche Handlungen je individuell geboten sein, die das Wohlergehen des betreffenden Individuums optimieren. Dann sind altruistische oder auch kooperative Handlungen nicht geboten, weil irrational. Wenn jedoch altruistische oder kooperative Handlungen wenigstens gelegentlich geboten sind, dann ließe sich dieses Rationalitätskonzept nicht aufrechterhalten. Unter einer Theorie der Rationalität, die nicht zugleich normativ ist, also dem betreffenden Akteur empfiehlt, entsprechend zu handeln, kann ich mir nichts vorstellen. Wenn man den normativen Charakter der Rationalitätstheorie aufgibt, dann wird der Terminus »rational« willkürlich, dann lässt sich das Argument der offenen Frage nicht mehr anwenden: Diese Handlung entspricht dem Kriterium der Rationalitätstheorie T, aber ist sie auch (wirklich) rational? Die Theorie hätte keine kritische Prüfungsinstanz mehr und beruhte lediglich auf einer (Nominal-)Definition, wäre also inhaltlich ohne Substanz.

7  Allerdings gibt es in den letzten Jahren eine Art Renaissance der klassischen ökonomischen Theorie, die von der schottischen Moralphilosophie, dort speziell der utilitaristischen Ethik, ihren Ausgangspunkt nahm. Vgl. Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Adam Smith. 8  Vgl. die sorgfältige, wissenschaftstheoretisch reflektierte Darstellung von W. Stegmüller, Probleme und Resultate aus der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. IV.

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Eine Handlung ist rational, wenn es keine alternative Handlung gibt, für die die besseren Gründe sprechen. Wir sollten Rationalität über Gründe, genauer praktische Gründe bestimmen. Die Interessen anderer Personen können einen guten Grund abgeben, rücksichtsvoll zu handeln, auch dann, wenn damit das eigene Wohlergehen nicht optimiert wird. Mit anderen Worten: Altruistische Motive können rationale Handlungen motivieren. Sich an einer gemeinsamen Praxis zu beteiligen, wenn man diese befürwortet, kann auch dann wohlbegründet sein, wenn diese eigene Beteiligung mit »Kosten« für mein Wohlergehen verbunden ist und es andere gäbe, die sich an meiner Stelle beteiligen könnten. Kooperativ motiviertes Handeln kann rational sein. Wenn wir uns die gesamte Vielfalt praktischer Gründe, die unser Handeln bestimmen, die wir bei kritischen Nachfragen anführen und die uns helfen, das Verhalten anderer zu interpretieren, vor Augen stellen, dann kann wohl kaum ein Zweifel bestehen, dass das eigene Wohlergehen dabei eine untergeordnete Rolle spielt. Wir verfolgen zahlreiche Ziele in unserer alltäglichen Praxis. Das eigene Wohlergehen gehört dazu, aber es ist nur selten direktes und nur gelegentlich indirektes Ziel unserer Handlungen. Selbst wenn man das Wohlergehen anderer Personen mit einbezieht, bleibt die Idee der Reduktion aller Handlungsgründe auf eigenes und fremdes Wohlergehen wie ein abstraktes, mit der lebensweltlichen Praxis nicht in Einklang zu bringendes Prinzip. Jemand bittet mich um einen Gefallen, ich tue dies, weil ich darum gebeten wurde. Wie übersetzen wir diesen Handlungsgrund (die ausgesprochene Bitte) in die Sprache der eigenen (oder auch der kollektiven) Maximierung des Wohlergehens? Folge ich der Bitte, um mein eigenes Wohlergehen zu maximieren? Nein, der Handlungsgrund ist die ausgesprochene und an mich gerichtete Bitte, keine Kalkulation meines eigenen Wohlergehens. Ist es das Wohlergehen der Person, die diese Bitte ausgesprochen hat? Nein, denn die Frage, wie diese Bitte mit dem Wohlergehen der diese Bitte äußernden Person verbunden ist, ist irrelevant. Die ausgesprochene Bitte selbst bildet für mich den Handlungsgrund, nicht meine Vermutung, dass eine Abhängigkeit des Wohlergehens von der Erfüllung dieser Bitte besteht. In der von uns praktizierten und interpersonell geteilten Lebensform beruhen gute Handlungsgründe auf ausgesprochenen Bitten, Aufforderungen oder Weisungen (präskriptiven Sprechakten). Wir können sagen: Präskriptionen strukturieren unsere geteilte Lebensform. Der Status dieser Präskriptionen ist aber ein normativer. Es ist nicht die Tatsache der ausgesprochenen Bitte (der Aufforderung, der Weisung) selbst, die unsere Lebensform strukturiert, sondern die geteilte Überzeugung, dass es sich um eine berechtigte Bitte (Aufforderung, Weisung) handelt. Wir verstehen Bitten (Aufforderungen, Weisungen) als Ausdruck der Intentionen des Äußernden, wobei diese Intentionen allein keinen praktischen Grund hervorbringen, sondern erst der Status, den diese Äußerung jeweils als eine verpflichtende Bitte (Aufforderung, Weisung) hat.9 Wenn ich gestern versprochen habe, heute um 16 Uhr zu einer Verabredung ins Café zu kommen, habe ich heute einen guten Grund, mich um die versprochene Zeit

Wir haben jeweils drei Formen präskriptiver Sprechakte herausgegriffen, diese Reihe ließe sich natürlich fortsetzen. 9 

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dort einzufinden. Auch für kommissive Sprechakte gilt, dass sie gute Handlungsgründe konstituieren unabhängig davon, ob das so begründete Handeln mein eigenes Wohlergehen (oder das anderer Personen) optimiert. Die Erfüllung eines gegebenen Versprechens ist nicht schon deswegen irrational, weil sie das Wohlergehen der Person, die das Versprechen gegeben hat, oder auch das Wohlergehen der Person, der dieses Versprechen gegeben wurde, nicht optimiert. Das Wohlergehen der beteiligten Personen ist zunächst schlicht irrelevant dafür, ob ein gegebenes Versprechen zu erfüllen ist. Versprechen konstituieren lebensweltlich gute Handlungsgründe und bestimmen über gute Handlungsgründe das, was rational oder irrational ist. Eine Person ist irrational, die regelmäßig Versprechen gibt, die sie bricht. Soziale Rollen sind mit Verpflichtungen verbunden, sie sind geradezu dadurch definiert, dass sie bestimmte Verpflichtungen mit sich bringen. Lehrer, die keinerlei Verpflichtungen gegenüber ihren Schülern haben, sind keine Lehrer. Eltern, die keinerlei Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern haben, sind keine Eltern. Eine Regierung, die keinerlei Verpflichtungen gegenüber ihrer Bürgerschaft hat, ist keine Regierung. Wir bestimmen soziale Rollen über die normativen Regeln, die das Handeln bestimmen, mit denen diese Rollen ausgefüllt werden. Kommunitäre Pflichten konstituieren gute Handlungsgründe. Wäre dem nicht so, würde die von uns geteilte Lebensform aufhören zu existieren und die lebensweltlichen Praktiken der Verständigung, der Begründung und der Interaktion würden obsolet. Handlungen können rational sein, weil sie kommunitären Pflichten entsprechen. Menschen sind frei und gleich, sie verdienen gleichen Respekt, unabhängig davon, welche Hautfarbe sie haben, welche Sprache sie sprechen, welcher Herkunft sie sind, in welcher Region sie leben, welchem Geschlecht sie angehören. Wir billigen ihnen gleiche Autonomie, gleiche Autorschaft, die gleiche Fähigkeit, ein Leben selbst zu verantworten, zu und die Menschenrechte bilden den normativen Rahmen, innerhalb dessen Freiheit und Gleichheit sich verwirklichen können. Diese beiden miteinander verkoppelten Formen der Freiheit und der Gleichheit bilden den Kern der demokratischen Lebensform, die ausweislich des globalen Menschenrechtsdiskurses und der Entwicklung des Völkerrechtes im Zweiten Weltkrieg zumindest unter einem normativen Gesichtspunkt universell geworden ist. Auch Prinzipien wie die der Freiheit und der Gleichheit, der gleichen Würde und Autonomie, konstituieren gute Handlungsgründe. Allein die Tatsache, dass eine Gruppe von Personen diskriminiert ist, gibt Grund, dagegen etwas zu unternehmen. Es sind nicht nur präskriptive oder kommissive Sprechakte oder kommunitäre Rollen, die gute Handlungsgründe nach sich ziehen, sondern auch Regeln allgemeineren oder abstrakteren Typs, die man als Prinzipien bezeichnen kann. Wir können offenlassen, ob sich das Gesamt der in unserer Lebensform manifestierenden und durch lebensweltliche normative Überzeugungen gestützten Handlungsgründe auf einige oder möglicherweise nur auf ein einziges Prinzip reduzieren lässt. Eindeutig ist jedoch, dass das Prinzip der Optimierung des eigenen Wohlergehens als ein in diesem Sinne fundamentales Prinzip ausscheidet.

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2.2  Utilitarismus Keine andere ethische Theorie treibt die vermeintliche Opposition von Eigeninteresse und Moral so weit auf die Spitze wie der Utilitarismus. Seinen unterschiedlichen Varianten ist dreierlei gemeinsam: Zum einen eine Werttheorie, die besagt, dass individuelles Wohlergehen das einzige ist, was moralisch in letzter Instanz relevant ist. Zweitens das Postulat der Gleichheit, wonach jedes individuelle Wohlergehen von gleicher Relevanz ist, also gleichermaßen zu berücksichtigen ist, und drittens, dass es unsere Pflicht ist, die Summe des Wohlergehens in der Welt zu optimieren. Der sog. Regel- und der sog. Handlungsutilitarismus unterscheiden sich in der Form des Verpflichtungskriteriums. Der Handlungsutilitarismus fordert direkte oder konsequentialistische Optimierung, fordert also, dass jede einzelne Handlung die Nutzensumme optimiert, während der Regelutilitarismus verlangt, das gemeinsame Wohl indirekt, d. h. über eine geeignete Regelkonformität zu fördern. Zwischen diesen beiden Grundvarianten besteht ein fundamentaler Unterschied, nicht nur insofern, als von diesen beiden Varianten des Utilitarismus verschiedene Handlungsempfehlungen gegeben werden.10 Der Unterschied geht aber weit tiefer, so dass man durchaus sagen kann, Regelutilitarismus und Handlungsutilitarismus gehören zwei unvereinbaren Traditionen der Moralphilosophie an. Der Handlungsutilitarismus ist philosophisch sparsam: Er kennt nur einen einzigen Wert und dieses ist die Summe des individuellen Wohlergehens. Alles andere ergibt sich daraus: Wenn der einzige Wert die Summe des Wohlergehens ist, dann sollten wir bei allem, was wir tun, diese zu maximieren suchen. Man könnte sagen, das Gesamt unserer Praxis wird instrumentell gegenüber diesem zentralen Wert. Trotz seiner in der Regel individualistischen Begründung (jede einzelne Person strebt nach ihrem eigenen Wohlergehen, wir sollten als moralische Akteure eigenes und fremdes Wohlergehen gleich gewichten) hat der praktizierte Handlungsutilitarismus kollektivistische Konsequenzen. Da das eigene Wohlergehen, das Wohlergehen jeder einzelnen Person nur einen minimalen Teil der Summe des universellen Wohlergehens ausmacht, wird nicht nur die einzelne Handlung, sondern das Leben einzelner Individuen instrumentalisiert. Dieses Leben als Ganzes steht unter dem Gebot, der Summe des kollektiven Wohlergehens zu dienen. Wenn dies die völlige Aufopferung oder sogar Versklavung Einzelner verlangt, so ist das nicht nur erlaubt, sondern sogar moralisch geboten. Die Tatsache, dass jedes einzelne Individuum nur über ein Leben verfügt, dass also die Abwägung von Vor- und Nachteilen in der Zeit (ich bin bereit, heute einen Nachteil in Kauf zu nehmen, um späterer Vorteile willen) sich auf das Verhältnis der individuellen Leben zueinander nicht übertragen lässt,

Dies ist von Handlungsutilitaristen immer wieder, teilweise bis heute, bestritten worden. Die Konsequentialisten unter den Utilitaristen meinten, dass eine immer weiter gehende Spezifizierung der Regeln, deren allgemeine Befolgung die Nutzensumme fördert, den Regelutilitarismus mit dem Handlungsutilitarismus konvergieren lasse. Diese Äquivalenzthese ist allerdings schon 1977 von J. C. Harsanyi mit einfachen theoretischen Mitteln endgültig widerlegt worden. Vgl. J. C. Harsanyi, »Rule Utilitarianism and Decision Theory«; sowie J. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, Kap. 5 und 6. 10 

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spricht gegen diese utilitaristische Ethik. John Rawls führt die separateness of persons11 (Getrenntheit der Personen) an, die vom Utilitarismus nicht berücksichtigt werde. Der Regelutilitarismus dagegen verlangt die Einhaltung der Regeln auch dann, wenn die betreffende Handlung die Nutzensumme nicht optimiert. Die individuelle Praxis wird gewissermaßen in die Struktur einer kollektiven Praxis eingebettet und die kollektive Praxis wird dann utilitaristisch, also hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Nutzensumme, beurteilt. Die jeweilige Struktur, das Regelsystem in der kollektiven Praxis, ist dabei instrumentell, aber die einzelne Handlung wird als regelkonform oder regeldysform beurteilt, ihr Beitrag zur Nutzensumme ist irrelevant. Diese Besonderheit hat weitreichende Folgen. Ein Beispiel: Die individuelle Optimierung macht Kooperation unmöglich. Ideale Handlungsutilitaristen leben daher in einer Gesellschaft, die nach ihren eigenen Maßstäben nicht optimal ist.12 Der Regelutilitarismus weist durchaus Parallelen mit der Kantischen Ethik auf. Auch wenn das Wollen-Können des Kategorischen Imperativs in erster Linie ein logisches ist, so rücken doch für beide ethischen Paradigmen die Regeln und deren Befolgung ins Zentrum. Die Tatsache, dass eine Handlung regelkonform ist, zeichnet diese als moralisch geboten aus und die Regeln selbst sind nicht konventionell oder kulturell gegeben, sondern von Menschen zu verantworten und gegebenenfalls zu verändern. Beide ethischen Paradigmen führen zu einer moralischen Vergesellschaftung individueller Praxis, die als konstitutiver Teil einer gemeinsamen menschlichen verstanden wird (und zwar unabhängig von ihren jeweiligen kausalen Folgen). Beide sind mit der gemeinen sittlichen Vernunft13 eher in Einklang zu bringen, als der radikale, konsequentialistische Utilitarismus (Handlungsutilitarismus). Der Regelutilitarismus ist gewissermaßen eine Zwischenstation auf dem Wege zu einer deontologischen Moralität, die individuelles Handeln nicht mehr einem umfassenden Optimierungsgebot unterstellt, sondern Grenzen festlegt, die zu beachten sind, um ein autonomes Leben aller zu ermöglichen. Deontologische Ethik des Kantischen Typs erlaubt die Integration lebensweltlicher Handlungsgründe, sie unterwirft die Motive unseres Handelns einer moralischen Prüfung, aber ersetzt diese nicht durch ein neues Handlungsmotiv. Der Utilitarismus ersetzt dagegen die Vielfalt lebensweltlicher Gründe durch ein einziges Kriterium moralisch richtigen Handelns, das in der Lebenswelt nicht verankert ist, nämlich die Optimierung der Nutzensumme. Entsprechend gerät die utilitaristische Ethik in einen fundamentalen Konflikt mit lebensweltlichen Handlungsgründen. Das sei an drei Kategorien näher erläutert. Menschen haben individuelle Rechte, die ihre Autorschaft garantieren. Jede Person hat das Recht, selbst zu entscheiden, wo und mit wem sie leben will, welchen Beruf sie anstrebt, welche Meinungen sie äußert und mit wem sie sich zusammenschließt. Diese und viele andere individuelle Rechte haben Verfassungsrang, sie sind durch Grundrecht-

Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, § 5. Dieses Argument habe ich detaillierter ausgeführt in einer Diskussion mit R. M. Hare: J. NidaRümelin, »Kann der Erzengel die Konsequentialismus-Kritik entkräften?«; und R. M. Hare, »Replik auf Julian Nida-Rümelin »Kann der Erzengel die Konsequentialismus-Kritik entkräften««. 13  Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Abschnitt. 11 

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artikel garantiert und bestimmen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Dem utilitaristischen Denken sind moralische und juridische Rechte fremd.14 Das ist merkwürdig, denn der Utilitarismus ist ein Produkt der (schottischen) Aufklärung, er begleitet den Aufstieg des Bürgertums zur bestimmenden Klasse und einer seiner bedeutendsten Vertreter, John Stuart Mill, kann als einer der Gründerväter des politischen Liberalismus gelten. Wie erklärt sich da der Kollektivismus, ja die Feindseligkeit gegenüber Menschenrechten? Zur politischen Dimension will ich hier nicht viel sagen, lediglich, dass der Liberalismus von seinen Anfängen bis heute zwei normative Grundorientierungen aufweist, die miteinander in Konflikt geraten; das ist zum einen die Idee der (ökonomischen) Effizienz, die Orientierung auf Wohlfahrtsgewinne15, und auf der anderen diejenige an individuellen Rechten und Freiheiten – universalistisch verstanden, also an gleichen individuellen Rechten, an universellen Grundrechten. Während in der politischen Arena die liberale Weltanschauung dominiert, wonach beides nur zwei Seiten einer Medaille seien, also Freiheitsrechte das beste Instrument der Wohlfahrtsteigerung sind, wurde mit den Methoden der collective choice-Theorie bewiesen, dass Pareto-Effizienz und individuelle Freiheit logisch inkompatibel sind16. Libertäre Denker wie Robert Nozick und utilitaristische wie Peter Singer repräsentieren die Extreme im zeitgenössischen Spektrum der politischen Philosophie, während John Rawls eine mittlere Position einnimmt und mit dem vorgeordneten ersten Prinzip der Gerechtigkeit als Fairness – gleichen maximalen Grundfreiheiten – und dem (nachgeordneten) Verteilungsprinzip, wonach Ungleichheiten immer dann gerechtfertigt sind, wenn sie allen, zumal den am schlechtesten Gestellten, zum Vorteil gereichen, eine Position zwischen diesen Extremen ausgearbeitet hat, die zudem konsequentialistische und deontologische Elemente miteinander verbindet.17 Utilitarismus wie Libertarismus reduzieren die gesamte Vielfalt lebensweltlicher Gründe auf jeweils eine Fundamentalkategorie, nämlich kollektives Wohlergehen bzw. Locke’sche Eigentumsrechte.18 Das macht beide Theorievarianten übersichtlich, bringt jedoch auch einen tiefen Konflikt mit wohlbegründeten moralischen Überzeugungen mit sich. Um jeweils ein Beispiel zu geben: Für den Libertarismus gibt es keine sozialen Hilfspflichten und keine bürgerschaftliche Kooperation. Zwei konstitutive Elemente einer vitalen demokratischen Ordnung gelten damit als ethisch nicht gerechtfertigt. Der Utilitarismus wiederum erkennt die Vorordnung individueller Freiheitsrechte, wie sie in allen westlichen Verfassungen etabliert sind, nicht an. Anstatt einer behutsamen Integration politischer und moralischer Handlungsgründe versuchen beide Varianten eine Reduktion auf ein vermeintlich selbstevidentes Grundprinzip (Locke’sche Eigentums-

Verwiesen sei auf Jeremy Benthams berühmte Einschätzung der französischen Menschenrechtserklärung als »nonsense upon stilts«. Vgl. seinen Aufsatz »Rights, Representation, and Reform«. 15  Vgl. A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. 16  Vgl. hierzu A. K. Sen, Collective Choice and Social Welfare, Kap. 6; L. Kern / J. NidaRümelin, Logik kollektiver Entscheidungen, Kap. 11; und J. Nida-Rümelin, Philosophie und Lebensform, Kap. 15. 17  Vgl. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, §§ 11, 12 und 13. 18  Vgl. J. Locke, Über die Regierung (The Second Treatise of Government), § 6. 14 

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rechte bzw. Wohlfahrtsmaximierung) und geraten damit in einen tiefen Konflikt mit der komplexen normativen Ordnung demokratischer Gesellschafts- und Staatsformen. Ethische und politische Theorien dieses Typs würden ernst genommen die normativen Ordnungen, in denen wir leben, zerstören. Der konsequentialistische Utilitarismus würde das Gesamt menschlicher Praxis einem kollektiven Optimierungsgebot unterstellen, dessen inhumane Konsequenzen auf der Hand liegen. Gelegentlich muss man auch in einem philosophischen Vortrag deutlich werden: Ein praktizierter (konsequentialistischer) Utilitarismus würde alle uns vertrauten individuellen Freiheitsrechte beseitigen und die normative Basis der Verständigung und der Kooperation zerstören. Der Libertarismus als Programm der individuellen und politischen Praxis würde zwar einige zentrale Freiheitsrechte, nämlich die Locke’schen Eigentumsrechte, wahren, aber Solidarität und Mitmenschlichkeit, soziale Institutionen und öffentliche Bildungseinrichtungen unmöglich machen. Die Eleganz und Übersichtlichkeit reduktionistischer – und im methodologischen Sinne rationalistischer – Theorien der praktischen Philosophie sind nur im philosophischen Seminar faszinierend, außerhalb würden sie – ernst genommen – jede humane moralische und politische Praxis unmöglich machen.19

2.3  Kontraktualismus Was motiviert Menschen moralisch zu handeln? Die kontraktualistische Tradition des ethischen und politik-theoretischen Denkens hat auf diese Frage eine einfache Antwort: Es ist das jeweilige Eigeninteresse. Die unterschiedlichen Varianten des Kontraktualismus unterscheiden sich allerdings darin, wie im Einzelnen das Verhältnis von moralischer Begründung und Eigeninteresse gesehen wird. Die klassische Form des Kontraktualismus von Thomas Hobbes ist die konsequenteste: Demnach handelt jeder Mensch zu jeder Zeit ausschließlich aus dem Motiv heraus, seinen eigenen Interessen zu dienen, weshalb sich Menschen auch dann nicht an eine Regel halten, wenn deren allgemeine Befolgung im

19  Der »Pragmatismus«, für den ich plädiere (ein missverständlicher Begriff), kann daher auch so übersetzt werden: Praktische (und theoretische) Philosophie sollte so betrieben werden, dass ihre Theorien und Kriterien ernst genommen werden können. Die Freude am Argument um seiner selbst willen und die resultierenden philosophischen Überspanntheiten bis in die Gegenwart gefährden die moralische, politische und kulturelle Relevanz der Praktischen Philosophie. Die etwas altbackene Forderung Aristoteles oder auch Konfuzius, dass der Gebildete sich der Grenzen der Theorie, der Reduktion, der Präzisierbarkeit bewusst ist, kann man als eine Haltung des Respekts gegenüber der Komplexität lebensweltlicher Praxis verstehen. Der britische Pragmatist Schiller hat seine Position nicht zufällig als »humanism« bezeichnet (vgl. F. C. S. Schiller, »Humanismus«). Für diese Form von Humanismus in der Praktischen Philosophie stehen so unterschiedliche Denker wie Aristoteles, Petrarca, Erasmus von Rotterdam, Montaigne, Dewey und auch der späte Wittgenstein. Zu den anti-humanistischen Denkern gehören Platon, Augustinus, Campanella, Hobbes, Bentham, Nozick, Hare und Singer. Dass damit keineswegs gesagt werden soll, dass die Denker mit anti-humanistischen Tendenzen für die historische und die systematische Praktische Philosophie ohne Bedeutung seien, liegt auf der Hand.

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eigenen Interesse ist. Es bedarf daher einer Zentralinstanz, die die von allen gewünschten Regeln sanktioniert, also Moralität und Eigeninteresse zusammenführt.20 Die Ursprungsvariante des Kontraktualismus begründet Regeln über das allgemeine, je individuelle Interesse an der Einhaltung dieser Regel, 21 während die moralische Motivation von der ethischen Begründung abgekoppelt wird. Das allgemeine, je individuelle Interesse an der Einhaltung einer Regel motiviert den Einzelnen nicht, sich an diese Regel zu halten. Die alternative Regelbefolgung oder (gelegentliche) Abweichung, wenn sie im eigenen Interesse erfolgt, ist ein n-Personen-Gefangenendilemma, das heißt sie etabliert eine Interaktionssituation, für die gilt, dass die je individuelle Befolgung des eigenen Interesses ein Ergebnis (Auszahlungen) hervorbringt, das für alle nachteilig ist. Man kann dies auch folgendermaßen formulieren: Die kollektive Handlung je individuell optimierender Akteure ist für alle ungünstiger als eine kollektive Handlung,

Thomas Hobbes spricht von leges naturales als denjenigen Regeln, deren allgemeine Befolgung den Frieden sichern, also den Ausgang aus dem ewigen Krieg des Naturzustandes ermöglichen. Jede einzelne Person ist in der Lage einzusehen, dass nur die allgemeine Befolgung dieser leges naturales einen status civilis sichern kann, was aber keineswegs den Einzelnen dazu bringt, sich an die leges naturales zu halten. Dieser Sachverhalt verlangt nach der Einrichtung einer von niemandem kontrollierten Zentralgewalt, die nach eigenem Gutdünken bestimmt, was gerecht und was ungerecht ist, die ungerechtes, also normabweichendes Verhalten bestraft und damit den zivilen Frieden sichert. In der Hobbes’schen Tradition des ethischen Denkens stehen unter den Zeitgenossen z. B. James Buchanan in den USA oder Norbert Hörster und Karl Homann in Deutschland. Seit den 80er Jahren gibt es jedoch eine Debatte darüber, ob das Hobbes’sche Paradigma der Praktischen Philosophie mit den Originalschriften in Einklang zu bringen ist. Eine Reihe von Stellen bei Hobbes sprechen gegen die These, dass auch unter den Bedingungen des zivilen Friedens ausschließlich das persönliche Eigeninteresse menschliches Handeln motiviert. Die Passage über den fool spricht für eine Interpretation der Hobbes’schen Rationalitätstheorie im Sinne des Assurance Games. Demnach sind Menschen bereit, in Prisoner’s Dilemma-Situationen zu kooperieren, wenn sie davon ausgehen können, dass andere kooperieren. Damit würde die staatliche Autorität einen neuen Status erhalten, nämlich den, lediglich sicher zu stellen, dass unter der Bevölkerung das Vertrauen etabliert ist, dass sich die Anderen (jedenfalls überwiegend) an die friedensichernden Regeln halten. Unter diesen Bedingungen sind die Einzelnen bereit, sich auch dann an Verträge und Gesetze zu halten, wenn sie nicht befürchten müssen, für jede Abweichung bestraft zu werden. Diese Debatte könnte im Rückblick ein neues Licht auf den Kontraktualismus von D. Gauthier (Morals by Agreement) werfen, da Gauthier ursprünglich – nach eigener Auskunft – eine bloße Rekonstruktion in The Logic of Leviathan anstrebte, während er in Morals by Agreement eine eigenständige Variante kontraktualistischer Ethik vorlegte, deren rationalitätstheoretische Grundlagen allerdings die meisten Kritiker nicht überzeugten. Nach der von J. Hampton (Hobbes and the Social Contract) und G. Kavka (Hobbesian Moral and Political Theory) ausgelösten Debatte rückt Morals by Agreement wieder näher an den Hobbes’schen Ursprung. In meinen Augen kann man Gauthier lediglich den Vorwurf machen, dass er den einmal eingeschlagenen Weg nicht konsequent zu Ende gegangen ist, dass er von optimierender Rationalität trotz der Unterscheidung in straightforward und constrained maximization nicht zu einer strukturellen Rationalitätskonzeption überging, für die ich sowohl im letzten Teil der Kritik des Konsequentialismus als auch dann systematisch in Strukturelle Rationalität sowie in »Rationality, Coherence and Structure« argumentiere. 21  Eine konsequente Ausarbeitung zur ethischen Theorie hat B. Gert vorgelegt, ursprünglich in The Moral Rules, dann modifiziert und differenziert in Morality. Ähnliche Entwürfe gibt es von A. Gewirth, Reason and Morality, und jüngst in Deutschland von P. Stemmer, Handeln zugunsten anderer. 20 

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die realisiert worden wäre, wenn alle Beteiligten auf die Optimierung ihres eigenen Vorteils verzichtet hätten. In meinen Augen spricht viel dafür, dass Thomas Hobbes diese Interaktionsstrukturen dreihundert Jahre vor dem Aufkommen der Spieltheorie22 als Kooperationsdilemma (Prisoner’s Dilemma) durchschaut hat 23. Der strikte Kontraktualismus löst das Kooperationsdilemma zweistufig auf: Zunächst wird eine kooperative Lösung bestimmt, also eine kollektive Strategie festgelegt, die für alle im Vergleich zum Ergebnis je individueller Optimierung vorteilhaft ist, und dann wird über Kontrolle und Sanktion sichergestellt, dass niemand ein Interesse hat, von dieser kooperativen Lösung abzuweichen. Kontraktualistische Ethik und politische Theorie führen Interesse und Moral über ein passendes Design von Institutionen zusammen. Das macht den Kontraktualismus für die ökonomische und politische Theorie so attraktiv24. Der zeitgenössische Kontraktualismus kann dabei auf das Analyseinstrumentarium der Spieltheorie zurückgreifen und entsprechend komplexe institutionelle Lösungsstrategien entwickeln25. Trotz dieser Leistung des Kontraktualismus weist er das fundamentale Defizit der zuvor besprochenen Paradigmen ebenfalls auf. Das kontraktualistische Programm versucht die Vielfalt und die normative Kraft lebensweltlicher Handlungsgründe durch ein zweistufiges Kriterium zu ersetzen. Die Konsequenz ist, dass (1) weite Bereiche der moralischen Praxis ausgeblendet werden, (2) die Prüfungsinstanz der ethischen Theorie entfällt und (3) die normative Verfasstheit humaner Praxis verfehlt wird. Ad (1): Moralität erschöpft sich nicht in Kooperationsbereitschaft. Wir haben Pflichten gegenüber Nicht-Kooperationsfähigen, zumal den Schwächsten. Wir haben auch dann die Rechte eines Individuums zu achten, wenn dieses mit uns nicht in einer Kooperationsbeziehung steht. Es ist zwar zutreffend, dass ein Gutteil der Menschen- und Bürgerrechte unverzichtbar sind, um Kooperation zu sichern, d. h. wir haben ein jeweils individuelles Interesse daran, dass diese Regeln allgemein befolgt werden, obwohl die Abweichung oft genug im Interesse einzelner Personen ist. Insofern hat die Etablierung von Freiheitsrechten auch den Charakter einer Kooperations-Lösung, aber diese gelten auch unabhängig von den koope-

22  Angenommen, man erklärt die Publikation des Werkes von John von Neumann und Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, (Princeton 1944) als Geburtsstunde der Spieltheorie. 23  Vgl. dazu detaillierter J. Nida-Rümelin, »Bellum omnium contra omnes«. 24  Entsprechend einer in der Sekundärliteratur verbreiteten Interpretation ist die politische Theorie Immanuel Kants in diesem Sinne kontraktualistisch, sie verzichtet auf die motivationale Wirksamkeit moralischer Gründe und fordert die Etablierung eines Institutionensystems, das über geeignete Sanktionen sicherstellt, dass eine Bürgerschaft ohne moralische Motive dennoch die Autonomie jedes Einzelnen sichert (vgl. z. B. Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Paderborn 2007; und Alice Ponchio, Il rapporto tra etica e diritto). 25  Mit der Neuen Institutionenökonomie, die auf den Ökonomie-Nobelpreisträger Ronald Coase und Oliver Williamson zurückgeht, ist aus diesem Ansatz ein ganzer Forschungszweig hervorgegangen. Vgl. in der englischsprachigen Literatur vor allem Douglass C. North, der für seine Beiträge zur Institutionenökonomie ebenfalls mit dem Ökonomie-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, und in Deutschland vor allem Karl Homann, Rudolf Richter und Martin Leschke.

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rativen Vorteilen, die mit diesen verbunden sind. Der Irrtum des Kontraktualismus besteht darin, normative Grundhaltungen wie die des Respekts der gleichen Achtung und Anerkennung menschlicher Individuen als bloßes Instrument gemeinsamer intentionaler Interessenverfolgung umzuinterpretieren. Ad (2): Das kontraktualistische Paradigma der Praktischen Philosophie reduziert moralische Begründung auf rationales Eigeninteresse. Die zentrale These lautet, dass eine Handlungsweise, eine Regel, eine Institution, eine Rechtsnorm gegenüber einer Person genau dann begründet ist, wenn diese in ihrem Interesse ist. Auch wenn es unterschiedliche Vorschläge gibt, näher zu spezifizieren, was es eigentlich heißt, im eigenen Interesse zu sein, so wird allein mit dieser Reduktion der kontraktualistischen Ethik und politischen Philosophie die Prüfungsinstanz entzogen. Die offene Frage im Sinne George Edward Moores muss gestellt werden können, ansonsten hätten wir es nicht mit einer ethischen Theorie, sondern mit einem Dogma, einer bloßen Setzung zu tun. Der Kontraktualismus als Paradigma, als Theoriekern verstanden, muss sich angesichts der von uns akzeptierten normativen Gründe bewähren oder scheitern können. Als Theorie verstanden wäre die zentrale Proposition: Das Gesamt oder jedenfalls die zentralen Teile der von uns akzeptierten normativen Gründe lassen sich als Kooperationslösungen erfassen (systematisieren, rekonstruieren). Die Überprüfung des kontraktualistischen Theoriekerns setzte also voraus, dass die von uns geteilten normativen Gründe nicht in toto entwertet werden. Die Analogie zu einem Descartes’schen Rationalismus liegt auf der Hand. Eine »Theorie«, die von allen Sinnen, die von aller Erfahrung und allen lebensweltlichen normativen wie empirischen Überzeugungen abstrahiert, ist keine, sie kann weder scheitern noch sich bewähren, mangels Prüfungsinstanz schrumpft sie zu einem bloßen Postulat, das man sich außerhalb der akademischen Diskussion als realer Teilnehmer einer moralischen Praxis nicht zu eigen machen kann. Auch der Kontraktualist würde wie der Utilitarist und der Libertäre radikal vereinsamen, wenn er seinen theoretischen Überzeugungen eine entsprechende Verständigungs- und Interaktionspraxis folgen ließe. Ad (3): Vor allem aber verfehlt der Kontraktualismus die normative Verfasstheit unserer Praxis. Wenn wir glauben, für eine bestimmte Überzeugung gute Gründe zu haben, dann haben wir diese Überzeugung als rationale Person. Wenn wir glauben, gute Gründe zu haben, etwas zu tun, dann tun wir das Betreffende als rationale Personen. Wir sind nicht erst dann von einer Proposition überzeugt, wenn sich diese Überzeugung als nützlich erweist. Wir tun nicht erst dann das, für das die besseren Gründe sprechen, wenn wir meinen, dass dies in unserem persönlichen Interesse sei. So denken wir nicht und so handeln wir nicht. So können wir nicht denken und so können wir nicht handeln, jedenfalls nicht im Rahmen einer humanen Lebensform.

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3.  Rekonstruktion Nach diesen doch überwiegend destruktiven Bemerkungen ist es Zeit für konstruktive, weil ansonsten nur die Perspektive der Anti-Theorie, für die Bernard Williams26 plädiert hat, bliebe. Die bisherigen Bemerkungen waren destruktiv insofern als sie gegen die in der zeitgenössischen internationalen Praktischen Philosophie dominierenden Theorietypen gerichtet waren und diese einer grundsätzlichen Kritik unterzogen haben, ohne eine Alternative anzubieten. In jedem dieser diskutierten Fälle war es letztlich die gleiche Eigenschaft, die zum Scheitern führte; eine Eigenschaft, die man als »rationalistisch« charakterisieren kann und die zur Folge hat, dass die entsprechenden Paradigmen lediglich Postulat-Charakter haben und ihren Status als normative Theorie, aber auch ihre Fähigkeit einbüßen, zur konkreten Handlungsorientierung beizutragen. Eine normative Theorie muss sich an der Vielfalt lebensweltlich etablierter und von uns akzeptierter Gründe messen lassen. Zugleich gewinnt sie Orientierungskraft, weil sie diese Vielfalt systematisiert, vereinheitlicht und Inkohärenzen des normativen Urteils sowie der konkreten Praxis beheben kann. Im konstruktiven Teil muss es also darum gehen, die Rolle der Theorie in der Praktischen Philosophie gegen die Anti-Theoretiker unterschiedlichster Provenienz, darunter Post-Moderne, Kulturrelativisten und Kommunitaristen, zu verteidigen. Es sollen also Elemente zusammengetragen werden, die dafür sprechen, dass auch in der Praktischen Philosophie das theoretische Argument, die Entwicklung normativer Kriterien und die begriffliche Klärung Sinn machen.

3.1  Kohärentistische Rationalitätstheorie Ich empfinde es als eine der großen Merkwürdigkeiten der zeitgenössischen Wissenschaftsentwicklung, dass der im ersten Teil kritisierte reduktionistische Ansatz, der meist als rational choice (auch im Deutschen) bezeichnet wird, entgegen der innerhalb und außerhalb der Ökonomie, seitens der Freunde und Feinde des rational choice-­Ansatzes verbreiteten Überzeugung tatsächlich keine Stützung im Zentraltheorem der modernen ökonomischen Theorie hat. Das Nutzentheorem, auf das sich rational choice-­Theoretiker und philosophierende Ökonomen gerne stützen, begründet die rational choice-Theorie weder inhaltlich (konsequentialistische Optimierung) noch methodisch (Reduktion der Handlungsgründe auf Eigeninteresse). Die ausschlaggebenden Postulate des Nutzentheorems27 sind durchgängig kohärentistischer Natur, das heißt sie fordern von einer raB. Williams, Ethics and the Limits of Philosophy. Vgl. J. von Neumann / O. Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, § 3. Weitere Axiomatisierungen finden sich bei J. Marschak, »Rational behaviour, uncertain prospects, and measurable utility«. Mit dieser Thematik habe ich mich mehrfach auseinandergesetzt und verweise für Interessierte auf die betreffenden Stellen: Kritik des Konsequentialismus, §§  8, 9 und 51; Economic Rationality and Practical Reason, sowie die Aufsätze »Rational Choice: Extensions and Revisions«, »Rationality: Coherence and Structure« sowie »Why Rational Deontological Action Optimizes Subjective Value«. Den Grundeinwand gegen eine konsequentialistische Interpre26  27 

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tionalen Person kohärente Präferenzrelationen. Diese Form praktischer Kohärenz, die sich im konkreten Entscheidungsverhalten (revealed preference) niederschlägt, wird über die Vollständigkeits- und Transitivitätsbedingung sowie unter Einbeziehung subjektiver Wahrscheinlichkeiten über die Stetigkeits- und Monotoniebedingungen präzisiert. Tatsächlich spricht vieles dafür, dass unabhängig von den Inhalten unserer Handlungsmotivation und damit unabhängig von den Gründen, die unsere normativen Stellungnahmen leiten, die daraus resultierenden Präferenzen soweit kohärent sein sollten, dass sie – idealiter – die Postulate des Nutzen-Theorems erfüllen. Die zwingende Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass sich rationale Präferenzen metrisieren lassen, also durch eine reell-wertige Funktion repräsentierbar sind und der gesamte technische Apparat sowie die Methoden der Entscheidungs- und der Spieltheorie28 für die Analyse und Rekonstruktion Gründe-geleiteter, also in diesem Sinne rationaler Praxis, also auch der moralischen Praxis, anwendbar sind. Die Kritik an der reduktionistischen und konsequentialistischen rational choice-Doktrin, wie sie im ersten Teil meines Vortrages entwickelt wurde, führt also nicht notwendigerweise zu einer Abkoppelung der Praktischen Philosophie von der rationalen Entscheidungstheorie, was für die interdisziplinären Beziehungen zwischen Praktischer Philosophie und Sozialwissenschaften von großer Bedeutung ist. 29 Es ist interessant zu beobachten, wie in der ökonomischen Analyse zunehmend auf lebensweltliche Praktiken Bezug genommen wird, was unter dem Titel behavioural economics läuft und gelegentlich sogar eine Spaltung in rational choice-Dogmatiker und Empiriker ökonomischer Analyse vermuten lässt. Diese ­Spaltung wäre zu überwinden, wenn sich in der Ökonomie die Einsicht in den kohärentistischen Charakter der Grundpostulate rationaler Entscheidung etablieren würde. 30

tation der Entscheidungstheorie habe ich schon in meiner Doktorarbeit 1984 formuliert, wieder abgedruckt und um die eben genannten und weitere Texte erweitert in Entscheidungstheorie und Ethik. 28  Wobei zu beachten ist, dass beim Übergang von der Entscheidungstheorie im engeren Sinne, also der Theorie rationaler Entscheidungen angesichts ungewisser Bedingungen, zur Spieltheorie, d. h. der Theorie rationaler Entscheidungen in Interaktionen, zusätzliche Postulate implizit und explizit hinzutreten, die teilweise sogar mit den Postulaten des Nutzen-Theorems unvereinbar sind. Vgl. J. Nida-Rümelin, »Rational Choice«. 29  Ich hoffe in meiner eigenen Arbeit deutlich gemacht zu haben, dass diese interdisziplinäre Kooperation möglich ist und fruchtbar sein kann. Die Tatsache, dass ich mich in der vergangenen Dekade mit den damit zusammenhängenden Fragestellungen bestenfalls am Rande auseinandergesetzt habe, sollte nicht als nachträgliche Distanzierung gedeutet werden, wenn ich auch gerne zugebe, dass mein Optimismus den zu erwartenden Ertrag entscheidungstheoretischer Methoden in der Ethik und der Politischen Philosophie betreffend, angesichts der dominierenden reduktionistischen Tendenzen der hartnäckigen Dogmatik der rational choice-Proponenten heute etwas gedämpfter ist. 30  Paradoxerweise erscheinen die Bedingungen dafür in der ökonomischen Disziplin günstiger zu sein, da die Kenntnis spieltheoretischer Dilemmata und der Befunde der experimentellen Spieltheorie eine Debatte um die rationalitätstheoretischen Grundlagen ökonomischer Analyse befeuert, zu der ein Gutteil der Ökonomie-Nobelpreisträger der vergangenen Jahre beigetragen hat (u. a. Herbert Simon, Reinhard Selten, John C. Harsanyi, Amartya Sen, Daniel Kahnemann und Vernon L. Smith). Eine Wiederannäherung ökonomischer Theorie und Praktischer Philosophie nach Jahrzehnten der splendid isolation zeichnet sich ab.

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3.2  Gründe und personale Identität Die Hume’sche Tradition der Praktischen Philosophie meint, dass Rationalität über die jeweils gegebenen Wünsche (desires) und Überzeugungen (beliefs) zu bestimmen sei. Sie stellt sich damit in einen Gegensatz zur stoizistischen und später Kantischen Tradition, wonach es gerade das Spezifikum eines freien und vernünftigen Individuums ist, sich von seinen Wünschen distanzieren zu können. Nun ist diese Distanzierung bei Kant auf moralisch motivierte Handlungen eingeengt. Tatsächlich sollte man an dieser ursprünglich stoizistischen Intuition festhalten, wonach es gerade den Kern der personalen Verantwortung ausmacht, dass wir gegenüber unseren eigenen Wünschen und Neigungen Stellung nehmen und am Ende je nach Stellungnahme, d. h. nach dem normativen Urteil handeln. Damit werden die normative und die deskriptive Stellungnahme einander angenähert. In beiden Fällen haben wir Gründe für das, was wir glauben, und das, was wir tun, und nun füge ich hinzu: Dies macht die personale Identität aus. Wünsche und Neigungen kommen und gehen, Gründe bleiben bzw. eine Veränderung von Gründen bedarf selbst wieder einer Begründung. Die sich in der Zeit durchhaltende personale Identität einer Person ist an die Praxis des Gründegebens und des Gründenehmens in der sozialen Welt gekoppelt und äußert sich – intrapersonell – in unserer Fähigkeit zu deliberieren, auch dann, wenn wir von niemandem befragt werden. Wir wägen Gründe ab. Demnach wären es dann nicht die Wünsche, auch nicht die Wünsche zweiter Ordnung, wie Harry Frankfurt und eine von ihm inspirierte Schule des Denkens der zeitgenössischen praktischen analytischen Philosophie meint, sondern es sind die Gründe, die die Person bestimmen. 31 Nun könnte man meinen, dass damit die gesamte Dimension der Emotionalität ausgespart sei und wir uns auf ein unzulässig verkürztes, rationalistisches Menschenbild festlegten. Dieser Einwand übersieht jedoch, dass wir auch für unsere Emotionen, jedenfalls für ein Gutteil unserer Emotionen, Gründe vorbringen und Gründe haben. Moralische Gefühle sind nicht einfach da oder fehlen, sondern haben gute Gründe für oder gegen sich. Wir verändern unsere moralischen Gefühle unter dem Eindruck von überzeugenden Gegengründen. Wir verabscheuen eine Person nur dann, wenn wir glauben, gute Gründe für die Annahme zu haben, dass diese Person sich bestimmte Handlungen hat zuschulden kommen lassen, dass diese bestimmte Überzeugungen oder Einstellungen hat, die diese Verabscheuung rechtfertigen. Gründe stiften personale Identität in ihrer ganzen Komplexität, also Überzeugungen, Handlungen und Emotionen einschließend. Die Deliberation spielt dabei eine unterschiedlich bedeutsame Rolle, dieses Verständnis der personalen Identität ist gradualistisch. Gründe beeinflussen unsere Überzeugungen, Handlungen und Gefühle, aber sie erschaffen diese nicht ab ovo. Eigene und fremde Neigungen, Bedürfnisse gehen in die Deliberation ein, verlangen nach Berücksichtigung. Man könnte sogar sagen, dass es basale Wünsche, Wünsche, die sich von der Abwägung von Gründen (Deliberatio-

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Vgl.: H. Frankfurt, »Freedom of the Will and the Concept of a Person«.

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nen) in keiner Weise beeinflussen lassen, nur in pathologischen Fällen gibt. Wünsche sind eine, so könnte man sagen, erste Stellungnahme, in sie geht ein zumindest rudimentäres Urteil ein32 . Aber diese erste Stellungnahme ist für Einwände offen, sie lässt sich angesichts entgegenstehender Gründe revidieren. Ein Beispiel: Hunger ist kein Wunsch, sondern ein Gefühl, wir sprechen ja auch von »Hungergefühl«. Dieses Gefühl kommt und geht. In der Regel ist mit diesem Gefühl der Wunsch, den Hunger zu stillen, verbunden. Dieser Wunsch ist für Deliberationen offen, etwa die, dass man gerade eine Diät mache und diesen Wunsch nicht haben sollte. »Ich habe Hunger, aber ich wünsche nicht, ihn zu stillen«, ist eine dann durchaus sinnvolle Äußerung. Das Hungergefühl bleibt, der Wunsch, diesen Hunger zu stillen, der dieses Gefühl in der Regel begleitet, geht. Ein Charme dieses Verständnisses von personaler Identität über Gründe ist gerade der Gradualismus. Gründe sind eingebettet in einem Komplex von Wahrnehmungen und Gefühlen, genetischen und epigenetischen Prägungen, situationsspezifischen Bedingungen, probabilistischen Prozessen, die die Aufmerksamkeit und Steuerung beeinflussen usw. Die Person ist nicht der »unbewegte Beweger«33, sondern eher ein Steuerungselement, das sich von Gründen affizieren lässt. Diese gradualistische Sicht vermeidet zudem das Paradoxon, dass doch nicht sein könne, dass aus Etwas Jemand werde34. Der Status des Jemand entwickelt sich in einem komplexen Prozess der Ausdifferenzierung aus dem präembryonalen Achtzeller. Wann in diesem Prozess die ersten Empfindungen einsetzen, ist positiv schwer zu bestimmen, aber immerhin kann ausgeschlossen werden, dass das vor der Entwicklung von Synapsen der Fall ist, also etwa vor der zwanzigsten Woche. Empfindungsfähigkeit, Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Orientierungen in Zeit und Raum, Steuerung des eigenen Verhaltens und am Ende Verantwortung und Autorschaft sind Phasen in diesem Prozess, die kontinuierlich ineinander übergehen. Im Laufe dieses Prozesses entwickelt sich so etwas wie eine personale Identität, deren Kern die Fähigkeit darstellt, über Gründe eine Kohärenz des Urteilens, Handelns und der Gefühle zu erreichen. Die Identität der Person sollten wir nicht als eine metaphysische Größe jenseits aller Erfahrung und Praxis begreifen, sondern als Ergebnis einer mehr oder weniger gut gelungenen Integration von Erfahrungen, Wünschen und Gefühlen zu einem Ganzen. Die Identität einer Person ist demnach graduell verfasst und sie äußert sich in einer kohärenten Praxis der Verständigung und der Interaktion. Diejenigen, die den Begriff der »Identität« stärkeren »metaphysischen« Konzeptionen vorbehalten wollen, aber auch diejenigen, denen der hier skizzierte Identitätsbegriff schon zu »metaphysisch« ist, kann der gemeinte philosophische Sachverhalt auch durch Verweis auf die Einheit der Praxis erläutert werden. Wir werden uns darauf einigen können, dass es nicht in erster Linie die körperliche Identität ist, der weitgehend unveränderte äußerliche Anschein, den ein menschliches Individuum über die Zeit hat, sondern dass es Eigenschaften sind, die sich über die Zeit durchhalten, welche sie als Akteur erscheinen lassen. 32  33  34 

Eine Bestätigung der stoizistischen These prohairesis krisis estin. Vgl.: R. Chisholm, First person. R. Spaemann, Personen.

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Tatsächlich ändern sich die Wünsche, zumal mit ihrer Befriedigung. Wünsche kommen und gehen, manche weisen zeitliche Zyklen auf, wie etwa der Wunsch, seinen Hunger zu stillen, andere variieren mit den jeweiligen Situationen, in denen sich die Person befindet, andere halten sich zumindest dispositionell über längere Zeitabschnitte des Lebens. Das gilt für Wünsche wie etwa die, beruflichen Erfolg zu haben oder Zeit für Freundschaften und Familie zu erübrigen etc. Wir verstehen eine Person als Akteur nur insofern, als sich in der Vielfalt ihres Verhaltens ein gewisses Maß an Einheit, Stimmigkeit, bestimmte Invarianzen festmachen lassen. Das heißt, wir interpretieren ihr Verhalten in der Weise, dass wir dem Verhalten einen Sinn beimessen können, der nicht von Zeitpunkt zu Zeitpunkt variiert. Daher sind Wünsche (desires) die falschen Kategorien, um die Einheit der Praxis einer Person verständlich zu machen. Da hilft auch nicht der Übergang zu Wünschen zweiter Ordnung, den Harry Frankfurt vorgeschlagen hat und der schulbildend geworden ist. 35 Dieser Übergang zu Wünschen zweiter Stufe hat nur deswegen eine gewisse Anfangsplausibilität, weil das Phänomen von Wünschen zweiter Stufe Ausdruck des Wirkens von Gründen ist: Wenn ich einen Grund habe, einen aktuellen Wunsch nicht zu realisieren, dann werde ich als rationale Person den Wunsch haben, dass ich diesen Wunsch nicht hätte. Wünsche zweiter Stufe treten erst dort auf, wo Individuen in der Lage sind, sich von ihren Wünschen erster Stufe zu distanzieren. Eine solche Distanzierung aber macht nur dann Sinn, wenn es einen Grund für diese Distanzierung gibt. Anstatt den Begriff der Person an Wünsche zweiter Stufe zu knüpfen, müssen wir ihn daher an den Gründen festmachen, die diese Person zur Distanzierung von Wünschen erster Stufe veranlasst. Die Einheit der Praxis, die Autorschaft der Person kann auch deswegen nicht über Wünsche zweiter Stufe gesichert werden, weil diese keine intertemporale Struktur aufweisen. Anders Gründe, diese verlangen nach Kohärenz der normativen Stellungnahmen. Das macht Gründe ja gerade aus, dass sie für oder wider etwas sprechen, dass sie den Inferenzen propositionaler Logik folgen. 36 Auch diejenigen, die von Gründen, die anderes als bloße Wünsche sind, nichts wissen wollen, urteilen über Rationalität oder Irrationalität einer Entscheidung (eines Verhaltens, einer Handlung) auf der Basis dessen, was heute meist als Zuschreibung (ascription) bezeichnet wird, nämlich die Zuschreibung von Wünschen (desires) und Meinungen (beliefs). Entsprechend dem zu Beginn des Vortrags schon diskutierten revealed preference-Konzept wird das Verhalten als eine Art Äußerung einer Kombination von Meinung und Wunsch interpretiert. In Analogie dazu schreiben wir Gründe zu, um Verhalten plausibel zu machen. Wir verstehen ein Verhalten erst dann, wenn wir Gründe angeben können, die das Individuum zu diesem Verhalten veranlasst haben mögen. Da praktische Gründe in Wünschen resultieren, geht es hier

35  Auffallend ist hier übrigens die Asymmetrie. Warum sind es dann nicht Meinungen zweiter Stufe, die zusammen mit den Wünschen zweiter Stufe den Begriff der Person charakterisieren? 36  Diese Beobachtung spielte eine zentrale Rolle in der Argumentation gegen den ethischen Emotivismus. Man kann sie völlig analog auf die Frage, ob die Person mit Wünschen oder mit Gründen zu affizieren sei, übertragen.

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um die Frage, welche der beiden Kategorien (logisch) primär ist. Wünsche, für die keine Gründe sprechen, können ein Verhalten nicht als rational ausweisen, sie können dieses Verhalten allenfalls kausal erklären. Allerdings scheint mir der normale sprachliche Gebrauch des Ausdrucks »Wunsch« die Rolle von Gründen  – im Gegensatz zur Hume’schen Auffassung – schon zu beinhalten. Wenn Tiere vollständig arationale Wesen wären, das heißt wenn sie nicht einmal rudimentär über die Fähigkeit zur Abwägung verfügten, so sollten wir ihr Verhalten auch nicht als Ausdruck bestehender Wünsche interpretieren. Das gilt für andere mentale Zuschreibungen gleichermaßen: Erwartungen, Befürchtungen, Hoffnungen, Überzeugungen  – propositionale Einstellungen – setzen eine Stellungnahme voraus, die sich von Gründen affizieren lässt. Die Einheit der Praxis wird über Deliberation, die Fähigkeit sich von Gründen affizieren zu lassen, gestiftet. Die Abwägung von Gründen ist ein essentieller Teil unserer lebensweltlichen Praxis. Gründe aber sind immer  – das gilt auch für epistemische bzw. theoretische Gründe  – normativ. Sie sprechen für eine Überzeugung oder für eine Handlung, sie besagen, dass ich eine Überzeugung haben sollte oder eine Handlung vollziehen sollte. Sich einen Grund zu eigen machen, heißt Stellung zu nehmen, dass etwas der Fall ist, dass eine Überzeugung, eine Handlung, ein Gefühl gerechtfertigt, richtig ist. Gründe sind mit den Institutionen unserer Verständigungs- und Interaktionspraxis unauflöslich verbunden. Diese Institutionen lassen sich nicht, wie wir oben gesehen haben, durch eine Theorie oder durch ein fundamentales Kriterium ersetzen, sie lassen sich bestenfalls durch eine Theorie oder durch ein Kriterium systematisieren. Dies beinhaltet eine irreduzible Vielfalt von Gründen, die unsere Lebensform ausmachen. Zugleich sprechen diese Gründe jeweils für eine Stellungnahme, dass es sich so und nicht anders verhält, dass diese Überzeugung, diese Handlung, dieses Gefühl richtig ist. Diese Objektivität und Normativität der Gründe zwingt – gemeint ist ein logisches Zwingen – zur Kohärenz. Sie erzwingt kohärente Überzeugungen, Handlungen und Gefühle. Die praktische Philosophie ist so gesehen nur die Fortsetzung dieses Phänomens der Deliberation, der Abwägung von Gründen als Charakteristikum der menschlichen Lebensform.

3.3  Kantische Deontologie Die deontologische Ethik tritt in zwei deutlich unterschiedenen Varianten auf: Zum einen als pluralistischer deontologischer Intuitionismus, wonach es eine Vielfalt von Regeln gibt, die als prima facie Prinzipien fungieren, welche jeweils festlegen, was moralische Pflicht ist. David Ross ist der herausragende Vertreter einer intuitionistischen und pluralistischen Deontologie und zu Unrecht in Deutschland kaum rezipiert. Man könnte diesen und ähnliche Ansätze deontologischer Ethik als einen Systematisierungsversuch lebensweltlicher Handlungsgründe begreifen, der allerdings auf der Ebene der prima facie Prinzipien Halt macht und kein weitergehendes Integrationsangebot mehr entwickelt.

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Anders der Kantische Typ deontologischer Ethik, wonach es ein umfassendes, intrapersonelle und interpersonelle Kohärenz sicherndes Kriterium gibt, nämlich den kategorischen Imperativ. In einer modernisierten Fassung verlangt der kategorische Imperativ, dass ich nur nach solchen subjektiven Regeln agiere, deren Verallgemeinerung logisch möglich und wünschbar ist.37 Es liegt aufgrund der Kritik des ersten Teils meines Vortrages auf der Hand, dass ich mir den Apriorismus Kants nicht zu eigen machen kann. In einer pragmatischen Uminterpretation ist die Kantische Deontologie jedoch ein zentrales Element kohärenter und zugleich humaner Praxis. Es ist die Autorschaft des hinreichend rationalen, freien und verantwortlichen Individuums, das nicht nur nach intrapersoneller Kohärenz der Präferenzen und normativen Stellungnahmen, sondern auch nach interpersoneller Kohärenz der individuellen Lebensformen verlangt. In der hier vorgeschlagenen pragmatischen Interpretation wird die Vielfalt der Gründe einem Kohärenz-Test unterworfen, der prüfen soll, ob die jeweiligen normativen Konstituentien der individuellen Lebensform mit einer humanen Praxis der Gesellschaft insgesamt vereinbar sind. Wir folgen also nicht der Kantischen Dichotomie zwischen pragmatischen und moralischen Imperativen, wonach letztere auf das Sittengesetz und erstere auf die eigene Glückseligkeit gerichtet sind, weil dies der Komplexität praktischer Gründe nicht gerecht wird. Ebenso wenig ist es erst die Verallgemeinerbarkeit subjektiver Handlungsregeln, die ihre moralische Dignität sichert. Vielmehr wird das Moralische inhaltlich über den Charakter der Handlungsmotive selbst bestimmt. Es ist ein guter, für praktizierte Moralität unverzichtbarer Handlungsgrund, etwas zu tun, weil man es versprochen hat, etwas zu unterlassen, weil man Respekt vor dieser Person hat, auf die Realisierung eigenen Wohlergehens zu verzichten, weil man elterliche Pflichten hat usw. Die Verallgemeinerbarkeit im Sinne Kantischer Deontologie tritt als Merkmal einer universalistischen Moralität hinzu, sie ersetzt die materiale Bestimmtheit moralischer Motivation nicht.

4.  Schlussbemerkung: Implikationen für die Praktische Philosophie Die Implikationen für die Praktische Philosophie als Ganze liegen auf der Hand. Ich möchte sie zum Abschluss knapp zusammenfassen: 1. Wir sollten gegenüber reduktionistischen Forschungsprogrammen in der Praktischen Philosophie skeptisch sein. 2. Diese Skepsis sollte uns nicht zu einer anti-theoretischen Position verleiten, die die Praktische Philosophie disziplinär isolieren und Forschungsfortschritte ausschließen würde. 37  Wenn nicht logisch möglich, dann a fortiori nicht wünschbar. Wenn jedoch logisch möglich, dann unter Umständen dennoch nicht wünschbar. Man kann dies mit der Kantischen Unterscheidung zwischen perfekten und imperfekten Pflichten in Verbindung bringen. Vgl. hierzu Kants verschiedene Universalisierungsformen des kategorischen Imperativs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschnitt.

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3. Es gibt eine natürliche Einheit der Praktischen Philosophie, die durch ihre Anbindung an lebensweltliche praktische Gründe gestiftet wird. Die sorgfältigen Abtrennungen rationalitätstheoretischer und moralischer Fragen, normativer Kriterien erster und zweiter Ordnung, gar die Unterscheidung in Theoretische und Angewandte Ethik, die (institutionelle) Verselbständigung mancher Bereichsethiken (Medizinethik, Ökologische Ethik, Rechtsethik …), die Ablösung der Politischen Theorie von der Philosophischen Ethik sind sachlich unbegründet und für die Entwicklung der Praktischen Philosophie nachteilig. Vieles spricht dafür, die ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wieder stärker für Fragestellungen und Analysen der Praktischen Philosophie zu öffnen. 38 4. Die Anbindung der Praktischen Philosophie an die lebensweltliche Praxis des Gründegebens und des Gründenehmens beinhaltet keinen Konventionalismus, keine Überführung der Praktischen Philosophie in die bloße Beschreibung etablierter Praktiken und Stellungnahmen. Vielmehr geht es um die Systematisierung unserer normativen Stellungnahmen und ein vertieftes Verständnis humaner Praxis. Der pragmatische Bezug soll theoretische Überspanntheiten in der Praktischen Philosophie vermeiden helfen, darf aber nicht als Aufgabe des normativen Anspruchs der Ethik und Rationalitätstheorie missverstanden werden. 5. Die Begründungen in der Praktischen Philosophie können ihren Ausgang nicht in einer globalen Skepsis gegenüber moralischen Intentionen und etablierten Praktiken nehmen. Die globale Skepsis ist logisch unmöglich, da diese globale Skepsis zu begründen wäre und die Gründe auf nicht bezweifelte Propositionen Bezug nehmen müssten. 6. Wenn man jedoch die lebensweltliche Praxis der moralischen Verständigung ernst nimmt, scheiden subjektivistische Ethiken aus. Sie sind mit dem Inhalt praktischer Gründe nicht in Einklang zu bringen. 7. Die Praktische Philosophie ist eher Grammatik als höhere Mathematik.

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38  So gibt es gegenwärtig eine Herausforderung nicht nur der philosophischen Ethik und Anthropologie, sondern auch der ökonomischen Theorie durch die Neurowissenschaften, insbesondere durch philosophische und rationalitätstheoretische Stellungnahmen von Neurowissenschaftlern. Manche der öffentlichen Irritationen und Provokationen wären vermeidbar, wenn die Expertise der Praktischen Philosophie frühzeitig einbezogen würde.

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Öffentlicher Vortrag 2  ·  Julian Nida-Rümelin

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http://www.julian.nida-ruemelin.de/rdgespr.html

Riskante Lebensnähe Wolfram Hogrebe

1.  Einleitung In den Gifford Lectures, die Hilary Putnam 1990 an der University of St. Andrews gehalten hat, ließ er sich, wie er im Vorwort der publizierten Version gesteht, »von der Überzeugung leiten, daß die derzeitige Situation der Philosophie nach Wiederbelebung und Erneuerung verlangt«.1 Warum das so ist, erläutert er gleich anschließend mit Verweis auf den speziell unter Philosophen analytischer Provenienz jener Zeit herrschenden robusten Szientismus. Dieser beruht auf der Annahme, daß ausschließlich die Naturwissenschaften die Welt, wie Putnam formuliert, »in ihrem Ansichsein (as it is in itself)« beschreiben. Die Dominanz dieser Überzeugung, so Putnam damals, bestehe auch dann, wenn es gewichtige Stimmen gegen diesen Szientismus gäbe. Zu den Stimmen dieses kleinen Chores konnte er dennoch prominente Namen wie Peter Strawson, Saul Kripke, John McDowell und Michael Dummett aufzählen. Um diesen Chor zu unterstützen, versprach auch Putnam, in seinem Text Argumente beizusteuern, allerdings ohne zugleich mit Anti-Szientisten vom Schlage Jacques Derrida, Nelson Goodman und Richard Rorty in relativistischer Manier ›das Kind mit dem Bad auszuschütten‹.

2.  Putnams Erneuerungsempfehlung Putnam empfahl seinerzeit einen dritten Weg. Für diesen nimmt er Inspirationen des späten Wittgenstein und John Deweys auf, um der versprochenen Wiederbelebung und Erneuerung der Philosophie zuzuarbeiten. Vorbildlich für das Gelingen dieses Unternehmens sei vor allem Wittgensteins »ganz reales Mitgefühl (his very real compassion)«, sein ungebrochenes »Streben nach einfühlsamem Verstehen von Lebensformen, denen er selbst nicht angehörte (forms of life which he himself did not share)«.2 Nun ist Putnams Diagnose inzwischen nahezu zwanzig Jahre alt. Die Lage hat sich also verändert. Dennoch ist die herrschende Doktrin eines variantenreich vorgetragenen Szientismus und Naturalismus ungebrochen, hier sei nur an Namen wie Daniel Dennett oder an den einflußreichen Theoretiker der Biologie, Richard Dawkins, erinnert. Insofern sind Putnams Bemühungen von damals auch heute noch bedenkenswert.

1  2 

Hilary Putnam, Für eine Erneuerung der Philosophie, 7. Ebd., 249.

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Natürlich sind solche Erneuerungsbestrebungen in der Geschichte der Philosophie an sich nichts Neues. Es gab und gibt sie immer wieder, aber das ist natürlich nichts Betrübliches. Denn sie sind offenkundig Zeugnisse der Vitalität eines freien Denkens, das sich von Ideologien gleich welcher Art nicht vereinnahmen lassen will. Aber die damalige Initiative Putnams war auch noch aus einem anderen Grund bemerkenswert. Und das ist ein historischer. Seine Diagnose, 1990 vorgelegt, hätte nämlich ebenso gut hundert Jahre früher, also etwa 1890 strukturell identisch formuliert werden können und wurde es auch. Philosophen wie Hermann Cohen, Paul Natorp, Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl und Gottlob Frege, so unterschiedlich diese Denker untereinander auch waren, kämpften seinerzeit dennoch in einem entscheidenden Punkt an derselben Front wie Hilary Putnam hundert Jahre später. Was für Putnam die überzogenen Ansprüche z. B. der Kognitionswissenschaften sind, obwohl er gegen diese als solche natürlich gar nichts hat, waren seinerzeit die ebenso überzogenen Ansprüche einer imperial auftretenden empirischen Psychologie. Sie schickte sich Ende des 19. Jahrhunderts an, ähnlich wie Ende des 20. Jahrhunderts die Kognitionswissenschaften, die Philosophie nach Art eines Unfriendly Takeover zu übernehmen und eben dadurch zu liquidieren. Das konnte seinerzeit wie heute natürlich nicht gelingen, da sich, um es salopp zu formulieren, die Vernunft, was immer sie sein mag, nicht selbst überholen kann. Aber solche Bestrebungen, die ich hier nicht ausbreiten will, fanden und finden damals wie heute verblüffende Entsprechungen, die bis in die Hirnforschung hineinreichen. Unvergeßlich der Satz von Gottlob Frege von 1897: »Ob es wahr ist, daß Julius Caesar von Brutus ermordet wurde, kann nicht von der Beschaffenheit des Gehirns von Professor Mommsen abhängen.«3

3.  Kalte Heimat Aber es gibt noch einen anderen Vergleichspunkt. Hilary Putnam machte nämlich auch darauf aufmerksam, daß gewisse reduktionistische Theoreme seiner Zeit »aufgrund des allenthalben vorherrschenden philosophischen Klimas der Hochachtung vor der angeblich metaphysischen Bedeutung der Naturwissenschaft ständig an Ansehen gewinnen.«4 Die hier von Putnam namhaft gemachte ›angeblich metaphysische Bedeutung der Naturwissenschaften‹ hat inzwischen, was Putnam vor zwanzig Jahren noch gar nicht absehen konnte, geradezu kuriose Blüten hervorgebracht. Allerdings sind auch diese alle Remakes, haben also historische Parallelen in der Zeit um 1890. Es scheint wohl eine Tatsache zu sein, daß der Geist eines robusten Szientismus, eines Szientismus ohne Lebenswelt also, wann immer vertreten, irgendwann ein Be-

3  4 

G. Frege, Logik , 181. Ebd., 8.

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dürfnis verspürt, auf naturwissenschaftlicher Basis auch eine emotional befriedigende Weltanschauung aufzubauen, die geeignet ist, den religiösen Institutionen Paroli zu bieten. Lebensnähe wird hier allerdings zwangsläufig riskant, weil sie auf dieser Schiene nur per Negation der Expressivität des Lebens zu haben ist. Eben als kalte Heimat. Genau das war um 1890 ebenso der Fall wie heute. Das Vorbild für solche Bemühungen war wieder hundert Jahre früher zur Zeit der französischen Revolution natürlich die Deifizierung der Vernunft, der raison zur Déesse raison in Notre Dame 1793. Diese quasi sakrale Versäulung der Vernunft war ein politisches Dementi der Aufklärung, ein Dementi in effigie, wie es zeitgleich in praxi das Schafott war. Idolatrie und Blutzoll treten häufig zusammen auf. Warum und wieso war diese Pseudo-Sakralisierung der Vernunft ein Dementi der Aufklärung? Wir erinnern uns, daß das Projekt ›Aufklärung‹ in einer Drehbewegung von England über Frankreich schließlich nach Deutschland hereinstrudelte. Sie war als europäisches Phänomen im Kern nun alles andere als ein Rückruf auf bloß naturwissenschaftliches Wissen als Rationalitätsmonopol. Sie bestand von Anfang an gerade umgekehrt darauf, daß es überhaupt keinem epistemischen Profil zuzugestehen sei, eine Monopolstellung einzunehmen. Aufklärung ist so im Kern und ihrem europäischen Entwurf nach eine Kartellbehörde zur Verhinderung diskursiver Monopole. Weder Theologie noch Naturwissenschaften noch Mathematik noch sonstiges Expertenwissen kann sich als Diskursmonopol aufführen. Herz, Gefühl, Geschmack und Takt haben in ihrer Weise und in Belangen der Lebensorientierung eine schon von Aristoteles vorgetragene Stimmberechtigung. 5 Es gibt keinen vernünftigen Grund, im Spektrum unserer Erfahrungsmöglichkeiten eine Stimme zu hegemonialisieren, um andere schlichtweg zu ignorieren, wenn anders wir nicht schon in unseren Registraturen in die von Amartya Sen plastisch so bezeichnete Identitätsfalle stolpern wollen.6 Goethes Farbenlehre mit ihrem Fundament in Farbempfindungen tritt so der spek­ tralanalytischen Optik Newtons nicht gleich-, aber stimmberechtigt zur Seite, wie heute, manchmal etwas gequält, die Qualia den Quanta,7 der Blick von Nirgendwo dem Blick auf Irgendetwas.8 Genau diese Stimmberechtigung dementierte aber die Erhebung der raison zur Déesse raison im Jahre 1793. Und genau an dieses Dementi knüpfte gute hundert Jahre

Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1143 b 10 ff. – Aristoteles rekurriert hier auf‚ ›Takt‹ (γνωμη), ›Geist‹ und ›Verständigkeit‹, alles für unsere Zeit verlorene Attitüden: »Darum muß man die ohne Beweise vorgetragenen Behauptungen und Meinungen der Erfahrenen, Älteren und Klugen nicht weniger beachten als das Bewiesene. Denn weil sie das Auge der Erfahrung haben (εκ της εμπειριας ομμα), sehen sie richtig« (Hervorhebung W. H.). 6  Vgl. A. Sen, Identity and Violence. 7  Diese substanzielle Ambiguität der Aufklärung hat Joachim Ritter als erster in überzeugender Eindringlichkeit analysiert. Vgl. J. Ritter, Metaphysik und Politik. 8  Vgl. T. Nagel, The View from Nowhere. 5 

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später, also 1904, Ernst Haeckel in Rom an, als er vorschlug den Deutschen Monistenbund zu gründen, was in der Tat am 11.1.1906 in Jena auch geschah. Man genierte sich auch nicht, Ernst Haeckel schon 1904 zum Gegenpapst auszurufen. Die Symbolik der Gegenseite ist für solche Wissenschaftssekten bis heute beliebt. Den zehn Geboten von Juden und Christen werden von der deutschen Giordano Bruno Stiftung in ihrem neobiblischen Manifest eines evolutionären Humanismus in intellektueller Bescheidenheit Zehn Angebote zur Seite gestellt.9 Diese Institution wiederum gibt sich und wirbt affin zur internationalen Wissenschaftssekte der sog. Brights. Deren Helden sind u. a. Mitglieder wie Daniel Dennett und Richard Dawkins. Diese Wissenschaftssekte wurde 2003 in den USA anläßlich einer Tagung der Atheistic Alliance International gegründet, um unter dem Titel ›bright‹ statt ›atheistic‹ ähnlich positive Konnotationsrenditen erwirtschaften zu können wie schon früher, so die damaligen Protagonisten Paul Geisert und Myngen Futrell, die Ersetzung des Wortes ›homosexual‹ durch den Ausdruck ›gay‹. Was sich hier in unserer Zeit international bereits in über hundert Ländern konturiert, setzt nur die szientistische Kompensationstradition aus der Zeit des Monistenbundes fort. Das Bemerkenswerte daran ist, daß im Namen einer auf dieser Schiene amputiert proliferierten Aufklärung die leerstehenden Emotionsfelder der Moderne mit Plattenbauten einer naturalistischen Weltanschauung wohnlich gestaltet werden sollen. ›Wohnlich‹ heißt hier: ohne gute Geister, ohne Elfen, ohne Osterhasen, ohne Götter. Wir befinden uns in der schon genannten kalten Heimat. Hier gibt es keinen Schluck Wasser, sondern in etwa 30 ml H 2O. In der Ausgabe vom 12.7.2003 bekannte Daniel Dennett in seinem Artikel ›The Bright Stuff‹ in der New York Times verblüffend treuherzig: »We brights don’t believe

Diese Stiftung wurde hundert Jahre nach Gründung des Monistenbundes, also 2004, im Hunsrück mit dem Geld eines ehemaligen Möbelfabrikanten namens Herbert Steffen gegründet. Im Beirat dieser Gesellschaft finden sich ausweislich ihrer Homepage u. a. die Namen veritabler deutscher Philosophen wie Hans Albert, Dieter Birnbacher, Norbert Hoerster, Bernulf Kanitscheider, Thomas Metzinger, Gerhard Vollmer, Franz Josef Wetz, aber auch der Name des Hirnforschers Wolf Singer. Sie alle fühlen sich offenbar konfessionsfreudig den Zielen dieser Wissenschaftssekte verbunden. Der Festvortrag am 28.3.2004 anläßlich der Eröffnung dieser Institution in Masterhausen im Hunsrück von Franz Wuketits trug den Titel: Der Affe in uns. – Daß übrigens die EKD in Deutschland ebenfalls mit zehn AnGeboten [sic] der Kirche ihre Modernität werblich dokumentiert, macht die Sache nicht besser. Man findet sich schließlich in der Tradition eines alten Genres, zu dem übrigens auch die 10 Gebote für den neuen sozialistischen Menschen gehören, die von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED am 10.7.1958 in Berlin verkündet wurden. Gegenüberstellungen bezeugen den kuriosen Charakter dieser imitierten Gebotsliteratur. Vgl. z. B. das 4. Gebot der SED: »Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, […]«; das 4. Angebot des evolutionären Humanismus: »Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten – es sei denn, es gibt im Notfall keine andere Möglichkeit, die Ideale der Humanität durchzusetzen!«; das 4.  AnGebot der EKD: »Übernimm Verantwortung. Gott ist ein Freund des Lebens […]«. Schön sind auch die ersten Gebote: »Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse […] einsetzen« (SED); »Diene weder fremden noch heimischen ›Göttern‹ (die bei genauerer Betrachtung nichts weiter als naive [sic] Primatenhirn-Konstruktionen sind) […]« (Evolutionärer Humanismus); »Lebe deinen Glauben in Gemeinschaft« (EKD). 9 

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in ghosts or elves or the Easter Bunny – or God.« Und insofern seien gerade sie, die Brights, unter den Wissenschaftlern der USA ohnehin »commanding majority«, aufs Ganze gesehen auch »the moral backbone of the nation«. Diese moralische Selbstpristination verspricht insofern etwas Tröstliches. Was mißtraurisch macht, ist der moralmilitante Unterton. Sollte diese commanding majority je zu politischer Macht kommen, empfiehlt es sich, ›den Kopf einzuziehen‹. Denn vermutlich wird man dann mit Francesco de Goya zu spüren bekommen, was es heißt, wenn die Träume der Vernunft Monster zu gebären beginnen. Nun ist zuzugestehen, daß die Situation in den USA unter dem Druck ›kreationistischer‹ Doktrinen intellektuell derart verseucht ist, daß Reaktionen wie die Gründung von Wissenschaftssekten dieses Typs vielleicht noch verständlich sind. Monster treten jetzt gegen Monster an. So bleibt es verwunderlich bis erstaunlich, daß ausgerechnet Philosophen bereit sind, überhaupt einer ›Bewegung‹ beizutreten, Vereinen also, deren einziger Zweck es ist, Propaganda für eine Weltanschauung zu machen. Ob man das als Ausdruck eines tieferen Demokratieverständnisses bewerten muß, möchte ich dahingestellt sein lassen. Die Brights argumentieren gerade so: Wir sind die Mehrheit! Es könnte aber auch ein intellektuell bedenklicher Eintritt in einen wechselseitigen Bevormundungswettbewerb sein. Denn wir bewegen uns auf eine Fürsorglichkeitsdiktatur zu, ja die Raucher dürfen sagen: Wir sind schon mittendrin. Dieser Trend ist unheimlich. Eine bigotte Fürsorglichkeit verkauft sich als schonende Lebensnähe, ist in Wahrheit aber der Totschlag einer bisweilen auch giftigen Expressivität des Lebens. ›Volksgesundheit‹ scheint wieder ein auch intellektuell gefragter Artikel zu werden. So gibt es zumindest auch Anlaß zur Verzögerung einer putativen Akzeptanz der selbsternannten Brights, wenn man das Faktum hinzuzieht, daß der scharfsinnige Theo­retiker der Biologie Richard Dawkins zugleich ein sehr erfolgreicher Produzent von fiktionsverdächtigen Entitäten ist. Die von ihm postulierten und viel diskutierten Meme sind eine moderne Variante des Phlogistons. Jedenfalls stehen weder Dennett noch Dawkins für ein von Putnam an Wittgenstein als vorbildlich gerühmtes »Streben nach einfühlsamem Verstehen von Lebensformen, denen [man] selbst nicht angehört«.

4.  Übergang zur Szene Putnams Erneuerungsbestrebung wollte also alles andere als für eine Philosophie werben, die als Propagandamaschine für einen szientistischen Naturalismus auftritt. Er visierte vielmehr, kontinental inspiriert, genau im Gegenteil eine liberale Theorie des objektiven Geistes an, die integrative Potentiale bereitstellt.10

10 

Vgl. hierzu die luzide Studie von G. Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes.

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Wenn wir zugestehen, daß es in unserer Zeit zu einer immerhin bemerkenswerten Neuauflage der Theorie des subjektiven Geistes unter dem Titel einer ›Philosophy of Mind‹ gekommen ist, dann dürfen wir auch zugeben, daß die Theorie des objektiven Geistes eine ebenso bemerkenswerte Neugeburt z. B. in Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ oder in der ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ von Jürgen Habermas gezeitigt hat. Insofern ist Hegels langer Schatten immer noch denkwirksam präsent. Bloß eine Theorie des absoluten Geistes traut sich heute niemand mehr zu, im vorigen Jahrhundert immerhin noch Wolfgang Cramer. Erstaunlich ist nur, daß die beiden Theoriestränge des subjektiven und objektiven Geistes häufig einigermaßen unverbunden nebeneinander stehen. Ein bedeutender Versuch, der mir in letzter Zeit bekannt geworden ist, diese konzeptuell divergierenden Entwürfe systematisch zusammenzuführen, stammt von Dieter Henrich in seinem letzten Buch Denken und Selbstsein.11 Dieser Text versteht sich ausdrücklich als Entwurf einer »Alternative zum naturalistischen Selbstbild«12 , die das Konzept des Selbstseins in eine objektive Basis einbettet, die auch naturalistische Einsichten in sich aufnimmt, ohne die Wirklichkeit von ihrem Begriffenwerden abzukoppeln. Denn natürlich hat Dieter Henrich recht, wenn er betont, daß es sich allemal um eine Wirklichkeit handelt, »die sich selbst in Gedanken ausbildet und die im Vollzug des Wissens von sich allererst entsteht«.13 Das hier anklingende Moment, daß es in einer Philosophie des Geistes immer darauf ankommen muß, Realitäten mentaler Art aus dem Vollzug eines Wissens von sich, das auch in jedem Weltwissen ein Mitgegebenes ist, zu begreifen, nicht also als feststehende, diskrete Größe vom Typ ›res cogitans‹, ist natürlich keine neue Einsicht. Schon für Pindar war es klar, daß wir jeweils nur der sind, der wir im Prozeß des Lernens sind: γεννοίο οίος ε̉́σσι µαθω̃ν. Mit Hegel und in Erinnerung an Parmenides: »Der Geist ist wesentlich nur das, was er von sich selber weiß.«14 Das Sein des Geistes ist sein werdendes Wissen um sich selber. Aus diesem Fließmuster unseres Selbstverstehens, aus unserem grundlosen Für-unsSein, wie Dieter Henrich es nennt, kann keiner herausspringen. Hier sind wir, grundlos. An dieser Grundlosigkeit scheint Henrich allerdings zu verzweifeln. Hier hätte er Hilfe in Anspruch nehmen können, nicht von Hegel, aber von Schelling. Es kann keine extrarationalen Gründe für Rationalität geben, so Kant und Hegel. Aber es gibt prärationale, so Schelling. Die Energie der Rationalität speist sich aus Voraussetzungen, die ihr selbst opak bleiben müssen. Wer immer einen Monismus der Intelligibilität verteidigen will, muß in diesen Corpus die Dynamik der Strukturbildung aus nicht strukturfähigem Milieu mit aufnehmen.

D. Henrich, Denken und Selbstsein. Ebd., 174. 13  Ebd., 374. 14  G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften § 385, 33 (Hervorhebung W. H.). 11 

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Dafür plädiert im Rückgriff auf Schelling, noch unveröffentlicht, in einem nächsten Buch auch Thomas Nagel.15 Aber in diesen großflächigen Koordinaten, für die gewiß auch andere Namen genannt werden könnten, verfehlen wir doch nur den systematisch erforderlichen Ausgangspunkt für eine Theorie des subjektiven und objektiven Geistes zugleich. Wenn wir es uns hier nicht zu schwer machen wollen, frage man sich einfach: Wo sind wir nachgeburtlich zuerst? Die simple Antwort: Im Leben vor Ort. Das Erste sind für uns daher nicht – wie für Philosophen zumeist – handfeste Standarddinge des Alltags wie Tische und Stühle gemäß der Devise von W. V. O. Quine: »Alltägliche Dinge zuerst!«16, auch nicht Sinnesdaten wie bei Locke und Hume oder Elementarerlebnisse wie bei Carnap17, aber auch nicht Prozesse wie bei Whitehead, auch nicht Systeme wie bei Niklas Luhmann, sondern schlichtweg Szenen, in denen wir uns vorfinden.

Vgl. T. Nagel, Antireductionism and the Natural Order, 3: »It has always seemed to me that one cannot really understand the scientific world view unless one assumes that the intelligibility of the world […] is itself part of the deepest explanation of why things are as they are. This assumption is a form of the principle of sufficient reason – that everything about the world can at some level be understood […]. That makes me, in a broad sense, an Idealist – not a subjective idealist, since it doesn’t amount to the claim that all reality is ultimately mental – but an objective idealist in the tradition of Plato and perhaps also of certain post-Kantians, such as Schelling and Hegel […]. I suspect that there must be a strain of this kind of idealism in every theoretical scientist: pure empiricism is not enough« (Für die Vermittlung dieses Textes mit Erlaubnis von Thomas Nagel danke ich Markus Gabriel). 16  W. V. O. Quine, Word and Object, 1: »Beginning with ordinary things.« Und: »Entification begins at arm’s lengths«. Mit diesem Satz, so harmlos er klingt, proliferiert Quine ein weiteres Dogma des Empirismus. Bei Quine liegen die Dinge allerdings insgesamt komplexer als seine Rezeption wahrhaben will. Das habe ich schon vermutet, seit ich ihn Ende August 1978 mit seiner Frau Majorie in meiner damaligen Wohnung in Düsseldorf zu Gast hatte (Mario Bunge, Günter Patzig, Rudolf Haller, Volker Beeh u. a. waren mit von der Partie). Robert Brandom hat – wie ich glaube: mit Recht – schon darauf aufmerksam gemacht, daß Quines Holismus seine Grundlagen im englischen Idealismus vor Russell hat. Robert Brandom: »Quine, our most prominent recent holist (thinking in no small part of the ontologically holistic British Absolute Idealists) […]« (»Untimely Review of Hegel’s Phenomenology of Spirit«, 7). Mit diesem verhohlenem Hintergrund (Hegel) kann Quine seinen simplizistischen Szientismus mit jener Ironie vortragen, wie er es getan hat. Hier bedarf es allerdings noch weiterer Forschungen zum Nachlaß. – Die Primärorientierung am Gegenständlichen hat schon der junge Heidegger ›griffig‹ kritisiert: »Das Leben ist diesig, es nebelt sich selbst immer wieder ein.« (Nach W. Bröcker zitiert von H.- G. Gadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge, 11 ff.). Systematisch hat diese Gegenstandsobsession auch Ernst Tugendhat kritisch analysiert (vgl. E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie). Tatsächlich ist Tugendhat über seine Aufnahme von Wittgensteins Projektionstheorie im Tractatus auch systematisch am nächsten an eine szenische Orientierung herangekommen. In der gegenwärtigen Debatte der Philosophy of Mind ist die szenische Komponente völlig übersehen. Vgl. R. Schumacher (Hg.), Perception and Reality. 17  Carnap war allerdings sehr wohl bewußt, daß der ›atomisierenden‹ Richtung der Psychologie schon zu seiner Zeit gewichtige Stimmen und Befunde entgegenstanden, die im Gegenzug die Option stützten, daß »auf den verschiedenen Sinnesgebieten der Gesamteindruck das erkenntnismäßig Primäre ist«: »der Akkord ist ursprünglicher als die Teiltöne, der Eindruck des Gesamtsehfeldes ursprünglicher als die Einzelheiten in ihm […].« R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, § 67, 92 / 93; Carnap verweist hier auch auf das einschlägige Schrifttum. 15 

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5.  Szenisches Verstehen Szenen sind das Primäre für unsere Weltwahrnehmung, nicht die Objekte der Welt oder ihr Mobiliar, wie immer impressionistisch, prozessual oder systemtheoretisch aufgelöst. In der zeitgenössischen Entwicklungspsychologie hat man eben deshalb Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit an den Beginn des Spracherwerbs gestellt, allerdings ohne über das Szenische hier experimentell oder auch nur analytisch Rechenschaft zu geben.18 Andere Entwicklungspsychologen sprechen hier sehr plastisch aber letztlich auch wieder metaphorisch vom ›Selbst als Ort‹.19 Über das, was Szenen sind, haben Philosophen selten und wenn doch höchstens indirekt 20 nachgedacht. Hier könnten sie im Theater Auskunft einholen. Dazu gibt es auch eine reiche Metapherntradition. 21 Aber mehr als Auf- und Abtritt ist für eine Definition der Identität einer Szene auch hier nicht zu gewinnen. 22 Auch die SchnittTechniken beim Film helfen hier nicht weiter. Denn die Szenen, um die es den Philosophen gehen muß, sind solche, bei denen Auf- und Abtritt eine Sache von Geburt und Tod sind. Dazwischen gibt es sicher Bühnen des Lebens, die auch risikolosere Auf- und Abtritte in der Lebenspraxis zulassen. Und für diese ist sogar eine Situationssemantik entwickelt worden. Diese vermag gegenüber der Mögliche-Welten-Semantik so manche vernünftige Intuition zu verteidigen, hat aber zum Sinn unseres szenischen Existierens ebenso wie die Mögliche-

Vgl. M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 180 ff. Für Tomasello konstituiert sich das Szenische in der Perspektivenübernahme des Kleinkindes: »so ist es, als sähe es die ganze Szene von einem höheren Standort aus, mit sich selbst als einer Spielfigur darin« (120 f.). 19  E. Gibson, »Ontogenisis of the perceived self«; vgl. dazu S. Pauen, »Wie werden Kinder selbst-bewußt?«. Gibsons Befund berührt sich mit Gareth Evans’ Wendung ›egocentric space‹. Vgl. G. Evans, The Varieties of Reference, 173. Trotzdem ist es erstaunlich, wie wenig diese Autoren phänomenologisch informiert sind. 20  Vgl. hierzu die wichtigen Arbeiten von Wolfgang Wieland, die ich diesbezüglich an anderer Stelle ausführlich würdigen werde. 21  Vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 148 ff. Platons Stichworte kennt Curtius, nicht jedoch Plotins bemerkenswertes Anknüpfen an diese. Für Plotin sind wir auf der Bühne, die die ganze Welt ist, auch dann, wenn wir nicht Theater spielen oder unsere sozialen Rollen ausagieren. So ist es ganz konsequent, daß für ihn das Szenische auch dann erhalten bleibt, wenn wir völlig ernsthaft (σπουδαίος) zu Werke gehen. Das mag für den ein Trost sein gerade da, wo er schluchzt (οι̉µώζει) und weint (ο̉δύρεται): unser szenisches Existieren betrifft ja stets nur den äußeren Menschen, seinen Schatten (η ἔξω α̉νθρώπου σκιά). Vgl. Enn. III, 2, 15 f. Der Neuplatonismus ist insgesamt eine antike Theorie der Psychoanalyse und ist insofern, wie auch hier, therapeutisch ausgelegt. Das funktioniert allerdings nur, wenn man eine Lehranalyse auf der Grundlage dieses Systems hinter sich hat. Was ihn von Freud trennt ist, daß Plotin über einen höheren Begriff der Seele verfügt, als er Freud noch zugänglich war. 22  In der Rhetorik bezeichnet scena den kleinsten Teil eines Aktes, einer Handlung (πρα̃ξις). Vgl. H. Lausberg, Handbuch der Literarischen Rhetorik, § 1191: Actuum autem portiones minores sunt, quas scenas vocant. (Scaliger). Zur rhetorisch und dramenanalytisch virulenten Theorie von Situationsfunktionen, auf die auch Lausberg (§ 1202 ff.) zurückgreift, vgl. E. Souriau, Les 200 000 situations dramatiques. 18 

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Welten-Semantik nichts beigetragen, weil beide das logische Standard-Vokabular nur mit unterschiedlichen Einschränkungen und Erweiterungen verwenden. 23 Die spezifische Gewahrungsweise unseres generell szenischen Existierens haben diese logisch-linguistischen Projekte nicht thematisiert. Sachlich anschlußfähig ist hier allerdings die über diese Projekte ertragreich hinausgehende kommunikationstheoretische Transformation lebensweltlich basierter Verständigungsanalysen von Alfred Schütz und Thomas Luckmann durch Jürgen Habermas. 24 Explizit ist Phänomen und Thema zum ersten Mal gar nicht in der Philosophie thematisch geworden, sondern in der Theorie der Psychoanalyse. Dem objektivierenden Gestus rational rekonstruktiven Verstehens und Erkennens hatte im vorigen Jahrhundert der Psychoanalytiker Alfred Lorenzer (1922–2002) die für die analytische Praxis relevante Verstehensart entgegengesetzt, die er unter dem Titel szenisches Verstehen 25 1970 einführte. Seine Grundeinsicht war die, daß im analytischen Gespräch zwischen Arzt und Patient das wechselseitige Verstehen von der situativen Einbettung, die durch die Äußerungen des Patienten bereitgestellt wird, nicht abgetrennt werden kann. Der Ausdruck ›szenisches Verstehen‹ verweist allerdings, was Lorenzer nicht bewußt war, auf frühere Konzepte zurück. Der erste, der meines Wissens von dem Ausdruck ›szenisch‹ hermeneutischen Gebrauch machte, war offenbar der heute nahezu unbekannte deutsche Dichter Otto Ludwig (1813–1865). In der Werkausgabe findet sich in dem Konvolut ›Epische Studien‹ am Ende ein kleiner fragmentarischer Text unter dem Titel ›Formen der Erzählung‹. Ludwig grenzt hier von der üblichen Form ›referierender‹ Erzählung eine solche ab, die er ›scenische Erzählung‹ nennt. Für sie ist charakteristisch: »der Erzähler erlebt die Geschichte und läßt sie den Leser mit erleben.«26 Bei der normalen, referierenden Erzählung »ist das Medium der Mitteilung lediglich das Ohr, hier aber wird gewissermaßen durch das Ohr dem Auge mitgeteilt.«27 Die referierende Erzählung ist auf ein sequenzielles Muster angewiesen, die szenische nicht. Der Erzähler tritt hier das Hoheitsrecht der Mitteilung quasi an die Szene ab, »hier erzählt die Geschichte sozusagen sich selbst.«28 Genau das macht die fragli-

Vgl. J. Barwise / J. Perry, Situationen und Einstellungen. Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 182 ff. Für Habermas sind die nichttranszendierbaren Grenzen der Lebenswelt (201) das Kontinuativ unserer szenischen Verständigungsbemühungen: »In gewisser Weise ist die Lebenswelt, der die Kommunikationsteilnehmer angehören, stets präsent; aber doch nur so, daß sie den Hintergrund für eine aktuelle Szene bildet« (188; Hervorhebung W. H.). 25  A. Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, 108. 26  A. Bartels (Hg.), Otto Ludwigs Werke, Sechster Band, 435 f. 27  Ebd., 436. 28  Ebd., 437, Auf diesen kleinen, aber gehaltvollen Aufsatz von Ludwig kommt als einer der wenigen O. Walzel in seinem Buch Das Wortkunstwerk zurück und gibt Beispiele aus der Literatur zur Verdeutlichung des szenischen Erzählens (198 ff., 223 ff.). 23  24 

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chen Identitätskriterien für Szenen so problematisch. Die szenische Aufhellung (scenic ascent) geht Identitätsrelationen, die erst für Einzeldinge benötigt werden, vorher. 29 Was Otto Ludwig seinerzeit als erster gesehen hatte, daß es nämlich Mitteilungsformen gibt, für die die physische Präsenz so wesentlich ist wie in einem Spiel, das hat Alfred Lorenzer für die Charakterisierung des Arzt-Patienten-Gesprächs wiederentdeckt. Deshalb kann es hier nie nur um ein Verstehen gehen, das nach dem Modell des Textverstehens modelliert ist, sondern der Analytiker »muß sich aufs Spiel mit dem Patienten einlassen, und das heißt, er muß selbst die Bühne betreten. Er nimmt real am Spiel teil.«30 Der Arzt ist so unvermeidlich in die Geschichte des Patienten mit verwickelt, er kann sich nicht restlos von ihr distanzieren, selbst wenn er natürlich in diesem unvermeidlichen Mitspiel die Kontrolle behalten muß. In dieser Zuwendungsart findet sich der Arzt in ein Verhältnis zur gequälten Kreatur in ihrer verstörten inneren und äußeren Sozialität versetzt, die er nur dann verstehen kann, wenn er sich auf sie einläßt, d. h. in szenischer Partizipation. Was Otto Ludwig so für das szenische Erzählen, Alfred Lorenzer für das szenische Verstehen des Arztes herausgearbeitet haben, charakterisiert auch sehr gut unsere primäre Stellung in der Lebenswelt, selbst wenn sie nicht gleich und exklusiv verstört erscheinen muß, sondern auch amused oder betört. Auch hier geht es für jeden von uns grundsätzlich um eine partizipative szenische Einbettung, aus der wir gar nicht herauskönnen, indem wir sie unvermeidlich mitnehmen. Wir existieren geradezu szenisch als Gefangene einer variationsfähigen, aber unvermeidlichen Partizipation, für die uns kein Stellvertreter zur Verfügung steht. Ultimative Lebensnähe ist nur in der paradoxen Struktur einer monadischen Öffentlichkeit zu haben. Unser vortheoretisches Bewußtsein ist daher von diesen Formen unseres szenischen Existierens geradezu imprägniert. Wir erinnern uns an ähnliche Augenblicke, an Szenen, wie es damals war, und erwarten von ersehnten Szenen, daß andere uns entgegenkommen, wie auch wir anderen entgegenkommen sollten, unvermeidlich beglückend, gleichgültig oder verletzend. Diese normative Wechselseitigkeit unseres szenischen Existierens hat noch nichts mit regulärer Ethik zu tun, allenfalls mit dianoethischen Tugenden, mit so etwas wie Takt oder sozialer Sensibilität im aristotelischen Sinn. Dieser Sensibilität ist nämlich ein erkennendes Auge eingesetzt (γνω ́μη)31. Es geht hier also um Mitmenschlichkeit in affektiven Symmetrien, die im weiten Feld individueller Verletzlichkeiten tröstlich bis zur Beglückung und störanfällig bis zu traumatischen Formen sind. Das Szenische bricht in solchen emotionalen Oszillationen die Kausalität unseres Weltkontaktes, aber es dementiert sie nicht. Ursache und Wirkung erhalten hier einen szenischen Index, durch den sie zu Anmutungen verletzender oder tröstlicher Art ›gebrochen‹ werden. 29  30  31 

Das ist ein ganz heikler Punkt. A. Lorenzer, Szenisches Verstehen, 34. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1142a.

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Viele Ausdrücke der Sprache aus dem sozialen Vokabular wie ›Entzweiung‹, ›Anerkennung‹, oder ›Versöhnung‹ lassen sich in ihrer Bedeutung ohne eine Rückbeziehung auf Szenen gar nicht entschlüsseln. Es gibt tatsächlich ein Arsenal von Worten, die semantisch deshalb Schwierigkeiten machen, weil sie nur in diesem szenischen Sinn griffig werden. Extensionales und intensionales Bedeutungsverstehen reichen häufig nicht, wir brauchen auch ein szenisches Bedeutungsverstehen. Durch diese Rückbeziehung wächst intendierten, aber noch nicht artikulierten Bedeutungen unvermeidlich auch ein sound, eine Klang- oder Bildlichkeit zu, die wir ihrerseits wiederum semantisch nicht komplett ausschöpfen können. Man mag hier probeweise auch die These wagen: Nur der Rückgang auf unser szenisches Existieren erklärt, wieso uns überhaupt Klänge und Bilder zugänglich sind, denn diese sind ja selber szenisch sedimentierte Bedeutungen. Das verbindet Klang- und Bildverstehen mit dem Ausdrucksverstehen. Auch der Ausdruck ist eine Form szenischer Bedeutung, die wir verstehen, selbst wenn kein Wort gewechselt wird. So nimmt es nicht Wunder, daß die Künste eng an die Zone szenischen Verstehens angeschlossen bleiben. Sie faszinieren uns, indem das Ganze unseres szenischen Existierens variationsreich in seiner Unbedingtheit ›anklingt‹. Solche ›Anklänge‹ bedeuten uns in einem expressiven Sinn ohnehin mehr als Worte, können aber auch von diesen ausgelöst werden. Das ist, selten genug, in der Lyrik der Fall. Wenn gelungen, ruft eine Zeile ein Ganzes herbei, das auszusinnen uns alle Zeit zu wenig ist. Hier berühren sich, noch seltener, Philosophie und Dichtung im sound of being.

6.  Anleihe bei Heidegger: Performanz Die Primärfunktion des Szenischen verdeutlicht, warum Heidegger das Vokabular einer Philosophie der Subjektivität im Stile Kants und Husserls, die beide von Hause aus den Gegenstands- oder Objektbezug privilegieren, vermied und stattdessen den szenischen Begriff des ›Daseins‹ einführte. Ein Subjekt im Stile Husserls muß ja immer so gedacht werden, daß es seine intentionale Gegenstandswelt konstituiert. Heidegger hingegen sah, daß unser szenisches Existieren uns diese Konstitutionsleistung schon abgenommen hat. 32 Die Vollzugsformen unseres Existierens, die er Existenzialien nennt, sind daher intrinsisch auch Verstehensformen. Der subjekttheoretische Akt eines intentionalen Weltaufbaus braucht daher nicht eigens vollzogen zu werden, sondern realisiert sich ›performativ‹ in basalen Formen szenischen Existierens. Heidegger gab so in ›Sein und Zeit‹ (1927) der Philosophie der Subjektivität eine performative Wende, die sachlich ihre Berechtigung hat. Nur so finden wir auch Anschluß an ein Format, in dem die Theorie des subjektiven und objektiven Geistes aus einem einheitlichen Grundphänomen entfaltet werden

Vgl. hierzu den immer noch sehr lesenswerten Aufsatz von W. Biemel, Husserls Enzyklopaedia-Britannica-Artikel. 32 

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kann. Das liegt daran, daß in die Performanz unseres szenischen Existierens die soziale Sphäre in körperliche Vollzüge schon gleichsam ›eingesenkt‹ erscheint, wie Alfred Lorenzer einmal formulierte. 33 Der Ausdruck ›performatives‹ Verstehen oder Interpretieren stammt meines Wissens von Jerrold Levinson, der ihn als Bezeichnung für die Eigenart musikalischen Interpretierens eingeführt hat. 34 Ein Musiker interpretiert, indem er spielt. Das gilt auch für den Schauspieler, der die Rolle des Hamlet auf der Bühne expressiv gestaltet. In eben diesem ›performativen‹ Sinn interpretieren und verstehen wir schon da, wo wir nur existieren. Die Rolle unseres Existierens ist uns aber nicht wie eine Partitur oder ein Skript vorgegeben. Was uns vorgegeben ist, bekundet sich zunächst in impressiver Vagheit informeller Registraturen und Befindlichkeiten. Am Skript unserer Rollen schreiben wir dann ebenso mit wie andere. Das werden dann immer ›Geschichten‹ sein, ›die das Leben schreibt‹. Der Rückgang auf szenisches Existieren, das man der Sache, nicht dem Wort nach sicherlich bei Heidegger dingfest machen kann, geht letztlich auf Wilhelm Dilthey zurück. Über dessen Schüler Georg Misch und wiederum dessen Schüler Josef König hat sich die Idee dieser elementaren Basis unserer Weltstellung schon in seiner Göttinger Zeit auch Paul Lorenzen vermittelt. 35 Natürlich hätte man hier über Dilthey auch die Gabelung von Georg Misch bis Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas und Robert Brandom vorstellen können, aber die ist bekannter.36 Für Paul Lorenzen ist gerade diese elementare szenische Basis das unhintergehbare Maximum an Lebensnähe. Sie kann eben deshalb nicht restlos propositional ›aufgehellt‹ werden, da es keine satzförmigen Prämissen gibt. Aber gerade diese ›Unhintergehbarkeit‹ des szenischen Charakters bezeugt zugleich das in der Tat denkwürdige »Faktum«, »daß wir«, so Lorenzen hier begründungslos, »unser eigenes In-der-Welt-Sein nur auf genau eine Weise auffassen und verstehen können«.37 Geist ist in seiner Einheitlichkeit offenbar nur aus einem verbleibenden Dunkel des Nichtwissens im Wissen zu haben. Das Szenische ›bricht‹ in emotionalen Oszillationen die Kausalität unseres Weltkontaktes, aber dementiert sie nicht. Nur wegen dieser ›Brechung‹ vermochte der homo sapiens, wie Platon einmal treffend bemerkt, ›schaulustig nach der Wahrheit‹ zu werden.38

A. Lorenzer, Szenisches Verstehen, 128 (Dieser Aufsatz gehört zu den schönsten Arbeiten des Autors). 34  Vgl. J. Levinson, »Performative versus Critical Interpretations in Music«. 35  Vgl. C. F. Gethmann, »Phänomenologie, Lebensphilosophie und Konstruktive Wissenschaftstheorie«. 36  Vgl. zur Rekonstruktion dieses Entwicklungsstranges H.- G. Gadamers anschauliche Studie Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule. 37  P. Lorenzen, Wie ist Philosophie der Mathematik möglich?, 50 (Hervorhebung W. H.). Auf diesen in der Tat höchst wichtigen Punkt ist Paul Lorenzen meines Wissens später nicht mehr zurückgekommen. Wenn der Primärkontakt zur Welt, wie von Lorenzen postuliert, für alle Menschen derselben Art ist, ist eine universalistische Option in Geltungsfragen ohne Alternative. Warum das so ist, erklärt Lorenzen leider nicht. Es bleibt auch bei ihm wie für Kant ein Faktum. 38  Vgl. Platon, Politeia 475 d–e: φιλοθεάμονες τη̃ς α̉ληθείας. 33 

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In diesem szenischen Primärverständnis hat also bei aller historischen und kulturellen Variation der homo sapiens das Verständnisfundament seiner invarianten Weltstellung. Das Szenische als solches ist kultur- und geschichtsinvariant, obwohl es als Ganzes an seinen Rändern wie unser Gesichtsfeld opak ist. Sein »Verständnis«, so Lorenzen weiter, »formuliert [der Mensch, W. H.] nicht in Sätzen, die Bestandteil einer Wissenschaft sein können.« Es bekundet sich, so Lorenzen, vielmehr in ›Vormeinungen‹, die Gegenstände der Philosophie sind, die sie aber nicht einfach hinnehmen darf, wie Dilthey noch einigermaßen defensiv und damit trotz seiner Weltanschauungstypologie ›historistisch‹ meinte, sondern einer kritischen Sichtung unterziehen kann und muß.39 Wir existieren also auch nach diesem Entwurf Lorenzens geradezu szenisch und bringen auch ein vortheoretisches Bewußtsein unseres szenischen Existierens schon mit. Dieses vortheoretische Bewußtsein ist das des Lebens, getragen von einem vagen Verständnis des Raumes der Bewandtnisse im Sinne Heideggers, der dem Raum der Gründe im Sinne von Wilfried Sellars durchaus vorhergeht. Gründe werden, entgegen einem von Sellars stimulierten Sprachgebrauch, weder ›gegeben‹ noch ›genommen‹, sondern ›angeführt‹, ›geltend gemacht‹, ›akzeptiert‹ oder ›verworfen‹. Gründe sind nicht so etwas wie eine Tasse Kaffee oder ein Stück Kuchen. Sie sind auch nichts Erstes. Denn: Gründe kristallisieren erst da in Bewandtnisverhältnissen, wo der opake Boden des Lebens aus purem Know-how inferentielle Konturen und Kontraste im Geltungssinn gewinnt. Je näher das Verstehen also an das Szenische unseres Existierens heranrückt, desto vager wird es. Aber diese Vagheit ist nichts Negatives, denn in ihr bekundet sich ein semantisch nicht festgelegtes Verstehen, das dennoch invariant auch da besteht und noch bestehen muß, wo unser Wissen schwach wird und die Welt rätselhaft. Auch für die philosophische Theorie wird ein Herangehen an die elementare Lebensform szenischen Existierens u. U. prekär. Dieter Henrich hat das methodische Dilemma einmal so beschrieben: »Konkretion wird durch Theorieschwäche und das Bemühen um Theorie durch Formalität und Wirklichkeitsferne erkauft.«40 Diesem Dilemma kann man nicht ausweichen, man muß sich ihm stellen.

7.  Expressivität Unser Verstehen unter der Bedingung szenischen Existierens ist nun auch ›transzendentalperformativ‹ in dem Sinne, daß wir uns selbst vor Ort (on the spot), auch unter Unwissen, immer schon gefunden haben. Wenn wir in der Tat Intentionalität als stehendes mentales Muster akzeptieren müssen, hat sich in diesem Suchvektor der Intentionen, wie fehlbar diese auch sein mögen, unser Selbst nie verloren, sondern ist darin vorin-

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P. Lorenzen, »Wie ist Philosophie der Mathematik möglich?«. Dieter Henrich, Selbstsein und Bewußtsein.

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tentional präsent. Heidegger hat das später treffend so ausgedrückt: »Das Selbst-sein ist der schon im Suchen liegende Fund«.41 Dieses erste, letztlich unbestimmte situative Verstehen ist übrigens skepsisresistent. Wer es bezweifelt, knipst das semantische Licht seines Existierens aus.42 Das ist auch gemeint, wenn Wilhelm Dilthey, worauf Lorenzen gerne zurückkam,43 vom Leben als Grundtatsache schrieb: »Es ist das von innen Bekannte, es ist dasjenige, hinter welches nicht zurückgegangen werden kann.«44 Dieses ›von innen Bekannte‹, daß wir heute in der Philosophie des Geistes unter dem Stichwort ›Qualia‹ in seiner Eigenart zu entschlüsseln versuchen, legte Dilthey auch seiner Antwort auf die Frage ›Was ist Philosophie?‹ zugrunde. Ihr Gegenstand ist für ihn einfach das, was er ›das Rätsel des Daseins‹ nennt. Darunter sollte man sich nicht mehr vorstellen, als uns der sog. ›Turing-Test‹ als Aufgabe zumutet, nämlich herauszubekommen, welche von zwei Informationsquellen ein intelligenter Gesprächspartner ist. Optional ist dies zunächst jede Informationsquelle. Erst wenn eine von ihnen erkennbar nur mechanisch reagiert oder lange genug schweigt, wird sie zum Gegenstand. Bei Dilthey liest sich das etwas blumiger: »Das Rätsel des Daseins blickt zu allen Zeiten den Menschen mit demselben geheimnisvollen Antlitz an, dessen Züge wir wohl gewahren, die Seele dahinter müssen wir erraten.«45 Die Antwort auf diese Frage »suchen gemeinsam das dichterische Genie, der Prophet und der Denker«.46 Eine solche Auskunft werden wir uns heute wohl kaum mehr zutrauen. Wir würden vielmehr nüchterner formulieren und vielleicht sagen: Die Antwort auf die Frage nach dem ›Rätsel des Daseins‹ suchen gemeinsam und sie allein die Geisteswissenschaften als Analytiker der historischen und systematischen Expressivität des Menschen. Geisteswissenschaften gehören in der kalten Heimat zur Résistance, zur Résistance gegen die verordnete Herrschaft des Vergessens der expressiven condition humaine. Immerhin war Dilthey zu seiner Zeit schon nüchtern genug, daß er die facon d´etre des menschlichen Geistes nicht mehr cartesisch faßte, sondern in geschichtlich dokumentierten Vollzügen seines Existierens. Er war von der historisch ausdifferenzierten, aber immer performativen Art des Selbstgegebenseins des Geistes bereits überzeugt. Ihr galt seine Bemühung um eine eigene Verstehensweise in Form einer Weiterentwicklung der überlieferten Hermeneutik als methodische Grundlage der Geisteswissenschaften.

Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), 398. Vgl. zu dieser allzu knappen Bemerkung die lichtvolle und ausgreifende Studie von M.  Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Gabriel zeigt hier, wie sich die zeitgenössische Theorie der Skepsis in einer sich selbst ›vollbringenden‹ Figur (Hegel) durchsichtig machen läßt. 43  Vgl. P. Lorenzen, »Methodisches Denken«, 58, wo es ganz im Sinne Diltheys heißt, »daß der Geisteswissenschaftler an seinem Gegenstand innerlich beteiligt sein muß, er muß sich einfühlen […], wo der Naturwissenschaftler nur unbeteiligt beobachtet.« 44  W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 136. 45  W. Dilthey, Weltanschauungslehre, 206. 46  Ebd., 207. 41  42 

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Dennoch blieb dieser Rückstieg auf das Lebensfundament, das Husserl später »vergessenes Sinnesfundament« auch »der Naturwissenschaften«47 nannte, nicht ohne Risiko. Man nähert sich hier zwar einer ›unhintergehbaren‹ Fülle an Sinnerfahrung, aber ihre Registratur wird ja desto vager, je näher wir an diese informelle Fülle herangehen. Steigern wir die Präzisionsbilanz, verlieren wir diese Fülle. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb übte diese Fülle häufig eine Sogwirkung, ja geradezu eine Faszination aus, die sich bei manchen Denkern durchaus verhängnisvoll ausgewirkt hat. Zuwendungen zu dieser Zone des Informellen geraten leicht und häufig unter Irrationalismusverdacht. Dieser ist vor allem da berechtigt, wo mit diesen Zonen eigentümliche Wertschätzungen verbunden werden. So ist die erste Hälfte des vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts auf allen Feldern der Expressivität vor allem in Deutschland geradezu von einem Authentizitätswahn befallen.48 Je näher an das Leben herangegangen wird, desto authentischer im Sinne von wahrhaftiger, eigentlicher, echter. Aus diesem Syndrom entbanden sich ›geist‹- und ›formfeindliche‹, ›anti-urbane‹, ›anti-konventionelle‹ und ›anti-bürgerliche‹ Affekte bis – ja bis die zivilisierten Formen des Umgangs miteinander insgesamt in Trümmern lagen. Der Preis für zu große Lebensnähe ist die blutende Form, aber genau die wurde gesucht.

8.  Der Preis für zu große Lebensnähe Beispiel hierfür in der Philosophie ist Oskar Becker (1889–1964), Schüler Husserls und Heideggers, bedeutender Philosoph der Mathematik und Begründer der Modallogik. In seinem Hauptwerk Mathematische Existenz orientiert er sich zunächst an Heideggers in Sein und Zeit 49 grundgelegtem, eher pragmatischem Daseinsverständnis, demzufolge wir uns in Entwurfsspielräume hinein biographisch und historisch projektieren und realisieren. Hier bemerkte Becker allerdings zugleich und im selben Buch, daß damit unser ›Getragensein‹ in der Lebenswelt, in unserem szenischen Existieren überspielt wird bzw. verloren geht. Deshalb müsse auf dem Boden unserer Lebenswelt ein neuer Naturbegriff etabliert werden, der geeignet ist, eine authentische Bodenhaftung des sich entwerfenden Daseins zu sichern. Dem Geist des historischen Existierens als ›Dasein‹ à la Heidegger wird so ein prähistorisches, naturhaftes Fundament unseres, wie Becker es nennt, ›Dawesens‹ E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 48 f.: »Die Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament der Naturwissenschaften«. Wie wir jetzt, da der Bd.  XXXIX der Husserliana von Rochus Sowa aus dem Nachlaß herausgegeben vorliegt, wissen, hat sich Husserl schon seit seiner Göttinger Zeit inspiriert von Richard Avenarius und Wilhelm Dilthey mit der Thematik der ›Lebenswelt‹ beschäftigt, selbst wenn er das Wort noch nicht verwendet. 48  Vgl. hierzu G. Willems, Anschaulichkeit. 49  Beide Bücher erschienen zuerst und zusammen 1927 in dem von Husserl herausgegeben Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. 47 

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bereitgestellt: »Wir dehnen dabei den Begriff ›Natur‹ über seinen gewöhnlichen Umfang hinaus aus. Wir nennen Natur alles Seiende, was ›naturhaft‹ ist, also, außer der äußeren, ›toten‹ und lebendigen Natur, auch noch das naturhafte Sein der Naturvölker, des Kindes (des ›Naiven‹) und des menschlichen Trieblebens.«50 Damit kommen für Becker archaische, ja chthonische Prägungen ins Spiel. Diese prähistorischen Determinanten sind von Heideggers szenisch verstandenem ›Dasein‹ in seiner historischen Verfassung nicht mehr gedeckt. Das ›Dawesen‹ wird bestimmt, wie Becker schon 1927 schreibt, durch »Lebensgemeinschaft, Bluts-, Stammesgemeinschaft«51. In diesen Prägungen verliert sich das historisch Individuelle. Daher gilt für Becker: »Lebenslagen, wo Gemeinschaften (Menschen gleichen Stammes, Blutes, Glaubens usw.) gemeinsam in den Tod gehen, sind niemals von rein historischem Seinscharakter. Es findet irgendeine Weise der Identifizierung (Einsfühlung) statt, die die historische Individuation auslöscht.«52 Daß Becker in den vierziger Jahren diese prähistorischen Prägungen auch eindeutig rassistisch interpretiert hat, habe ich anderen Orts gezeigt, und soll hier nur erwähnt werden. 53 Eigentümlich für Beckers Weg in die Sümpfe ist argumentativ eine Art naturalistischer Fehlschluß, ein Spezialfall, denn sein neues Naturverständnis ist eine Fiktion im Namen einer angeblich unverfälschten Authentizität des Blutes. Lebensnähe hatte in Deutschland also häufig ihren intellektuellen Preis. Bei Becker war er eindeutig zu hoch. Dennoch hat Becker etwas gesehen, was berechtigt ist. Im Grundtenor der Philosophie des vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts schwingt als basso continuo überall die Überzeugung mit, daß die Weltstellung des Menschen vor allem durch sein Handeln bestimmt ist, sei dieses Handeln nun konstruktiv, operativ, kognitiv, ökonomisch, technisch oder sogar sprachlich. Im Gegenzug verblieb hier nur eine ergebene Passivität, so daß pace Wihelm Kamlah Handlungen und Widerfahrnisse zum anthropologischen Grundmuster wurden. Das ist bis heute Anthropologie nach der lateinischen Grammatik. Daß es sich bei diesen genera verbi aber nicht um eine vollständige Disjunktion handelt, dafür steht z. B. im Griechischen das genus des Mediums, jene Mischform zwischen Aktiv und Passiv, die auch sprachgeschichtlich älter ist als diese. Hiernach ist in jedes Tun ursprünglich ein Rückbezug eingebaut, durch den sich der, der handelt, nie im Handeln verliert, sondern sich immer auch selber spürt. Das griechische Wort für Sehen hat diese mediale Form: αι̉σθάνομαι heißt soviel wie ›ich sehe für mich‹, ›im Sehen bin ich auch Mitgesehener‹. Handlungen sind im szenischen Existieren zugleich auch

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O. Becker, Mathematische Existenz, 223, Anm. 3. Ebd., 223. Ebd., 233, Anm. 1. Vgl. W. Hogrebe, Echo des Nichtwissens, 54 ff.

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Widerfahrnisse. Diese Verschränkung ist für das Szenische schlechthin konstitutiv. Wir treten uns in jedem Weltauftritt immer auch selbst entgegen. 54 Wir sind in uns selbst schon ein Anderer: Sonst könnten wir nicht mit uns selbst sprechen und wäre so etwas wie eine Perspektiveübernahme gar nicht möglich. Beckers Unbehagen an den pragmazentristischen Versionen von mathematischem Intuitionismus à la Brouwer und seiner von ihm selbst vorgenommenen Fundierung desselben im pragmatischen Finitismus Heideggers gründet wohl in dieser Einsicht, daß unsere Registratur des Ganzen dessen, worin wir leben und agieren, in diesen Konzeptionen ausgeblendet werden muß. Der Konstruktion und dem Handeln entspricht immer nur eine geschichtliche Welt in Endlichkeit, aber nicht ein Kosmos in übergeschichtlicher Unendlichkeit. Für diesen benötigen wir nicht nur aktive und passive Registraturen, sondern, als einem stets nur Mitgegebenen, auch mediale. Für das immer nur mitgegebene Ganze, für das Szenische schlechthin, das Becker ›Kosmos‹ nennt, sind wir allerdings nur dann empfänglich, wenn wir uns selbst an das anonyme Geschehen des Wahrnehmens abtreten und gewissermaßen tagträumend zu einem puren Resonanzkörper unseres szenischen Existierens werden wie der schläfrige Flaneur in der Mittagshitze, bloß ichig und dasig. Wie Kant sagen würde: ganz »Gefühl eines Daseins ohne den mindesten Begriff«. 55 Hätte es Becker bei solchen Resonanzeffekten belassen, deren Analyse er einer mantischen Phänomenologie zuwies56, wäre ihm der Absturz in eine Natur erspart geblieben, in der speziell der ›nordische Mensch‹ »die Geborgenheit in seiner Rasse«57 erfahren darf.

9.  Szene und Urszene Das phänomenologisch gleichwohl völlig korrekt eingeforderte Zurückgehen auf eine szenische Basis, derer wir, obzwar nicht im Modus des Wissens der Wissenschaften, dennoch zweifelsfrei ›inne‹ sind, hat auch einen Denker wie Stanley Cavell bewogen, gerade hier einigermaßen paradox eine Gewißheitsform ohne Wissen zu postulieren. Und gerade das hat wiederum Hilary Putnam beeindruckt, der hier eine Schranke in der Grammatik unseres Wissensvokabulars sieht. Das Wort ›Wissen‹ funktioniert nur, so Putnam in Auslegung von Cavell, »wenn es im Hintergrund Dinge gibt, die wir ohne ›Wissen‹ sagen – ein Hintergrund von Dingen, die wir einfach deswegen sagen,

Hierin liegt auch eine systematische Grenze der Analysen Husserls zur passiven Synthesis, die diese eigentümliche Medialität nicht gesehen haben. Vgl. E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Diese Medialität ist auch Voraussetzung einer Perspektivenübernahme, wie sie jedem Verstehen von Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit zugrunde liegt. Vgl. dazu oben Anm. 13 zu M. Tomasello. Das hat er nicht gesehen. 55  Vgl. I. Kant, Prolegomena A 136. 56  Vgl. O. Becker, a. a. O., 328. 57  O Becker, »Nordische Metaphysik«, 91. 54 

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weil wir einer bestimmten Lebensform angehören und in einem bestimmten Einklang miteinander leben.«58 In solchen Einklängen bekundet sich jedenfalls eine Lebensnähe, die nicht zum Risiko werden muß, weil die Einklänge je für sich auch zur Disposition gestellt werden können, allerdings nicht alle zugleich. Wir müssen uns ganz einfach auf etwas verlassen können, wie Putnam mit Wittgenstein und Dewey betont, auf Einklänge ohne irgendwelche Garantien. Obwohl wir immer welche brauchen: Kein Einklang wird Fundament. Wolfgang Stegmüller hat das in seiner philosophischen Sternstunde treffend so formuliert: »Haben wir also [da es denn keine Fundamente gibt] alles auf Nichts gestellt? Die einzige Antwort: Wir haben überhaupt nicht auf etwas gestellt. Wir schweben.«59 In bestimmten Fällen – garantierende Kriterien sind ohnehin selten, meistens reichen, so Nicholas Rescher, autorisierende 60 – in bestimmten Fällen also genügt z. B. die Autorität des Gefühls. Denn merkwürdigerweise ist das Gefühl, mit Schleiermacher als sensus universi, als »Geschmak [sic] fürs Unendliche«, als »Instinkt fürs Universum«61, die verläßlichste Beglaubigung unseres szenischen Bewußtseins, in einem Ganzen zu existieren, welches wir mit Kants feinfühliger Lizenz »durch den zarten Umriss eines abstrakten Begriffs«62 als das Szenische schlechthin bezeichnen. Dieses hat nichts mit dem physikalischen Universum zu tun, obwohl umgekehrt das Universum in eben dieser Urszene bequem Platz hat und uns auch begrifflich nur da zugänglich ist. Das Universum und seine Galaxien liegen uns in dieser Urszene begrifflich im Staub vor den Füßen.63 Was man ›Geist‹ nennt, haust ja nicht unter der Kalotte, sondern im Transfinitismus verstehender und denkender Bezüge, und die reichen, so Kants Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft, weiter als unser Wissen, nicht jedoch weiter als jene Urszene 64, die kein Außen kennt.

H. Putnam, Nachwort, 278. W. Stegmüller, Metaphysik Skepsis Wissenschaft, 456. Vgl. dazu W. Hogrebe, Die Wirklichkeit des Denkens, 35. 60  Vgl. N. Rescher, Rationalität. 61  Vgl. F. Schleiermacher, Über die Religion, 80 und 107. Für Schleiermacher ist das Szenische als dieser Instinkt für das Ganze das religiöse Urphänomen. Es braucht aber nicht religiös interpretiert zu werden. Menschen mit mangelnder Phantasieausstattung dürfen selbstverständlich auch die kalte Heimat bevorzugen. 62  KrV B 651 / A 623. 63  Das besagt: Wer auf Szenisches zurückgeht, braucht die ›heroische‹ Aussicht nicht zu verabschieden. 64  Jürgen Habermas differenziert wie hier Szene-Urszene mit den Termini Situation-Lebenswelt. So sichert ganz konsequent bei ihm die Lebenswelt unsere metaphysische Weltstellung. Den sprachpragmatischen Strukturen der Lebenswelt »verdanken die Kommunikationsteilnehmer die extramundane Stellung gegenüber dem Innerweltlichen …« (J. Habermas, a. a. O., 192). 58 

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Nur so, aber so tatsächlich, sind wir des Ganzen im Spektrum unserer Expressivität ›inne‹.65 Daran mag es, wieder mit Kant, liegen, »daß sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß.«66 Für diese Information brauchen wir nicht eigentlich Kant, sie vermittelt sich schon im Anblick des wippenden Flügelschwungs eines Schmetterlings. »Es gibt etwas in uns«, schreibt Putnam wieder in Auslegung von Cavell, »was sich nach mehr sehnt (craves), als wir möglicherweise haben können, und was sich sogar der Gewißheit entzieht, über die wir tatsächlich verfügen.«67 Wenn wir Putnam diese unerfüllbare Sehnsucht zugestehen, dann wird in dieser Konzession im Sinne Oskar Beckers das Performative unterschritten.68 Hier in der Tat sind die Wurzeln unseres Existierens als Gegenstand einer von mir aus dann spekulativ zu nennenden Philosophie69, die den intrinsischen Voraussetzungen des homo sapiens nachgeht, nicht als Übergrund-, sondern als Untergrundwissenschaft,70 d. h. Metaphysik nicht als Überbau, sondern als Unterbau. Was ihn von der Natur nicht getrennt, aber – ›sich selbstgebärend‹71 – abgehoben hat, ist der szenische Boden, auf dem der homo sapiens steht. Dieser Boden ist der Teppich des Lebens. Gerade dadurch ist er, wie Paul Valéry einmal bemerkt, »von Natur aus dazu verdammt, im Imaginären zu leben.«72 Nicht also bloß physikalisch und physiologisch zu existieren, sondern, sich selbst zu nah73 und manchmal zu fern: zu leben. In dieser beinahe trivial verwackelten Situation ist ebenso trivial unsere habituelle Trostbedürftigkeit gegeben. Die Flamme der menschlichen Expressivität flackert in unserer Zeit schon bedenklich. Viele wünschen sie in der kalten Heimat als Verloschene. Sollte sie nicht in das ›abgesonderte Heiligtum‹ der Philosophie74 gerettet werden? Aber wo ist das?

Für diese Urszene als Eröffnungsraum des Ganzen steht wohl auch Heideggers Ausdruck ›Seyn als Ereignis‹. Vgl. M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie. 66  KrV B 650 / A 622. 67  H. Putnam, »Wittgenstein über Bezugnahme und Relativismus«, 225. 68  In diese Richtung zielt auch Cavell, wenn er den ›performativen‹ Äußerungen Austins als Basis noch ›passionierte‹ zur Grundlage beigesellt. Das sind offenbar alle Kundgaben über Zustände, wie es ist zu sein. Vgl. S. Cavell, Philosophy the day after tomorrow, 157, 160, 180 f.). Diese pathische Basis hat im Kontext der Philosophie des 20. Jahrhunderts Aldo Masullo schon vor etlichen Jahren eingeklagt. Vgl. A. Masullo, La Comprensione ›Patica‹ Dell’Uomon nel Pensiero Contemporaneo. 69  Philosophie ist spekulativ da, wo sie noch kritisch sein muß, wo andere bloß dem Selbstverständlichen aufsitzen. 70  Insofern konkurriert Metaphysik nicht mit den Wissenschaften. Sie operiert vielmehr im Untergrund, auf dem die kulturelle Existenz des Menschen, wie sie auch in den Wissenschaften dokumentiert wird, bloß aufruht. 71  Vgl. Kant, KrV B 793, A 765. 72  P. Valéry, Ein freier Mensch, 383. 73  Vgl. Heideggers denkwürdige Bemerkung von 1936: »Der deutsche Idealismus war zu lebens-nah und zeitigte in gewisser Weise selbst die ihn ablösende Unphilosophie des Positivismus, der jetzt seine biologistischen Triumphe feiert« (M. Heidegger, a. a. O., 203). 74  Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II, 343. 65 

Riskante Lebensnähe

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Dennoch bleibt es eine methodisch schwierige Frage, ob man sich Phänomen und Begriff ›des Szenischen‹ nicht doch nur um den tödlichen Preis eines abstraktiven Fehlschlusses eingehandelt hat? Man mustert hiernach also Szenen, in denen Menschen agieren, abstrahiert von der jeweiligen situativen Einbettung, gewinnt auf diese Weise ›das Szenische‹ und behauptet dann, daß es das gibt. Solche Einwände lassen sich gegen alle ›Inbegriffe‹ vortragen, d. h. gegen alle singulären abstrakten Termini wie ›die Welt, ›die Seele‹, ›das Göttliche‹, ›die Liebe‹, ›die Gerechtigkeit‹ etc. Die Behauptung, daß es so etwas gäbe, was diese Terme bezeichnen, beruht in der Tat auf abstraktiven Fehlschlüssen. Das ist bei dem Terminus ›das Szenische‹ jedoch anders. Das Argument lautet: Wenn es das Szenische nicht schon gäbe, gäbe es auch keine spezifizierbaren Situationen oder Episoden (world of acquaintance), keine Effekte vom Typ déjà-vu, keine Ähnlichkeitserinnnerung und damit auch kein induktionszugängliches Milieu. Man kann Szenen, Situationen und Episoden nicht von beteiligten Akteuren abtrennen. Die Bedeutung von ›Situation‹ läßt sich nur akteurrelativ ermitteln. Entsprechend gilt: Das Sein der Szene gehört zum Sein von Akteuren, nicht zum Sein des physikalisch Vorhandenen. Der Mythos des Gegebenen kann erst dann erzählt werden, wenn unser szenisches Dasein in Erkenntnisprozessen neutralisiert werden kann. Und das gelingt uns erst spät, erst dann, wenn wir uns bloß an meßtechnisch einlösbare Daten halten können, für die es relevant ist, daß sie überhaupt jemand erhebt, aber nicht wer. Wollen wir aber unsere ursprüngliche Weltstellung erschließen, müssen wir auf ein Niveau zurückgehen, das so tief liegt, daß es sogar als ›vormythisch‹ zu bezeichnen ist. Dies muß ein Grund sein, auf dem, wie Ernst Cassirer postuliert, »alles Denken wie alles sinnliche Anschauen und Wahrnehmen ruht«75. Diese Basis nennt er auch den »ursprünglichen Gefühlsgrund«, in dem selbst der ›mythische Raum‹ »eingebettet und gleichsam versenkt« erscheint.76 Nicht so, als ob es erst diesen Grund gäbe, der dann von mythischen Raumvorstellungen überformt würde. Wir finden nämlich »niemals die ›nackte‹ Empfindung, als materia nuda, zu der dann irgendeine Formgebung hinzutritt«77. Der erste ›Gefühlsgrund‹, von dem bei Cassirer die Rede ist, tritt uns in seiner vormythischen, aber dennoch schon ›aufhellenden‹ Funktion als Basis unserer Weltstellung unmittelbar als Organ des Szenischen entgegen. Genau darin ist die Einheit eines ›universellen Raumgefühls‹ bereits gegeben, dem sich erst später mythische und noch später geometrische Raumverständnisse entbinden. Die von Paul Lorenzen unter der Hand eingeführte Identität der Weltstellung aller Menschen verdankt sich gerade dieser Urszene, in die alle Menschen invariant hineingeboren werden. Geist ist zuerst das Szenische.

E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, 118. Ebd. 77  E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, Darmstadt 1982, 18. Zur Präzisierung des Begriffs der symbolischen Form, den man hier gut gebrauchen kann, vgl. G. Kreis, »Was ist eigentlich eine symbolische Form?«, 263–286. 75 

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Öffentlicher Vortrag 3  ·  Wolfram Hogrebe

Literatur Bartels, Adolf (Hg.): Otto Ludwigs Werke in sechs Bänden. Neue vermehrte Ausgabe, Sechster Band, Leipzig 1908. Becker, Oskar: »Nordische Metaphysik«, in: Rasse, 5, 1938, 81–92. Becker, Oskar: Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontologie mathematischer Phänomene, Tübingen 21973. Biemel, Walter: »Husserls Enzyklopaedia-Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu«, in: Tijdschrift voor Philosophie 12, 1950, 246–280. Brandom, Robert: »Untimely Review of Hegel’s Phenomenology of Spirit«, http://www.pitt.edu/~brandom/downloads/URPdG %2008-1-22 %20b.doc Carnap, Rudolf: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1966. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, Darmstadt 1977. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Dritter Teil, Darmstadt 1982. Cavell, Stanley: Philosophy the day after tomorrow, Cambridge / London 2005. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern / München 61967. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, Band VII, Leipzig / Berlin 21942. Dilthey, Wilhelm: Weltanschauungslehre, in: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, Bd. VIII, Leipzig / Berlin 21960. Dilthey, Wilhelm: Die geistige Welt, in: Wilhelm Diltheys gesammelte Schriften, Bd. V, Leipzig / Berlin 1924. Evans, Gareth: The Varieties of Reference, John McDowell (Hg.), Oxford / New York 1982. Frege, Gottlob: Logik (1897), in: Nachgelassene Schriften, Bd. 1, Hans Hermes / Friedrich Kambartel / Friedrich Kaulbach (Hgg.), Hamburg 1969. Gabriel, Markus: An den Grenzen der Erkenntnistheorie – Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Heidelberg 2008. Gadamers, Hans-Georg: »Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Tübingen 1995, 185–205. Gadamer, Hans-Georg: »Erinnerungen an Heideggers Anfänge«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Tübingen 1995, 3–13. Gethmann, Carl Friedrich: »Phänomenologie, Lebensphilosophie und Konstruktive Wissenschafts­theorie. Eine historische Skizze zur Vorgeschichte der Erlanger Schule«, in: ders. (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft, Bonn 1991, 29–77. Gibson, Eleanor: »Ontogenisis of the perceived self«, in: Ulric Neisser (Hg.): The perceived self, Cambridge 1993, 25–42. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1981. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, in: Werke, Bd. 10, Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel (Hgg.), Frankfurt a. M. 1969 ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II, in: Werke, Bd. 17, Eva Moldenhauer / Karl Markus Michel (Hgg.), Frankfurt a. M. 1969 ff.

Riskante Lebensnähe

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Öffentlicher Vortrag 4  ·  Wolfram Hogrebe

Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin / New York 2001. Schumacher, Ralph (Hg.): Perception and Reality. From Descartes to the Present, Paderborn 2004. Sen, Amartya: Identity and Violence: The Illusion of Destiny, New York 2006. Souriau, Etienne: Les 200 000 situations dramatiques, Paris 1950. Stegmüller, Wolfgang: Metaphysik Skepsis Wissenschaft, Berlin / Heidelberg / New York 1969. Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt a. M. 2002. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976. Valery, Paul: Ein freier Mensch, in: ders.: Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1992. Walzel, Oskar: Das Wortkunstwerk, Leipzig 1926. Willems, Gottfried: Anschaulichkeit, Tübingen 1989.

Von den Weltbildern zur Lebenswelt Jürgen Habermas

Wenn wir unser Welt- und Selbstverständnis auf Begriffe bringen, sprechen wir von Weltbildern oder Weltanschauungen. Während in »Weltanschauung« der Prozess der Erfassung des Ganzen mitschwingt, betont »Weltbild« eher das Ergebnis, den theoretischen oder darstellenden, Wahrheit beanspruchenden Charakter einer Weltdeutung. Beide Ausdrücke haben die existentielle Bedeutung einer Lebensorientierung – Weltanschauungen und Weltbilder orientieren uns im Ganzen unseres Lebens. Dieses Orientierungswissen darf selbst dann nicht mit wissenschaftlichem Wissen verwechselt werden, wenn es mit dem Anspruch einer Synthese von einstweilen gültigen Forschungsergebnissen auftritt. Das erklärt den distanzierten Sprachgebrauch: Wenn wir heute »Weltbild« oder »Weltanschauung« nicht überhaupt als pejorative Fremdzuschreibungen gebrauchen, um die Philosophie von fragwürdigen Konkurrenten abzusetzen,1 wenden wir diese Ausdrücke lieber retrospektiv auf die »starken« Traditionen der Vergangenheit an. In erster Linie meinen wir dann Konzeptionen, die in der einen oder anderen Weise auf die kosmologischen und theozentrischen Weltbilder der Achsenzeit zurückgehen. Dazu gehört in wesentlichen Teilen auch die griechische Philosophie. Soweit philosophische Lehren ihren Bezug auf’s Ganze der Welt, auf den Kosmos, auf die Welt- und Heilsgeschichte oder auf eine Mensch und Kultur einbegreifende Evolution der Natur beibehalten haben, erfüllen sie auch heute noch die Funktionen von Weltbildern. 2 Sie lassen sich als Gestalten einer ethischen Selbstverständigung rechtfertigen; aber die mehr oder weniger explizite Selbstauslegung eines besonderen Ethos kann unter den modernen Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen. Auch die Philosophie hält in Gestalt eines nachmetaphysischen Denkens von bloßer Weltbildproduktion Abstand. Wie kann sie dieser Forderung genügen, ohne zugleich den Bezug zum Ganzen preiszugeben? Heute zerfällt die Disziplin in die Fragmente ihrer Bindestrichphilosophien, indem sie sich auf die Rekonstruktion jeweils einzelner Kompetenzen wie Sprechen, Handeln und Erkennen spezialisiert oder auf die vorgefundenen kulturellen Gestalten von Wissenschaft, Moral oder Recht, Religion oder Kunst reflektiert. Lassen sich diese Fragmente wieder zu einem Ganzen zusammensetzen, wenn wir vom Fokus der Lebenswelt ausgehen? Der Weg von den Weltbildern zum Konzept der Lebenswelt, den ich skizzieren werde, eröffnet die Aussicht, auf nicht-fundamentalistische Weise doch noch zu einer Philosophie »ohne Bindestrich« zu gelangen. M. Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«. Im Folgenden verwende ich, soweit der Kontext nicht die ausdrückliche Hervorhebung des Prozessaspektes erfordert, den Ausdruck ‚Weltbild‘. 1  2 

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Öffentlicher Vortrag 4  ·  Jürgen Habermas

Die Welt der Lebenswelt ist freilich eine andere als die der Weltbilder. Diese Welt hat weder die Bedeutung des erhabenen Kosmos oder der vorbildlichen Ordnung der Dinge, noch die eines schicksalsschweren saeculum oder Weltalters, d. h. der geordneten Folge heilsrelevanter Ereignisse. Die Lebenswelt steht uns nicht theoretisch vor Augen, wir finden uns vielmehr vortheoretisch in ihr vor. Sie umfängt und trägt uns, indem wir als endliche Wesen mit dem, was uns in der Welt begegnet, umgehen. Husserl spricht vom »Horizont« der Lebenswelt und von ihrer »Bodenfunktion«. Vorgreifend lässt sich die Lebenswelt als der jeweils nicht-überschreitbare, nur intuitiv mitlaufende Erfahrungshorizont und als nicht-hintergehbarer, nur ungegenständlich präsenter Erlebnishintergrund einer personalen, geschichtlich situierten, leiblich verkörperten und kommunikativ vergesellschafteten Alltagsexistenz beschreiben. Wir sind uns dieses Existenzmodus unter verschiedenen Aspekten bewusst. Wir erfahren uns performativ als erlebende, in organische Lebensvollzüge eingelassene, als vergesellschaftete, in ihre sozialen Beziehungen und Praktiken verstrickte, und als handelnde, in die Welt eingreifende Subjekte. Was in dieser kompakten Formel zusammengepresst wird, kann nicht wie der gestirnte Himmel über uns angeschaut oder im Vertrauen auf Gottes Wort als verbindliche Wahrheit akzeptiert werden. Indem wir uns miteinander explizit über etwas in der Welt verständigen, bewegen wir uns in einem Milieu, das sich aus diesen performativen Gewissheiten immer schon aufgebaut hat. Es ist Sache der philosophischen Reflexion, die allgemeinsten Züge, gewissermaßen die Architektonik der Lebenswelt, ins Bewusstsein heben. Diese Beschreibung erstreckt sich mithin nicht darauf, wie die Welt selbst zusammenhängt, sondern auf die Bedingungen unseres Zugangs zum Geschehen in der Welt. Vom Bild der Welt bleibt nach dieser anthropozentrischen Rückwendung zum Boden und Horizont des In-der-Welt-Seins nur noch der leere Rahmen für mögliches Weltwissen übrig. Damit verliert die Analyse des lebensweltlichen Hintergrundes auch die Orientierungsfunktion von Weltbildern, die mit ihrem theoretischen Zugriff auf das Ganze zugleich einen praktischen Aufschluss über das richtige Leben versprechen. Gleichwohl möchte Husserl einer Phänomenologie der Lebenswelt, die er in streng deskriptiver Absicht vornimmt, eine wichtige praktische Botschaft abgewinnen. Mit dem Konzept der Lebenswelt möchte er nämlich das vergessene »Sinnesfundament« der Wissenschaften freilegen und damit die Wissensgesellschaft vor einem praktisch folgenreichen Objektivismus bewahren. Angesichts der Herausforderung eines szientistisch zugespitzten Naturalismus stellt sich heute eine ähnliche Frage: Ob und gegebenenfalls in welchem Sinne die epistemische Rolle der Lebenswelt einer naturwissenschaftlichen Revision des im Alltag operativen Selbstverständnisses von Personen Grenzen zieht. Ich möchte Husserls These vom vergessenen Sinnesfundament aus dem Blickwinkel einer grob skizzierten Weltbildentwicklung einem Plausibilitätstest unterziehen. Die europäische Philosophie hat mit der Ausarbeitung eines ontologischen und später mit der Konstruktion eines erkenntnistheoretischen Weltbegriffs3 einerseits einen bedeutenden

3 

Vgl. T. Rentsch / H. Braun / U. Dirks, Artikel »Welt«.

Von den Weltbildern zur Lebenswelt

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Anteil an der kognitiven Entflechtung der wissenschaftlich erfassbaren objektiven Welt von den projektiv vergegenständlichten Aspekten einer jeweils im Hintergrund operierenden Lebenswelt. Als eine säkulare Gestalt des Geistes kehrt die Philosophie der Religion den Rücken und verabschiedet sich gleichzeitig von starken metaphysischen Erkenntnisansprüchen. Andererseits hat sie, während sie zur Genealogie eines entzauberten und versachlichten Konzepts der Erfahrungswelt beitrug, die epistemische Rolle der Lebenswelt verdrängt. Daher interessiert mich die Frage, wie sich das Selbstverständnis des nachmetaphysischen Denkens mit der Reflexion auf diesen verdrängten Hintergrund verändert. Zunächst will ich im Vorgriff auf den kommunikationstheoretischen Begriff der Lebenswelt klären, wie sich »Lebenswelt«, »objektive Welt« und »Alltagswelt« voneinander unterscheiden (1). Diese Grundbegriffe werden dazu dienen, die wissenschaftskritische Fragestellung auf den Zusammenhang der Weltbildentwicklung zu beziehen. An dieser Entwicklung interessiert mich die schrittweise kognitive Befreiung der »objektiven Welt« von Projektionen der »Lebenswelt« (2) sowie die transzendentalphilosophische Bearbeitung der Folgeprobleme eines naturwissenschaftlich versachlichten Bildes der objektiven Welt (3). Dieses Bild kompliziert sich noch einmal durch den Aufstieg der Geistes- und Sozialwissenschaften, die gleichzeitig für die Transzendentalphilosophie eine Herausforderung darstellen (4). Die bipolare Versachlichung unseres Bildes von der objektiven Welt und eine entsprechende Detranszendentalisierung der leistenden Subjektivität erklären, warum sich Husserls wissenschaftskritische Fragestellung zu einem Dilemma zuspitzt. Mit der komplementären Beziehung zwischen Lebenswelt und objektiver Welt, die wir in actu nicht hintergehen können, verbindet sich ein epistemischer Dualismus, der dem Bedürfnis nach einer monistischen Weltdeutung widerstreitet (5). Am Schluss gehe ich kursorisch auf einige Versuche ein, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden (6). (1) Der Begriff der Lebenswelt stützt sich auf die Unterscheidung zwischen performativem Bewusstsein und falliblem Wissen. Der eigenartige Modus des mitlaufenden, intuitiv gewissen, aber implizit bleibenden, präreflexiven Hintergrundwissens, das uns in unseren täglichen Routinen begleitet, erklärt sich daraus, dass uns die Lebenswelt nur performativ, im Vollzug von Akten, die jeweils auf etwas Anderes gerichtet sind, gegenwärtig ist. Wie man die Furcht, im lockeren Geröll den Halt zu verlieren, erlebt; was man beim Erröten über einen peinlichen Fehler spürt; wie es sich anfühlt, wenn man sich auf die Loyalität eines alten Freundes plötzlich nicht mehr verlassen kann; wie es ist, wenn eine lange praktizierte Hintergrundannahme überraschenderweise enttäuscht wird – alles das »kennt« man. Denn in solchen Situationen gestörter Lebensvollzüge wird eine Schicht impliziten Wissens aufgedeckt, ob es sich um ein habitualisiertes Können handelt, um eine Befindlichkeit, um eine verlässliche soziale Beziehung oder eine unerschütterliche Überzeugung. Diese Komponenten des abgeschatteten Vollzugswissen bilden, solange sie im Hintergrund bleiben und nicht zum Thema gemacht werden, ein Amalgam.

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Öffentlicher Vortrag 4  ·  Jürgen Habermas

Im Prinzip kann sich jede dieser Gewissheiten aus einer Ressource der gesellschaftlichen Kooperation und Verständigung in ein Thema verwandeln, insbesondere dann, wenn der normale Vollzug gestört wird und Dissonanzen auftreten. Deshalb lässt sich die phänomenologisch beschriebene Lebenswelt auch als Hintergrund kommunikativen Handelns begreifen und auf Verständigungsprozesse beziehen.4 Im Zentrum des lebensweltlichen Horizonts steht dann nicht mehr wie bei Husserl das Bewusstseinsleben eines transzendentalen Ego, sondern die kommunikative Beziehung zwischen mindestens zwei Teilnehmern, Alter und Ego. Für beide Kommunikationsteilnehmer erschließt sich die Lebenswelt als der mitlaufende, nur implizit gegenwärtige, beliebig zu erweiternde Horizont, worin die jeweils aktuelle Begegnung in den ebenfalls nur performativ gegenwärtigen Dimensionen des erfahrenen sozialen Raums und der erlebten historischen Zeit lokalisiert ist. Dieser kommunikationstheoretische Ansatz eignet sich zur Klärung der Grundbegriffe »Lebenswelt«, »objektive Welt« und »Alltagswelt« (a), mit deren Hilfe ich die Analyse der Weltbildentwicklung vornehmen möchte (b). (a) Lebensweltlichen Gewissheiten stellen eine intensivierte und gleichwohl defiziente Form von »Wissen« dar; sie können nämlich nur unter Verlust ihres performativen Modus in Aussageform gebracht werden. Was nicht in der Form von Aussagen wahr oder falsch sein kann, ist auch kein Wissen im strengen Sinne. Wir müssen das Hintergrundwissen, von dem bisher die Rede war, in Anführungszeichen setzen. Das, was wir auf diese intuitive Weise »kennen«, können wir nämlich nur explizit machen, indem wir es in eine Beschreibung umformen; aber dabei löst sich der Vollzugsmodus des bloß »Bekannten« auf  – er zerfällt gewissermaßen. Interessanterweise bilden davon allein illokutionäre Akte eine Ausnahme. Die illokutionären Bestandteile von Sprechhandlungen – wie »ich gestehe Dir, dass ich…«; »ich empfehle Dir, dass Du…« oder »ich bin fest davon überzeugt, dass p«  – bringen den Vollzugsmodus von Gelebtem oder Erlebtem, von interpersonalen Beziehungen und von Überzeugungen als solchen zum Ausdruck, ohne ihn ausdrücklich zu repräsentieren; denn in jedem Fall handeln die mit dem illokutionären Akt geäußerten propositionalen Gehalte von etwas anderem. Das peinliche Geständnis, der freundschaftliche Rat und die feste Überzeugung können beliebige Inhalte haben. Aber dieses Was wird nur im Fall einer konstativen Sprechhandlung als ein bestehender Sachverhalt präsentiert; im Falle der expressiven Äußerung wird der Inhalt zum Inhalt eines privilegiert zugänglichen Erlebnisses, den eine erste Person Anderen »eröffnet«, im Falle der regulativen Sprechhandlung wird er zum Inhalt einer interpersonalen Beziehung, die eine erste zu einer zweiten Person aufnimmt. Alle drei Modi spiegeln sich in den Geltungsansprüchen der korrespondierenden Sprechhandlungstypen – in den Wahrhaftigkeits-, Richtigkeits- bzw. Wahrheitsansprüchen, die Sprecher für Sätze der ersten Person, für Sätze, die an zweite Personen adressiert sind, bzw. für deskriptive Aussagen erheben. Dank dieser Trias von

Zum Folgenden vgl. J. Habermas, »Handlungen, Sprechakte, sprachlich vermittelte Interaktionen und Lebenswelt«, 88 ff. 4 

Von den Weltbildern zur Lebenswelt

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Geltungsansprüchen gelangt der performative Sinn des subjektiv Gelebten, des intersubjektiv Verbindlichen und des als objektiv Vermeinten über die sprachliche Kommunikation in den öffentlichen Raum der Gründe. In unserem Zusammenhang interessiert nun das Verhältnis von »Lebenswelt« und »objektiver Welt«, das sich in der Doppelstruktur der Sprechhandlungen spiegelt. Die Sprecher gehören im Vollzug ihrer illokutionären Akte einer Lebenswelt an, während sie sich mit der Verwendung der propositionalen Bestandteile dieser Akte auf etwas in der objektiven Welt beziehen. Im kommunikativen Handeln unterstellen sie diese objektive Welt gemeinsam als die Gesamtheit der beschreibungsunabhängig existierenden Gegenstände oder Referenten, von denen Sachverhalte ausgesagt werden können. Das bedeutet nun nicht etwa, dass Aussagen über die Lebenswelt selbst unmöglich wären. Die beteiligten Personen können gegenüber ihrem eigenen Engagement die Einstellung einer dritten Person einnehmen und eine performativ hergestellte kommunikative Beziehung in einem weiteren Akt der Verständigung zum Thema machen und das heißt: als etwas in der Welt Vorkommendes behandeln. Denn alles, was zum Inhalt einer Proposition gemacht wird, wird als etwas in der Welt Gegebenes oder Bestehendes zum Thema. Trotz des unüberbrückbaren intentionalen Abstandes von dem, was in der objektiven Welt besteht oder geschieht – zwischen dem Vollzug und dem expliziten Inhalt einer Kommunikation – gehört es zur Erfahrung der Kommunikationsteilnehmer und zu ihrem Hintergrundwissen, dass sich der Kommunikationsvorgang, in den sie aktuell verwickelt sind, in derselben Welt ereignet, der auch die Referenten ihrer im selben Augenblick gemachten Aussagen angehören. Die Lebenswelt als Bestandteil der objektiven Welt genießt gewissermaßen einen »ontologischen Primat« vor dem jeweils aktuellen Hintergrundbewusstsein des einzelnen Angehörigen, denn die performativ gegenwärtigen Lebensvollzüge – also Erlebnisse, interpersonale Beziehungen, Überzeugungen – setzen den organischen Leib, die intersubjektiv geteilten Praktiken und die Überlieferungen voraus, in denen sich die erlebenden, handelnden und sprechenden Subjekte »immer schon« vorfinden. (b) Auf die Existenzweise dieser in symbolischen Formen artikulierten Lebenswelten und auf die objektivierende Beschreibung dieser »soziokulturellen Lebensformen« komme ich noch zurück. Zunächst geht es um das »Bild«, das wir uns im Alltag von der alles einschließenden objektiven Welt machen. Zwar können wir uns von der im Hintergrund präsenten Lebenswelt, in deren Horizont wir uns intentional auf etwas »in der Welt« richten, solange nicht lösen, wie wir im Vollzug dieser intentionalen, ob nun sprachlichen oder nicht-sprachlichen Aktivitäten begriffen sind. Aber wir können wissen, dass dieselbe objektive Welt – aus der Perspektive eines distanzierten Beobachters – wiederum uns, unsere Interaktionsnetze und deren Hintergrund Seite an Seite mit anderen Entitäten einschließt. Das prägt unsere inklusive »Alltagswelt«, die Welt des Common-Sense. Diese Welt dürfen wir mit dem philosophischen Begriff der »Lebenswelt« nicht gleichsetzen, obwohl die performativen Züge der Lebenswelt auch die Struktur unserer Alltagswelt – ihre Zentrierung um uns, unsere Begegnungen und

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Praktiken, unsere Befindlichkeiten und Interessen – bestimmen. Aber die »Alltagswelt« ist inklusiv, sie enthält nicht nur die performativ vertrauten, sondern auch die wahrgenommenen Elemente der natürliche Umgebung, die uns frontal begegnen. Die Alltagswelt erschöpft sich nicht in ihren lebensweltlich konstituierten Ausschnitten, in den performativ vertrauten subjektiven Lebensvollzügen, sozialen Beziehungen und kulturell überlieferten Selbstverständlichkeiten. Unmittelbar ist es diese Alltagswelt, die das Bild, das wir uns von der »objektiven Welt« machen – unser Weltbild also – prägt. Im Alltag kategorisieren wir die Dinge, die uns in der Welt begegnen, nach den Ebenen des praktischen Umgangs. Grob gesagt kategorisieren wir sie als Personen, wenn sie uns in kommunikativen Beziehungen begegnen können; oder als Normen, Sprechakte, Handlungen, Texte, Zeichen, Artefakte usw., wenn wir sie als etwas von Personen Hervorgebrachtes verstehen können; oder als Tiere und Pflanzen, wenn sie uns durch den Eigensinn organischer, d. h. sich selbst reproduzierender und grenzerhaltender Systeme zu enthaltsamen Formen des Umgangs (wie Hege und Pflege oder Züchtung) nötigen; oder wir begreifen die Dinge als manipulierbare Körper, wenn wir ihnen alle lebensweltlichen Qualitäten abstreifen können, die ihnen aus anderen Umgangserfahrungen anhängen (z. B. die Qualitäten eines »Zeuges« oder einer Naturschönheit). Nicht zufällig erinnert die alltagsnahe Ontologie, die wir noch bei Aristoteles finden, an dieses von Umgangserfahrungen geprägte »Bild« der »objektiven Welt«. Die Produktion von Weltbildern – der geschichtlich variierenden Bilder, die wir uns jeweils von der objektiven Welt machen – setzt offenbar an den trivialen Schichten der Alltagswelt an. Während die wissenschaftliche Weltsicht an die Alltagskategorie der Körper anschließt und das Universum als die naturgesetzlich geregelte Gesamtheit physikalisch messbarer Zustände und Ereignisse begreift, ordnen die ältesten mythischen Überlieferungen fast alles Geschehen in die kommunikativen Beziehungen zwischen Personen ein. Die Welt, die sich in diesen mythischen Erzählungen spiegelt, ist, wenn man den kulturanthropologischen Darstellungen vertrauen darf, 5 monistisch verfasst; es gibt nur eine Ebene von Phänomenen, kein »Ansichseiendes« hinter den Phänomenen. Das erzählte Geschehen strukturiert sich in der Form sozialer Interaktionen, an denen Personen und Tiere, aber auch die Geister der Ahnen und imaginierte Naturund Ursprungsgewalten, überpersönliche Mächte und personalisierte Götter teilnehmen.6 Beinahe jeder kann mit jedem und alles mit allem kommunizieren, Gefühle und Wünsche, Absichten und Meinungen ausdrücken und reziprok aufeinander einwirken.

Vgl. vor allem die klassischen Werke der angelsächsischen Kulturanthropologie und die der strukturalistischen Anthropologie im Anschluss an Levy Strauss. 6  Marcel Gauchet erörtert den Schamanismus als Beispiel für diese monistische, von Lebenden wie Toten bewohnte Welt: »Here we have specialists who initiate communication with the spirit world and manipulate its representatives, but who, despite the considerable prestige and fears they inspire, are steadfastedly confined to the common lot of their society. This is because the visible and the invisible is entertwined in a single world […] The shaman remains a technician endowed with a special ability to move between the living and the dead, between spirits and magical forces. He is in no way an incarnating force creating a permanent union between the human world and its creator or ruler.« M. Gauchet, The Disenchantment of the World, 31. 5 

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Aus den Narrativen entsteht ein Netz von »Korrespondenzen«, in das auch rituelle Handlungen eingebettet sind; aus dieser Einbettung zieht der in Begräbnis- und Opferriten, in Ahnenkulten und Naturzaubern organisierte Umgang mit den mythischen Mächten seine Evidenz. So verschmilzt in magischen Praktiken die performative Einstellung, in der sich eine erste Person auf eine zweite Person einstellt, um sich mit ihr über etwas zu verständigen, mit der objektivierenden Einstellung eines Technikers gegenüber unpersönlichen oder überpersönlichen Mächten, auf die er kausalen Einfluss ausüben möchte. Indem der Zauberer mit einem Geist kommuniziert, erlangt er Gewalt über ihn. Das bezeugt eindrucksvoll die Dominanz einer einzigen Kategorie, nämlich der des kommunikativen Handelns. Offenbar werden sogenannte mythische Weltbilder nicht nur von den totalisierenden Zügen einer zentrierten, jeweils »von uns« bewohnten Lebenswelt geprägt; sie werden vom performativen Bewusstsein der Lebenswelt so durchdrungen und strukturiert, dass die ins kommunikative Handeln grammatisch eingebaute und von den Beteiligten im Alltagsleben praktisch gehandhabte Unterscheidung zwischen Lebenswelt und objektiver Welt in den Weltbildern früher Stammesgesellschaften verfließt. Die Kategorien des verständigungsorientierten Handelns strukturieren das innerweltliche Geschehen im Ganzen, sodass aus unserer Sicht das Weltgeschehen von den lebensweltlich konstituierten Ausschnitten der Alltagswelt absorbiert wird. Für uns besteht zwischen diesen mythischen Anfängen und dem Weltbild der modernen Wissenschaft ein eigentümlicher Kontrast. Dieser Gegensatz suggeriert eine Weltbildentwicklung, in deren Verlauf die »an sich« bestehende objektive Welt für die Beteiligten schrittweise von den projektiven Überschüssen lebensweltlicher Qualitäten gereinigt worden ist. Die Sicht auf die objektive Welt wird auf dem Wege der Bewältigung empirisch ausgelöster und bewältigter kognitiver Dissonanzen versachlicht. Müsste nicht aus dieser Sicht ein szientistisch zugespitzter Naturalismus das letzte Wort behalten? Oder lässt sich Husserls These vom vergessenen Sinnesfundament der Wissenschaften mit dem Argument verteidigen, dass der fortschreitende Versachlichungstrend zu einer immer schärferen Polarisierung zwischen der nur noch formal bestimmten, aber epistemisch nicht hintergehbaren Lebenswelt und einer wissenschaftlich objektivierten Welt geführt hat? (2) Die folgende, sehr grobe Skizze der Weltbildentwicklung ist ein Vorschlag, drei Zäsuren auf dem Wege »von den Weltbildern zur Lebenswelt« als kognitive Schübe zu begreifen, die zu erweiterten Weltbildperspektiven geführt haben. Aus diesem selektiven und entsprechend voreingenommenen Blickwinkel geht es mir zunächst um den Schritt von dem soeben skizzierten weltverhafteten mythischen Denken zu einer Perspektive auf die Welt im Ganzen; sodann um die eigentümliche okzidentale Verbindung eines theozentrischen mit einem kosmologischen Weltbild, die zu einer Polarisierung zwischen Glauben und Wissen führt; und schließlich um die Emanzipation des naturwissenschaftlichen Weltwissens von der Metaphysik, welche den Zusammenhang von Kosmologie und Ethik auflöst und damit die gemeinsame Vernunftbasis von Glauben und Wissen zerstört.

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Da dieses Vorhaben den Blick auf die okzidentale Entwicklung einengt und trotzdem mehrere Bücher oder gar Bibliotheken füllen müsste, kann ich meinen Vorschlag im Hinblick auf unser Thema nur unter einem einzigen Aspekt verfolgen: – wie sich in der Folge dieser präsumtiven Lernschritte die begrifflichen Konstellationen von »Lebenswelt«, »objektiver Welt« und »Alltagswelt« verschieben. Jaspers hat mit dem Konzept der »Achsenzeit« die Aufmerksamkeit auf das Faktum gelenkt, dass sich während einer relativ kurzen Zeitspanne um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends in der Welt der Hochkulturen vom Nahen bis zum Fernen Osten ein kognitiver Durchbruch vollzogen hat.7 Damals entstehen in Persien, Indien und China, in Israel und Griechenland die bis heute wirksamen religiösen Lehren und kosmologischen Weltbilder. Diese »starken Traditionen« – Zoroastrismus, Buddhismus und Konfuzianismus, Judaismus und griechische Philosophie – haben einen Wandel der Weltsicht von der Mannigfaltigkeit der narrativ auf derselben Ebene verknüpften Oberflächenphänomene zur Einheit eines theologisch oder »theoretisch« begriffenen Weltganzen herbeigeführt. Im Monotheismus nimmt die kosmische »Ordnung der Dinge« die verzeitlichte Gestalt einer teleologischen Ordnung der Weltalter an. Inzwischen hat das Konzept der Achsenzeit eine weitverzweigte internationale Forschung inspiriert.8 In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die Befreiung aus der kognitiven Befangenheit eines beteiligten Akteurs, der sich das Weltgeschehen nur aus der Innenperspektive eines selber in mythische Geschichten Verstrickten vergegenwärtigen kann. Mit diesem flächigen Monismus brechen die neuen dualistischen Weltbilder. Sie erschließen mit der Konzeption eines einzigen Gottes jenseits der Welt oder mit Begriffen einer kosmischen Gesetzmäßigkeit Perspektiven, aus denen die Welt als ein objektiviertes Ganzes in den Blick gelangt. Der Bezug auf den ruhenden Pol des Einen Weltenschöpfers, des Alles im Gleichgewicht haltenden Nomos, der tiefliegenden Realität des Nirvana oder des ewigen Seins verschafft dem Propheten und dem Weisen, dem Prediger und dem Lehrer, dem kontemplativen Betrachter und dem Mystiker, dem Betenden und dem Philosophen, der sich in intellektuelle Anschauung versenkt, die nötige Distanz von dem Vielen, Zufälligen und Veränderlichen. Gleichviel, ob die dualistische Weltsicht wie in den Erlösungsreligionen Israels oder Indiens stärker, oder wie in der griechischen Philosophie und den chinesischen Weisheitslehren schwächer ausgeprägt ist, diese intellektuellen Eliten vollziehen überall den kognitiven Durchbruch zu einem transzendenten Standpunkt. Von hier aus betrachtet lässt sich alles, was in der Welt geschieht, von der Welt im Ganzen unterscheiden. Und dieser Blick auf das Seiende und die Menschheit im Ganzen erzeugt jene kategoriale Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung, welche die ältere, expressivistische Unterscheidung zwischen der Geisterwelt und deren Manifestationen ablöst (und im Übrigen magischen Vorstellungen den weltanschaulichen Boden entzieht). Mit der Differenzierung in »Welt« und »Innerweltliches« wird

7  8 

K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 19 ff. J. P. Arnason / S. N. Eisenstadt / B. Wittrock (Hgg.), Axial Civilizations and World History.

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die Alltagswelt zur Sphäre der bloßen Erscheinungen abgewertet. Dieser theoretische Durchgriff auf Wesenheiten erweitert die explanative Kraft von Erzählungen. Der konzeptuelle Rahmen kann nun die Masse des praktischen, naturkundlichen und medizinischen Wissens, auch die astronomischen und mathematischen Kenntnisse, die sich inzwischen in den städtischen Zentren der frühen Hochkulturen angesammelt hatten, verarbeiten und zu einem kohärenten, überlieferungsfähigen Ganzen integrieren. Während der Mythos mit den Alltagspraktiken eng verwoben blieb und noch nicht die Eigenständigkeit eines theoretischen »Bildes« von der Welt erlangte, artikulieren sich in den Weltbildern der Achsenzeit philosophische und theologische Begriffe einer »objektiven«, alles einbegreifenden Welt. Mit diesem gläubig oder kontemplativ erfassten Weltganzen löst sich für die Beteiligten jene Fusion der »objektiven Welt« mit der »Lebenswelt« auf, die wir heute aus mythischen Weltbildern herauslesen. Mit der Ein- und Unterordnung der zum bloßen Phänomen herabgestuften Alltagswelt wird aus unserer Sicht der Tatsache Rechnung getragen, dass die performativ gegenwärtige Lebenswelt zusammen mit den Praktiken und Verweisungszusammenhängen, in denen diese sich den kommunikativen Handelnden erschließt, wie alle übrigen Entitäten in der Welt vorkommt. Diese Versachlichung hat freilich ihren Preis. In den Weltbildern der Achsenzeit taucht die »Lebenswelt« nicht als solche auf, sondern verschmilzt mit den Erscheinungen der »Alltagswelt«. Für die Gläubigen und die Philosophen verschwindet die eigene, in ihrem Rücken fungierende Lebenswelt so hinter den onto-theologisch vergegenständlichten Bildern der Welt, dass ihnen die projektiven Züge verborgen bleiben, die diese Weltbilder nach wie vor dem performativen Bewusstsein ihrer vital gelebten und geleisteten Existenz in der Welt entlehnen. Das lässt sich an drei Charakteren der Lebenswelt zeigen, die sich in der Welt der Kosmologien und Theologien widerspiegeln: (i) Der Kosmos und die Heilsgeschichte werden in Dimensionen des gelebten sozialen Raums und der erfahrenen historischen Zeit entworfen. Daher verfließen die Grenzen der objektiven Welt mit dem ins Übermenschliche projizierten lebensweltlichen Horizont einer bewohnbaren, auf uns zentrierten Welt, von der die flüchtigen Erscheinungen unserer Alltagsexistenz wiederum einen Bestandteil bilden. In dieser Architektonik des »Umgreifenden« (Jaspers) behält das teleologisch verfasste Weltganze die lebensweltlichen Charaktere unseres alltäglichen Umgangs mit Mensch, Tier, Pflanze und unbelebter Natur. (ii) Zweitens sind die Weltbilder der Achsenzeit keineswegs Theorien im Sinne einer wertneutralen Beschreibung bekannter Tatsachen. Denn die theoretische Weltdeutung ist schon in ihren starken, evaluativ gehaltvollen Grundbegriffen mit Geboten der praktischen Lebensführung verklammert. Wenn die Beschreibung des Ganzen mit der Hilfe von Konzepten wie »Gott« oder »Karman«, »to on« oder »Tao« vorgenommen wird, gewinnt die Beschreibung der Heilsgeschichte bzw. des Kosmos den zugleich wertenden Sinn eines exemplarischen Seienden, dessen Telos für die Gläubigen und Weisen normativ, als Gesolltes und Nachahmenswertes ausgezeichnet wird. Diese konzeptu­ elle Verschmelzung der Sollgeltung normativer Aussagen mit der Wahrheitsgeltung de-

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skriptiver Aussagen erinnert an das Syndrom des lebensweltlichen Hintergrundes, das sich erst im Zuge einer sprachlichen Thematisierung auflöst und in die verschiedenen Geltungsdimensionen der entsprechenden Typen von Sprechhandlungen verzweigt. (iii) Schließlich hängt mit dem praktischen Sinn der theoretischen Weltdeutung auch der Unfehlbarkeitsanspruch zusammen, mit dem religiöse und metaphysische »Wahrheiten« auftreten. Wenn sich die verschiedenen Konzeptionen der Welt und der Weltalter in Heilswegen oder politisch maßgebenden Modellen der Lebensführung »auszahlen« sollen, müssen theoretische Überzeugungen den Anforderungen an die Belastbarkeit von ethisch-existenziellen Gewissheiten genügen. Daraus erklärt sich die dogmatische Denkform, die den Glaubens- und Weisheitslehren die Gestalt »starker« Theorien verleiht. Mit dem Anspruch auf infallible Wahrheiten reicht gleichsam der performative Wissensmodus aus der Lebenswelt in den Bereich des expliziten Weltwissens hinein. Soweit sich die Weltbilder der Achsenzeit retrospektiv durch eine undurchschaute Projektion von solchen Aspekten der Lebenswelt auf die objektive Welt charakterisieren lassen, zeichnet die Struktur des Weltkonzepts auch schon den Weg zu einer möglichen Versachlichung vor. Die Entwicklung weist erstens in Richtung eines dezentrierten Begriffs der Welt als der Gesamtheit physikalisch beschreibbarer Zustände und Ereignisse; zweitens in Richtung einer Trennung der theoretischen von der praktischen Vernunft und schließlich in Richtung eines fallibilistischen, aber nicht-skeptischen Verständnisses von theoretischem Wissen. Diese Fluchtpunkte verweisen natürlich auf unsere eigene hermeneutische Ausgangssituation, d. h. auf ein nachmetaphysisches Welt- und Selbstverständnis, wie es sich seit dem 17. und 18. Jahrhunderts herausgebildet hat. Um dieser narzisstischen Konstruktion wenigstens den geschichtsphilosophischen Anschein von Notwendigkeit zu nehmen, müsste ich nun auf die historisch zufälligen Konstellationen eingehen, die erst den unwahrscheinlichen und singulären Fall der systematischen Verkoppelung eines kosmologischen Weltbildes mit einer theologischen Lehre erklären – und damit die produktive Zusammenführung des paulinischen Christentums und der griechischen Metaphysik zur Doppelgestalt eines hellenisierten Christentums und eines theologisch verwahrten Platonismus. In den folgenden Jahrhunderten arbeitet sich der Diskurs über Offenbarung und natürliche Vernunft am Sprengsatz von Wissenschaften ab, die – wie die Mathematik, Astronomie, Medizin und die Naturphilosophie  – ihrer jeweils eigenen Logik folgen. Der Diskurs über Glauben und Wissen entfaltet allerdings erst mit der arabisch vermittelten Aristoteles-Rezeption im 12. und 13. Jahrhundert seine explosive Kraft.9 Dabei schärfen die Oppositionsbegriffe »Glauben« und »Wissen« ihr Profil aneinander. Die gemeinsame Vernunftbasis von Glauben und Wissen zerbricht aber in dem Maße, wie die Naturphilosophie ihre Anschlussfähigkeit an eine Theologie, die doch auf der Höhe der zeitgenössischen Wissenschaften bleiben wollte, verliert. Die teleologisch angelegte Ontologie des Aristoteles enthält noch ein Sinnpotential, das für den soteriologisch gedeuteten Praxisbezug offen ist. Aber der scholastische Nominalismus

9 

Zu Abälard beispielsweise vgl. jetzt K. Flasch, Kampfplätze der Philosophie, 125–140.

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bahnt den Weg zu einer unbefangenen empirischen Naturbetrachtung sowie schließlich zu einer nomologischen Erfahrungswissenschaft, die im Buch der Natur keine göttliche Handschrift mehr entdecken kann; er bereitet auch schon eine Erkenntnistheorie vor, die die Natur dieser modernen Naturwissenschaft dem menschlichen Verstand zuordnet.10 Mit dieser zweiten Weichenstellung verkehren sich bei der Kompatibilitätsprüfung von Religion und Wissenschaft die Beweislasten, weil sich um die modernen Erfahrungswissenschaften und um die säkularen Staatsgewalten fortan eigensinnige philosophische Diskurse bilden, die sich gegenüber der Theologie verselbständigen.11 Auf dieser Linie nimmt die bis dahin theologisch eingehegte Metaphysik während des 17. Jahrhunderts die Gestalt philosophischer Systeme an, die ihre formativen Anstöße sowohl von der Erkenntnistheorie wie vom Vernunftrecht erhalten. Die physikalisch erkannte Welt der bewegten und kausal aufeinander einwirkenden Körper verliert den Charakter eines »Worin« des menschlichen Daseins. Gleichzeitig büßt das theoretische Wissen von dieser Welt, das nicht länger mit der praktischen Vernunft verschwistert ist, seine lebensorientierende Kraft ein. Aus diesem Grunde muss auch das christliche Naturrecht von einem aus praktischer Vernunft allein konstruierten Menschenrecht abgelöst werden. Von nun an lässt das Interesse der Philosophie an ihrem Verhältnis zur Religion nach. Das nachmetaphysische Denken konzentriert sich auf das Verhältnis der Philosophie zur Wissenschaft. Auf diese Weise entsteht ein Defizit, auf das ich hier nicht näher eingehe.12 Mit dem Schub zum säkularen und verwissenschaftlichten Weltverständnis der Moderne verändert sich erneut die begrifflichen Konstellationen von Lebenswelt, objektiver Welt und Alltagswelt. Weil die objektive Welt aus allem besteht, worüber wahre Aussagen gemacht werden können, begreifen die philosophischen Zeitgenossen Newtons die Welt nach dem mechanistischen Bild, das die moderne Physik von der Natur im Ganzen entwirft. Zur »Welt« gehören die Gegenstände der Erfahrung, die mit den übrigen Dingen in einer »natürlichen«, d. h. gesetzmäßigen Beziehung stehen. Mathematik und naturwissenschaftliches Experiment lösen die »natürliche Vernunft« der Theologen-Philosophen in ihrer Rolle als der maßgebenden Autorität für die Beurteilung der notorisch unzuverlässigen Alltagserfahrungen ab. Den sinnlichen Phänomenen der Alltagswelt liegen nicht mehr Wesenheiten, sondern die gesetzmäßigen Bewegungen der kausal aufeinander einwirkenden Körper zugrunde. Mit dem Schritt zum mechanistischen Begriff der Natur scheint das Bild der »objektiven Welt« von vergegenständlichten Aspekten der »Lebenswelt« befreit zu sein. Aber welchen Platz nimmt in diesem versachlichten Weltverständnis die Lebenswelt ein? Der von Projektionen entschlackte Weltbegriff ist nicht aus ontologischer, sondern zunächst aus erkenntnistheoretischer Sicht eingeführt worden. Er ist das Ergebnis der

10  L. Honnefelder, Duns Scotus; zu den mittelalterlichen Ursprüngen modernen Denkens insgesamt ders., Woher kommen wir? 11  Zur Epistemologie der praktischen Wissenschaften im 13. und 14. Jahrhundert vgl. M.  Lutz-Bachmann / A. Fidora (Hgg.), Handlung und Wissenschaft. 12  J. Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion.

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Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit zuverlässiger physikalischer Erkenntnis. Deshalb gehört zur objektiven Welt das Gegenüber eines erkennenden Subjekts. Der Lebenswelt lassen die Paarbegriffe des mentalistischen Paradigmas nur die Nische der vorstellenden Subjektivität offen. Dieser Rückzug hinterlässt Spuren sowohl in der aporetischen Gestalt des Mentalen wie im Rumoren praktischer Fragen, für die es nach der Abspaltung der praktischen von der verwissenschaftlichten und nachmetaphysisch ernüchterten theoretischen Vernunft keinen klaren Ort mehr gibt. (3) Im 17. Jahrhundert entwickelt der Empirismus die Anfänge jenes wissenschaftlichen Weltbildes, gegen das Husserl den Vorwurf des »Objektivismus« erheben wird. Dieses Weltbild entsteht im Paradigma der Bewusstseinsphilosophie und wird daher von deren Problemen heimgesucht. Um das Argument vorzubereiten, dass sich im mentalistischen Paradigma die »Lebenswelt« hinter der Fassade des subjektiven Geistes verbirgt, erläutere ich zunächst den aporetischen Status des Mentalen (a) und verfolge dann den »moralischen Unglauben« der Empiristen, der Kants transzendentalphilosophische Wende provoziert (b). (a) Nach der erkenntnistheoretischen Einführung des seither maßgebenden Begriffs der objektiven Welt als Inbegriff aller deskriptiv erfassbaren, letztlich nomologisch erklärbaren Zustände und Ereignisse wird die »Natur des menschlichen Geistes« zum Problem. Denn unter epistemologischen Gesichtspunkten hat das erkennende Subjekt eine gegenüber der Welt im Ganzen externe Stellung bezogen. Als Geist hat sich das Subjekt aus dem Ganzen vorstellbarer Objekte zurückgezogen. Andererseits kann es sich selbst, zusammen mit seinen Vorstellungen, Passionen und Handlungen, als ein in den kausalen Nexus der Welt verflochtenes Objekt in der Welt vorstellen. Daher geht die objektive Welt nicht ganz in der Gesamtheit der physikalisch erklärbaren Phänomene auf; sie erstreckt sich auch auf das psychologisch zu erklärende Mentale. Das Mentale lässt sich zwar als Objekt betrachten, aber zugänglich ist es nur im Vollzugsmodus als tätiger und rezipierender Geist. Diese der objektiven Welt gegenüberstehende Subjektivität ist ein Gegenbild zum in der Welt angetroffenen Mentalen. Den Geist in actu begreift die Erkenntnistheorie als ein empfindendes, vorstellendes und denkendes Bewusstsein und das erkennende Subjekt als ein Selbst, das sich introspektiv von seinem Haben von Vorstellungen von Objekten wiederum Vorstellungen machen kann. Das Bewusstsein verschränkt sich von Haus aus mit Selbstbewusstsein. Die extramundane Stellung dieser verqueren, weil nur performativ im Erleben gegenwärtigen Bewusstseinszustände bleibt ein Stachel für die Konzeption einer versachlichten, alle kausal vernetzten Körper einschließenden Welt. Unter der Beschreibung mentaler Zustände und Ereignisse rückt das Psychische, das ja nur im Vollzug, also aus dem Blickwinkel der ersten Person zugänglich ist, zwar in die begriffliche Perspektive einer vorübergehenden Anomalie. Aber das Mentale behält trotz dieser Anwartschaft auf eine naturwissenschaftliche Erklärung ein Janusgesicht. Erlebnistatsachen machen bis heute auf eine irritierende Unvollständigkeit der objektivierenden Weltbeschreibung aufmerksam.13

13 

T. Nagel, »What is it like to be a bat?«.

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Im 17. Jahrhundert gibt die Philosophie auf die Frage nach dem Ort eines aus der wissenschaftlich objektivierten Natur gewissermaßen vertriebenen performativen Bewusstseins zunächst noch metaphysische Antworten – eine dualistische Antwort wie Descartes, eine monadologische wie Leibniz oder eine deistische wie Spinoza. Aber aus der Sicht des mentalistischen Paradigmas müssen diese ontologisch ansetzenden Konstruktionen als Rückfall hinter die erkenntnistheoretische Wende erscheinen. Der cartesischen Vergegenständlichung des Geistes zur res cogitans setzt Hobbes die prädikative Auffassung des Mentalen als Tätigkeit oder Leistung, die wir einem Subjekt zuschreiben, entgegen; geistige Fähigkeiten lassen sich dann einem Organismus, also einem körperlichen Ding als Attribut zulegen: »Es könnte also sein, dass das denkende Ding zwar das Subjekt für Geist, Vernunft, Verstand, aber gleichwohl etwas Körperliches wäre; Descartes nimmt das Gegenteil an, aber ohne Beweis.«14 In der Nachfolge von Hobbes scheint der Empirismus von Locke bis Hume die konsequentere Antwort zu geben, wenn er den menschlichen Geist als einen in der Natur selbst befindlichen »Spiegel der Natur« begreift und sich auf die Genese zuverlässigen Wissens konzentriert.15 Die Natur ruft auf dem Wege der kausalen Einwirkung auf die menschlichen Sinnesorgane im Subjekt Empfindungen und in den Urteilen Widerspiegelungen ihrer selbst hervor. Die Gegenseite hat sich freilich von Anfang an nicht so sehr auf den sperrigen ontologischen Status von Erlebnissen berufen; auch Tieren schreiben wir ja die Subjektivität eines bewussten Lebens zu. Aber Einstellungen, die Personen zu Sachverhalten oder zu anderen Personen einnehmen können, sind keine Erlebnisse, die man haben oder nicht haben kann, sondern Akte, die man vollzieht – und die fehlschlagen können. Es ist diese normative Verfassung des Geistes, auf die schon Descartes hinweist16 und die Kant gegen Hume zur Geltung bringt, wenn er den Verstand als ein spontanes Vermögen der Anwendung von Regeln oder Begriffen definiert. (b) Von einer anderen Konsequenz war Kant noch stärker beunruhigt: Der Empirismus versagt bei der Erklärung der Normativität des Geistes nicht nur im Hinblick auf dessen epistemische, sondern vor allem hinsichtlich seiner moralisch-praktischen Leistungen. Das Bild von der objektiven Welt, das der Verstand aus kontingentem Empfindungsmaterial aufbaut, besteht ausschließlich aus deskriptiven Urteilen, d. h. aus einem wertneutralen Tatsachenwissen. Aus der objektivierenden Weltbetrachtung kann die praktische Vernunft keine moralischen Einsichten mehr gewinnen. Evaluative und normative Aussagen lassen sich aus deskriptiven Aussagen nicht begründen. Mit dieser endgültig durch Hume vollzogenen Entkoppelung der praktischen von der theoretischen Vernunft droht die Philosophie überhaupt ihre handlungsorientierende

T. Hobbes, Lehre vom Körper, 164. R. Rorty, Philosophy and the Mirror of Nature. 16  Gegen Hobbes verweist Descartes auf die bewusstseinstranszendierende Allgemeinheit von Propositionen: »Wer zweifelt nämlich, dass ein Franzose und ein Deutscher dasselbe über dieselben Gegenstände wird denken können, auch wenn sie sich ganz verschiedener Worte bedienen?« (Hobbes ebd., 169). 14 

15 

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Kraft zu verlieren. Gerade dann, wenn sich alle mentalen Vorgänge nach dem Vorbild der Physik erklären ließen, würde sich aus diesen Erkenntnissen keine normativen Orientierungen mehr gewinnen lassen. Aber als Personen aus Fleisch und Blut stehen die erkennenden Subjekte der Welt nicht nur gegenüber. Indem sie miteinander sprechen und zusammen handeln, müssen sie sich im Umgang mit dem, was ihnen in der Welt begegnet, zurechtfinden. Auch die Forschergemeinschaft selbst ist als eine Kooperationsgemeinschaft handelnder Subjekte in den Kontext eines gesellschaftlichen und kulturellen Lebenszusammenhanges eingelassen. Zwar hatte die Philosophie längst keinen eigenen Heilsweg mehr anzubieten. Aber nun nahm auch das normative Wissen der auf Vernunftmoral und Vernunftrecht umgestellten »Ethik« und »Politik« gegenüber dem empirischen, letztlich dem physikalischen Weltwissen nicht nur, wie schon bei Aristoteles, eine inferiore Stellung ein; ihr Wissensstatus war im Kern erschüttert. Auf diese Problemlage, die, wie ich zeigen möchte, durch die mentalistische Verdrängung der Lebenswelt provoziert wird, antwortet Kant, indem er eine revolutionierte Erkenntnistheorie in den Dienst einer nachmetaphysischen Ehrenrettung des kognitiven Anspruchs praktischer Vernunft stellt. Die Peripetie setzt damit ein, dass Kant den konstruktiven Leistungen des erkennenden Subjekts auf den Grund geht und dessen Kontakt mit der Welt nicht mehr – ausgehend von der Affektion der Sinne – passivisch deutet, sondern transzendental. Dieser Grundgedanke der Konstituierung einer Welt erscheinender Gegenstände verbindet Aspekte der Abhängigkeit mit solchen der Freiheit. Das erkennende Subjekt genießt die Freiheit der kognitiven Gesetzgebung eines endlichen Geistes, der auf die kontingenten Beschränkungen einer unabhängig existierenden Welt reagiert.17 Zwar operiert auf der Ebene des transzendentalen Bewusstseins der Verstand unter Anleitung der theoretischen Vernunft. Aber mit dem Zugriff auf subjektive Bedingungen möglicher objektiver Erfahrungen gewinnt Kant eine noumenale Ebene, auf der er nicht nur das erkennende Subjekt, sondern die spontanen Leistungen der Subjektivität insgesamt einer wissenschaftlichen Objektivierung entziehen kann. Wie Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« betont, kann die metaphysikkritische Einschränkung des theoretischen Vernunftgebrauchs auf Gegenstände der Erfahrung unter der Prämisse der gesetzgebenden Leistungen eines endlichen Verstandes den »positiven und sehr wichtigen Nutzen haben«, eine transzendentale Ebene der Spontaneität des Geistes freizulegen, auf der auch eine an den praktischen Vernunftgebrauchs gebundene Willensfreiheit ihren Platz findet: »Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatismus der Metaphysik, d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft auszukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstrebenden Unglaubens, der jederzeit gar dogmatisch ist.«18 In unserem Zusammenhang ist der Umstand wichtig, dass erst die Residenz des freien Willens im »Reich der Zwecke«

17  18 

R. B. Pippin, »Kant on the Spontaneity of Mind«. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXXI.

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ein Phänomen ins Spiel bringt, welches die ganze Sphäre des Noumenalen vor einem naheliegenden Missverständnis bewahren kann. Mit dem »transzendentalen Faktum« des Sittengesetztes, dem Ankergrund jeder deontologischen Moral, beruft sich Kant nämlich auf ein phänomenologisch überzeugendes Beispiel von Hintergrundwissen. Das merkwürdige Faktum eines Gefühls unbedingter Verpflichtung, das die ganze Beweislast tragen soll, unterscheidet sich nämlich von anderen, deskriptiv erhobenen Tatsachen dadurch, dass es nur im Vollzugsmodus mitthematisiert werden kann. Das Pflichtbewusstsein ist nichts anderes als das im Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft performativ gegenwärtige Wissen, einem vernünftig begründeten moralischen Gebot folgen zu sollen. Wenn man die Lebenswelt als Interpretationsschlüssel für den Status der Freiheit des vernünftigen Willens wählt, verliert die Sphäre des Noumenalen den Anschein einer metaphysisch konstruierten Hinterwelt (Nietzsche). Nur im Vollzug kommunikativen Handelns können wir Verpflichtungen, die wir mit sozialen Beziehungen eingehen, als solche erfahren. Ohne diese performative Erfahrung wüssten wir nicht, wovon in einer aus der Perspektive einer dritten Person vorgenommenen Beschreibung dieses Sachverhalts die Rede ist. Daher muss der normative Sinn einer moralisch begründeten Verhaltenserwartung am Ursprungsort des Phänomens aufgesucht werden. Die Normativität des Sollens darf weder spekulativ zu einem Gebot der Natur oder zu einem existierenden Wert vergegenständlicht noch psychologisch auf Zustände in der objektiven Welt  – auf Lust und Unlust, Belohnung und Strafe – reduziert werden. Die »Idee« der Freiheit ist nur eine unter mehreren Ideen. Kants Ideenlehre beleuchtet allgemein einen performativ gegenwärtigen Hintergrund, der nur dann vergegenständlicht wird, wenn die theoretische Vernunft die Grenzen des legitimen Verstandesgebrauchs überschreitet.19 In der Unterscheidung zwischen Ideen der praktischen und der theoretischen Vernunft lässt sich schon der Vorgriff auf die Differenz zwischen Lebenswelt und objektiver Welt entdecken. In dieser Lesart bietet Kants Ideenlehre Anschlussstellen für den detranszendentalisierten Begriff einer weltentwerfenden, aber in der kommunikationstheoretisch beschriebenen Lebenswelt situierten Vernunft. 20 (4) Allerdings mussten die Engpässe des mentalistischen Paradigmas erst überwunden werden, bevor hinter der Fassade des transzendental begriffenen subjektiven Geistes die Lebenswelt entdeckt werden konnte. Schon Humboldts sprachphilosophische Einsichten weisen in die Richtung einer sprachpragmatischen »Aufhebung« der Transzendentalphilosophie. 21 Aber diese von Hegel aufgenommene und über Peirce und Dewey wie über Husserl und Dilthey bis zu Heidegger und Wittgenstein reichende Entfaltung des Gedankens der »Detranszendentalisierung« lässt sich nicht als eine interne, allein von philosophischen Problemen angetriebene Entwicklung begreifen. Wie sich

19  Zu dieser Deutung der Postulate der praktischen Vernunft vgl. U. Anacker, Natur und Intersubjektivität, Teil II. 20  T. McCarthy, Ideale und Illusionen, 19 ff.; J. Habermas, »Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft«. 21  Vgl. meine Entgegnung in A. Honneth / H. Joas (Hgg.), Kommunikatives Handeln.

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die Philosophie seit Galilei und Newton mit dem ernüchterten Blick der modernen Naturwissenschaften auf die objektive Welt auseinandersetzen musste, so musste sie seit Hegel mit dem historischen Blick der Geistes- und Sozialwissenschaften auf Kultur und Gesellschaft zurechtkommen. So wenig die Philosophie seinerzeit der Frage nach dem Status von Bewusstseinstatsachen ausweichen konnte, sowenig kann sie sich nun der Frage entziehen, wie denn dieser, den subjektiven Geist offensichtlich überschreitende »objektive« Geist zu begreifen und im Kausalnexus des Weltgeschehens unterzubringen ist. Erstaunlicherweise finden historische, soziale und kulturelle Tatsachen erst sehr spät ein systematisches wissenschaftliches Interesse. Die historischen Geisteswissenschaften sind aus Kunstlehren hervorgegangen, aus den humanistischen Überlieferungen der Poetik, aus den historischen Darstellungen und den Philologien; in ähnlicher Weise haben sich die neuen Staats- und Sozialwissenschaften aus den klassischen Lehren der Politik und der Ökonomik entwickelt. Diese Kunstlehren hatten mit dem Kanon der – ihrerseits auf die Anfänge der Hochkulturen zurückreichenden – »Freien Künste« die Herkunft aus professionellem Wissen gemeinsam. Wie Grammatik, Rhetorik und Logik, wie Arithmetik, Geometrie und Musik, sogar Astronomie werden Künste und Kunstlehren aus der Reflexion von Teilnehmern auf eine vorgängig beherrschte Praxis entwickelt. Demgegenüber kultivieren die Geistes- und Sozialwissenschaften eine ganz andere Einstellung. Deren Interesse richtet sich nicht mehr auf eine Vergewisserung der Regeln einer eingewöhnten Praxis – sei es einer bestimmten Sprache, sei es der bildenden Künste und der Literatur, der Geschichtsschreibung, der Regierungskunst oder der Haushaltsführung. Vielmehr richtet sich jetzt eine methodisch angeleitete Neugier auf den Vergleich und die Analyse der vielfältigen kulturellen Lebensformen, die zwar nur aus der Teilnehmerperspektive zugänglich sind, aber aus der Perspektive eines Beobachters als Datenquellen genutzt und zu historischen, kulturellen und sozialen Tatsachen verarbeitet werden. Es ist diese Transformation der Teilnehmer- in die Beobachterperspektive, die die Kulturwissenschaften erst zu wissenschaftlichen Disziplinen eigenen Rechts macht. Gegenüber dem Objektbereich der Naturwissenschaften behalten die symbolischen Gegenstände der Humanwissenschaften allerdings einen eigentümlichen Status. Denn der Beobachter muss an den lebensweltlichen Praktiken erst teilgenommen, er muss sie in der Rolle eines virtuellen Teilnehmers erst verstanden haben, bevor er die Praktiken und die Erzeugnisse, in denen diese sich niederschlagen, zu Daten vergegenständlichen kann. Diese Wissenschaften nutzen die alltagspraktischen Erfahrungen und Kenntnisse, die bisher nur in Literatur und Reiseberichten, in Tagebüchern, chronologischen Darstellungen, Wirtschaft- und Verwaltungsstatistiken, Kriegsberichten, historischen Erzählungen, Lehrbüchern usw. festgehalten worden waren, entweder als »Quellen« einer philologisch aufgeklärten historisch-kritischen Forschung oder sie modellieren daraus Bereiche von empirisch zu erhebenden und unter theoretischen Gesichtspunkten systematisch auszuwertenden Daten. Mit diesem Schub zur wissenschaftlichen Ob-

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jektivierung der lebensweltlich konstituierten Ausschnitte der Alltagswelt wird der monolithische Begriff der objektiven Welt, der sich der Erkenntnistheorie unter dem Eindruck der Newtonischen Physik aufgedrängt hatte, noch problematischer. Nun stellt sich erneut die Frage, wie sich die begriffliche Konstellation von Lebenswelt und objektiver Welt verändert hat, nachdem Ausschnitte der Lebenswelt nicht mehr nur unter psychologischen, sondern auch unter kulturellen, sozialen und historischen Gesichtspunkten zum Forschungsgegenstand geworden sind. Die Phänomene der Alltagswelt werden jetzt im Wesentlichen von zwei Seiten 22 einer wissenschaftlichen Objektivierung zugeführt. Mit »Versachlichung« meinen wir eine zunehmend unparteiliche Beschreibung der Wirklichkeit, die sich einer fortschreitenden Dezentrierung der in der jeweils eigenen Lebenswelt zentrierten Wahrnehmungs- und Deutungsperspektiven verdankt. Wir dürfen Versachlichung nicht mit einer verdinglichenden Abstraktion, also dem Zuschneiden des innerweltlichen Geschehens auf die einzige Dimension des Umgangs mit manipulierbaren und messbaren Gegenständen verwechseln. 23 Während sich die Naturwissenschaften der Idee unparteilicher Beurteilung auf dem Wege der Eliminierung lebensweltlicher Qualitäten der Alltagswelt nähern und kontraintuitives Wissen produzieren, können die Geistes- und Sozialwissenschaften dasselbe Ziel nur auf dem Wege der hermeneutischen Vergewisserung und vertiefenden Rekonstruktion von lebensweltlichen Umgangserfahrungen und Praktiken anstreben. 24 Seitdem polarisiert sich das Bild, das wir uns von der objektiven Welt machen, weil die Versachlichung der Alltagsphänomene in verschiedene Richtungen weist. Bevor ich auf diese weitere Komplikation für das »wissenschaftliche Weltbild« und das Vorhaben einer Naturalisierung des Geistes zurückkomme, müssen wir die letzte Etappe auf dem Weg von den Weltbildern zur Lebenswelt zurücklegen. Denn die Transzendentalphilosophie setzt sich insbesondere in der Lesart, wonach wir im Herzen der noumenalen Sphäre das »Reich der Zwecke« als Schattenriss der mentalistisch verdrängten Lebenswelt entziffern, der Kritik der Geistes- und Sozialwissenschaften aus. Wie lässt sich die transzendentale Grundeinsicht in die normative Verfassung und den gesetzgebenden Charakter des menschlichen Geistes gegen die empirischen Evidenzen der geschichtlichen Vielfalt soziokultureller Lebensformen verteidigen? Weil sich die neuen Disziplinen vor allem mit der Besonderheit und Veränderlichkeit symbolisch erzeugter

Mit der Beschränkung auf nomologische Naturwissenschaften einerseits, Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits nehme ich eine Vereinfachung vor, die der Perspektive meiner Fragestellung geschuldet ist. Diese grobe Kontrastierung vernachlässigt nicht nur die in anderem Zusammenhang relevanten Eigenarten der Biowissenschaften und der Psychologie, sondern auch die vielfältigen Unterschiede, die innerhalb der beiden großen, nur unter dem Aspekt des Zugangs zu ihren jeweiligen Gegenstandsbereichen charakterisierten »Natur«- und »Humanwissenschaften« bestehen. 23  Ich danke Lutz Wingert für diesen klärenden Hinweis. 24  Nicht einmal eine sozialwissenschaftliche Systemtheorie, die aus ihrem Objektbereich alle normativen Züge tilgen möchte, kann auf den hermeneutischen Zugang zu ihren symbolischen Gegenständen und auf »Sinn« als Grundbegriff verzichten. 22 

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Artefakte, Lebensformen und Praktiken befassen, scheinen ihre Evidenzen gegen die Annahme einer einheitlichen transzendentalen Gesetzgebung zu sprechen. 25 Es ist nicht der konstruktive und weltentwerfende Charakter des Geistes, der den Widerspruch der hermeneutischen Wissenschaften hervorruft, sondern die abstrakte Allgemeinheit und die transmundane Stellung, die das transzendentale Bewusstsein der exotischen Mannigfaltigkeit und Kontingenz der Sprachen, Kulturen und Gesellschaften entrücken. Auf diese Herausforderung antwortet die Philosophie seit Herder und Hamann, Humboldt und Hegel mit einer Mentalismuskritik, die in erste Linie die intersubjektive Natur der Sprachen, Praktiken und Lebensformen gegen die subjektivistische Verfassung des Geistes zur Geltung bringt. Diese Kritik wird von Feuerbach und Marx unter dialogphilosophischen und gesellschaftstheoretischen, von Kierkegaard unter ethischexistentiellen Gesichtspunkten radikalisiert. Erst der Historismus und die Lebensphilosophie, der Pragmatismus und die Sprachphilosophie haben freilich im weiteren Verlaufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts den symbolisch vermittelten praktischen Lebenszusammenhängen der leiblichen, sozialen und geschichtlichen Existenz der vergesellschafteten Individuen eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Bedeutung beigemessen. Sie haben die kommunikationstheoretische Fassung von Husserls Konzept der Lebenswelt vorbereitet. Diese erlaubt eine Detranszendentalisierung der leistenden Subjektivität, ohne diese ihrer welterzeugenden Spontaneität zu berauben und ans innerweltliche Geschehen zu assimilieren. Der empirisch geschärfte Blick der Geistes- und Sozialwissenschaften auf die wandelbaren Gestalten des objektiven Geistes hatte nicht den konstruktiven Charakter, wohl aber den intelligiblen, allem Weltgeschehen entrückten Status der Gesetzgebung eines transzendentalen Subjekts in Frage gestellt. Auch an Heideg­gers Transformation von Husserls phänomenologischem Begriff der Lebenswelt zeigt sich, dass der Versuch einer Detranszendentalisierung der weltentwerfenden Subjektivität solange misslingen muss, wie die »ontologische Differenz« zwischen Welterschließung und innerweltlichem Geschehen die Rückkoppelung der weltbildenden Produktivität des Seins mit Ergebnissen der dadurch ermöglichten Lernprozesse in der Welt ausschließt. Eine transzendentale Ursprungsmacht, die sich nur um den Preis der Entmächtigung seinshöriger Subjekte in einem seinsgeschichtlichem Wandel sprachlicher Weltbilder zu Gehör bringt, ist nicht in einem irgend nachvollziehbaren Sinn »detranszendentalisiert«. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man »Sprache« nicht auf die Semantik sprachlicher Weltbilder reduziert, sondern  – wie schon Humboldt selber  – pragmatisch, d. h. ausgehend von der Kommunikationspraxis handelnder, in Diskurse verstrickter und problemlösender, also lernender Subjekte begreift. Sprachen öffnen nicht nur die Horizonte einer vorinterpretierten Lebenswelt. Sie bahnen nicht nur – uneinholbar vorauseilend – die Wege für mögliche Begegnungen mit dem, was in der Welt begegnet. Bei Licht betrachtet, nötigt die sprachliche Kommunikation die Beteiligten vielmehr zu vernünftigen und

Ernst Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« lässt sich als eine direkte Verteidigung der Kantischen Transzendentalphilosophie gegen diese historistische Kritik verstehen. 25 

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das heißt autonomen Ja- oder Nein-Stellungnahmen. Weil die sprachliche Kommunikation über wechselseitig erhobene und auf Kritik angelegte Geltungsansprüche läuft, sind die Beteiligten dem Widerspruch von Gesprächspartnern ausgesetzt und können ihre Meinungen unter dem Überraschungsdruck negativer Erfahrungen aus Einsicht korrigieren. Diese Denkfigur der Sprache als Medium einer Welterschließung, die der Bewährung in Praktiken bedarf und Lernprozessen Spielraum gibt, unterläuft die starre transzendentale Unterscheidung zwischen einer weltkonstituierenden Tätigkeit und dem innerweltlich konstituierten Geschehen. Die grammatisch vorgeschossenen Kategorisierungen und Deutungen werden schon im Alltag und erst recht im Wissenschaftsbetrieb einer kontinuierlichen Bewährungsprobe unterzogen und im Zuge problemlösender Praktiken von den Beteiligten selbst einer Revision unterzogen. Über das kommunikative Handeln greifen Welterschließung und innerweltliche Lernprozesse ineinander. Die kommunikativ handelnden Subjekte sind an diesem Zusammenspiel – und damit implizit auch an der Reproduktion ihrer Lebenswelt – beteiligt. Zwischen der Lebenswelt, die kommunikatives Handeln ermöglicht, und einem fortlaufend getesteten lebensweltlichen Hintergrund, der im ungestörten Vollzug kommunikativen Handelns bestätigt, jedoch in der Folge von Problematisierungen und Lernvorgängen auch korrigiert werden kann, spielt sich ein Kreisprozess ein, worin das verschwundene transzendentale Subjekt keine Lücke hinterlässt. 26 Während die kommunikativ Handelnden an Reproduktion und Revision ihrer Lebenswelt beteiligt sind, bleiben sie in diese lebensweltlichen Kontexte gleichwohl eingebettet. (5) Am Ende des in groben Zügen skizzierten Weges »von den Weltbildern zur Lebenswelt« wartet die Ausgangsfrage, wie nun die fortschreitende Versachlichung unseres Bildes von der objektiven Welt zu verstehen ist, auf eine Antwort. Erweist sich am Ende auch das reflexiv zugängliche Wissen der performativ gegenwärtigen Lebenswelt als eine naturwissenschaftlich durchschaute Illusion, oder zieht die epistemische Rolle der Lebenswelt einer naturwissenschaftlich angelegten Revision des im Alltag operativen Selbstverständnisses vergesellschafteter Subjekte als lernender, rational motivierter und verantwortlich handelnder Personen Grenzen? Die kommunikationstheoretisch vollzogene Detranszendentalisierung der leistenden Subjektivität beschert uns das Konzept einer Lebenswelt, die den kommunikativ Handelnden als ein Ensemble von Ermöglichungsbedingungen performativ, jedoch nur solange und insoweit im Rücken bleibt, wie diese am Vollzug des jeweiligen Aktes beteiligt sind. Der lebensweltliche Hintergrund ist dem innerweltlichen Geschehen nicht grundsätzlich entzogen. Sonst könnten lebensweltliche Praktiken und Artefakte auch nicht als Entitäten in der Welt behandelt sowie zu Gegenständen der Humanwissenschaften bzw. der Philosophie gemacht werden. Was spricht dann aber gegen die Aussicht, den performativ gegenwärtigen Hintergrund unserer Praktiken vollständig, also einschließlich der Forschungs-

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J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 47 ff.

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praktiken selber, auf die Objektseite zu bringen, und dies in den Kategorien der – ihrer Art nach bekannten – Naturwissenschaften? 27 Es ist die bipolare Versachlichung, die uns am Ende des Weges von den Weltbildern zur Lebenswelt mit einem semantisch unüberbrückbaren epistemischen Dualismus, d. h. mit einem gespaltenen Bild von der objektiven Welt konfrontiert. Das humanwissenschaftliche Vokabular lässt sich nicht ans naturwissenschaftliche anschließen, Aussagen des einen Vokabulars lassen sich nicht in Aussagen des anderen übersetzen. Das Gehirn »denkt« nicht. 28 Wenn die semantische Kette reißt, lassen sich nicht einmal mehr die Entitäten der einen Ebene den Entitäten der anderen eineindeutig zuordnen. Aus der Sicht der skizzierten Weltbildentwicklung verliert dieser epistemische Dualismus seine Zufälligkeit. Wenn wir die objektive Welt als Gesamtheit physikalisch messbarer Zustände und Ereignisse konzipieren, nehmen wir eine versachlichende Abstraktion in der Weise vor, dass dem innerweltlichen Geschehen im Umgang mit manipulierbaren Gegenständen alle bloß »subjektiven« oder lebensweltlichen Qualitäten abgestreift werden. Dieses verliert alle Qualitäten, die ihm aus sonstigen Umgangserfahrungen (z. B. als Werkzeug oder Hindernis, als Gift oder Nahrung, als Behausung oder unwirtlicher Umgebung) »projektiv« anhängen. Auf der anderen Seite muss sich ein Interpret, der Zugang zu kulturellen Äußerungen, zu Handlungen, Texten, Märkten usw. sucht, wesentlich auf die Praktiken selbst einlassen, denen die lebensweltlich konstituierten Ausschnitte der Alltagswelt ihre besonderen Qualitäten verdanken. Die Interpretin schöpft dabei aus einem Vorverständnis, das sie auf der Basis einer Umgangssprache, das heißt als Teilnehmerin an einer kommunikativen Alltagspraxis und als Angehörige einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt vorgängig erworben hat. Aus dieser methodischen Bindung des geistes- und sozialwissenschaftlichen Beobachters an die Perspektive vorgängig eingeübter Praktiken erklärt sich auch die eigentümliche Dynamik, die aus diesen Wissenschaften selbst zu einer anderen Abstraktion als in den Naturwissenschaften drängt, nämlich zu einer Reflexion auf allgemeine Strukturen der Lebenswelt. Je weiter die lebensweltlichen Praktiken in ihrer funktional differenzierten, ihrer geschichtlichen und kulturellen Mannigfaltigkeit wissenschaftlich objektiviert  – und die beobachteten Praktiken ihrerseits verwissenschaftlicht  – werden, umso stärker drängen diese Analysen zum Übergang vom hermeneutischen zum rekonstruktiven Verstehen und zur Ausbildung eines nur noch reflexiv zu gewinnenden formalen Begriffs von Lebenswelt überhaupt.29 Die analytische Klärung von Hintergrund und Voraussetzungen kommunikativen Handelns erfordert eine Art der Reflexion, die nicht mehr Sache der Geistes- und Sozialwissenschaften selber ist. Für diese genuin philosophische Untersuchung bildet, wie ich bei der formalpragmatischen Einführung des Lebensweltkonzepts stillschweigend vorausgesetzt habe, das perfor27  Die Frage, ob sich das »ursprüngliche« ganz in das »wissenschaftliche Bild vom Mitmenschen« auflösen lässt, behandelt W. Sellars, »Philosophy and the Scientific Image of Man«. 28  M. Bennett, D. Dennett, P. Hacker, J. Searle, Neurowissenschaft und Philosophie 29  J. Habermas, »Rekonstruktive vs. Verstehende Sozialwissenschaften«.

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mative Bewusstsein sprechender und kommunikativ handelnder, kooperierender und in die Welt intervenierender, erlebender, kalkulierender und urteilender Subjekte die einzige Erfahrungsgrundlage.30 Husserl hat richtig gesehen, dass die fortschreitende wissenschaftliche Objektivierung der Alltagswelt komplementär zur Entzauberung der Natur und zur formalen Charakterisierung einer Lebenswelt nötigt, aus deren Horizont die Natur- und Humanwissenschaften einen jeweils eigenen Zugang zu ihren Objektbereichen finden. Aber nach der Detranszendentalisierung der Lebenswelt wird auch das Dilemma offenbar. Einerseits widerstreitet die natur- und humanwissenschaftliche Doppelperspektive einer tiefsitzenden Intuition. Denn selbst ein zur Kommunikationsvoraussetzung deflationierter Begriff der »objektiven Welt« fungiert immer noch als eine einheitsstiftende Idee. Die formalpragmatische Unterstellung einer für alle Beobachter identischen Welt beschreibungsunabhängig existierender Gegenstände suggeriert schon in der kommunikativen Alltagspraxis Einheit und Zusammenhang in der Mannigfaltigkeit der Entitäten, auf die wir uns intentional beziehen können. Die Vernunft ist »unzufrieden« mit einem ontologischen Dualismus, der in der Welt selbst aufbricht und nicht nur epistemischer Natur ist. Andererseits ist die bipolare Versachlichung Ergebnis einer eigensinnigen Weltbildentwicklung. Jene semantisch befestigte Doppelperspektive ist lebensweltlich tief verankert und zieht der naturalistischen Selbstobjektivierung des menschlichen Geistes konzeptuelle Grenzen.31 Eine Person würde sich unter einer noch so genauen naturalistischen Beschreibung weder als Person überhaupt noch als diese individuelle Person (als »sie selbst«) wiedererkennen können. Deshalb würden die paradigmatischen Naturwissenschaften den Anspruch einer monistischen Beschreibung, wenn sie überhaupt gelänge, nur auf eliminativem Wege, also durch Ausschluss, nicht durch Übersetzung des personalen Selbstverständnisses in eine objektivierende Sprache einlösen können. Aber würden sie dann noch eine inklusive Beschreibung dessen geben, was in der objektiven Welt vorkommt? (6) Auf das Dilemma, dass uns die Unterstellung einer objektiven Welt zu einer monistischen Beschreibung drängt, an der uns ein epistemischer Dualismus hindert, reagieren diejenigen, die in letzter Instanz allein den Naturwissenschaften das Monopol für gesellschaftlich anerkanntes Weltwissen einräumen, mit kompatibilistischen Argumenten.32 Sie möchten das naturwissenschaftlich monopolisierte Weltwissen vom lebensweltlich zentrierten Welt- und Selbstverständnis entkoppeln. Meine Einwände brauche ich hier nicht zu wiederholen. 33 Andere suchen am Leitfaden der objektbereichsspezifischen Grundbegriffe von Physik und Biologie, Psychologie und Humanwissenschaften nach den Konstitutionsbedingungen des Weltwissens in der Lebens-

L. Wingert, »Lebensweltliche Gewissheit vs. Wissenschaftliches Wissen«. L. Wingert, »Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung«. 32  M. Pauen, »Ratio und Natur«; zuletzt A. Beckermann, Gehirn, Ich, Freiheit. 33  Vgl. zur Kritik an der Position des Kompatibilismus vgl. J. Habermas, »Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen?«. 30  31 

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welt.34 Dann stellt sich über welterschließende Theoriesprachen, Methodologien und lebensweltliche Praktiken wiederum ein erkenntnistheoretischer Zusammenhang zwischen den objektsbereichsspezifischen »Weltauschnitten« her. Diese Strategie knüpft an Husserls wissenschaftskritische Fragestellung an, entledigt sich aber mit dem Rückgang auf Praktiken der Lebenswelt zugleich der Hypotheken eines transzendentalen Uregos. 35 Aber wie lassen sich die weltentwerfenden Praktiken selber noch als etwas in der Welt Vorkommendes denken? Weil sich die entworfenen Wahrheitsmöglichkeiten nur an einem uns kontingent widerfahrenden Geschehen bewähren können, müssen wir von einer Art Wechselwirkung zwischen unseren Praktiken und diesem Geschehen selbst ausgehen. Im Scheitern unserer Projekte zeigt sich diese Verbindung; ohne diese Konfrontation könnten wir nichts von der Welt lernen. Wer das ontologische Folgeproblem der erkenntnistheoretischen Wende als falsch gestellte Frage abweist und auch die Sprachstufen nicht im Sinne der Schichtenontologie Nicolai Hartmanns in die Realität selbst hineinprojizieren will, muss sich mit dem Plural von einigen tief verankerten welterschließenden Perspektiven abfinden; dann zerfällt die Welt selbst in den Partikularismus lebensweltlich relevanter Weltausschnitte. 36 Nach Lesart des Neopragmatismus begegnet uns das innerweltliche Geschehen je nach Vokabularen und Praktiken unter anderen funktionalen Aspekten unseres »Zurechtkommens« mit der Welt.37 Wer sich jedoch mit dem Beharren auf einer solchen detranszendentalisierten, aber gespaltenen Erkenntnissituation nicht zufrieden geben möchte, kann an dem schwarzen Loch der ontologischen Frage nach Herkunft und Existenz der Lebenswelt nicht verharren. Die meisten Optionen, die sich von hier aus anbieten, führen auf spekulative Wege. So kann man die eigentümliche ontische Bodenlosigkeit der Lebenswelt als Anknüpfungspunkt für eine Retranszendentalisierung und eine Vertiefung der transzenden-

A. Ros, Materie und Geist. Ich sehe den Vorzug des Erlangen / Marburger Konstruktivismus darin, dass er die pragmatische Dimension der Forschung als eines Handlungszusammenhangs ernstnimmt und die performativen Aspekte des Forschungshandelns rekonstruiert; vgl. P. Janich, »Naturwissenschaften vom Menschen versus Philosophie«, 45: »Die Einbeziehung der Vollzugsperspektive bildet de facto den wichtigsten Unterschied zwischen einer bloß deskriptiv verbleibenden Wissenschaftsphilosophie und den methodischen Rekonstruktionen in methodisch-kulturalistischen Ansätzen.« Siehe auch P. Janich, Kleine Philosophie der Naturwissenschaften; ders., Kultur und Methode. Allerdings ist die Einschränkung der gegenstandsbereichskonstitutiven Weltentwürfe auf »Zwecksetzungen« eine Engführung, die sich aus einer unzulässigen Reduktion des Sprachhandelns auf teleologisches Handeln erklärt. Der lebensweltliche Hintergrund kommunikativen Handelns ist wesentlich komplexer als der Hintergrund für Handlungen, die, wie Janich (siehe u. a. Naturalismus und Menschenbild, 47) sie allein in Betracht zieht, allein unter Gesichtspunkten der Zweckrationalität analysiert werden. Damit fällt das welterschließende Element der Sprache, dass Heidegger auf kosten innerweltlicher Lernprozesse verselbständigt hat, zugunsten einer Fichteanischen Betonung von voluntaristischen »Setzungen« unter den Tisch. 36  Zu diesen Ansätzen gehört auch die Theorie der Erkenntnisinteressen, die K. O. Apel und ich seinerzeit entwickelt haben. Vgl. auch C. Hubig / A. Luckner, »Natur, Kultur und Technik als Reflexionsbegriffe«. 37  R. Rorty, Philosophy and Social Hope. 34 

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talen Differenz nutzen – entweder für eine Ergänzung des nachkantisch ernüchterten philosophischen Welt- und Selbstverständnisses um eine religiöse Weltdeutung38 oder für eine Metaphysik nach Kant, die bei der Analyse des Selbstbewusstseins einsetzt und den Durchgriff auf ein kosmisch erweitertes Bewusstsein wagt.39 Wem diese Rückwendung zu Motiven der »starken«, in den Achsenzeit verwurzelten Traditionen nicht geheuer ist, dem bietet sich, wenn ich recht sehe, nur eine Alternative an – der Versuch, die Detranszendentalisierung der leistenden Subjektivität noch einmal im Sinne eines schwachen Naturalismus zu überbieten.40 Die Wiedergewinnung religiöser Erfahrungen, das religiös-metaphysische Einheitsdenken und der szientistische Naturalismus sind nicht die einzigen Wege, auf denen wir versuchen können, den epistemischen Dualismus mit einem ontologischen Monismus zu versöhnen. Nach der vorgeschlagenen kommunikationstheoretischen Lesart verschwindet die transzendentale Spontaneität der leistenden Subjektivität in den lebensweltlichen Praktiken, über die sich die Reproduktion der Lebenswelt mit den Ergebnissen innerweltlicher Lernprozesse verschränkt. Dieser Kreisprozess lässt sich gewiss auch an Vorgängen im sozialen Raum und in der historischen Zeit exemplifizieren. Aber diese Detranszendentalisierung ist nicht radikal genug, um aus der selbstbezogen rekonstruktiven Analyse der allgemeinen Strukturen möglicher Lebenswelten in eine andere Richtung auszubrechen – in Richtung einer evolutionären Entstehung von soziokulturellen Lebensformen überhaupt. Wir beschreiben ja die performativ bewussten und nur reflexiv, aus der Sicht eines Teilnehmers an lebensweltlichen Praktiken zugänglichen Strukturen der sprachlichen Kommunikation und ihres Hintergrundes mithilfe rationaler Rekonstruktionen allgemeiner Kompetenzen erkennender, sprechender und handelnder Subjekte. In erster Linie ermöglichen das intentionale Weltverhältnis, die gegenseitige Perspektivenübernahme, die Verwendung einer propositional ausdifferenzierten Sprache, instrumentelles Handeln und Kooperation die Lernprozesse einer vergesellschafteten Intelligenz. Am Ende möchte ich wenigstens in heuristischer Absicht die Frage nach der Möglichkeit einer empirisch angelegten Theorie aufwerfen, mit der ein in dieser Weise charakterisierter Geist seine naturgeschichtliche Genese so einholt, dass er sich darin wieder erkennen kann?41 Vielleicht bietet sich die Perspektive einer »Naturgeschichte des Geistes« an, weil wir unseren Blick nur unter den Erkenntnisbedingungen einer Komplementarität von Lebenswelt und objektiver Welt auf die natürlichen Entstehungsbedingungen dieser Komplementarität selber richten können. Aus evolutionärer Sicht erscheinen die philosophisch beschriebenen allgemeinen Strukturen der Lebenswelt als T. Rentsch, Gott; H. J. Schneider, Religion. D. Henrich, Denken und Selbstsein. 40  C. Demmerling, »Welcher Naturalismus?«. 41  Karl-Otto Apel spricht in diesem Sinne von einem Postulat der »Selbsteinholung des Geistes«. Diese Forderung verschärft Peter Janich (Naturalismus und Menschenbild, 41) zu einem methodischen Prinzip, wonach die »Naturwissenschaften vom Menschen« nur für die Ergebnisse Geltung beanspruchen dürfen, die mit dem Faktum vereinbar sind, dass diese Erkenntnisse von Menschen als forschenden Subjekten erzielt worden sind. 38  39 

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die empirischen Ausgangsbedingungen für beschleunigte kulturelle Lernprozesse. Die Aufgabe bestünde darin, die Konstellation von Eigenschaften, die diese Bedingungen erfüllen, naturgeschichtlich zu identifizieren und aus einer natürlichen Evolution zu erklären, die ihrerseits als »Lernprozess« begriffen wird. Die reflexiv, also »von innen« rekonstruierten allgemeinen Strukturen der Lebenswelt müssten sich wie die emergenten Eigenschaften anderer evolutionärer Stufen aus einer empirisch beschriebenen Ausgangskonstellation heraus »erklären« lassen. Eine solche Untersuchung, die eher im Archiv der Natur als im Labor stattfindet, müsste sich also von einer übergreifenden Theorie des Lernens leiten lassen. Diese dürfte freilich nicht in der Weise reduktionistisch angelegt werden, dass wir von vornherein an »unserem« performativ erworbenen Verständnis kultureller Lernprozesse Abstriche machen müssten.42 Solange die Theorie selbst nicht klarere Konturen annimmt, bleibt allerdings unklar, in welchem Sinne von »Emergenz« und »Erklärung« die Rede sein darf. Für eine solche Naturgeschichte des Geistes, die erlauben würde, die Erklärungsperspektive »von oben« an die »von unten« anzuschließen, könnten die Analysen des Zuwachses an grundbegrifflicher Komplexität, die wir an den Sprachstufen der Biowissenschaften, der Psychologie und der Humanwissenschaften beobachten, eine heuristische Rolle spielen.43 Natürlich schwebt ein solches Unternehmen in der Gefahr, eine metaphysisch angelegte Naturphilosophie bloß in ein nachmetaphysisches Gewand zu kleiden.

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Diese Bedingung begegnet dem von Hubig und Luckner (»Natur, Kultur und Technik als Reflexionsbegriffe«, 57) erhobenen Einwand, die Suche nach einer Natur und Kultur übergreifenden »Evolution« sei ein Rückfall auf ein »tiefer liegendes Reflexionsniveau«. 43  Der synthetische Materialismus von Arno Ros (Materie und Geist) scheint allerdings letztlich auf einen Perspektivismus der verwendeten Begriffssysteme hinauszulaufen, mit deren Hilfe wir dieselben Phänomene in jeweils engere oder weitere raumzeitliche Zusammenhänge einordnen können. 42 

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Öffentlicher Vortrag 4  ·  Jürgen Habermas

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Kolloquium 1 Das Arzt-Patient-Verhältnis im Wandel

Dieter Birnbacher Einführung Urban Wiesing Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-Patient-Verhältnis

Einführung Dieter Birnbacher

Man sollte bekanntlich Zufällen nicht allzu viel Bedeutung zuschreiben. Dennoch scheint es mir nicht abwegig, die Tatsache, dass das Kolloquium zur medizinischen Ethik im Programm des diesjährigen Philosophiekongresses an erster Stelle steht, auf dem Hintergrund des Kongressmottos als bedeutungsvoll zu sehen. Die Medizinethik ist sicher derjenige Zweig der anwendungsorientierten Philosophie, der außerhalb der Philosophie am meisten wahrgenommen wird und die meiste Aufmerksamkeit erregt. Das liegt an vielen Faktoren. Ein wichtiger Umstand ist, dass es in der Medizinethik fast durchweg um existenzielle Fragen mit weit reichenden gesellschaftlichen Auswirkungen geht. Ich verstehe die Einrichtung dieses Kolloquiums aber zugleich auch als ein Akt der Anerkennung der Arbeit, die in der deutschen Medizinethik in den letzten Jahren geleistet worden ist. Diese Arbeit ist in der Tat beachtlich. Fast alle Fragen der Bio- und Medizinethik sind in den letzten 20 Jahren im deutschen Sprachraum teils disziplinär, teils interdisziplinär bearbeitet worden, und weder der Umfang noch die Qualität des Geleisteten dürften  – gemessen an der Zahl der Beteiligten  – dem, was die angelsächsischen Länder beisteuern, nachstehen. Wie schnell die Expansion in diesem Bereich vonstatten gegangen ist, spiegelt sich sowohl in der schnell wachsenden Zahl der Lehrstühle für Medizinethik an den Medizinischen Fakultäten als auch in der zunehmenden Zahl der Veröffentlichungen und der von einigen Verlagen initiierten einschlägigen Sonderreihen. Im Hintergrund spielen dabei mehrere Entwicklungen eine Rolle: die Aufnahme medizinethischer Pflicht- bzw. Wahlpflichtkurse in das Curriculum der medizinischen Studiengänge (überwiegend in Gestalt eines integrierten Studienanteils »Theorie, Geschichte und Ethik der Medizin«); die starke Nachfrage nach interdisziplinären Veranstaltungen zur Bioethik bzw. bioethischen Einzelthemen in den Studiengängen für das Unterrichtsfach Philosophie bzw. Ethik / Praktische Philosophie; und das verstärkte Interesse an medizinethischen Themen auf Seiten der evangelischen und katholischen Theologie. Darüber hinaus offenbart bereits ein flüchtiger Blick in die Programme der Akademien und Volkshochschulen, dass der »Bioethik-Boom« – auch wenn sich die Themenschwerpunkte im Laufe der Jahre verschoben haben – nicht zum Erliegen gekommen ist. Kennzeichnend für die Medizinethik in Deutschland (wie auch im Ausland) ist ein hoher Institutionalisierungsgrad und das Vorherrschen dezidiert interdisziplinärer Arbeitsformen. So sind etwa in allen im Folgenden aufgeführten Institutionen Ethiker und Mediziner, aber durchweg auch Vertreter angrenzender Disziplinen an einschlägigen Projekten beteiligt:

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Kolloquium 1  ·  Dieter Birnbacher

Bad NeuenahrAhrweiler

Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen

Berlin

Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW)

Bochum

Zentrum für Medizinische Ethik e. V.

Bonn

Institut für Wissenschaft und Ethik e. V. (IWE)

Bonn

Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE)

Frankfurt / Oder

Interdisziplinäres Zentrum für Ethik (IZE)

Freiburg

Interdisziplinäres Ethik-Zentrum

Göttingen

Akademie für Ethik in der Medizin e. V., (AEM)

Halle

Interdisziplinäres Zentrum Medizin-Ethik-Recht der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Mannheim

Institut für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim (IMGB)

Münster

Centrum für Bioethik

Tübingen

Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)

Ein weiteres Kennzeichen der Medizinethik  – im Gegensatz zur Philosophie im allgemeinen – ist, dass viele ihrer Vertreter nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mitglieder von Genehmigungs- bzw. Beratungsinstitutionen und im weitesten Sinne als Politikberater tätig sind, etwa im Rahmen von Ethikkommissionen der Medizinischen Fakultäten bzw. der Landesärztekammern, Tierschutzkommissionen, den Kommissionen der Bundesärztekammer oder dem Deutschen Ethikrat. Während in diesen Gremien vor dreißig Jahren (sofern es sie gab) die Medizinethik nahezu ausschließlich von Theologen vertreten wurde, sind diese Positionen mittlerweile überwiegend durch philosophische Medizinethiker bzw. durch Medizinethiker mit medizinisch-philosophischer Doppelqualifikation besetzt worden. Im Gegensatz zu dieser positiven Bilanz ist allerdings weiterhin eine geringe Beachtung der deutschsprachigen Medizinethik im internationalen Raum zu beklagen. Deutsche Medizin­ethiker veröffentlichen anders als ihre niederländischen und skandinavischen Kollegen relativ wenig in englischer Sprache und spielen deshalb in vielen internationalen Debatten keine nennenswerte Rolle, obwohl sie zu diesen durchaus einen Beitrag leisten könnten. Anders ist dies in einigen nicht-angelsächsischen Sprachräumen wie etwa in Japan, wo auf dem Hintergrund eines ähnlichen Pluralismus der weltanschaulichen Rahmenbedingungen die deutschen Debatten mit großer Aufmerksamkeit

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verfolgt werden. Nicht nur wissen die japanischen Medizinethiker sehr viel besser über die hiesigen Kontroversen Bescheid als wir über die dortigen, sie übersetzen und diskutieren auch etwa die Stellungnahmen des Nationalen Ethikrats schneller, als wir sie hier zur Kenntnis nehmen. Stephen Toulmin ist u. a. für seinen Artikel How medicine saved the life of ethics von 1982 bekannt, in dem er meinte, dass der Ethik ohne die Medizinethik und ihre dauerhaft nachwachsenden Probleme die Probleme ausgehen würden. Das war von Anfang an eine Übertreibung. Die Ethik war keineswegs in einer so desolaten Lage, dass sie zu ihrem Überleben einer Wiederbelebungsmaßnahme bedurfte. Richtig ist allerdings, dass es der Medizinethik schon wegen des anhaltenden medizinisch-technischen Fortschritts an Problemnachschub nicht mangelt. Auch wenn man gelegentlich das Gefühl hat, dass gerade die kontroversesten Themen der Medizinethik (etwa um den Status des menschlichen Embryos oder die aktive Sterbehilfe) mehr oder weniger »ausdiskutiert« sind, sorgt doch der weiterhin rasante wissenschaftliche und technische Fortschritt dafür, dass die Medizinethik fortwährend durch neue – und gelegentlich völlig unerwartete – Fragen herausgefordert wird, gegenwärtig etwa Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung von Nanotechnologien im medizinischen Bereich, neuartigen Eingriffen ins Gehirn wie der Tiefenhirnstimulation und der Neurotransplantation, aber auch – auf einer abstrakteren Ebene – im Zusammenhang mit der zunehmenden kulturellen Durchmischung der Industriegesellschaften. Das Stichwort »interkulturelle Bioethik« verweist darauf, dass mit der zunehmenden interkulturellen Verflechtung sich die Medizinethik auch selbst zum Problem geworden ist. Kann die Medizinethik überhaupt mit Allgemeingültigkeitsanspruch sprechen oder ist sie an bestimmte kulturelle Traditionen gebunden, die zwar nicht eine Verständigung über die Kulturgrenzen hinweg, aber doch die Konsensfindung im interkulturellen Maßstab erschweren? Ähnlich grundsätzliche Fragen stellen sich angesichts der hochgradigen Öffentlichkeitswirkung der Medizinethik: Wie positioniert sich die Medizinethik – auf nationaler wie auf internationaler Ebene – gegenüber der Bio- und Medizinpolitik? Soll sie sich als rein akademische Disziplin verstehen, die sich ausschließlich an intellektuellen Maßstäben orientiert, oder soll sie auch in die gesellschaftliche Debatte eingreifen oder aktiv politisch werden? Worauf zielen ihre Stellungnahmen ab: auf die philosophische Einordnung möglicher Positionen, auf die Klärung von Lösungsmöglichkeiten im Sinne eines option presentation, auf moralische Appelle oder auf politische Forderungen? Und falls sie schon einmal im politischen Feld agiert, soll sie lediglich Grundlagen für die Entscheidungsfindung liefern, oder soll sie darüber hinaus die angesichts der Komplexität der Problemstellungen oftmals ratlosen politischen Akteure von der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung entlasten? Diese Fragen stellen sich nicht nur in der Theorie, sie stellen sich auch in der Praxis, zumindest der Praxis derjenigen Medizinethiker, die in der Politikberatung tätig sind und im allgemeinen auf wenig Verständnis stoßen, wenn sie sich bei substanziell normativen Positionen zurückhalten oder sich in Begriffsanalysen oder historische Rekapitulationen flüchten. Natürlich gibt es auch in diesem Bereich eine Reihe von bisher nicht befriedigend gelösten Problemen. Eins ist die ungeklärte disziplinäre Einordnung des Arbeitsgebiets,

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etwa bei Anträgen an die DFG. Hier wird gegenwärtig jedes Mal ad hoc entschieden, ob ein Antrag auf Forschungsförderung der Medizin oder der Philosophie zugeschlagen wird. Ein anderes ist die nachlassende Beteiligung des Nachwuchses professioneller Philosophen an medizinethischen Debatten. Obwohl viele medizinethische Probleme unverkennbare eine metaphysische Tiefendimension aufweisen (man denke etwa an Fragen im Zusammenhang mit der Menschenwürde, der Personenidentität oder der Definition von Leben und Tod), gibt es bei jüngeren professionellen Philosophen eine Tendenz, sich aus diesem Arbeitsgebiet zurückzuziehen, offensichtlich auch wegen der insgesamt ungünstigen Karrierechancen. Zwar werden gegenwärtig zunehmend medizinhistorische Lehrstühle in medizinethische umgewidmet, aber bei der Berufung wird doch zumeist auf medizinischen »Stallgeruch« Wert gelegt, so dass der philosophische Nachwuchs chancenlos bleibt. Ein Problem ist auch das Konfliktpotenzial, das darin liegt, dass die philosophische Medizinethik überwiegend prinzipieller und radikaler denkt als das Gros der Bevölkerung und die ärztlichen Standesvertretungen, so dass es hinsichtlich vieler Themen zu Konflikten zwischen philosophisch-ethischen Lösungsvorschlägen und standesethischen, standespolitischen und allgemein-politischen Auffassungen kommt. Viele aus der Philosophie kommende Medizinethiker, aber auch viele theologische Medizinethiker, die sich nur teilweise an die Positionen ihrer Kirche gebunden fühlen, nehmen bei umstrittenen Themen wie Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik und ärztliche Beihilfe zum Suizid liberalere Positionen ein als die Mehrzahl der Regierenden und der Volksvertreter in den Parlamenten. Insgesamt folgt die Biopolitik in Deutschland eher den in der theologischen als den in der philosophischen Medizinethik vorherrschenden Sichtweisen – was nicht heißt, dass diese in allen Fällen restriktiver sind als die in der philosophischen Ethik vertretenen. In einigen Bereichen, etwa der Ethik der Tierversuche, ist die philosophische Ethik im allgemeinen ihrerseits restriktiver als die Politik und legt strengere Maßstäbe an, als sie im geltenden Tierschutzgesetz vorgesehen sind. Konflikte der genannten Art zeigen sich auch in dem Bereich, der den Schwerpunkt unseres Kolloquiums bilden soll: das sich im Zeitverlauf wandelnde Arztbild. Während die Medizinethik seit ihrem Erblühen nach dem Zweiten Weltkrieg die Stärkung der Patientenselbstbestimmung – primär als Recht, gelegentlich auch als Pflicht – auf ihre Fahnen geschrieben hat, hängen viele Ärzte (besonders der älteren Generation) weiterhin einem hippokratischen Paternalismus an, für den das Wohl das Patienten und nicht sein Wille oberste Verpflichtung ist. So ist bekannt, dass Patientenverfügungen auch bei unzweifelhafter Gegebenheit ihrer Anwendungsbedingungen gelegentlich ignoriert werden, wenn sie von dem, was die ärztliche Indikation verlangt, allzu eklatant abweichen. Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, dass sich in dieser Beziehung gegenwärtig erhebliche Veränderungen vollziehen. Arztbilder sind generell nichts Statisches, das gegen den gesellschaftlichen Normwandel dauerhaft isoliert werden könnte. Eine »ärztliche Teleologie« im Sinne einer unhistorischen, über alle kulturellen Wandlungen hinweg konstanten Auffassung davon, was Ärzte dürfen und sollen, kann es nicht geben. Aber gerade die Notwendigkeit, bestimmte Rollenverständnisse immer wieder aufs neue gesellschaftlich auszuhandeln, ruft die Medizinethik auf den Plan. Was in

Einführung

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den Aufgabenbereich des Arztes fällt, und was nicht, bedarf je aufs neue einer medizin­ ethischen Reflexion. Auch wenn der Medizinethik letztlich keine irgendwie geartete Normsetzungsautorität zusteht, kann sie doch mehr oder weniger begründete Vorschläge machen, welche Aspekte des Arztbildes, weil sie sich bewährt haben, unverändert Bestand haben sollten und an welchen Modifikationen anzubringen sind.

Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-Patient-Verhältnis Urban Wiesing

1.  Einleitung Um das Kongress-Thema »Lebenswelt und Wissenschaft« exemplarisch zu veranschaulichen, eignet sich das Arzt-Patient-Verhältnis in besonderer Weise. Denn hier begegnen sich beide Bereiche auf ganz eigentümliche Art: In der Regel geht ein Patient aufgrund eines störenden Anlasses in seiner Lebenswelt und in seiner Leiblichkeit zu einem Arzt, der von seiner Ausbildung her deutlich von den Wissenschaften geprägt ist, vor allem den Naturwissenschaften. Dabei treffen ganz unterschiedliche Denkweisen und Interessen aufeinander. Hinzu kommt, dass die Medizin – zumindest nach dem Urteil zahlreicher Medizintheoretiker – an einem epistemologischen Selbstmissverständnis leidet. Nicht nur die im Grunde fremden Bereiche von Lebenswelt und Wissenschaft treffen aufeinander, sondern die Medizin neigt überdies zu unangemessenen Vorstellungen über ihren Status als Wissenschaft. Ich möchte das Zusammentreffen von Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-Patient-Verhältnis auf unvermeidbare und vermeidbare Spannungen, auf Quellen von Missverständnissen, auf Herausforderungen, auf Grenzen und auf Chancen hin untersuchen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist zwar auf der Seite des Arztes von den Naturwissenschaften geprägt, aber eben keines, das zu den Objekten der Naturwissenschaft gehört. Es ist seinerseits ein Objekt der Kommunikationswissenschaften, der Psychologie etc., und als ein Ausdruck von Kultur wäre es ein Objekt der Kulturund Sozialwissenschaften sowie – in normativer Hinsicht – der Ethik. Auch das Wissenschaftsverständnis der Medizin und die Passung von lebensweltlicher Störung und institutionalisierter Störungsbewältigung sind keine exklusiven Themen der Medizin, sondern berühren auch die Philosophie der Medizin. Deshalb gilt für mein Thema in Abwandlung einer bekannten Vorsichtsregel: »Bei Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Philosophen.« Die Spannungen zwischen den lebensweltlichen Herausforderungen und den Antworten der Wissenschaften sind auch für die Medizin durchaus bekannt und aus zahlreichen Perspektiven beschreiben worden. Zudem kenne ich keine Philosophie oder Theorie der Medizin, die schlicht damit zufrieden wäre, dass sich ein Arzt ausschließlich als Wissenschaftler versteht. Seitdem sich die Medizin an den Naturwissenschaften orientiert, werden auf der einen Seite die Erfolge gefeiert, auf der anderen Seite jedoch die Unzulänglichkeiten beanstandet. Man kann einen großen Teil der kritischen Medizintheorie des 19.  und 20.  Jahrhunderts auch als Versuch verstehen, die fehlenden Passungen von Lebenswelt und Wissenschaft in der Medizin zu diagnostizieren und zu

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behandeln.1 Dabei wird deutlich, dass man die Problematik mit verschiedensten Herangehensweisen aufarbeiten kann. Hier sei ein Weg gewählt, der vom lebensweltlichen Anlass ausgeht und die durch Wissenschaft geprägten Entscheidungswege der Medizin untersucht; es seien also vorwiegend medizintheoretische Aspekte thematisiert.

2.  Die Lebenswelt des Patienten als Anlass für einen Arztbesuch Die Initiative zur Aufnahme eines Arzt-Patient-Verhältnisses geht zumeist vom Patienten aus und hat ihren Ursprung in der Lebenswelt und der Leiblichkeit des Patienten. Es ist in der Regel ein Fall von Unwohlsein oder Kranksein, der Anlass zum Arztbesuch gibt. Gesundsein und Kranksein sind »keine neutralen Vorkommnisse«, sondern Weisen der Existenz, die ganz unvermittelt »als positiv bzw. negativ erlebt werden«2 . Kranksein hat dabei lebensweltlich einen anderen Status als Gesundsein, insofern es in besonderer Weise hervortritt, sich aufdrängt und das gewohnte Leben verändert. Indem die »lebensweltliche Handlungsroutine«3 unterbrochen ist und Selbstverständlichkeiten verschwinden, liegt etwas eigentümlich Störendes, Aufdringliches und Aufforderndes im Kranksein und Unwohlsein. Kranksein ist eine Unstimmigkeit, während das Gesundsein in der Regel mit einer gewissen Selbstvergessenheit einhergeht, nicht weiter auffällt, deswegen häufig erst bemerkt wird, wenn es fehlt. »Die Grundtatsache bleibt, daß die Krankheit und nicht die Gesundheit das sich selbst Objektivierende, d. h. sich entgegenwerfende, kurz, das aufdringliche ist.«4 Gadamer spricht deswegen auch von der »Verborgenheit der Gesundheit«5. Diese Eigenschaften des Krankseins hat niemand treffender mit Humor dargestellt als Wilhelm Busch. Er hat am Beispiel der Zahnschmerzen im »Balduin Bählamm – der verhinderte Dichter« den Verlust des Sorglosen, die aufdringliche Störung der Lebensroutine und den auffordernden Charakter des Krankseins wie folgt beschrieben: »Das Zahnweh, subjektiv genommen, Ist ohne Zweifel unwillkommen; Doch hat’s die gute Eigenschaft, Dass sich dabei die Lebenskraft, Die man nach außen oft verschwendet, Auf einen Punkt nach innen wendet, Und hier energisch konzentriert. Kaum wird der erste Stich verspürt, Kaum fühlt man das bekannte Bohren, 1  Einen Überblick verschafft D. v. Engelhardt / H. Schipperges: Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert. 2  G. Pöltner: »Sorge um den Leib – Verfügen über den Körper«, 4. 3  C. -F. Gethmann, »Vielheit der Wissenschaften – Einheit der Lebenswelt«, 361. 4  H. G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, 137. 5  Ebd.

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Das Rucken, Zucken und Rumoren – Und aus ist’s mit der Weltgeschichte, Vergessen sind die Kursberichte, Die Steuern und das Einmaleins. Kurz, jede Form gewohnten Seins, Die sonst real erscheint und wichtig, Wird plötzlich wesenlos und nichtig. Ja, selbst die alte Liebe rostet – Man weiß nicht, was die Butter kostet – Denn einzig in der engen Höhle Des Backenzahnes weilt die Seele, Und unter Toben und Gesaus Reift der Entschluß: Er muß heraus!«6 Der letzte Satz betont noch einmal die Aufforderung zum Handeln, zum Verändern, die vom Schmerz ausgeht, und diese Eigenschaft des Schmerzes besitzt in der Regel auch das Kranksein. Insofern bilden unmittelbare Phänomene der Lebenswelt und Leiblichkeit eines Menschen, der Verlust »jeder Form gewohnten Seins«, den natürlichen Ausgangspunkt der Anfragen nach medizinischen Bemühungen. Ohne ein herausforderndes Ereignis in der Lebenswelt eines Menschen, in dessen Leiblichkeit, würde eine Disziplin wie die Medizin vermutlich gar nicht existieren  – sicher nicht in der jetzigen Form. Medizin ist eine Disziplin, die auf offensichtlich als problematisch, als störend erachtete, zur Handlung auffordernde Phänomene (»Er muss heraus«) in institutionalisierter Weise reagiert. Dies Gesagte gilt auch für einen Arztbesuch aus präventiven Gründen und für die Behandlung eines durch Zufall entdeckten, klinisch noch unauffälligen Befundes, der nach ärztlicher Erfahrung zu einem lebensweltlich störenden Ereignis werden wird. Hierbei dient einem Menschen, der sich gesund fühlt, die kognitive Vorwegnahme eines störenden lebensweltlichen Ereignisses als Motivation sowie die Hoffnung, dieses Ereignis verhindern zu können. Die Prävention ergibt nur einen Sinn durch einen auf Erfahrung basierenden, antizipativen Bezug auf ein lebensweltlich störendes, herausforderndes Ereignis. 3.  Die Antwort der Medizin Kranksein als Ereignis der Lebenswelt und der Leiblichkeit ist von einer ursprünglichen Evidenz und – wie sich zeigen wird – gegen eine wissenschaftliche Thematisierung in gewisser Weise »widersetzlich«7. Wie antwortet die Medizin auf einen Menschen, der sich aus vorgenannten Gründen an einen Arzt wendet und Veränderung seines Zustandes wünscht? Das geschieht in verschiedener Hinsicht: Die Medizin versucht, –– eine Diagnose zu stellen und darauf aufbauend eine Therapie durchzuführen, 6  7 

W. Busch, Sämtliche Werke, 542. H. G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, 97.

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–– die jeweiligen Zustände fern der individuellen Fälle in unterschiedlichen Krankheitsentitäten zu beschreiben, diese ihrerseits in einer Nosologie zu klassifizieren und –– alle Zustände, die als Krankheit gelten, unter einer allgemeinen Definition zusammenzufassen. Diese Antworten der Medizin seien im Folgenden unter der Leitfrage untersucht, was dabei mit dem lebensweltlichen Phänomen ›Kranksein‹ geschieht. Im Übrigen ist Nachfolgendes im Grunde seit den 20er Jahren des vorherigen Jahrhunderts bekannt, insbesondere durch die Schriften von Richard Koch, und wurde in den 70er und 80er Jahren unter anderem von Wolfgang Wieland erneut auf überzeugende Weise thematisiert.

4.  Eine allgemeine Definition von Krankheit Die Medizin steht allgemein gesprochen vor der Aufgabe, zu klären, welche Menschen sie  – deren Zustimmung sei einmal vorausgesetzt  – behandeln soll. Die Medizin als institutionalisierte Antwort zur Bewältigung einer Störung muss eine Eingrenzung vornehmen, um ihren Auftrag nicht ausufern zu lassen. Menschen, die beispielsweise unter Liebeskummer, Armut oder Arbeitslosigkeit leiden, sollen nicht von der Medizin behandelt werden, solange sich dieses Leiden nicht psychisch oder physisch in einer Krankheit manifestiert. Zudem soll die einfache Selbstzuschreibung, die Askription »Ich bin krank«, nicht hinreichen, um sozial finanzierte Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, und damit die nach wie vor weit überwiegende Mehrheit der medizinischen Dienstleistungen. Das lebensweltlich initiierte und durch Selbstzuschreibung bekundete Ersuchen8 eines Patienten allein ist zwar zu allermeist notwendig, aber nicht hinreichend für medizinische Interventionen. Es sollen – zumindest sozial finanziert – nur Menschen behandelt werden, die an einer objektiv beschreibbaren Krankheit leiden. So schreibt SGB V § 27, Abs. 1 Krankenbehandlung folgendes vor: »Versicherte haben Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.« Insofern stellt sich die Frage, was ist – allgemein gesprochen – ›Krankheit‹. Doch damit hat sich die Medizin von der Frage nach dem ›Kranksein‹ entfernt, und die Frage nach ›Krankheit‹ aufgeworfen. Die Medizin bewegt sich bereits weg vom lebensweltlichen Phänomen hin zu einer Abstraktion, um von da aus Eingrenzungen vorzunehmen. Denn man kann krank sein, ohne an einer Krankheit zu leiden, bzw. die Medizin fasst dies dann wieder in eine Krankheit, z. B. Hypochondrie, oder verlegt sich auf nichts sagende, aber kompliziert klingende Begriffe wie »vegetative Dystonie«. Die Medizin hat stets versucht, objektive Maßstäbe dafür zu finden, welche Untergruppe von Menschen Die Argumentation gilt auch für einen bewusstlosen Patienten, in dem man den mutmaßlichen Willen und die mutmaßliche Selbsteinschätzung anführen kann. 8 

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sie behandeln soll – übrigens zu früheren Zeiten und in Ausnahmefällen9 auch heute ohne deren Zustimmung. Sie will situationsfern eine allgemeine Definition von Krankheit festlegen, um damit den Kreis derer, die verändert werden sollen, einzugrenzen. Doch damit steht sie vor nicht unerheblichen theoretischen Problemen. Denn eine allgemeine Definition von Krankheit, die auf ungeteilte Zustimmung hoffen darf, ist trotz umfangreicher Literatur bisher niemals gelungen. Die Geschichte der Definitionsversuche von Krankheit10 ist so gesehen wohl »eine Leidensgeschichte«11, und ein Ende ist nicht in Sicht. »So treten die Auseinandersetzungen darüber, was Krankheit eigentlich sei, auch heute immer noch auf der Stelle.«12 Erstaunlicherweise findet diese Diskussion fast nur unter Theoretikern statt, die medizinischen Praktiker interessieren sich dafür kaum. Die Antworten auf die Frage, was ist eine Krankheit, waren historisch gesehen sehr vielfältig, und sie bestanden im Wesentlichen darin, diese Zustände anhand eines oder mehrerer Kriterien zu beschreiben, die ein bestimmtes Verhältnis des Patienten zur Welt oder bestimmte innerorganismische oder intrapersonale Verhältnisse benennen. Dazu zählen die zahlreichen Versuche, über die Modelle des Schadens, der Entgleisung, der Normwidrigkeit, des Ungleichgewichts, der mangelnden Harmonie, der spezies­ typischen Funktion oder ähnliche nach einem umfassen­den Kriterium für eine allgemeine Definition von Krankheit zu suchen. Sie haben an den grundsätzlichen Schwierigkeiten nichts geändert. Denn mit den aufgezählten Modellen der Abweichung hat man längst ein Kriterium herangezogen, das nicht so ohne weiteres einer reinen Beschreibung der Natur zu entnehmen ist; dementsprechend hat »man das, was man definieren wollte, dem Sinn nach bereits vorausgesetzt«13. Kurzum: Die allgemeinen Definitionen von Krankheit über derartige Modelle drohen allesamt, auf zirkulärer Argumentation zu basieren. Auch die Versuche, über die Methoden der Naturwissenschaften, über Statistik und Abweichungen, eine unstrittige allgemeine Definition von Krankheit zu finden, sind gescheitert. Wer diesen Ansatz trotzdem nutzt, läuft auch hier Gefahr, Zuschreibungen gegen das lebensweltliche Selbstverständnis eines Menschen vorzunehmen. Wie sagte schon Richard Koch: »Das Nicht­normale ist nicht schlechthin krank. Es wird auf die Ganz­heit, Beseeltheit und Lebendigkeit bezogen und ist abhängig davon, unter Um­ ständen belanglos oder zweck­mäßig.«14 Dass die Ambitionen scheitern, Krankheit anhand eines Kriteriums in Bezug auf eine bestimmte Relation zur Welt verbindlich zu definieren, hatte bereits Friedrich Nietzsche in seinen Ausführungen zur Gesundheit angedeutet: »Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich mißraten. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deiWichtigste Ausnahmen sind die Zwangsbehandlung und Quarantäne im Seuchenfall sowie die psychiatrische Zwangseinweisung. Beide sind durch Gesetz geregelt. 10  Eine eindrucksvolle Liste von Versuchen liefert K. E. Rothschuh, Was ist Krankheit?; siehe auch Caplan et al., Concepts of Health and Disease und G. Khushf, »Expanding the Horizon of Reflection on Health Care and Disease«. 11  R. Koch, »Die ärztliche Diagnose. Beitrag zur Kennt­n is des ärztli­chen Denkens«, 130.  12  W. Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik, 38. 13  W. Wieland, »Grundlagen der Krankheitsbetrachtung«, 50. 14  R. Koch, »Der Begriff der Medizin«,28.   9 

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ne Irrtümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit gibt es unzählige Gesundheiten des Leibes.«15 Insbesondere das derzeit deutlich artikulierte Selbstverständnis von Behinderten basiert auf solchen Vorannahmen. Auch sie betrachten ihr biologisches Sosein nicht als eine Krankheit, sondern als eine »besondere Form von Gesundheit«16, als eine mögliche Variante menschlichen Seins.17 Gadamer hat diese Gedanken weitergeführt und demgemäß die Frage gestellt, wer denn überhaupt berechtigt ist, eine Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit vorzunehmen; seine These: »Es ist eine pragmatische Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit, zu der keiner eingeladen ist, außer dem, der selber in der Lage des Sich-krank-Fühlens ist oder der mit der Besorgung seines Lebens nicht mehr fertig werden kann und deswegen schließlich zum Arzt geht.«18 Dies steht in Einklang mit den anthropologischen Untersuchungen von Günter Pöltner, der den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bei den menschlichen Existenzweisen nimmt: »Gesundsein und Kranksein sind in erster Linie Existenzweisen des Menschen. Weisen, wie er seine Welt-Offenheit vollbringt und sich von dem in Anspruch nehmen läßt, was in seiner Welt zum Vorschein kommt. Deshalb gibt es keine Definition dieser Begriffe, unter die sich problemlos die einzelnen Fälle subsumieren ließen.«19 Diese Einsichten stehen freilich in einem Spannungsverhältnis zu den Ambitionen von Wissenschaft und zu pragmatischen Erfordernissen der medizinischen Praxis. Einer Wissenschaft ist nun einmal von Haus aus daran gelegen, situationsferne objektivierbare Allgemeinbestimmungen vorzunehmen. Wäre ein ausschließlich subjektivistisches Empfinden als Kriterium nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend, um ärztliche Interventionen zu initiieren, zu legitimieren und zu finanzieren, würde dies eine Erweiterung der ärztlichen Tätigkeit darstellen, die durchaus fragwürdig und vor allem nicht finanzierbar wäre. Die Medizin begrenzt sich in der Regel auf körperliche und seelische Krankheiten, nicht auf jede Form von Unwohlsein. Die Medizin will ihren Auftrag eingrenzen, indem sie nicht nur auf Seinsweisen und Selbstzuschreibungen reagiert, sondern auf bestimmte, deskriptiv beschreibbare Zustände. Doch eine Eng15  F. Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, Nr. 120; siehe dazu F. Vonnessen, »Gesund, Gesundheit«. 16  Kölner Manifest, »Vom Recht auf Anderssein«, 149. 17  Auch die Definition der UN-Konvention von 2006 versucht, vom Krankheitsmodell weg zu kommen und das Zusammenspiel von Beeinträchtigung und gesellschaftlicher Teilhabe in den Mittelpunkt zu rücken: »Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.« (Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2006) 18  H. G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, 200. 19  G. Pöltner, »Sorge um den Leib – Verfügen über den Körper«, 65. In diesem Sinne mindert Laufs die juristische Bedeutsamkeit der Unterscheidung: »Die Versuche, Gesundsein und Kranksein begrifflich eindeutig zu trennen, blieben alle unbefriedigend; sie können nur den Rahmen abstecken für die Verständigung zwischen dem Patienten, dem Arzt und der Solidargemeinschaft.« A. Laufs, Arztrecht, 12.

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führung an der Frage »Liegt hier eine Krankheit vor?« läuft Gefahr, dem lebensweltlichen Selbstverständnis eines Patienten nicht gerecht zu werden. In dem Versuch, eine allgemeine Definition von Krankheit zu erlangen, liegt ein typischer Fall von Spannung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, insofern, wie es Gadamer ausdrückt, »durch die moderne Wissenschaft und ihr Ideal der Objektivierbarkeit uns allen […] eine gewaltige Verfremdung zugemutet wird«20. In mehrfacher Hinsicht: Die Medizin kann dazu neigen, 1. Menschen ohne ›Krankheit‹ nicht zu behandeln, 2. die Reaktionen auf das Unwohlsein unangemessen auf eine ›Krankheit‹ zu fokussieren und 3. Menschen, die sich gesund fühlen, aber an einer ›Krankheit‹ leiden, behandeln zu wollen. Welcher Ausweg aus dem Dilemma zwischen lebensweltlicher Subjektivität und wissenschaftlicher Verfremdung wäre gangbar? Die Medizin will mit der allgemeinen Definition von Krankheit die Gruppe der Menschen festlegen, die sie behandeln soll. Damit stellt sich aber die Frage, ob eine allgemeine Definition von Krankheit nicht einen – möglicherweise verlustreichen – Umweg darstellt, wenn es zu entscheiden gilt, welchen Zustand man ärztlicherseits verändern will. Wozu bedarf es dann überhaupt einer allgemeinen Definition von Krankheit, wenn mit einer solchen Definition von Krankheit moralische Sachverhalte bestimmt werden – diese Personen sollen wir sozial finanziert behandeln – und wenn sich die moralischen Aspekte treffender mit moralischen Argumenten klären lassen? Sollte man nicht normative Begründungen anführen, wenn man die Frage beantworten will, »was soll nicht sein?« und welche ärztliche Änderung eines Zustandes »kann gerechtfertigt werden«? Für den Verzicht auf die Frage »Was ist Krankheit?«, für einen Verzicht auf eine kryptonormative, allgemeine Definition von Krankheit und für die gleichzeitige Klärung der Frage »Was soll ein Arzt verändern?« spricht die Einsicht, dass die Ethik anderenfalls in ihrer Zuständigkeit beschnitten zu werden droht. Denn die ethischen Reflexionen in der Medizin kämen zu spät, »würde[n] sie ihre Aufgabe nur darin sehen, Normen für den Umgang mit kranken Menschen zu legitimieren, und dabei die Krankheiten als gleichsam vorgegeben auf sich beruhen zu lassen«21. Will man also die Ethik in ihrer Funktion nicht unangemessen beschränken und ethische Argumente verschleiern, muss man direkt fragen. Welche Krankheitsdefinition ist moralisch vertretbar, oder – und das wäre mein Vorschlag  – man sollte noch konsequenter vorgehen: Man sollte auf eine allgemeine Krankheitsdefinition verzichten und man sollte direkt fragen: Welche Menschen in welchen Zuständen soll man durch ärztliche Intervention verändern?22 Dies läuft auf eine zurückhaltende Orientierung an der Frage hinaus, was ist Krankheit. Auch diese Einsicht ist nicht neu, sondern bereits von Richard Koch beschrieben: »Die Frage lautet nun nicht mehr, was ist Krankheit, sondern welcher Erkenntnis bedarf der Arzt als Voraussetzung des ärztlichen Handelns. Diese Umstellung der Frage erwies sich als fruchtbar.«23 H. G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, 95. W. Wieland, »Grundlagen der Krankheitsbetrachtung«, 51. 22  Vgl. U. Wiesing, »Kann die Medizin als praktische Wissenschaft auf eine allgemeine Defini­tion von Krankheit verzichten?« 23  R. Koch, »Die ärztliche Diagnose. Beitrag zur Kenntnis des ärztlichen Denkens«, 496. 20  21 

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Es sei nicht verschwiegen, dass mit einem Verzicht auf eine allgemeine Definition von Krankheit bestimmte Fragen schwerer zu beantworten sind, so bei den Grenzziehungen für ärztliches Handeln. Warum, so ließe sich fragen, sollen sich Ärzte auf die Behandlung von Unwohlsein begrenzen, das durch Veränderungen hervorgerufen wird, die »in eine gemeinsame Endstrecke natürlicher somatischer Prozesse einmünden«24, also auf durch Krankheiten hervorgerufenes Unwohlsein? Die daraus folgenden Probleme sind kompliziert, aber nicht unlösbar. Sie erlauben zudem individuellere Vorgehensweisen und man sollte sie daher in Kauf nehmen, um fehlende Passungen zwischen Wissenschaft und Lebenswelt zu mindern. Hierzu sei auf eine Differenzierung von Dieter Birnbacher hingewiesen, der vorschlägt, in der Krankenbehandlung zwischen »Zielstandards«, »Mittelstandards« und »Solidaritätsstandards«25 zu unterscheiden und die jeweils Zuständigen bei der Festlegung zu benennen. Zudem sei ergänzt, dass die Praktiker längst in ähnlicher Weise verfahren und sich keineswegs strikt an der Zuschreibung »Der Patient hat eine Krankheit« orientieren. 26

5.  Die Diagnose Diese Spannungen zwischen Lebenswelt und Wissenschaft werden ein weiteres Mal sichtbar, wenn man genau betrachtet, wie die Medizin weiter in ihrer Entscheidungsfindung verfährt. Dies sei nicht chronologisch verstanden in dem Sinne, dass zunächst die allgemeine Bedingung geklärt wird und dann die spezielle Krankheitsentität gesucht wird. Neben der allgemeinen Zuschreibung »krank« oder »hat eine Krankheit«, hat die Medizin die unterschiedlichen Zustände in zahlreichen Einzelentitäten beschrieben und diese wiederum in Nosologien zusammengefasst, die ihrerseits deutlich von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt sind. In der Nutzung dieser Krankheitsentitäten ergeben sich Spannungen zur Lebenswelt des Patienten in mehrfacher Hinsicht. 1. Der unendlichen Vielzahl von Zuständen, die ein Mensch jeweils individuell einnehmen kann, steht eine endliche Zahl von wissenschaftlich geprägten Krankheitsentitäten gegenüber. Es ist keineswegs zwingend, dass ein Zustand eines Menschen angemessen unter eine dieser Entitäten oder eine Kombination von ihnen fällt, sondern es besteht die Gefahr, individuelle Aspekte des Krankseins zu ignorieren. 2. Die Medizin ist in dem Glauben, aus der Zuordnung zu einer solchen Entität die Handlungsanweisungen zu erlangen, die ein Arzt braucht. Dies ist aber genau betrachtet nicht der Fall.

W. Wieland, Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik. 37. Vgl. D. Birnbacher, »Krankheitsbegriff, Gesundheitsstandards und Prioritätensetzung in der Gesundheitsversorgung«. 26  Vgl. U. Wiesing / M. Werner, »Krankheitsbegriff und Mittelverteilung«. 24 

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Das sei im Folgenden erläutert: Die einzelnen Krankheitsbegriffe, wie sie von der medizinischen Wissenschaft gebildet werden, sind funktional, »um nicht jedesmal von Neuem eine Problemlösung erfinden zu müssen«. Medizin ist schließlich auch den »situationsdistanzierten Problemlösungen« verpflichtet, »die auch über den jeweiligen Tag und Ort hinaus verwendbar sind«27. Von daher sind sie unverzichtbar. Ihr Gebrauch birgt freilich auch Gefahren. Diese liegen vor allem darin, dass ein Arzt glaubt, eine fachgerechte ärztliche Diagnose bestehe in der Zuschreibung einer Krankheitsentität an einen Patienten, in dem Sinne: Patient X hat die Krankheit Y. Dies ist aus mehreren Gründen unangemessen. Zunächst, weil Krankheitsentitäten theoretische Konstrukte von Ärzten sind, ge­ ronnene Erfahrung aus vorherigen Fällen. Nichts in der Welt garantiert, dass mit der Zuweisung dieser theoretischen Entität an einen Patienten dessen individueller Situation Rechnung getragen wird. Und wenn im Sinne einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit des Vorgehens ausschließlich aus dieser Zuschreibung einer Entität an einen Patienten die Information zur Handlung entnommen wird, dann können zahlreiche Informationen, die nicht in dem Begriff einer bestimmten Krankheit einfließen, nämlich alle individuellen Informationen, nicht zu einer ärztlichen Entscheidung beitragen. Wie sagte schon Koch: »Es bleibt ein Fehler, wenn das erkannte Gemeinsame [zusammengefasst in der Abstraktion einer Krankheitsentität] nicht durch das erkannte Besondere ergänzt wird«28. Zur ärztlichen Diagnose gehört mehr als die Subsumtion des Falles unter einen Krankheitsbegriff, nämlich alle relevante Information über den Patienten. »Die Diagnose ist also ein Ausdruck für die Summe der Erkenntnis, die den Arzt zu seinem Handeln und Verhalten veranlaßt.«29 Gleichwohl komme die Medizin nicht umhin – so auch Richard Koch –, die Vielzahl der individuell kranken Menschen zu klassifizie­ren. Für Koch sind die Entitäten »Fiktionen« (in Anlehnung an Hans Vai­hingers »Philosophie des Als-Ob«)30. Koch lehnt es nicht rund­weg ab, die Fiktion verschiede­ner »Krankheiten« zu bilden, über »Krankheiten« an sich zu sprechen und Wissen zu diesen Entitäten zu sammeln. Nur müsse man sich im Klaren sein, dass es sich bei »Krankheiten« um Fiktionen han­dele, die allein durch die Verallgemeine­rung stets den individuellen Kranken zu einem gewissen Maße verfehlten. Kochs Aussage aus den frühen 20er Jahren geht einher mit der von Gethmann, dass die »als Störungsbewältigungsinstrumente unter dem Gesichtspunkt der Invarianz ausgebildeten Wissensformen«31 eben nicht automatisch zur Störungsbewältigung angemessen sind. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie mit der Fiktion der verschiedenen »Krankheiten« umzugehen sei? Wie kann man Patienten vor »diagnostischem Unrecht«32 bewahren? Kochs Antwort:

27  28  29  30  31  32 

C. -F. Gethmann, »Vielheit der Wissenschaften – Einheit der Lebenswelt«, 361. R. Koch, »Irrtümer der allgemeinen Diagnostik«, 59. R. Koch, Die ärztliche Diagnose, 70. Vgl. R. Koch, Das Als-Ob im ärztlichen Denken. C. -F. Gethmann, »Vielheit der Wissenschaften – Einheit der Lebenswelt«, 368. R. Koch, »Irrtümer der allgemeinen Diagnostik«, 61.

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»[…] es ist bald zweckmäßig, den [Krankheits-]Begriff bei der Behandlung von Kranken und anderen ärztlichen Betätigungen so zu benutzen, als ob er der Natur ganz entspräche, bald ist es zweckmäßiger, diese Fiktion mehr oder weniger aufzulösen, und sich in seinem Verhalten enger an die einzelnen Kranken selbst zu halten.«33 Wie das wissenschaftliche Wissen so stehe auch der Umgang mit einer Krankheitsentität in einem rein instrumentellen Verhältnis zur Ausrichtung der Medizin – und nicht umgekehrt.34 Alles, was die Medizin oder ein Arzt an Verallgemeinerungen oder Abstraktionen vornähmen, müsste letztlich wieder dem Einzelnen dienen. Die instrumentelle Funktion kommt auch den zahlreichen Krankheitsnamen und entsprechenden Krankheitsentitäten der Medizin zu. Damit relativiert sich die Funktion einer Zuschreibung einer bestimmten Krankheitsentität im Entscheidungsprozeß eines Arztes unter pragmatischen Gesichtspunkten. Zum erfolgreichen Handeln könne ein Arzt zuweilen – so Koch  – sogar darauf verzichten, eine bestimmte Krankheitseinheit seinem Patienten zuzuschreiben. »Es scheidet sich also […] Diagnosebegriff und Krankheitsbegriff. Diagnostiziert wird nicht ein Krankheitsbegriff, sondern der Zustand eines einzelnen.«35 Man kann diesen medizintheoretisch entscheidenden Satz eben auch als einen Versuch verstehen, die Spannungen zwischen Lebenswelt und Wissenschaft zu verringern. Nur so kann die Medizin ihre Aufgabe individuell erfüllen. Alle anderen Vorgehensweisen und eine Fixierung des ärztlichen Handelns auf Krankheitsbegriffe verfehlen die Ausrichtung der Medizin  – der Arzt würde nicht mehr eine individuelle Person, sondern eine abstrakte Fiktion behandeln. Der Umgang mit Krankheitsbegriffen unterliegt – im instrumentellen Sinne – einzig dem Kriterium, »wie weit die Fiktion der Krankheit dem ärztlichen Zwecke förderlich ist«36.

R. Koch, Ärztliches Denken, 1. Dies geht einher mit Ergebnissen von C. -F. Gethmann in »Zur Amphibolie des Krankheitsbegriffs«, die vor allem aus der sprachanalytischen Unterscheidung zwischen Askription und Deskription gewonnen wurden: Die Medizin könne nicht auf die Bildung deskriptiver, überindividueller Krankheitsbegriffe verzichten, allein um der Entgrenzung und mangelnden Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens entgegenzuwirken, die droht, wenn sie sich einzig an der Askription von Kranksein orientieren würde. Gleichwohl plädiert er für einen umsichtigen Umgang, indem er darauf verweist, dass die »situationsinvariante Verstehbarkeit« von Krankheit als »praktisches Verhältnis interpretiert wird«. Er fordert: »Die Krankheit muss als ein praktisches, überindividuell verständliches Phänomen erscheinen.« (A. a. O., 111) 35  R. Koch, Die ärztliche Diagnose, 70; siehe auch W. Wieland, Diagnose. 36  R. Koch, Die ärztliche Diagnose, 498; siehe auch R. Koch, Das Als-Ob im ärztlichen Denken. 33 

34 

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Kolloquium 1  ·  Urban Wiesing

6.  Das epistemologische Selbstmissverständnis und seine Folgen All diese Probleme gehen einher und verkomplizieren sich mit einem wissenschaftstheoretischen Missverständnis, zu dem die Medizin seit ihrer Zuwendung zu den Naturwissenschaften neigt. Das macht es doppelt kompliziert: Wenn das lebensweltliche Phänomen des Krankseins auf eine von Wissenschaft geprägte, institutionalisierte Antwort stößt, ist das bereits komplikationsträchtig genug. Bei einem unangemessenen Wissenschaftsverständnis der Medizin erhöht sich die Problematik und die Gefahr des Misslingens noch einmal. Wie sieht das Missverständnis aus? Im Rahmen der – mit einiger Verspätung erfolgreichen – Orientierung an den Naturwissenschaften glaubte die Medizin, selbst eine Naturwissenschaft zu werden und ihre ganzen Kräfte in diese Richtung bündeln zu sollen. In der uneingeschränkt fortschrittsgläubigen und euphori­schen Gewissheit, das letzte und endgültige Selbstverständnis der Medizin gefunden zu haben, verschrieb man sich spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dem Ziel, nicht nur Anatomie und Physiologie, sondern auch die klinische Medizin zu einer Wissenschaft nach dem Vorbild der Naturwissenschaften umzugestalten. Dass dies aus wissenschaftstheoretischen Gründen unangemessen ist, lässt sich mit wenigen Argumenten belegen: 1. Die Naturwissenschaften haben ihren Erfolg bekanntermaßen auch dadurch erreicht, dass sie zahlreiche Fragen in ihrer Tätigkeit ausgeblendet haben, so die Frage nach Sinn, den Zielen, der Moral … . In der Medizin sind diese Fragen aber stets virulent. 2. Die Naturwissenschaften haben ihren Erfolg ebenso durch strickte methodische Beschränkung erreicht. Das Geschehen in der Medizin ist hingegen so vielfältig, dass eine solche methodische Beschränkung unangemessen ist. 3. Das Ziel der Naturwissenschaften ist Erkenntnisgewinn, das der klinischen Medizin hingegen ist effektive Handlung zum Nutzen des Patienten. All diese Argumente scheinen in der euphorischen Orientierung der Medizin an den Naturwissenschaften nicht weiter beachtet worden zu sein. Der häufig als Kompromiss angebotene Begriff, die Medizin sei eine ›angewandte Naturwissenschaft‹, ist unglücklich, da er die Umsetzungsprobleme zwischen Wissen und Handeln trivialisiert. Zumal das Produkt einer Anwendung von Naturwissenschaft nicht wieder Naturwissenschaft sein kann. Seit wann wird eine Tätigkeit durch den genutzten Wissensbestand zu der Art von Disziplin, die den Wissensbestand ermittelt? Man sollte die Medizin treffender als eine praktische Wissenschaft bezeichnen. 37 Warum kann man dieses epistemologische Missverständnis nicht auf sich beruhen lassen, warum bleibt es virulent? Der Medizin als Naturwissenschaft lag die Hoffnung zugrunde, dass Wissen von ganz besonderer Qualität direkt das Han­deln des Arztes in dem Sinne beeinflussen könne, dass es die Eigenschaften des Wissens annehmen Siehe neben den Werken von Wieland und Koch auch C. -F. Gethmann, »Heilen: Können und Wissen«; U. Wiesing, Wer heilt, hat Recht? 37 

Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-Patient-Verhältnis

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würde, nämlich sicher, präzise und reproduzierbar zu sein. Gleichzeitig sollte damit der Erfolg der Medizin eintreten. Erfolgreich ist die Medizin durch die Orientierung an den Naturwissenschaften ohne Zweifel geworden, doch sie ist praktisch geblieben, und die ärztliche Tätigkeit von Präzision und Mathematisierbarkeit weit entfernt. Die Nutzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse führte eben keineswegs dazu, dass die praktische Medizin eine Naturwissenschaft wurde. Die Medizin musste im Laufe des 20. Jahrhunderts einsehen, dass zentrale Begriffe ihrer Tätigkeit wie Gesundheit, Krankheit, Leiden, Unwohlsein etc. niemals ganz naturwissenschaftlich eingeholt werden konnten, sondern immer auf weitere Facetten des menschlichen Lebens verwiesen. Die ärztliche Praxis blieb immer auch mit Aspekten der Lebenswelt ihrer Patienten konfrontiert, die die Naturwissenschaften nicht zu erklären vermochten. Ferner erwies sich der Monopolanspruch der Naturwissenschaften auf Wissenschaftlichkeit als unhaltbar. An vielen Punkten ließen sich die Spannungen, die das Selbstverständnis der Medizin als vermeintliche Naturwissenschaft in der viel komplexeren, auch andere Dimensionen einnehmenden Wirklichkeit mit sich brachte, nicht mehr verdecken. 38 Wo lagen und wo liegen die Gefahren eines falschen wissenschaftstheoretischen Selbstverständnisses? Die als positiv gewerteten Eigenschaften der Naturwissenschaften können einen unangemessenen Eigenwert in der Medizin bekommen. Sie können mit ungerechtfertigten Hoffnungen verknüpft werden, die Probleme und Eigenheiten praktischer Tätigkeiten bemänteln, andere thematische Schwerpunkte und methodische Denkweisen ausklammern und damit letztlich die Entfremdung zwischen lebensweltlichem Ereignis und von Wissenschaft geprägter Antwort vergrößern. Zudem kann die genuine Aufgabe der Medizin durch Ignoranz gegenüber dem Praktischen in Vergessenheit geraten  – im Extremfall bis zu einem therapeutischen Nihilismus, der ja historisch auch explizit gefordert wurde. Wenn die Medizin ihren Heilauftrag zugunsten wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens vergisst, drohen ihre Intentionalität, ihr Heilauftrag und der individuelle Fall aus dem Blickwinkel zu verschwinden; Victor v. Weizsäcker sprach zu Recht von einem »törichtem Hyperlaboratismus«39. Für die Patienten ist es nahe liegend, in der Wissenschaft ein Mittel zur Kontingenzbewältigung zu sehen. Die Eigenschaften naturwissenschaftlichen Wissens und die Bedeutung, die Naturwissenschaften in unserer Zeit zugestanden werden, sind für einen Kranken in der Situation der Bedrohung durch Krankheiten verständlicherweise attraktiv. Gilt doch eine wissenschaftliche Medizin allermeist als eine erfolgreiche Medizin, und wer wüsste Präzision in der Bewältigung einer existenziellen Bedrohung nicht zu schätzen? Dies kann freilich zu unrealistischen Erwartungen bezüglich der Entscheidungswege und der Erfolge führen, die ihrerseits Enttäuschungen vorprogrammieren. Damit kann eine unangemessene Auswahl von Maßnahmen einhergehen, weil diagnostische und therapeutische Verfahren mit hohem wissenschaftlichem Innovationsfaktor gesucht werden, ohne dass dem Patienten damit geholfen wäre. Denkweise und Eigenschaften der Wissenschaft müssen eben nicht zwingend dienlich für die Be38  39 

Vgl. U. Wiesing, Wer heilt, hat Recht? V. v. Weizsäcker, »Über Gesinnungsvitalismus«, 23.

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Kolloquium 1  ·  Urban Wiesing

wältigung lebensweltlicher Probleme sein, können aber die Erwartungen und Präferenzen der Patienten unangemessen beeinflussen. Ähnliches ergibt sich bei den Ärzten durch eine Auswahl der Therapien nach wissenschaftlichem Prestige und nicht nach praktischem Erfolg, durch Ausblenden von Aspekten der Medizin, die sich nicht mit den Methoden der Naturwissenschaften erforschen lassen, sowie durch die Denkweise, die sich an einer mit wissenschaftlichen Methoden ermittelten Krankheitsentität als Diagnose orientiert. Es wäre unterkomplex, die Spannungen und Unangemessenheiten zwischen Lebenswelt und Wissenschaft einzig dem wissenschaftstheoretischen Selbstmissverständnis zuzuschreiben. Es wäre unredlich, deren Verschwinden mit dem Besinnen der Medizin auf ihre praktische Verpflichtung und der Entwicklung einer angemessenen klinischen Methodologie zu prognostizieren. Selbst wenn sich die klinische Medizin als praktische Wissenschaft verstehen würde, ihrer genuinen praktischen Verpflichtung deutlicher bewusst wäre und unangemessene Vorgehensweisen und Erwartungen abstreifen würde, bliebe ein Spannungsfeld. Die Differenz zwischen subjektiven Erleben und wissenschaftlich geprägter, institutionalisierter Antwort ist allemal unvermeidlich. Gleichwohl verbleibt die Forderung nach einer reflektierten klinischen Methodologie, die sich mit dem genuin praktischen in der ärztlichen Tätigkeit beschäftigt. Beim Thema »Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-Patient-Verhältnis« bestätigt sich die bekannte Einsicht, dass »die Antworten der Wissenschaften nicht in funktionaler Korrespondenz zu den Fragen der Lebenswelt«40 stehen. Jedenfalls ist keine Wissenschaft denkbar, die ihren Namen verdient, die keinerlei Vermittlungsprobleme mit der Lebenswelt eines kranken Menschen aufgeben würde. Eine andere als die lebensweltliche Perspektive ist für jeden Arzt in gewissem Maße unverzichtbar. Es wäre einerseits töricht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Behandlung außen vor zu lassen, andererseits sind sie nicht hinreichend und gleichermaßen präfigurierend. Man kann diese Spannungen nur reduzieren, indem man sich der Umsetzungsprobleme von wissenschaftlichem Wissen in begründetes Handeln widmet – man kann sie aber nicht eliminieren. Die Spannungen zwischen Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-PatientVerhältnis sind partiell vermeidbar, aber als solche unvermeidbar. Um sie zu reduzieren bedarf es der reflektierten Aufgeklärtheit der Medizin. Immanuel Kant hatte schon Recht: Die Medizin bedarf der institutionalisierten Selbstreflexivität, einer Instanz, die »die eigentümlichen Lehren oder Gebote« der Medizin nicht »zum Inhalt, sondern zum Gegenstand ihrer Prüfung und Kritik, in Absicht auf den Vorteil der Wissenschaften macht« (Streit der Fakultäten, A 27).

40 

C. -F. Gethmann, »Vielheit der Wissenschaften – Einheit der Lebenswelt«, 351.

Lebenswelt und Wissenschaft im Arzt-Patient-Verhältnis

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Literatur Birnbacher, Dieter: »Krankheitsbegriff, Gesundheitsstandards und Prioritätensetzung in der Gesundheitsversorgung«, in: A. Brand / D. v. Engelhardt / A. Simon / K. -H. Wehkamp (Hgg.) Individuelle Gesundheit versus Public Health? Münster 2002, 152–163. Busch, Wilhelm: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Rolf Hochhuth. Bd. II, 9. Aufl., München 1999. Caplan, Arthur L. / Engelhardt, H. Tristram Jr. / McCartney, James J. (Hgg.): Concepts of Health and Disease. Interdisciplinary Perspectives, London / Amsterdam / Don Mills / Sydney / Tokyo 1981. Engelhardt, Dietrich v. / Schipperges, Heinrich: Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert. Darmstadt 1980. Gadamer, Hans Georg: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1993. Gethmann, Carl-Friedrich: »Vielheit der Wissenschaften  – Einheit der Lebenswelt«, in: Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.). Einheit der Wissenschaften. Forschungsberichte 4, Berlin 1991, 349–371. Gethmann, Carl-Friedrich: »Heilen: Können und Wissen. Zu den philosophischen Grundlagen der wissenschaftlichen Medizin«, in: J. P. Beckmann (Hg.): Fragen und Probleme einer medizinischen Ethik. Berlin New York 1996, 68–93. Gethmann, Carl Friedrich: »Zur Amphibolie des Krankheitsbegriffs«, in: A. GethmannSiefert / K. Gahl / U. Henkel (Hgg.): Wissen und Verantwortung. Bd. 2: Studien zur medizinischen Ethik, Freiburg i. Br. 2005, 105–114. Khushf, George: »Expanding the Horizon of Reflection on Health Care and Disease«, in: The Journal of Medicine and Philosophy 20 (1995), 461–473. Koch, Richard: Die ärztliche Diagnose. Beitrag zur Kenntnis des ärztlichen Denkens, 2. Aufl., Wiesbaden 1920. Koch, Richard: »Die ärztliche Diagnose. Beitrag zur Kennt­nis des ärztli­chen Denkens«, zweite umgearbeitete Auflage [Selbstanzeige], in: Annalen der Philosophie 2, (1920 / 21), 496–498. Koch, Richard: Ärztliches Denken. Abhandlungen über die phi­losophischen Grundlagen der Medizin. Mün­chen 1923a. Koch, Richard: »Irrtümer der allgemeinen Diagnostik«, in: J. Schwalbe (Hg.): Irrtümer der allgemeinen Diagnostik und Therapie, sowie deren Verhütung. Leipzig 1923b, 46–85. Koch, Richard: Das Als-Ob im ärztlichen Denken. München 1924. Koch, Richard: »Der Begriff der Medizin«, in: Philosophische Grenzfragen der Medizin. (= Vorträge für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig, Bd. 3) Leipzig 1930, 9–31. Kölner Manifest: »Vom Recht auf Anderssein«, abgedruckt in: T. Neuer-Miebach / R. Tarneden (Hgg.): Vom Recht auf Anderssein. Anfragen an pränatale Diagnostik und humangenetische Beratung, Marburg / Düsseldorf 1994, 148–149. Laufs, Adolf: Arztrecht. 5. Aufl., München 1993.

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Kolloquium 1  ·  Urban Wiesing

Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. II, Darmstadt 1994. Pöltner, Günter: »Die anthropologischen Grundlagen ärztlichen Handelns«, in: K. -F. Wessel (Hg.): Herkunft, Krise und Wandlung der modernen Medizin. Bielefeld 1994, 52–69. Pöltner, Günter: »Sorge um den Leib  – Verfügen über den Körper«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 54 (2008), 3–12. Rothschuh, Karl Eduard (Hrsg.): Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung, Darmstadt 1975. Sozialgesetzbuch V (http: / / www.sozialgesetzbuch-bundessozialhilfegesetz.de / _buch / sgb_v. htm). Vonnessen, F.: »Gesund, Gesundheit«, in: J. Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, 559–561. Weizsäcker, Victor v.: »Über Gesinnungsvitalismus«, in: Klinische Wochenschrift 2 (1923), 30–33. Wieland, Wolfgang: Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie. Berlin / New York 1975. Wieland, Wolfgang: »Grundlagen der Krankheitsbetrachtung«, in: R. Gross (Hg.): Geistige Grundlagen der Medizin, Berlin / Heidelberg / New York / Tokyo 1985, 42–55. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen http: / / files.institutfuer-menschenrechte.de / 437 / UN_BK_Konvention_Internet-Version_FINAL.pdf, 3.2.2009. Wieland, Wolfgang: Strukturwandel der Medizin und ärztliche Ethik. Philosophische Überlegungen zu Grundfragen einer praktischen Wissenschaft, Heidelberg 1986 Wiesing, Urban: »Kann die Medizin als praktische Wissenschaft auf eine allgemeine Definition von Krankheit verzichten?«, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 44 (1998), 83–98. Wiesing, Urban: Wer heilt, hat Recht? Über Pragmatik und Pluralität in der Medizin. Stuttgart 2004. Wiesing, Urban / Werner, Micha: »Krankheitsbegriff und Mittelverteilung – Thesen zur Bedeutung des Krankheitsbegriffs für die Zuweisung und Begrenzung solidarisch finanzierter, medizinischer Dienstleistungen«, in: A. Brand / D. v. Engelhardt / A. Simon / K. -H. Wehkamp (Hgg.): Individuelle Gesundheit versus Public Health? Münster 2002, 144–151.

Kolloquium 2 Technik und Leben

Armin Grunwald Einführung: »Technik und Leben – zur neuen philosophischen Aktualität eines klassischen Themas« Mathias Gutmann Leben und Technik Christoph Hubig Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt. Neue Herausforderungen für eine Technikethik als Ermöglichungsethik John Dupré What Is Natural About Human Nature?

Einführung: »Technik und Leben – zur neuen philosophischen Aktualität eines klassischen Themas« Armin Grunwald

1.  Einführung Der Technikbegriff ist in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Philosophie geraten. ›Technik‹ als Reflexionsbegriff zu verstehen, Technik als Medium menschlicher Lebensbewältigung und der Welterkenntnis zu konzeptualisieren, Technik handlungstheoretisch oder gesellschaftstheoretisch zu deuten, und die Grenzen zwischen Technik und dem Lebendigen zu thematisieren, ist Gegenstand von Publikationen, Workshops und Projekten geworden.1 Technik und Leben werden in der geistesgeschichtlichen Tradition und in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als Gegensätze gedacht. Leben als das ›von selbst‹ Wachsende2 und Technik als das nach menschlichen Zwecken Gemachte erschienen (und erscheinen) vielfach als kategorial verschieden. Pate steht die auf Aristoteles zurück gehende Abgrenzung des Technischen als Reich der menschengemachten Mittel (techne), genauer der hergestellten Artefakte3 gegenüber dem Reich der vorfindlichen Natur. Die These von der Technik als Gegennatur4 verschärft diese klassische Gegenüberstellung. Die klassische Technikphilosophie5 stellt auf gemachte Artefakte und ihre Rolle für Mensch und Gesellschaft ab, während sie Bezüge zum Leben nicht herstellte. Angesichts aktueller Entwicklungen in naturwissenschaftlicher Forschung und technikwissenschaftlicher Programme wie etwa der Nanobiotechnologie6 oder der ›technischen Verbesserung‹ des Menschen7 ist jedoch die klassische Grenze zwischen Technik und Leben nicht mehr so ohne Weiteres aufrecht zu erhalten. Vielmehr wird sie angesichts zunehmender Grenzüberschreitungen in beiden Richtungen zum Gegenstand philosophischer Reflexion. Diese erfordert einen Dreischritt: die begriffliche Bestimmung von ›Technik‹, die Klärung des Terminus ›Leben‹ sowie die Klärung des beiderseitigen Verhältnisses. Im Kolloquium »Technik und Leben« des deutschen Philosophiekongresses 2008 standen vor diesem Hintergrund die Abgrenzung zwischen bzw. das Verhältnis von Technik und Leben im Mittelpunkt. Die drei Beiträge näherten Vgl. A. Grunwald / Y. Julliard, »Technik als Reflexionsbegriff – Überlegungen zur semantischen Struktur des Redens über Technik«; Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen I. 2  Vgl. N. Karafyllis, »Biofakte. Grundlagen, Probleme und Perspektiven«. 3  P. Janich, Logisch-pragmatische Propädeutik, 48. 4  Vgl. G. Ropohl, Technologische Aufklärung, 51 ff. 5  Vgl. F. Rapp, Analytische Technikphilosophie. 6  VDI, Nanobiotechnologie I. 7  M. C. Roco / W. S. Bainbridge, Converging Technologies for Improving Human Performance. 1 

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Kolloquium 2  ·  Armin Grunwald

sich dieser Thematik in unterschiedlichen Perspektiven und nahmen vor allem sprachphilosophische, anthropologische, erkenntnistheoretische und ethische Argumente in Anspruch. In diesem Einführungsbeitrag werde ich vor allem auf die philosophischen Herausforderungen eingehen, welche sich aus dem aktuellen naturwissenschaftlich-technischen Forschritt an der Grenze zwischen Technik und Leben ergeben. Dabei geht es vor allem darum, Fragen zu stellen und einige Thesen zu riskieren. Dies erfolgt zu den drei Themenfeldern:8 –– Vom Leben für die Technik lernen? Erwartungen an die Bionik (Kap. 2) –– Leben technisch herstellen? Der Anspruch der Synthetischen Biologie (Kap. 3) –– Den Menschen technisch verbessern? (Kap. 4) Hierzu werden im Folgenden jeweils kurze thematische Einführungen gegeben, gefolgt von einer kurzen Reflexion.

2.  Bionik: Leben als Vorbild für Technik? In der Bionik wird Wissen über Strukturen, Prozesse und Eigenschaften lebender Systeme auf technische Systeme übertragen. Bionik bezeichnet eine Forschungsrichtung, die ein technisches Erkenntnisinteresse verfolgt und die auf der Suche nach Problemlösungen, Erfindungen und Innovationen Wissen aus der Beobachtung und Analyse lebender Systeme heranzieht. Die Bionik will, wie dies häufig metaphorisch ausgedrückt wird, mit wissenschaftlichen Mitteln von ›der Natur‹ für technische Problemlösungen lernen.9 Bionik beansprucht vielfach, natürlichere, naturnähere oder besser angepasste Technik zu realisieren. Gewünschte Eigenschaften wie Einpassung in die natürlichen Kreisläufe, Risikoarmut, Fehlertoleranz und Umweltverträglichkeit könnten, so die Hoffnung, mit Bionik besser realisiert werden könnten als mit traditioneller Technik: »der normative Gehalt der Bionik bezieht sein Versprechen auf bessere, ökologischere, angepasstere Lösungen aus dem Hinweis auf die evolutionäre (Jahrmillionen währende) Optimierung und Erprobtheit der biologischen Vorbilder«.10 Als rationale Argumente für diese Erwartungen wird auf Eigenschaften von Problemlösungen in natürlichen lebenden Systemen hingewiesen, wie multi-kriterielle Optimierung unter variablen Randbedingungen im Laufe der Evolution, Nutzung des Vorhandenen oder geschlossene Stoffkreisläufe.11 Mit diesen Argumenten kann zwar Die Überlegungen in diesem Beitrag gehen auf frühere Arbeiten des Autors zurück und fassen sie unter der Fragestellung des Kolloquiums »Technik und Leben« zusammen (vgl. A. Grunwald, »Bionik – naturnähere Technik oder technisierte Natur?«; A. Grunwald, Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft).   9  W. Nachtigall, Bionik. 10  A. von Gleich et al., Bionik, 29. 11  A. a. O. 30 ff.   8 

Einführung

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plausibel gemacht werden, dass bionische Problemlösungen entsprechende Potentiale haben. Ob diese Potentiale aber auch im Einzelfall realisierbar sind und unter welchen Umständen dies gelingen kann, ist damit, so eine erste These, jedoch nicht ausgesagt. Denn eine evolutionäre Optimierung in der Natur erfolgt unter anderen Kriterien und Bedingungen als sie für eine technische Problemlösung in der modernen Gesellschaft relevant sind. Die Übertragung des Wissens, das an lebenden Systemen gewonnen wurde, in eine technische Umgebung, ist ein nicht trivialer Vorgang, der die Potentiale der Bionik zunichte machen oder sogar in Risiken transformieren kann.12 Weiterhin ist zu fragen, in welcher Perspektive Bionik auf Natur blickt. Hier handelt es sich, so eine weitere These, nicht um einen Blick, in dem Natur als Natur mit all ihren Facetten wahrgenommen würde. Vielmehr interessiert Natur in der Bionik nicht als Natur, sondern als Vorbild für technische Problemlösungen. Damit bedarf die Bionik eines technischen Blicks auf die Natur und ihrer technomorphen Modellierung, um von eben dieser überhaupt lernen zu können. Das Verhältnis der Bionik zur Natur ist daher, falls diese Thesen zutreffen, durch eine doppelte Ernüchterung gekennzeichnet, die den eingangs genannten Erwartungen entgegengehalten werden muss:13 (1) der Anspruch, dass eine bionische Technik per se umweltverträglicher und risikoärmer sei, kann nicht aufrechterhalten werden, (2) zeigt sich, dass Bionik Natur unter einem technischen Blickwinkel betrachtet, sie technomorph modelliert und dadurch in gewisser Weise technisiert. Dies mindert nicht die Bedeutung der Bionik als Quelle technischer Ideen und Anwendungsmöglichkeiten. Aber es schiebt euphorischen Deutungen einen Riegel vor. Die Mühsal einer Technikfolgenabschätzung im Detail und des Umgangs mit möglichen Risiken wird auch durch Bionik nicht gemildert.14 Philosophische Reflexion besteht hier letztlich in einer sprach- und erkenntniskritischen Rekonstruktion der Bionik ›als Versprechen‹ und damit in einer Dekonstruktion dieses Versprechens.15

3.  Auf dem Weg zur technischen Herstellung von Leben Die Synthetische Biologie16 kann als ein Teilgebiet der Nanobiotechnologie aufgefasst werden,17 welche wiederum eine Fortführung der Molekularbiologie mit nanotechnologischen Mitteln ist. Erkenntnisse der Nanobiotechnologie können genutzt werden, um neue Funktionalitäten lebender Systeme durch Modifikationen von natürlichen Biomolekülen, durch Modifikationen am Design von Zellen oder durch das Design von künstlichen Zellen zu erzeugen. Charakteristisch ist in allen Definitionen der Synthetischen Biologie die Hinwendung zu künstlichen Formen des Lebens, entweder neu

12  13  14  15  16  17 

A. Grunwald »Bionik – naturnähere Technik oder technisierte Natur?« A. Grunwald, a. a. O. So auch letztlich A. von Gleich et al. Bionik, 32. Vgl. Gutmann in diesem Band. H. de Vriend, Constructing Life. VDI, Nanobiotechnologie I.

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Kolloquium 2  ·  Armin Grunwald

konstruiert oder durch Umgestaltung existierenden Lebens erzeugt und je mit einer spezifischen Nutzenerwartung versehen. Der Ausgangspunkt der Synthetischen Biologie ist, Einheiten lebender Systeme als komplexe technische Zusammenhänge zu modellieren. Mittels eines technomorphen Blicks auf das Leben werden die Funktionszusammenhänge des Lebens in einfachere technische Zusammenhänge zerlegt.18 Wäre diese sozusagen noch eine analytisch-technische Biologie, so wird sie zu einer synthetischen dann, wenn das Wissen um einzelne Vorgänge des Lebens so kombiniert und genutzt wird, dass im Ergebnis bestimmte erwünschte Eigenschaften an lebenden Systemen gezielt realisiert werden können: »Seen from the perspective of synthetic biology, nature is a blank space to be filled with whatever we wish«.19 Auf diese Weise wird die Grenze zwischen technisch verändernden Eingriffen in Lebewesen (die damit zu Biofakten werden)20 und ihrer technischen Erzeugung fließend. In der synthetischen Biologie wird der Mensch vom Veränderer des Vorhandenen zum Schöpfer von Neuem, jedenfalls nach den Zukunftsvisionen einiger Biologen: »In fact, if synthetic biology as an activity of creation differs from genetic engineering as a manipulative approach, the Baconian homo faber will turn into a creator«. 21 Das traditionelle, naturwissenschaftlich geprägte Selbstverständnis der Biologie, das auf ein Verstehen der Lebensvorgänge zielt, wird in der Synthetischen Biologie22 zu einer Neukonstruktion von Natur auf der Basis des Wissens über das ›natürliche‹ Leben. Biologie wird dadurch von einer Wissenschaft vom Leben, wie sie dies im Namen führt, zu einer technischen Wissenschaft 23 mit einer Dualität von Erkennen und Gestalten, die unter dem Primat der Gestaltungsziele steht wie in den klassischen Technikwissenschaften 24 und wo »[…] the pre-existing nanoscale devices and structures of the cell can be adapted to suit technological goals.«25 Die Natur wird als Ingenieur begriffen, deren Leistungen es gelte nachzubauen zum Zwecke der Steigerung der menschlichen Eingriffs- und Neugestaltungsmöglichkeiten. Bereits aus diesen eher episodischen Betrachtungen ist ersichtlich, dass die Synthetische Biologie tief greifende Fragen nach dem Verhältnis von Technik und Leben provoziert: »Additionally, synthetic biology forces us to redefine ›life‹. Is life in fact a cascade of biochemical events, regulated by the heritable code that is in (and around) the DNA and enabled by a biological machinery? Is the cell a bag of biological components that can be redesigned in a rational sense? Or is life a holistic entity that has metaphysical dimensions, rendering it more than a piece of rational machinery?«26 In der Syntheti‹deconstructing life›, nach H. de Vriend, Constructing Life. J. Boldt / O. Müller, »Newtons of the leaves of grass«, 388. 20  Vgl. N. Karafyllis, Biofakte. 21  J. Boldt / O. Müller, »Newtons of the leaves of grass«, 387. 22  P. Ball, »Synthetic biology for nanotechnology«; C. R. Woese, »A New Biology for a New Century«. 23  H. de Vriend, Constructing Life. 24  G. Banse et al., Erkennen und Gestalten. 25  P. Ball, »Synthetic biology for nanotechnology«, R1. 26  H. de Vriend, Constructing Life, 11. 18 

19 

Einführung

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schen Biologie dürfte der reduktionistische Standpunkt vorherrschende Meinung sein: Leben sei nichts weiter als eine besondere Form des technisch Zugänglichen, das nun, mit nanotechnologischen Mitteln, endlich auf der molekularen Ebene ‹verstanden‹, nachgebaut und für eigene Konstruktionen verwendet werden könne. Mit Statements der Art »While machinery is a mere collection of parts, some sort of ›sense of the whole‹ inheres in the organism«27 wird jedoch auch der holistische Standpunkt vertreten. In der Debatte zur Synthetischen Biologie kommt es damit zu einer Neuauflage der Diskussion zum Verhältnis zwischen Technik und Leben anhand der Positionen von Reduktionismus und Holismus, an die philosophische Analyse anknüpfen kann. Andere Anknüpfungspunkte sind begriffliche Fragen, ob und unter welchen Bedingungen überhaupt von einem technisch hergestellten Leben gesprochen werden könne. Der Begriff des Lebens gehört zu den Kernbegriffen in Anthropologie, Biologie und Philosophie und ist, wie Kernbegriffe in der Regel, semantisch kontrovers. Leben als in der Natur vorfindliche Form der Existenz von Lebewesen und ihrer Entwicklung und als nur zu einem Teil menschlichem Einfluss zugänglich (z. B. durch Züchtung) ist vielfältigen Deutungen ausgesetzt. Gerade das zunehmende Maß der menschlichen Eingriffsmöglichkeiten in Lebewesen motiviert begriffliche Debatten, so jüngst im Kontext der Biofakte. 28 Dort wurde ›Leben‹ notwendig mit ›Wachstum‹ aus einem ›Trieb‹, einer inhärenten Notwendigkeit heraus verbunden und geschlossen, dass es künstliches Leben gar nicht geben könne: »Von der These, dass man ›Leben‹ als Artefakt erzeugen kann, kann man sich mit dem Hinweis, dass Aggregation nicht Wachstum und Gestalt nicht Habitus ist, verabschieden.«29 Dieses Diktum ernst genommen, wären z. B. ethische Herausforderungen zum Umgang mit künstlichem Leben leicht vom Tisch gewischt, weil es künstliches Leben gar nicht geben könne. In gleicher Richtung, allerdings mit einem anderen Argument: »Versteht man jedoch ›artifizielles Leben‹ als den Versuch, einen Lebensprozess aus dem Zusammenschalten von z. B. chemischen Prozessen zusammenzubasteln, dann ist klar, dass so etwas nicht möglich ist, weil eben ein Lebensprozess nicht auf zusammen geschaltete chemische Prozesse reduzierbar ist.«30. Geht es Karafyllis um die Unmöglichkeit eines artifiziellen Lebens, so spricht Psarros von der Unmöglichkeit der technischen Erzeugung von Lebewesen. Die Unmöglichkeitsbehauptung bezieht dabei also auf einen unterscheidbaren Gegenstand und nutzt ein je unterschiedliches Argument: während Karafyllis mit dem ›Trieb‹ argumentiert, der von sich aus da sein müsse und per definitionem nicht technisch erzeugt werden könne, um von Leben sprechen zu können, argumentiert Psarros auf dem Boden einer Nichtreduzierbarkeitsthese des Lebendigen auf das Chemische. Allerdings ist hier nachzufragen, ob über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit künstlichen Lebens rein begrifflich befunden werden kann. Wenn ja, gälte diese Aussage ohne Bezug auf den faktischen Wissens- und Könnensstand der Biologie. Dies

27  28  29  30 

C. R. Woese, »A New Biology for a New Century«. Vgl. N. C. Karafyllis, »Biofakte. Grundlagen, Probleme und Perspektiven«. A. a. O., 555. N. Psarros, »Diskussionsbeitrag«, 594.

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würde bedeuten, dass aller Fortschritt an der Geltung der Behauptung der Unmöglichkeit künstlichen Lebens nichts ändern könnte. Argumente dieses Typs, generelle Unmöglichkeits- bzw. Allaussagen, sind allerdings anfällig für Widerlegungen und haben sich historisch oft als voreilig erwiesen. Eine generelle Unmöglichkeitsbehauptung erscheint argumentativ sehr gewagt: selbst wenn »ein Lebensprozess nicht auf zusammen geschaltete chemische Prozesse reduzierbar ist«, 31 wird man nicht ein für alle Mal ausschließen können, dass durch das synthetisch-biologische Zusammenschalten von Einzelfunktionen ein ›lebender‹ oder ›lebensähnlicher‹ Gesamtzusammenhang entstehen könnte. Lebewesenähnliche Züge sind von einigen Produkten der Softwaretechnik bereits bekannt, wie z. B. bei Computerviren. Ein weiteres Argument gegen die genannten Schlüsse auf die Unmöglichkeit der technischen Herstellbarkeit von Leben operiert mit der Bezweiflung der klaren Abgrenzbarkeit zwischen einer technischen Beeinflussung lebender Systeme und ihrer technischen Neukonstruktion. Hier dürfte es eher ein Kontinuum verschieden weit gehender technischer Eingriffe in lebende Systeme zwischen minimalen Interventionen und einer weitgehenden oder völligen Neukonstruktion geben. Da die technische Beeinflussbarkeit lebender Systeme nicht zu bezweifeln ist, müssten Psarros und Karafyllis angeben, ab welcher Grenze in diesem Kontinuum von einer technischen Neukonstruktion des Lebens zu sprechen wäre. Dass dies gelingen kann, ist schwer vorstellbar. Schließlich wäre die Unmöglichkeitsthese der Herstellbarkeit künstlichen Lebens auch in praktischer Hinsicht irrelevant. Denn dann wäre zwar klar, dass das Prädikat ›Leben‹ nicht künstlich hergestellten ›Wesen‹ zukommen könne. Wenn der Fortschritt der synthetischen Biologie jedoch zu diesen ›Wesen‹ führen würde, stellte sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit ihnen, unabhängig davon, ob sie als Lebewesen eingestuft würden oder nicht. Eine Definition von Leben jedenfalls, die für empirische Veränderungen des Wissens- und Könnensstandes der Biologie nicht sensitiv ist, wäre auch nicht hilfreich in der hermeneutischen Analyse dieser Veränderungen und in Bezug auf die gesellschaftlichen und ethischen Beurteilungen. Diese wenigen Überlegungen zeigen, dass durch die synthetische Biologie die Notwendigkeit entsteht, begriffliche Arbeit in dem Feld zwischen Technik und Leben zu leisten  – sicher eine Aufgabe für die Philosophie.

4.  Technische Verbesserung des Menschen Die ›technische Verbesserung‹ des Menschen stellt eine neuartige Herausforderung für Wissenschaft, Ethik und Gesellschaft dar. 32 Das Begriffsfeld zwischen Heilen und Verbessern, Leistungssteigerung, Doping und Veränderungen der menschlichen ›Natur‹ ist zwar teils Gegenstand von philosophischen Debatten;33 oftmals wird aber auch unkri31  32  33 

N. Psarros, »Diskussionsbeitrag«, 594. B. Schöne-Seifert et al., Neuro Enhancement. Vgl. F. Jotterand, »Beyond Therapy and Enhancement: The Alteration of Human Nature«.

Einführung

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tisch über die begrifflichen Probleme hinweg gegangen. An dieser Stelle sei, dem Thema ›Technik und Leben‹ folgend, das Augenmerk auf semantische Fragen der technischen Verbesserung des Menschen gelegt. 34 Ingenieure wissen aus ihren Praxisfeldern heraus sehr gut, was eine technische Verbesserung ist. Jede Technik ist durch bestimmte Parameter beschrieben, zu denen auch ihre Leistungsmerkmale gehören. Verbesserung würde bedeuten, eines oder mehrere der Leistungsmerkmale in einer Weise zu verändern, so dass von einer Verbesserung gesprochen werden kann, gemessen z. B. an gängigen Leistungsmerkmalen der Technik wie z. B. Motorleistung, Wirkungsgrad, Lebensdauer oder Preis. Die Redeweise vom Verbessern setzt voraus, dass eine Ausgangssituation der Verbesserung (der Zustand, relativ zu dem eine Veränderung als Verbesserung bestimmt werden kann) definiert wird, und dass ein Kriterium für ›besser‹ angegeben wird. Nun ist die Rede von einer ›technischen‹ Verbesserung begrifflich nicht ohne eine technomorphe Beschreibung der Ausgangssituation möglich, z. B. indem dort ›Leistungsmerkmale‹ benannt werden, relativ zu denen verbessert werden soll. In der Regel ergibt sich das Maß für Verbesserungen direkt aus dem meist quantitativen Vergleich der Werte der entsprechenden Parameter vor und nach der Verbesserung. Eine ›technische Verbesserung‹ des Menschen bedarf, soll sie nicht nur metaphorisch gemeint sein, einer vorgängigen technischen Modellierung des Menschen35 vor Beginn einer verbessernden Maßnahme. Den Überlegungen zu einer ›technischen Verbesserung‹ des Menschen gehen, wie dies z. B. Cochlea- und Retina-Implantate zeigen, in der Regel Ansätze zu einer technischen Kompensation von Defiziten voraus, z. B. wenn durch Krankheit oder als Unfallfolge Organe ausgefallen oder geschädigt sind. Hierbei dient als zu erreichender Standard, als Ziel der medizintechnischen Entwicklung, die Erreichung der ›üblichen‹ menschlichen Leistungsfähigkeit durch das technische Implantat. Ziel ist, ganz im Sinne des ärztlichen Ethos, die Rückgewinnung der vollen Leistungsfähigkeit des Patienten durch einen technischen, aber resultategleichen Nachbau der natürlichen Körperfunktionen. Als Kriterium der Erreichung dieses Ziels der resultategleichen Nachbildung kann z. B. ein Augenarzt mit dem implantierten Patienten einen Sehtest machen und ›objektiv‹ die Sehleistung überprüfen und mit dem Standard eines natürlichen Auges eines gesunden Menschen vergleichen. Nun sei angenommen, dass es mit den nanotechnologischen Hilfsmitteln und den konvergierenden Technologien36 gelingt, z. B. ein Sinnesorgan wie das Auge technisch resultategleich nachzubauen. 37 Ein solches künstliches Auge würde, ein üblicher Vorgang in der technischen Entwicklung und Produktion, von seinem Hersteller eine Versionsnummer zugeteilt bekommen: dieses wäre dann das ›Auge 1.0‹. Bewegte sich bis zu diesem Punkt die gesamte Überlegung im Rahmen des ärztlichen Ethos des Heilens, Folgend A. Grunwald, Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft, Kap. 9. Dazu Grunwald Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft, Kap. 9.6 36  M. C. Roco / W. S. Bainbridge, Converging Technologies for Improving Human Performance. 37  Das Folgende stammt aus A. Grunwald, Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft, Kap. 9. 34  35 

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illustriert die Zuschreibung einer Versionsnummer den ›technologischen Imperativ‹:38 denn im Rahmen der Logik des technischen Fortschritts wird es nicht bei der Version 1.0 bleiben. Sobald eine Version 1.0 entwickelt und erprobt ist, werden Ingenieure und Mediziner an die nächste Version denken: das Verbessern ist als ›technologischer Imperativ› in der modernen Technik angelegt, etwas emphatisch könnte man davon sprechen, dass das Verbessern zum ›Logos‹ der Technik hinzugehört, jedenfalls in ihrer neuzeitlichen Ausprägung. Dabei können ganz verschiedene Richtungen des Verbesserns eingeschlagen werden, z. B. eine Kostenreduktion oder die Verringerung der Wartungsintervalle des Auges mit der Versionsnummer 1.0. Die Version 2.0 muss also keineswegs in Bezug auf die sensorischen Fähigkeiten des Menschen verbessert sein (z. B. durch Nachtsichtfähigkeit oder Zoom-Möglichkeiten)  – aber dieses Verbessern liegt mit im Spektrum des ›technologischen Imperativs‹, angewendet auf das Auge 1.0. Der Ermöglichung und Erprobung resultategleicher  – relativ zu den natürlichen Vorbildern  – technischer Implantate würde dann die Funktionstranszendenz folgen: die technische Erweiterung der natürlichen Fähigkeiten. Eine technische Verbesserung des Menschen zeigt sich also als konsequenter Schritt einer technischen Wiederherstellung ausgefallener oder defizienter Körperfunktionen. Der Übergang von wiederherstellenden zu verbessernden Eingriffen ist aus technischer Perspektive  graduell und keineswegs revolutionär: die Erweiterung hinsichtlich einiger Leistungsmerkmale technischer Produkte ist ein im technischen Fortschritt gängiger Gedankengang. Die Idee des Verbesserns ist der neuzeitlichen Technik immanent. Sobald etwas technisch realisiert ist, wird sofort nach Verbesserungen, teils auch nach Optimierungen in verschiedenen Hinsichten gefragt. Insofern ist durch die Idee der technischen Substituierung verloren gegangener Funktionen des menschlichen Körpers (wie z. B. des Sehens oder Hörens) die Idee der Verbesserung dieser Funktionen als Potential des weiteren Fortschritts bereits mitgedacht. 39 Technisches Handeln kennt keine Grenze per se zwischen einem Heilen und einem Verbessern. Der wirkmächtige technologische Imperativ führt in graduellen Schritten vom Heilen zum Verbessern.40 Das Verbessern kennt keine Grenze und kein Maß in sich selbst, sondern eröffnet einen unendlichen Raum des Möglichen. Ein einmal erreichter Stand in der Verbesse38  Unter ‹technologischem Imperativ› wird in der Technikethik gelegentlich verstanden, dass getan werden solle, was technisch möglich ist. An dieser Stelle geht es jedoch nur um den immanenten Imperativ des Verbesserns dessen, was technisch bereits erreicht ist. Dieser Imperativ ist ein Kennzeichen der technischen Moderne. 39  A. Grunwald / Y.  Julliard, »Technik als Reflexionsbegriff  – Überlegungen zur semantischen Struktur des Redens über Technik«; C. Hubig, Die Kunst des Möglichen I. 40  Technik wurde in einigen Ansätzen der Technikphilosophie als Organersatz, als extern gewendete Ausdehnung der organischen Fähigkeiten des Menschen gedacht (E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik; A. Gehlen, Der Mensch). Ziel der Technik sei danach, die Unzulänglichkeiten des Menschen durch eine externe Technik nach dem Vorbild seiner Organe und Fähigkeiten zu kompensieren oder seine organischen Fähigkeiten zu erweitern, wie des z. B. der Schritt von der menschlichen Hand zu einer Baggerschaufel illustriert. Diese Denkfigur wird angesichts der technischen Verbesserung des Menschen umgekehrt: der Mensch beginnt, sich selbst nach dem Vorbild von ihm selbst geschaffener Technik zu verbessern (so auch L. Siep, »Die biotechnische Neuerfindung des Menschen«).

Einführung

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rung des Menschen führt nicht zum Anhalten des Verbesserungsprozesses im Sinne eines ›Ziel erreicht‹, sondern dient als Ausgangspunkt für die nächste Verbesserung und so weiter. Diese Eigenschaft unterscheidet radikal das Heilen vom Verbessern: das Heilen kommt an ein Ende, wenn der Patient gesund ist. Das Verbessern kommt auch im Erfolgsfalle nicht an ein Ende, sondern wird von der Ruhelosigkeit des technologischen Imperativs immer weiter getrieben – es sei denn, dass Gestaltungsansätze, Begrenzungen oder Verlangsamungen von außen, durch gesellschaftliche Gestaltungsmaßnahmen an diese Verbesserungsspirale herangetragen würden.

5.  Epilog Auf diese Weisen führt der wissenschaftlich-technische Fortschritt zu neuen Anfragen an Veränderungen im Verhältnis von Mensch und Natur. Menschen haben immer schon die Natur beeinflusst und nach ihren Vorstellungen modifiziert und umgewandelt. Dieses Mensch / Natur-Verhältnis betrifft noch die Gentechnik, in der vorhandene Gensequenzen verändert oder gezielt in andere Organismen eingesetzt werden. Das im Deutschen häufig negativ gemeinte Wort von der ›Genmanipulation‹ drückt dies treffend aus. In der synthetischen Biologie wird der Mensch vom Veränderer des Vorhandenen, zum Schöpfer von Neuem, und in der ›technischen Verbesserung‹ macht er sich selbst zum Gegenstand technischer Beeinflussung. Auf dieser Ebene stellen sich noch keine ethischen Fragen, sondern zunächst Fragen von Menschenbild und Naturverhältnis des Menschen. Es sind vor allem anthropologische und technikphilosophische Fragen, die, sollte es in Zukunft wirklich dazu kommen, dass synthetische Biologie neue Formen des Lebens erzeugen könnte, hohe Relevanz erhalten würden. Ethische Fragen im Sinne der Bewältigung normativer Unsicherheit stellen sich heute inmitten des Forscherhandelns und der Bestimmung der wissenschaftlichen Agenda. Daher ist es durchaus rational, wenn in der synthetischen Biologie an die großen Debatten über die wissenschaftliche Verantwortung im Betreten von Neuland angeknüpft wird.41 Ansonsten sind die hier angesprochenen Fragen nach dem Verhältnis von Mensch, Technik und Natur keine ethischen, sondern ›prä-ethische‹ Fragen nach dem menschlichen Selbst-, Technik- und Umweltverständnis. Literatur Ball, Philip: »Synthetic biology for nanotechnology«, in: Nanotechnology 16 (2005), R1-R8. Banse, Gerhard / Grunwald, Armin / König, Wolfgang / Ropohl, Günter (Hgg.): Erkennen und Gestalten. Eine Theorie der Technikwissenschaften, Berlin 2006. 41 

H. de Vriend, Constructing Life.

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Kolloquium 2  ·  Armin Grunwald

Boldt, Joachim / Müller, Oliver: »Newtons of the leaves of grass«, in: Nature Biotechnology 26 (2008), 387–389. de Vriend, Huib: Constructing Life. Early social reflections on the emerging field of synthetic biology. Rathenau Institute, The Hague 2006. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1986. Grunwald, Armin: »Bionik  – naturnähere Technik oder technisierte Natur?« In: Ders. (Hg.): Technik und Politikberatung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt a. M. 2008. Grunwald, Armin: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophischethische Fragen, Freiburg 2008. Grunwald, Armin / Julliard, Yannick: »Technik als Reflexionsbegriff  – Überlegungen zur semantischen Struktur des Redens über Technik« in: Philosophia naturalis 42 / 1 (2005), 127–157. Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006. Janich, Peter: Logisch-pragmatische Propädeutik. Weilerswist 2001. Jotterand, Fabrice: »Beyond Therapy and Enhancement: The Alteration of Human Nature«, in: Nanoethics 2 (2008), 15–23. Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877. Karafyllis, Nicole C.: »Biofakte. Grundlagen, Probleme und Perspektiven«, in: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 17 (4) (2006), 547–558. Nachtigall, Werner: Bionik. Grundlagen und Beispiele für Ingenieure und Naturwissenschaftler. 2. Auflage. Berlin et al. 2002. Psarros, Nikolaos: »Diskussionsbeitrag«, in: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 17 (2006), 594–596. Rapp, Friedrich: Analytische Technikphilosophie. Freiburg 1978. Roco, Mihail C. / Bainbridge, William S. (Hgg.): Converging Technologies for Improving Human Performance. Arlington 2002. Ropohl, Günter: Technologische Aufklärung. Beiträge zur Technikphilosophie, Frank­ furt 1991. Schöne-Seifert, Bettina / Ach, Johann S. / Talbot, Davinia / Opolka Uwe (Hgg.): Neuro Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen, Paderborn 2008. Siep, Ludwig: »Die biotechnische Neuerfindung des Menschen«, in: G. Abel (Hg,), Kreativität. Akten des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie. Hamburg 2006, 306– 323. VDI – Verein Deutscher Ingenieure: Nanobiotechnologie I. Grundlagen und Anwendungen molekularer, funktionaler Biosysteme, Düsseldorf 2002. von Gleich, Arnim / Pade, Christian / Petschow, Ulrich / Pissarskoi, Eugen: Bionik. Aktuelle Trends und zukünftige Potentiale. Bremen 2007. Woese, Carl R.: »A New Biology for a New Century«, in: Microbiology and Molecular Biology Reviews 68, No. 2 (2004) 173–186.

Leben und Technik Mathias Gutmann

Den Ausgang nehmen die folgenden Überlegungen bei einer Entgegensetzung, die ebenso oft mit guten Gründen zurückgewiesen wie verteidigt wurde, eine Entgegensetzung, die, da das Leben in die Phase seiner technischen Reproduzierbarkeit eingetreten scheint, immerhin eine gewisse Plausibilität beanspruchen kann. Versteht man unter dem Ausdruck »Leben« die Anzeige von Verhältnissen, die durch unmittelbare Vollzüge charakterisierbar sind, dann wäre »Technisierung« insofern Gegensatz, als dessen Reproduzierbarkeit nun außerhalb solcher Vollzüge, ja unabhängig von ihnen, Leben selber zum Gegenstand werden läßt. Es träte als Produkt neben den Vorgang seiner (H)Erstellung, scheint mithin an seiner Perpetuierung keinen oder doch zumindest keinen notwendigen Anteil mehr zu haben. Bedenkt man die grundsätzliche Verunsicherung, die mit der Etablierung neuer Techniken – insbesondere im lebenswissenschaftlichen Bereich – verbunden ist, und berücksichtigt ferner die zunehmende Integration informatischer, informationstheoretischer, informationswissenschaftlicher oder robotischer Ansätze, so wird die Frage dringlich, ob dies nicht nur die Rede vom Menschen zusehends auf wissenschaftlich-technische Beschreibungen desselben verkürzt, sondern darüber hinaus, ob nicht grundsätzlich unser Verständnis von »Leben« – und sei es »lediglich« als Gegenstand lebenswissenschaftlicher und -technischer Beschreibung und Strukturierung – davon tangiert wird. Bei der Klärung dieser Fragen lassen sich die Ebenen methodologischer, pragmatischer und ethischer Reflexion unterscheiden. Besteht die Aufgabe methodologischer Reflexion dabei in der Ermittlung von Geltungsgründen der investierten Beschreibungssprach- und Strukturierungsmittel, so wäre es Gegenstand pragmatischer Reflexion, nach dem Charakter des Neuartigen der relevanten Techniken zu fragen, worauf erst die im eigentlichen Sinne ethische Reflexion sich anschlösse. Die Aufgabe dieser Untersuchung besteht vor allem in der methodologischen Rekonstruktion der Rede von »l / Leben« sowie der Folgen, die sich aus den Geltungsnachweisen lebenswissenschaftlicher Sprachstücke ergeben.1

1.  Das Verhältnis als Bruch Im Felde der Modernen – die wir bekanntlich nie waren – ist die These der Differenz durch Habermas im Verfolg eines Minimal-Transzendentalismus paradigmatisch entwickelt worden. Die entfaltete Konzeption eines schwachen Naturalismus leugnet keinesfalls den Ursprung des menschlichen Lebens aus naturalen Lebenswurzeln: Zu den pragmatischen Aspekten s.u. a. P.  Janich / M. Weingarten, »Ethik«, zu den ethischen hier – rein exemplarisch – etwa J. Habermas, Eugenik. 1 

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Meine erste These heißt deshalb: die Leistungen des transzendentalen Subjekts haben ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung. 2 Vielmehr liegt ein möglicher Gewinn der Unterscheidung von naturaler Basis und kultureller Eigenbestimmung gerade darin, daß zum einen nicht einfach Naturalisierungsbestrebungen das Wort geredet wäre  – verlöre doch sogleich das Beharren auf dem Transzendentalen jeden Sinn. Zum anderen aber bliebe die Einbettung der Rede von »dem Menschen« in (lebens-) wissenschaftliche Beschreibungen von Homo. sapiens, der Bezug also zu aufgeklärten, säkularisierten Argumentationsformen, erhalten. Diese argumentative Doppelstrategie führt allerdings in ein Dilemma, welches zur Vermutung Anlaß gibt, der angestrebte »schwache Naturalismus« sei in einem sowohl zu stark als auch zu schwach: Die naturgeschichtlichen Interessen, auf die wir die erkenntnisleitenden zurückführen, gehen zugleich aus der Natur und aus dem kulturellen Bruch mit Natur hervor. Zusammen mit dem Moment der Durchsetzung des Naturtriebes haben sie das Moment der Lösung vom Naturzwang in sich aufgenommen.3 Wie bei Gehlen ist es auch hier die Handlungsplanung und Ausführung ermöglichende Vernunft, nach Habermas unstrittig (wiewohl nicht nur) »wie die Klauen und Zähne der Tiere, ein Organ der Anpassung«4 –, welche ihm die Umbildung der äußeren Natur erlaubt. Im Gegensatz aber zu Gehlen, der der Logik des eigenen Argumentes folgend die Selbsttechnisierung menschlichen Lebens als den für die Beherrschung der Natur zu entrichtenden Preis versteht, setzt die angeführte Trennung von Leben und Technik auf einen vom technischen Zugriff ganz und gar unberührten Lebensbegriff; dieser lege ein Gleichgewicht von äußerer und innerer Natur nahe, demzufolge etwa Gentechnik nur als »Verfügbarmachung der Gattung« gelten kann5: Das beunruhigende Phänomen ist das Verschwimmen der Grenze zwischen der Natur, die wir sind, und der organismischen Ausstattung, die wir uns geben.6 Technik muß nun als invasiv begriffen werden, die, als das ganz andere, jene auf Äquilibrierung ausgerichtete menschliche Natur übergreift: Je rücksichtsloser nun die Intervention durch die Zusammensetzung des menschlichen Genoms hindurchgreift, um so mehr gleicht sich der klinische Stil des Umganges an den biotechnischen Stil des Eingriffs an und verwirrt die intuitive Unterschei-

J. Habermas, »Technik«, 161. A. a. O., Ebd. 4  A. a. O., Ebd. 5  Die bei Gehlen fortentwickelte These des Menschen als eines biologischen Mängelwesens ist insofern konsequent, als der Differenz von Leben und Technik in die Konstitution dieses so charakterisierten Wesens selber eingeht. Es wird so zwar das angezeigte Dilemma vermieden, es bricht dasselbe jedoch an argumentativ späterer Stelle, jedenfalls aber bei dem Bemühen auf, die Geltung der investierten Beschreibungssprachmittel zu bestimmen. 6  J. Habermas, Eugenik, 44. 2  3 

Leben und Technik

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dung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem und Objektivem – bis hinein in den Selbstbezug der Person zu ihrer leiblichen Existenz.7 Technisierung des Lebens wird zu einem sekundären, vom (Natur-)Ursprung abrückenden Vorgang. Lassen wir nun für unsere weiteren Überlegungen das notwendig sich einstellende Auswahlproblem, welche Form von Evolutionstheorie denn dem skizzierten Argument angemessen ist,8 ebenso außer acht wie Detailfragen, die etwa das Verhältnis von Evolution und Geschichte, der Relevanz von Variation und Selektion für kulturelle (also nicht-Weissmannsche) Transformationen betreffen,9 so bleibt die zentrale A. a. O., 85. Auf das Vorliegen einer Vielzahl evolutionärer (selbst Darwinistischer) Ansätze ist schon des öfteren aufmerksam gemacht worden; hierzu wären aber nicht nur Darwinsche oder Darwinistische sondern eben auch nicht- oder sogar anti-Darwinistische zu rechnen (s. Levit et al., »Alternative«, sowie Levit et al. »V teni darwinizma«). 9  Begründend legt Habermas ein Analogieargument vor, das den Unterschied von Ontound Phylogenese zunächst außer Acht läßt: Die Analogie des Lernens, die wir auf die durch Mutation, Selektion und Stabilisierung gestreuten Entwicklung übertragen, qualifiziert die Ausstattung des menschlichen Geistes als eine intelligente, selbst unter Beschränkungen der Realität gefundene Problemlösung. Diese Sicht entzieht dem Gedanken an eine speziesrelative Weltsicht den Boden. (J. Habermas, Wahrheit, 40) Sosehr dem Unternehmen der Kritik eines speziezistischen Relativismus (etwa Uexküllscher Prägung; s. M. Gutmann, »Uexküll «) hier beizupflichten ist, so wenig dürften die angeführten Argumente dafür hinreichen. Erst wenn konstatiert würde, daß die Erkenntnis der (biologischen) Ausstattung des menschlichen Geistes als Lösung eines Problems von dieser Ausstattung unabhängig formuliert werden kann, schiene eine Rückweisung gelungen (denn sonst reproduzierte sich der Speziezismus epistemisch). Dann allerdings fragt es sich, ob Evolutionstheorie überhaupt die relevante Theorieform für die Grundlegung des schwachen Naturalismus ist. Denn gäbe man das Geforderte zu, so wäre entweder bei der Rede vom Geist »des Menschen« nicht (nur und vor allem) von Exemplaren von Homo sapiens die Rede, oder aber es wäre zu konzedieren, daß »der Mensch« eine als Art besondere Art (also nicht einfach eine andere Art als etwa Pan troglodytes) ist. In beiden Fällen wäre also wohl eher von »dem Menschen« insofern er Mensch ist, die Rede als von Homo sapiens, und folglich wäre in beiden Fällen die Biologie (als Wissenschaft – nicht als Weltbildproduzentin) einfach überfordert (hierzu M. Gutmann & M. Weingarten, »Metaphern«). Doch gäbe man auch dies alles zu, so bliebe immer noch unklar, was hier genau unter einer Analogie zu verstehen sei. Denn es ist nicht zu sehen, wie evolutive Vorgänge lernanalog sein und zugleich wesentliche Grundbestandteile Darwinistischer Evolutionstheorie sollen beibehalten werden können (insbesondere die Notwendigkeit der Reformulierung Lamarckistischer Erzählungen in reproduktionstheoretische  – und das hieße hier doch wohl selektionistische). Soll tatsächlich am Darwinistischen Standard festgehalten werden (wofür es keine guten – nichtbiotheoretischen – Gründe gibt), dann stellen sich Fragen der folgenden Art: 7  8 

1 Läßt man die Rede von der Steuerung als metaphorische gelten, dann bleibt zu klären, ob nicht Variation (z. B. im Sinne der Mutation) und Selektion eher Faktoren von Evolution sind und als Mechanismus derselben Reproduktion zu gelten hätte (dazu M. Gudo et al., »Grundlagen«). Diese spielt aber in der Analogie gerade keine Rolle. 2 Wie ist mit dem (evolutionären, nicht dem epistemischen) Kontingenzargument in der Analogie umzugehen (s. S.  J. Gould / R. C. Lewontin, »Spandrels« sowie S. C. Morris, Life’s, als Opponent)? Diese Frage zielt natürlich auf das Verhältnis von evolutivem Erfolg und Lernerfolg, das umso schwieriger zu bestimmen sein dürfte, als Habermas ausdrücklich eine direkte Reinterpretation des »Vokabulars des Lernens (…) in die neodarwinistische Begrifflichkeit« zurückweist (J. Habermas, Wahrheit, 39).

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Frage, woher wir soviel über das Leben und seine Evolution wissen, um Technisierung als einen die Naturkonstitution verändernden, ihr gegenläufigen Vorgang ansehen zu können.10 Bemerkenswerterweise bezieht jedenfalls Darwin dieses Wissen gerade aus jener Praxis, die seit je zu den radikalsten Manipulationsformen zählt, derer wir für das Leben verfügen, nämlich der Züchtung11.

2.  Differenz als unharmonische Harmonie Die Diagnose invasiver Technisierung ist keinesfalls an das Festhalten der Differenz von Technik und ihrem jeweiligen anderen gebunden. Es bleibt aber die grundsätzliche Schwierigkeit, die Grenzziehung zu demjenigen vorzunehmen, welchem Technik gegenübersteht. Am Beispiel der – auch das Leben mitumgreifenden – Natur unterbreitet Böhme den folgenden Vorschlag: Wenn ich behaupte, daß die Natur da draußen ein gesellschaftliches Produkt ist, so meine ich nicht die Sterne oder das Erdinnere, sondern ich meine die umweltrelevante Natur, das heißt die Erdoberfläche und die Atmosphäre. Diese Natur mittlerer Größenordnung ist in ihrer Zusammensetzung und ihrem Funktionieren nicht mehr hinreichend beschreibbar, ohne daß man die Wechselwirkungen mit dem Menschen bestimmt.12 Die Unterscheidung von Mikro-, Meso- und Makrokosmos ist aber zum einen kaum triftig, was wissenschaftliche Gegenstände und Gesetzesformulierungen anbelangt, zum anderen lediglich eine  – technikkovariante  – Angabe. Methodologisch interessanter ist wiederum die Frage, woher das Wissen über die – vom Menschen nicht berührte – Natur stammt, denn diese bildet letztlich den Standard für den Angriffspunkt all jener Eingriffe, die als Technisierung den Bestand derselben bedrohen. Diese Frage reicht über die angebotene Unterscheidung insofern hinaus, als man andernfalls nur einen Zeitpunkt benennen müßte, für den die Invasion durch den Menschen sicher noch nicht stattgefunden hat (etwa im mittleren Tertiär), um die Umgebungsbedingungen – als dann definitionsgemäß rein natürliche – zu kennen und für ihre (Wieder-)Her3 Schließlich bliebe die methodologische Problematik der Quellen, aus denen sich Evolutionstheorie in ihrem (methodischen) Anfange speist. Ließe sich zeigen, daß es zur Grundlegung von Evolutionstheorie schon expliziten, nicht-evolutionären Wissens bedürfte, dann ließe sich der geforderte Transzendentalismus auch ohne Naturalismus geben. Dies ist übrigens sowohl für Darwinistische wie für alternative Konzepte tatsächlich möglich (s. M. Gutmann, »Naturgeschichtsschreibung«). Im Resultat scheinen jedenfalls die epistemischen Verluste des Vorschlages größer als der mögliche Fundierungsgewinn. Zur  – grundsätzlichen  – Kritik solchen Ansinnens s. etwa E. Cassirer, »Tragödie«, oder J. Dupre, Human. 10  Das Problem der Baldwinian Selection kann hier ausgespart werden; wird befänden uns dann ohnehin nicht mehr im engeren Darwinistischen Zusammenhang (dazu T. Deacon, Species). 11  Dazu M. Gutmann, Evolutionstheorie. 12  G. Böhme, Technisierung, 214.

Leben und Technik

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stellung zu streiten.13 Unstrittig aber muß es ein Wissen über den Zustand eigentlicher Natur geben, das vom technischen Zugriff als unabhängig sich erweist: Ich will zeigen, daß, was für uns Natur ist, sich bereits fundamental verändert hat, und daß sich die Situation des Menschen, der selbst Natur ist, in der Natur ist, fundamental geändert hat. Man kann das auch so ausdrücken: Noch bevor die technische Reproduktion die Natur für uns im Konkreten vollständig verändert hat, ist bereits Natur als wesentliches Element unserer europäischen Kultur entwertet, um nicht zu sagen zerstört worden.14 Wie bei Habermas droht also nun auch hier der Kollaps der Differenz in die Identität15; die Konsequenzen sind aber insofern andere, als eher nach einer Art Konsens der beiden Pole des Gegensatzes gesucht wird: Auf einem Weg akzeptiert sich der Mensch selbst als Natur und versucht, die technische Entwicklung in Harmonie mit dem Naturzustand zu bringen. Auch dieser Weg erfordert neue technologische Entwicklungen, nämlich solche, die man mit Ernst Bloch Allianztechniken nennen könnte.16 Wie auch immer man die Erfolgsaussichten solcher Bestrebung beurteilen mag, methodologisch jedenfalls hängt sie an der Möglichkeit eines Wissens von Natur und Naturzustand unabhängig von (technischen) Mitteln.

13  Daß Böhme einem solche Argument – zurecht – nicht allzuviel zutraut, zeigt seine Gegenüberstellung von Natur- und Technikgeschichte (A. a. O., 176) – denn in der Tat, warum nicht der mittlere Jura? Die Frage ist auch hier, wovon unser Wissen über Naturzustände (und das umfaßt auch vergangene) eigentlich abhängt (für die methodologischen Probleme paläontologischer und geologischer Rekonstruktion s. M. Gudo / F. Steininger, »Paläontologie«). 14  G. Böhme, Technisierung, 186 f. 15  Mit der umstandslosen Einbeziehung »des Menschen« in »die Natur« subsumiert Böhme – allen Differenzierungen zum Trotz – Technik unter Natur und versteht sie dennoch als ihr entgegengesetzt:

16 

Wir müssen realisieren, dass Technik nicht nur Aneignung von Natur ist, sondern immer auch, wie der natürliche Stoffwechsel, Ausscheidung von verbrauchter Natur. Wir müssen uns klarmachen, dass jeder technische Prozess als Naturprozess gesehen viele Wirkungen hat, dass die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwirkungen ihren Sinn nur in Bezug auf die gesellschaftliche Verwertung hat. Jede technische Unternehmung ist ein Akt gegenüber der äußeren Natur.« (A. a. O., 215) G. Böhme, Technisierung, 178.

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3.  Differenz als Aspekt Scheitert der Versuch, zugleich an der Differenz mit dem Leben festzuhalten und diesen im Leben zu lokalisieren, dann bietet sich die Alternative an, die Unterscheidung von »lebendig« und »technisch« einzuziehen, sie als Residuum eines letztlich an überholten Produktionsformen orientierten Aristotelismus zumindest nicht mehr triftig zu verstehen; bestenfalls verbliebe die Möglichkeit aspektuellen Differenzierens, das aber keine sichere Unterscheidung mehr böte. Geschuldet sei dieser Verzicht der Einsicht in die grundlegend veränderte menschliche Existenzweise, die – angesichts der neuen Lebenstechniken – unsere gesellschaftlichen Konsense in Frage stellte. Sie führe wiederum in ein Dilemma, das nun aber nicht seine Quellen in einem vermeinten Außen habe, sondern als Ergebnis fortschreitender Selbsttechnisierung des Menschen zu verstehen sei: Begreift man die Existenz des Menschen als technologische Konstruktion, dann verliert eine Kritik der Technik ihren normativen Bezugspunkt, den sie mit der Vorstellung einer »vorgängigen Natur« besessen zu haben schien: Der menschliche Körper erscheint als grenzenlos gestaltbar. (…) Der Mensch wäre, was die Technik aus ihm macht.17 Und es entfiele – als zweiter Schenkel des Dilemmas – die Möglichkeit, diesem gleichsam sekundären Naturprozeß, der zusehends an die Stelle des primären trat,18 doch wieder eine Schranke zu setzen: Weder ist ein normativer Bezug auf eine unvermittelte Natur noch möglich, noch läßt sich der Naturbegriff abschaffen ohne das Andere, das mit der technischen Verfügung nicht Identische zu eskamotieren.19 Das Hinnehmen des Dilemmas – welches immerhin noch als Option verbleibt – wird allerdings mit Bezug auf die Plessnersche Konzeption exzentrischer Positionalität artikuliert, womit eine Variante des nicht-Darwinistischen Neoaristotelismus zu ihrem Recht kommt. Wiederum ergibt sich die Schwierigkeit, den Status jenes Wissens zu bestimmen, welches in die Beschreibung der exzentrischen Positionalität schon je einging. Bei Plessner jedenfalls sind die Formen des Lebendigen – zugleich empirisch wie kategorial – mit Eigenschaften ausgestattet, die direkt oder indirekt der zeitgenössischen Biologie (des deutschen Sprachraumes) entstammen. 20 Es stellt sich also ganz unabhän-

A. Manzei, »Eingedenken«, 213 f. Man darf die Hybridisierungsthesen Haraways als (biotheoretische) Darstellung eben jener Grenzüberschreitungen verstehen, die deren immanente (Re-)Naturalisierungstendenzen bloßlegen sollen; dazu D. Haraway, Neuerfindung. 19  A. Manzei, »Eingedenken«, 214. 20  Daß es sich dabei  – wie schon oben im Falle Darwins  – um in besonderem Maße auf invasive Techniken angewiesene, experimentell embryologische Ansätze handelte, sei hier nur angedeutet; dazu Syed et al., »Genetic Information«). 17 

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gig von der Frage nach der Relevanz der investierten Biologie bei Plessner erneut das schon für das Habermassche Differenzargument angezeigte Auswahlproblem. 21 Eine letzte radikale Wende mag in der Emanzipation der Hybriden oder Quasi-Objekte erblickt werden. Wendet man die Überlegungen Latours, im Angesicht faktisch vorfindlicher »Mischwesen« die Differenz von Natur und Kultur letztlich zu nivellieren, auf die hier interessierende Fragestellung an, dann wäre die Unterscheidung von »technisch« und »lebendig« zugunsten von Objekten aufgegeben, die nicht mehr als Komposite, sondern als Gegenstände sui generis aufzufassen sind: Mit Michel Serres bezeichne ich diese Hybriden als Quasi-Objekte, denn sie nehmen weder die für sie von der Verfassung (der Modernen) vorgesehene Position von Dingen ein, noch die von Subjekten. Sie lassen sich auch unmöglich alle in die Mittelposition hineinzwängen, so als wären sie lediglich eine Mischung von Naturding und sozialem Symbol. 22 Die Pole (Natur-Gesellschaft und entsprechend Technik-Leben) würden durch Netze abgelöst, deren Knoten je gleichberechtigte Gegenstände bezeichnen, die »im Parlament der Dinge« nun alle – unabhängig von ihrer Herkunft – Rederecht erhielten. Der resultierende »natürliche Relativismus«, welcher von der Frage nach eben dieser Herkunft ebenso enthebt wie von der Last der Adäquatheitsbeurteilung der zugrundegelegten Beschreibungen, speist sich allerdings aus bemerkenswerten Quellen: Wir mobilisieren, um unsere Kollektive zu konstruieren, Genetik, Zoologie, Kosmologie und Hämatologie. ›Aber das sind Wissenschaften‹ , werden die Modernen ausrufen, entsetzt über diese Durcheinander, ›sie müssen von den Repräsentationen der Gesellschaft soweit wie möglich frei bleiben!‹ Doch von der Anwesenheit der Wissenschaften allein wird die Symmetrie nicht gebrochen – darin liegt die Entdeckung der vergleichenden Anthropologie. Vom kulturellen gehen wir zum ›natürlichen‹ Relativismus über. Der erste hat zu Absurditäten geführt, der zweite wird uns erlauben, zum gesunden Menschenverstand zurückzufinden. 23 Diese Mobilisierung könnte allerdings nur dann recht überzeugen, wenn zum einen sichergestellt wäre, daß das so genutzte Wissen in seiner Bereitstellung seinerseits von der Investition zumindest aspektueller Technik-Leben-Differenzen unabhängig ist und zum anderen das nun ebenfalls anzumerkende Auswahlproblem gelöst würde. Die drei skizzierten Positionen haben – trotz der durchaus unterschiedlichen Schlußfolgerungen – wesentlich gemeinsam, daß sie auf ein bestimmtes, letztlich wissenschaftlich verfaßtes Wissen von »Leben« zurückgreifen. Aus methodologischer Sicht stellt sich nun die Frage, welche logische Grammatik dieser Rede zugrundeliegt, ob und inwieweit sich diese mit Entgegensetzung oder Identifikation mit Technik überhaupt verträgt.

21  22  23 

Dazu im Detail M. Gutmann, Erfahren. B. Latour, Modern, 71. A.a.o., 143.

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4.  Was ist Leben? Die Biowissenschaften scheinen der natürliche Ort für die Beantwortung dieser Frage zu sein. Dabei wird in der Regel auf bestimmte Eigenheiten, Eigenschaften oder Fähigkeiten verwiesen, welche »lebende Systeme« von »nicht lebenden« unterschieden. Mit Mayr wären dies  – ohne Anspruch auf Vollständigkeit  – etwa die Fähigkeit zu Evolution, Entwicklung, Selbstreplikation, Wachstum und Differenzierung, das Vorliegen eines genetischen Programmes, Metabolismus, Selbstregulation, Sensibilität und Sensitivität u.v.m. Das also, was es heißt zu leben, wird als Vorgang aufgefaßt, der seinerseits nicht direkt in den Blick kommt, sondern mit Verweis auf andere Vorgänge erläutert werden muß. 24 In der Tat wäre ja selbst im außer- und vorwissenschaftlichen Zusammenhang die Erläuterung dessen, was einer verrichtet, von dem gesagt werden kann, daß er lebt, nur auf diesem Weg möglich, da sich vermutlich exemplarische Einführungen ebenso verbieten wie ostensive Definitionen etc. Soll nicht auf letztlich vormoderne Formen biologischer Forschung zurückgegriffen werden, dann wäre also die Frage nach dem Leben einfach dadurch zu beantworten, daß das Substantiv als zusammenfassende Rede über eine Liste von Ausdrücken aufgefaßt würde, dessen – dem Anschein des gegenständlichen Bezuges zum trotz – Referent lediglich Beschreibungen von Eigenschaften, Leistungen oder Fähigkeiten von Lebewesen wäre. Die Einheit des Ausdruckes wäre mithin nur reflexiv bestimmbar, nicht aber substantiell, sodaß an die von Janich und Weingarten vorgeschlagene Lösung der Einführung des Ausdruckes »l / Leben« als Reflexionsterminus angeschlossen werden kann 25. Jedoch ist damit das Spektrum der Möglichkeiten noch keineswegs erschöpft – wie prädikative, artikulative oder formbegriffliche Verwendung exemplarisch belegen mögen.

4.1  Leben als prädikative Bestimmung Die oben angezeigte reflexive Verwendung des Verbalausdruckes »leben« ist allerdings nur mit Blick auf die Lebenswissenschaften grundlegend. Denn das Wort weist schon lebensweltlich eine bedeutsame Ambiguität auf, die sich mit der Unterscheidung von verbaler und substantivierter26 Form wiedergeben läßt: In dem Wort lebendig liegt die Zweideutigkeit, daß es einmal soviel wie leben meint, dann aber auch ursprünglich interpretierende Metapher des Wie des Wirkens ist; und diese Zweideutigkeit geht auf »den Lebendigkeitseindruck« über. Plessners »lebendige Bewegung« ist nicht eine Bewegung, die lebendig wirkt, sondern eine solche, von der wir freilich sagen können, sie wirke wie die Bewegung eines Lebendigen. Der Ausdruck »lebendige Bewegung« ist dann sprachlich korrekt und Dies scheint für Mayr einen hinreichenden Schutz vor Vitalismen darzustellen. P. Janich  / M. Weingarten, Wissenschaftstheorie. 26  Zum Problem adjektivischer Wendungen und deren Verhältnis zu substantivischer und verbaler Form im Zusammenhang metaphorischen Sprechens, s. B. Snell Entdeckung. 24 

25 

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in systematischer Absicht belehrend, aber er ist kein ursprünglich interpretierender Ausdruck in unserem Sinn. 27 Es ist ein Zweifaches, das König hier zum Ausdruck bringt; neben der sinnfälligen Differenz des in der Substantivierung bestimmten, abgeschlossenen Vollzuges und entsprechend des verbal angesprochenen Vollzuges selber, gibt König mit Bezug auf Plessner eine Unterscheidung des Referenten von »lebendig« an, die zunächst seltsam anmutet. Mit Plessner wären für die Zuschreibung des Prädikats »lebendig« konstitutive von indikatorischen Merkmalen zu unterscheiden: Konstitutive Wesensmerkmale als die Kategorien des Lebendigen können (einzeln und insgesamt) auch nur in der Anschauung voll erfaßt werden. Sie bestimmen das Leben, täuschen es niemals vor. Sie bestimmen aber das Leben als Sein für die Anschauung, haben dagegen mit jenen Seinsschichten, in denen physikalische und chemische Begriffsbildung zu hause ist, unmittelbar nichts zu tun. Die Eigenschaft der Anschaulichkeit ist also den indikatorischen und den konstitutiven Wesensmerkmalen gemeinsam, weshalb auch die Zurückführung jener auf diese gelingt. 28 Wiewohl in der »Anschauung« erstere letzteren vorausgingen, verhielte es sich doch im Rahmen einer naturphilosophisch verfaßten Anthropologie (die zudem die Basis der, ihrerseits die Geisteswissenschaften grundlegenden Hermeneutik abgebe29) gerade umgekehrt. Hier gelte eine Reduktionsvermutung, die methodologisch den Primat der »Philosophie des lebendigen Daseins« überhaupt erst sicherstellte. Dieser Reduktionsvermutung gemäß wären jederzeit »Anmutungscharaktere« als letztlich attributive Bestimmungen an etwas zu verstehen, die »lebendige Bewegung« also, um die es zu tun ist, wäre notwendig die Bewegung eines Lebendigen, für welch letzteres wir dann aus genannten Gründen die entsprechenden konstitutiven Merkmale anzugeben hätten. Indikatorische Merkmale wären also mit Bezug auf konstitutive (epistemisch) lediglich vorläufig. König bestreitet dies unter Hinweis auf die Differenz zweier Formen der Prädikation, determinierende und modifizierende, wobei gilt: Determinierende Prädikate sind unmittelbar (Qualitäten) oder mittelbar (Quantitäten) sinnlich ausweisbar, während modifizierende Prädikate das große, Rätsel der Unsinnigkeit dessen, was ist, gewahren lassen. 30 Während determinierend gebrauchte Prädikate das Sein bestimmen, (x ist grün, x ist nicht rot, etc.), geben modifizierende das Sein in einem Modus31: In meinem Sprachgebrauch hingegen ist z. B. ›vergangen‹ Ausdruck für das Wie und also für den Modus des Wirkens und Seins. In sachlicher Hinsicht sowohl als auch J. König, Sein, 217. H. Plessner, Stufen, 114. 29  A. a. O., 30. 30  J. König, Sein, 1. 31  Wir haben es also nicht einfach nur mit verschiedenen Prädikaten zu tun, sondern mit »als Prädikaten verschiedenen« Prädikaten; dazu A. a. O., 1 ff. 27 

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in sprachlicher könnte ich gleich gut von modalen Prädikaten sprechen. Im philosophischen Sprachgebrauch besteht aber eine Neigung, nur Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit ›Modi des Seins‹ zu nennen, so daß die Vermeidung des Ausdrucks ›modal‹ ratsam scheint. Das so-Seiende als solches ist zwar ein modifiziertes Seiendes; aber diese Modifikationen können prinzipiell nicht das Seiende verändern oder gar aufheben; denn das wahrhaft Seiende ist nur als so oder so, also nur als so oder so, zum Beispiel das vergangen-Seiende ein Seiendes.32 Beide Formen der Prädikation33 stehen nicht einfach in einem Widerspruchsverhältnis; vielmehr sind modifizierende Prädikate auch determinierend, sie gehen aber in der determinierenden Verwendung nicht auf. Als Eigenheiten derselben können deren Steigerungsfähigkeit oder das Vorliegen echter Gegenteile gelten. 34 Grammatisch kann der Unterschied durch Redeübergänge verdeutlicht werden; während nämlich determinierend die Transformation von »x lebt« zu »x ist lebendig« zu »x ist ein Lebendiges« möglich ist, ohne Bedeutungsverschiebung anzunehmen, gelingt dies im Falle der modifizierenden Verwendung nicht – wie das Beispiel des lebendig-Wirkens der Landschaft oder des leer-Wirkens des Zimmers zeigen: Das so-Wirkende, das intensiv-verbale so-Seiende und als das Seiende, das nicht das Vorhandensein ist, ist ursprünglich das, als welches wir es aussprechen: es ist ursprünglich das Seiende. Der Ausdruck das Seiende entspringt hier keiner Umwandlung von Sätzen, Reden über als eine und einige vorausgesetzte Subjekte. Denn die Subjekte des so Wirkens (zum Beispiel ein Zimmer, das leer wirkt) sind, wie gezeigt nichts anderes als das so-Wirkende, also nichts als das Seiende. 35 Intensiv-verbal ist der Ausdruck »lebendig«, weil das »Leben« als Vollzugsanzeige hinsichtlich seiner Intensität graduierbar ist. Damit wird aber nicht nur die Situationsgebundenheit modifizierender Rede, sondern vor allem die Adressaten-Adressanten-Gebundenheit deutlich. Denn das »so-Wirken« ist wesentlich ein solches »für jemanden« und impliziert so einen (unaufhebbaren) Selbstbezug. Nun entspricht aber die Plessnersche Darstellung gerade der determinierenden Rede, sodaß es in der Tat notwendig zu sein scheint, die Bewegung nicht selbst als Subjekt des Lebendigseins aufzufassen, sondern nur als Bestimmung eines Dinges, von dem dann wieder die oben angezeigten Eigenschaften möglich sind. Plessners Bestimmung wäre also wohl im Felde lebenswissenschaftlichen Sprechens zuzustimmen; nicht jedoch hinsichtlich der Reduktionsvermutung auf determinierende Prädikation:

A. a. O., 222. Um dem Vorwurf zu entgehen, es handele sich bei der Unterscheidung um die Aufraffung einfach empirischer Eigenheiten einer natürlichen Sprache, soll zwar durchaus von Prädikaten der genannten Eigenheiten die Rede sein, dabei aber immer mitgedacht werden, daß es einem Wort nicht anzusehen ist, ob es determinierend oder modifizierend fungiert. Es geht also um die modifizierende oder determinierende Verwendung der entsprechenden Ausdrücke. 34  A. a. O., 214. 35  A. a. O., 63. 32  33 

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Daß ein Satz wie X lebt keine theoretische Bestimmung ist […], darf nicht dahin gekehrt werden, daß er schlechthin keine solche darstellen könne. Sagen wir Tiere und Pflanzen leben, Steine nicht, so fungiert leben offenbar theoretisch bestimmend. 36 Aristotelisierende Stufenfolgen (die ja für Plessners naturphilosophische Basis wesentlich sind, um das Konzept der exzentrischen Positionalität einführen zu können37) erhielten ontische Dignität.

4.2  Pragmatistisches Interludium Folgen wir hingegen Königs Überlegungen, so wäre die modifizierende Rede insofern irreduzibel, als sie nicht umstandslos in die Form des determinierenden Redens gebracht werden kann; denn weder folgt aus dem leer-Wirken desselben dessen leer-Sein, noch ist die Aussage, daß das Zimmer auf einen Betrachter leer wirke, aufzulösen in die Konjunktion der beiden Sätze »das Zimmer ist leer« und »das Leersein wirkt auf den Betrachter«. Dieser Ausgang bei modifizierenden Reden hätte allerdings nicht nur die Folge, daß Anmutungen nicht einfachhin in Abhängigkeit von Sachverhaltsäußerungen gerieten; es wäre vielmehr auf eigentümliche Weise auch die Rede von den »Trägern«, welche bei unterstelltem Primat determinierender Prädikate in den Blick gerieten  – wie es denn bei Plessner auch tatsächlich geschieht – erneut vorzunehmen. Faßt man nämlich – was dem Erörterungsinteresse Königs an dieser Stelle nicht mehr entspricht – den Ausdruck »leben« nicht als Anzeige der Anwesenheit lebendiger Dinge auf, sondern als Artikulation situativen Wissens, dann repräsentiert die modifizierende Redeweise einen (in gewisser Hinsicht) voranalytischen Um-zu-Aspekt, dem noch keine »Gegenstände« außerhalb des Umgänglichen vorliegen: Das ursprüngliche Wissen um Leben und Lebendiges kann selbstverständlich nicht daraus hergeleitet werden, das wir es aus einem äußeren Habitus erschließen oder auch in irgendeiner anderen mehr unmittelbaren Weise daraus gewinnen. Im Gegenteil ist offenkundig, daß es vorhergehen muß, wenn irgendwelche Sinnfälligkeiten als Zeichen dienen können sollen. 38 Die Vorgängigkeit wäre hier zunächst nicht zeitlich gemeint, insbesondere wenn es sich um die Abwehr eines Primates des Theoretischen handelt, was die Plessnersche Darstellung zumindest explikativ nahelegt. Soll nun das Wissen, welches vorhergehen soll, nicht schon selber theoretisch verfaßt sein und dennoch die Möglichkeit solcher

A. a. O., 215. Man denke exemplarisch an dessen Taxonomie grenzerzeugender Körper, die ebenfalls – als »offene«, »geschlossen konzentrische« und »exzentrische«–, Pflanzen, Tiere und Menschen kennt. 38  A. a. O., 215. 36  37 

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Explikation zumindest im Anfang enthalten, so können wir einem Hinweis Mischs39 auf Nietzsche folgend beim »gemeinschaftlichen werktätigen Lebensverkehr« einsetzen. Danach wäre umgängliches Wissen (als Wissen-um) kein Komposit aus einem (wesentlich propositional verfaßten) Wissen-wie und Wissen-was, das angelegentlich gewisser Gegebenheiten (Gegenstände etc.) sowie unter Annahme gewisser Zwecke zur Instantiierung gelangte. Wissen-um bezeichnet vielmehr situative Vollzüge des Tuns und der Tätigkeit, deren (sprachliche) Artikulation die (analytische) Auszeichnung der genannten Aspekte erst erlaubte40: Der Gegenstand ist als Etwas bestimmt immer nur sofern er zu Etwas bestimmt ist. Darin liegt, daß es in der Welt des Werkzeuges niemals bloße Dingbeschaffenheiten, sondern daß es in ihr, um einen mathematischen Ausdruck zu brauchen, nur ein Ganzes von ›Vektorgrößen‹ gibt. Jedes Sein ist hier in sich bestimmt, aber es ist zugleich Ausdruck einer bestimmten Verrichtung, und in dieser Anschauung der Verrichtung geht dem Menschen ganz allgemein eine prinzipiell neue Blickrichtung, geht ihm die Auffassung einer ›objektiven Kausalität‹ auf.41 Die Bestimmung von etwas z. B. als Pflanze wäre an Tätigkeiten als einem besonderen Sich-zu-etwas-Verhaltens zu binden.42 Dieses Tun und diese Tätigkeiten sind es, bezüglich derer wir etwas als Pflanze (praktisch) bestimmen. In dieser Form würde sie zu einem »Zu-etwas«, also in ihren Bestimmungen auf die Tätigkeit als Mittel bezogen.43 In der jeweiligen Form des Gebrauchs findet eine Differenzierung des »Sich-zu-etwasVerhaltens« statt. Die Unterscheidung von Mensch und Tier, Tier und Pflanze fände also mit Bezug auf den Menschen statt, weshalb in gewisser Hinsicht die Ausdrücke des Tierlichen und Pflanzlichen den Menschen selber charakterisieren. Versteht man die Hegelschen Darstellungen nicht generisch, sondern pragmatistisch, dann wäre das Etwas, zu dem der Mensch sich verhält in seiner besonderen Widerständigkeit, d. h. der Art und Weise zu sehen, wie es bezüglich seines Tuns und seiner Tätigkeit reagiert (und sich bestimmt), somit erst durch das Tun und die Tätigkeit als ein sich so bestimmendes generiert. Diese eigentümliche Doppelung des Wissens-um als eines praktischen Wissens läßt sich analytisch an »synthetisch-zweckbestimmten Handlungen« erläutern.44 Die Möglichkeit des Scheiterns solcher Handlungen beruht nicht nur auf der Möglichkeit einer (nicht-regelgerechten) Aktualisierung von Handlungsschemata. Vielmehr ist »Scheitern« auch zugleich als Artikulation besonderer Widerständigkeit des jeweils in Tätigkeit Stehenden aufzufassen.

39  40  41  42  43  44 

G. Misch, Leben, 259. M. Gutmann, Erfahren. E. Cassirer, Technik, 64. Das folgende basierend auf M. Gutmann, »Mensch«. G. W. F. Hegel, System, 23 f. P. Janich, »Natur«.

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4.3  Praktische und theoretische Sätze Unsere bisherigen Überlegungen orientierten sich an der Differenz von determinierender und modifizierender Rede. Nun wies allerdings die Königsche Kritik noch eine weitere Unterscheidung auf, die für die Bestimmung des Verhältnisses von wissenschaftlicher und lebensweltlicher Rede von Bedeutung ist – wir bringen das oben angeführte Zitat erneut: Daß ein Satz wie X lebt keine theoretische Bestimmung ist […], darf nicht dahin gekehrt werden, daß er schlechthin keine solche darstellen könne. Sagen wir Tiere und Pflanzen leben, Steine nicht, so fungiert leben offenbar theoretisch bestimmend.45 Daß Sätze theoretisch fungieren können, geht über die Unterscheidung determinierender und modifizierender Prädikate insofern hinaus, als diese Differenz nicht identifiziert werden darf mit einem Sprachebenenwechsel von lebensweltlicher zu wissenschaftlicher Rede. Denn determinierende Prädikation findet sich hier wie dort (das Problem modifizierender Rede im Bereich des Wissenschaftlichen wird uns weiter unten noch beschäftigen). Praktische Sätze wären zunächst sprachliche Äußerungen – sie sind aber zugleich »Handlungen in der Form von Sätzen«, d. h., das, was sie bedeuten, ist zugleich ihre Bedeutung, die eben nicht in dem propositionalen Gehalt der Äußerung aufgeht. Sätzen der genannten Art ist es nicht (nur) ihrer grammatischen Form nach anzusehen, ob und inwieweit sie als praktische Sätze fungieren.46 Der methodologisch wesentliche Gedanke besteht vielmehr in dem Kontext der Mitteilung als jenem Medium, innerhalb dessen und wodurch ein bestimmtes (hier praktisches) Wissen-um präsent wird: Das Jemandem-etwas-Geben, z. B. einen Blumenstrauß, ist ein Handeln, und das Jemanden-dieses-oder-jenes-Mitteilen ist gleichfalls ein Handeln; und zwar gewiß ein Handeln von der Art, daß nur Wesen, die Sprache haben, so handeln können; aber gleichwohl gilt, daß das Miteinander-Sprechen dieses Handeln selber ist und daß nicht oder doch nicht eigentlich bloß ein Mittel ist zum Zwecke solchen Mitteilens. Wenn wir in irgendeiner entsprechenden Situation zu jemandem sagen, »der Kamm liegt in der Schublade«, so dient solches Sagen nicht eigentlich dem Mitteilen, sondern ist dieses Mitteilen.47 Dieses Mitteilen besteht in Sonderheit darin, daß nicht einfach etwas – ein propositional verfaßter Gehalt – von seinem Besitzer an einen anderen weitergegeben wird. Es ist vielmehr das Mitteilen als gemeinsames Tun, welches die Mitteilung als Vollzogenes

J. König, Sein, 215. König zeigt dies exemplarisch am Caius-Syllogismus; ein und dieselbe sprachliche Wendung (»Caius ist ein Mensch«) kann dabei sowohl praktisch wie theoretisch fungieren  – die Verwendung formalsprachlicher Ausdrücke ist dabei ein (allerdings notwendiges) Anzeichen (J. König, »Unterschied«). Dazu ferner B. Snell Entdeckung. 47  J. König, »Unterschied«, 284 f. 45 

46 

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erzeugt oder bereitstellt.48 Während also praktische Sätze einen notwendigen Bezug auf den Äußernden haben (die Äußerung ist aufgrund des performativen Aspektes, auf den es König hier ankommt, im besten Sinne unvertretbar), gilt dies nicht für theoretische Sätze. Die Kontextualität praktischer Äußerungen ist also im Falle theoretischer Sätze in zweierlei Hinsicht aufgehoben: 1 Zum einen ist der Bezug auf einen Äußernden kontingent. Die Bedeutung des Satzes soll vielmehr unabhängig vom je sie Äußernden sein. 2 Zudem aber ist auch der situative Charakter der Äußerung aufgehoben. Während etwa die Äußerung »ich wähnte meinen Bruder Karl in München« unter gegebenen Umständen als echtes Vermeinen, Feststellung, Ausrede oder Lüge bestimmt werden kann, und damit in ihrem Wahrheitswert elementar von diesen abhängt, gilt das nicht etwa für den Satz: »Es gibt Vestimentiferen«. In diesem Fall haben wir es – übrigens unabhängig von der möglichen Formalisierung  – mit einer vom je Äußernden – als natürlicher Person – unabhängigen Äußerung zu tun, die als Aussage wahr oder falsch sein mag. Die Personeninvarianz gilt dabei allerdings nur insofern, als es des Vorliegens eines bestimmten Situationstypes bedarf: Bezüglich des Vorliegens wissenschaftlichen Diskurses und der entsprechend normierten Labor-, Beobachtungsund Beschreibungspraxis wird der Satz als theoretischer gewertet.

5.  Praktische Verhältnisse und Übergang in die Theorie Die Relevanz modifizierender Prädikate im lebensweltlichen Zusammenhang sollte durch die oben gegebenen Beispiele deutlich geworden sein. Mit Hilfe der modifizierenden Verwendung von Sprachstücken verständigen wir uns im Rahmen praktischer Äußerungen, bei welchen einmal Praxis und einmal Theorie übergreift. Im Rahmen entsprechender lebensweltlicher Praxen und ihrer sprachlichen Reflexion werden Gegenstände konstituiert – und zwar keinesfalls nur als Vorstufen des wissenschaftlichen. Folgen wir dem entfalteten pragmatistischen Argument, dann ist diese Konstitution eigentümlich doppelläufig: 1 Zunächst nämlich ist Pflanze oder Tier als etwas zu etwas  – also Mittel. In dieser Form ist es lebendige Technik, ein Gegenstand, der zur Realisierung von Zwecken genutzt wird. Das angezeigte Übergreifen des Praktischen liegt in der Regionalität der Praxen: Es wird in erheblichem Ausmaß das Resultat von der jeweiligen Fertigkeit des Handelnden abhängen. Diese sind gewissermaßen die Spiegelung der gegenständlichen Bestimmungen, insofern letztere an ersteren rekonstruiert wurden. Das Verhältnis von Leben und Technik ist im Falle lebendiger Technik selber ein praktisches.

48 

M. Gutmann, Erfahren.

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2 Zugleich sind Tier, Pflanze etc., indem sie Mittel sind, selber Gegenstand des Handelns; sie werden zu Zwecken. Als solche sind sie technisches Leben, insofern nun an ihnen gearbeitet wird, um etwas (etwa immer besser oder auf andere Weise) zu erreichen. Es kommt zur Reflexion im Vollzuge, sodaß nun die Theorie übergreift: Das Verhältnis von Leben und Technik ist als technisches Leben ein theoretisches innerhalb der Praxis. Die lebensweltlichen Praxen der Kultivierung und Melioration, der Hälterung und der Züchtung führen uns die Doppelläufigkeit beider Bestimmungen vor Augen, da die Um-zu-Motive sowohl den Gegenstand wie seine Verwendung strukturieren.49 Mit der Reflexion von Vollzügen innerhalb praktischer Verhältnisse läßt sich der Übergang in eine neue Praxisform verbinden. Während die Artikulation praktischer Verhältnisse in praktischen Sätzen sich vollzieht, ist schon die theoretische Strukturierung innerhalb der Praxen selber eine Bewegung, die von reiner Situativität abführt – die Formulierung von Zweck-Mittel-Verhältnissen gelingt aber letztlich nur unter Angabe explizierbarer Regeln, die u. a. abduktiv gewonnen werden können. 50 Methodologisch läßt sich der Übergang in theoretische Praxisverhältnisse durch Sprachebenenwechsel charakterisieren, wobei im gegebenen Zusammenhang die Rede von biotischen in jene von biologischen Gegenständen transformiert wird. Die Beschreibung und Strukturierungen von Lebewesen als Organismen führt zu geregelten Übergängen von lebensweltlichen zu wissenschaftlichen Sprachstücken  – zumindest gilt dies für methodische Anfänge in die biologische Theoriebildung hinein, wie sie exemplarisch durch funktions- und konstruktionsmorphologische, aber auch genetische oder ökologische Gegenstandskonstitution repräsentiert sein mag. 51 Die Konstitution wissenschaftlicher Gegenstände führt zur Unterscheidung etwa von Teilen eines Lebewesens auf der einen, Strukturen eines Organismus auf der anderen Seite, Leistungen eines Lebewesens auf der einen, Funktionen eines Organismus auf der anderen Seite etc. Lebewesen werden also in einem ersten Schritt so beschrieben, als ob sie funktionale Einheiten wären, und entsprechend strukturiert. Eine solche Strukturierung vollzieht sich unter Anleitung, wobei Regeln oder Gesetzmäßigkeiten genutzt werden, die aus den technischen, physikalischen oder anderen nicht biologischen Zusammenhängen stammen. Exemplarisch sei an die Formulierung von Züchtungszielen unter Nutzung mechanischer Gesetze oder die Homogenisierung von Züchtungskollektiven unter Nutzung von Kreuzungsregeln erinnert.52 Für beide Fälle ist determinierende Rede wesentlich, und doch dürften beide Fälle nicht mit dieser

Dazu weiterführend A. a. O. Die besondere Pointe dieses eben nicht lebens-, sondern organismustheoretischen Ansatzes besteht in der Einsicht der Verzichtbarkeit des Ausdruckes »l / Leben« für das (erfolgreiche) Betreiben von Biologie. Tatsächlich ergibt sich dessen Redundanz aus der Einführung als Reflexionsterminus; es ist dann überhaupt nur noch von bestimmten Vorgängen oder Eigenheiten die Rede, nicht mehr aber von »Leben« in Gegenstandsstellung. 50  C. Hubig, Kunst. 51  Dazu M. Gutmann / P. Janich, »Biodiversität«. 52  Dazu M. Gutmann, Evolutionstheorie. 49 

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alleine auskommen. Um diesem Umstand auf den Grund zu gehen, muß nun noch die Rolle modifizierender Redeformen im Wissenschaftlichen näher untersucht werden.

6.  Modifizierende Rede in der Wissenschaft? In der Form, wie wir oben modifizierende Ausdrücke einführten, gibt es gute Gründe, deren Auftreten innerhalb wissenschaftlichen Sprachaufbaues zurückzuweisen. Wie das Beispiel metaphorischer Sprachstücke53 zeigt, finden sich solche aber regelmäßig, ohne daß über den Umgang mit diesen Einigkeit bestünde. Es soll hier nun ein Vorschlag unterbreitet werden, der deren Funktion als nicht nur heuristisch versteht; sie erweisen sich dabei, wie andere Formen »bildlicher« Rede, als modifizierende Ausdrücke, wiewohl sie nicht alle Eigenheiten derselben in praktischen Verhältnissen aufweisen. Werden diese nämlich verlassen und mithin der Beginn wissenschaftlicher Gegenstandskonstitution durch begriffliche Konstruktion erweitert, so kehren sich die oben skizzierten Relationen um. Nun ist es nicht mehr der Übergang zur technisch stabilisierten wissenschaftlichen Praxis, sondern die Strukturierung und Entwicklung dieser Praxis selber, welche in Rede steht. Wie oben entwickelt, ist der Kontext wissenschaftlicher Praxis durch theoretische Sätze angezeigt, d. h. durch solche Sätze, deren Wahrheitswert grundsätzlich vom Äußernden unabhängig ist. Diese Anforderungen haben nun methodologisch Folgen für den Umgang mit den beiden Formen der Rede. Exemplarisch sei dies am Übergang von »Lebewesen werden als Maschinen beschrieben« zu »Lebewesen sind Maschinen« gezeigt. Während die identifizierende Redeweise erhebliche Begründungslasten mit sich bringt, erlaubt die »als ob« Rede eine verschärfende Bestimmung des Verhältnisses von Lebewesen und Artefakt. Wie im Zusammenhang von lebensweltlicher Transformation modifizierender in determinierender Rede wäre hier die Verschärfung des ursprünglich noch metaphorischen Sprechens (der Vogel ist eine Flugmaschine) zum modellierenden Sprechen jener gesuchte Übergang – innerhalb der Form des »als ob«. Mit Verschärfung ist gemeint, daß eine Explikation des Modellandums mit Hilfe des Modellans Inferenzen ermöglicht, die ihrerseits zu erfolgreicher Explikation, Explanation, Prognose etc. führen. Diese Verschärfungen sind nicht einfach im Sinne determinierender Rede zu verstehen, weil die Bestimmung des Lebewesens als eines Organismus nur bezüglich des – wiewohl praktisch zu bewährenden  – Vorgriffes der metaphorischen Beziehung auf das jeweilige Modellans stattfindet. Wäre dies anders, »gäbe« also es gleichsam »die« Explikation der Metapher, worauf diese zu einer toten würde, dann wäre die Form der identifizierenden Rede wieder eingeholt. 54 Nun werden im Rahmen des hier vorgetragenen Argumentes die erarbeiteten Gegenstände der lebenswissenschaftlichen Be53  Diese stehen hier – aller Unterschiede im einzelnen zum Trotz – exemplarisch für das Gesamt uneigentlicher Rede; zu anderen Formen s. M. Gutmann / B. Rathgeber, »Information«. 54  In diesem Fall wäre die Kritik Rosens nicht zu umgehen, der von der Cartesischen Metapher als einer gescheiterten feststellt:

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trachtung erst mit, durch und in dem Vorgriff selber bestimmt. Ist diese Explikation eine notwendig-mögliche, dann wird sie rücksichtlich der investierten Anfänge zu einer (bloß) möglich-notwendigen. 55 Wiederum ergibt sich ein gedoppeltes Verhältnis – nun innerhalb wissenschaftlicher Praxis  – das sich exemplarisch an der Unterscheidung von technischer Biologie und Bionik erläutern läßt. Beide Herangehensweisen werden als komplementär zueinander bestimmt, wobei die Aufgabe der technischen Biologie eher im Zusammenhang der Erklärung »natürlicher« Phänomene läge: Die »Technische Biologie« untersucht und beschreibt Konstruktionen, Verfahrensweisen und Evolutionsprinzipien der Natur unter Einbeziehung der Analysen- und Deskriptionsverfahren von Physik und Technik. Sie ist also eine biologische Disziplin, in der Grundlagenforschung gemacht wird. 56 Folgen wir dem oben beschrittenen Weg, so ergibt sich aber das Wissen über die Verfaßtheit der Natur durch die Investition der »Analysen- und Deskriptionsverfahren von Physik und Technik«. Denn beschreiben wir (als technische Biologen, Funktions- oder Konstruktionsmorphologen) Lebewesen so, als ob sie Maschinen57 wären, dann können jene aus der Artefakterstellung bekannten, die entsprechenden technischen und wissenschaftlichen Praxen regelnden Gesetzmäßigkeiten genutzt werden, um den (biologischen) Skopus zu strukturieren. Wird etwa ein Vogelflügel als Tragfläche beschrieben, dann erfolgt die (präparative)58 Strukturierung unter Nutzung etwa aerodynamischer Gesetzmäßigkeiten. Die resultierenden »Konstruktionen«, die wir auch als »Baupläne« ansprechen können, 59 sind dann jene funktionellen Gebilde, die als Organismen den Referenten biologischer (hier biomechanischer) Forschung abgeben. Formal betrachtet On Balance, the Cartesian metaphor of organism as machine has proved to be a good idea. Ideas do not have to be correct in order to be good; it is only necessary that, if they do fail, they do so in an interesting way. (R. Rosen, Life, 248) Es bleibt aber zu zeigen, worin das Interessante dieses Scheiterns besteht. In der hier vorgetragenen Lesart läßt sich dies sagen und damit wäre zugleich zugestanden, daß das Scheitern, so es ein solches identifizierenden Redens sein soll, der eigentliche Gewinn der Explikation uneigentlicher Redeweisen innerhalb wissenschaftlicher Kontexte ist. 55  Diese Bestimmung schließt bildliche Rede innerhalb wissenschaftlicher Praxis also nicht aus; es greift aber hier sprachlich die reine Bedeutungsfunktion über, nicht die Konnotation (wie dies im Rahmen praktischer Verhältnisse zugestanden werden kann). 56  W. Nachtigall, Bionik, 4. 57  Diesen Ausdruck in seiner allgemeinsten Bedeutung genommen; es kann also (was durch das gewählte einfache Beispiel evtl. nahegelegt würde) nicht nur um die Nutzung klassischer Arbeits-, Kraft- und Transmissionsaggregate gehen. Vielmehr ist letztlich jede formal beschreibbare (bis hin zur Turing-simulierbaren) Vorrichtung als Maschine anzusprechen (dazu unter formalem Gesichtspunkt A. a. O.). 58  Damit soll der direkte Praxisbezug angedeutet werden, der sich ähnlich z. B. auch im medizinischen Bereich finden läßt – Präparation wäre dann allerdings keine einfache Eröffnung dessen, was einfachhin »in« Lebewesen vorhanden ist, sondern eine regelgeleitete Praxis der (im Beispiel allerdings sehr einfachen) Gegenstandskonstitution. Erheblich komplizierter werden die Verhältnisse etwa im cytologischen Zusammenhang, oder bei der Einbeziehung histologischer Präparate (dazu weiter M. Gutmann / M. Türkay, »Bauplan«). 59  S. M. Gutmann, »Crustacean«.

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werden auf diese Weise Äquivalenzrelationen etabliert, wobei Leistungsgleichheit die Identifikation der relevanten Strukturen erlaubt, Funktionsgleichheit die Explikation des Mechanismus, sowie diese zusammen mit Gesetzesgleichheit weiterführende Inferenzen.60 Letzteres ist besonders wichtig, da erst durch experimentell kontrollierte61 Inferenzen Adäquatheit und Güte des Modells überprüft werden können. Methodologisch läßt sich an diesem Beispiel zweierlei darstellen: 1 Das Lebewesen erscheint hier überhaupt nur, insofern es technisch strukturiert ist. Das so anzusprechende technische Leben ist also – im Gegensatz zu den oben explizierten praktischen Verhältnissen – nach Maßgabe theoretischer Reflexion Strukturierungsresultat zu wissenschaftlichen Zwecken. Als solches ist es zunächst als Mittel bestimmt. 2 Zugleich werden lebensweltliche Reden wissenschaftlich reflektiert. Exemplarisch läßt sich dies an den Ausdrücken »fliegen« und »schwimmen« zeigen: Die Differenz beider lebensweltlich wohl unterscheidbarer Tätigkeiten (deren eine wir etwa einer Amsel, deren andere einer Forelle zuschrieben), verliert ihre Relevanz im wissenschaftlichen Zusammenhang.62 Wir haben es hier nur noch mit Propulsionsvorgängen zu tun, bei welchen die lebensweltliche Differenz u. a. auf die Differenz der Medieneigenschaften zurückzuführen ist.63 Es ist damit die Entfernung vom lebensweltlichen Zusammenhang, die regelmäßig die Lösung technischer und wissenschaftlicher Probleme ermöglicht.64 Es gilt hier ferner – im Gegensatz zur oben auftretenden Form technischen Lebens –, daß die Zweck-Mittel-Verhältnisse innerhalb der Theorie etabliert werden. Es greift hier also die Theorie über. D. h., das Verhältnis von Technik und Leben als technisches Leben ist ein theoretisches innerhalb der Theorie (Wissenschaft). Doch ebenso ergibt die Umkehrung des pragmatischen Verhältnisses eine weitere Stellung, die formal jener innerhalb praktischer Verhältnisse entspricht und die regelmäßig als eine Form der Technisierung des Lebens angesehen, ja regelrecht als Mimesis des Lebens durch die Technik aufgefaßt wird, nämlich die Bionik. Diese wird von Nachtigall wie folgt definiert: Am Beispiel der Spiegelneurone B. Rathgeber / M. Gutmann, »Mirror neurons«. Es sind also im Bereich empirischer Wissenschaften gerade die Formen der Reproduzierbarkeit der Resultate, die über Intersubjektivität hinausreichen. Während zu formal- oder idealwissenschaftlichen Zwecken die Verfahrensrelativität hinreichend sein wird (Verfahren hier in seiner strengsten Bedeutung; s. etwa C. F. Gethmann, Protologik). 62  Dies gilt sogar bei Kenntnis der Wasseramsel – denn »Fliegen« kann (in dem hier relevanten technischen Sinn) – eben auch unter Wasser stattfinden. 63  Das entwertet lebensweltliche Unterscheidungen nicht grundsätzlich hinsichtlich ihrer Anfangsfunktion; diese »phänomenologische« Einführung darf nur nicht in ihrer Relevanz überlastet werden. 64  Die schon oft bemerkte Tatsache, daß lebensweltliche Verhältnisse in theoretischer Beschreibung zu Spezialfällen der genutzten Theorie werden, erhält hier also ihre sinnfällige Erklärung. Die durchaus entgegengesetzte Wertung dieses Sachverhaltes (s. etwa E. Husserl, Krisis, zum einen und E. Cassirer, Substanzbegriff, zum anderen) geht also letztlich am praxeologischen Kern der Entwicklung des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft vorbei. 60  61 

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Bionik versucht, Konstruktionen und Verfahrensweisen der Natur als Anregung, Vorbild und Herausforderung für eigenständig technisches (Weiter)Konstruieren zu nehmen. (…) Sie basiert auf der Technischen Biologie und bedeutet deren Ergebnisse für eine technische Weiterführung aus.65 Als Beispiele werden – neben den naheliegenden von Formgestaltung und Design technischer Geräte – auch erheblich weitergehende Ansätze genannt wie etwa Robotik, Aktor-Sensor-Netze und anthropo- bzw. biomedizinische Technik.66 Diese Untersuchung von Konstruktionen »der Natur« gelingt aber eben erst, nachdem wir Lebewesen schon auf technische Normalform gebracht haben.67 Es ließen sich weitere – wissenschaftsimmanent höchst relevante – Fälle anführen, wie etwa die standardisierte Produktion von Labororganismen (die in unserer Terminologie als Organismen anzusprechen wären), die selber als realisierte Zwecke ihren attribuierten Mittelcharakter übersteigen. Es sind dies Lebewesen innerhalb theoretisch verfaßter Praxis, die als Realisate modellierter, ursprünglich metaphorischer Beschreibungen gelten können. Das Lebewesen erscheint als lebendige Technik; die Zwecke werden in der Form einer Beschreibung vorgegeben, die am technischen Leben gewonnen wurde. Zweck ist dabei weniger die Erklärung von Fähigkeiten, Eigenschaften von Lebewesen als mehr die Bereitstellung weiterer Mittel.68 Wiederum also greift hier das Praktische – nun aber innerhalb – der Theorie (Wissenschaft) über.

7.  Schluß Als Resultat unserer Untersuchung, die sich ausschließlich mit methodologischen Aspekten der Rede von »leben und Leben« beschäftigte, kann festgehalten werden, daß praktische Umgänge zumindest im Anfang von biowissenschaftlicher Grundlegung unabhängig sind. Allerdings ergab sich – der investierten pragmatistischen Lesart geschuldet – eine Abhängigkeit des Gegenstandsbezuges vom jeweiligen umgänglichen Wissen, das wir hier seinerseits als ein zunächst praktisches rekonstruierten. Die Explikation des Ausdruckes »l / Leben« ist also weder einfach auf lebensweltliche Umgänge reduzierbar, noch als eigentlich wissenschaftlicher Gegenstand identifizierbar. Vielmehr ließ sich in der Doppelung von determinierenden und modifizierenden Reden auf der einen Seite, praktischen und theoretischen Sätzen auf der anderen die eigentümliche W. Nachtigall, Bionik, 10. A. a. O., 10 ff. 67  S. z. B. A. Grunwald, »Bionik«. 68  Dies gilt auch und gerade für den außerwissenschaftlichen Bereich. Die Re-Artikulation lebensweltlicher Praxis kann – wie das Beispiel der rasanten Entwicklung von Reproduktionstechniken zeigt – zu neuen, »verwissenschaftlichten« Praxen führen, deren lebensweltliche Aufnahme deren grundsätzliche Irreduzibilität unterstreicht (es erscheint ebenso zwecklos, den stabilen Alltagsaristotelismus des »Sonnenaufganges« überwinden zu wollen, wie ein solches Unternehmen aussichtslos sein dürfte für die eingelebte Transmissionsgenetik der »Weitergabe von Merkmalen« – oder »Eigenschaften«). 65 

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Verschränkung von Technik (als Form menschlichen Tuns) und Leben (als Anzeige »werktätigen Lebensverkehres«) aufzeigen. Technisierung des Lebens ist, diesem Einsatz folgend, kein äußerlicher, einer Sache sekundär aufgenötigter Vorgang; sie wäre vielmehr überhaupt nur im und am tätigen Umgang zugänglich. Von besonderem Interesse ist allerdings das Verhältnis zwischen lebendiger Technik und technischem Leben in der Verdoppelung von praktischen und theoretischen Sätzen. Es ergibt sich nämlich eine schematische Gegenüberstellung, welche die formale Möglichkeit der Rede von technischer Technik zum einen, lebendigen Lebens zum anderen böte (s. Abbildung 1).

lebendiges Leben

lebendige Technik

technisches Leben

technische Technik Abbildung 1: Schematische Gegenüberstellung hier entwickelter begrifflicher Verhältnisse (unter Einbeziehung ihrer »reinen« Formen; Erläuterung s. Text).

Diese begrifflich zu entwickeln, ist hier nicht der Ort; als Anzeige reinen (unvermittelten) Hervorbringens auf der einen Seite, der reinen Vermittlung der Reflexion auf der anderen läßt sie sich aber deuten. Unabhängig vom Gelingen ihrer begrifflichen Rekonstruktion wären diese beiden Positionen als solche nur durch die Rekonstruktion der Verhältnisse lebendiger Technik und technischen Lebens hindurch zu bestimmen und erwiesen sich somit als Gegenstände mittlerer Eigentlichkeit. Das Wissen um Leben wäre damit weder einfach in die (technische) Formverfaßtheit menschlichen Tuns zurückzunehmen, noch ihr schlicht entgegengesetzt. Der Gegenstand dieses Wissens jedenfalls erscheint überhaupt nur innerhalb derselben.

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Leben und Technik

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Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt. Neue Herausforderungen für eine Technikethik als Ermöglichungsethik Christoph Hubig

1.  Einleitung Angesichts der rasanten Entwicklung der modernen Schlüsseltechnologien – der Informations-, der Bio- und Nanotechnologien – scheinen sowohl die klassische Vorstellung von Technik als Inbegriff der Mittel einschließlich ihres Einsatzes fragwürdig zu werden1 wie auch bestimmte Konzepte von Lebenswelt als Inbegriff von regelmäßigen, regelgeleiteten und personeninvariant aktualisierbaren Praxen, 2 da diese auf dem Technikkonzept des gesicherten, daher wiederholbaren und antizipierbaren Mitteleinsatzes aufruhen. Jene Hochtechnologien nämlich – so die Schlagworte – werden zu »converging technologies«, da ihre Ergebnisse komplexe Einheiten mit  – individuellen und variablen  – biotischen Eigenschaften, Informationsverarbeitungskapazität und, aufgrund der Nanodimensionalität und Nanofunktionalität, neuer Einbettbarkeit in unterschiedlichste systemische Zusammenhänge darstellen, so dass eine einzelne Identifizierbarkeit und regelbasierte Kontrollierbarkeit von Mitteln relational zur Handlungsabsicht – Gelingen und Erfolg – erschwert oder gar unmöglich würde. Und ferner werden jene Technologien zu »enabling technologies«, wodurch wohl ausgedrückt werden soll, dass sie nicht bloß als Mittel die Realisierung von Zwecken ermöglichen – das ist der Sinn jeder Technik –, sondern in neuer Weise eine variable und transformierbare Möglichkeitsbasis abgeben (unspezifisch zur Bindung an Problemlagen und Zwecke), auf der dann Strategien des Mitteleinsatzes als erste Aktualisierungskonzepte zu entwickeln sind, die sich ihrerseits in Handlungsvollzügen aktualisieren lassen, welche nur noch sehr mittelbar oder gar nicht mehr von den handelnden Subjekten zu jener Basis in einen Bezug gesetzt werden können. Jene Technologien scheinen dann »fraglos« im Sinne von »nicht mehr befragbar« zu werden, in den einzelnen Vollzügen als solche indisponibel, zu irgendwie »verselbstständigten« hintergründigen Instanzen. Sie scheinen mithin in problematischer Weise Züge eines Substituts von Lebenswelt anzunehmen, zumindest in phänomenaler Hinsicht, wie es Hans Blumenberg beispielsweise bereits 1963 zum Ausdruck gebracht hat: »Die künstliche Realität, der Fremdling unter den vorgefundenen Dingen der Natur, sinkt an einem bestimmten Punkte zurück in das ›Universum der Selbstverständlichkeiten‹, in die Lebenswelt. Der von Husserl analysierte Prozess der Verdeckung des Entdeckens erreicht erst darin sein Telos, dass das in theoretischen Fragen unselbstverständlich Gewordene zurückkehrt in die Fraglosigkeit. Ungleich 1  2 

Siehe hierzu: C. Hubig, Die Kunst des Möglichen I. Kap. 4. D. Hartmann / P. Janich, Methodischer Kulturalismus. 37 f.

Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt.

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vollkommener als durch die Mimikry der Gehäuse wird das Technische als solches unsichtbar, wenn es der Lebenswelt implantiert ist … [und] beginnt seinerseits, die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen …«3. Und Marc Weiser sekundierte 30 Jahre später mit der programmatischen, inflationär zitierten These: »Die tiefgreifendsten Technologien sind die, die verschwinden. Sie verbinden sich mit den Strukturen des täglichen Lebens, bis sie von ihnen nicht mehr zu unterscheiden sind.«4 Mal mit kulturpessimistischer, mal mit kultur- und technikoptimistischer Konnotation finden sich zahlreiche Varianten dieses Befundes, der für eine analytisch orientierte Technikphilosophie eine Herausforderung darstellt. Neuere Technikphilosophien suchen konsequenterweise Technik als basale Instanz theoretischer und praktischer Weltbezüge, als Instanz abgeleiteter Bedingungsverhältnisse mit Modalkategorien zu erfassen, sei es, dass Technik als medialer Transformationsraum (Gamm)5, als Textur (Grunwald / Julliard)6 oder als jeweils systemisch strukturierter Möglichkeitsraum, als künstliches Medium (Hubig)7 modelliert wird. Nicht einfacher werden diese Versuche angesichts der in den Feuilletons multiplizierten, teils aus der französischen Medienphilosophie inspirierten, teils aus neomarxistischen Varianten der Fetischismustheorie rekrutierten Modellierung jenes Befundes als Virtualisierung, die Lebenswelt und Technik gleichermaßen beträfe. Damit ist der klassischen Fassung von »virtual« (virtual: being in effect, but not in form or appearance)8 entsprechend gemeint, dass die lebensweltlich-technischen Effekte in ihrer neuen Einheit entweder keine reale oder keine als Realität nachvollziehbare Basis mehr aufweisen, weil die ursprüngliche Gegebenheit von Dingen und Ereignissen durch technische Induzierung zunehmend ersetzt sei. Technische Induzierung ist nun wesentlich und immer auch informationstechnische Induzierung, von der technischen Unterstützung unserer Sensorik bis zur Bearbeitung, Synthetisierung, Weitergabe und Veranlassung qua informatio. So weit gefasst, ist jeder Einsatz von Technik Virtualisierung bzw. Vermittlung von Effekten über eine irgendwie gegebene oder angetroffene Realität hinaus. Anders – oder aufgeklärt – formuliert: Wir zeitigen Effekte und gehen H. Blumenberg, »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, 22. M. Weiser, »The Computer for the 21st Century«, 98. 5  G. Gamm, Technik als Medium, 94–106. 6  A. Grunwald / Y. Julliard, »Technik als Reflexionsbegriff – Überlegungen zur semantischen Struktur des Redens über Technik«, 127–157. 7  Die einschlägigen Vorarbeiten (seit 1997) sind zusammengefasst in: C. Hubig, Mittel; vertieft in: ders, Die Kunst des Möglichen I, Kap. 5; vgl. auch die Art. »Medien / Medialität« und »Möglichkeit«. 8  Fink & Wagnalls Standard Dictionary Bd. 2, S. 1404; vgl. Oxford Dictionary: »Not physically existing as such but made…to appear to do so…in essence or effect although no formally or actually…« 3  4 

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Kolloquium 2  ·  Christoph Hubig

mit Effekten um, deren real appearance durch eine wie auch immer medial geprägte virtual appearance ersetzt ist. Nur so kommen wir über das Stadium bloßen Reagierens bzw. das Ausgeliefertsein an eine äußere oder innere Natur hinaus. Gerade deshalb wird Athene, als einer der Gründerfiguren der Realtechnik, die Erfindung elementarer Intellektualtechniken sowie der – notwendig zeichenvermittelten – Sozialtechniken zugeschrieben. Mit Virtualisierung muss also eine Radikalisierung jener selbstverständlichen Vermittlung gemeint sein, die neue Qualitäten aufweist. Dass diese darin läge, dass keinerlei Referenten mehr vorfindlich seien, wie es Jean Baudrillard9 behauptet, entwertet sowohl das Konzept von Virtualisierung in seiner Relationierung (als Virtualisierung von …), als auch – als Alles- oder Nichts-These – in seiner identifizierenden Leistung überhaupt. Es ist also Arbeit an den Begriffen zu leisten, die sich als Arbeit mit den Begriffen bewähren muss. Das reine Wetzen von Messern, um Hermann Lotze zu paraphrasieren, ist müßig, solange man nicht damit zu schneiden sucht. Leitdifferenzen wie diejenige zwischen Lebenswelt und System (als real-, intellektual- und sozialtechnischem System) mögen begrifflich scharf sein – allein, sie schneiden nichts, weil eine technikabstinente Lebenswelt in ihrer allein kommunikativen, strategieenthobenen Reinheit die ihr von Jürgen Habermas zugeschriebenen Vollzüge kultureller Reproduktion, sozialer Interpretation und Sozialisation / Persönlichkeitsentfaltung nicht realisieren kann.10 Auch ist dies nicht einmal als Aspekt vom StrategischTechnischen zu trennen. Denn die Trennung (nicht: Unterscheidung) von Mitteln (unter funktionalen Kriterien) und Zielen / Zwecken (unter kommunikativer Rechtfertigung) ist nicht zu halten, da Zwecke nach Maßgabe ihrer Herbeiführbarkeit, also möglicher Mittel, und Mittel nach Maßgabe möglicher Zweckbindung überhaupt nur welche sind. Womit unser Thema wäre: Technisierte, virtualisierte Lebenswelt als neues Medium sowohl zielverständigender Kommunikation als auch – und gleichzeitig – mittelbereitstellender Entwicklung?

2.  Lebenswelt Mit der Einführung des Konzepts der Lebenswelt durch Georg Simmel 1912 werden bereits die Fronten klar: Philosophie soll – Lotze umdeutend – nicht »Messer putzen«, sondern »etwas zu essen geben«. Wir sollen der »Kantischen Polizei« endlich entkommen und den Lebensprozess, das strömende natürlich Leben, nicht die Erkenntnisinstrumente als letzte Formungskraft untersuchen.11 Martin Heidegger schrieb 1919 noch, durchaus in diesem Geiste, dass die Lebenserfahrung in die Welt »hineinlebe«, sich in einer Lebenswelt »befinde«12. Wenn Edmund Husserl seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts dieses Konzept ausbaute, meint er freilich nicht die romantische Utopie einer nicht   9  J. Baudrillard, »Die Simulation«; vgl. G. Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, § 8, 18, 29, 38. 10  J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 205–259. 11  G. Simmel, »Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie«, 111. 12  M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, 245. 

Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt.

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technisierten lebensnahen Welt unschuldiger und unmittelbarer Bedeutsamkeit als Universum sich behauptender Selbstverständlichkeit.13 Vielmehr rekonstruiert er Lebenswelt als Apriori, das ein Alternativkonzept zum so genannten objektiven Apriori der positiven Wissenschaft sei. Während diese sich mit fraglichen Wirklichkeiten beschäftigten und unter ihren Idealisierungen zu begreifen suchten, umfasse jene Lebenswelt die »wirklichen Wirklichkeiten« der Menschen, ihr »Tun, Treiben, Wirken und Leiden einschließlich der sozialen Verbundenheiten, gemeinsam im Welthorizont lebend und sich darin wissend«14. Das ist aber nur die Extension, nicht das Konzept selbst. Wir gewinnen es durch eine »Epoché« weg von der Beobachterperspektive der objektiven Wissenschaften. In einem zweiten Schritt müssen wir aber gerade die so gewonnene »natürliche Lebenseinstellung« überwinden, wir müssen weg vom »ständigen Geltungsvollzug«, weg von »ständig strömender Horizonthaftigkeit« hin zum »allen gemeinsamen Horizont möglicher Erfahrungen«. Das ist die so genannte transzendentale Reduktion, die die Horizonte wirklicher Erfahrungen, basierend auf Retention und Protention, überschreitet und eine Basis der Artikulation von deren Unterschiedlichkeiten gewinnt. Die Horizonte, die aus der Teilnehmerperspektive als Plural erscheinen, werden in der transzendentalen Reduktion als Erscheinungen von … erwiesen und in eine Vorstellung von jenem apriorischen gemeinsamen Horizont möglicher Erfahrungen überführt. »Diese Welt ist nicht nur seiend für den vereinzelten Menschen, sondern für die Menschengemeinschaft, und zwar schon durch die Vergemeinschaftung des schlicht Wahrnehmungsmäßigen«, dem Allen gemeinsamen Prozess des Kennenlernens der Dinge durch Erinnerung, das Zusammennehmen der Nah- und Fernperspektiven etc. Die einigende Instanz seien die Kinästhesen unseres Leibes.15 Bei der Charakterisierung dieses gemeinsamen Horizonts, der den objektiven Wissenschaften geltungsmäßig voraus liege, wird Husserl in bezeichnender Weise unscharf: Mal spricht er vom Horizont »offener und endloser Mannigfaltigkeit eigener und fremder Erfahrungen«, mal von einem »offenen und endlosen Horizont«16. Im ersten Fall handelte es sich bei »Lebenswelt« um ein absolutes endliches Apriori als höherstufige Vorstellung, im zweiten Fall um einen Reflexionsbegriff, der nicht eine Vorstellung, sondern unser Verhältnis zur Mannigfaltigkeit individueller sich ändernder Horizonte ausdrückt. Bekanntlich wurde diesem Konzept Solipsismus vorgeworfen, was sich in dieser Form wohl nicht halten lässt. Eher treffen die Monita, dass dieses Lebensweltkonzept eines solchen transzendentalen Egos zu schwach ist, um zu erklären, nach welchen Kriterien die Subjekte ihre Wahrnehmungen in ihren individuellen wirklichen Horizonten abgleichen. Ferner ist es unvollständig, weil es nicht bloß um die Möglichkeit von Dingwahrnehmung geht, sondern auch um geteilte Bewertungen, gemeinsame Symbolverwendung, sprachliche Vermittlung von Sinn, so Alfred Schütz, Peter L. Berger,

Vgl. hierzu H. Blumenberg, Lebenswelt und Weltzeit, 22. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, 148, 143. 15  Ebd., S. 163 f. 16  Ebd. S. 167. 13  14 

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Thomas Luckmann,17 und weil es um das notwendige »Netz von Präsuppositionen« geht, das solche Kommunikation ermöglicht, so Habermas.18 Diese notwendigen Selbstverständlichkeiten liegen den objektiven Wissenschaften also voraus, auf deren Basis sich Technologien entwickeln, die zu neuen Selbstverständlichkeiten werden. Was daran ist nun problematisch? Nach Husserl ist es die »ursprungsverdeckende Leistung«, also nicht der Abbau der Lebenswelt – als hätte es sie faktisch irgendwann gegeben, wo sie doch ein Apriori der »wirklichen Wirklichkeiten« (s. o.) ist –, sondern, so der Kommentar Blumenbergs, der »Raubbau« an der Lebenswelt.19 Worin aber liegt ein solcher Raubbau? Raubbau liegt dann vor, wenn Ressourcen, 20 die weiter benötigt werden, zerstört werden. Soweit die Metaphern. Wie ließe sich dieser Prozess explizieren? Blumenberg selbst bemerkt zutreffend, dass das Spezifikum menschlicher Technik Prävention sei, d. h., dass wir über den bloß instrumentellen Einsatz von Artefakten hinaus, wie er sich auch bei höheren tierischen Spezies findet, diesen Einsatz sichern, wiederholbar gelingend und planbar machen.21 Heidegger nennt dies den »sichernden Verstand«.22 In der Sprache des Ingenieurs steht hierfür das allgemeine Konzept der Regelung (im Unterschied zum steuernden Einsatz von Mitteln), das der Kybernetiker Ross Ashby 1956 klassisch als »Ermöglichung gelingender Steuerung«23 definiert hat. Das Gelingen der Steuerung wird gewährleistet durch Abschirmung von externen Störungen, Kompensation dieser Störungen durch Störgrößenaufschaltung sowie durch Rückkopplung als Regelung im engeren Sinne, wobei das Verfehlen der Sollgröße als zusätzlicher Steuerungsinput genutzt wird. Wir finden diese präventive Absicherung in allen Technikformen ausgeprägt, erstmals deutlich in den technischen Systemen der neolithischen Revolution, des Ackerbaus mit regelnder Bewässerung, der Tierzucht mit regelnder Einzäunung, des Wohnens, den Infrastrukturen von Verkehr, Kommunikation, Verteidigung etc. Prävention als Vorwegnahme des Nicht-Anwesenden (im Gegensatz zur Zufallstechnik der Jäger und Sammler, die den Widerfahrnissen der Natur in höherem Maße ausgesetzt waren) setzt Virtualisierung und Simulation voraus. Es müssen Modelle möglicher Störungen im Bewusstsein etabliert sein. Die Gefahr des Raubbaus entsteht, wenn die Simulation über die Prävention hinausgeht und selbst nicht bloß die möglichen Realitäten erfasst, sondern Wirklichkeiten produziert, Technik also die Funktion der Absicherung lebensweltlicher Prozesse zugunsten wie auch immer strategisch begründeter neuer Weltproduktion opfert. Das mag teilweise einleuchten, ist aber insgesamt zu undifferenziert.

Alfred Schütz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd.  1, 28; P.  L. Berger / T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 39 ff. 18  J. Habermas, Theorie kommunikativen Handelns, Bd. 2, 190, 209. 19  H. Blumenberg, »Lebenswelt und Technisierung«, 24. 20  Von Ressourcen spricht J. Habermas, a. a. O., 203. 21  H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, 565, 583. 22  M. Heidegger, »Überwindung der Metaphysik«, 71; ders., Die Technik und die Kehre, 18, 27; s. hierzu C. Hubig, Die Kunst des Möglichen II, 33–41. 23  R. W. Ashby, Einführung in die Kybernetik, 290. 17 

Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt.

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3.  Virtualisierung der Lebenswelt Üblicherweise unterscheidet man zwischen Realität und virtueller Realität (VR). Diese Unterscheidung ist unterkomplex, wie wir sehen werden, und zwar dann, wenn wir »Lebenswelt« als Welt wirklicher Selbstverständlichkeiten begreifen wollen, die einen allgemeinen Horizont möglicher Aktualisierungen durch die Subjekte abgibt und als ein solcher Horizont, wie wir gesehen haben, selbst nicht anschaulich gegeben, sondern Ergebnis einer Rekonstruktion ist, die mit dem Reflexionsbegriff »Lebenswelt« belegt wird. Wie verhalten sich Realität bzw. virtuelle Realität zu dieser unterstellten Wirklichkeit? Die Unterscheidung greift nicht recht, wenn wir, wie in zahlreichen philosophischen Ansätzen, »Realität« und Wirklichkeit äquivok verwenden. Schauen wir daher auf diejenigen Argumentationslinien, die zwischen Realität und Wirklichkeit unterscheiden. »Realität« umfasst dort die als bestehend begriffenen Sachverhalte, also identifizierte Gegebenheiten einschließlich von behaupteten aktiven und passiven Möglichkeiten, Naturgesetzen als Beziehungen zwischen Zustandsgrößen, desgleichen logische Ordnungen von Ideen etc. Descartes bezeichnet dieses Feld von als gültig erachteten Vorstellungen als realitas objectiva im Unterschied von der realitas actualis als gegebenem Wirkungsgefüge. 24 Die scholastische actualitas (im Unterschied zur realitas) hatte Meister Eckhart mit »Wirklichkeit« übersetzt. Wir können nun zunächst – rein formal  – Virtualisierung auf Realität und / oder auf Wirklichkeit beziehen und zwischen virtueller Realität (VR) und virtueller Wirklichkeit / virtual actuality (VA) unterscheiden. Die zahlreichen Definitionen von Virtualität bzw. Virtualisierung heben darauf ab, dass in einer virtuellen Welt Repräsentationen und Effekte gezeitigt werden, die informationstechnisch induziert sind und keine als gegeben unterstellte, sondern eine informationstechnisch hergestellte raumzeitliche kausale Basis haben (nicht: keine Referenzbasis, wie Baudrillard meint). Virtual realities wären dann im weitesten Sinne Simulationen (abhängig von den berücksichtigten Parametern, Kausalmodellen und hochgerechneten Datenmengen) ohne direkten Bezug auf eine IT-abstinente Basis (was heißt aber direkt? Siehe dazu unten), z. B. Simulationen zur Klimaentwicklung. Virtuelle Wirklichkeiten wären informationstechnisch induzierte Effekte ohne einen solchen Bezug, z. B. beim Flugsimulator oder bestimmten Angeboten des so genannten Cyber-Sex. Die Grenzen sind in zweierlei Hinsicht fließend und bedürfen einer genaueren Analyse: Zum einen spricht man von »mixed realities« und »augmented realities« und meint damit, dass unsere raumzeitliche Handlungsumgebung angereichert, ergänzt und teilweise ersetzt wird durch virtual realities und virtual actualities. Die Beispiele reichen von Navigationssystemen, Assistenzsystemen weiterer Art bis zur virtuellen Kleiderprobe in simulierten Umgebungen oder den Cyber-Brillen für Reparaturteams, die beim Anblick von Artefakten deren Baupläne in die Brille einspielen samt ggf. sensorisch registrierten Störquellen, Ausfallpunkten, Füllständen etc. Zum anderen finden wir in den virtuellen (Teil- oder Ganzwelten) unterschiedliche Anteile an Simulationsbasiertheit der gezeitigten Effekte. 24 

Vgl. zur Begriffsgeschichte meine Vorlesung »Realität, Virtualität, Wirklichkeit«.

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Ein Flugsimulator zeitigt Effekte (Angst oder Überraschung in der probehandelnden Interaktion) auf der Basis von Simulationen der Fluggeräte, Flugsituationen, Wettereinflüsse, Flughäfen etc.; die Interaktion mit einer völlig artifiziellen Person oder einer frei konstruierten Gemengelage von Handlungsvollzügen ist eine Virtualität, die kaum noch etwas simuliert, sondern die konstitutiv ist sowohl für mögliche Simulationen als auch für mögliche authentische Vollzüge in Echtzeit (»second life«). Die Unterscheidung VR / VA ist also idealtypisch. Man erkennt den Unterschied in der – um auf Blumenberg zurückzukommen – unterschiedlichen Art der Fraglichkeit. Bei der Konfrontation mit konkurrierenden virtual realities fragen wir nach der Wahrheit der Erwartbarkeit von Wirkungen: »Was ist / wird wirklich?« Bei virtual actualities fragen wir nach der Wahrheit der Realitätsgrundlage / Realitätsbasis, so wie bei Träumen, die ja reale Wirkungen zeitigen, die aber dann abqualifiziert werden mit »Es war ja nur ein Traum«, analog zur Rührung beim Umgang mit Fiktionen als Texten i.w.S. »Es ist ja nur ein Film, eine Oper etc.«. Gerade diese Beispiele zeigen aber auch, dass die klassischen Virtualitätsdefinitionen, die auf die Absenz einer physikalischen Induktionsbasis insistieren, nur objektstufig greifen: Denn Träume, Fiktionen und Simulationen haben ihrerseits eine kausal prozessierende Realitätsbasis, die Messungen, Erklärungen, Deutungen der Wirkungen erlaubt, von den medialen Eigenschaften der materialen Zeichenträger bis zur physikalischen Prozesse der Informationsverknüpfung, -verarbeitung und -übertragung. Das Fehlen eines direkten Bezugs zur physikalischen und praxisabhängig gedeuteten Umwelt wird ersetzt durch informationstechnische Induzierung einer solchen Handlungsumwelt unter bestimmten als relevant erachteten Parametern, als gültig erachteten Kausalmodellen ihrer Verknüpfung sowie Datenmengen, die die Variablen instantiieren und durch Sensordatenfusion und / oder über Hochrechnungen oder Schätzungen gewonnen werden. Das von Paul Milgram und Fumio Kishino systematisierte Virtualitätsspektrum der mixed realities25 ist graduiert nach Anteilen von Realität / Wirklichkeit / virtueller Realität / virtueller Wirklichkeit aneinander oder ineinander. So lassen sich VR’s konstruieren, die Implementierungen von R aufweisen oder filmischer Wiedergabe von R, es lassen sich VA’s konstruieren, die solche Elemente aufweisen und insbesondere für Tests und Probehandeln eingesetzt werden, und es finden sich VR’s und VA’s ohne jeden Bezug zu einer Außenwelt, die nach eigenen Gesetzen prozessieren, die auf willkürlicher Setzung basieren oder deren »evolutionäre« Herausbildung nur noch Gegenstand der Beobachtung ist.

4.  Veränderung der Lebenswelt durch Virtualisierung Kommen wir zurück zur Lebenswelt und ihrer Veränderung durch Virtualisierung. Wenn wir uns auf die Husserlsche Architektonik einlassen, müssen wir zwei Ebenen unterscheiden: Diejenige einer Virtualisierung der Vollzüge bzw. von Teilen der Vollzüge einerseits und – da jene Lebenswelten ja nur Ausgangsbasis einer transzendentalen 25 

P. Milgram / F. Kishino, »A Taxonomy of Mixed Reality Virtual Displays«.

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Reduktion sein sollen – die Ebene einer möglichen Virtualisierung des Horizonts der faktischen Lebenswelten, also einer Virtualisierung auf transzendentaler Ebene, sprich der Ebene der Bedingungen der Möglichkeit. Die Probleme sind hier wohl ganz unterschiedlich gelagert, und es erhebt sich überdies die Frage, ob es eine sinnvolle Rede ist, von virtueller Transzendentalität / virtualisiertem Apriori zu sprechen. Kommen wir zunächst zum ersten Problemfeld, den faktischen Lebenswelten im Plural: Gemäß der Programmatik der Informatiker werden die technischen Mittel zu »smarten Dingen«, die selbsttätig Probleme diagnostizieren, Problemlösungen anbieten oder die Probleme gar selbst lösen. Die Gesamtheit solcher Dinge bilde einen »aware context«, der unter der Devise prozessiert »Tue das Offensichtliche«. Unsere klassischen Lebenswelten erster Stufe enthalten bereits Verkörperungen bewährter Praxen – Beispiel: »Trampelpfad in der Wildnis« – als institutionalisierte Informationsträger mit hypothetischer Zweckbindung und stellen im Sinne Max Webers Herrschaft dar als Chance zum Gehorsam. Es sind sozusagen hypothetische Wirklichkeiten in Abhängigkeit von den Intentionen der Nutzer. Im Unterschied hiervon ist die context awarness im Ubiquitous Computing gebildet über zwei Schritte der Dekontextualisierung der natürlich / kultürlichen Kontexte: Durch Sensordatenfusion entsteht ein Beobachtungskontext, der dann unter bestimmten Strategien als Situation modelliert wird, für die eine Veränderung angeboten (Herrschaft) oder veranlasst wird (Zwang). Maßgeblich hierfür sind die technische Verfasstheit der Systeme, die Strategien der Anbieter und Provider, die unterstellten Nutzerprofile (einschließlich unterstellten Koordinationsund Kooperationswünschen) und / oder adaptiv gewonnene Nutzerstereotype in Folge registrierter Nutzerroutinen. 26 All dies ist nicht mehr direkt repräsentiert und auf dieser Basis mehr disponibel: Es stellt eine »wirkliche Virtualität« (Edgar Fleisch)27, eine virtual actuality begrenzter möglicher und manifester Wirkungen dar. Dabei handelt es sich nicht mehr bloß im einen Einsatz fremden Wissens und Könnens, wie er auch klassische Technik aus der Teilnehmerperspektive charakterisiert, sondern sozusagen um Wirklichkeit aus zweiter Hand. Neben willkommenen Entlastungseffekten bei Problemdiagnose, Handlungskoordination, Informationsakquisition und -speicherung  – Gedächtnis  – zeitigt diese Entwicklung bedenkliche Kompetenzverluste. Der Verlust an Widerständigkeit verhindert Lern- und Trainingseffekte; die übliche Abduktion auf die Ursachen und Gründe enttäuschter Gelingens- und Erfolgserwartungen kann nicht mehr stattfinden: Liegt es an den systemischen Strategien, z. B. hintergründigen Koordinationen (»anonyme Vergemeinschaftung«), falscher Einschätzung eigener Verhaltens- und Handlungsroutinen, fehlerhafter Systemnutzung oder inadäquater Auslegung der Systeme? Interaktionen sind erschwert, klassische Interaktion wie in unseren Lebenswelten, basierend auf Erwartungserwartungen, ist nicht mehr möglich, weil eine Desorientierung besteht bezüglich Authentizität, Urheberschaft und Validität 26  Vgl. Hierzu C. Hubig, »Selbstständige Nutzer oder verselbstständigte Medien. Die neue Qualität der Vernetzung«. 27  E. Fleisch / M. Dierkes, »Betriebswirtschaftliche Anwendungen des Ubiquitous Computing – Beispiele, Auswirkungen und Visionen« 146 f.

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der Erwartungen, auf die sich die Erwartungen richten. Man kann dies auch als Deinstitutionalisierung oder Entstehung eines artifiziellen Solipsismus  – immer aus der Perspektive der Teilnehmer – begreifen. Deren Wirklichkeit wird nicht von ihnen aufgebaut, fortgeschrieben und modifiziert, sondern schreibt sich gleichsam selbst fort unter intransparenten funktionalen Kriterien, und die Identitätsbildung der Nutzer erwächst nicht aus Erfahrungen der Widerständigkeit auf dem Boden expliziter intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse, 28 sondern durch intransparente Integration in Stereotype. Das Zentralproblem ist mithin Intransparenz, und hier deuten sich bereits Konsequenzen für eine Lebenswelt im Singular, als transzendentales Konzept des gemeinsamen Horizonts selbstverständlicher Präsuppositionen an, die von jener Virtualisierung tangiert sind. Soweit die Bestandsaufnahme für diesen Bereich. Auf den ersten Blick scheint freilich klar, dass ein transzendentales Konzept von Lebenswelt im Singular von empirischen Vollzügen der Technikgestaltung nicht tangiert werden kann – aus kategorialen Gründen. Schließlich beobachten wir jene Vollzüge gerade von einem solchen Standpunkt aus und finden hier eine Instanz der Kritik. Allerdings hat die oben erwähnte Kritik an diesem transzendentalen Konzept (s. Abschnitt 2) dessen Unvollständigkeit in der Begründung erwiesen. In Ansehung der notwendigerweise anzubringenden Ergänzungsinstanzen (soziale Interaktion, Sprache etc.) ergibt sich eine interessante Option des Weiterdenkens, und zwar dahin gehend, dass nicht theoretische Kategorien jenes Konzept der Lebenswelt fundieren, sondern praktische oder »materiale« Kategorien, wie sie aus unterschiedlicher Perspektive Wilhelm Dilthey und Karl Marx geltend gemacht haben. 29 Materiale Kategorien sind nicht bloß konstitutiv für Erfahrung als Verstandeshandlung, sondern stellen vorgängige Konzepte einer Orientierung dar, die Bedingungen der Möglichkeit der Erstellung von Handlungsschemata ausmachen. Dilthey hat erstmals die historische Veränderung solcher materialen Kategorien untersucht, aus prominenten Biographien rekonstruiert und versucht, sie in historische Typen des objektiven Geistes zu ordnen. Marx hat solche Kategorien (Beispiele: Eigentümer, Ware, Geld, Arbeit, Wert) als einseitige Abstraktionen analysiert, die als Ideen einschlägige konkrete Handlungsschemata fundieren und im Misserfolg der unter solchen Schemata realisierten Vollzüge ihren ideologischen Charakter erweisen sollen. Die Triftigkeit der konkreten Befunde Diltheys oder Marx‹ im Einzelnen ist hier nicht von Belang; interessant für unsere Frage ist, dass hier ein Ansatz eröffnet wird, historische Veränderungen im Zuge der Virtualisierung auf praktisch-kategorialer Ebene, mithin der Ebene eines modifizierten transzendentalen Konzepts von Lebenswelt, verorten zu können. Unsere Vorstellungen von Handlungssubjekt, Handlungsschema, Handlungsvollzug und Lernen aus Enttäuschung, die damit verbundenen Vorstellungen von Identitätsbildung, Anerkennung, Rechtfertigung und Kritik werden nämlich auf indirekte Vgl. C. Hubig, »Identifizierte Subjektivität«. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 191 ff.; Karl Marx, »Das Elend der Philosophie«, 739; ders., Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie, 21 f.; vgl. hierzu C. Hubig, »›Dispositiv’ als Kategorie«. 28 

29 

Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt.

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Weise verändert, weil sie den intendierten Bezugsbereich zu verlieren drohen. Denn Technik ist hier nicht mehr explizite Delegation von Steuerungs- und Regelungsleistungen an Artefakte und Systeme. Eine solche Delegation setzt klare Schnittstellen voraus. Die Rede vom Menschen als technischem Hybridwesen, die zur Charakterisierung der neuen Technologien bemüht wird, verfehlt gerade diesen Effekt, denn hybride Systeme weisen Schnittstellen der alternativ oder gemeinsam wirkenden Funktionsträger auf. Ein solches Hybridwesen war der Mensch schon immer. Wir haben stattdessen im Zuge der technologischen Entwicklung eine Aufhebung der Hybridisierung und eine – aus Teilnehmerperspektive – diffuse Verschmelzung der Leistungsanteile der technischen Systeme und der agierenden Subjekte zu konstatieren. Diffus ist diese Verschmelzung, weil die technische Induzierung, sprich simulationsbasierte Virtualisierung der Wirklichkeit, keinen kritisch-korrektiven autonomen Zugang zu Problemlagen und Einschätzungen ihrer Lösungen mehr erlaubt, so wie ich mein Sehen ohne Brille noch mit demjenigen mit Brille vergleichen kann. Die Brille ist, um im Bild zu bleiben, überall, und sie produziert nicht nur die Ergebnisse einer Option des Sehens, sondern sie produziert, so wie Retinaimplantate oder Neuroimplantate, das Sehen selbst sowie – wie bei den erwähnten Cyber-Brillen – die Informationsverarbeitung hin zu Wahrnehmung und wissensbasierter Identifizierung (»Erkenntnis«). Die Bedingungen der Möglichkeit lebensweltlicher Prozesse des erkenntnisgewinnenden und erkenntnisbasierten Handelns der pluralen realen Lebenswelten, die auf einem transzendentalen Konzept von Lebenswelt aufruhen, werden nicht tangiert, was die Kategorien selbst betrifft – sonst könnten wir die Veränderungen nicht beschreiben. Die Veränderungen betreffen die Möglichkeit einer Bezugnahme auf die Welt als Kandidat von Erfahrung und Handlung. (In der Kantischen Architektonik gesprochen wären dies die Schemata und die Analogien der Erfahrung, bei Marx und Dilthey zu praktischen Schemata erweitert.) Die konstitutiven Regeln, die in den Kategorien einer Lebenswelt als Apriori ausgedrückt werden, verlieren ihr herkömmliches Spielfeld, weil die Lebenswelten solche werden, die in den technischen Systemen hergestellt sind. Diese Charakterisierung jedoch ist noch zu pauschal, und in ihrer Pauschalität mag sie wie der Abgesang eines naiven Realisten klingen, der dem Verlust seiner natürlichen Welt nachtrauert. Haben wir denn nicht, seit Bacons vexatio naturae artis, die actuality in unseren technisch-experimentellen Systemen virtualisiert und in den begrifflichen Konstruktionen der Prädikatoren und Abstraktoren etc. uns entsprechende Simulationen der Realität geschaffen, die jetzt«nur« technisch elaborierter werden? Und sind nicht diese Virtualisierungen selbst immer strategisch-zweckrational fundiert, so dass eine Kritik an der strategischen Verfasstheit der ubiquitären virtuellen Systeme keine Alternative vorweisen kann? Ist mithin die Behauptung eines Angriffs des oder der Systeme auf die unschuldige Lebenswelt (»Kolonialisierung« bei Habermas) bloß ein ideologisch nostalgischer Reflex? Wir haben oben bereits das Problem der Intransparenz berührt. Die Konfliktlage ist nicht diejenige der Konfrontation einer Welt strategischer Orientierung mit der Lebenswelt strategieabstinenter Kommunikation (Habermas), sondern intransparenter versus transparenter (bzw. als strategisch zu rekonstruierender) Auslegung der Systeme.

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Hier findet sich m. E. die Herausforderung an eine Technikethik, die mehr sein will als eine bloß angewandte allgemeine Ethik, also mehr als ein urteilskraftbasiertes Geltendmachen von als gesichert erachteten Normen. Sie zielt auf eine akzeptable Auslegung technischer Systeme, wobei Akzeptabilität nicht im starken Sinne als gerechtfertige Akzeptanz, sondern im schwächeren Sinne als Akzeptanzfähigkeit, als Wahrung der Bedingungen für Akzeptanz oder Nichtakzeptanz, von Anerkennung oder Verweigerung durch die beteiligten Subjekte zu fassen wäre. Voraussetzung hierfür ist Transparenz und Partizipation bei der Entwicklung, Realisierung, Nutzung und Fortschreibung der Systeme. Hier liegt eine spezifische Aufgabe der Technikethik, die sie mit Wirtschaftsethik und Medienethik teilt, deren Zentralprobleme ja eben nicht sind, ob man beim Handel betrügen oder in der Presse lügen darf, sondern ob und wie die Bedingungen des Wirtschaftens und der Information zu wahren sind.30 Abschließend hierzu einige Bemerkungen als Ausblick.

5.  Herausforderung für die Technikethik Die sog. Bindestrich-Ethiken als anwendungsbezogene Ethiken haben m. E. die spezifische Aufgabe, als Ethik der Ermöglichung aufzutreten, d. h. die Wahrung der Bedingungen zu thematisieren, unter denen überhaupt moralisch gehandelt, also unter Gründen eine Bezugnahme der Anerkennung oder Ablehnung zu Handlungsoptionen eingenommen werden kann, einschließlich der damit verbundenen Rechtfertigung, ohne dass eine Praxis durch eine solche Absicht sich selbst (im technischen, wirtschaftlichen, medialen Kontext) zerstört. Das Prinzip einer technikethischen Rechtfertigung ist, Technikbewertung im konkreten Fall möglich bleiben zu lassen, wie es analog das Prinzip von Unternehmensethik sein sollte, moralisches Verhalten im Unternehmen nicht zu eskamotieren (Risiko des Marktaustritts), oder der Medienethik, die Möglichkeit adäquaten sich Informierens und der Kommunikation zu erhalten. Für die ubiquitären Systeme radikal virtualisierter Technik bedeutet dies, dass ethische Überlegungen zur Rechtfertigbarkeit ihrer Auslegung auf die Wahrung der Transparenz sowie der Optionswerte autonomen Handelns zu sehen haben, die ein Sich-in-Bezug-setzen der beteiligten Subjekte zu den Systemen in moralischer Absicht ermöglichen. Es geht also darum, die Gestaltung des Horizonts möglicher Erfahrung und möglichen Handelns vorstellbar zu halten. Programmatische Titel wie »informationelle Selbstbestimmung« (die mehr ist als bloßer Datenschutz) oder »aufgeklärte Systemnutzung« etc. signalisieren die Richtung. Wir haben in unserem Stuttgarter SFB31 versucht, hierfür rechtfertigbare Kriterien zu entwickeln, also Kriterien einer Akzeptanzfähigkeit. Es sind dies autonomieethisch begründete Kriterien negativer Freiheit, klugheitsHierzu C. Hubig, Die Kunst des Möglichen II, 27 ff. Die Arbeiten der Gruppe D 3 »Szenario- und handlungsbasierte Bewertung und Reflexion von Nexus-Anwendungen«, SFB 627 »Umgebungsmodelle für mobile kontextbezogene Systeme« sind unter: http: / / www.uni-stuttgart.de / philo / index.php?id=27 aufgeführt und teilweise zugänglich. 30  31 

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ethisch begründete Kriterien positiver Freiheit sowie Kriterien der Urteilskraft auf der Basis sittlicher Intuitionen. Die Umsetzung dieser Kriterien einer Gewährleistung notwendiger Transparenz angesichts der erwähnten Effekte der Deinstitutionalisierung und eines artifiziellen Solipsismus der Nutzer fassen wir zusammen im Modell der Parallelkommunikation. Diese meint eine beständig fortgeführte Kommunikation über und neben dem Austausch von Informationen zwischen Entwicklern und System und Nutzern und System, der salopp als »Mensch-System-Kommunikation« benannt wird. Jene Parallelkommunikation über die Mensch-System-Kommunikation kann auf drei Ebenen situiert werden: –– als Kommunikation zwischen Entwicklern und Nutzern bei der Systementwicklung vor der Nutzung, –– als in die Systeme implementierte zweite Auskunftsebene über Systemstrategien, Nutzungsalternativen, Ausstiegspunkte, Reputation und Authentizität der devices, –– als Kommunikation im Rahmen informeller oder institutionalisierter Nutzerforen, die einen Erfahrungsabgleich zwischen den individuellen Nutzungserfahrungen und auf dieser Basis die Fortschreibung oder Veränderung von solchermaßen allererst zu bildenden Nutzertraditionen ermöglichen. Regeln zur Gestaltung dieser Parallelkommunikation wären über eine modifizierte Diskursethik zu gewinnen, die einen Abgleich transparenter Strategien verfolgt, also nicht die Verabschiedung des Strategischen zur Eintrittsbedingung erhebt.32

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Hierzu C. Hubig, Die Kunst des Möglichen II, Kap. 6.

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Fleisch, Edgar / Dierkes, Markus: »Betriebswirtschaftliche Anwendungen des Ubiquitous Computing – Beispiele, Auswirkungen und Visionen«, in: F. Mattern (Hg.), Total vernetzt. Szenarien einer informatisierten Welt, Berlin-Heidelberg-New York 2003. Gamm, Gerhard: »Technik als Medium. Grundlinien einer Philosophie der Technik«, in: Manfred Hauskeller et al. (Hgg.) Naturerkenntnis und Natursein, Frankfurt a. M. 1998, 94–106. Grunwald, Armin  / Julliard, Yannik: »Technik als Reflexionsbegriff – Überlegungen zur semantischen Struktur des Redens über Technik«, in: Philosophia naturalis, H. 1 (2005), 127–157. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1981 Hartmann, Dirk / Janich, Peter: »Methodischer Kulturalismus«, in: Dies. (Hgg.), Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt a. M. 1966, 70–114. Heidegger, Martin: »Überwindung der Metaphysik«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1962, 67–96. Heidegger, Martin: Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962. Heidegger, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie, GA Bd. 58, Frankfurt a. M. 1997. Hubig, Christoph: »Realität, Virtualität, Wirklichkeit«, http: / / www.uni-stuttgart. de / philo / index.php?id=350. Hubig, Christoph: »Identifizierte Subjektivität«, in: W. Hogrebe (Hg.): Subjektivität, München 1985, 73–85. Hubig, Christoph: »›Dispositiv’  als Kategorie«, in: Intern. Ztschr. für Philosophie, 1 (2000) 34–47. Hubig, Christoph: »Selbstständige Nutzer oder verselbstständigte Medien. Die neue Qualität der Vernetzung«, in: F. Mattern (Hg.): Total vernetzt. Szenarien einer informatisierten Welt, Berlin-Heidelberg-New York 2003, 211–230. Hubig, Christoph: Mittel, Bielefeld 2006. Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen I. Technikphilosophie als Reflexion der Möglichkeit, Bielefeld 2006. Hubig, Christoph: Die Kunst des Möglichen II. Ethik der Technik als provisorische Moral, Bielefeld 2007. Hubig, Christoph: »Medien / Medialität«, in: Sandkühler, H.-J (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, 22009. Hubig, Christoph: »Möglichkeit« in: Sandkühler, H.-J (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie, 22010. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: W. Biemel (Hg.): Husserliana Bd. VI (Hua VI), Haag 1954. Marx, Karl: »Das Elend der Philosophie« in: ders.: Frühe Schriften, hrsg. v. Hans J. Lieber und Peter Furth, Darmstadt 1971. Marx, Karl: Grundrisse einer Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974. Milgram, Paul / Kishino, Fumio: »A Taxonomy of Mixed Reality Virtual Displays«, in: IEICE, Transactions on Information Systems. Vol. E 77-D, No. 12, Dec. (1984).

Virtualisierung der Technik – Virtualisierung der Lebenswelt.

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What Is Natural About Human Nature? John Dupré *

One important response to the question in my title is that, of course, everything about human nature is natural. Humans are part of nature and whatever they do is thereby natural. ›Natural‹ here is thought of in contrast to outside or above nature. God, immortal souls, angels, and so on, are the kinds of things I have in mind as lying outside of nature. And if, like myself, you are a naturalist in the very minimal sense of denying that there is anything outside of a nature (I prefer to call myself an anti-supernaturalist than a naturalist), then everything is natural. A fortiori so is human nature, whatever it may turn out to be. This is perhaps a trivial sense of human nature, but it makes a non-trivial point. One of the deep problems in discussion of human nature is that this sense, in which only a supernaturalist could deny that human nature is part of nature, part of the natural world, is never far from the discussion. What is really at stake in discussions over human nature is now more often a quite different sense of ›nature‹, but this first sense is often available as a rhetorical device to convict one side in the more serious debate of anti-scientific, obscurantist or mystical views. The more important sense of my question, of course, has to do with a contrast not with what is outside nature, but with what is cultural, or artificial; with what is produced by the distinctive capacities of human society. An immediate point about this contrast is that it suggests a kind of self-construction of human nature: human nature in the trivial, indisputable, sense is, to some extent anyhow, something that humans create. This may or may not be correct; but the occasional suggestion that it is antiscientific, mystical, etc., is entirely unfounded, based on no more than an elementary confusion of the two senses of ›natural‹ to which I have just alluded. So much for now for the different things that may most generally be contrasted with the natural. What can we say more positively about human nature? An interest in the nature of a kind of thing is an interest in what, by virtue of being a thing of that kind, we can expect its properties or behaviour to be. Thus it is part of the nature of a human to have four limbs, two eyes, a heart, a liver, etc. These characteristics are not, however, of any special interest in the human case; it is not with regard to such physiological characteristics that humans are often thought to have a nature of a different kind from other biological organisms. Hence human nature is generally understood as referring to how humans behave. And we may even say that it is exactly with the question whether *  I gratefully acknowledge support from the Economic and Social Research Council (ESRC). The research in this paper was part of the programme of the ESRC Centre for Genomics in Society (Egenis).

What Is Natural About Human Nature?

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human behaviour should be understood in essentially the same way as that of any other organism that the controversial issues about human nature are involved. And here also, the accusation that to understand human behaviour differently from the behaviour of other organisms is to be anti-scientific, mystical, or dualistic reflects the confusion of the two senses of ›nature‹ mentioned a moment ago. Whether human behaviour or, that is, human nature, is different in kind from that of other animals is a matter of fact, not of logic. There is another, perhaps less generally recognised, preliminary point that is essential to approaching this topic properly. It is common, when talking about the essence of a kind of thing, to imagine something timelessly characterised by a set of distinctive, perhaps essential, properties. A traditional paradigm of a natural kind is gold – and it is perhaps no accident that gold is known for its permanence, its resistance to chemical change. But chemical substances generally have been thought of as existing in stable potentially eternal states, and as ceasing to exist when changed into some other substance by chemical processes. Biological substances are not like this. When Aristotle said that Man was a Rational Animal he was no doubt thinking of man as an adult human (and of course an adult male human, though that is a topic for a different paper). A human baby is not by any standard a rational animal, and nor even is a four-year old human. Rationality is perhaps an outcome of human development, and perhaps it is even a normatively desirable outcome, a telos of human development. The vital point is that a human is a process, a series of stages with different characteristic properties. The nature of a human baby is different from the nature of a teenaged boy. If there is something that counts as human nature, it can only be a sequence of more specific behaviours characteristic of particular stages in the human life cycle. Indeed, the human just is a sequence of such stages. It is imaginable that the sequence of stages in the human life-cycle could have been a fully determinate matter, determined perhaps by the causal properties of the human genome. If this were the case, then the biological and environmental conditions necessary for human development would be merely enabling or triggering causes; only one life-cycle would be possible given the causal powers of the human genome. But we know that nothing like this is true for plants, non-human animals, or even bacteria. It is most certainly not true for humans. Different environmental conditions will produce different development and different sequences of life-stages. The general point is reflected in the concept of ›norm of reaction‹, promoted most forcibly by Richard Lewontin1, which specifies the developmental response of an organism with a specified genotype to a range of environments, though it is likely that this concept is still too narrow to be very useful for the human case. At any rate, the point forces rethinking, if not rejection, of the whole issue of the nature of an organism, and certainly the nature of a human. For some organisms it is possible to specify fairly precisely what is their normal environment, and hence fairly precisely what is their normal developmental trajectory. The extent to which this is so is not simply related to common intuitive conceptions of 1 

R. C. Lewontin, »The analysis of variance and the analysis of causes«

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Kolloquium 2  ·  John Dupré

the simplicity or complexity of the organism. The koala bear, for instance, generally considered a higher animal, spends its life eating and sleeping in Eucalyptus trees, and that’s about all it does or can do. That is its developmental environment. Many bacteria, on the other hand, are highly responsive to their environments and can engage in quite different chemical activities according to the context, especially of other interacting micro-organisms, in which they find themselves. In fact there is a natural tendency, of which the koala is a representative example, for complexity of organisation to generate ever more specialised and specific environmental requirements. However some complex multicellular animals (and plants) have evolved the capacity to respond with great flexibility to their environments, in part by developing differently according to the environment in which they are found, and in part by responding intelligently or adaptively to the immediately present environment. The first of these elements of flexibility is what is measured by norm of reaction. Humans have developed both these elements of flexibility to an exceptionally high degree, which is why the concept of norm of reaction is inadequate by itself to describe the relation of humans to their various environments. So does this flexibility make the concept of human nature useless? Claims that it does have tended to elicit the reaction that the human is being treated as a tabula rasa, 2 whereas in fact there are surely some constraints on the possible development and behaviour of the human organism. It would probably be difficult or impossible to bring up humans to adopt the kind of sociality found in the social insects, for instance. More relevantly, it seems that humans do not flourish as slaves, something that would be difficult to understand if they were entirely developmentally plastic. There is an important political as well as factual point in claiming that such social arrangements run counter to human nature and we should not abandon it without very careful consideration. Let me now return to a point I mentioned earlier, that humans construct the environments in which human nature develops. Again, this should not be seen as unique to humans. The elaboration of the concept of niche construction has been one of the most significant developments in recent evolutionary biology. 3 Whereas evolutionary changes were for many years modelled in terms of a population adapting itself to a fixed external environment, it has become increasingly clear that in the most typical case the state of the environment is equally an effect of the activity of the organisms that inhabit and exploit it. Beavers, to take a familiar example, do not merely adapt themselves to living around lake-forming dams; they build the dams that form the lakes. More subtle, and a case that was of great interest to Charles Darwin,4 are the activities of earthworms that create the soil conditions that best favour their own thriving and, happily, that of many other plants and animals that share their environment.

S. Pinker, The Blank Slate. F. J. Odling-Smee et al., Niche Construction. 4  C. Darwin, The formation of vegetable mould, through the action of worms, with observations on their habits. 2  3 

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Here, however, we reach the point at which, without venturing into the worlds of immaterial souls or vital forces, humans nonetheless depart in a fundamental way from the rest of biological nature with which we are familiar; or, perhaps, it is where a difference of degree becomes a difference of kind. The extent to which humans construct the environment in which they develop and to which they are more or less successfully adapted greatly exceeds in several dimensions anything found in any other species. And this, to refer finally to the official topic of the symposium at which this paper was first presented, is where nature confronts technology. Three features most clearly distinguish the human technology that constructs the human environment (and for that matter the environment of every other organism on the planet) from other examples of niche construction in the biological world. These are diversity, intentionality and finally sheer complexity. Once more it need not be insisted that any of these are totally novel phenomena in the human realm. Remarkable cultural diversity has recently been observed among the most intelligent social mammals, such as chimpanzees5 or social whales. A discussion of intentionality would take us far beyond the philosophical reach of the present talk, so I will say only that I have no wish to quarrel with the widespread, if by no means universal, intuition that the activities of animals through which they modify their environments in ways that serve their own flourishing are properly described in many cases as intentional. And complexity is of its nature a matter of degree. Nonetheless taken together we have something that fundamentally distinguishes humans from the rest of the biological order. To illustrate my present point, and explore its implications for human nature, let me focus for a moment on a very familiar but very recent bit of human technology, the mobile phone. Obviously this is an artefact intended for a particular purpose (originally, at least, communication with conspecifics at a distance; no doubt the possible uses are currently expanding). One should hesitate a moment before immediately assuming that it is clearly more complex or more focused on an adaptive end than anything nonhuman. A possible counterexample might be the termite mound, which is a remarkably clever structure for provision of space for and protection of core activities, thermoregulation and probably much else. A minimal crucial difference, however, is that the phone is designed rather than evolved. Its development was able to take place in a few years rather than many millions of years. And its use is changing at a comparable rate as new functions are added: people younger than me use mobile phones for taking and transmitting pictures, capturing and playing music, and so on. Though purely biological evolution may be a lot faster than some twentieth century theorists supposed, this kind of rapid creation and horizontal transmission of new functions is surely beyond its reach. But do these rapid changes in technology have any serious impact on human development? My feeling is that we are only tempted to ask this question if we are in the grip of a theoretical conviction that the answer must, contrary to appearances, be No. 5 

G. Vogel, »Chimps in the wild show stirrings of culture«.

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On the face of it it would be extraordinary if children growing up in constant interaction with cars, planes, televisions, phones, computers, and so on, all of which were rare or non-existent no more than a hundred years ago, were largely unchanged by this fact. Consider again the mobile phone. Again, I observe as one who did not grow up with this convenience. It seems clear to me that the nature of human sociality has been significantly transformed. I observe that there is a large group of people whose mobile phones are seldom out of their hands and who are typically engaged in some kind of communication using it every few minutes. My experience of social space is largely of people in my spatial vicinity. Of course I am familiar with phone calls, letters, and recently emails, that continue social connections when these are spatially interrupted, but most of the time I am either on my own or engaged with those (physically) around me. My impression is that this is no longer at all the case for serious mobile phone users. Their circles of friends and acquaintances move around with them, though not in physical space, and are engaged with them in apparently almost continuous interaction. Interestingly, the interacting groups are, presumably, simultaneously distinct and overlapping. The cultural disjuncture between the mobile phone and the pre-mobile phone generations is most obvious in the distaste caused to the latter by the phone use of the former in certain confined spaces, of which trains probably induce the strongest conflict. Pre-mobiles (let me call them) are often outraged by the loud and sometimes intimate conversations to which they are unwillingly exposed by the mobiles. People in whose company they are travelling should not, they feel, be engaged in loud conversations with people with whom they (the outraged) are not even acquainted. What they fail to understand, however, is that from the perspective of the mobiles they are almost literally not travelling in their company. Their companions are the usual friends and family who travel everywhere with them, connected by their mobile phones. Though they are, it is true, spatially contiguous with the other people in the train compartment, this is a far less salient form of association for the mobiles than for the pre-mobiles, and the annoyance of the latter seems, to the former, unmotivated and disproportionate. It is time to take stock of where we have been in the argument so far. Organisms in general, and humans in particular, to varying extents construct the environments to which the sequence of forms into which they develop are adapted. Or perhaps better, the life cycles of organisms in the process of continuing their own and reproducing further such life cycles, also construct an environment to which those life cycles are suited. This is a common biological property that humans have taken to a much greater degree than other organisms. Just as the nose is not unique to the elephant, but that animal has taken it further, so it is with humans and the construction of environments. It would be an exaggeration at best, and one closely parallel to the point of view I shall criticise in a moment, to suggest that technology was generally a Darwinian enabling device. As theorists even of cultural evolution have long argued, cultural processes such as the development of technology have their own momentum substantially independent of the forces of natural selection acting on their implementers. There is no reason to think that mobile phones increase the reproductive success of their users,

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or mobile phone using societies outreproduce less telecommunicative competitors. But this is no way contradicts my earlier point, that mobile phones may very well channel the development of their users in novel directions towards novel forms of behaviour and different experiences of the world. This, then, is an example of how changes in human development can come about through processes quite distinct from the natural selection theorised by traditional evolutionists. Not a surprise to many, perhaps, but contradicting some influential views of contemporary sociobiologists and evolutionary psychologists. We should also review the question whether such technological enhancements really count as part of human nature. Not every quirk of human behaviour is part of human nature, certainly. The detail may be open to debate, but not the principle. Mobile phones maybe on the boundary of human nature for some parts of the human species, but wearing clothes and living in houses have surely crossed that boundary. These are as much a part of human nature now as building dams is part of the nature of beavers or webs the nature of spiders. In these latter non-human cases there is variation in the extent to which the behaviours in question are «genetic«, which is to say, roughly, produced largely independently of any directly relevant environmental variables6, or learned, which is to say requiring quite specific and variable external inputs to be exhibited. In the human case, there is no such debate. Whatever behaviours there may be ›genes for‹, using mobile phones is not among them; and nor, almost certainly, is wearing clothes. There is no reason why behaviours acquired to some degree through environmental input by all or most of the members of a species should not become part of that species nature, and human technology is an extraordinarily powerful generator of new behaviours. Technology, I propose, is a process by which human nature undergoes rapid evolution of a kind that has little or nothing to do with DNA. Not the only such process – culture much more generally is such a process – but perhaps nonetheless one that has accelerated the rate of change of human nature to a new level. But there is a more serious problem in including these kinds of changes within the concept of human nature. This is that human nature is liable to become massively fragmented. The mobiles and non-mobiles just discussed appear to have different natures. Humans in the West will have different natures from humans in rural New Guinea. Perhaps humans in Britain will have different natures from humans in France or Germany. There are compelling concerns about this, both theoretical and practical. Theoretically, a central point of the concept of a nature is to distinguishing the nature of a thing of a certain kind from whatever else might happen to be true of a particular instance of the kind. But as the nature starts to fragment in the way I have just descriI should emphasise here the word ›variable‹. All phenotypic traits require inputs from the environment for their development. Many of these require inputs that the environment reliably provides and these are often thought of as genetically caused. These statements are exceedingly rough and would require much more work to explain with any rigour. For a thorough critique of the innate / acquired distinction, towards which I am roughly gesturing, see P. E. Griffiths, »What is Innateness?«. If the distinction is unsustainable, however, this should strengthen rather than damage my argument. 6 

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bed, this distinction also seems to evaporate in ways that threaten to undermine any point in identifying the nature in the first place. Practically, the idea of human nature is often put to vital political use by insisting on its unity. Many of the worst outrages in the history of human conflict and oppression have been justified by claims that oppressed or enemy groups had a fundamentally different nature. One should be cautious in staking out a philosophical position that lends support to such arguments. I shall not, however, attempt to address the practical issue in any detail here. It does seem to me, as a matter of fact, that rigid and deterministic views of human nature have been used more often to oppress than to emancipate. Those who which to oppress or discriminate against other groups of humans are anyhow not, I fear, likely to be moved one way or the other by philosophical or scientific arguments. Denying the cultural diversity of humans seems too self-evidently implausible to have any point, and that diversity will no doubt provide a sufficient rationalisation for the advocate of oppression and discrimination. The argument that progressive change is a waste of time because the human essence is immutable seems to me one more seriously worth addressing, and its exposition of the weakness of such positions will at least provide one possible practical benefit of the interpretation of human nature that I advocate here. The response to the theoretical point must, once again, be to take seriously the question whether we would not do better to abandon the concept of a human nature altogether. I have no strong commitment on this. However, I think it can be made clear enough what is at stake. One good way of approaching the issue is through the recognition that whereas we often think of life in terms of a hierarchy of objects – molecules, cells, organisms, etc. – we know very well that what we are really dealing with is a hierarchy of processes. A species, what defines the kind to which an organism belongs, is an evolving entity. The species of which an organism is a member at a particular time, is a time slice through a changing process the elements of which were quite different in the past from how they are now, and which will be quite different again in the future. The organisms which are these species members are themselves temporal parts of sequences of developmental stages that also stretch into a past in which the elements of the sequence were very different. If they are very lucky, they too may stretch into a similarly different future. Now, it is clear enough what is meant for elements of a hierarchy of stable things to have a nature: in the ancient tradition of specifying the essence of a kind of thing, the nature determines what a thing is. There is of course much more to be said here about different conceptions of essence, and a fundamental divide between real and nominal essences, and so on. But independent of all this, an essence is something without which a thing would not be the kind of thing it is and, on most accounts, would no longer exist. No such essence, or nature, seems appropriately attributed to an organism, once this is recognised as a process. If, for example, it were part of the nature of a human to be rational, then humanness would keep appearing and disappearing in the sequence of life cycles that constitute human life. Foetuses are not rational, and many humans lose rationality as they reach advanced age. It would be absurd to suggest that humanness comes and goes in this way. The example may seem an extreme one, but I hypothesise that similar problems will arise with any attempt to offer a substantive and interesting

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characterisation of human nature. Even if interesting characterisations of human nature can persist throughout the human developmental cycle, it seems implausible that they can survive all possible evolutionary changes that we would view as consistent with the survival of the human species. It seems that I have concluded that human nature cannot exist after all. I prefer to say that it can exist only if we reconsider what a nature is. But since the problems that arise apply quite generally across the biological world, there is much to be said for such a reconsideration. And in fact the way to do this to take account of life cycles is fairly obvious. One need only say that part of human nature is to be rational-when-adult or helpless and milk-drinking when new-born, and so on, to avoid the problem. In fact a similar relativisation is also already required to take care of the issue of sex: it is part of human nature, for example, to be facially hairy when male and past puberty, or lactating when female with infant children. No doubt the obviousness of this kind of modification has distracted attention from any general worries about the treatment of a process as an object. However evolution presents more difficult problems. (Here, by the way, I use »evolution« in a way that is entirely noncommittal on questions about process or rate.) One difference between the cases is that whereas the intuition is quite clear that a human is a human throughout the life-cycle, it is far from clear that the human species is a species of humans throughout its history. In fact it is widely agreed that most of our ancestors were certainly not human. So when did the first humans appear? Some biologists do have an answer to this, specifically the cladistic school of taxonomy that sees species beginning and ending with events of lineage division. Unfortunately, on this view it is likely that the first humans were indistinguishable from the first chimpanzees, and creatures that we would definitely classify as apes rather than humans. The general problem is that any attempt to specify precisely what constitutes human nature will generate some quite arbitrary historical moment at which a particular lineage became the human lineage. Even worse, it will appear that at some transitional stage some organisms in the lineage will be human and others will not. Could we solve the problem just as we solved the problem about life-cycles, by defining human nature only at a time? It seems, in fact, given the problems just explained, that this is the only possibility. Features of organisms that are not subject to evolutionary change only achieve this stability by being so deeply engrained in the functioning of the lineage that they are certain to be shared by the members of other lineages. It is no doubt harmless to say that it is part of human nature to possess a backbone, but it is not very illuminating. It is perhaps much more important, because occasionally it seems to be forgotten, that we are social animals, but even this does not distinguish us from any, or almost any, of our primate relatives. As we start to specify the form this sociality takes, we move to facets of human life and behaviour that not only are subject to evolutionary change, but are evidently mutable over historical time, and even variable among different local populations. To take an area of behaviour that is generally agreed by evolutionists to be of enormous selective importance, such differences are empirically evident in patterns of sexual behaviour. There are very large differences among living and historical

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human populations in features such as degree of promiscuity, extent of polygyny or, occasionally, polyandry, prevalence and social status or function of homosexuality, and so on. If features of these kinds are the kinds of things that we would want to attribute to human nature, this variability will provide a fatal obstacle. There are, of course, features of many other kinds that might be considered as central to human nature, and I cannot aim to discuss all of them. However, for now I shall tentatively suggest that we should indeed give up the concept of human nature in the traditional sense of telling us what is essential, fundamental, most important, etc., about humans (and indeed we should give up comparable concepts for other organisms). Rather we should develop a rich, empirical natural history of the human. And we should notice that there are major gains as well as losses from this acceptance. While human natural history tells us how humans (typically) develop in contemporary circumstances, seeing this development as mutable creates the possibility of changing those circumstances and, hence, the typical human development. This is not, as critics of the blank slate like to suggest, to present such change as trivially easy to achieve, merely as possible. It is not trivial because the conditions of human development are an almost unimaginably complex mixture of internal and external factors, and one that is sufficiently integrated and robust that it does quite regularly produce a viable developmental outcome. Not every arbitrary alteration of this developmental matrix will be effective, nor will it always have the effect intended. Nevertheless, the possibilities of such alteration are something about which a rich body of empirical evidence has been accumulated, and we certainly do not need to accept the conservative pessimism of believers either in immutable human nature or wholly inscrutable human developmental processes. The realisation of the role of technology in human evolution provides a new and fascinating twist to our understanding of these possibilities. As I have indicated, I think that human technology has fundamentally altered human evolution. Consider, for instance, a function which is an essential part of the characterisation of any animal, its mobility. Prior to technology humans were fairly slow animals. But bicycles, cars, skateboards, jet aircraft, trains, the construction of roads, and so on have entirely transformed this capacity so that, in the right circumstances humans have far greater mobility than any other animal. They also have extremely diverse mobility. Some people in poor countries have little more mobility than their pre-technological ancestors. But most have some more, and some have much more. While no one doubts the increase in capacity, many I suspect will find it strange to call this evolution. But why? Presumably because technology is seen somehow as not part of nature, and nature is the realm in which evolution operates. Once again we should recall that we have no such qualms with other creatures. Beavers evolved their dam-building tendencies, and with it acquired all kinds of capacities that enabled a particular way of life. Termites would be sorry creatures without their mounds, or bees without their hives. But somehow we are strongly tempted to think quite differently about human technology. I want to say that this is just a relic of dualism: human culture and technology is a perfectly natural phenomenon that evolved like any other

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aspect of the biological. This is not to say that it is not unique in many ways, and ways that we should also be comfortable with exploring. There is a school of thought that will be particularly hostile to the suggestions I have been making, and with which many here will no doubt be familiar. I refer to evolutionary psychology7. Evolutionary psychologists argue that humans are adapted by evolution to the world of the Pleistocene, or late Stone Age. This atavistic theory is necessitated by the argument that evolution, held to work by the selection of genes that build adaptive structures, is much too slow for humans to have adapted to the rapid changes that have taken place in recent human history. The termites, by contrast, evolved their mounds at the proper speed, coevolved with them, in fact, and are as much at home in them as fish in water. The curse of the human is to have created an alien environment for ourselves, one in which we can never be at home unless, perhaps, we make lonely pilgrimages to the African savannah. This is a strange view. We are presently by far the most successful large animal on the planet (we’ve killed most of the others) and it is curious to hold that this is despite our profound maladaptation. But it is anyhow an indefensible view. There is much wrong with evolutionary psychology, and I and others have catalogued its epistemological sins in the past. Here, however, it is enough to point to its failure to recognise the coevolution of organism and niche. The picture assumed by evolutionary psychology is of evolution from the inside (genetic selection) matching the organism to a fixed and determinate outside (the ›environment‹). Genetic selection is seen as a very slow process, in which one adaptively advantageous mutation at a time must take a number of generations to spread through the population. If the environment changes too fast for this process to catch up, even if it is the organism itself that causes the changes, the organism becomes maladapted. But evolution is a more efficient process than this picture suggests. Organisms change their environments in ways that are adaptive, and in part they do this by developing, using both internal and external resources, in ways that leave them adapted to the environments they in part construct. Humans only do this more spectacularly than other organisms and with the growth of technology they probably do it much faster8. Evolutionary psychologists like to say that culture is no more than one more Darwinian enabling device. I’m inclined to agree, but also to add that it enables a rather different kind of Darwinism. So where does all this leave human nature? The safe response is to insist that there is no such thing. It is not that humans have no natures at any time, as the much parodied blank slate view is taken to suggest. But since human nature is generally understood as something fixed, common to all humans past, present and to come, this misapprehension can best be avoided by denying that there is any such thing. I prefer, however, to take up the challenge of construing the search for human nature as the search for the 7  See J. Barkow et al., The Adapted Mind.. My critical evaluation of this school of thought is elaborated in J. Dupré, Human Nature and the Limits of Science. 8  Faster, at any rate, than other multicellular organisms with long generation times. The techniques by which microbes construct and adapt to their environments are rather different, and are fascinating and important. But they must await another occasion.

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best characterisation available of what humans are like. Humans, we have seen, are Protean and malleable. Not only individually, but as a species, they can quickly come to adapt themselves to rapidly changing circumstances. That humans can thrive in rainforest and deserts, tropics and tundra, is itself enough to indicate the versatility of the species. This is hardly unique, however. Rats and seagulls, for instance, are almost as good at adjusting to the range of terrestrial climates and geographies. But humans are unique in their capacity to create environments that not only permit them to survive, but permit them to thrive. And thriving here does not merely mean staying alive and producing offspring, but includes providing opportunities, often, for doing things that they do for enjoyment. No doubt, again, it is also the curse of the human species that as well as a unique capacity for satisfying desires they have a unique capacity for creating them: human desire is, perhaps literally, insatiable.9 But whether it is a blessing or a curse, it is a respect in which human existence is quite unlike that of other organisms. I don’t want to say whether the ability to create the environment of their adaptation is more or less fundamental in characterising human uniqueness than the other traditional attributes, such as language, rationality, culture, technology, and suchlike. Of course these are all related. Culture is perhaps just a name for the environment that humans construct for themselves, and technology a name for some of its most empowering aspects; language is certainly one of the necessary conditions for this construction, facilitating among other things the division of labour that makes possible complex social projects; and whatever rationality is, it is intended to name part of the intellectual capacity that makes all of this possible. However, the focus on construction of, and rapid adaptation to, environments does have one particular virtue. It illuminates both the continuity of the distinctively human with the non-human – there is nothing unique about the construction of one’s environment – and also the difference, since no other creature has comparable resources or abilities for changing the circumstances in which it develops and lives. Moreover, as I have also emphasised here, the capacity of humans to change the circumstances of their development has come to be a dominant force in human evolution, allowing evolution to occur at a rate unknown in other animals and even, to some degree, under the control of the evolving population. Though the human experiment may prove to be a brief one it is, at present, an astonishingly successful one. The evolutionary psychologists’ contention that we are the maladapted possessors of an atavistic psychology, quite generally unsuited for the world we have created, is a ridiculous one. For all these reasons, I am inclined to see this feature of the human species as, if anything is, its defining characteristic, as human nature. We are, one might say, the Technological Animal.

9 

Gagnier, R. On the Insatiability of Human Wants.

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Bibliography Barkow, Jerome H. / Cosmides, Leda / Tooby, John (eds.): The Adapted Mind. New York 1992, 267–288 Darwin, Charles: The formation of vegetable mould, through the action of worms, with observations on their habits. Corrected by Francis Darwin. London 1882 Dupré, John: Human Nature and the Limits of Science. Oxford 2001 Gagnier, Regenia: On the Insatiability of Human Wants: Economics and Aesthetics in Market Society. Chicago 2000 Griffiths, P. E.: »What is Innateness?«, The Monist 85 (2002), 70–85 Lewontin, Richard C.: »The analysis of variance and the analysis of causes«, American Journal of Human Genetics 26 (1974) 400–411 Pinker, Steven: The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York 2002 Odling-Smee F.  John / Laland Kevin N / Feldman Marcus W.: Niche Construction. The Neglected Process in Evolution, Princeton 2003 Vogel, Gretchen: »Chimps in the wild show stirrings of culture«, Science 284 (1999), 2070–2073

Kolloquium 3 Räume der Expressivität

Wolfram Hogrebe Einführung Markus Gabriel Kontingenz oder Notwendigkeit? Schelling und Hegel über den modalen Status des logischen Raums Horst Bredekamp Das sprechende Werk: Hans Memlings Danziger Altar Guido Kreis Für eine Philosophie des objektiven Geistes

Einführung Wolfram Hogrebe

Von Räumen der Expressivität kann man nur dann sprechen, wenn es eigenständige Ausdrucksdimensionen gibt. Und die gibt es, wenn wir Kundgaben von Befindlichkeiten spezifizieren können. Und das tun wir auch genau da, wo es sinnvoll und nützlich ist, Expressionen des Schmerzes von solchen der Freude, der Schwermut, der Liebe, der Hoffnung, der Einsamkeit, der Überraschung etc. zu unterscheiden. Das fällt uns in der Regel auch sehr leicht, weil das Verständnis solcher Expressionen nicht auf sprachliche Interpretationen angewiesen, sondern subsemantischer Art ist. Man kann dafür auch die Bezeichnung ›mantisch‹ verwenden. Kundgaben von Befindlichkeiten verstehen wir wie wir die Mimik unserer Mitmenschen verstehen. Plinius nannte dieses Ausdrucksverstehen divinatio ex facie hominum. Auch unsere eigenen Befindlichkeiten deuten wir mantisch. Wenn wir einen Raum betreten, haben wir manchmal sofort ein ›mulmig‹ genanntes Gefühl, das uns für unsere Situationsdiagnose einen warnenden Vorsprung liefert, der nicht unnütz sein muß. Die hier skizzierten Räume der Expressivität kann man der Dimension des subjektiven Geistes zurechnen, die wir auch dann nicht verlassen, wenn wir die Verhältnisse objektivieren. Auch da, wo das geschulte Auge des Kunsthistorikers um ein distanziertes Verhältnis zu Bild und Plastik bemüht ist, kann er sich doch nicht von der attrahierenden Kraft der Anmutungsqualitäten dieser Objekte gänzlich lösen. Auch der objektive Geist baut seine Kathedralen auf Fundamenten auf, die ihre expressive Herkunft nicht verleugnen können. Sie bleiben auch dann die Basis, wenn wir uns in Institutionen von ihr distanzieren müssen. Zweck und Sinn dieser Distanzierung ist die Ausweitung und Stabilisierung der Intersubjektivität. Ihre Dimensionen, in Institutionen befestigt, sind die Heimat des objektiven Geistes. Hier weicht die Expression dem Argument, der subjektive Eindruck der verbindlichen Verpflichtung, die Kundgabe der Geltung. Methodisch bedeutet dieser Übergang für die Philosophie den Übergang von Tugenden der Phänomensicherung zu Tugenden der Geltungssicherung, von der Phänomenologie zur Logik in einem weiten Sinne. Das Merkwürdige ist nun, daß ausgerechnet nach diesem Übergang, d. h. auf logischem Felde, das Wort Expressivität wieder auf der Tagesordnung steht. Aber hier geht es jetzt um Ausdrucksstärke, um expressibility, um davon also, was in einer Sprache, in einem Kalkül ausdrückbar ist und was nicht. Dieser Sprachgebrauch von Expressivität ist nicht so neu, wie es scheint. Bekannt ist er zumindest seit Wittgensteins These von der expressiven Unvollständigkeit der Sprache, die er durch Rückgriff auf nicht-sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten in Form des Zeigens zu beheben versuchte. Joachim Bromand hat jedoch darauf hingewiesen, daß dieser Lösungsversuch des Problems der expressiven Unvollständigkeit der Spra-

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Kolloquium 3  ·  Wolfram Hogrebe

che seinerseits das noch größere Problem erzeugt, insofern wir jetzt zu klären haben, ‚wie sich uns etwas zeigt‘.1 Mit diesem Ergebnis, so scheint es, wird die Analyse der expressiven Unvollständigkeit der Sprache wieder auf die Ebene des subjektiven Geistes zurückverwiesen, auf der es überhaupt nur möglich ist, daß sich etwas zeigt. Wie auch immer, hier ist jedenfalls eine Forschungsfront bezeichnet, über deren Schlachtfeldern die Nebel sich jedenfalls noch nicht gelichtet haben. So ist jedenfalls zu hoffen, daß wir in unserem Kolloquium einige Schritte im schwierigen Bereich der Expressivität zu gegenwärtigen haben, von deren Choreographie wir lernen können. Ich stelle nun kurz unsere Choreographen vor. Da ist zuerst und er beginnt auch: Prof. Dr. Markus Gabriel. Herr Gabriel, Jahrgang 1980, wurde 2005 in Heidelberg promoviert und habilitierte sich ebenda 2008. Inzwischen ist er einem Ruf an eine Professur an der New School of Social Research in New York gefolgt, konnte daher einem Ruf an das Wissenschaftskolleg zu Berlin für 2008 / 09 betriebsbedingt nicht annehmen. Herr Gabriel hat bereits 5 Bücher geschrieben, zu Schelling, Plotin und zur rezenten Debatte skeptischer Argumente in der analytischen Philosophie. Er wird heute zu uns sprechen über ›Kontingenz oder Notwendigkeit‹ mit Blick auf Schelling und Hegel. Das Thema scheint auf den ersten Blick nichts mit dem Thema dieses Kolloquiums zu tun zu haben, doch dieser Eindruck täuscht. Beide Denker konzipieren Räume sogar einer objektiven Expressivität, d. h. einer Expressivität einer evolvierenden Natur. Diese Natur lassen bekanntlich ihrerseits sie aus einem logischen Raum entstehen und zwar so, daß in dieser Genese die Modalitäten flüssig werden. Notwendigkeit wird so in den Nachtragshaushalt verabschiedet. Anschließend spricht Prof. Dr. Horst Bredekamp zu uns. Er ist Kunsthistoriker an der Humboldt-Universität, aber zugleich Freibeuter auf allen Meeren der Natur- und Geisteswissenschaften. Herr Bredekamp ist weltweit der wohl bekannteste Kunsthistoriker unserer Zeit und mit zahlreichen Preisen geehrt, mit dem Sigmund-FreudPreis (2001), dem Aby Warburg Preis (2004) und dem Max-Planck-Forschungspreis (2006). Seine zahlreichen Monographien entfalten ihre Themen- und Fragestellungen im Rahmen einer universal konzipierten Bild- und Kunstwissenschaft, die Wissenschaftsgeschichte2 , Staatstheorie3, Architektur4, Sport5, Biologie6 und jüngst auch die Kosmologie7 bildgründlich umgreift. Die Philosophie mag er eigentlich nicht, aber nur deswegen, weil er ihr zu nah ist. Da kommt er sich selbst in die Quere. Horst Bredekamp wird zu uns sprechen über ›Die Ich-Sprache der Kunstwerke‹. An diesem Thema ›Bild als Person, Person als Bild‹ arbeitet Herr Bredekamp seit geraumer Zeit und wir 1  2  3  4  5  6  7 

J. Bromand, Philosophie der semantischen Paradoxien, 174. H. Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Ders., Thomas Hobbes. Ders. Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung. Ders. Florentiner Fußball. Ders. Darwins Korallen. Ders. Galilei der Künstler.

Einführung

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sind gespannt, ob die Bilder auch höflich genug sind, wenn sie zu uns sprechen. Sonst greifen wir zur Axt oder zum Sprengstoff wie die Taliban. Auch ein altes Thema von Horst Bredekamp. Drittens und schließlich wird Herr Dr. Guido Kreis, Mitarbeiter am jüngst gegründeten Internationalen Zentrum für Philosophie NRW an der Universität Bonn, zu uns sprechen. Er wird das Design einer Theorie des objektiven Geistes vorlegen, das geeignet ist, dem reflexionslosen Szientismus unserer Zeit entgegen zu treten. Herr Kreis studierte Philosophie, Germanistik und Sinologie in Köln, Tübingen und Heidelberg, wo er 1999 mit seiner Arbeit zu Cassirer und Goodman promoviert wurde. Im Suhrkamp-Verlag erscheint 2009 das Buch Cassirer und die Formen des Geistes, 2010 wird ebendort der zusammen mit Joachim Bromand herausgegebene Band Gottesbeweise von Anselm bis Gödel erscheinen. Derzeit arbeitet Herr Kreis an einem Projekt, das einer Neufassung einer Dialektik für unsere Zeit gewidmet ist.

Literatur Bredekamp, Horst: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993 Bredekamp, Horst: Thomas Hobbes. Visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des modernen Staates. Werkillustrationen und Portraits, Berlin 1999 Bredekamp, Horst: Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung. Bau und Abbau von Bramante bis Bernini, Berlin 2000 Bredekamp, Horst: Florentiner Fußball. Die Renaissance der Spiele, Berlin 2001 Bredekamp, Horst: Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 2005 Bredekamp, Horst: Galilei der Künstler. Der Mond. Die Sonne. Die Hand, Berlin 2007 Bromand, Joachim: Philosophie der semantischen Paradoxien, Paderborn 2001

Kontingenz oder Notwendigkeit? Schelling und Hegel über den modalen Status des logischen Raums Markus Gabriel

Das Credo des Physikalismus lautet: »The world is a big physical object.«1 Die Welt ist diesem Credo zufolge wie ein amerikanischer Kühlschrank oder Wolkenkratzer, sprachlich dem Big Apple oder dem Big Mac verwandt, nur erheblich größer als alle diese großen Sachen, a big physical object eben. So drückt sich jedenfalls David Lewis auf der ersten Seite seines Buches über Die Pluralität der Welten aus. Wenn sein Buch von der Pluralität der Welten handelt, geht es ihm also offenkundig nicht um die Welt des Glücklichen, die Welt der Aborigenes, die Welt des Hinduismus, die Welt der Azteken, die Welt eines Films oder ähnliches, sondern um die prinzipiell abzählbare Ansammlung von »big physical objects« im Plural, die er mögliche Welten nennt. Seine Annahme von Welten will er denn auch sogleich vor jeder Art höherer Spiritualität schützen, indem er seine Anschauung der Welt als »big physical object« der Annahme von »Entelechien oder Geistern oder Auras oder Gottheiten oder anderen Dingen, die der Physik nicht bekannt sind (entelechies or spirits or auras or deities or other things unknown to physics)«2 entgegenstellt. Lewis gibt also unmittelbar zu verstehen, wie er die Welt sieht: Die Welt ist die Totalität alles handgreiflich raum-zeitlich Ausgedehnten. Freilich gibt es Lewis zufolge unzählige andere Welten, in denen alles Mögliche in einem ebenfalls handgreiflichen Sinne der Fall ist, was die These seines modalen Realismus ist. 3 Dennoch gilt für alle diese Welten, wie Lewis im Brustton der Gewissheit verkündet: »Wir haben die Welten nicht gemacht (the worlds are not of our own making).«4 Bei Lewis kommen diverse metaphysische Hintergrundannahmen zum Einsatz. Namentlich, dass jede Welt ein physikalisches Objekt ist; dass keine Welt von uns gemacht ist; und nicht zuletzt die Annahme, dass es unzählige solcher Welten gibt, die raum-zeitlich und kausal völlig voneinander isoliert sind. Diese metaphysischen Hintergrundannahmen sind allerdings gelinde gesagt: verdächtig. Der Physikalismus und die ihm zugesellte Apotheose der gelingenden Quantifikation von allem verschleiern ihre eigenen theorie-konstitutiven Entscheidungen. Und gerade in Lewis‹ Fall wird man sagen dürfen: Seine Welten sind sehr wohl »of his making«.

D. K. Lewis: On the Plurality of Worlds, 1. Ebd. 3  A. a. O., 2: »There are so many other worlds, in fact, that absolutely every way that a world could possibly be is a way that some world is.« 4  A. a. O., 3. 1  2 

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Der zeitgenössischen Modallogik, die mit einer Semantik der möglichen Welten operiert, eignet ein schockierendes Vertrauen in die Möglichkeit einer völlig luziden mathesis universalis. Dabei werden Begriffe wie »Welt« und »logischer Raum« bedenkenlos verwendet, ohne dass eine Reflexion auf die für die Theorie konstitutive Semantik dieser Begriffe angestrengt wird. Die eigentliche Absicht zeitgenössischer Theorien der Modalitäten artikuliert sich als Anspruch auf Quantifikation: »modality turns into quantification«5. Gelingt die Ausarbeitung einer formalen Semantik der Modalitäten Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit usw. auf der Basis von quantifikationalen Standarddefinitionen, sind scheinbar auch ihre metaphysischen Annahmen gerechtfertigt, wenn diese auch nicht eigens untersucht wurden. Im folgenden möchte ich die in der gegenwärtigen analytischen Metaphysik insgesamt unkritisch vorausgesetzte Annahme eines immer schon etablierten logischen Raums bzw. die damit verbundene, mit Verlaub gesagt, naive Annahme unterlaufen, dass die Welt ein großes physikalisches Objekt sei. Dabei werde ich eine Allianz mit zwei Denkern eingehen, denen Physikalisten und sonstige »Erdgeborene«, wie Platon zu sagen pflegte, gemeinhin keinen Tribut zollen: Schelling und Hegel. Meine These lautet, dass Schelling und Hegel eine Theorie der Voraussetzung entwickelt haben, die es erlaubt, alle Notwendigkeit als nachträgliche Notwendigkeit durchsichtig zu machen. Die »Härte des logischen Muß« sowie die Einführung von das Weltgeschehen determinierenden Prinzipien werden sowohl von Schelling als auch von Hegel im Hinblick auf ihr »Gesetztsein« untersucht. Diese Reflexionslogik werde ich im ersten Teil meines Beitrags skizzieren.6 Im zweiten Teil meines Beitrags werde ich die Wege Schellings und Hegels unterscheiden. Denn im Unterschied zu Schelling nimmt Hegel an, dass er die Voraussetzungen seiner Reflexionslogik mit ihren eigenen Mitteln vollständig aufdecken kann. Diese vollständige Transparenz handelt er in seiner Begriffslogik ab, die, wie es dort heißt, »einen vollkommen durchsichtigen Unterschied« (TWA, 6, 240) thematisiere. Demgegenüber wendet Schelling ein, dass Theorien mit universalem Anspruch, die ich Theorien der Welt als Welt nenne, prinzipiell eine ihnen intransparente Voraussetzungsstruktur generieren und wendet diese Einsicht auf seine eigene universale Theorie an. Schelling macht demnach einen grenzziehenden Gebrauch von der von Hegel paradigmatisch entwickelten Reflexionslogik: Die Reflexion auf die nachträgliche Notwendigkeit generiert einen Spielraum der Kontingenz, den Schelling im Unterschied zu Hegel nicht aufzuheben sucht. Schelling zufolge ist der logische Raum als solcher kontingent, während Hegel sein Bestehen geradezu in den Rang »absoluter Notwendigkeit« (TWA, 6, 213–217) erhebt.

A. a. O., 5. Die Reflexionslogik nachträglicher Notwendigkeit habe ich andernorts weiter ausgeführt. Vgl. M. Gabriel, »Nachträgliche Notwendigkeit. Gott, Mensch und Urteil beim späten Schelling«, ders., »The Mythological Being of Reflection«. 5  6 

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1.  Nachträgliche Notwendigkeit Wenn wir über einen bestimmten Gegenstandsbereich quantifizieren und feststellen wollen, was in diesem Gegenstandsbereich existiert, setzen wir notwendig voraus, dass in diesem Gegenstandsbereich etwas vorkommt, das sich von anderem unterscheidet. Der Existenzquantor wählt einiges aus, das im Unterschied zu anderem bestimmt ist. Gäbe es in einem Gegenstandsbereich nur Eines, das sich nicht einmal von seinem Gegenstandsbereich unterschiede, wobei auch dieser sich nicht von anderen Gegenstandsbereichen unterschiede, so gäbe es in ihm Keines. Eines, das nicht im Unterschied zu Anderem bestimmt ist, gibt es nicht, worauf schon Platon im Parmenides hingewiesen hat. Gegenstandsbereiche sind Mengen von Elementen. Die Bildung der Mengen definiert Regeln, die festlegen, was der Gegenstandsbereich einschließt. Wissenschaftliche Diskurse bzw. Diskurse überhaupt generieren Gegenstandsbereiche, deren Regelmäßigkeiten sie methodisch untersuchen, um festzulegen, was in einem Gegenstandsbereich vorkommen kann, damit sodann untersucht werden kann, was wirklich in ihm vorkommt. Wenn wir nun behaupten, dass es einen bestimmten Gegenstandsbereich gibt, z. B. die Flora und Fauna des Amazonas, die natürlichen Zahlen oder die Malerei der Renaissance, wenn wir also über Gegenstandsbereiche quantifizieren, so generieren wir ex hypothesi einen höherstufigen Gegenstandsbereich, in dem sich Gegenstandsbereiche voneinander unterscheiden. Wir generieren mithin eine Vergleichsperspektive auf viele verschiedene Gegenstandsbereiche, von denen jeder gegen die anderen bestimmt ist. Darunter befindet sich auch der Gegenstandsbereich, von dem wir ausgegangen sind. Kurzum, die Elemente des höherstufigen Gegenstandsbereiches sind wiederum Gegenstandsbereiche. Sollte diese Überlegung korrekt sein, ist die Frage zulässig, wie es sich mit dem Gegenstandsbereich verhält, in dem Gegenstandsbereiche unterschieden werden, d. h. wie es sich mit dem Bereich aller Bereiche verhält. Diesen ultimativen Gegenstandsbereich, den Heidegger die »Lichtung« und Wolfram Hogrebe die »Distinktionsdimension«7 getauft hat, nenne ich den logischen Raum. Der logische Raum umfasst u. a. alles, was möglich ist, weil alle Gegenstandsbereiche überhaupt nur in einem logischen Raum unterschieden werden können, in dem sie aufeinander bezogen werden.8 Gegenstandsbereiche sind intelligible Gebilde. Sie existieren nur aufgrund mengenbildender Operationen. Wenn ›existieren‹ voraussetzt, ›als Element in einem GeVgl. W. Hogrebe, Echo des Nichtwissens, 317 f. Hogrebe bezeichnet dort den »Raum, den jede Unterscheidung, die wir treffen, spaltet« als den »Raum für mögliche Unterscheidungen, und den können wir auch als Distinktionsdimension bezeichnen. Jede Einführung von basalen Unterscheidungen nimmt diese Distinktionsdimension in Anspruch. Sie lässt sich daher von anderen Räumen nicht mehr unterscheiden, ja kann überhaupt nicht positiv gekennzeichnet werden, und doch brauchen wir sie, weil wir sonst kein Universum durch unsere Unterscheidungen erzeugen könnten. Sie ist der semantisch völlig diaphane Hintergrund aller semantischen Kontraste, transzendentale Bedingung ihrer Möglichkeit.« 8  Ich lasse an dieser Stelle die Frage offen, ob die Menge aller logischen Unmöglichkeiten auch zum logischen Raum gehört. 7 

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genstandsbereich vorkommen zu können‹, dann kann der logische Raum selbst nicht existieren. Denn er kommt schließlich schon per definitionem nicht selbst wiederum als Element in einem Gegenstandsbereich vor. Es müsste ansonsten einen höherstufigen Gegenstandsbereich geben, in dem der logische Raum unter anderem vorkäme. Der logische Raum ist eben deswegen nur ein ontologisches Loch, die schlechthinnige Leere, da er sich von den anderen Gegenstandsbereichen nur dadurch unterscheidet, dass er kein Gegenstandsbereich ist. Man kann mutmaßen, dass Heidegger genau dies im Blick hat, wenn er erklärt, dass unsere Bezugnahme auf Gegenstände letztlich ein »Sichhineinhalten ins Nichts«9 darstelle. Doch indem wir überhaupt über Gegenstandsbereiche sprechen, müssen wir so tun, als ob der logische Raum ein Gegenstandsbereich, und zwar ein ›höherstufiger‹ wäre. Letztlich ist er allerdings der selbst ortlose Ort, an dem alles sich abspielt, weshalb man mit dem russischen Schriftsteller Victor Pelevin die Paradoxie formulieren kann, dass alles nirgends stattfindet.10 Dennoch ist der logische Raum eine notwendige Voraussetzung dafür, dass der Existenzquantor greift. Existierendes gibt es nur in Gegenstandsbereichen und zwar nur so, dass es sich von anderem Existierenden, zumindest aber von dem Gegenstandsbereich unterscheidet, in dem es vorkommt. Dies gilt für den logischen Raum selbst nicht, da er sich zwar von allen anderen Gegenstandsbereichen unterscheidet, ohne dass dieser Unterschied aber dazu führen könnte, dass wir einen höherstufigen Gegenstandsbereich bilden könnten, in dem der logische Raum neben der Flora und Fauna des Amazonas oder der Mengentheorie existiert. Denn auf diese Weise hätten wir nicht den logischen Raum selbst im Blick, da dieser vielmehr der Gegenstandsbereich wäre, in dem sein vermeintlicher Doppelgänger neben anderen Gegenstandsbereichen auftaucht. Wittgenstein trifft bekanntlich einen Unterschied zwischen der Welt und dem logischen Raum. Demzufolge ist die Welt die Totalität des Wirklichen, während der logische Raum die Totalität des Möglichen bezeichnet. Im Unterschied zu Wittgenstein sollte man allerdings weder den Weltbegriff noch den Begriff des logischen Raums als Totalitätsbegriffe verstehen. Denn die Welt im eminenten Singular ist ebenso wenig wie der logische Raum ein Gegenstand möglicher Bezugnahme. Kann doch die Welt nur dann bestimmt sein, wenn wir ein begriffliches Bezugssystem, einen Gegenstandsbereich, auswählen. Alles, was der Fall ist, ist überhaupt keine konsistente Menge. Denn es ist sowohl der Fall, dass an einer bestimmten Stelle ein raum-zeitlich ausgedehnter Partikelschwarm zittert, als auch, dass Markus Gabriel einen Vortrag hält usw. Dasselbe wäre also in der Menge alles dessen, was der Fall ist, zugleich etwas Anderes.11 Alain Badiou und Quentin Meillassoux haben deshalb (wenn auch aus anderen Motiven) zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der alteuropäische Begriff einer infiniten Totalität durch den Begriff des nicht-totalisierbaren Transfiniten ersetzt

M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 72. V. Pelevin, Buddha’s Little Finger, 139–141. 11  Man könnte freilich dafür argumentieren, was ich an anderer Stelle ausführen werde, daß Identität gerade darin besteht, plurale Zugangsweise freizugeben bzw. gar nur durch die Existenz pluraler Zugangsweisen retroaktiv konstituiert zu werden.   9 

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werden müsse.12 Die dahinter stehende Überlegung lässt sich in aller Kürze folgendermaßen resümieren: Cantor hat gezeigt, dass die Elemente jeder Menge so angeordnet werden können, dass die Anzahl der Untermengen, die dadurch entstehen, die Anzahl der Elemente der Menge überschreitet. Man nehme etwa eine Menge A, die aus drei Elementen, x1, x2 und x3 besteht. x1, x2 und x3 lassen sich verschieden anordnen. So können wir die Menge {{x1, x2}, {x3}} oder die Menge {{x1}, {x2, x3}} usw. bilden. Die Anzahl der Untermengen der Potenzmenge ist folglich größer als die Anzahl der Elemente der ursprünglichen Menge {x1, x2, x3}. Dies bedeutet, dass die so genannte Potenzmenge p(A), d. h. die Menge der Untermengen von A notwendig größer als A ist. Da dies für alle Mengen gilt, kann es keine allumfassende Menge, kein Ganzes des Seienden oder dgl. geben. Das vermeintliche Ganze ist vielmehr die transfinite Dimension unendlicher Proliferationen, was Badiou dahingehend zusammengefasst hat, dass das Seiende als solches eine inkonsistente Vielheit ist, die nicht einmal eine Vielheit ist, die aus bestimmten Einheiten, also aus gegebenen Urelementen besteht. Die Welt lässt sich für uns immer nur in kosmologischen Modellen einblenden. Kosmologische Modelle sind Sphären der Intelligibilität, die wir mit der Welt selbst zur Deckung zu bringen suchen. Wir verfügen hierbei aber über kein unabhängiges Kriterium dafür, dass irgendein kosmologisches Modell die Welt beschreibt, wie sie an sich ist. Deshalb ist die Welt ein Grenzbegriff, selbst aber keine bestimmte Entität. Die Welt ist in dem Sinne alles, was der Fall ist, als sie alle Gegenstandsbereiche zulässt, die es gibt. Die Welt lässt Beschreibungen ihrer selbst im Plural zu. Das heißt aber nicht, dass die Welt ein wohlbestimmtes Objekt im Sinne eines Gegenstandes einer Theorie erster Ordnung sein kann, die über einen Gegenstandsbereich quantifiziert. Die Welt unterscheidet sich dadurch vom logischen Raum, dass sie der Inbegriff des Existierenden, d. h. die nicht-totalisierbare, transfinite Menge aller unterscheidbaren Gegenstandsbereiche und all desjenigen ist, was in ihnen vorkommt. Dagegen ist der logische Raum eine flüchtige, überhaupt nicht adäquat thematisierbare Bedingung von Welt. Wir müssen den logischen Raum im Modus der Potenz, d. h. von der Möglichkeit aus thematisieren, dass vieles der Fall sein kann – auch solches, was niemals der Fall sein wird. Wie verhält es sich nun mit dem logischen Diskurs, dem ich mich bisher angeschlossen habe? Quantifiziert er nicht unablässig über den logischen Raum, der als Singularetantum eingeführt wurde? Gerät uns das Unbedingte, der logische Raum, nicht doch wider Willen zuletzt zu einem (Frege’schen) Gegenstand, da wir ihm Prädikate, und sei es das der vorläufigen Prädikatlosigkeit, zugesprochen haben?13 Dies gilt es zu vermeiden, denn der logische Raum ist, mit T. S. Elliot gesagt, wie der einäugige Händler, »and this card, / Which is blank, is something he carries on his back, / Which I am forbidden to see.«14

12  A. Badiou, Das Sein und das Ereignis; Q. Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz. 13  Zum Prädikat der Prädikatlosigkeit vgl. Schelling, SW, VII, 406–407. 14  T. S. Elliot, The Waste Land, vs. 52–54.

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Sobald etwas Konstatierbares existiert, sobald also eine Sphäre der Intelligibilität etabliert ist, tritt der logische Raum in den Hintergrund. Er kann sich nur im Entzug zeigen, d. h. nur dann, wenn wir etwas bestimmen.15 – Freilich lässt sich auch dies nicht umstandslos behaupten, ohne dass wir den logischen Raum qua Hintergrund eines Vordergrundes ipso facto erneut unter unzulässige Bedingungen stellen. Wir kommen also an den logischen Raum als solchen schlichtweg nicht heran. Und zwar deshalb nicht, weil er noch gar nicht unter apophantischen Bedingungen, d. h. unter Bedingungen des »Etwas als Etwas« steht.16 Der späte Schelling drückt dies so aus: [I]n der Ewigkeit ist kein »als«; als etwas, z. B. als A, kann nichts gesetzt seyn ohne Ausschließung von einem nicht A. Hier aber ist das Subjekt nur noch reines, d. h. irreflektirtes, gradaus gehendes, nicht als solches gesetztes Seyn. Denn jedes als solches Gesetztwerden setzt eine Reflexion – ein Reflektirtwerden – also schon ein Contrarium voraus. (SW, XIV, 106) Der entscheidende Gedanke, den Schelling und Hegel an diesem Punkt formulieren, besagt nun, dass die gesamte skizzierte Überlegung von der notwendig anzunehmenden Differenz zwischen den wirklich existierenden Gegenstandsbereichen, der Welt, und dem logischen Raum als dem Gegenstandsbereich aller möglichen Gegenstandsbereiche, im Medium der Reflexion vollzogen wird. Die Voraus-Setzung des logischen Raums verdankt sich einer Voraus-Setzung der Reflexion, was Hegel als »immanentes Voraussetzen« (TWA, 6, 436) bezeichnet.17 Wenn Hegel annimmt, die Reflexion hebe ihre Voraussetzung auf, so bedeutet dies lediglich, dass sie sich auf ihre Voraussetzung als auf ihre Setzung bezieht und sie damit in die Sphäre der Intelligibilität einholt. »[D] ie Reflexion ist das Aufheben des Negativen seiner selbst, sie ist Zusammengehen mit sich; sie hebt also ihr Setzen auf, und indem sie das Aufheben des Setzens in ihrem Setzen ist, ist sie Voraussetzen.« (TWA, 6, 27) Voraussetzungen gelingen mit anderen Worten nur dadurch, dass sie Setzungen sind, die sich selbst suspendieren. Sie tendieren zur Abblendung der Reflexion zugunsten einer Voraussetzung, gegen die sich die Reflexion bestimmt. Doch durch diese Operation gelingt es der Reflexion keineswegs, sich selbst zu transzendieren. Denn

Jörg Jantzen hat mich zu Recht darauf hingewiesen, dass Bestimmtheit für Schelling nur im Medium von »Sucht und Verlangen« zugänglich ist. Die Referenzstruktur unserer Bezugnahme auf Gegenstände gründet Schelling zufolge in einer Sucht- bzw. Sehnsuchtsstruktur. Vgl. dazu Jantzens Skizze in »Sucht und Verlangen. Über den Grund der Person«. Zu Schellings These, dass Bezugnahme sich einem Entzug verdankt und Hegels ähnlicher Vermutung, sie gründe in einem Vollzug, der sich nicht objektivieren lasse, vgl. auch meine Ausführungen in M. Gabriel, »Die metaphysische Wahrheit des Skeptizismus bei Schelling und Hegel«. 16  Dies ist übrigens eine der fundamentalen Einsichten des Suprematismus. Vgl. M. Gabriel, »Kunst und Metaphysik bei Malewitsch  – Das schwarze Quadrat als Kritik der platonischen Metaphysik der Kunst«. 17  Zu Hegels Logik der Voraussetzung vgl. ausführlicher M. Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus. § 15. 15 

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[d]ie Unmittelbarkeit kommt überhaupt nur als Rückkehr hervor und ist dasjenige Negative, welches der Schein des Anfangs ist, der durch die Rückkehr negiert wird. Die Rückkehr des Wesens ist somit sein Sich-Abstoßen von sich selbst. Oder die Reflexion-in-sich ist wesentlich das Voraussetzen dessen, aus dem sie die Rückkehr ist. (TWA, 6, 27) Zum Anfang meiner Überlegungen zurückkehrend, kann man nun mit Hegel festhalten, dass es keine bestimmten absoluten Anfänge geben kann, die die Reflexion als solche bedingen. Man kann etwa nicht davon ausgehen, dass es eine Welt gibt, die ein großes physikalisches Ganzes ist, das aus kleinen physikalischen Objekten zusammengesetzt ist, deren Anordnung in Raum und Zeit physikalischen Gesetzen folgt. Ebenso wenig kann man davon ausgehen, dass die Welt die Lebenswelt ist. Die Welt ist weder ausschließlich die Welt der Wissenschaft noch ausschließlich die Lebenswelt. Neben diesen Welten gibt es ohnehin unzählige andere Welten, die man mit Goodman als »Weltversionen« bezeichnen kann.18 Z. B. gibt es die Welt eines Romans, die Welt der Aborigines, der Amerikaner, der Einwohner der Maxvorstadt Münchens, die Welt des Glücklichen, des Traurigen usw. Alle vermeintlichen bestimmten Anfänge sind Reflexionen einer Weltversion auf die Welt, in der sie stattfinden. Versuche also, eine bestimmte Einheit an den Anfang zu setzen, um der Kontingenz der jeweils präferierten Weltversion selbst zu entgehen. Oder anders gesagt: alle bestimmten Anfänge der Reflexion sind von einem Bewohner einer Welt ersonnene Ursprungsmythen. Der logische Raum, das Unbedingte, das Eine, das Sein, das Absolute, oder wie auch immer wir es nennen wollen, ist nun kein bestimmter absoluter Anfang. Doch damit wollen sich die meisten Theoretiker nicht zufrieden geben, da sie vielmehr eine bestimmte Einheit auszeichnen wollen, »von der der Himmel und die Natur abhängen« (Met. 1072b13–14), wie Aristoteles sagte. Für Physikalisten ist dies die Apotheose der Quantifikation. Überhaupt steht auf Platz eins der Liste für die Nachfolge Gottes, d. h. einer theologisch bestimmten Einheit, in der Neuzeit bekanntlich die Wissenschaft, paradigmatisch die Physik. Allerdings bietet diese nur ein kosmologisches Modell unter anderen an, und davon auch noch viele verschiedene. Sie kann aus eigenen Reserven nicht einmal am fingierten »ideal limit of inquiry« sicherstellen, dass ihr kosmologisches Modell mit der Welt kongruiert. Es bleibt nämlich dabei, dass Voraussetzungen im Spiel sind, die in der etablierten Theorie nicht thematisiert werden können, ohne dadurch bereits verzerrt zu werden bzw. wiederum eigene Voraussetzungen zu generieren. Die Voraussetzungen der Theoriebildung können in keiner Theorie vollständig abgebildet werden, da alle Theorien die Reflexionsform aufweisen, die Schelling und Hegel untersucht haben: Sie generieren Voraussetzungen ihrer selbst, ohne auf irgendeine Weise in einem Akt der Selbsttranszendenz garantieren zu können, dass diese Voraussetzungen keine Setzungen sind. Dazu noch einmal Hegel in einem fulminanten Gestus der Entzauberung:

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Vgl. dazu natürlich N. Goodman, Ways of Worldmaking.

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Die Reflexion also findet ein Unmittelbares vor, über das sie hinausgeht und aus dem sie die Rückkehr ist. Aber diese Rückkehr ist erst das Voraussetzen des Vorgefundenen. Dies Vorgefundene wird nur darin, daß es verlassen wird; seine Unmittelbarkeit ist die aufgehobene Unmittelbarkeit. (TWA, 6, 27) Spätestens an diesem Punkt werden Sie den Verdacht hegen, dass sich meine Reflexion in eine konstruktivistische oder idealistische Sackgasse hinein manövriert hat. Mit Brandom werden Sie vielleicht einwenden wollen, dass »der Gedanke, daß diese Welt immer schon ohnehin da ist, unbekümmert um die Aktivitäten von wissenden und handelnden Subjekten, so es solche denn gibt, immer als der fundamentalste Einwände gegen irgendeine Form des Idealismus gegolten hat«19. Doch man achte an dieser Stelle auf Brandoms delikate Formulierung: »der Gedanke, daß die Welt (the thought that that world)« usw. Auch hier bleibt die Welt eine notwendige Voraussetzung der Theoriekonstruktion, was nicht aus-, sondern gerade und notwendig einschließt, dass die Welt eine Setzung ist; oder mit Habermas gesagt: nur als »formale Weltunterstellung«20 vorkommt. Sie ist erst nachträglich notwendig, d. h. dann, wenn wir darauf reflektieren, dass sich die verschiedenen Bezugssysteme, in denen die Welt zur Erscheinung kommt, immerhin auf Etwas beziehen müssen, was auch immer dieses Etwas sein mag, wofür Kant den schlichten Ausdruck »das unbekannte Etwas« (KrV, B 312) eingeführt hat. Verschiedene Formen der Anordnung von Elementen setzen immerhin voraus, dass die anzuordnenden Elemente bereits da sind. Allerdings lässt sich auch dies nicht umstandslos behaupten. Denn die Rede von Elementen setzt bereits ein Bezugssystem voraus, ein Bezugssystem nämlich, dass über Bezugssysteme quantifiziert. Dieses höherstufige Bezugssystem untersteht ebenso Bedingungen seiner Möglichkeit wie die Bezugssysteme, über die es quantifiziert. Deshalb ist die Rede von gegebenen Elementen – seien diese nun Platonisch-Aristotelische eidê, Russell’sche Sinnesdaten, Wittgenstein’sche Gegenstände, physikalische Teilchen und / oder Wellen – alles andere als voraussetzungslos. Das Gegenteil trifft zu. 21 Das Absolute einer bestimmten Theorie ist notwendig ein bestimmtes Absolutes und damit gerade nicht das Absolute schlechthin, das allen Theorien vorhergeht, d. h. der logische Raum. Dieser entzieht sich ständig, so dass unsere Theorien ihrem ultimativem Objekt immer nur hinterherhinken. Mit anderen Worten gibt es verschiedene Kandidaten für das Absolute, vom physikalistischen Klassiker der Welt als Totalität R. B. Brandom, Tales of the Mighty Dead: Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, 208: »the thought that that world is always already there anyway, regardless of the activities, if any, of knowing and acting subjects, has always stood as the most fundamental objection to any sort of idealism.« 20  Vgl. J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, 24, 37, 46 f. Vgl. auch ebd., 73: »Ein gemeinsamer Blick auf die Wirklichkeit als ein zwischen den »Weltansichten« verschiedener Sprachen »in der Mitte liegendes Gebiet« ist eine notwendige Voraussetzung für sinnvolle Gespräche überhaupt. Für Gesprächspartner verbindet sich der Begriff der Wirklichkeit mit der regulativen Idee einer »Summe alles Erkennbaren«.« 21  Vgl. Anton Friedrichs Koch überzeugende Zurückweisung der Möglichkeit von Ursachverhalten in A. F. Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, § 13. 19 

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alles raum-zeitlich Ausgedehnten über die Lebenswelt, die Différance, den Willen zur Macht usw. Letztlich generieren alle Theorien ein Absolutes, indem sie eine Differenz von Form und Inhalt in Anspruch nehmen mit der Absicht, den Inhalt unverstellt zu repräsentieren. Kein Element der Menge aller bestimmten Absoluta ist aber das Absolute im Sinne des Spielraums der Kontingenz, auf den ich unablässig hinzuweisen suche, was Autoren wie Heidegger oder Lacan angeregt hat, eigentümliche Grapheme wie das durchkreuzte Seyn einzuführen. Doch bei alledem müssen wir im Blick behalten, dass unsere grenzziehenden Aussagen, stammelnden Gesten oder, noch einmal mit Wittgenstein, unser »unartikulierter Laut« (PU, § 261) nicht bedeuten, dass wir ad maiorem Dei gloriam zum Absoluten durchgedrungen sind. Wir erfahren nur einen Entzug, woraus nicht folgt, dass da etwas von irgendeiner Art ist, das sich uns entzieht. Es geht um eine Erfahrung der Kontingenz, die nahelegt, eine Grenze anzunehmen, was nicht impliziert, dass wir über diese Grenze hinaus sind. Wenn die Kontingenz das letzte Wort hat, dann können wir nicht einmal deren Notwendigkeit behaupten, d. h. wir können durch keine theoretische Operation sicherstellen, dass zumindest die Kontingenz notwendig ist. Denn alle Behauptungen, auch diese, vollziehen sich im Spielraum der Kontingenz. Wenn wir nun unter Notwendigkeit einen Zusammenhang von Elementen verstehen, der nicht anders sein könnte, dann ist alle Notwendigkeit relativ auf ein Bezugssystem. Da Bezugssysteme nur dann als Elemente registriert werden können, wenn höherstufige Bezugssysteme etabliert sind, gelangen wir rasch an den Punkt, an dem wir einsehen, dass die Kreation von Bezugssystemen letztlich nur nachträglich bestimmten Theoriebedingungen unterstellt werden kann. Dies bedeutet, dass alle Notwendigkeit nachträgliche Notwendigkeit ist. Die vermeintliche »Härte des logischen Muß« verdankt sich einer sklerotischen Abblendung: Die ursprünglich stets fragilen Theoriebedingungen müssen praktisch gesichert und damit unter Machtbedingungen gestellt werden, die garantieren, dass sie nicht als gesetzte, sondern als Gesetze in Umlauf geraten. 2.  Mit Schelling gegen Hegel Eine verbreitete Standard-Lektüre nimmt an, Hegel habe Kontingenz insgesamt beseitigen wollen, um eine Art spirituellen Monismus zu begründen, der Spinozas Substanz als Subjekt, d. h. als sich teleologisch entwickelnden Geist denke und in diesem Zuge alle Kontingenz zugunsten einer unsinnig anmutenden Geschichtsteleologie eliminiere. Dabei behandelt Hegel die Modalitäten in der Tat so, dass er die Notwendigkeit der Kontingenz aufweisen kann, womit er gegen den Vorwurf einer totalen Verdrängung von Kontingenz leicht verteidigt werden kann. Gegen die These einer Notwendigkeit der Kontingenz wendet Schelling ein, dass auch diese Notwendigkeit nachträglich ist. Da alle Notwendigkeit letztlich verdrängte Kontingenz ist, kann man mit Schelling in Hegels These der Notwendigkeit der Kontingenz einen blinden Fleck ausmachen. Es verhält sich nämlich vielmehr umgekehrt so, dass alle Notwendigkeit kontingent ist, da sie nur nachträglich etabliert werden kann. Die in der Optik bereits etablierter The-

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oriebildung notwendige Anordnung von Elementen ist höherstufig kontingent genau deshalb, weil die Theoriebildung sich aus kreativen Energien speist, die den Regeln der Theorie noch nicht unterstehen. Der entscheidende Punkt, an dem sich Schellings und Hegels Wege trotz der ihnen gemeinsamen Reflexionslogik scheiden, ist ihre Theorie des Anfangszustandes des logischen Raums. Hegel nimmt an, dass das Bestehen der skizzierten Reflexionsstruktur mit dem Namen »Sein« bezeichnet werden kann. »Sein« ist bei Hegel also nichts anderes als das Bestehen der Reflexionsstruktur bzw. der Name für die reine Immanenz. Alles, was sich nun im Sein, also immanent, vom Sein unterscheidet, indem es etwas Erkennbares und nicht bloß der unbestimmte logische Raum selbst ist, ist vom Sein aus gesehen kontingent, da im Sein keine begrifflichen Ressourcen zur Verfügung stehen, mit deren Hilfe dieses oder jenes antizipiert werden könnte. »Denn das Sein ist gesetzt als absolute notwendig, als die Vermittlung mit sich, welche absolute Negation der Vermittlung durch Anderes ist, oder als Sein, das nur mit dem Sein identisch ist; ein Anderes, das im Sein Wirklichkeit hat, ist daher als schlechthin nur-Mögliches, leeres Gesetztsein bestimmt.« (TWA, 6, 216) Hegels These lässt sich dahingehend übersetzen, dass die Grenze der Theoriebildung sich mit der Sprache der Theorie beschreiben lässt. Wäre es möglich, auf dieser Basis eine generelle Theorie-Theorie zu entwickeln, käme man bei Hegels Totalitätsthese an, die besagt, daß der Immanenz-Zusammenhang sich nicht überschreiten lässt, weil jede Grenzziehung intern ist. Hegel bezeichnet diesen Gedanken kurzerhand als »absolute Notwendigkeit« (TWA, 6, 213–217). Die absolute Notwendigkeit ist, so Hegel, »das Sein, das in seiner Negation, im Wesen, sich auf sich bezieht und Sein ist.« (TWA, 6, 215) In meiner Übersetzung bedeutet dies, dass alle Theorien der Welt zur Welt selbst gehören, und dass genau darin die Stabilität des logischen Raums besteht. Dieser wird notwendig reflexiv, da er ansonsten nicht bestehen könnte. Nennt man den logischen Raum »das Absolute« ergibt sich in Hegels Sprache: »Die absolute Notwendigkeit ist so die Reflexion oder Form des Absoluten; Einheit des Seins und Wesens, einfache Unmittelbarkeit, welche absolute Negativität ist.« (TWA, 6, 215) Der logische Raum geht unserer Theoriebildung demnach nicht vorher, sondern er wird in unserer Theoriebildung allererst als paradoxer Ausgangspunkt generiert, was die zentrale These von Hegels zu Recht so genanntem absolutem Idealismus ist. Der logische Raum ist Hegel zufolge der nicht zu transzendierende Immanenz-Zusammenhang, Aspekt oder Moment der absoluten Reflexion. Hegels Gedanke der Immanenz, den er als absolute Notwendigkeit bezeichnet, lässt sich auch folgendermaßen plausibel machen. »Welt« ist der Name einer ausgesprochen umfassenden Einheit. Es gibt nämlich nichts, was nicht zur Welt gehört. Dies impliziert allerdings auch, dass Theorien der Welt ebenfalls zur Welt gehören müssen. Die Welt kann nicht lediglich ein Gegenstandsbereich im Sinne eines bestimmten Gegenstandsbereiches einer bestimmten Theorie erster Ordnung sein. Denn die Gegenstandsbereiche existieren schließlich selbst, so dass Theorien neben Katzen, unseren mentalen Zustände und Paris zur Welt gehören. Im übrigen ist die Welt selbst intelligibel in dem Sinne, dass wir sie als solche, d. h. als umfassende Einheit, nur auf der Spitze der Refle-

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xion entdecken können und auch dann nur so, dass wir sie gerade nicht als Gegenstand unter anderen Gegenständen zu erkennen vermögen. In ihrer Eigenschaft als entfalteter logischer Raum trägt sie dessen konstitutive begriffliche Entzogenheit an sich. Dennoch erkennen wir die Welt ständig, jedoch nicht als solche, sondern immer nur unter einer bestimmten Beschreibung. All dies bedeutet, dass keine Theorie über die Welt hinaus sein kann. Alle Theorien gehören zur Welt. Weil wir der Welt somit theoretisch nicht entrinnen können, ist sie die absolute Notwendigkeit. So weit Hegel. Allerdings lässt sich an genau dieser Stelle mit Schelling eine verdächtige Aussparungsstelle konstatieren. Es stellt sich nämlich sogleich die Frage, in welcher Theoriesprache die Welt als Welt thematisiert worden ist. Ist die Rede von der Welt und dem Immanenz-Zusammenhang ihrerseits überhaupt mehr als eine weitere sklerotische Abblendung? Wenn alle Notwendigkeit nachträglich ist, was Hegel in seiner Reflexionslogik eindeutig konzediert, dann ist die absolute Notwendigkeit ebenso wie seine gesamte Theoriesprache in der Wissenschaft der Logik nicht einmal ansatzweise »die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist« (TWA, 5, 44), was Hegel provozierend ankündigt. Noch verdächtiger verspricht Hegel die Entdeckung eines »Reichs des reinen Gedankens«: »Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist.« (TWA, 5, 44) In einer typisch modernen Geste der »Handaufhebung gegen Gott«22 setzt sich Hegel hier an die Stelle Jesu Christi. Seine Wissenschaft der Logik wird genau deswegen zu »Weg, Wahrheit und Leben«, weil Hegel der Überzeugung ist, dass die Reflexionslogik sich auf einem sicheren Boden vollzieht. Sie selbst überhebt sich der von ihr beobachteten Endlichkeit aller theoretischen Operationen und transformiert ihre nachträgliche in eine absolute und d. h. vor allem: keineswegs nur nachträgliche Notwendigkeit. Schelling hingegen rechnet stets damit, dass seine eigene Theoriesprache defizient bleiben muss, weil »die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist«, nicht darstellbar ist. Jede Darstellung der Wahrheit, d. h. jedes assertorische Urteil, blendet die Welt unter einer bestimmten Beschreibung ein. Dies gilt unmittelbar auch für das Urteil über Urteile, welches besagt, dass alle Urteile defizient sind. Mit anderen Worten haben wir keine Mittel, um Frege’sche Bedeutung frei von Frege’schem Sinn zu erhalten: Unsere Bezugnahme auf Gegenstände bezieht diese immer schon in einen Kontext ein, ohne den die einzelne zu beschreibende Episode ein zusammenhangsloses Fragment bliebe, was John McDowell in seinem gleichnamigen Aufsatz als »Having the World in View« bezeichnet hat. 23

So äußert sich Heidegger bekanntlich über den grundsätzlichen Atheismus der Philosophie als solcher im Natorp-Bericht. Vgl. M. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation, 363, Anm. 54. 23  J. McDowell, »Having the World in View: Sellars, Kant, and Intentionality«. Vgl. besonders ebd., 435: »the intentionality, the objective purport, of perceptual experience in general – whether potentially knowledge yielding or not – depends […] on having the world in view, in a sense that goes beyond glimpses of the here and now. It would not be intelligible that the relevant episodes present themselves as glimpses of the here and now apart from their being related to a wider world view«. 22 

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Obwohl wir uns auf die Welt nur vermittels kontingenter Beschreibungen beziehen können, sind wir uns sicher, dass da etwas ist, was wir zur Sprache zu bringen suchen, etwas, das allerdings genau besehen nicht einmal als »Etwas« bezeichnet werden kann, weil alles, was Etwas ist, schon apophantischen Bedingungen untersteht. Schelling bezeichnet den paradoxen Ursachverhalt, der zur Darstellung treibt und dennoch nicht dargestellt werden kann, sprich: das konstitutiv Undarstellbare, als »unvordenkliches Seyn«. Doch was ist jenes ominöse »unvordenkliche Seyn«? Um Auskunft in dieser Frage zu erhalten, ist es ratsam, sich dem wenig bekannten Text Andere Deduktion der Principien der positiven Philosophie zuzuwenden. Hier erfahren wir, dass das unvordenkliche Seyn der »Ausgangspunkt« sei, der »allem Denken zuvor« (SW, XIV, 337) komme. Das unvordenkliche Seyn ist demzufolge unvordenklich im Wortsinne desjenigen, was wir nicht nicht denken können, dem wir daher kein Denken vorauszusetzen vermögen, um es zu begründen. Alles, was in die Welt tritt, sich für sie und in ihr verwirklicht, bedarf einer Voraussetzung, eines Anfangs, der nicht das Wahre, nicht das eigentlich seyn Sollende ist. Dafür aber wird es nicht sogleich erkannt. Um fest zu wurzeln, muß dieser Anfang sich betrachten als um seiner selbst willen seyend. Es bedarf also einer höheren Potenz, um die Entwicklung wieder von ihrer Voraussetzung frei zu machen (SW, XIV, 315). Wenn wir x als F bestimmen, so setzen wir x als Subjekt des Urteils im Sinne eines hypokeimenon voraus. In jedem Urteil setzen wir ein zu bestimmendes Subjekt voraus, von dem wir »loskommen« wollen, »um zur Idee«, d. h. zu Bestimmungen »zu gelangen« (SW, XIV, 337), wie Schelling sich ausdrückt. Um uns auf einen Gegenstand beziehen zu können, müssen wir ihn in ein Sinnfeld stellen, d. h. ihn als etwas bestimmen. Bevor das Urteil über den Gegenstand gefällt ist, haben wir es nur mit einem x zu tun, das uns gegeben ist und das uns aufgibt, es als F oder G oder H usw. zu bestimmen. Schelling drückt dies scholastisch so aus, dass jenes x ein Actus oder wirklich sei, während er F, G, H usw. mögliche Bestimmungen von x und damit Potenz nennt (SW, XIV, 337 f.). Also jenes noch unerkannte Was, jenes x des unvordenklichen Seyns ist freilich antecedenter oder a priori nur das Seyende. Aber nichts verhindert, daß eben dieses, welches a priori das Seyende ist, nach der Hand, post actum (wie hier recht eigentlich zu sagen ist) das Seynkönnende sey. (SW, XIV, 338) Ohne F, G usw. wäre x nicht einmal das Subjekt eines Urteils, d. h. nicht einmal ein Gegenstand im Frege’schen Sinne. Denn Gegenstände sind erst dann als solche verfügbar, wenn ein prädikatives Ambiente etabliert worden ist, in dem Gegenstände und Begriffe unterschieden werden können. Daher ist unsere Bezugnahme auf Gegenstände konstitutiv fallibel, weil Gegenstand und Begriff verknüpft werden müssen, ohne dass diese Verknüpfung notwendig einen Anhalt an den Sachen selbst besäße. Dadurch, dass der Übergang vom unvordenklichen Seyn, vom Gegenstand, zur Idee, zum Begriff, nicht selbst prädikativ rekonstruiert werden kann, »ist gerade in diesem unvordenklichen Existiren eine nicht auszuschließende Zufälligkeit gesetzt« (SW,

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XIV, 338). Der Grund dafür ist wiederum leicht nachvollziehbar: Die Voraussetzungsstruktur aller Bezugnahme auf Gegenstände ist selbst nichts, worauf man wie auf einen Gegenstand Bezug nehmen könnte, der sich von anderen Gegenständen unterscheidet. Deswegen erzeugt jeder Akt der Bestimmung einen Raum der Latenz, welcher der logische Raum selbst ist, sofern in diesem noch nichts Bestimmtes als F, G, H usw. markiert worden ist. Diesen Raum der Latenz bezeichnet Schelling auch kurzerhand als das »sich selbst Ungleiche« (SW, X, 101; 309; SW, XIII, 230). Die Etablierung eines prädikativen Ambientes kann von x nicht ausgeschlossen werden, da es keinerlei Beziehung auf ein anderes Sein unterhält. Es ist, was es ist, »ohne Wahl« (SW, XIV, 338), d. h. es kann sich nicht für oder gegen sein Vorkommen in Prädikationen entscheiden, die Schelling als »Potentialisierung« (SW, XIII, 265, 267, 279) bezeichnet. Das factum brutum einer Distinktionsdimension unterhält als solches noch keine Beziehung auf eine Differenzierung in Urteilen und ist daher zwar eine notwendige Voraussetzung, die aber nur zufällig eine notwendige Voraussetzung ist. Denn eine notwendige Voraussetzung ist sie erst »post actum« (SW, XIV, 338) oder »a posteriori« (ebd.), wie Schelling sagt, d. h. erst dann, wenn sie eine Voraussetzung sein kann. Setzung, d. h. Bestimmung, gibt es aber nur in einem prädikativen Ambiente. Die Notwendigkeit der Voraussetzung ist deshalb nur gegen die Zufälligkeit ihrer Setzung bestimmt und somit von der Zufälligkeit abhängig. Oder anders gesagt: Die Notwendigkeit ist nachträglich und aus diesem Grunde zufällig. Denn sie hätte auch unterbleiben können, da in der Voraussetzung als solcher kein Grund dafür liegen kann, dass sie zum Grund einer Folge wird. Dies erweist sich nur nachträglich, d. h. dann, »wenn ich zwischen + a und – a entschieden habe […]; mein + a seyn ist kein blindes, wobei immer und nothwendig ein zufälliges gedacht wird, es ist kein zufälliges, weil es ein gewolltes ist.« (SW, XIV, 338) Unser prädikatives In-der-Welt-sein ist die Potenzialisierung seiner Voraussetzung, bzw. etwas anders akzentuiert: Bestimmung ist Verdrängung. Diese logisch-ontologische Struktur der Verdrängung wird auch vom späten Schelling noch immer vor dem Hintergrund seiner bahnbrechenden These erörtert, dass »Urseyn […] Wollen« (SW, XI, 388) sei. Der Übergang von x zu F(x) etabliert Bestimmtheit allererst und kann diese folglich noch nicht in Anspruch nehmen. Aus diesem Grunde muss der Übergang gewollt sein, ein Akt der Entscheidung, der zur Idee einer Unterscheidung führt. 24 Insofern Seiendes Bestimmtes ist, muss alles Bestimmte und damit alles Seiende gewollt sein, da es ansonsten gar nicht erst zur Etablierung einer Sinndimension gekommen wäre. Diese lässt sich nachträglich konstatieren, aber nicht begrifflich antizipieren. Somit kommt unser Denken dem unvordenklichen Seyn nicht zuvor. Dieses ist gleichzeitig darauf angewiesen, dass es als solches gesetzt wird, um auch nur x als mögliches Subjekt eines Urteils zu sein. Jenes unbekannte x ist demnach auch erst nachträglich x – eine Gegenstandsvariable, die in möglichen Urteilen bestimmt werden kann. 25 24  Mit Carl Schmitt kann man daher konstatieren: »jede Ordnung beruht auf einer Entscheidung.« (C. Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 16). 25  Schellings Begriff des unvordenklichen Seins beerbt offenkundig Kants Begriff des transzendentalen Objekts: Vgl. etwa KrV A 250 f.: »Alle unsere Vorstellungen werden in der Tat durch

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Mit anderen Worten zeigt Schellings prädikationstheoretische Überlegung, dass alle Urteile auf eine Voraussetzungsstruktur hinweisen, die wir prinzipiell nicht prädikativ kontrollieren können. Der Reflexion sind begriffliche Präferenzen, Darstellungs-Vorlieben eingeschrieben, die sich rational gar nicht eliminieren lassen. Sie bleibt deshalb stets hinter ihrem Ausgangspunkt zurück, den sie unablässig darzustellen sucht. Diese romantisch angehauchte Struktur der beständigen Suche nach der blauen Blume, dem unbekannten X als Voraussetzung des Urteils, lässt sich hierbei im Sinne einer deflationären Metaphysik durchaus gegen Hegel geltend machen. 26 Das unbekannte X ist nämlich weder Gott noch das Absolute in einem hochkarätigen Sinne, sondern der Name für einen konstitutiven Entzug, ohne den wir gar nicht urteilen könnten. Dasjenige, worüber wir urteilen, geht dem Urteil vorher, das Sein bestimmt das Bewusstsein, oder noch einmal mit Frege: Bedeutung zeigt sich uns nur im Medium des Sinns, von dem wir nicht abstrahieren können, was nicht impliziert, dass sinnvolle Aussagen nichts bedeuten. Wir beziehen uns stets auf Etwas, das sich niemals vollständig darstellen lässt und das daher  – mit Schelling gesagt – der »nie aufgehende Rest« bleibt, »das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen läßt« (SW, VII, 360). Die von Schelling thematisierte Voraussetzungsdimension ist Hegel zwar keineswegs unbekannt geblieben, und dennoch strebt er programmatisch nach ihrer Aufhebung in den Begriff, ohne dabei einzusehen, dass seine eigene Theoriesprache auch nicht darstellungsunabhängig ist. Auch Hegels Wissenschaft der Logik, das größte Meisterwerk der Dialektik überhaupt, ist nur ein Sinnfeld unter anderen.

3.  Konklusion Der entscheidende Unterschied zwischen Schelling und Hegel besteht darin, dass Schelling damit rechnet, dass die Reflexion endlich ist. Die Struktur der nachträglichen Notwendigkeit gilt demnach auch für die vermeintliche absolute Notwendigkeit der Reflexion. Dass es mit anderen Worten denkende Wesen und damit theoriebildende Prozesse gibt, in denen die Welt sich selbst thematisiert und ein logischer Raum der Möglichkeit eröffnet wird, ist Schelling zufolge kontingent. Hegel hingegen vertritt den Verstand auf irgend ein Objekt bezogen, und, da Erscheinungen nichts als Vorstellungen sind, so bezieht sie der Verstand auf ein Etwas, als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung: aber dieses Etwas ist in so fern nur das transzendentale Objekt. Dieses bedeutet aber ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt (nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können […]. Dieses transzendentale Objekt läßt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdenn nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde. Es ist also kein Gegenstand der Erkenntnis an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen, unter dem Begriff eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimmbar ist.« Schelling stellt dabei die Frage, wie das Ding an sich zur Erscheinung kommt, d. h. wie das unvordenkliche Sein zur Sinndimension wird. Diese Frage geht vom Ding an sich aus und versucht seine Phänomenalisierung zu denken  – eine Operation, die unter streng Kantischen Prämissen freilich nicht zulässig ist. 26  Vgl. ein ähnliches Konzept Wolfram Hogrebes in »Metafisica Povera«.

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ein starkes anthropisches Prinzip, dem zufolge es notwendigerweise Etwas und damit einen logischen Raum gibt, in dem sich Reflexion ereignet. Hegel zufolge hätte es den Menschen, den Ort der Reflexion, demnach nicht nicht geben können. Die Notwendigkeit der Reflexion folgt in seinen Augen aus der Struktur nachträglicher Notwendigkeit, die alles Wirkliche als Gesetztes durchschaut. Demgegenüber besteht Schelling auf der anti-idealistischen Intuition, dass da etwas, das unbekannte X, ist, das die Reflexion prinzipiell nicht bewältigen kann. Dieses bezeichnet er auch als »das sich selbst Ungleiche« – ein Begriff, der uns getrost an Adornos Nicht-Identisches erinnern darf. Das sich selbst Ungleiche lässt sich im Rahmen bereits etablierter prädikativer Verhältnisse freilich nicht einsehen. Denn auch der Begriff des sich selbst Ungleichen erlangt seine Bedeutung nur im Kontext eines bestimmten Bezugssystems. Deshalb versagen alle Begriffe an der Undarstellbarkeit dessen, was Schelling u. a. als »unvordenkliches Seyn« bezeichnet. Und dennoch stellt das unvordenkliche Seyn die unerschöpflichen Ressourcen unserer semantischen Expressivität bereit. Das unendliche Gespräch der Philosophie lebt davon, dass notwendig etwas ungesagt bleibt, Voraussetzungen, die beim nächsten Mal gewiss auf- und angegriffen werden.

Literatur Badiou, Alain: Das Sein und das Ereignis. Übersetzt v. Gernot Kamecke, Berlin 2005. Brandom, Robert B.: Tales of the Mighty Dead: Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality. Cambridge, Ma. / London 2002. Eliot, Thomas S.: The Waste Land. Ed. by Michael North, New York / London 2001. Gabriel, Markus: »Die metaphysische Wahrheit des Skeptizismus bei Schelling und Hegel«, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5 (2007), 126–156. Gabriel, Markus: »Kunst und Metaphysik bei Malewitsch – Das schwarze Quadrat als Kritik der platonischen Metaphysik der Kunst«, in: Ders. / Halfwassen, Jens (Hgg.): Kunst, Metaphysik und Mythologie. Heidelberg 2008, 257–277. Gabriel, Markus: An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus. Freiburg / München 2008. Gabriel, Markus: »Nachträgliche Notwendigkeit. Gott, Mensch und Urteil beim späten Schelling«, in: Philosophisches Jahrbuch 116 / 1 (2009), 21–41. Gabriel, Markus: »The Mythological Being of Reflection«, in: M. Gabriel / S. Žižek: Mythology, Madness, and Laughter: Subjectivity in German Idealism. New York / London 2009 (i.Ersch.). Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking. Indianapolis 1978. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1999. Hegel, Georg W. F.: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werk-Ausgabe, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969 ff. (zitiert als TWA mit Band- und Seitenangabe).

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Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik (1929). In: M. Heidegger Gesamtausgabe. Bd. 3: Hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Frankfurt a. M. 1991. Heidegger, Martin: Anzeige der hermeneutischen Situation (1922). In: M. Heidegger Gesamtausgabe. Bd. 62: Hg. v. Günther Neumann. Frankfurt a. M. 2005. Hogrebe, Wolfram: »Metafisica Povera«, in: Borsche, Tilman / Stegmaier, Werner (Hgg.): Zur Philosophie des Zeichens. Berlin / New York 1992, 79–101. Hogrebe, Wolfram: Echo des Nichtwissens. Berlin 2006. Jantzen, Jörg: »Sucht und Verlangen. Über den Grund der Person«, in: T. Buchheim,  / F. Hermanni (Hgg.): »Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde«. Schellings Philosophie der Personalität. Berlin 2004, 215–225. Koch, Anton F.: Versuch über Wahrheit und Zeit. Paderborn 2006. Kant, Immanuel (1973): Kritik der reinen Vernunft, in: Gesammelte Schriften Bd.  4, hg. Preussische Akademie der Wissenschaften, Nachdruck der Ausgabe 1903, Berlin 1973. (Zitiert als KrV und nach den Originalausgaben A und B). Lewis, David K.: On the Plurality of Worlds. Oxford 1986. McDowell, John: »Having the World in View: Sellars, Kant, and Intentionality«, in: The Journal of Philosophy XCV / 9 (1998), 431–491. Meillassoux, Quentin: Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz. Berlin 2008. Pelevin, Victor, Buddha’s Little Finger. Tr. by Andrew Bromfield, New York 2001. Schelling, Friedrich W. J.: Sämmtliche Werke. Hg. v. K. F.A. Schelling, Bde. I-XIV (urspr. in zwei Abteilungen erschienen: I. Abt., Bd.  1–10 und II. Abt., Bd.  1–4), Stuttgart 1856–1861 (zitiert als SW mit Band- und Seitenangabe). Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 8 2004.

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1.  Das lebendige Bild In Georg Wilhelm Friedrich Hegels »Vorlesungen über die Ästhetik« finden sich Bruchstücke, die dem Rahmenwerk der Selbstobjektivation des Weltgeistes wenn nicht widersprechen, so doch ein Eigenleben führen. Hierzu gehört die Würdigung der altniederländischen Malerei. Hegel scheut sich nicht, mit der »Magie der Farbe« ihre gleichsam alchemische Qualität anzusprechen. Die »Geheimnisse ihres Zaubers« liegen ihm zufolge darin, daß die Wirkungen der Farben nicht allein von der sichtbaren Art ihres Auftrages abhängen. Vielmehr erzeugen sie in ihrer Zusammenstellung ein »Blinken und Glinzern«, das aus den einzelnen Farbflecken nicht hervorgeht.1 Van Eycks Londoner »Mann mit Turban« von 1433 mag mit dem Wechselspiel des diffusen Pelzes, den geradezu photorealistischen Augenfalten und dem haptisch irisierenden Turbanstoff als ein Beispiel dafür stehen, was Hegel mit dieser Malerei verband. In der Verlagerung der Wirkaktivität vom Pinsel auf das Gemalte wird der Betrachter, so folgert er in seinem unnachahmlichen Schluß, zum Objekt des eigentätigen Werkes: »es ist die ganz subjektive Geschicklichkeit, welche sich auf diese objektive Weise als die Geschicklichkeit der Mittel selbst in ihrer Lebendigkeit und Wirkung durch sich selber eine Gegenständlichkeit erzeugen zu können kundtut.«2 Der grammatikalisch etwas krude Satz glänzt in der Verlagerung der subjektiven Geschicklichkeit in die, um den entscheidenden Passus nochmals zu zitieren, »Geschicklichkeit der Mittel selbst in ihrer Lebendigkeit und Wirkung«. Der Ausdruck der Malerei ist hier nicht etwa gespiegelte Externalisierung des Gemütes im Medium der Materie, sondern eine lebendige Selbsttätigkeit der objektiven Schöpfung. Hegels Hinweis ist nicht neu. Die Lebendigkeit der Malerei gehört zu den meistzitierten, auf vorgriechische Wurzeln zurückgehenden Topoi der Kunsttheorie; immer wieder wird das Bild des Künstlers als alter deus bemüht, dessen Figuren atmen, blicken, schwitzen, bluten und zu sprechen scheinen.3 Einen Reflex der offenbar überhistorischen Einsicht, daß menschlich geschaffene Bildwerke über eigene Lebenskraft verfügen, boten zu allen Zeiten Inschriften, welche den Werken eine Ich-förmige Rede applizierten. Eines der eindrucksvollsten Beispiele bietet erneut Jan van Eycks »Mann mit Turban«. Auf dem original erhaltenen Bildrahmen spricht das Gemälde in IchG. W.F. Hegel, Ästhetik II, 228. A. a. O., 228 f. 3  E. Kris / O. Kurz, Legende, 77–87. Vgl. U. Pfisterer / A. Zimmermann, Animationen / Transgressionen und J. Elkins, Pictures. 1  2 

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Form: »JOH(ANN)ES DE EYCK ME FECIT AN(N)O MCCCC .33«. Jan van Eyck hat mich gemacht: Das Gemälde, welches Leben scheinbar nur wiedergibt, lebt selbstredend aus eigenem Status.4 Derartige Aussagen können bis zur Anordnung gesteigert werden. So diktierte der wundertätige Kruzifixus von San Paolo fuori le mura in Rom einer Gläubigen: «ich verlange von dir, daß du dich, wenn du nach Köln zurückgekehrt sein wirst, in den Dom begibst und dort an dem Altar, der sich gleich vor der Sakristei befindet, das Bild des Gekreuzigten, das mir ganz ähnlich ist, mit meinen Worten grüßt.«5 Nicht nur die Befehlsform ist beeindruckend, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der das Bildwerk eine lebendige Gemeinschaft mit seinesgleichen voraussetzt. Die in Ich-Form formulierte Behauptung eigenen Lebens, der Wille, seinesgleichen zu vergesellschaften, und die hieraus resultierende Kraft, Anordnungen zu erteilen: Diese drei Komponenten des Eigenlebens von Kunstwerken ziehen sich bis in die Bilderkriege unserer Tage.

2.  Das Danziger Triptychon Ein besonders sprechendes Beispiel ereignete sich wenige Jahre, bevor Hegel seine in Heidelberg begonnenen Vorlesungen zur Ästhetik in Berlin in neuer Form wiederholte. Eine Beziehung kann weder bewiesen noch behauptet werden, aber es vermag doch das Nicht-Fiktive der Fiktion lebendiger Bilder zu verdeutlichen. Am 26. Oktober des Jahres 1815 widmete sich in den »Berlinischen Nachrichten«, neben der »Vossischen Zeitung« die wichtigste Tageszeitung Berlins, ein doppelseitiger Artikel den aus Paris nach Berlin zurückgeführten Kunstwerken.6 Fünf Tage später wechselte der Autor: Anstelle des Verfassers äußerte sich nun das Werk selbst.7 Die »Worte des Danziger Bildes« bezogen sich auf das Danziger Weltgerichtstriptychon (Abb. 1).8 Die linke Tafel zeigt den Aufstieg zum Paradies, dessen Pforte eine meisterlich historistische Mischform aus romanischen und gotischen Formen bietet. Die ruhige Bewegung der Erwählten entfernt sich vom Betrachter in Richtung der hinter dem Tor leuchtenden, diffusen Lichtsphäre. In der rechten Höllenszene werden die Verdammten dagegen diagonal in den vulkanischen Pfuhl gezogen. Andererseits aber schießen sie nach links vorn, als wäre hier bereits ein Tintoretto oder Caravaggio am Werk. Die Mitteltafel schließlich appelliert mit dem frontal gezeigten, wägenden Erzengel und dem dramatisierten Scheiden der Menschheit unmittelbar an den Betrachter. Auf die linke Seite der Erlösten ist ein Teufel gedrungen, der mit einem Engel um einen Einzelnen kämpft. Rechts peitschen, stoßen und tragen die Gehilfen des Satans die Verdammten nach außen, womit sich ein Zug vom Betrachter fort entwickelt. Doch durch R. Liess, Logos, 2, 772–775; A. Beyer, Portrait, 43; K. Gludovatz, »Name«. Zit. nach K. Krüger, »Sprechen«, 17. 6  »Nothwendige Empfindungen«. 7  »Worte des Danziger Bildes«. Der Fund gelang B. Savoy, Patrimonie, 143. Die folgende Darstellung nimmt Savoys Analyse auf. 8  D. de Vos, Memling, 85. 4  5 

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den im Vordergrund sich in den Boden krallenden Mann, dessen linkes Bein von einem Verurteilten ergriffen wird, wendet sich die Tafel so exaltiert an den Betrachter, daß dieser unwillkürlich in dieses Geschehen einbezogen wird. Die im Titel des Artikels angesprochene Anrede des Bildes an den Betrachter scheint sich bereits aus der formalen Struktur abzuleiten.

Abb. 1: Hans Memling, Das Jüngste Gericht, Triptychon, 1455–1471, Tempera auf Eichenholz, Danzig, Museum Narodwe.

Die hypostasierte Redefähigkeit des Triptychons war als Extremform der unterstellten Lebendigkeit aber durchaus wörtlich gemeint. Der Artikel überrascht bereits eingangs in der Behauptung, daß der »Anblick« der aus Paris zurückgeführten Werke »Nothwendige Empfindungen« hervorgerufen hätte. Mit diesem Dreischritt: dem Blick, dem Effekt der hierdurch ausgelösten Gefühle und der Sprechfähigkeit des Werkes ist bereits ein Gespinst angesprochen, das den Artikel selbst bestimmen wird: Die Kraft des Blickes, die auf geradezu mechanische Weise Empfindungen auszulösen vermag. Der Artikel der »Berlinischen Nachrichten« mündet folglich in die Wiedergabe einer Selbstansprache des Bildes, die der Autor mitgehört und aufgezeichnet habe. In Ich-Form berichtet das »Jüngste Gericht«: »recht bekannt ward ich erst, als das Kriegsleid eine Menge Menschen dort [in Paris] zusammendrängte.«9 Es bezog sich darauf, daß es in den sieben Jahren zwischen 1807 und 1815 eine so bewegte Geschichte 9 

»Worte des Danziger Bildes«.

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erlebte, daß es wie mit einem eigenen Ego versehen schien.10 Unter den Werken, die im Zuge der französischen Revolution entwurzelt wurden, nahm es eine Sonderstellung ein.

3.  Die Pariser Erweckung Seit 1792 waren in dem heruntergekommenen Palast des Louvre die konfiszierten Werke aus adeligem sowie kirchlichem Besitz deponiert worden, und ab dem Sommer 1794 kamen Werke aus dem Ausland hinzu. Der Beutezug der siegreichen Revolutionsarmee, dies ist mitsamt seiner Folgen vor allem durch Bénédicte Savoy analysiert worden, wurde als Akt einer Befreiung verstanden, die in den Kunstwerken selbst angelegt gewesen sei. So vermeldete ein Leutnant jener Armee, welche in den Niederlanden etwa den Genter Altar der van Eyck erobert hatte, im September 1794 vor der Nationalversammlung: »Im Herzen der freien Völker sollen diese Werke berühmter Männer ihre Ruhe finden; die Tränen der Sklaven sind ihrer Größe nicht würdig, (…) heute sind sie im Vaterland der Künste und des Genies, der Freiheit und Gleichheit, in der französischen Republik angekommen.«11 Die Sammlungen des Louvre wurden zum Produkt eines beispiellosen Kunstraubes, der die Zeit des Terreur, in der zahllose Kunstwerke des Ancien Regime vernichtet worden waren, in jenen Siegeszug sublimierte, mit dem die wichtigsten Kunstwerke Europas und Ägyptens geraubt wurden, um in Paris in die Gesellschaft freier Menschen und Werke zu gelangen. Die Lieferung etwa der aus Berlin nach Paris überführten Werke zeigen diesen riesigen Verdauungsprozeß, als dessen Produkt der Louvre zum prachtvollsten jemals zusammengestellten Museum wurde. Auf Benjamin Zix’ Zeichnung ist rechts im Schatten Schadows Quadriga vom Brandenburger Tor zu erahnen (Abb. 2).12

Dies galt bereits für seinen Ort Danzig. Ursprünglich von dem Florentiner Außenhandelskaufmann Angelo Tani, der auf den Außenflügeln gemeinsam mit seiner Frau Catarina Tanagli kniet, für die Badia Fiesolana bei Florenz in Auftrag gegeben, war das Triptychon im Jahre 1473 mit einem unter burgundischer Fahne segelnden Schiff von Brügge aus auf die Seereise geschickt worden, um im Zuge des Seekrieges zwischen England und der Hanse durch das Hanseschiff Peter von Danzig gekapert und nach Danzig überführt zu werden. Behandelt wie eine leibhaftige Geisel, wurde für seine Freigabe Lösegeld verlangt, das von Tani jedoch nicht gezahlt werden konnte, so daß es in Danzig verblieb, wo es vom Bürgermeister Reinhold Niederhoff trotz Interventionen seitens des Papstes Sixtus IV. und des burgundischen Herzoges der Marienkirche geschenkt wurde. Vgl. H. Belting / C. Kruse, Erfindung, 244–245 und zuletzt: S. Blumenröder, Mantegna, 205. 11  Jacques-Luc Barbier am 20.10.1794 vor der Nationalversammlung, in: G. Brière, »Barbier«, 206; zit. nach: P. Wescher, Kunstraub, 38. 12  S. Paas / S. Mertens, Beutekunst unter Napoleon, Nr. 135, 201 f. 10 

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Abb. 2: Benjamin Zix, Die Ankunft konfiszierter Werke im Louvre, vor 1808, Feder, laviert und Sepia, Paris, Musée du Louvre, Département des arts graphiques, Nr. Louvre DAG RF 6061.

Auch das Danziger Triptychon war im Gefolge der Eroberung Napoleons von dem Maler und Kunsthistoriker Dominique Vivan Denon am 6. Juli 1807 nach Paris überführt worden,13 um im Winter 1807 / 08 gemeinsam mit in Deutschland konfiszierten Hauptwerken in zwei Sälen des Louvre ausgestellt zu werden.14 Unverhohlen betont das Danziger Werk jedoch, daß seine Verschleppung nach Paris seinem Ruhm nicht etwa geschadet, sondern genützt habe: »Von den Franzosen als gute Prise erklärt kam ich in das Museum zu Paris, ich müßte lügen, wenn ich von dieser Reise nicht grossen Nutzen gehabt hätte: erstens bekam ich die Gelegenheit, mich mit anderen Bildern zu messen und ich kam nicht übel dabei weg; zweitens begann man von mir zu sprechen, man würdigte mich.«15 Im Verein mit anderen Werken der altniederländischen und altdeutschen Malerei erregte es in der Tat bei dem Pariser Publikum ein ungeheures Aufsehen, so daß es, auch dies hat Bénédicte Savoy rekonstruiert, zu einem zentralen Objekt der Ausstellung

Zu dieser Kampagne: B. Savoy, Patrimonie, 1, 117–146. Vgl. dies., »Une ample moisson«, 171, 179. 14  Der Katalog vermerkt stolz den 14. Oktober 1807 als Datum der Eröffnung, dem Jahrestag der Schlacht von Jena (B. Savoy, Patrimonie, 2, 2; König Lustik!?, Nr. 70, 231). Der vornehmlich mit Antiken bestückte Apollo-Saal wurde durch eine Riesenbüste Napoleons bestimmt, über der das Kasseler Viktoria-Gemälde von Peter Paul Rubens hing (S.  Paas / S.  Mertens, Beutekunst unter Napoleon, Nr. 138, 204). In der dahinterliegenden Gemäldegalerie ist vermutlich das Danziger »Jüngste Gericht« zu imaginieren (B. Savoy, Patrimonie, 1, 361, 364). 15  »Worte des Danziger Bildes«. 13 

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wurde. Noch in der Verurteilung seitens Henri Stendhals klingt die Begeisterung für die neuentdeckte Malerei an: »Wenn Sie sonntags ins Museum gehen, finden Sie an einem bestimmten Punkt der Galerie den Duchgang von einer Menge versperrt, die sich vor einem Bild sammelt, und zwar jeden Sonntag vor demselben. Sie glauben, es handle sich um ein Meisterwerk; ganz und gar nicht: Es ist ein Schinken der deutschen Schule mit der Darstellung des Jüngsten Gerichtes. Das Volk liebt es, die Grimassen der Verdammten zu betrachten.«16 Deutlich wird an dieser Herabsetzung, unter welchem Aufsehen sich das Danziger Triptychon mit anderen Werken »gemessen« habe. Stendhals Stimme blieb eine einsame Ausnahme; es überwog die Verehrung, und dies galt natürlich in besonderer Weise für Besucher aus Deutschland. So berichtete die Berliner Journalistin Helmina von Chézy aus Paris, daß dieses Werk höchste Aufmerksamkeit erregte: »Das geraubte Gemälde aus Danzig, ›Das Jüngste Gericht‹, damals van Eick zugeschrieben, war eben im Museum aufgestellt, die Oliviers führten mich hin; Ferdinand jubelte mit feuchten Augen, seine mühsam zerdrückten Thränen galten dem Raube an Deutschland, der Jubel dem Anblick des alten Meisterwerks.«17 Nachhaltiger noch war eine große Ausstellung der italienischen, spanischen, niederländischen und deutschen Malerei der Vorrenaissance, die Denon im Juli 1814, als die Aliierten Paris besetzt hielten, zusammenstellte. Hierdurch fand nochmals eine Sensibilisierung auch und vor allem für die altdeutsche und altniederländische Malerei statt. Denon handelte im festen Glauben, daß die Werke für Paris geschaffen worden seien und niemals zurückgefordert werden könnten, schon weil sie hier erstmals geschätzt worden waren, wie dies die Selbstsprache des Danziger Triptychons bekräftigt hat. Denon hatte als »Auge Napoleons« jene kaum übersehbare Menge von Werken aller Epochen und Regionen, die als Beute der französischen Armee im Louvre zusammengebracht wurden, ausgewählt und betreut.18 Benjamin Zix’ allegorisches Portrait zeigt ihn in einer piranesihaft irrealen Architektur an seinem Tisch, zu einem Berg von Folianten heruntergebeugt, umgeben von Massen ägyptischer, griechischer und römischer Skulpturen, Kisten mit Gemälden und auf dem Boden verstreuten Büchern (Abb. 3).19 Bedrängt von der Fülle dieser Qualität, bleibt kein Spielraum für eine Auswahl. Die Norm des Klassizismus hat als Maßstab ausgespielt, und damit wird eine stilistisch, dynastisch und religiös neutrale, mit transepochalem Blick versehene Kunstgeschichte zu einer objektiven Notwendigkeit. 20 Im Bildnis Denons wird deutlich, daß der Traum der Moderne, liberal über alle Stile und Formen verfügen zu können, als Konsequenz der Beutezüge einer siegreichen Revolutionsarmee geboren wurde.

Stendhal, zit. nach: D. de Vos, Memling 68. H. von Chézy, Unvergessenes, 351; vgl. B. Savoy, »Erzwungener Kulturtransfer«, 139 f. 18  D.-V. Denon, Napoleon. 19  S. Paas / S. Mertens, Beutekunst unter Napoleon, Nr. 144, 208 f.; König Lustik!?, Nr. 71, 231–232. 20  T. Gaehtgens, »Musée Napoléon«. 16  17 

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Abb. 3: Benjamin Zix, Allegorisches Porträt von Dominique Vivan Denon, 1811, Feder und braune Tinte, braun laviert, Paris, Musée du Louvre, Département des arts graphiques, Nr. 33405.

In diesem Rahmen geschah auch die ungeahnte Aufwertung der altdeutschen und altniederländischen Malerei. Friedrich Schlegel hatte sein tragendes Erlebnis der Entdeckung der altdeutschen und altniederländischen Malerei im Jahre 1802 im von Denon eingerichteten Louvre. Gemeinsam mit den Brüdern Sulpiz und Melchior Bois-

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serée sowie Denon warb er seither unermüdlich für die Wiedergewinnung der mittelalterlichen Malerei. 21 Die folgenden Ausstellungen haben diese Zielsetzung verstärkt. Im Ensemble vermochten sich die Werke, wie das Danziger Triptychon ausführte, »mit anderen Bildern zu messen«.22 Sie grüßten und bewerteten sich als lebendige Organismen selbst. Dieser Schritt mußte vollzogen sein, um dann auch die Forschung antreten zu lassen, die das Werk als Gegenüber erkennt. Was Bruno Latour das »Parlament der Dinge« nennt, entfaltet sich hier als interner Paragone der Kunstwerke, die ihren Wert erst vergesellschaftet offenbaren. 23 Hier erst setzt die Forschung an. Sie objektiviert die Eigentätigkeit der Dinge. All dies führte zu einer gewandelten Wertschätzung. Denons durch das Werk bewirkter Raub, der diesem ein autonomes Gemeinschaftserlebnis stiftete, stimulierte mit dem Vergleich die Forschung. Zunächst, so das Danziger Triptychon, gab man »mir allerlei Namen, ich ward in den Annalen des Museums beschrieben.«24 Im Katalog der Pariser Ausstellung war das Werk zunächst Jan van Eyck zugeschrieben worden. 25 Während der Ausstellung wurde auch der Maler Albert van Ouwater als Schöpfer des Werkes diskutiert. 26 Dies war der Auftakt zu einer vielfältig angelegten Hände-Scheidung in dessen Verlauf die kennerschaftliche Kunstgeschichte ihre Methoden schärfte und gegen den Sachverstand der Künstler durchzusetzen suchte.

4.  Restitution Die Gemeinschaft mit anderen Werken und die daraufhin einsetzende Diskussion, Verehrung und Forschung, so berichtet das Danziger Triptychon weiter, »war meine eigene Auferstehung, und nun, da ich hier im Vaterlande vor aller Augen trete, verwundere ich mich, wie anders mich die Menschen sehen. Man versteht mich, und liebt mich, die Menschen sind entzückt von mir.«27 Diese Aussage bezog sich bereits auf die Zeit nach der Rückkehr. Friedrich Wilhelm III., der die Pariser Ausstellung des Jahres 1814 besuchte, war tief beeindruckt. Als Napoleon nach seiner Herrschaft der 100 Tage bei Waterloo endgültig geschlagen war, besetzten preußische Grenadiere unter Aufsicht der Generäle Blücher und Gneisenau den Louvre, um die denonsche Praxis auf sein eigenes Haus anzuwenden.28

D. de Vos, Memling, 67. »Worte des Danziger Bildes«. 23  B. Latour, Parlament. 24  »Worte des Danziger Bildes«. 25  B. Savoy, Patrimonie, 2, 171. Vgl. zur Zuschreibung an van Eyck durch Johanna Schopenhauer: R. Hausherr, »Johanna Schopenhauer«, 98. 26  J. G. Schadow, Kunstwerke, 2, 563 und B. Schroedter, »Kunstkennerstreit«, 169, Anm. 26. 27  »Worte des Danziger Bildes«. 28  B. Savoy, Patrimonie, 1, 186. 21 

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Im Sommer 1815 kehrte ein Teil der konfiszierten Werke im Triumphzug zurück, als handle es sich um die Rückkehr der siegreichen Armee. Auf ihrem Zug kreierten die Kunstwerke ein niemals zuvor in vergleichbarer Weise objektiviertes Nationalbewußtsein.29 Beim Anblick der zurückgekehrten Werke schärfte sich der Gedanke an die Einheit der Nation, und dies galt umso mehr für das Danziger Triptychon, das auf Anordnung von General Blücher auf die Rückreise geschickt worden war. 30 In Berlin wurden die Werke in einer Ausstellung gezeigt, deren Katalogtitel auf den Umstand anspielte, daß sowohl ihr Raub wie auch ihre Rückführung mit Blut erkauft worden waren: »Verzeichnis der Bilder und Kunstwerke so durch die Tapferkeit der vaterländischen Truppen wieder erobert wurden.«31 Im Mittelpunkt stand wie in Paris erneut der Danziger Altar, der im Katalog als Nr.  1 aufgeführt wurde. 32 Ihm galt, wie ein Bericht der Akademie der Künste vermeldete, das besondere Augenmerk: »Es erregte dieses Bild das lebhafteste Interesse, weil es zu einem der vorzüglichsten Werke dieser Art gehört, zugleich erwarb es sich, seiner Vortrefflichkeit in so manchen wichtigen Theilen der Kunst wegen, der Kenner Beifall & Bewunderung.«33 Unter den von Johann Gottlieb Schadow als Direktor der Akademie der Künste redigierten, anonymen Katalogtexten nahm der Abschnitt zum Danziger Jüngsten Gericht mehr als ein Drittel des gesamten Kataloges ein. 34 Schadow befrachtete das Triptychon als »Siegesdenkmal vaterländischer Tapferkeit« bereits eingangs mit einer vaterländischen Komponente, 35 die auch seinen Versuch bestimmte, die Autorschaft von den Niederlanden nach Deutschland zu verlagern. Die Möglichkeit des Vergleiches mit Werken der van Eyck, so Schadow, habe nicht dazu geführt, diese Identifizierung aufzugeben. Erst die gesammelte Berliner Künstler- und Kennerschaft habe erkannt, daß die Attribution an Jan van Eyck nicht zu halten sei. 36 Nach seitenlanger Diskussion möglicher Alternativen schließt Schadow, daß dieses urdeutsche Werk in Gestalt von Michael Wolgemut, dem Lehrer Albrecht Dürers, vom Ursprung altdeutscher Malerei in Nürnberg ausgegangen sein müsse. 37 Diese Zuschreibung erfuhr durch Aloys Hirt, den überaus einflußreichen Archäologen und Kunsthistoriker, noch im selben Jahr eine scharfe Ablehung, die zu einem grundlegenden Schlag der Kennerschaft des Kunsthistorikers gegen das Dilettieren der Künstler geriet: »Die Gemäldekenntniß fordert ein eigenes Studium, so wie die Kunst

P. Wescher, Kunstraub, 131–145; vgl. B. Savoy, Patrimonie, 1, 147–195 und König Lustik!?, Kat. Nr. 77, 234–235. 30  B. Savoy, Patrimonie, 2, 173. 31  P. Wescher, Kunstraub, 143; B. Savoy, Patrimonie, 1, 263. 32  Verzeichniß von Gemälden und Kunstwerken, Nr. 1, 1 ff. Vgl. zum Folgenden die Darstellung von B. Savoy, Patrimonie, 398–399. 33  C. M. Vogtherr, »Das königliche Museum zu Berlin«, 79. 34  B. Savoy, Patrimonie, 1, 398. 35  Verzeichniß von Gemälden und Kunstwerken, 1. 36  A. a. O., 2. 37  A. a. O., 26. Vgl. J. G. Schadow, Kunstwerke und Kunstansichten, 1, 108 und R. Hausherr, »Johanna Schopenhauer«, 99. 29 

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selbst.«38 Seine Zuschreibung des Altargemäldes an Hugo van der Goes wandte sich gegen die nationale Zuordnung, um der neutralen, allein auf Vergleichen und nicht auf Wunschvorstellungen aufgebauten Methode zum Durchbruch zu verhelfen. 39

5.  Der Museumsauftrag Auf Grund seiner durch das Exil gesteigerten Wertschätzung war das Werk nun in der Lage, Aufträge zu erteilen: »Ich, das Danziger Bild, welches ein lebendiges Beispiel eines bis jetzt so unfruchtbaren Daseyns leider gewesen bin, fordere euch dringend auf, ersucht euren Herrn König, diese Trophäen des Krieges zur Kunstbelebung des Friedens in einem preussischen deutschen Museum aufzustellen.«40 Nichts war wohl sprechender als die Ansprache des Memlinger Altargemäldes, das in Ich-Form dazu aufforderte, zu Ehren seiner wiedergewonnenen Wertschätzung ein Kunstmuseum als Bekrönung des Friedens zu errichten. Erst durch seine Entwurzelung und die Gemeinschaftsbildung mit seinesgleichen gewann das Triptychon Anerkennung, und es erregte das Forscherinteresse. Dies wiederum führte zum Anspruch des in Ich-Form sprechenden Gemäldes, ihm und seinen Gefährten zuliebe ein Museum zu errichten. Der Wunsch kam in einer Weise zur Erfüllung, die als das Berliner Museumswunder bezeichnet werden kann. Bereits 1797 hatte Aloys Hirt den ersten Vorstoß unternommen. Sein Vorschlag sah vor, daß in Preußen freiwillig vollzogen würde, was sich in Frankreich durch Gewalt ereignet hatte: die königlichen Schlösser sollten ihre besten Werke in ein allgemein zugängliches Museum nach Berlin stiften.41 Im Anblick der Ausstellung von 1815 fand er den Gedanken unerträglich, daß die Werke wieder »vereinzelt« werden könnten; vielmehr sollten sie mit anderen Stücken des königlichen Besitzes ein »großes Ganzes« bilden, in einem zu schaffenden Berliner Museum alle Bildungsbereiche heben und vor allem zum militärischen Ruhm der Nation die angemessene Dimension von Kunst und Wissenschaft hinzugesellen.42 Nicht anders argumentierte Schadow, der Antipode Hirts, in der Zuschreibung des Danziger Triptychons. Er versuchte mit aller Kraft, dieses für ihn zentrale Werk für Berlin zu erwerben oder durch Gegengaben auslösen zu können, um es als »bedeutendste Zierde eines künftigen Museums« einsetzen zu können.43 Hierzu kam es zwar nicht,44 A. Hirt, Kunstausstellung, 4. Ebd. So nahe Hirt der Identifizierung des Malers kam, so gelang es jedoch erst Gustav Hotho, dem Herausgeber von Hegels Ästhetik, mit Hans Memling die bis heute unangefochtene Zuschreibung (G. Hotho, Geschichte, 128, 131–133; vgl. R. Hausherr, »Johanna Schopenhauer«, 102). 40  »Worte des Danziger Bildes«. 41  E. van Wezel, »Das akademische Museum«. 42  A. Hirt, Kunstausstellung, 24. Vgl. B. Savoy, Patrimonie, 2, 492, Anm. 33. 43  J. G. Schadow, Kunstwerke und Kunstansichten, 2, 563. 44  Als Schadow Friedrich III. am 1. November durch die Ausstellung geführt und eigens auf die hohe Aufmerksamkeit verwiesen hatte, die das Gemälde erzielte, war die Antwort des Königs 38  39 

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aber schließlich gelang es Hirt, Wilhelm von Humboldt, Karl Friedrich Schinkel und anderen Befürwortern der Museumsidee, Friedrich Wilhelm III. von der Notwendigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen. Fünfzehn Jahre später wurde das Museum eröffnet (Abb. 4).45

Abb. 4: Karl Friedrich Schinkel, Altes Museum, 1830, Berlin.

6.  Die Philosophie des Entgegenkommens Die Rede von Memlings »Jüngstem Gericht« ist zunächst als narratives Instrument einer journalistischen Rhetorik zu verstehen. Der Autor ist unbekannt, aber er ist im Umkreis von Schadow zu vermuten, weil er die Zuschreibung des Werkes an Wolgemut

jedoch ablehnend gewesen: »dieß müßte nicht zu weit getrieben werden, indem wir sonst statt vorwärts, leicht rückwärts kommen möchten« (C. M. Vogtherr, Das königliche Museum zu Berlin, 79. Vgl. J. G. Schadow, Kunstwerke und Kunstansichten, 1, 108). Offenbar war dem König nicht geheuer, welche Emotionen das Triptychon entfacht hatte, nachdem er es in Paris gesehen hatte. Daher kam es nicht dazu, daß die Danziger zum Verzicht gebracht werden konnten. Die Initiative wie auch ihre Ablehnung bezeugen auch in ihrer Gegensätzlichkeit aber nochmals die projektive Kraft des Triptychons, das seinen Impuls zur Gründung eines Museums auch ohne persönliche Beteiligung zu vermitteln vermochte. 45  C. M. Vogtherr, Das königliche Museum zu Berlin, 74–148; E. van Wezel, »Konzeptionen«.

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übernimmt. Möglicherweise handelt es sich um Schwadow selbst, der hier ein seltenes Dokument der Beseelung bietet. Die Ansprache des Danziger Altars geschah aus der Gewißheit, daß Werke, die vom Menschen geschaffen wurden und folglich ohne Leben sind, nach Fertigung eine autonome Aktivität zu entfalten vermögen.46 In der an der niederländischen Malerei erlebten, eingangs angeführten Magie der Farbe spitzt Hegel jenen Gedanken zu, den das Danziger Triptychon auf allen Ebenen seiner Argumentation entfaltet. Hegel entwickelt an der Eigentätigkeit der Farbe jene Eigenaktivität des Bildes, die in zahlreichen schriftlichen Äußerungsformen, und so auch in Inschriften und hypostasierten Reden, metaphorisiert worden ist. In ihrer sprachlichen Form umschreiben sie Hegels »Geheimnisse ihres Zaubers«: nicht um diese aufzulösen, sondern um sie als Teil der scheinlebendigen Präsenz des Werkes zu unterstreichen. Was sich hier abspielt, ist und bleibt »Magie«, der man sich aufgeklärt nur nähern kann, wenn man deren Unbegreifbarkeit nicht austrocknet. Der Anonymus der »Berlinischen Zeitung« von 1815 sollte in die Geschichte einer ungeschriebenen Philosophie aufgenommen werden, die dem Werk jenen Geist zuerkennt, der dem Betrachter als eigener Gedanke entgegenkommt. Hegels Zauberspruch über die »Magie der Farbe« wäre ein Motto für das, was als Philosophie des »Bildakts« eine Alternative zu überkommenen Repräsentations- und Konstruktionstheorien zu entwickeln sucht. Der sprechende Danziger Altar ist einer ihrer Akteure.

Literatur Belting, Hans / Kruse, Christiane: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994. Beyer, Andreas: Das Porträt in der Malerei, München 2002. Blumenröder, Sabine: Andrea Mantegna – die Grisaillen. Malerei, Geschichte und antike Kunst im Paragone des Quattrocento, Berlin 2008. Brière, Gaston: »Le Peintre J. L. Barbier et les conquêtes artistiques en Belgique (1794)«, in: Bulletin de la Société de l’Histoire de l’Art français (1920), 204–210. Chézy, Helmina von: Unvergessenes. Denkwürdigkeiten aus dem Leben von Helmina von Chézy. Von ihr selbst erzählt. Erster Theil, Leipzig 1858. Denon, Dominique-Vivant: L’oeil de Napoleon (Hg.: Pierre Rosenberg), Ausstellungskatalog, Paris 1999. Elkins, James: Pictures & Tears. A History of People Who Have Cried in Front of Paintings, New York und London 2001.

46  Das Muster der zur selben Zeit entwickelten Theorie des Sprechakts (F. D. Schleiermacher, Hermeneutik, 80 f.; vgl. W. Strube, »Sprechakt«, 1536) wird hier auf das sprechende Bild übertragen und mit diesem Sphärenwechsel in seinem Gehalt verkehrt.

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Gaehtgens, Thomas: »Das Musée Napoléon und seine Bedeutung für die europäische Kunstgeschichte«, in: Paas, Sigrun / Mertens, Sabine (Hgg.): Die »französische Schenkung« an Mainz 1803, Mainz 2003, 178–186. Gludovatz, Karin: »Der Name am Rahmen, der Maler im Bild. Künstlerselbstverständnis und Produktionskommentar in den Signaturen Jan van Eycks«, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. LIV (2005), 115–175. Hausherr, Reiner: »Johanna Schopenhauer über Jan van Eyck«, in: C. Zöhl / M. Hofmann (Hgg.): Von Kunst und Temperament. Festschrift für Eberhard König, Turnhout 2007, 97–104. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke (Hg.: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel), Bd.14, Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt a. M. 1970. Hirt, Aloys: Über die diesjährige Kunstausstellung auf der Königl. Akademie, Berlin 1815 Hotho, Gustav:  Geschichte der deutschen und niederländischen Malerei, Bd. II, Berlin 1843. König Lustik!? Jérôme Bonaparte und der Modellstaat Königreich Westphalen, München 2008. Kris, Ernst / Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Wien 1934. Krüger, Klaus: »Das Sprechen und Schweigen der Bilder. Visualität und rhetorischer Diskurs«, in: V. von Rosen / K. Krüger / R. Preimesberger (Hgg.): Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München und Berlin 2003, 17–52. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. M. 2001. Liess, Reinhard: Zum Logos der Kunst Rogier van der Weydens. Die »Beweinung Christi« in den Königlichen Museen in Brüssel und in der Nationalgalerie in London, 2 Bde., Münster, Hamburg und London 2000. »Nothwendige Empfindungen und fromme Wünsche bei dem Anblick der wiedereroberten preußischen Kunstschätze«, in: Berlinische Nachrichten Von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 128. Donnerstag, den 26sten October 1815, ohne Pag. Paas, Sigrun / Mertens, Sabine (Hgg.): Beutekunst unter Napoleon. Die »französische Schenkung« an Mainz 1803, Mainz 2003. Pfisterer, Ulrich / Zimmermann, Anja (Hgg.): Animationen / Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, Berlin 2005. Savoy, Bénédicte: »Une ample moisson de superbes choses. Les missions en Allemagne et en Autriche 1806–1809«, in: D.-V. Denon. L’oeil de Napoleon (Hg.: Pierre Rosenberg), Ausstellungskatalog, Paris 1999, 170–181. Savoy, Bénédicte: »Erzwungener Kulturtransfer – Die französische Beschlagnahmung von Kunstwerken in Deutschland 1794–1815«, in: Beutekunst unter Napoleon, 2003, 137–144. Savoy, Bénédicte: Patrimonie annexé. Les biens culturels saisis par la France en Allemagne autour de 1800, Paris 2003.

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Schadow, Johann Gottfried: Kunstwerke und Kunstansichten. Ein Quellenwerk zur Berliner Kunst- und Kulturgeschichte zwischen 1780 und 1845. Kommentierte Neuausgabe der Veröffentlichung von 1849 (Hg.: Götz Eckhardt), 3 Bde., Berlin 1987. Schleiermacher, Friedrich Daniel: Hermeneutik (Hg.: Heinz Kimmerle), Heildelberg 1974 (2. Aufl.). Schroedter, Beate: »Der Kunstkennerstreit: Hirt, Rumohr und Waagen«, in: C. Sedlarz unter Mitarbeit von Rolf H. Johannsen (Hgg.): Aloys Hirt. Archäologe, Historiker. Kunstkenner, Hannover-Laatzen 2004, 153–171. Stendhal: Vies de Haydn, de Mozart et de Métastase, Paris 1914. Strube, W.: »Sprechakt«, in: J. Ritter / K. Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.9, Darmstadt 1995, 1536–1542. Verzeichniß von Gemälden und Kunstwerken, welche durch die Tapferkeit der vaterländischen Truppen wieder erobert wurden, Berlin 1815. Vogtherr, Christoph Martin: »Das königliche Museum zu Berlin. Planungen und Konzeption des ersten Berliner Kunstmuseums«, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Bd. 39, (1997). Vos, Dirk de: Hans Memling. Das Gesamtwerk, Stuttgart 1994. Wescher, Paul: Kunstraub unter Napoleon, Berlin 1976. Wezel, Elsa van: »Das akademische Museum. Hirts gescheiterte Museumsplanungen 1797 / 98, 1820 und 1825«, in: C. Sedlarz unter Mitarbeit von Rolf H.  Johannsen (Hgg.): Aloys Hirt. Archäologe, Historiker. Kunstkenner, Hannover-Laatzen 2004, 105–128. Wezel, Elsa van: »Die Konzeptionen des Alten und Neuen Museums zu Berlin und das sich wandelnde historische Bewußtsein«, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Bd. 43, (2001), Beiheft. »Worte des Danziger Bildes, das jüngste Gericht vorstellend, an seine Freunde«, in: Berlinische Nachrichten Von Staats- und gelehrten Sachen, Nr. 130. Dienstag, den 31sten October 1815, 1815, ohne Pag.

Für eine Philosophie des objektiven Geistes Guido Kreis

1 Der in der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie dominierende Begriff der Natur ist derjenige der physischen Natur. Er ist im Zuge der Erfolge der empirischen Naturwissenschaften, vor allem der Physik, entstanden, und prägt unser alltägliches Naturverständnis bis auf den heutigen Tag. Die Natur in diesem Sinne ist der Inbegriff aller Entitäten, die ausschließlich physische Eigenschaften haben. Eine physische Eigenschaft ist eine Eigenschaft, die etwas allein aufgrund der kausalen Relationen hat, in denen es zu anderen steht. In einer physischen Natur gibt es also nur physische Entitäten, und ihre Eigenschaften lassen sich vollständig dadurch angeben, daß man die Kausalrelationen vollständig beschreibt, in denen sie stehen. Die methodisch angemessene Beschreibung der Natur ist nach dieser Konzeption die jeweils gegenwärtig am besten belegte physikalische Theorie. Vom Standpunkt einer Theorie der physischen Natur aus stellen die geistigen Vorkommnisse ein erhebliches Rätsel dar. Geistige Vorkommnisse sind zum Beispiel Wahrnehmungen, Empfindungen, Überzeugungen und Absichten. Sie sind von physischen Vorkommnissen generisch unterschieden, denn sie haben Eigenschaften, die nur geistige Vorkommnisse haben, und die physische Vorkommnisse nie haben. Alle geistigen Vorkommnisse weisen zum Beispiel die Eigenschaft auf, einen geistigen (oder repräsentationalen) Gehalt zu haben. Vom Standpunkt des Physikers aus ist diese Eigenschaft rätselhaft, denn keine einzige physische Entität hat als solche einen geistigen (oder repräsentationalen) Gehalt. Damit stellt sich die Frage, ob die geistigen Vorkommnisse eine eigene Existenzweise haben, die von der der physischen Dinge verschieden ist. Wäre dies so, dann hätte es einen strengen ontologischen Dualismus zur Folge, der zwischen dem Bereich des Physischen einerseits und dem Bereich des Geistigen andererseits besteht. Das ist die Grundgefahr, in die das Nachdenken über Geist und Natur zwangsläufig zu geraten droht: der ontologische Dualismus zwischen Geist und Natur. Es besteht allerdings weitgehend Einigkeit darüber, daß ein derartiger Dualismus philosophisch unbefriedigend ist. Auf diese Sachlage antwortet der Physikalist mit einem genuin philosophischen Argument. Es besagt, daß der ontologische Dualismus verhindert werden muß, weil er die kausale Geschlossenheit der physischen Natur aufheben würde. Er kann in der physikalistischen Perspektive aber nur durch die Rückführung des Geistes auf die physische Natur vermieden werden. Die heute gängigen Varianten der physikalistischen Naturalisierung des Geistes arbeiten mit dem Begriff der Realisierung. Es ist zwar unbestritten, daß geistige Vorkommnisse immer in physischen Vorkommnissen realisiert sein müssen. Der Physikalist hat sich allerdings das Ziel ge-

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setzt, zu zeigen, daß die geistigen Vorkommnisse in den physischen Vorkommnissen derart realisiert sind, daß es keine Eigenschaften der geistigen Vorkommnisse geben kann, die sich nicht durch die kausalen Eigenschaften der physischen Vorkommnisse vollständig erklären lassen. Ein Naturalismus, der in dieser Weise argumentiert, ist ein genuin philosophisches Unternehmen, denn er will etwas verhindern, das philosophisch unhaltbar ist: den ontologischen Dualismus von Geist und Natur. Ich glaube allerdings, daß das Projekt einer physikalistischen Naturalisierung des Geistes unhaltbar ist. Es scheitert daran, daß sich nicht alle Eigenschaften aller geistigen Vorkommnisse durch die Eigenschaften der physischen Vorkommnisse, in denen sie realisiert sind, vollständig erklären lassen. Eine charakteristische Familie von Argumenten, die in diese Richtung gehen, stammt aus der kantianischen Tradition der Philosophie des Geistes.1 Das erste Argument ergibt sich aus der kantianischen Theorie derjenigen geistigen Vorkommnisse, die wir Urteile nennen. Sie sind insofern die grundlegenden unter unseren geistigen Vorkommnissen, als wir in ihnen überhaupt erst zu einem Wissen über uns und unsere Welt gelangen. Die besondere Einstellung, die ich im Urteilen zum propositionalen Gehalt des Urteils einnehme, besteht darin, daß ich das, was im Gedanken gedacht wird, ausdrücklich als wahr beurteile. Die Urteile, die jemand fällt, haben normalerweise die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein 2 , sie sind, anders gesagt, objektiv gültig.3 Dadurch allerdings, daß ich einen Gedanken als wahr beurteile, ist er nicht automatisch auch bereits wahr. Das heißt, daß ich ihn in Urteilen immer nur mit dem Anspruch denken kann, daß er wahr ist. Einen Wahrheitsanspruch kann ich aber wiederum nur dann erheben, wenn ich zugleich eine reziproke Pflicht anerkenne, für diesen Anspruch einzustehen, ihn also zu rechtfertigen und zu verteidigen. Dazu muß ich für das Urteil Gründe anführen, und gegen die möglichen Zweifel Gegengründe. Diese Eigenschaft aller Fälle von Urteilen, einen Wahrheitsanspruch und eine Rechtfertigungspflicht zu enthalten, ist keine physikalisch beschreibbare Eigenschaft. Durch die Angabe von Kausalbeziehungen kann man zum einen den Charakter des Sollens nicht beschreiben. Physische Vorkommnisse enthalten weder einzeln noch in einer Reihe etwas, das durch einen Anspruch auf Wahrheit und die Pflicht zur Verteidigung dieses Anspruchs gekennzeichnet ist. Durch die Angabe von Kausalbeziehungen kann man aber zum anderen auch den intrinsischen Bezug jedes Urteilens auf Gründe nicht beschreiben. Ein Grund ist etwas, mit dem ich eine Beurteilung rechtfertigen kann. Physische Vorkommnisse sind aber weder Gründe, noch enthalten sie Gründe, noch können sie Gründe hervorbringen. Die Rückführung des Wahrheitsanspruchs und der Vgl. zum folgenden ausführlich H. E. Allison, Kant’s theory of freedom, 35–53; R. B. Pippin, »Kant on the Spontaneity of Mind«; und C.-F. Lau, »Freedom, Spontaneity and the Noumenal Perspective«. 2  »Normalerweise« soll heißen, daß ich im Augenblick alle Fälle von Urteilen, bei denen man bezweifeln kann, ob sie wahr oder falsch sind, ausdrücklich ausschließe, also zum Beispiel paradoxe Prädizierungen von semantischen Prädikaten, Prädizierungen von vagen Begriffen in Fällen, in denen die Anwendung nicht geregelt ist, oder Urteile mit leeren Eigennamen. 3  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, zweite Auflage, § 19. 1 

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Rechtfertigungspflicht auf die physische Natur wäre deshalb ein naturalistischer Fehlschluß, gegen den Kant einwendet: »Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt«.4 Ein zweites Argument der kantianischen Tradition besagt, daß derjenige, der ein Urteil fällt, das Zustandekommen der urteilenden Einstellung zum Gedanken notwendigerweise sich selbst, seiner eigenen Autorität, zuschreiben muß. Zu jedem einzelnen meiner Urteile gehört, daß ich mit ihm einen Anspruch auf Wahrheit erhebe und eine Pflicht zum Beibringen von Gründen anerkenne. Würde ich das Zustandekommen des Urteils dagegen etwas anderem als mir selbst zuschreiben, dann wäre es mir unmöglich, diesen Anspruch zu erheben und diese Pflicht zu übernehmen, weil ich in diesem Fall für das Urteil weder verantwortlich wäre noch verantwortlich gemacht werden könnte. Ein Urteil zu fällen und dieses Urteil nicht seiner eigenen Autorität zuzuschreiben wäre deshalb ein selbstwidersprüchlicher Akt. Ich würde ein Urteil zugleich fällen und nicht fällen: »Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben«. 5 Unter dieser Voraussetzung ist es aber unmöglich, daß jemand, der ein Urteil fällt, dieses Urteil vollständig auf die kausalen Eigenschaften physischer Vorkommnisse zurückführen kann. Der jeweilige Denker wäre dann nämlich gezwungen, das Fällen des Urteils nicht sich selbst, sondern ausschließlich den kausalen Einwirkungen physischer Vorkommnisse zuzuschreiben. Das deskriptive Vokabular für physische Vorkommnisse erweist sich also zumindest bei einigen geistigen Vorkommnissen als ungenügend. Um Urteile vollständig beschreiben zu können, müssen wir auf ihre normativen Eigenschaften Bezug nehmen können. Das ist in einer physikalischen Theorie grundsätzlich unmöglich. Man formuliert diesen Sachverhalt häufig auch (mit der berühmten Metapher von Sellars) so, daß man die Fälle von Urteilen in einem »logischen Raum der Gründe« ansiedeln muß.6 Ich werde diese Metapher allerdings im folgenden vermeiden, weil ich sie für unklar und irreführend halte. Der logische Raum soll im Gegensatz zum Raum der Natur ein Raum sein, der gar kein richtiger Raum sein darf, weil die normativen Relationen, aus denen er besteht, weder existieren noch in der Welt sein dürfen, insofern sie rein gedachte Relationen sind. Der Gebrauch dieser Metapher enthält also in versteckter Form die Festlegung, daß alles, was es tatsächlich gibt, ausschließlich physische Vorkommnisse sind. Die Metapher läßt deshalb nicht nur offen, wo die normativen Relationen und Eigenschaften eigentlich zu suchen sind, sie ermöglicht auch die Rückkehr zu genau jenem naturalistischen Standpunkt, den die Argumente über die normativen Eigenschaften von Urteilen widerlegt hatten. Die Rückkehr zum Naturalismus ist bei Sellars Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 547 / B 575. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, 448. 6  »The essential point is that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says« (W. Sellars, »Empiricism and the Philosophy of Mind«, 169). 4  5 

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offenkundig, in Brandoms Fortführung der inferentiellen Semantik ist sie zumindest angelegt. Ich bin mir bewußt, daß es mit diesen knappen Hinweisen auf die kantianische Tradition nicht getan ist. Um wirklich beweiskräftig zu sein, müßten die Argumente viel ausführlicher in der weit fortgeschrittenen Naturalisierungsdebatte verteidigt werden. Ich glaube aber, daß dies tatsächlich möglich ist. Im Augenblick möchte ich nur hervorheben, daß es Argumente dieses Typs sind, die es in meinen Augen unplausibel erscheinen lassen, daß die vollständige physikalistische Naturalisierung des Geistes erfolgreich sein kann. Selbst für diejenigen aber, die nicht bereit sein sollten, diesen Argumenten ohne weiteres zu folgen, müßte zumindest die alternative Lösung zum Problem des ontologischen Dualismus von Geist und Natur bedenkenswert sein, die ich im folgenden vorstellen möchte.

2 Daß eine alternative Auflösung gefunden werden muß, liegt auf der Hand: wenn nämlich einerseits der ontologische Dualismus von Geist und Natur inakzeptabel ist, andererseits aber die vollständige Rückführung des Geistes auf die physische Natur nicht erfolgreich durchgeführt werden kann. Der entscheidende gedankliche Schritt zu dieser alternativen Auflösung stammt ebenfalls aus der kantischen Tradition. Er besteht in der Überführung des ontologischen Dualismus in einen Beschreibungsdualismus. Nach Kants Meinung ist der sogenannte transzendentale Idealismus der Schlüssel zur Auflösung der Freiheitsantinomie.7 Die Position des transzendentalen Idealismus besagt, daß die Gegenstände der Erfahrung ihrer Erkennbarkeit nach von den Erkenntnisbedingungen menschlicher Subjekte abhängig sind. Diese Position ist konsistent mit einem empirischen Realismus vereinbar, der besagt, daß die Gegenstände der Erfahrung ihrer Existenz nach von menschlichen Subjekten unabhängig sind. Kants Grundgedanke ist also der, daß es sinnlos ist, nach der Beschaffenheit der Dinge unabhängig von allen Beschreibungen zu fragen, die wir von diesen Dingen haben. Dieser, wie Putnam sagen würde, interne Realismus verabschiedet ein für alle mal den metaphysischen Realismus.8 Es kann also nicht darum gehen, ob die Welt an und für sich physisch oder geistig ist. Alles, was wir haben, sind dagegen zwei verschiedene Hinsichten, in denen ein raumzeitliches Ereignis beschrieben werden kann. In der ersten, «empirischen« Beschreibung wird es als naturkausales Ereignis beschrieben, das den physikalischen Naturgesetzen unterliegt. In der zweiten, «intelligiblen« Beschreibung wird es als freies Handeln beschrieben, das wir einem vernünftigen Akteur zuschreiben, der es aus bestimmten Gründen selbständig in Gang gesetzt hat. Wir können demnach zugestehen, Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 490–497 / B 518–525. Vgl. z. B. H. Putnam, »Two philosophical perspectives«. Zur Gleichsetzung von transzendentalem Idealismus und internem Realismus dagegen kritisch J. van Cleve, Problems from Kant, 212–217. 7  8 

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daß wir das normative Vokabular nie in ein physisches Vokabular werden übersetzen können; die Einheit der Welt bleibt aber dennoch bewahrt, weil sich beide Vokabulare jeweils auf ein und dieselben Ereignisse beziehen: auf die Ereignisse unserer Welt, die wir in zwei verschiedenen Perspektiven konzeptualisieren. Dieser Grundgedanke ist in der Philosophie des Geistes von Donald Davidson – mit ausdrücklichem Rückbezug zu Kant9 – wiederaufgenommen worden, und alle heute gängigen Formen des Beschreibungs- oder Eigenschaftsdualimus haben diesen Gedanken weiterentwickelt. Ich halte diesen Grundgedanken tatsächlich für den Schlüssel des Problems. Ich bin allerdings der Meinung, daß Kants Version an einer inneren Inkonsistenz scheitern muß – und daß es deshalb notwendig ist, eine andere, erfolgreiche Version des Beschreibungsdualismus zu entwickeln. Kant hat den Widerspruch zwischen Natur und Geist, den er auflösen wollte, in Wahrheit nur verschoben. Die Inkonsistenz in der kantischen Version liegt in den inkompatiblen ontologischen Verpflichtungen der beiden in Frage stehenden Beschreibungen. Die erste Beschreibung, in der von einem »physischen Ereignis« die Rede ist, gehört zu einer physikalischen Theorie. Sobald im Rahmen der physikalischen Theorie sinnvolle Sätze mit Wahrheitsanspruch formuliert werden, die auf der Argumentstelle den Ausdruck »das physische Ereignis E« enthalten, legt sich die Theorie auf die ontologische Verpflichtung fest, daß es die entsprechende Entität auch tatsächlich gibt.10 Die zweite Beschreibung, in der von einem »geistigen Vorkommnis« die Rede ist, gehört in eine andere als eine physikalische Theorie. Sobald im Rahmen dieser anderen Theorie sinnvolle Sätze mit Wahrheitsanspruch formuliert werden, die auf der Argumentstelle den Ausdruck »das geistige Vorkommnis G« enthalten, legt sich die Theorie auf die ontologische Verpflichtung fest, daß es die entsprechende Entität tatsächlich gibt. Im Extensionsbereich der physikalischen Theorie können immer nur Entitäten vorkommen, die in Kausalrelationen stehen, niemals aber Entitäten, die in normativen Relationen stehen. Im Extensionsbereich der anderen Theorie stehen Entitäten, die immer auch in normativen Relationen stehen. Wenn ich nun sage, daß ein geistiges Vorkommnis mit einem physischen Ereignis identisch ist, dann sage ich, daß etwas, das immer in normativen Relationen steht, identisch ist mit etwas, das niemals in normativen Relationen steht. Wenn ich die Wahrheit beider Beschreibungen anerkenne, dann verpflichte ich mich darauf, daß auch die physischen Entitäten der empirischen Welt normative Eigenschaften haben müssen. Genau das dürfen sie aber nach Kants Voraussetzungen gar nicht. Die beiden aufeinander irreduziblen Beschreibungen führen also zu wechselseitig inkompatiblen ontologischen Verpflichtungen. Bei genauerem Zusehen ist auch der entscheidende Ausweg verbaut, daß wir es mit zwei inkompatiblen Beschreibungen ein und desselben Ereignisses zu tun haben. Denn daß es sich tatsächlich um ein und dasselbe Ereignis

 D. Davidson, »Mental Events«, 207 f. Der Begriff der ontologischen Verpflichtung war in der kantianischen Tradition lange vor Quine in Gebrauch; vgl. z. B. E. Cassirer, »Kant und die moderne Mathematik«, 40, mit Bezug auf Couturats Theorie der »Existenzialbehauptungen« (vgl. L. Couturat, Les Principes des Mathématiques, 39).   9 

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handelt, ist eine vom internen Realismus ganz ungedeckte Zusatzannahme. Da wir nicht über einen unabhängigen Außenstandpunkt verfügen, kann sich Identität immer nur innerhalb unserer Beschreibungen feststellen lassen. Zwei Ereignisse sind dann numerisch identisch, wenn sich ihre Beschreibungen ineinander übersetzen lassen. Genau dieser Weg ist aber in Kants Auflösung versperrt. Die physikalische und die geistige Beschreibung können nach seinen Voraussetzungen nicht zugleich von ein und demselben wahr sein. Sie sind entweder zusammengenommen unhaltbar – und mindestens eine der beiden Beschreibungen muß falsch sein. Oder aber sie sind tatsächlich beide wahre Beschreibungen – aber dann können sie sich nicht auf ein und dieselbe Entität beziehen. Ich kann nicht erkennen, wie sich eine kantische Position aus diesem Dilemma befreien könnte. Dafür, daß Kant das in der Auflösung der Antinomie verdrängte Problem immerhin gesehen hat, ist die Dialektik der praktischen Vernunft ein guter Beleg. Die Lehre von den praktischen Postulaten versucht nämlich genau jene inkompatiblen ontologischen Verpflichtungen miteinander zu versöhnen, die die These vom Beschreibungsdualismus offen gelassen hat. Jede moralische Handlung ist nach Kant ein Eingreifen in die kausal bestimmte Welt, das den Naturgesetzen nach gar nicht vorgesehen ist. Wer dem kategorischen Imperativ folgt, muß also notwendig praktisch etwas voraussetzen, was er nach Kant theoretisch gar nicht wissen kann: daß nämlich die empirische Welt auch genau in der Weise eingerichtet ist, daß das moralische Handeln in sie hineinpaßt. Deshalb müssen die »Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit« und »die genaue Zusammenstimmung des Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten«11 schlechterdings notwendig angenommen werden, weil sonst keine einzige moralische Handlung erfolgreich realisiert werden könnte. Garantieren kann die prästabilierte Harmonie aber allein Gott. In dem systematischen Zwang, Gott als Garanten eines ursprünglichen Zusammenpassens von Natur und Freiheit wiedereinführen zu müssen, zeigen sich die Spätfolgen der Aporie, die in Kants Auflösung der Freiheitsantinomie liegt. Auf diese Weise führt Kants ursprünglich unmetaphysischer Versuch, Freiheit und Naturkausalität in einem Beschreibungsdualismus zusammenzudenken, in eine neue praktische Metaphysik mit eindeutig vorkritischen, leibnizianischen Zügen.12

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Es ist notwendig, eine andere, erfolgreiche Version des Beschreibungsdualismus zu entwickeln, in der die inkompatiblen ontologischen Verpflichtungen der physischen und der geistigen Beschreibung aufgehoben sind. Wie das gehen könnte, kann man anhand einer Analogie zur Dynamik der wissenschaftlichen Theorien selbst lernen. Im 19. Jahrhundert war die Entwicklung der Physik an einen Punkt gelangt, an dem die Prinzipien der modernen Elektrodynamik in Widerspruch zu den Prinzipien der klas11  12 

Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA IV 144 und 145. Vgl. M. Wundt, Kant als Metaphysiker, 331 ff.

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sischen Newtonschen Mechanik geraten waren. Beide Theorien können nicht zugleich wahr sein. Historisch gesehen ist es erst Einsteins spezielle Relativitätstheorie gewesen, die die Unverträglichkeit hat auflösen können. In der speziellen Relativitätstheorie sind die klassische Mechanik und die Elektrodynamik auf einer höheren Theoriestufe aufgehoben. Die klassische Mechanik ist in dieser Deutung nur noch ein Spezialfall der Relativitätstheorie. Das heißt: Sie ist als universale physikalische Theorie falsch, aber sie behält in einem hinreichend eingegrenzten lokalen Rahmen weiter ihre Gültigkeit. In der Theoriendynamik der Physik können Unverträglichkeiten also (in diesem Fall wenigstens) durch Aufhebung in einer höheren, umfassenderen physikalischen Theorie aufgelöst werden.13 Das ist für unser Problem klarerweise nur eine Analogie, denn im Fall des Beschreibungsdualismus von Geist und Natur besteht die Unverträglichkeit nicht zwischen zwei physikalischen Beschreibungen, sondern zwischen einer physikalischen Beschreibung einerseits und einer geistigen Beschreibung andererseits. Die Aufhebung in einer physikalischen Theorie kann in diesem Fall nicht weiter führen, weil sich geistige Beschreibungen nicht vollständig in physikalische übersetzen lassen. Und dennoch: Warum sollte es nicht möglich sein, die einseitig physikalische Beschreibung und die einseitig geistige Beschreibung in eine höhere, umfassendere Theorie zu überführen? Der einfache Grundgedanke dieser umfassenden Theorie wäre dann, daß alle Entitäten unserer Welt sowohl physische als auch geistige Eigenschaften haben. Das, was wir in einer derartigen Beschreibung erfassen können, ist dann weder die physische Natur allein noch der Geist allein, sondern eine physische Natur, die zugleich geistig ist – geistige Natur – und ein Geist, der zugleich natürlich und wirklich ist – objektiver Geist. Das einzige, was in der umfassenden Beschreibung ausgeschlossen ist, sind Entitäten, die ausschließlich physische oder ausschließlich geistige Eigenschaften haben. Ich werde diese umfassende Beschreibung eine objektiv geistige Beschreibung nennen, und die Theorie, die sich mit ihr beschäftigt, eine Philosophie des objektiven Geistes. Eine Beschreibung, in der alle Entitäten unserer Welt sowohl physische als auch geistige Eigenschaften haben, legt sich auf zwei komplementäre Thesen fest: Alles, was physisch oder natürlich ist, ist zugleich auch geistig; und: Alles, was geistig ist, ist zugleich auch physisch oder natürlich. Beide Thesen klingen für unser herkömmliches Verständnis von Natur und Geist zunächst befremdlich: aus der physischen Natur wird eine Natur, die auch geistig ist, und aus dem mentalistisch verstandenen Geist wird ein Geist, der auch in der physischen Wirklichkeit ist. Ich glaube, daß sich mit beiden Thesen ein vertretbarer Sinn verbindet läßt. Das möchte ich im folgenden zeigen. Beginnen wir mit der radikal neuen Auffassung von Natur in einer objektiv geistigen Beschreibung. Sie ist im Kern sehr einfach zu verstehen und kann am besten mit einer ganz unterminologischen Wendung wiedergegeben werden: Die Natur in einer objektiv geistigen Beschreibung ist die Welt, in der wir leben, oder noch kürzer: die Natur ist unsere Welt. Es fällt sofort auf, daß die Natur nach dieser Konzeption eine Vgl. zu dieser dialektischen Interpretation der Dynamik wissenschaftlicher Theorien anhand des genannten Beispiels Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, 22–29. 13 

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bewohnte Welt ist (und zwar eine von uns bewohnte Welt), während die Welt, die die Physik beschreibt, durchgängig unbewohnt ist. Man kann auch sagen: Die Natur, in der wir uns befinden, ist grundsätzlich eine soziale Welt – es ist unsere Welt, es ist die Welt, in der wir leben. Unsere Welt ist bewohnt von einer Gemeinschaft von Personen, die zu sich selbst allesamt »Ich« sagen können und die sich untereinander mit »Du« anreden. Unsere Welt ist eine intersubjektive Welt. Dadurch ist sie nicht nur von der Physik, sondern auch von anderen naturwissenschaftlichen Beschreibungen unterschieden. Die Welt der Biologie zum Beispiel ist zwar eine lebendige Welt, aber in ihr leben keine Subjekte, die zu sich »Ich« und zu anderen »Du« sagen können. Die Welt, in der wir leben, ist zugleich eine Welt der sozialen Interaktion. Unsere intersubjektiven Verhältnisse realisieren sich in raumzeitlichen Handlungen. Die elementare Klasse sozialer Interaktionen sind die Sprechhandlungen. Wir reden einander an, wir diskutieren miteinander, wir fragen, antworten, bezweifeln, versichern und verteidigen. Es gibt viele weitere Weisen der sozialen Interaktion. Ein Großteil der gesellschaftlichen Anerkennung realisiert sich in dem, was wir für uns und andere arbeiten und herstellen. Weitere Sphären des sozialen Handelns sind Politik, Recht, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft oder Kunst. Deshalb gehören zu den Grundstrukturen unserer sozialen Welt die Grundmomente des vernünftigen Handelns: In unserer Welt werden Ziele aus bestimmten Absichten verfolgt, es gibt in unserer Welt Gründe dafür, etwas zu tun oder zu unterlassen, und manche Dinge in unserer Welt sind Mittel, etwas Bestimmtes zu erreichen. Unsere soziale Welt ist aber nicht nur ein rationaler Handlungsraum, sie ist auch eine normativ strukturierte Sphäre, denn jede Form sozialer Interaktion folgt bestimmten Regeln. Unsere Sprechhandlungen folgen der Grammatik unserer Sprachen; unsere politischen Handlungen den Regeln von Recht und Verfassung; jedes Herstellen, jede Form von Handel, und selbst jedes Kunstwerk folgen bestimmten Regeln. Soziale Handlungen sind aber immer auch zugleich an die Gestaltung der physischen Natur gebunden. Daß wir miteinander Sprechhandlungen ausführen können, daß wir uns überhaupt sprachlich verständigen können, setzt voraus, daß wir physischen Schall artikulieren und gestalten. Einen Vortrag oder ein Buch kann ich nur veröffentlichen, wenn ich Papier mit graphischen Figuren bedrucken lasse. Um einen Tisch oder ein Computerprogramm herzustellen, muß ich physisches Material bearbeiten. Ein Wissenschaftler braucht ein Labor, eine Bibliothek, einen Hörsaal, um arbeiten, schreiben oder diskutieren zu können. Damit haben wir drei elementare Dimensionen unserer Natur beschrieben: Sie ist eine soziale Welt, sie ist eine Welt der Interaktion, und sie ist Welt der Gestaltung der physischen Natur. Welche Rolle spielt in dieser Konzeption die physische Natur? Zwischen der sozialen Welt und der physischen Natur besteht charakteristischerweise keine unaufhebbare Trennung. Es ist vielmehr so, daß die physische Natur vollständig in die soziale Welt integriert ist. Demnach ist alles, was in unserer Welt überhaupt nur physische Eigenschaften haben kann, immer schon in die sozialen Interaktionen und in die intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen eingebunden. Daraus folgt etwas Entscheidendes: Das, was in unserer Welt physische Eigenschaften hat, hat zugleich auch andere, nicht-physische Eigenschaften, gerade weil es in unsere soziale Welt eingebunden ist.

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An diesem Gedanken ist nichts Geheimnisvolles, denn die nicht-physischen Eigenschaften der Dinge sind natürlich nicht metaphysische Eigenschaften. Es ist viel einfacher: Die nicht-physischen Eigenschaften der Dinge sind die Eigenschaften, die sie haben, insofern sie in die Handlungen und Anerkennungsverhältnisse der Welt, in der wir leben, integriert sind. Man kann wenigstens drei Klassen nicht-physischer Eigenschaften unterscheiden: Eine soziale Eigenschaft im allgemeinen ist eine Eigenschaft, die etwas hat, insofern es in Relation zu sozialen Interaktionen steht. Soziale Eigenschaften sind zum Beispiel: ein Mittel zu etwas sein; eine Funktion in bezug auf etwas erfüllen; eine Ware sein. Eine repräsentationale Eigenschaft ist eine Eigenschaft, die etwas hat, insofern es in Relation zu einem Inhalt, einem Sinn oder einer Bedeutung steht, die es ausdrückt. Repräsentationale Eigenschaften sind zum Beispiel: einen Gedanken ausdrücken; einen Wert haben; ein Symbol sein. Eine normative Eigenschaft ist eine Eigenschaft, die etwas hat, insofern es in Relation zu bestimmten Regeln steht. Normative Eigenschaften sind zum Beispiel: korrekt oder inkorrekt gebildet sein; funktionieren oder nicht funktionieren; begründet oder unbegründet sein. Die objektiv geistige Beschreibung der Welt behauptet nun, daß alle Dinge, die physische Eigenschaften haben, zugleich auch soziale Eigenschaften haben. Wenn wir miteinander sprechen, dann tauschen wir physische Schallvorkommnisse aus, die zugleich einen bestimmten Inhalt, nämlich die jeweilige sprachliche Bedeutung, ausdrücken. Wenn wir Gebrauchsgegenstände herstellen und verwenden, dann ist der Gegenstand nicht einfach nur ein Stück Materie, sondern hat eine bestimmte Funktion. Die Waren, mit denen wir Handel treiben, drücken einen spezifischen Wert aus. Seltene Pflanzen und exotische Tiere kommen in abgelegenen Wäldern vor; aber diese Wälder sind als Lebensraum oder als Objekt wirtschaftlicher Nutzung Teil unserer Zivilisation. Selbst elementare Naturereignisse wie Stürme oder Erdbeben sind nie nur physische Ereignisse, sondern tragen eine bestimmte Bedeutung: Sie zerstören Lebensräume, töten Menschen oder lassen Zivilisationen untergehen. Es kann in unserer Welt nichts Physisches geben, das nicht zugleich auch soziale Eigenschaften hätte. Unsere Natur ist deshalb nie nur eine physische Natur, sondern immer zugleich auch eine soziale – oder eben geistige Natur. Dagegen scheint sofort ein Einwand auf der Hand zu liegen. Wenn alles, das es gibt, auch soziale Eigenschaften hat, dann könnten wir – so der Einwand – in unserer Welt nichts Neues entdecken oder finden. Es gibt aber Dinge, Ereignisse und Territorien, die wir jetzt noch nicht kennen, die wir aber im Laufe unserer Forschungen und unserer Entdeckungen irgendwann kennen lernen werden. Diese Dinge können aber keine sozialen Eigenschaften haben, weil sie noch nicht in soziale Interaktionen eingegangen sind. Der Einwand ist naheliegend, aber dennoch bei genauerem Zusehen nicht überzeugend. Die Welt, in der wir leben und handeln und die wir erforschen und erkennen können, darf nicht wie eine Art Behälter oder Gefäß konzipiert werden, in dem sich Dinge befinden, die wir entweder bereits kennen oder auf die wir irgendwann noch stoßen werden. Die Welt ist vielmehr ein offener und dynamischer Inbegriff dessen, worauf wir in unseren Sprachen und sonstigen Symbolsystemen Bezug nehmen können. Es sind zwei Weisen denkbar, in denen uns etwas unbekannt sein kann. Auf der einen Seite gibt es Dinge, von denen wir relativ zu dem, was wir jetzt bereits wissen,

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zugleich wissen können, daß wir sie noch nicht kennen: das sind die weißen Flecken auf unseren Landkarten oder die Dinge, von denen unsere wissenschaftlichen Theorien wissen, das sie bislang noch nicht beobachtet worden sind, obwohl es sie nach Maßgabe dieser Theorien geben muß. Diese Dinge, wie auch immer sie beschaffen sein mögen, stehen aber sehr wohl, ex negativo, in Relation zu unseren sozialen Interaktionen, denn es sind Dinge, deren Nichtkenntnis wir kennen. Auf der anderen Seite kann es Dinge geben, von denen wir nicht einmal wissen, daß wir sie noch nicht kennen. Aber solange sie noch nicht entdeckt worden sind, sind sie zugleich auch irrelevant. Sie sind nicht Teil unserer Welt. Sie werden erst, wenn überhaupt, im Laufe der Zeit in unsere Welt hineingeholt werden. Sobald sie in unserer Welt sind und wir auf sie Bezug nehmen können, sind sie aber auch bereits in unser soziales Handeln integriert. Aber ist es nicht so, daß die empirischen Naturwissenschaften, vor allem die Physik, tatsächlich genau solche Dinge beschreiben, die ausschließlich physische und definitiv keine nicht-physischen Eigenschaften haben? Ja, das ist tatsächlich so. Man kann sogar sagen, daß die Physik die einzige Beschreibung unserer Welt ist, in der es ausschließlich Dinge gibt, die ausschließlich physische Eigenschaften haben. Die Physik ist aber selbst bereits eine Theorie, die innerhalb unserer sozialen Welt vorkommt. Sie gehört zur sozialen und geistigen Form der Wissenschaft, deren Ziel es ist, streng allgemeingültige und intersubjektiv überprüfbare Aussagen über unsere Welt zu geben. Die strenge Allgemeingültigkeit erreicht die Physik durch eine Abstraktion von allen nicht-physischen Eigenschaften der Dinge, die es in unserer Welt gibt. Die Dinge, die die Physik beschreibt, sind deshalb selbst bereits soziale Konstruktionen. Sie sind das Resultat der Anwendung der besonderen Regeln, die für das Sprachspiel der Physik gelten.

4 Die Philosophie des objektiven Geistes impliziert nicht nur eine Neufassung des Naturbegriffs, sondern auch eine ebenso radikale Neukonzeption des Geistbegriffs. Ein Standardmodell zur Beschreibung geistiger Vorkommnisse ist das mentalistische Modell. Es ist, ähnlich wie das Verständnis der Natur als physische Natur, tief in unseren philosophischen Überzeugungen und selbst in unserem Alltagsverständnis verankert. In diesem Modell bilden die geistigen Vorkommnisse eine besondere Klasse immaterieller und nicht-räumlicher Vorkommnisse. Sie sind interne Vorkommnisse. Um sich auf sie zu beziehen, muß man die Aufmerksamkeit nicht nach «außen«, sondern introspektiv nach «innen« richten. Die geistigen Vorkommnisse sind deshalb auch private Vorkommnisse, zu denen nur ihr jeweiliger Träger einen authentischen und deshalb privilegierten Zugang hat. Es ist dieses mentalistische Modell, gegen das sich die Philosophie des objektiven Geistes wendet. Der Grundgedanke besteht darin, daß wir nur dasjenige als geistige Leistung und geistige Aktivität anerkennen können, das sich in unserer raumzeitlichen Welt in sichtbarer Weise ausdrückt und manifestiert. Ein besonders wichtiges Beispiel dafür liegt in der These von der Sprachgebundenheit des Denkens, die wohl

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zuerst Herder und Humboldt in einer kritischen Reaktion auf jene Theorie des reinen Denkens entwickelt haben, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft ohne jede Rücksichtnahme auf die sprachlichen Bedingungen des Denkens durchgeführt hatte. Die These besagt, daß die geistige Leistung des Denkens bei menschlichen Subjekten immer in der Form eines raumzeitlich situierten Sprechens realisiert sein muß. Dafür, daß ein bestimmtes Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Gedanken denkt, ist es deshalb eine notwendige Bedingung, daß ebendieses Subjekt zu demselben Zeitpunkt einen Satz einer beliebigen natürlichen oder formalen Einzelsprache artikuliert, der diesen Gedanken als seinen Inhalt ausdrückt und der von diesem Subjekt auch verstanden wird.14 In einer Philosophie des objektiven Geistes wird das Prinzip der Sprachgebundenheit des Denkens verallgemeinert. Wie das Denken von Gedanken an das Sprechen von Sätzen gebunden ist, so ist auch generell jede geistige Leistung an die Bildung, Gestaltung und Verwendung irgendeiner Ausdrucksgestalt gebunden. Das führt auf die These von der Ausdrucksgebundenheit alles Geistigen: Dafür, daß ein bestimmtes Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten geistigen Inhalt unterhält oder eine bestimmte geistige Leistung vollbringt, ist es für alle menschlichen Erfahrungssubjekte eine notwendige Bedingung, daß ebendieses Subjekt zu demselben Zeitpunkt eine Ausdrucksgestalt einer beliebigen Ausdrucksform realisiert, die diesen geistigen Inhalt oder diese geistige Leistung als ihren Inhalt ausdrückt und die von diesem Subjekt auch verstanden wird. Alle geistigen Leistungen menschlicher Subjekte müssen grundsätzlich immer in raumzeitlich situierten Gestalten oder Handlungen realisiert sein. Deshalb sind alle geistigen Vorkommnisse an raumzeitliche Vorkommnisse gebunden. Die Strategie dieser Überlegung besteht darin, den Gegensatz von «innen« und «außen«, der für das mentalistische Paradigma grundlegend ist, aufzulösen. Das Geistige ist nicht im Kopf oder sonst irgendwo «innen«, es ist vielmehr als Geistiges in unserer Welt. Der Ort des Geistigen ist immer nur an den raumzeitlichen Vorkommnissen unserer sichtbaren Welt zu suchen. Unabhängig von seinem Ausdruck ist ein geistiger Inhalt nichts, genauer: ist die Frage nach seiner Existenz unentscheidbar und daher sinnlos. Der Geist ist etwas, das sich in Gestalten und Handlungen der raumzeitlichen Welt objektiviert. Deshalb bilden die geistigen Vorkommnisse keine Sonderklasse von Zuständen oder Entitäten, sondern Vorkommnisse in Raum und Zeit, die auch (aber nicht nur) physikalisch beschreibbare Eigenschaften haben. Das, was wir Geist nennen, ist nichts anderes als der Gesamtzusammenhang aller nicht-physikalischen Eigenschaften der gestalteten Entitäten unserer Welt. Im Effekt bedeutet das, wie man mit einer letzten Anwendung der Opposition von »Innen« und »Außen« sagen kann, eine Externalisierung des Geistes. Der Geist in unserer sozialen Welt ist ein offen zutage liegender und sozial zugänglicher Geist. Es handelt sich aber, das ist entscheidend, nicht um eine Externalisierung in eine ausschließlich physische Natur  – sondern in eine soziale und geistige Natur. John McDowell Vgl. zum Hintergrund dieser These ausführlich G. Seebaß, Das Problem von Sprache und Denken. 14 

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hat diesen Grundgedanken der Philosophie des objektiven Geistes vor einigen Jahren wiederbelebt, indem er den Begriff einer Natur vorgeschlagen hat, in der die geistigen Elemente von Spontaneität, Bildung und ethischer Lebensform bereits enthalten sind.15 Man kann deshalb von einer umfassenden nicht-physikalistischen Externalisierung des Geistes sprechen.16 Der private Charakter der geistigen Vorkommnisse ist in diesem Modell dadurch ersetzt, daß noch der letzte individuelle geistige Akt an seinen Ausdruck in zeitlichen und räumlichen Gestalten gebunden ist. Er ist damit offen für alle beobachtbar, und er unterliegt bereits Regeln und Korrektheitskriterien, die intersubjektiv in unserer sozialen Welt anerkannt sein müssen. Deshalb sind alle geistigen Vorkommnisse nie nur privat, sondern immer bereits in einem sozialen Raum angesiedelt. Aber kann das eine plausible Beschreibung geistiger Vorkommnisse sein? Ist es nicht so, daß ich zum Beispiel eine Überzeugung auch nur für mich alleine haben kann, ohne daß sie irgend jemand beobachten kann oder von ihr weiß? Darauf muß man wohl zur Antwort geben: Selbstverständlich ist es so, daß ich eine Überzeugung nur für mich haben kann. Aber das heißt nicht, daß ich sie auf eine besondere innere, private und privilegierte Weise habe. Jede Überzeugung ist an den Ausdruck in sprachlichen Äußerungen gebunden. Denn dasjenige, wovon ich überzeugt bin, muß immer der begriffliche Inhalt einer konkreten sprachlichen Äußerung sein. Sprachliche Äußerungen sind aber soziale Gebilde, die bestimmten grammatischen Regeln gehorchen, die für alle Teilnehmer einer Sprache verbindlich sind. Überzeugungen nur für mich zu haben, setzt voraus, sie in sprachlicher, damit aber sozialer Form zu haben, und sie dann dem öffentlichen Verkehr zu entziehen. Ich kann dem Gehalt nach von nichts überzeugt sein, wovon nicht prinzipiell auch alle anderen überzeugt sein könnten, auch wenn das nicht heißt, daß alle anderen meine Überzeugungen tatsächlich kennen oder sogar gemeinsam mit mir haben müßten. Es geht also nicht darum, zu leugnen, daß es so etwas wie «mentale Zustände« gibt. Selbstverständlich haben wir ein Bewußtsein, und selbstverständlich haben wir Überzeugungen, Wünsche, Wahrnehmungen und Empfindungen; es gibt sie aber von vorneherein immer nur im Kontext eines sozialen Handelns mit hinreichend entwickelten Sprach-, Begriffs- und Begründungspraktiken. Deshalb ist das Reich des Geistes als solches bereits immer unsere Welt, nämlich unsere soziale Welt. Ein so verstandener Geist, der sich vollständig in den raumzeitlichen Gestaltungen unserer Welt manifestiert und objektiviert, kann in eben diesem Sinne objektiver Geist genannt werden. Das bedeutet andererseits aber auch, daß die Gestaltungen unserer sozialen Welt immer Ausdruck unserer selbst sind. Wenn wir die sprachlichen Äußerungen betrachten, die es in unserer Welt gibt, die technischen Gegenstände, die Artefakte und Kunstwerke, die kultischen und religiösen Einrichtungen, die rechtlichen Vgl. J.  McDowell, Mind and World, 76 ff. McDowells Vorschlag zur Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Natur spiegelt gewisse hegelianische Motive wieder, auch wenn der Bezug zu Hegel im Ganzen unpräzise bleibt. In jedem Fall ist die Philosophie des objektiven Geistes eine konstruktive Lösung des unter modernen Bedingungen aporetischen Problems von Geist und Natur und nicht, wie bei McDowell, eine lediglich «therapeutische«. 16  Vgl. G. W. Betram / J. Liptow, »John McDowells nicht-szientistische Naturalisierung des Geistes«. 15 

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und politischen Institutionen: dann finden wir unsere eigenen geistigen Leistungen an ihnen vor. Wir finden unseren eigenen Geist an den Handlungen, Objekten und Einrichtungen unserer Welt. Das, was wir Natur nennen, ist geistig; und das, was wir Geist nennen, ist natürlich, gegenständlich und wirklich. Hegel hat das in seiner berühmten Formulierung zusammengefaßt: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig«.17 Hegel hat dieses Prinzip so gut wie ausschließlich an den politischen und rechtlichen Phänomenen von Staat, Gesellschaft, Familie und Moral auseinandergesetzt. Die Philosophie des objektiven Geistes ist aber mehr als eine Rechts- und Sozialphilosophie. Der Begriff des objektiven Geistes ist grundlegender, weil er geistige Leistungen und geistige Gestaltungen aller Art umfaßt. In dieser Allgemeinheit wird er zum Gegenbegriff einer ausschließlich physikalisch konzipierten Natur und eines ausschließlich mentalistisch verstandenen Geistes. Er gilt auch für die Alltagswelt der natürlichen Sprachen, für Religion, Kunst und Technik. Cassirer hat diese geistigen Bereiche symbolische Formen genannt, und mit dieser Terminologie ist eine umfassende Philosophie des Geistes verbunden, die die Bandbreite unserer geistigen Leistungen und unserer geistigen Gestaltungen systematisch abschreitet. Ein derartiges Unternehmen habe ich vor Augen, wenn ich für eine Wiederaufnahme der Philosophie des objektiven Geistes plädiere.18 Drei kurze Bemerkungen sind zur Vermeidung von Mißverständnissen erforderlich. Zunächst: Die objektiv geistige Beschreibung ist keine harmonistische Beschreibung. Daß das Wirkliche vernünftig ist, heißt nicht, daß es allein deshalb auch schon gut, gerecht oder versöhnt wäre, sondern nur, daß sich das Wirkliche überhaupt an den Maßstäben von Gründen, Normen und Werten messen lassen kann, weil es die Wirklichkeit handelnder rationaler Individuen ist. Daß alles Physische geistig ist, bedeutet nicht, daß eben deshalb auch alles Wirkliche bereits richtig wäre. Es bedeutet vielmehr, daß alles Wirkliche überhaupt nach der normativen Geltungsdifferenz von richtig oder falsch beurteilt werden kann. Wenn alles Wirkliche natürlich und alles Natürliche einfach nur physisch wäre, dann könnte es nichts Wirkliches geben, das richtig oder falsch wäre. In einer physischen Natur gibt es weder Richtiges noch Falsches. In einer geistigen Natur hingegen steht alles Wirkliche in den Interaktionen wechselseitig aufeinander bezogener Individuen und hat deshalb normative Gültigkeit. Erst dadurch wird es beurteilbar, denn es ist als gültiges Wirkliches entweder richtig oder falsch. Wer einen Zustand der Wirklichkeit als politisch, rechtlich, technisch oder handlungsrational falsch kritisiert, muß deshalb bereits unterstellen, daß er als wirklicher Zustand auch geistig ist; andernfalls wäre die Kritik sinnlos. Nicht das Irrationale, das Unvernünftige wird dadurch ausgeschlossen, sondern nur, daß die Wirklichkeit arational, vernunftlos ist. In der sozialen Struktur unserer Welt ist aber auch die Gefahr angelegt, daß wir soziale Verhältnisse entwickeln, in denen wir uns in unseren Gestaltungen nicht mehr wiedererkennen und uns von unserer Welt entfremden. Entfremdung ist aber selbst ein geistiges Verhältnis zu einer geistigen Welt, die für ihre Bewohner nicht mehr als geisti17  18 

G. W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd. 7, 24. Dazu ausführlich G. Kreis, Cassirer und die Formen des Geistes.

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ge Welt erkennbar ist. Entfremdung ist deshalb nicht die Abwesenheit intersubjektiver Verhältnisse, sondern die Ausbildung inverser Anerkennungsverhältnisse.19 Die Hinwendung zu einer Philosophie des objektiven Geistes darf nicht als Ablösung eines physischen Determinismus durch einen sozialen Determinismus mißverstanden werden. Zu diesem Mißverständnis könnte der Übergang von der mentalistischen Konzeption eines exklusiv privaten Geistes zu der Konzeption eines offen zutage liegenden und sozial zugänglichen Geistes verleiten. Denn wenn es so ist, daß ich nur diejenigen geistigen Inhalte unterhalten kann, die prinzipiell auch alle anderen Angehörigen einer sozialen Gemeinschaft unterhalten können, dann scheint es sozial vorentschieden zu sein, was ich überhaupt denken und wollen kann. An derartigen Beschreibungen ist richtig, daß niemand von uns die Inhalte seines Denkens, seines Handelns und seiner schöpferischen Produktion in vollständiger Isolation einfach nur aus sich selbst heraus gewinnen kann. In der Welt, in der wir leben, steht das einzelne Individuum in einer Reihe von komplexen intersubjektiven Verhältnissen zu den anderen Individuen in der Familie, in den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft und in den rechtlichen Institutionen des Staates. Die Selbstkonstitution des Individuums ist durch die Anerkennungsverhältnisse zu den anderen notwendig vermittelt; die Fähigkeit, zu sich selbst »Ich« zu sagen, setzt notwendig voraus, von anderen als »Du« angesprochen zu werden. Insofern sind die inhaltlichen Hinsichten, in denen der einzelne sich als Individuum konstitutiv zu entwerfen vermag, immer schon intersubjektiv und sozial bereitgestellte Inhalte. Das heißt insbesondere, daß wir auf die zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Inhalte auch insofern eingeschränkt sind, als nicht jeder zu jeder Zeit alles denken und intendieren kann. Daraus folgt aber gerade nicht, daß über die spezifische Identität jedes einzelnen bereits in allen Fällen sozial vorentschieden wäre. Denn die Bandbreite dessen, was mir als Inhalt meines Denkens und Intendierens historisch zur Verfügung steht, determiniert als solche noch nicht, was ich mir selbst davon zu eigen mache. Was ich mir als Individuum von den symbolischen Gehalten meiner sozialen Welt aneigne, muß im letzten eine Angelegenheit meiner eigenen Entscheidung bleiben: eine mit bestimmten Gründen vorgenommene Selbstbestimmung, die in dem Bewußtsein geschieht, auch anders realisiert werden zu können.20 Darüberhinaus ist jede individuelle Aneignung aus einem sozial zur Verfügung gestellten Repertoire geistiger Inhalte wenigstens potentiell immer auch dessen Modifikation und Fortführung. Das Standardbeispiel dafür ist die Entwicklung natürlicher Sprachen: So sehr es richtig ist, daß jeder einzelne Sprechakt den vorgegebenen Regeln einer bestimmten Sprache folgen muß, um verstanden werden zu können, so können es doch andererseits immer nur die jeweiligen individuellen Sprechakte sein, die die Entwicklung der Sprache vorantreiben.

19  Das ist die Pointe von Hegels Entfremdungsanalyse in der Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, 366. 20  Diesen Zusammenhang entwickelt ausführlich J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, 182–228.

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Schließlich: Die objektiv geistige Beschreibung impliziert, daß alles, was es gibt, nicht nur physikalische, sondern auch geistige Eigenschaften hat. Das soll aber ausdrücklich nicht heißen, daß es keine physische Natur gäbe oder daß alles Physische in Wahrheit nur eine soziale Konstruktion wäre. Die Philosophie des objektiven Geistes behauptet nur, daß alles, was physische Eigenschaften hat, immer zugleich auch in die sozialen Handlungswelten rationaler Akteure gehört und deshalb neben den physischen zwangsläufig auch geistige Eigenschaften aufweist. Ausgeschlossen wird auf diese Weise nur die Vorstellung, daß wir irgendwo so etwas wie eine nackte Natur finden und erfahren könnten. Dasjenige Natürliche, das uns zugänglich ist, befindet sich immer bereits im Handlungskontext sozialer Räume. Die Differenz des Physischen vom Sozialen und Geistigen bleibt aber dabei bestehen, denn dadurch, daß alles Physische nur in sozialen Kontexten zugänglich ist, wird es selbst nicht mit dem Sozialen oder Geistigen identisch. Die physische Natur wird im objektiven Geist nicht eliminiert, reduziert oder dekonstruiert, sondern in die Welt des objektiven Geistes integriert. In dieser Welt ist die physische Natur als materiale Grenze des sozialen Handelns und geistigen Gestaltens präsent: Wir können nicht alles in der Weise ausführen oder gestalten, wie wir es wollen, weil die Eigenarten des physischen Materials, an das unser Geist gebunden ist, unserem Handeln Grenzen setzen.

5 Ich hatte die objektiv geistige Beschreibung als eine umfassende Beschreibung von Natur und Geist eingeführt, in der alles, was es gibt, sowohl physische als auch geistige Eigenschaften hat. Was ist damit nun für den Dualismus von Geist und Natur gewonnen? Die Philosophie des objektiven Geistes ermöglicht einen konsistenten Beschreibungsdualismus. Der ontologische Dualismus von Geist und Natur ist vermieden, weil es in der objektiv geistigen Beschreibung genau eine Welt gibt, in der alles zugleich physische und geistige Eigenschaften hat. Unsere Natur ist immer zugleich auch geistig, und unser Geist ist immer zugleich auch in der Welt. Bei allen Dingen in unserer Welt können wir zwar in zwei unterschiedlichen Beschreibungen ein und denselben Gegenstand einmal rein physisch (nach seinen kausalen Eigenschaften) und einmal rein geistig (nach seinen repräsentationalen Eigenschaften) beschreiben. Es handelt sich aber in beiden Fällen um abstrahierende Beschreibungen ein und desselben Gegenstandes. Sie sind für sich genommen auch nicht in der Lage, den Gegenstand in dem Vollsinne zu erfassen, in dem wir im sozialen Handlungsraum unserer Welt mit ihm zu tun haben. Die Inkonsistenz des Kantischen Ansatzes ist auf diese Weise vermieden, denn das, dem wir physische Eigenschaften zuschreiben, kann problemlos mit dem identisch sein, dem wir normative Eigenschaften zuschreiben. Die geistigen Eigenschaften der Dinge sind in unserer Welt. Wir können deshalb auch auf die mißverständliche Metapher vom »Raum der Gründe« verzichten. Die geistige Ordnung ist keine perspektivische Projektion auf unsere Welt, sondern die Ordnung der wirklichen Welt selbst. In der objektiv geistigen Beschreibung ist es deshalb auch möglich, unser Sprechen, Erkennen, Darstellen und Handeln als freie Tätigkeiten zu beschreiben, die in unserer

Für eine Philosophie des objektiven Geistes

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Welt stattfinden. Wir sind nicht gezwungen, unsere Handlungen als kausal determinierte Ereignisse aufzufassen. Im Gegenteil; jedes Gestalten der physischen Natur in unserer Welt ist als solches immer zugleich ein sozial, normativ und geistig qualifiziertes Gestalten und insofern ein freies Handeln, das wir als etwas beschreiben können, das wir in einer nach Gründen reflektierten oder doch wenigstens reflektierbaren Selbstbestimmung und in dem Bewußtsein, auch anders handeln zu können, selbsttätig ausgeführt haben. Die objektiv geistige Beschreibung läßt neben den physischen auch geistige Ursachen zu. Ist damit die kausale Geschlossenheit der physischen Natur aufgehoben? Man kann auf diese Frage nicht mit ja oder nein antworten, weil sie sinnvoll überhaupt nur im Rahmen der physikalischen Theorie gestellt werden kann. Innerhalb der physikalischen Theorie ist die kausale Geschlossenheit weiterhin gewahrt, weil diese Beschreibung unserer Welt keine anderen Ursachen als physische Ursachen zuläßt. Innerhalb der umfassenden Theorie des objektiven Geistes sind dagegen auch andere, nämlich geistige Ursachen zugelassen. Die objektiv geistige Beschreibung tritt allerdings gar nicht mit dem Anspruch auf, die bessere Physik oder überhaupt eine physikalische Theorie zu sein. Das Prinzip der kausalen Geschlossenheit, das nur für die Physik gilt, kann in ihr nicht verletzt werden, weil es auf sie gar nicht anwendbar ist. Nun ist es aber charakteristisch für die Philosophie des objektiven Geistes, daß diese beiden Ergebnisse gerade nicht auf Kosten der empirischen Naturwissenschaft erreicht werden. Die Intuition von der epistemischen Autorität der Naturwissenschaften ist selbst Bestandteil unserer Lebenswelt, und die Philosophie des objektiven Geistes hat dem gerecht zu werden. Wissenschaften verfügen aufgrund der besonderen Organisation ihrer symbolischen Ausdrucksgestalten – ihrer Sprachen, Theorien, Begriffe und Gesetzesaussagen  – über die Möglichkeit, Urteile mit streng universeller Geltung zu fällen, die für alle Subjekte ungeachtet ihrer historischen und lebensweltlichen Unterschiede in derselben Weise verbindlich sind. In einem bestimmten Sinne repräsentieren wissenschaftliche Theorien deshalb die konsequenteste und am weitesten entwickelte Form menschlich subjektiver Rationalität, die uns überhaupt bekannt ist. Damit besteht aber auch, wie Husserl in der Krisis-Schrift und Cassirer in der Durchführung der Philosophie der symbolischen Formen gezeigt haben, eine grundsätzliche Kontinuität zwischen den lebensweltlichen Geistformen und der Wissenschaft. Ein einseitiger AntiSzientismus verbietet sich deshalb ebenso wie ein einseitiger Szientismus. Der epistemische Vorrang der Naturwissenschaft ist allerdings das Ergebnis einer methodischen Abstraktion. Naturwissenschaften haben ihre Autorität nur in bezug auf die kausal bestimmten Ereignisse der Welt. Die Kehrseite dieser Autorität besteht in der Abstraktion von allem, was zur historischen und lebensweltlichen Gebundenheit des jeweiligen Ereignisses und des jeweiligen erklärenden Wissenschaftlers gehört. Erst die methodische Ausschaltung der partikularen Momente ermöglicht die Universalisierung der wissenschaftlichen Urteile. Daran ist nichts auszusetzen, denn diese methodische Abstraktion gehört zu den Spielregeln der geistigen Form der Wissenschaft. Ein Irrtum ergibt sich aus dieser Lage erst dann, wenn die Wissenschaft diese Abstraktion vergißt und sich selbst als die vollständige und als die einzig angemessene Beschreibung unserer Welt durchzusetzen versucht. Dann repräsentiert sie unsere Welt nicht mehr länger

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Kolloquium 3  ·  Guido Kreis

als die Welt, die sie ist, sondern ausschließlich als physische Natur. Damit wird die Naturwissenschaft innerhalb des objektiven Geistes ein Produkt der Entfremdung: Wir halten in ihr unsere Welt für ausschließlich physisch, und wir erkennen in der physischen Natur uns selbst nicht mehr wieder. Der Absolutheitsanspruch kann aber selbst nicht wiederum innerhalb der physikalischen Theorie begründet werden. Wir verfügen auch nicht über einen Außenstandpunkt, von dem aus die Angemessenheit der Physik zu der Welt, wie sie an sich ist, schlagend demonstriert werden könnte. Die Entscheidung für die Physik fällt außerhalb ihrer selbst – in der Welt des objektiven Geistes. Die letzten Jahrhunderte haben dazu geneigt, sich für die Physik als einzig angemessene Beschreibung unserer Welt zu entscheiden. Warum sollte diese Entscheidung nicht im Lichte besserer Gründe revidiert werden können?

Literatur Allison, Henry E.: Kant’s theory of freedom, Cambridge 1990. Betram, Georg W. / Liptow, Jasper: »John McDowells nicht-szientistische Naturalisierung des Geistes«, in: Philosophische Rundschau 50 (2003), 220–241. Cassirer, Ernst: »Kant und die moderne Mathematik«, in: Kant-Studien 12 (1907). Cassirer, Ernst: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, in: Gesammelte Werke, Hamburg 1998 ff., Bd. X. van Cleve, James: Problems from Kant, Oxford 1999. Couturat, Luis: Les Principes des Mathématiques, Paris 1905. Davidson, Donald: »Mental Events«, in: ders., Essays on Actions and Events, Oxford 1980, 207–225. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981. Hegel, Georg W. F.: Werke in 20 Bänden, Frankfurt a. M. 1970 ff. (= Werke). Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Berlin 1900 ff.(= AA). Kreis, Guido: Cassirer und die Formen des Geistes, Frankfurt a. M. 2009. Lau, Chong-Fuk: »Freedom, Spontaneity and the Noumenal Perspective«, in: Kant-Studien 99 (2008), 312–338. McDowell, John: Mind and World, Cambridge / Mass. 1994. Pippin, Robert B.: »Kant on the Spontaneity of Mind«, in: ders., Idealism as Modernism, Cambridge 1997, 29–55. Putnam, Hilary: »Two philosophical perspectives«, in: ders., Reason, Truth, and History, Cambridge 1981, 49–74. Seebaß, Gottfried: Das Problem von Sprache und Denken, Frankfurt a. M. 1981. Sellars, Wilfrid: »Empiricism and the Philosophy of Mind«, in: W. Sellars, Science, Perception and Reality, London 1963, 127–196. Wundt, Max: Kant als Metaphysiker, Stuttgart 1924.

Kolloquium 4 Phänomenologie der Theorie: der lebensweltliche Grund des Theoretischen

Karl-Heinz Lembeck Einführung: »Phänomenologie der Theorie: der lebensweltliche Grund des Theoretischen« Karl Mertens Nach und vor der psychologischen Forschung. Überlegungen zu einer Phänomenologischen Wissenschaftstheorie Barbara Merker Husserls lebensweltliche Kritik am physikalistischen Naturalismus Thomas Fuchs Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus

Einführung: »Phänomenologie der Theorie: der lebensweltliche Grund des Theoretischen« Karl-Heinz Lembeck

Wenn es ein copyright auf philosophische Themen gäbe, so läge dies im Falle des Themas »Lebenswelt und Wissenschaft« vermutlich bei der Phänomenologie. Seit Husserl wissen wir, dass mit der Konjunktion hier keineswegs auf ein antagonistisches Verhältnis angesprochen wird, sondern dass es sich um ein Konstitutionsverhältnis auf Gegenseitigkeit handelt. Gilt Wissenschaft vor allem als Inbegriff eines Vernunftverhaltens, mit welchem sich ein typisches Weltbild generiert, das der lebensweltlichen Kontingenz zu entfliehen sucht, so basiert dieses Verhalten gleichwohl elementar auf dem Boden solcher Kontingenz. Wovon man absehen möchte, das muss man eben besonders streng im Auge behalten. Die These, die der Titel dieses Kolloquiums pointieren möchte, behauptet, dass sich dieses ambivalente Verhältnis zwischen Lebenswelt und Wissenschaft beispielhaft darin äußert, dass sich im paradigmatischen Einstellungsmodus der Wissenschaft gegenüber ihrer Welt eine Leistung dokumentiert, die zugleich ihre Verwurzelung in wie ihre Distanz zur vorwissenschaftlichen Lebenswelt akzentuiert. Und diese Ambivalenz kommt namentlich im Theorie-Begriff zum Ausdruck. Dazu also ein paar Vorbemerkungen. Der Theorie als Betrachtungsform entspricht einerseits eine bestimmte Einstellung beim Betrachter – gewissermaßen die eines ›uninteressierten‹ Zuschauers –, andererseits entspricht ihr eine spezifische Ausdrucks- und Beschreibungsform – die eines möglichst kohärenten Systems propositionaler Aussagen. Insbesondere dies letztere gilt als wissenschaftstheoretisch etablierte formale Definition von Theorie. Wollte man also beschreiben, was Wissenschaftler tun, wenn sie Wissenschaft treiben, müsste man sagen: sie formulieren Theorien, also Sätze, die etwas über die Wirklichkeit behaupten und deren Geltungs- oder Wahrheitswert an eben dieser Wirklichkeit zu prüfen sein muss. Das Bild, das sie dabei von dieser Wirklichkeit zeichnen, ist notwendig eines, das allein aus theoretischen Gegebenheiten und Verhältnissen zusammengesetzt ist. Theoretisch heißt in diesem Fall eben: Es geht hier nicht um die Beschreibung einer Wirklichkeit als einem subjektiven Widerfahrnis, sondern um die Wiedergabe der Wirklichkeit, wie sie unabhängig von dem, der sie beschreibt, zu sein prätendiert; wir sagen auch: wie sie objektiv sein soll. Die im Theoretischen liegende Tendenz des Erkennens auf Gültigkeit impliziert also das Ideal der Objektivität. Die Aufgabe der Erkenntnis­sicherung zielt auf Gewährleistung solcher Objektivität. Die bedingten Interessen des faktischen Lebens werden auf diese Weise zu Gegenständen einer spezifischen Einstellung, die vor allem

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Kolloquium 4  ·  Karl-Heinz Lembeck

durch ausdrückliche Di­stanznahme und plakative Unbetroffenheit ausgezeichnet ist. Gleichwohl ist es eben diese Faktizität selbst, die die theoretisierenden Objektivationstendenzen erst gebiert. Sie gebiert sie als Klärungstendenzen einer per se opaken Wirklichkeit. Damit wird eine seltsam paradoxe Situation provoziert: Die faktische Lebenswelt, deren Relativität nach objektivem Wissen verlangt, betreibt ihre eigene Abschaffung. Denn die theoretische Einstellung erklärt uns die vermeintlich wahre Welt als ein vom faktischen Leben gerade unbetroffenes bloßes Gegenüber. Und sie droht dabei zu unterschlagen, dass die Probleme mit der Unzulänglichkeit des Erkennens sich erst aus der Erfahrung des kontingenten Alltags her motivieren; nämlich daraus, dass Welt stets als eigene, historische und faktische Welt begegnet und bewältigt sein will. Die theoretische Einstellung ist also deshalb problematisch, weil sie das ursprüngliche Motive den Umgang mit der Verunsicherung des je eigenen Lebens, ausblendet. Damit verliert sie jedoch zugleich die Wirklichkeit aus dem Blick, um aus ihr statt dessen eine unbetreffbare »Welt-an-sich« zu machen. Oder, um das bekannte Motiv Heideggers zu adaptieren: In der theoretischen Distanz der Wissenschaft, die aus der Orientierungsnot des Alltagslebens geboren ist, »ent-sorgt« dieses Leben sich gewissermaßen selbst. In die ursprüngliche Normalität der Lebenswelt, in seine »Heimat« bricht damit das »Un-heimliche« der Theorie ein. Tatsächlich verweist die Etymologie des Heimlichen ja auf das »Heimelige« und die Heimat. Und das Un-heimliche ist eben das, was mit Macht den Abstand zur Heimat postuliert, was die subjektive Eingelassenheit und Geborgenheit im eigenen Leben geradezu als Hindernis empfindet, das einer thematischen Erfassung dieses Lebens entgegensteht. Die wissenschaftliche Theorie zerstört genau diese immer schon gelungene Beziehung zwischen Selbst und Heimwelt. Sie beschreibt sie als defizitär und behauptet etwas scheinbar Paradoxes: nämlich dass man über die Welt mehr erfahren könne, indem man sich von ihr abwendet. Andererseits ist diese Abwendung ja keine Flucht, sondern nur ein Anlauf nehmen; denn das so gewonnene theoretische Weltbild kehrt wieder zurück. Es fließt in unsere lebensweltlichen Beständigkeiten ein, um sie mit dem Argument des nunmehr begründeten Wissens womöglich stabiler zu machen. Und dennoch erscheint es dabei eher wie ein Aggressor, der in der Konkurrenz der Weltbilder stets der bessere zu sein behauptet. Das Problem liegt hier auf der Hand, es liegt in dem Umstand, dass die Wissenschaft selbst ein Implikat der Faktizität des Lebens ist. Auch die Sätze der Wissenschaften treten im Zusammenhang mit den faktischen Lebensbedürfnissen auf. Sie fließen in den Le­bens­horizont ein, werden zum selbstverständlichen Inventar des Alltags. Doch wo die Wissenschaften die theoretisierende Inblicknahme der weltlichen Dinge favorisieren, da tendieren sie zur vorschnellen Fest-stellung des Lebens im doppelten Sinne von Konstatierung und Fixierung. Sie fixieren die gegenständliche Welt und ineins damit den Modus, in welchem uns solche Welt alltäglich gegeben ist. Sie »entleben« das Erlebnis, wie Heidegger es ausdrückt.1 Und sie machen aus den Dingen des Lebens

1 

M. Heidegger, Gesamtausgabe, 58, 77.

Einführung

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Gegenstände in der Welt. Doch genau an dieser Stelle ist die wissenschaftliche Einstellung in sich selbst dialektisch. Denn eben dieses Ent-lebnis-Phänomen ist es, welches das Desiderat der Er-leb­nisforschung erst empfindlich werden lässt und pointiert – und zwar als philosophisches, metatheoretisches Unternehmen. Der phänomenologische Begründungsgedanke formuliert einen solchen Anspruch, indem er dem Theorie-Motiv jene Dimension wieder aufzuschließen sucht, die mit dessen wissenschaftslogischer Verkürzung zu einem bloß deduktiven Erklärungsinstrument verloren gegangen ist. Man kann diese Dimension die der elementaren Gründe unserer Wirklichkeitskonzepte nennen. Dass philosophische Theorie sich aber überhaupt für solche Gründe öffnen und sie dem betrachtenden Blick erschließen kann, hat mit dem Umstand zu tun, dass der Sinn des Theoretischen nicht zuletzt von der Art der ›Sachverhalte‹ abhängt, denen Theorie sich betrachtend widmet, und davon, mit welchem Ziel solche Betrachtungen angestellt werden. Erinnert man die ursprüngliche Bedeutung des griechischen ›Theoria‹, so wird man den besonderen Charakter der gesuchten ›Rechtsgründe‹ theoretisch-objektivie­renden Verhaltens gegenüber der Wirklichkeit in ihrer möglichen Einsichtigkeit vermuten dürfen. Einsichtig können sie aber nur sein, wenn sie offen liegen und daher offenbar oder evident sind. Sollen sonach die Objektivierungsleistungen der im engeren Sinne des Wortes ›theoretischen‹ Einstellung gegenüber der Wirklichkeit überhaupt auf Rechtsgründe zurückgeführt, soll also Erkenntnis und Wissen begründbar und nicht nur methodisch bewährbar sein, so müssen solche Gründe anschaulich gegeben sein können – und zwar in einer ursprünglichen Erkenntnisform, die ihrerseits nicht mehr anderweitig herleitbar ist. Man kann diesbezüglich vom Ideal der »Selbstgegebenheit« eines im theoretischen Urteil angesprochenen, ›gemeinten‹ Sachverhalts sprechen. Damit ist ein vom bisher besprochenen verschiedener Theoriebegriff ins Spiel gebracht. Das Adjektiv in ›theoretische Philosophie‹ bedeutet jetzt offenbar nicht mehr dasselbe wie etwa in ›theoretische Physik‹. Im letzteren Fall bezieht es sich auf den deduktiv-ableitenden Charakter physikalischen Erkenntnisgewinns, in welchem sich wissenschaftliche Objektivierungsabsichten exemplarisch einlösen. Im Falle der Philosophie aber trägt das Adjektiv ›theoretisch‹ gerade keine derart instrumentelle Bedeutung, weil es kein auf Objektivierung zielendes deduktives Schlussverfahren, sondern den Charakter einer Einstellung beschreibt, die sich zwecks Klärung der Bedeutung theoretischer Begrifflichkeit auf eine ursprüngliche Anschauung des in solchen objektivierenden Akten intendierten Sachverhalts beruft. In diesem Sinne ist daher auch die Phänomenologie ein theoretisches Unterfangen, das sich auf den sowohl verdeckenden wie eröffnenden Charakter einzelwissenschaftlichen Begriffsinventars richtet, um die es fundierenden lebensweltlichen Grund­anschauungen aufzudecken. Nur so wird verständlich, was ein Begriff der Theoriensprache bedeutet. Nur so kann der Gefahr ihrer ungerechtfertigten Ontologisierung vorgebeugt und vermieden werden, dass für »wahres Sein« gehalten wird, was in Wahrheit nur »eine Methode« ist, wie Husserls bekannte Mahnung lautet. In solchen Grundanschauungen lassen sich Prinzipien der Weltobjektivierung auffinden, die als präprädikative Evidenzen der leiblichen und lebensweltlichen Erfahrung das prädikative Urteilsvermögen allererst fundieren.

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Kolloquium 4  ·  Karl-Heinz Lembeck

Die folgenden drei Beiträge dieses Kolloquiums nehmen sich in unterschiedlicher Perspektive dieser Verhältnisse an. Karl Mertens verfolgt die wissenschaftstheoretische Relevanz des phänomenologischen Begründungsprogramms in einer vergleichenden Betrachtung wahrnehmungsphänomenologischer zu wahrnehmungspsychologischen Erkenntnissen, um dabei vor allem die gegenseitige Verwiesenheit von Philosophie auf Wissenschaft und vice versa zu betonen. Barbara Merker erinnert an die Motive und Grenzen der Husserlschen Naturalismuskritik vor allem der 30er Jahre, nicht zuletzt, um zu einer kritischen Bewertung ihrer möglichen Gegenwartsaktualität beizutragen. Thomas Fuchs schließlich sucht der neurokonstruktivistischen Epistemologie mit leibphänomenologischen Evidenzen zu widersprechen, um gegen die theoretische Hybris der aktuell so prominenten ›Neurophilosophie‹ und ihren metaphysischen Realismus die primäre Erfahrung leiblichen In-der-Welt-Seins zu rehabilitieren.

Literatur Heidegger, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie (1919 / 20), Gesamtausgabe 58, Frankfurt a. M. 1993. 

Nach und vor der psychologischen Forschung. Überlegungen zu einer Phänomenologischen Wissenschaftstheorie Karl Mertens

Einen bedeutenden Teil ihrer Selbstverständigungsbemühungen widmen Klassiker der phänomenologischen Philosophie wie Edmund Husserl oder Maurice Merleau-Ponty der Auseinandersetzung mit der Psychologie. Dass diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch recht junge Wissenschaft für die sich ihrerseits erst etablierende Phänomenologie eine zentrale Rolle spielt, verdankt sie dem von ihr erforschten Gegenstand. Denn sowohl Phänomenologie als auch Psychologie verstehen sich als Wissenschaften vom Bewusstsein. Dabei herrscht hinsichtlich der genauen Bestimmung der Psychologie und ihrer Funktion für die phänomenologische Selbstbesinnung unter Phänomenologen selbst keine Einigkeit. So übernimmt die Psychologie, mitunter sogar für denselben Autor, unterschiedliche Rollen im Rahmen der phänomenologischen Selbstverständigung; mal ist sie Gegner, mal Helfer auf dem Weg in die Phänomenologie.1 Gelegentlich erscheint sie sogar – wie beim späten Husserl – als eine Art Protophänomenologie.2 Die kritische Abgrenzung von der psychologischen Forschung (oder dem, was Phänomenologen dafür halten) dient einer phänomenologischen Selbstklärung. Insofern Phänomenologen dabei auf eine bereits vorliegende und in dieser oder jener Weise bestimmte psychologische Wissenschaft Bezug nehmen, entfaltet sich die Phänomenologie in wissenschaftshistorischer Sicht in einem schlichten zeitlichen Sinne ›nach‹ der Psychologie.

Das prominenteste Beispiel für eine entschiedene phänomenologische Distanznahme von der Psychologie dürfte wohl Husserls Psychologismuskritik im ersten Band der Logischen Untersuchungen sein. Husserls Ablehnung einer Transformation logischer Geltungsfragen in empirisch-psychologische Tatsachenfragen ist allerdings im eigentlichen Sinne keine Kritik der Psychologie, sondern Zurückweisung einer bestimmten Einstellung in der Logik. Dass eine kritische Bezugnahme auf die psychologische Forschung der Phänomenologie zur eigenen Standortbestimmung verhelfen kann, verdeutlicht etwa Merleau-Ponty in seiner Phénoménologie de la Perception. Sowohl einseitig sensualistische als auch intellektualistische Ansätze der Psychologie seiner Zeit kritisierend, konzipiert Merleau-Ponty in Anlehnung an Einsichten der Berliner Gestaltpsychologie seine Phänomenologie des inkarnierten Bewusstseins. 2  Der späte Husserl entwickelt das Programm einer phänomenologischen Psychologie, einer eidetischen Disziplin, der zur transzendentalen Phänomenologie nur noch der – allerdings entscheidende – Vollzug der transzendentalphänomenologischen Reduktion fehlt. Freilich scheint Husserls Konzept einer reinen psychologischen Forschung reichlich konstruiert. Der Blick auf die Psychologie, wie ihn Husserl beispielsweise in seinen Prager Vorträgen vom November 1935 über Die Psychologie in der Krise der europäischen Wissenschaft oder im Encyclopaedia Britannica-Artikel erprobt, sagt wohl mehr über die Phänomenologie Husserls als über die tatsächliche psychologische Forschung seiner Zeit (vgl. Hua XXIX, 103–139; Hua IX, 237–301). – Die mit der Sigle »Hua« gekennzeichneten Stellenangaben beziehen sich auf Band und Seitenzahlen der Husserliana (E. Husserl, Gesammelte Werke). 1 

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Kolloquium 4  ·  Karl Mertens

Geradezu umgekehrt erscheint jedoch das Verhältnis von Psychologie und Phänomenologie, wenn man es in einem begründungs- und wissenschaftstheoretischen Sinne zum Thema macht. Folgt man nämlich dem phänomenologischen Selbstverständnis, dann ist es die Aufgabe der Phänomenologie, die Voraussetzungen wissenschaftlicher Geltungsansprüche aufzuklären. 3 Die phänomenologische Analyse betrifft daher sachlich einen Bereich ›vor‹ der Psychologie. Dieses Selbstverständnis ist zunächst zu explizieren. Daran anschließend möchte ich fragen, ob und inwiefern auch aus psychologischer Sicht phänomenologische Untersuchungen möglicherweise für die Psychologie selbst fruchtbar sein können.  – Der Vielgestaltigkeit von Phänomenologie und Psychologie trage ich dabei Rechnung, indem ich mich radikal beschränke. Im ersten Abschnitt soll an ein paar für das Verhältnis von Phänomenologie und empirischer Wissenschaft im Allgemeinen bzw. Psychologie im Besonderen einschlägige programmatische Gedanken des späten Husserl und des frühen Merleau-Ponty erinnert werden. Konkretisiert werden die Überlegungen zu einer phänomenologischen Wissenschaftstheorie dann im zweiten Abschnitt an einem in der Phänomenologie zentralen Thema, der sinnlichen Wahrnehmung. Vor diesem Hintergrund einer Skizze genuin phänomenologischer Einsichten in die Wahrnehmung möchte ich im dritten Abschnitt einen Blick auf einen Ausschnitt der wahrnehmungspsychologischen Forschung des 20.  Jahrhunderts werfen, um abschließend nach Möglichkeiten, aber auch Grenzen phänomenologischer Reflexionen im interdiziplinären und wissenschaftsphilosophischen Kontext zu fragen.

1.  Wissenschaftsphilosophische Ansprüche bei Husserl und Merleau-Ponty Einer Philosophie der Wissenschaften geht es um theoretische Explikation und kritische Prüfung dessen, was in den Wissenschaften selbstverständlich angenommen, aber nicht ausdrücklich reflektiert wird. Als nachkommende Betrachtung der unbefragten Voraussetzungen wissenschaftlicher Theorien und wissenschaftlicher Praxis setzt philosophische Wissenschaftstheorie das Faktum bestimmter Wissenschaften voraus. Zugleich aber liegt in der nachträglichen Reflexion auf die Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit auch der Ansatz für eine Wissenschaftskritik, die ggf. sogar das weitere wissenschaftliche Tun anzuleiten vermag. Die simple wissenschaftstheoretische Einsicht lautet dementsprechend: ›Nach‹ der Wissenschaft ist ›vor‹ der Wissenschaft. Die phänomenologische Wissenschaftstheorie, wie Husserl sie konzipiert, ist nun in besonderer Weise auf die Voraussetzungen der Wissenschaften gerichtet. Das mit theoretischer Emphase verfolgte phänomenologische Programm einer Rückkehr zu den Sachen selbst und das Bekenntnis zu einer theoretisch unverstellten »originär gebende(n) Anschauung« als »Rechtsquelle der Erkenntnis«, wie es Husserl in seinem berühmten »Prinzip aller Prinzipien« zum Ausdruck bringt,4 zielt auf die phänomenologische Frei3  Zum wissenschaftstheoretischen Programm einer phänomenologischen Wissenschaftsbegründung vgl. K.-H. Lembeck, »Einleitung«, VII ff.   4  Hua III / 1, 51.

Nach und vor der psychologischen Forschung

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legung unseres Bewusstseinslebens, das aller alltäglichen und wissenschaftlichen Sinnkonstitution zu Grunde liegt. So können etwa thematische Gegenstände oder Gegenstandssphären der Einzelwissenschaften wie unbelebte materielle oder belebte Natur, Kultur oder Gesellschaft phänomenologisch auf ihre konstitutiven Zusammenhänge hin befragt werden.5 Darüber hinaus bemüht sich die Phänomenologie um Aufklärung und Rechtfertigung der Grundoperationen wissenschaftlicher Theoriebildung, wenn sie z. B. wissenschaftliches Urteilen und Erkennen auf Leistungen einer vorprädikativen Erfahrung zurückzuführen oder den Ursprung wissenschaftlich-mathematischer Idealisierungen im »vorwissenschaftlichen Erfahrungsleben«6 aufzudecken versucht.7 Einer derart konzipierten phänomenologischen Wissenschaftstheorie geht es um Aufklärung wissenschaftskonstitutiver Leistungen des vorwissenschaftlichen Bewusstseins. Sie erfordert weniger die intime Kennerschaft empirisch wissenschaftlicher Forschung als vielmehr die in der phänomenologischen Arbeit zu erlernende Fähigkeit eines spezifischen Sehens.8 Unter den verschiedenen wissenschaftsphilosophisch relevanten Überlegungen der Husserlschen Phänomenologie ist vor allem die Analyse des unbefragten Bodens jeder Wissenschaft zu erwähnen, die Husserl in seiner Spätphilosophie unter dem Titel der Lebenswelt entfaltet hat. Mit den Ausführungen zum Lebensweltbegriff vertieft Husserl seine früheren Überlegungen zum Weltglauben als Universalhorizont unserer Erfahrung,9 indem er insbesondere die Bestimmtheit des Welthorizontes durch die menschliche Praxis hervorhebt. Lebensweltliche Praxis ist wesentlich soziale Praxis. In ihr konstituiert sich eine gemeinschaftliche Welt in ihrem intersubjektiv verfügbaren Sinn. Die Welt unserer gemeinschaftlichen Praxis ist darüber hinaus eine geschichtlich gewordene, die als Kulturwelt erfahren wird.10 Dem Programm der in diesem Zusammenhang einschlägigen Krisisschrift entsprechend dient die Husserlsche Lebensweltanalyse sowohl einer phänomenologischen Wissenschaftskritik als auch einer transzendentalphänomenologischen Selbstbesinnung. Kritisch richtet sich Husserl, wie es programmatisch in der Krisis heißt, gegen die mit den modernen Wissenschaften seit Galilei verknüpfte »Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten für die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gegebene, die je erfahrene und erfahrbare Welt«.11 Gegenüber dem mit der modernen Wissenschaft verbundenen Objektivismus der wissenschaftlichen Einstellung, der die von der Wissenschaft erkannte Welt als die eigentlich wahre Welt versteht, verweisen nach Husserl wissenschaftliche Geltungsansprüche auf den Vgl. dazu etwa Hua IV, Hua I sowie Hua XIII-XV. Dies ist im Wesentlichen das Programm der sog. regionalen Ontologien.   6  Hua VI, 357.    7  Vgl. z. B. Hua XVII oder Hua VI, Beilagen II und III (Hua VI, 357 ff. u. 365 ff.).   8  Vgl. Hua XXIX, 129 f.   9  Den sich in allen Modifikationen unserer konkreten Erfahrung durchhaltenden Weltglauben hat Husserl bereits vor seiner Lebensweltanalyse unter dem Schlagwort der »Generalthesis der natürlichen Einstellung« zum Thema gemacht. Vgl. dazu K. Held, »Husserls neue Einführung«, 80 ff., bes. 82 ff. 10  Vgl. E. W. Orth, Edmund Husserls ‚Krisis’, 141 ff. 11  Hua VI, 49.   5 

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Kolloquium 4  ·  Karl Mertens

in allen Korrekturen unserer wissenschaftlichen Einsichten sich stets durchhaltenden Erfahrungsboden der Lebenswelt als Gesamtzusammenhang aller Erfahrbarkeit.12 Die Lebenswelt ist daher der Grund aller wissenschaftlichen Theoriebildung. In wissenschaftskritischer Wendung erscheint dieser als »vergessenes Sinnesfundament« der Wissenschaft.13 Die Untersuchung der nicht mehr hintergehbaren Voraussetzungen unseres wissenschaftlichen, aber auch alltäglich-vorwissenschaftlichen Lebens14 erfordert gemäß Husserl eine besondere, eine transzendentale Einstellung, die konsequent das Wie der Konstitution unserer Lebenswelt und ihrer Gegenstände im subjektiven Bewusstsein zum Thema macht. In der transzendentalphänomenologischen Reflexion interessiert den phänomenologisch eingestellten Philosophen, wie Husserl schreibt, ausschließlich »jener subjektive Wandel der Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi, welcher, ständig verlaufend, unaufhörlich im Dahinströmen sich synthetisch verbindend, das einheitliche Bewußtsein des schlichten ›Seins‹ der Welt zustande bringt«.15 Ziel der phänomenologischen Besinnung auf die Lebenswelt ist daher letztlich auch nicht so sehr die Bestimmung unserer vorwissenschaftlichen Welt, sondern die Aufklärung unseres intentionalen Lebens überhaupt, also die Explikation eines spezifisch transzendentalphänomenologischen Verständnisses von intentional fungierender, weltkonstituierender Subjektivität. Freilich impliziert die These von der Subjektrelativität aller Geltungsansprüche zugleich eine Kritik des wissenschaftlichen Objektivismus.16 Die allem alltäglichen und wissenschaftlichen Tun und Erkennen zu Grunde liegende Lebenswelt einer gemeinsamen, geschichtlich sedimentierten Praxis ist daher im Rahmen der Husserlschen Konzeption selbst ein Konstitutionsprodukt, d. h. Korrelat einer leistenden Subjektivität. Entsprechend ist das Begründungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Lebenswelt und transzendentaler Subjektivität ein einseitiges. So beruht die Psychologie als Wissenschaft auf lebensweltlichen Fundamenten, die ihrerseits in der transzendentalphänomenologischen Reflexion als Konstitutionsprodukt des subjektiven Bewusstseinslebens ausgewiesen werden. – Wenn Husserl in der Krisis einen Weg von der Psychologie in die transzendentale Phänomenologie entfaltet,17 dann stellt er diese Fundierung nicht in Frage. Die Psychologie ist vielmehr trotz ihres thematischen Interesses am Bewusstsein eine Wissenschaft in natürlicher Einstellung. »Hier bewegt sich« – so Husserl – »alles Denken auf dem Boden der selbstverständlich aus Erfahrung für uns seienden Welt.« Erst »[D]er Transzendentalphilosoph«, heißt es weiter, »sieht mit Erstaunen, daß diese ganze Objektivität mit all ihren Wissenschaften ein ungeheures Problem ist«.18 So führt ein Weg in die transzendentale Phänomenologie zwar von der Psychologie aus über K. Held, a. a. O., 82.  Hua VI, 48. 14  Zum Verhältnis von natürlicher und wissenschaftlicher Einstellung vgl. auch K. Held, a. a. O., 91 ff. 15  Hua VI, 149.  16  Vgl. E. W. Orth, a. a. O., 118. 17  Hua VI, §§ 56 ff., S. 194 ff. 18  Hua XXIX, 119. 12  13 

Nach und vor der psychologischen Forschung

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die Zwischenstation einer rein deskriptiven oder phänomenologischen Psychologie als eidetische Wissenschaft.19 Doch erst durch Vollzug der entscheidenden transzendentalen Reduktion wird jene Spielart psychologischer Forschung zur Transzendentalphänomenologie. Diese aber ist keineswegs geltungs- und begründungstheoretisch von der Psychologie abhängig. Im Gegenteil: sie begründet vielmehr ihrerseits die Psychologie. Das skizzierte asymmetrische Begründungskonzept gerät jedoch bereits bei Husserl selbst ins Wanken, wenn er in paradoxer Wendung fragt, wie die Lebenswelt als unhintergehbarer, uns vorgegebener Horizont aller Geltungsansprüche auf Grund von Leistungen einer konstitutiven Subjektivität zu Stande gebracht wird. 20 Sobald nämlich das konstituierende Bewusstsein selbst als bereits lebensweltlich bestimmtes gedacht wird, lässt sich die von Husserl anvisierte Konstitutionsordnung nicht mehr aufrecht erhalten. Das sinnstiftende Subjekt ist dann seinerseits als ein praktisch tätiges, mit anderen interagierendes, von geschichtlichen und kulturellen Traditionen abhängiges Subjekt von dem her zu verstehen, was es nach Husserl doch gerade konstituieren soll. Es ist dieser Gedanke, der die Lebensweltanalyse über Husserl hinausdrängt. Dies lässt sich mit Blick auf Merleau-Ponty skizzieren. Merleau-Pontys Konzeption des »être au monde«, des »Zur-Welt-seins«21 kann als ein über Heideggers »In-der-Welt-sein« vermittelter Versuch verstanden werden, das Husserlsche Lebensweltkonzept weiter zu entfalten. Ausgangspunkt der Phänomenologie Merleau-Pontys sind leiblich verfasste Wesen. Diese sind wesentlich tätige, d. h. sich verhaltende und handelnde Subjekte. Sie sind interessiert an Dingen, mit denen sie umgehen, und an anderen Subjekten, mit denen sie sich auseinandersetzen. 22 – In Merleau-Pontys phänomenologischer Thematisierung leiblicher Intentionalität übernimmt nun der Leib die wissenschaftskritische Rolle der unhintergehbaren Quelle aller Konstitutionsleistungen, die Husserl der transzendentalen Subjektivität zugeschrieben hatte. Die wissenschaftliche Reduktion des Leibes auf den materiellen oder auch biologischen Körper erweist sich gegenüber dem fungierenden Leib als ein unangemessener Objektivismus, während der Versuch, das inkarnierte Bewusstsein im Rekurs auf rein geistige Kategorien zu bestimmen, sozusagen eine Entleiblichung in anderer Richtung

A. a. O., 120 ff., bes. 132. So bestimmt Husserl die transzendentalphänomenologische Reflexion als Reflexion auf »das universale leistende Leben, in welchem die Welt als die für uns ständig in strömender Jeweiligkeit seiende, die uns ständig ›vorgegebene‹ zustande kommt« (Hua VI, 148). Überdies wird die Lebenswelt als Kulturwelt ihrerseits wiederum mitbestimmt durch Leistungen der Wissenschaft und der durch Wissenschaft möglichen Technik. Nach Claesges liegt in der Doppelung von Lebenswelt als Boden einerseits und als wissenschaftliche Leistungen selbst einschließende Lebenswelt andererseits eine grundlegende Zweideutigkeit von Husserls Lebensweltbegriff (U. Claesges, »Zweideutigkeiten«, bes. 87 ff.; vgl. dazu auch Hua VI, 462, sowie K. Held, a. a. O., 107 f.). 21  Vgl. M. Merleau-Ponty, Phénoménologie, V / 7. 22  Leibliche Existenz als Zur-Welt-sein ist der Sache nach wesentlich soziale Existenz. Die soziale Akzentuierung des Zur-Welt-seins wird in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung erst an einer späteren Stelle entfaltet (vgl. a. a. O., 398 ff. / 397 ff.). Sachlich gesehen aber ist die leibliche Existenz als »être au monde« zureichend nur zu verstehen, wenn sie die soziale Sphäre von vornherein einschließt. 19 

20 

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vollzieht. Erst eine Reflexion auf unsere Leiblichkeit macht es möglich, die komplementären Einseitigkeiten sensualistischer und intellektualistischer Ansätze in der psychologischen Forschung herauszustellen und zu kritisieren. Die Phänomenologie des leiblichen Bewusstseins ist daher auch für Merleau-Ponty wissenschaftstheoretische Grundlegungswissenschaft. In seiner kritischen Beschäftigung mit der psychologischen Wissenschaft, insbesondere in der positiven Anknüpfung an Einsichten der gestaltpsychologischen Forschung folgt Merleau-Pontys Phänomenologie der empirischen Wissenschaft aber nicht nur im zeitlichen Sinne. Die phänomenologische Wissenschaftsbegründung ist vielmehr auch in einem systematischen Sinne von der wissenschaftlichen Forschung abhängig. Dies ergibt sich aus einer konsequenten Weiterentwicklung des phänomenologischen Lebensweltkonzeptes. Die philosophische Reflexion ist nämlich für Merleau-Ponty selbst eine Weise des Zur-Welt-seins, die von leiblich verfassten Subjekten in einer geschichtlich-kulturellen Situation vollzogen wird. Phänomenologisches Philosophieren ist daher auf eine kontingente Reflexionssituation bezogen, die unter anderem von den Kontexten konkreter wissenschaftlicher Forschung mitbestimmt wird. Dementsprechend hat Phänomenologie nicht den Status einer sowohl alle Einzelwissenschaft als auch sich selbst letztbegründenden philosophischen Theorie. Allerdings macht es die Aufrechterhaltung des wissenschaftskritischen Anspruchs und des damit verbundenen, wenngleich relativierten phänomenologischen Begründungsgedankens erforderlich, dass die Einsichten der psychologischen Forschung phänomenologisch so zu übersetzen sind, dass sie dem Unternehmen einer Aufklärung der lebensweltlichen Voraussetzungen der Wissenschaft dienlich sein können.

2.  Ein Beispiel: Eine lebensweltlich orientierte phänomenologische Theorie der Wahrnehmung Die Wendung zur Lebensweltproblematik und ihre Vertiefung in Richtung einer Untersuchung des leiblichen Zur-Welt-seins vermag einer phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung einen Leitfaden zu geben. Begonnen sei wieder mit Husserl: Die Auffassung, gegen die sich Husserls Theorie der Wahrnehmung richtet, ist die Vorstellung, Wahrnehmung sei ein passives Rezipieren von Daten durch ein weltloses Subjekt. Unsere Wahrnehmung ist vielmehr – so Husserls Grundüberzeugung – Wahrnehmung eines welthaften leiblichen Subjektes und beruht auf einem Zusammenspiel von Passivität und Aktivität. 23 Wahrgenommenes erscheint dementsprechend in einer Welt, in einem Verweisungszusammenhang. Danach gibt es keine isolierten Wahrnehmungen;

23  Im Rahmen von Husserls Konzeption einer transzendentalphänomenologischen Konstitutionstheorie ist diese Überzeugung allerdings nicht unproblematisch. Offenbar erreicht Husserls wahrnehmungstheoretische Analyse ihr Ziel einer Aufklärung der Konstitution des Wahrnehmungsgegenstandes nur dadurch, dass sie ein im programmatisch strengen Sinne Konstituiertes (den fungierenden Leib) in konstitutiver Bedeutung aufnimmt.

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jede Wahrnehmung ist vielmehr durch Kontexte bestimmt. Wahrgenommen werden immer nur Aspekte, d. h. bestimmte Ansichten eines Dinges oder einer Szene, die ihrerseits auf mögliche weitere Ansichten desselben Wahrgenommenen verweisen. 24 Für das Mitverstehen nicht gegebener Aspekte des Wahrgenommenen sind die kinästhetischen Möglichkeiten des wahrnehmenden Subjektes entscheidend. Die leibliche Beweglichkeit konstituiert daher die Wahrnehmungswirklichkeit. Wahrnehmung involviert wesentlich Aktivität. Was wir sehen, hören usw., wird mitbestimmt von dem, was wir tun und was wir tun können. Das Lebensweltkonzept legt nun nahe, darüber hinaus die menschliche Wahrnehmung auch in ihrer kulturellen Prägung zu thematisieren. Unsere Wahrnehmung ist demzufolge eingelassen in menschliche Handlungskontexte. Aus diesen gewinnt das Wahrgenommene seine spezifische Bedeutsamkeit. Vieles von dem, was wir wahrnehmen, ist mit bestimmten praktischen Möglichkeiten und Interessen verbunden. Solche Möglichkeiten erfassen Wahrnehmende jedoch in der Regel nicht für sich allein, sondern in der Verständigung mit anderen. Der in solchen Verständigungssituationen kommunizierte Sinn wiederum ist häufig ein geschichtlich gewordener. Eine Buchstütze z. B. ist ein Kulturgegenstand, dessen Gebrauch wir erlernt haben. Wer solche Handlungskontexte nicht angemessen erfasst, etwa weil er einer anderen Kultur angehört, der sieht einen anderen Gegenstand – an Stelle der Buchstütze z. B. ein merkwürdiges Ding, das auf einem Brett herumliegt.25 Das Lebensweltkonzept bietet insofern entscheidende Impulse für eine Akzentuierung der praktischen, sozialen und damit auch geschichtlichen Aspekte unserer Wahrnehmung. 26 Dass die Analyse solcher Wahrnehmungsaspekte nicht im Ausgang von einem exklusiven Verständnis des konstituierenden subjektiven Bewusstseins möglich ist, wird bei Husserl selbst bereits deutlich. Denn in seinen Untersuchungen erweist sich das leibliche Verhalten als konstituionstheoretisch notwendige Bedingung der Wahrnehmung. Eine am Lebensweltbegriff orientierte Theorie der Wahrnehmung verlässt daher das Terrain einer reinen Bewusstseinsanalyse, wie sie der Husserlschen Phänomenologie (zumindest in ihrer klassischen Gestalt) eigen ist und bedenkt die konstitutiven Leistungen unseres Verhaltens und Handelns. Vor allem die Aufklärung der sozialen und geschichtlichen Dimension der Wahrnehmung erfordert die Berücksichtigung von Sinngestalten, die nicht vollständig das Konstitutionsprodukt meiner Sub-

Vgl. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 27. Für Husserl ist der Wahrnehmungsgegenstand die synthetische Einheit seiner wirklichen und möglichen Gegebenheitsweisen (Hua VI, 169; vgl. Hua XVI, 189). Sie terminiert in der Idee einer vollkommenen Dingwahrnehmung bzw. 24 

Dinggegebenheit. Husserl spricht von einer »›Idee‹ (im Kantischen Sinn)« (Hua III / 1, 331). Diese bezeichnet das unendliche Kontinuum von Erscheinungen desselben Gegenstandes (vgl. a. a. O., 329 ff.). 25  Solche Bestimmtheiten sind unabhängig von der Frage, ob das wahrgenommene Ding auch in der ihm spezifischen Weise genutzt wird oder nicht. Ich kann z. B. eine Buchstütze sehen, sie aber benutzen, um sie unter ein zu kurzes Tischbein zu schieben. 26  Allerdings hat Husserl in seiner Wahrnehmungstheorie diesen Gedanken lediglich in Ansätzen ausgeführt (vgl. K. Mertens, »Kontextualität des Verstehens«, 192 ff., bes. 195 ff.).

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jektivität sind, sondern in Verständigungsprozessen des gemeinschaftlichen Handelns und Sprechens gründen. Dabei zeigt sich, dass mitunter das, was getan wird, von den Teilnehmern selbst nicht voll verstanden wird. Zu denken ist hier beispielsweise an die Sphäre unseres institutionellen Handelns. Doch erst Merleau-Ponty, der in seiner 1945 publizierten Phänomenologie der Wahrnehmung die philosophischen Bemühungen Husserls weiterführt, nimmt eine entscheidende Korrektur der phänomenologischen Wahrnehmungstheorie vor, indem er das leiblich situierte Subjekt in seiner konstitutionstheoretisch fundamentalen Bedeutung herausstellt. Wird das Wahrnehmungsfeld als Korrelat eines inkarnierten, sich leiblich verhaltenden Bewusstseins verstanden, dann ist auch die Ursprünglichkeit der sozialen Dimension in der Theorie der Wahrnehmung anzuerkennen. Denn Wahrnehmen als leibliches Verhalten ist eingebettet in eine soziale Welt. Nur deshalb kann Merleau-Ponty seine wahrnehmungsphänomenologische Grundlagenreflexion auch in einer kritischen Diskussion psychopathologischer Fälle gewinnen, d. h. im Ausgang von Wahrnehmungen, die gerade nicht meine Wahrnehmungen sind. 27 Allerdings löst er dadurch das Problem der Wahrnehmung nicht in einer Theorie des bloßen Verhaltens auf. Denn eine vom leiblichen Verhalten ausgehende phänomenologische Wahrnehmungsanalyse bleibt auf die Perspektive wahrnehmender Subjekte bezogen. Beteiligung bzw. Involviertheit des Wahrnehmenden gehört wesentlich zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung. Dies zeigt sich etwa auch in der affektiven Verankerung des Wahrnehmungsphänomens, die am Grunde der Möglichkeit unserer synästhetischen Erfahrung wirkt. So heißt es in Merleau-Pontys Causerien: »Die Einheit eines Dinges bleibt solange rätselhaft, wie man dessen verschiedene Qualitäten (dessen Farbe, dessen Geschmack zum Beispiel) als ebenso viele Daten ansieht, die die streng unterschiedenen Welten des Gesichts-, Geruchs-, Tastsinns usw. betreffen. Aber gerade die moderne Psychologie hat … darauf aufmerksam gemacht, dass jede dieser Qualitäten … eine affektive Bedeutung besitzt, die sie mit denjenigen der anderen Sinne in Beziehung setzt. Wer zum Beispiel schon einmal für eine Wohnung Tapeten auszuwählen hatte, weiß sehr wohl, dass jede Farbe eine bestimmte Stimmung auslöst, die sie traurig oder heiter, bedrückend oder belebend wirken lässt; und da es sich bei den Klängen oder den taktilen Daten ebenso verhält, kann man sagen, dass jeder Farbe ein bestimmter Klang oder eine bestimmte Temperatur entspricht.«28 Dem phänomenologischen Selbstverständnis nach haben solche Überlegungen, mögen sie auch gelegentlich in einer kritischen Auseinandersetzung mit der empirischwissenschaftlichen Forschung entwickelt werden, primär nun gerade keine wissenschaftstheoretische oder wissenschaftskritische Aufgabe. Sie sind in diesem Sinne phänomenologischer Selbstzweck. Paradigmatisch für diese Position möchte ich eine Bemerkung von Manfred Sommer zitieren, die dieser im Anschluss an Überlegungen zum Unterschied zwischen der eigenen Erfahrung und der physiologischen Vermessung unseres sprunghaften Auges macht: »Ich sehe die Aufgabe philosophischer Wahrneh27  28 

Diesen Hinweis verdanke ich Regula Giuliani. M. Merleau-Ponty, Causerien, 25 f.

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mungsanalyse nicht darin, die Konsequenzen aus dem zu ziehen, was uns die psychologischen und physiologischen Forschungen an Erkenntnissen liefern; so sehr es heuristisch nützlich ist, diese zu kennen. Eher ist es umgekehrt: Der philosophische ›Diskurs‹ hat, in ihrer leiblichen Ausprägung und lebensweltlichen Einbettung, diejenigen Phänomene umsichtig und genau zu beschreiben, welche die empirische Forschung uns dann bitteschön kausal erklären und quantitativ aufschlüsseln möge. Angesichts des Umstandes, daß dort die Erzeugung von Hypothesen – nicht ihre Prüfung – oft noch durch Berufung auf ein ›intuitives Wissen‹ oder einen ›Stand der Forschung‹ geschieht, zu deutsch: durch naive Naturwüchsigkeit und szientistischen Inzest, ist das philosophische Ansinnen vielleicht nicht gar so arrogant, wie es zunächst den Anschein hat. Daß eine methodisch-empirische Bearbeitung … Unzulänglichkeiten und Fehler der philosophischen Deskription an den Tag brächte, wäre natürlich nicht zu befürchten – sondern zu erhoffen.«29 Eine solche Position ist nicht wissenschaftsfeindlich; sie lässt sich sogar von der wissenschaftlichen Forschung selbst befruchten. Aber – Merleau-Ponty wäre dafür ein Beispiel – immer geht es dabei um Vergewisserung des phänomenologischen Bestandes einer genuin autarken Erfahrungssphäre. Die hier relevanten wissenschaftlichen Einsichten bedürfen daher einer eigenen phänomenologischen Auslegung.

3.  Ausflug in die Wahrnehmungspsychologie War die Blickrichtung der bisherigen Überlegungen eine phänomenologische, so möchte ich nun fragen, inwiefern es auch von einem psychologischen Standpunkt aus lohnend sein könnte, phänomenologische Überlegungen aufzugreifen. Wer es dabei als Phänomenologe vermeiden möchte, Vertretern einer empirischen Wissenschaft zu sagen, warum sie sich gefälligst mit phänomenologischen Analysen zu beschäftigen haben, tut gut daran, sich an dem zu orientieren, was Psychologen selbst sagen und schreiben. Er sollte dabei davon ausgehen, dass phänomenologische Einsichten der oben skizzierten Art auch außerhalb professioneller Phänomenologie formuliert werden können. Da es um strukturelle Überlegungen geht, bietet sich (zumindest im ersten Anlauf) der größere Distanz zulassende Blick in die Wissenschaftsgeschichte an. So möchte ich im Folgenden – wie im Übrigen zuvor für die phänomenologische Selbstverständigung ja auch – einen Blick auf einen Ausschnitt der Geschichte der Wahrnehmungspsychologie werfen. Dabei lasse ich mich leiten von der Diagnose eines Fachmannes. Der Wahrnehmungspsychologe Manfred Ritter hat in seiner Einführung zum Sammelband Wahrnehmung und visuelles System vier Ansätze ausgezeichnet, durch die im 20.  Jahrhundert die Psychologie der visuellen Wahrnehmung, also das Gebiet in der Wahrnehmungspsychologie, das am besten erforscht ist, auf eine neue Grundlage gestellt wurde. Es sind dies erstens die gestaltpsychologischen Arbeiten von Theodor Erismann und Ivo Kohler über Anpassung und Lernen in der Wahrnehmung, zweitens

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M. Sommer, Suchen und Finden, 135.

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der ökologische Ansatz von James J. Gibson, drittens die Zyklustheorie der Wahrnehmung von Ulric Neisser und viertens David Marrs computationale Untersuchung der visuellen Wahrnehmung.30 Bis ins 20.  Jahrhundert ist die neuzeitliche Theorie der visuellen Wahrnehmung beherrscht von der Analogie zwischen der Funktionsweise des Auges und derjenigen einer Kamera bzw. ihrem historischen Vorläufer, der Camera obscura. 31 Nach dieser Auffassung wird auf der Retina wie auf dem Film eines Fotoapparates oder dem Beobachtungsschirm in der Camera obscura eine wahrgenommene Szene umgekehrt und seitenverkehrt abgebildet. Sehen ist danach so etwas wie das Sehen von Bildern auf der Retina. Den Versuch, den Wahrnehmungsvorgang auf direkte Entsprechungen zwischen Reizen der Wirklichkeit und Wirkungen auf den Wahrnehmenden zurückzuführen, kultivierte vor allem der klassische Behaviorismus. Ziel der behavioristischen Psychologie ist es, in kritischer Zurückweisung introspektionistischer Methoden die Psychologie auf die Basis von Experimenten zu stellen, die öffentlich beobachtbar und kontrollierbar sind. 32 Bei der Erforschung der visuellen Wahrnehmung gehen behavioristische Forscher in ihren Experimenten von möglichst schlichten und physikalisch klar definierten Reizmustern aus, die die Versuchspersonen aus einem festen Abstand und mit fixiertem Blick betrachten. Der Spielraum des möglichen Verhaltens der der Reizwirkung ausgesetzten Versuchspersonen ist in solchen Experimenten klar vorstrukturiert und soll einfache Zuordnungen zwischen Reiz und Reaktion ermöglichen. 33 – Die Arbeiten von Kohler, Gibson, Neisser und Marr stellen die Voraussetzungen einer solchen Wahrnehmungsforschung grundlegend in Frage. 34 Gemeinsam ist diesen Ansätzen eine Kritik der Abbildtheorie des Sehens, allgemeiner der empiristischen Auffassung von einem wesentlich statischen und passiven Wahrnehmungssystem. In ihren Langzeitexperimenten mit Umkehr- und Prismenbrillen wiesen Erismann und Kohler nach, dass unser Wahrnehmungssystem sich offenbar in relativ kurzer Zeit auf eine grundlegend veränderte Wahrnehmungssituation einzustellen vermag, in der die Richtungen ›oben und unten‹ sowie ›rechts und links‹ systematisch durch Umkehrbrillen verkehrt werden oder die gewohnte Ordnung der wahrgenommenen Welt durch bildverzerrende Prismen durchgängig gestört wird. Die Berichte und das Verhalten der Versuchspersonen verdeutlichen, dass die Personen anfänglich enorme Schwierigkeiten haben, wenn sie sich in einer solchermaßen grundlegend veränderten

M. Ritter, »Einführung«, 7 (hier in abweichender Reihenfolge); Ritter erweitert und ergänzt seine Ausführungen in der von ihm herausgegebenen zweiten Auflage der deutschen Ausgabe des Lehrbuchs von E. B. Goldstein, Wahrnehmungspsychologie (M. Ritter: »Vorwort und Einleitung«, XV–XIX). 31  Auf die Camera obscura rekurriert z. B. Descartes im 5. Kapitel seiner Dioptrique (Descartes, Dioptrique, 114 f.). Die historischen Ursprünge der Camera obscura ebenso wie ihre Verwendung im Zusammenhang einer Erklärung des Sehens sind nach Wiesing nicht »eindeutig gesichert« (L. Wiesing, »Einleitung«, 22 f.). 32  Vgl. U. Neisser, Kognition und Wirklichkeit, 13 ff. 33  Vgl. M. Ritter, »Einführung«, 7. 34  Zum Folgenden insgesamt a. a. O., 7 ff. 30 

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Wahrnehmungswelt zielgerichtet bewegen wollen. 35 Nach nur wenigen Tagen beginnt jedoch eine derart gestörte Wahrnehmungswelt sich wieder zu normalisieren. So heißt es bei Kohler: »Versuchspersonen, welche die Umkehrbrille trugen, behaupteten nach etwa einer Woche ›aufrecht‹ zu sehen; solche mit Prismenbrille klagten schon nach wenigen Tagen kaum mehr über die Fülle verwirrender Eindrücke«.36 Eine Versuchsperson mit Umkehrbrille »unternahm nach drei Tagen eine Farradtour, am fünften [sogar] eine Skifahrt!«37  – Die sog. Innsbrucker Brillenversuche haben einen charakteristischen Verlauf: In der ersten Phase sind die Versuchspersonen in ihrem Handeln und Verhalten durch ihre Wahrnehmungen erheblich gestört; diese Störungen werden in der zweiten Phase bewusst korrigiert; in der dritten und letzten Phase schließlich hat sich eine neue – gewohnte – Wahrnehmungswelt eingestellt. 38 Was diese Versuche zeigen, ist zum einen die erstaunliche Lern- und Anpassungsfähigkeit des menschlichen Wahrnehmungssystems. Zum anderen stellen die Ergebnisse der Brillenexperimente den unmittelbaren und konstanten Zusammenhang zwischen visueller Wahrnehmung und Netzhautbild systematisch in Frage. Denn Versuchspersonen können trotz unterschiedlicher auf der Retina abgebildeter Bilder die gleiche Szene wahrnehmen.39 Unser Wahrnehmungssystem ist offenbar zu Verarbeitungsprozessen in der Lage, die unabhängig von der spezifischen Gestalt des Netzhautbildes unsere gewohnte Wahrnehmungswelt hervorbringen. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass die »aktive, motorische Auseinandersetzung mit der Umwelt« für die Wiederherstellung der normalen Wahrnehmung entscheidend ist.40 – Die Ergebnisse der Brillenversuche bieten demnach einen eindrucksvollen empirischen Beleg gegen den Vergleich des menschlichen Sehens mit dem bloßen Aufzeichnen einer Kamera und einen deutlichen Hinweis auf die wahrnehmungsstrukturierende Bedeutung unseres Handelns und Verhaltens. Philosophisch interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Innsbrucker Brillenversuche nicht als neutrale wahrnehmungstheoretische Experimente verstanden werden können. Vielmehr sind sie von grundlegenden Annahmen über die Natur unserer Wahrnehmung geleitet, die das Experiment allererst möglich machen.41 Denn der Wahrnehmende wird hier nicht länger als ein in einer künstlichen Umwelt Reize empfangender Rezeptor verstanden, sondern erscheint in seiner wahrnehmungsstrukturierenden Bedeutung als ein sich zur Welt verhaltender und handelnder Mensch. In der Sache ist das eine Wende zur Analyse der Wahrnehmung in ihrem lebensweltlichen Kontext. I. Kohler, »Gedanken«, 111. A. a. O., 112.  37  A. a. O., 111. 38  A. a. O., 111 f. 39  Zur Kritik der Konstanzannahme – d. h. einer konstanten Beziehung zwischen Reiz und Reizeffekt – siehe I. Kohler, »Die Methode des Brillenversuchs«, 386 ff. 40  M. Ritter, a. a. O., 9.  Zur methodischen Besonderheit der Innsbrucker Brillenversuche gegenüber dem Behaviorismus, Nativismus und gegenüber früheren Ansätzen der Gestaltpsychologie siehe I. Kohler, »Die Methode des Brillenversuchs«, 386; vgl. auch a. a. O., 381 f. sowie 409, Anm. 2. 41  Kants berühmtes Diktum zur leitenden Hinsicht der Experimente von Galilei, Torricelli und Stahl lässt sich auf den skizzierten Kontext leicht übertragen (I. Kant, Kritik, B XII–XIV). 35 

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Vor allem Gibson kritisiert die Tauglichkeit der Experimente des klassischen Behaviorismus und ihrer Orientierung an der Idee einer Entsprechung zwischen wahrgenommener Szene und Netzhautbild. Dem künstlichen »Schnappschußsehen« oder »Lochsehen«, wie Gibson es nennt, stellt er in seinem ökologischen Ansatz das Programm einer experimentellen Untersuchung unseres natürlichen Sehens entgegen.42 Dieses versteht Gibson als ein Sehen, das nicht im Kopf, sondern in einer Umwelt stattfindet. Die Bedeutung des Gesehenen führt er dabei auf dessen Relevanz für unser Verhalten und Handeln in der Welt zurück. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung von Invarianz, d. h. die Feststellung der Konstanz von Objekten und Ereignissen in den Transformationen der visuellen Wahrnehmung.43 So können wir etwa die gleiche Größe unterschiedlich entfernter Gegenstände aufgrund der Textur des Bodens bestimmen, ohne dass dafür eigene kognitive Zwischenschritte in Rechnung zu stellen sind.44 Ein anderes von Gibson untersuchtes Phänomen ist beispielsweise das optische Fließen, das Informationen über die Bewegungsrichtung und die Bewegungsgeschwindigkeit des Wahrnehmenden enthält.45 Wichtig ist in diesem Zusammenhang Gibsons Begriff der Affordanz (»affordance«), mit dem die Passung zwischen Wahrnehmungsumwelt und dem praktischen Interesse des wahrnehmenden Wesens bezeichnet wird. Nach Gibson werden nämlich die umweltlichen Dinge oder Ereignisse in ihrer Bedeutung für ein bestimmtes Verhalten und Handeln unmittelbar wahrgenommen.46 Das »Sehen von Dingen [schließt] zugleich das Sehen [ein], wie man mit diesen Dingen umgehen kann, was man damit machen oder nicht machen kann. Wenn dem so ist, dann dient die visuelle Wahrnehmung dem Verhalten, und das Verhalten steht zugleich unter der Kontrolle der Wahrnehmung. Ein unbewegter Beobachter, der nur dasteht und schaut, zeigt in diesem Moment sicherlich kein besonderes Verhalten; aber trotzdem kann er, wohin immer er schaut, sich nicht gegen das Wahrnehmen von Angeboten für ein mögliches Verhalten wehren.«47 – Auch dieser Theorie geht es fraglos um eine wissenschaftliche Aufklärung der Wahrnehmung in ihrer lebensweltlichen Verankerung und Bedeutung. Kritisch gegenüber Gibsons ökologischer Wahrnehmungstheorie wurde jedoch vermerkt, dass sie einseitig die Bedeutung der Umweltinformationen für die Wahrnehmung betont und die wahrnehmungsstrukturierende Rolle des praktisch interessierten Wesens übergeht. Ausgangsbasis der Gibsonschen Theorie sei vielmehr ein theoretisch vorauszusetzendes – und allenfalls evolutionär zu erklärendes – feststehendes Passungsverhältnis zwischen Wahrnehmungsreizen und einer Struktur des wahrnehmenden Organismus. Aus phänomenologischer Sicht ist dieser Kritik am ökologischen Ansatz und seiner Marginalisierung der Rolle des Wahrnehmenden zuzustimmen. Allerdings macht Gibson auf J. J. Gibson, Wahrnehmung und Umwelt, 3.  Vgl. auch zum Folgenden R. Guski, Wahrnehmung, 70 ff., E. B. Goldstein, Wahrnehmungspsychologie 2002, 328 ff., sowie ders., Wahrnehmungspsychologie 2008, 238 ff. 44  Vgl. Gibson, a. a. O., 177.  45  Vgl. a. a. O., 133 u. 134. 46  M. Ritter, »Einführung«, 9. – »In diesem Sinne ist Gibsons Ansatz als ein ökologischer (umweltbezogener) zu verstehen.« (I. Kohler / G. Lücke, »Vorwort«, IX) 47  Gibson, a. a. O., 240. 42  43 

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einen wichtigen Aspekt des Wahrnehmungsphänomens aufmerksam, den jede Theorie der Wahrnehmung erklären muss: dass nämlich Wahrnehmende phänomenal um- und mitweltliche Vorgegebenheiten erfahren. Das Wahrgenommene ist, phänomenologisch gesprochen, ein Noema – auch dann, wenn es sich in wissenschaftlicher oder phänomenologischer Analyse als Produkt spezifischer Leistungen ausweisen lässt. Wie Kohler und Gibson richtet sich der Kognitionspsychologe Neisser gegen die Auffassung, unsere Wahrnehmung bestehe in retinalen Abbildern der Wirklichkeit. Neisser kritisiert jedoch Gibsons ökologische Wahrnehmungstheorie, nach der die Verhaltens- und Umweltstrukturen direkt wahrnehmbar sind. Demgegenüber stellt er die wirklichkeitskonstruierenden Leistungen des Wahrnehmenden ins Zentrum seiner Wahrnehmungstheorie. Anders als Gibson sieht Neisser den Grund dafür, dass bestimmte Strukturen der Umwelt für den Wahrnehmenden ausgezeichnet sind, in kognitiven Schemata, die die Aufnahme von Informationen in der Wahrnehmung organisieren und die er in seiner Untersuchung des sog. Wahrnehmungszyklus herausarbeitet. Danach leiten bestimmte Erwartungen, sog. antizipierende Schemata, zunächst die Erkundungstätigkeiten des Wahrnehmenden, d. h. seine Augen-, Kopf- und Körperbewegungen, die wiederum die Wahrnehmung von Objekten ermöglichen. Die auf diese Weise zu Stande kommende Wahrnehmung führt ihrerseits zur Veränderung der die weitere Wahrnehmung antizipierenden Schemata usw.48 – Neissers Überlegungen scheinen auf den ersten Blick Parallelen zur phänomenologischen sowie gestalttheoretischen Einsicht in die wahrnehmungskonstitutive Bedeutung des Subjektes aufzuweisen. Doch zum einen wird hier die Perspektive des Wahrnehmenden abgelöst, ja aufgelöst durch den Bezug auf das sog. Wahrnehmungssystem. Damit zusammenhängend stellt sich zum anderen aus Sicht einer lebensweltlich orientierten Phänomenologie der Wahrnehmung die Frage, ob in der kognitionspsychologischen Perspektive nicht die grundlegende Bedeutung der Kontexte des Verhaltens und Handelns für unsere Wahrnehmung – und das heißt vor allem die mit einem Leib gegebene Ursprünglichkeit des Zur-Welt-seins, die der ökologische Ansatz im Blick hat – ausgeblendet wird. Der Akzent von Neissers kognitionspsychologischer Untersuchung liegt nämlich gerade nicht auf den leiblich fundierten praktischen Interessen des Wahrnehmenden, sondern auf bestimmten Meinungen und Überzeugungen, die den Wahrnehmungsprozess steuern. Die Welt entsteht dabei sozusagen im Kopf. Wahrnehmung wird zu einem Konstrukt.49 Wohin dies tendenziell führt, sieht man in Marrs computationaler Theorie der Wahrnehmung. David Marr geht es um die Untersuchung unseres Wahrnehmungssystems mit Hilfe der Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz-Forschung. Die Grundidee dieses Ansatzes ist Vgl. U. Neisser, a. a. O., 11 f. u. 26 ff.; vgl. R. Guski, a. a. O., 77 f. Das Schema vermittelt dabei zwischen Vergangenheit und Zukunft – mit den Worten Neissers: »bereits erworbene Information bestimmt, was als nächstes aufgenommen werden soll.« Dies ist nach Neisser »der dem Gedächtnis zugrundeliegende Mechanismus« (U. Neisser, a. a. O., 27). 49  A. a. O., 26: »Wahrnehmung ist tatsächlich ein konstruktiver Prozeß, aber was konstruiert wird, ist nicht ein Vorstellungsbild, im Bewußtsein erscheinend und dort vom inneren Menschen bewundert. In jedem Augenblick konstruiert der Wahrnehmende Antizipationen bestimmter Arten von Information, die ihn dazu befähigen, sie aufzunehmen, wenn sie verfügbar werden.« 48 

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der Gedanke der Simulation. Die Leistungen, zu denen natürliche Wahrnehmungssysteme wie das unsere in der Lage sind, sollen mit Hilfe der Entwicklung künstlicher Maschinen, d. h. informationsverarbeitender Systeme, nacherzeugt werden, die die natürlichen Wahrnehmungsaufgaben auf der Basis von Algorithmen lösen. Auch diese Orientierung verhält sich grundlegend kritisch zur Kamera-Analogie des Sehens. Das Erste, was nach Marr die Durchführung eines solchen Forschungsprogramms voraussetzt, ist die Formulierung einer klar definierten Aufgabe für die Informationsverarbeitung. 50 So steht z. B. die computationale Erfassung der Wahrnehmung rotierender Körper vor dem Problem, erklären zu müssen, wie das Wahrnehmungssystem aus einer begrenzten Zahl sich bewegender Punkte die Wahrnehmung eines sich bewegenden festen räumlichen Objektes gewinnt.51 Bei der Projektion eines unbewegten dreidimensionalen Körpers auf einen flächigen Beobachtungsschirm erscheint nämlich eine zweidimensionale Figur. Wird der Körper jedoch bewegt, so sehen wir in den kontinuierlichen Veränderungen einen rotierenden räumlichen Körper. Der nächste Schritt ist die Entwicklung eines Programms, das die gestellte Aufgabe lösen kann. Im genannten Beispiel bedarf es etwa einer Bestimmung der geometrischen Minimalbedingungen zur rechnerischen Ermittlung des dreidimensionalen Körpers aus der Veränderung zweidimensionaler Figuren und ihrer algorithmischen Formulierung. Da das Programm – der Annahme gemäß – von der spezifischen Hardware, in der es realisiert wird, unabhängig sein soll, lassen sich in einem dritten Schritt schließlich die von der Neurophysiologie untersuchten neuronalen Prozesse als eine Entsprechung zur Hardware eines Computerprogramms verstehen. Dabei geht es um eine rein funktionale Erklärung bestimmter Leistungen der natürlichen Wahrnehmung. Der computationale Ansatz ist offenbar in der gegenwärtigen Wahrnehmungspsychologie von zentraler Bedeutung. Er ist geradezu die Eintrittskarte in die wahrnehmungspsychologische Forschung. Schlägt man in dem an amerikanischen und deutschen Universitäten gängigen wahrnehmungspsychologischen Lehrbuch von E. Bruce Goldstein nach, findet man gleich zu Beginn die folgende Aufforderung: »Stellen Sie sich einmal vor, man hätte Ihnen das folgende hypothetische wissenschaftliche Projekt übertragen: … Entwickeln Sie ein Gerät, das alle Objekte in der Umwelt lokalisieren, beschreiben und identifizieren kann, einschließlich ihrer Distanz zum Gerät und ihrer Beziehungen untereinander. Das Gerät muss darüber hinaus in der Lage sein, sich von einem Ort zum anderen fortzubewegen und dabei Hindernisse entlang des Weges zu umgehen.«52 Dass es sich hier nicht einfach um eine heuristische Idee wahrnehmungspsychologischer Forschung, sondern um den Kern einer reduktionistischen Anthropologie handelt, zeigt die in der Fortsetzung genannte »Zusatzaufgabe«: »Bringen Sie dem Gerät bewusstes Erleben bei, wie es Menschen beim Betrachten einer Szenerie haben.«53 Die menschliche

50  Vgl. auch zum Folgenden M. Ritter, »Einführung«, 9 f.; E. B. Goldstein, Wahrnehmungspsychologie 2002, 205 ff. 51  Ein Vorläufer dieser Fragestellung findet sich in Helmholtz’ Zeichentheorie der Wahrnehmung (H. v. Helmholtz, »Fortschritte«; vgl. hierzu auch R. Mausfeld, »Wahrnehmung«). 52  E. B. Goldstein, Wahrnehmungspsychologie 2008, 1. 53  Ebd.

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Wahrnehmung ist in diesem Zusammenhang nur noch ein bereits realisiertes »Modell« eines solchen Projektes: »Unser Ziel ist es,« so heißt es später, »das menschliche Modell zu verstehen, angefangen bei den Detektoren – den Augen, Ohren, Hautrezeptoren und den Rezeptoren in Nase und Mund – bis hin zum Computer – dem Gehirn.«54 Was in einer solchen programmatischen Einführung zuerst verloren geht, ist die Erfassung phänomenaler Aspekte unserer Wahrnehmungserfahrung. Auf diese kann jedoch, wie Marr selber wusste, die wissenschaftliche Forschung nicht verzichten.55 Der phänomenalen Analyse der Wahrnehmung gebührt in der Wahrnehmungspsychologie sogar ein methodischer Vorzug. Denn jede Untersuchung der Wahrnehmung setzt ein Verständnis der thematischen Wahrnehmungsphänomene voraus, ohne die die wissenschaftliche Arbeit kein Explanandum hätte. In der Regel begnügt sich der Wissenschaftsbetrieb dabei mit einer intuitiven Verständigung über die zu untersuchenden Phänomene – jeder scheint sie zu kennen. Doch spätestens in Zeiten, in denen die Grundlagen des Verständnisses der Wahrnehmung strittig sind, wird deutlich, dass eine angemessene Explikation unserer phänomenalen Erfahrung einer eigenen Übung bedarf und sich nicht blind von naiven Intuitionen und der Weise, wie wir uns üblicherweise verständigen, leiten lassen kann. Die Kritik an der unbefragten Naivität abbildtheoretischer Auffassungen der Wahrnehmung in den skizzierten handlungs-, umwelt- und kognitionsorientierten sowie computationalen Ansätzen bieten dafür wahrnehmungspsychologische Beispiele. Wissenschaftliche Wahrnehmungsforschung, wie sie etwa in physiologischen oder computationalen Untersuchungen betrieben wird, verfährt ihrerseits zwar nicht phänomenologisch, muss aber auf die phänomenale Erfahrung – oder besser: auf Aspekte der phänomenalen Erfahrung – bezogen sein, wenn sie wissenschaftlich fruchtbare Ergebnisse zu einer Theorie unserer Wahrnehmung beisteuern will. Der derzeit die Wahrnehmungspsychologie dominierende computationale Ansatz mag dabei für bestimmte technische und wissenschaftliche Fragestellung heuristisch wertvoll sein. So kann eine funktional interessierte Betrachtung etwa zeigen, wie ein Programm aussehen müsste, das die Motorik eines Körpers bestimmt, der Zusammenstöße mit Hindernissen zu vermeiden versucht. Doch es wäre ein gravierendes Missverständnis, würde man glauben, mit Hilfe technizistischer Modelle das ganze Phänomen unserer Wahrnehmung zureichend erfassen zu können. Denn ein solcher Ansatz wäre keineswegs in der Lage, beispielsweise die im vorigen Abschnitt angedeutete kulturelle Dimension lebensweltlicher Wahrnehmungszusammenhänge zu erfassen. Kategorien der sozialen Praxis und der in ihr vermittelten Geschichte haben im computationalen Modell keinen Platz. Entsprechendes gilt auch für die Verabsolutierung anderer wahrnehmungstheoretischer Zugänge, etwa (neuro)physiologischer oder evolutionärer Erklärungen usw. Gegenüber allen Tendenzen zu einseitigen Analysen ist es die Aufgabe der Phänomenologie, auf die jedem Reduktionismus innewohnenden Verstellungen hinzuweisen. Der Phänomenologie geht es dabei nicht um Überbietung der A. a. O., 2. D. Marr, Vision, 4, betont die Unverzichtbarkeit der Perspektive des gewöhnlichen Menschen, der weiß, was Sehen ist. Außerdem ist er hinsichtlich eines Vergleichs zwischen Hirn und Computer sehr vorsichtig. 54  55 

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Beiträge nicht-philosophischer Wahrnehmungswissenschaften. Das Anliegen phänomenologischer Arbeit ist vielmehr die Schulung einer Aufmerksamkeit auf das, »worauf man beinahe von selbst gekommen wäre« und damit die Erinnerung an unsere phänomenale Erfahrung, die gegebenenfalls in den Dienst einer »Rettung der Phänomene« tritt.56 Das aber ist eine Aufgabe, die im Interesse der Wahrnehmungspsychologie selbst liegt, solange es ihr um die Erforschung uns alltäglich vertrauter Phänomene geht. Der Bezug auf eine phänomenale Sphäre sichert der Wahrnehmungstheorie zugleich ihre Einheit. Die verschiedenen wahrnehmungstheoretischen Zugänge haben dabei den Charakter von sich einander ergänzenden Beiträgen zur Untersuchung der Wahrnehmung.57 Als ein Unternehmen, das die ursprüngliche Wahrnehmungserfahrung zum Thema macht, hat die Phänomenologie eine grundlegende, jedoch ihrerseits das wissenschaftliche Geschäft nur ergänzende und begleitende Funktion. Phänomenologische Einsichten in einem so verstandenen interdisziplinären Gesamtunternehmen sind nicht an bestimmte Themen und Gegenstände gebunden, wohl aber an eine ausgezeichnete Perspektive bzw. Einstellung. Phänomenologie bemüht sich, ihrem klassischen Selbstverständnis entsprechend, um eine kritische – ggf. auch korrektive – Explikation der phänomenalen Sphäre, die den Gegenständen, Begriffen oder Methoden wissenschaftlicher Forschung zu Grunde liegt. Eine prominente Aufgabe in diesem Zusammenhang ist neben der angemessenen Erfassung der von der Wissenschaft untersuchten Phänomene mit Sicherheit auch die Erforschung der lebensweltlichen Verankerung des wissenschaftlichen Erkennens, Tuns und Sprechens selbst und damit die Klärung von Voraussetzungen der Konzeption und Durchführung wissenschaftlicher Experimente, der Anwendung und Bildung von Methoden und Modellen, des Gebrauchs von Metaphern und Analogien usw. Phänomenologen oder der Sache nach phänomenologisch argumentierende Wissenschaftler beziehen dabei genuin antireduktionistische Positionen. Freilich ist die Phänomenologie ihrerseits immer nur eine Ergänzung – der wissenschaftlichen Forschung, aber auch der Wissenschaftsphilosophie. Denn eine phänomenologische Wissenschaftstheorie erhebt nicht den Anspruch, alle Fragen der Wissenschaftsphilosophie thematisieren zu können. An ihre charakteristischen Grenzen stößt sie z. B. dort, wo es um die Untersuchung der internen logisch-argumentativen Struktur wissenschaftlicher Theorien oder um logisch-semantische Aspekte wissenschaftlicher Begriffsbildung geht. 58 In diesem Sinne möchte ich mit einer Trivialität schließen: Eine phänomenologische Wissenschaftstheorie kann wichtige Einsichten in

Vgl. H. Blumenberg, Zu den Sachen, 9 und 190. So orientiert sich z. B. Goldstein in seinem Lehrbuch keineswegs nur am computationalen Modell, sondern arbeitet mit einer Vielheit von wahrnehmungstheoretischen Methoden, wobei er insbesondere eine psychophysische und eine physiologische Untersuchungsebene unterscheidet (vgl. z. B. E. B. Goldstein, a. a. O. 2008, 8 ff.). Zur Verknüpfung dieser Methoden vgl. auch ders., »Cross-Talk«. 58  Freilich beweist die Existenz phänomenologischer Bedeutungstheorie oder phänomenologischer Theorien zur Fundierung der formalen Logik, dass auch diese Themen phänomenologische Konstitutionsfragen aufwerfen. Dann aber arbeitet der Phänomenologe wieder auf seinem eigentümlichen Feld – der Rückführung der Bedeutungs- und Urteilssphäre auf eine dieser zugrundeliegende, ursprüngliche Erfahrung. 56  57 

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das Geschäft empirischer Wissenschaft verschaffen; aber weder als wissenschaftliches noch als wissenschaftsphilosophisches Unternehmen ist die Phänomenologie konkurrenzlos. Auch sie erfasst ihren Gegenstand immer nur aspektweise. 59

Literatur Blumenberg, Hans: Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlaß hg. v.  M. Sommer, Frankfurt a. M. 2002. Claesges, Ulrich: »Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff«, in: ders. / K. Held (Hgg.): Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung. Für Ludwig Landgrebe zum 70. Geburtstag von seinen Kölner Schülern (Phaenomenologica 49), Den Haag 1972, 85–101. Descartes, René: La Dioptrique, in: Œuvres de Descartes, hg. v. Ch. Adam u. P. Tannery, Paris 1902, 79–228. Gibson, James J.: Wahrnehmung und Umwelt. Der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung. Übers. u. mit e. Vorw. vers. v. G.  Lücke u. I.  Kohler, München / Wien / Baltimore 1982 (Orig.: The Ecological Approach to Visual Perception, Boston 1979). Goldstein, E. Bruce: »Cross-Talk Between Psychophysics and Physiology in the Study of Perception«, in: ders. (Hg.): Blackwell Handbook of Perception, Malden (Mass.) / Oxford 2001, 1–23. Goldstein, E. Bruce: Wahrnehmungspsychologie, 2. dt. Aufl. hg. v. M. Ritter. Aus dem Amerikan. übers. v. G. Herbst u. M. Ritter (Original: Sensation and Perception 6 2002), Heidelberg / Berlin 2002. Goldstein, E. Bruce: Wahrnehmungspsychologie. Der Grundkurs, dt. Ausg. hg. v. H. Irtel. Aus dem Amerikan. übers. v. G. Plata (Original: Sensation and Perception 72007), Berlin / Heidelberg 72008. Guski, Rainer: Wahrnehmung. Eine Einführung in die Psychologie menschlicher Informationsaufnahme (Grundriß der Psychologie 7), 2., überarb. Aufl. Stuttgart / Berlin / Köln 2000. Held, Klaus: »Husserls neue Einführung in die Philosophie: Der Begriff der Lebenswelt«, in: C.-F. Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie (Neuzeit und Gegenwart. Philosophische Studien 1), Bonn 1991, 79–113. Helmholtz, Hermann von: »Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens« (1868), in: ders.: Vorträge und Reden, Bd. 1, Braunschweig 51903, 265–365. Husserl, Edmund: Gesammelte Werke, Bd. I ff. Den Haag u. a. 1950 ff. Ders.: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, red. u. hg. v. L. Landgrebe. Mit Nachw. v. L. Eley, 6., verb. Aufl. Hamburg 1985. Für kritische Diskussionen einer früheren Fassung dieses Textes danke ich Elmar Anhalt, Ingo Günzler und Markus Heuft. 59 

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Husserls lebensweltliche Kritik am physikalistischen Naturalismus Barbara Merker

Ich möchte im folgenden zuerst einige Bemerkungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt und Edmund Husserls Krisisabhandlung machen, in der dieses Verhältnis einen prominenten Platz hat; zweitens werde ich Husserls Kritik am physikalistischen Naturalismus und wissenschaftlichen Realismus darstellen; drittens skizziere ich seine Konzeption der Lebenswelt; und abschließend möchte ich verständlich machen, inwiefern die Theorie der Lebenswelt als Therapeutikum nicht nur gegen die Krise seiner Zeit, sondern gegen überschwängliche wissenschaftliche Naturalismen vieler Art hilfreich ist.

1.  Lebenswelt, Wissenschaft und der Zweck der Krisis-Abhandlung Der Begriff der Lebenswelt  – eine der erfolgreichsten Wortschöpfungen der Philosophie – ist nicht Husserls Erfindung. Husserl hat ihn aber in einen Kontext gestellt, der ihm bis heute andauernde Aktualität gesichert hat. Einer der Gründe dafür ist das kontroverse und komplizierte Verhältnis von Lebenswelt und Wissenschaften. Husserl hat darauf aufmerksam gemacht, wie die Wissenschaften auf vielfältige Weise in die Lebenswelt integriert sind. Die Wissenschaftler selber, ihre Praktiken und Instrumente sind ebenso Bestandteil der Lebenswelt wie ihre Produkte: Theorien, die in Gestalt verschiedener Medien lebensweltlich zugänglich sind. Theorien scheitern oder bestätigen sich an Experimenten, die ebenfalls zur Lebenswelt gehören. Technische Produkte haben als Resultate der Anwendung wissenschaftlichen Wissens in die Lebenswelt Eingang gefunden und erleichtern oder gefährden unser Leben. Wissenschaftliche Überzeugungen sind oft Prämissen unseres Handelns: wir folgen den sich stets wandelnden Ratschlägen von Sportmedizinern oder Ernährungswissenschaftlern – viel Bewegung und 5 mal täglich Obst und Gemüse essen – oder glauben zumindest, daß wir es sollten. Wissenschaftliches Wissen wird in Schulen und Universitäten gelehrt, auch in Tageszeitungen verbreitet. Wissenschaftliche Terminologien und Metaphern durchziehen unsere lebensweltliche Sprache. Zum einen gibt es also eine partielle Integration der Wissenschaften in die Lebenswelt, die lebensweltliche Überzeugungen in Teilen ersetzen. Zum anderen gibt es auch wissenschaftliche Einsichten, die, wie es der Kosmologie von Kopernikus, der Evolutionstheorie von Darwin oder der Psychoanalyse Freuds nachgesagt wird, unser lebensweltliches Selbst- und Weltverständnis als Ganzes revolutioniert haben. In beiden Fällen aber sind die Wissenschaften legitime, wenn auch nicht sakrosankte und infallible Quellen theoretischer oder auch praktischer Verbesserung unserer lebensweltlichen Überzeugungen und Handlungen. Nach

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einer anderen terminologischen Auffassung geht es dabei aber nicht um die Integration von Wissenschaften in die Lebenswelt, sondern vielmehr um eine Unterscheidung innerhalb der Lebenswelt: vorwissenschaftliche Überzeugungen werden durch wissenschaftliche Überzeugungen oder diese durch andere wissenschaftliche Überzeugungen ersetzt. Deutlich wird daran eine der Vieldeutigkeiten im Ausdruck »Lebenswelt«, zu der die Wissenschaften einmal in Opposition gesetzt, einmal als zugehörig verstanden werden. Husserl macht verständlich, wie es zu dieser Zweideutigkeit kommt. Husserls Interesse gilt allerdings nicht diesen kleinen und großen Einsichten der Wissenschaften und ihrem legitimen Einfluß auf die Lebenswelt. Er sorgt sich vielmehr darum, daß bestimmte wissenschaftliche Überzeugungen auf eine philosophische Weise gedeutet werden und infolge dieser Deutung in eine unversöhnliche Opposition zu unseren basalen lebensweltlichen Präsuppositionen und Bedürfnissen geraten. Der Szientismus – die Auffassung, daß die einzigen oder jedenfalls immer privilegierten Wahrheiten diejenigen sind, die durch bestimmte Wissenschaften geliefert werden – ist eine solche überschwängliche philosophische Deutung der Wissenschaften, die in einen unauflöslichen Konflikt mit den basalen Strukturen der Lebenswelt geraten kann. Husserl ist der erste, der systematisch die Problematik eines solchen szientistischen Naturalismus zum Thema gemacht hat, die die gesamte Lebenswelt sowie alle Disziplinen der Philosophie – die Ontologie, die Epistemologie, die Philosophie des Geistes sowie die Ethik – betrifft und bis heute Gegenstand fundamentaler Kontroversen ist. Zudem hat er versucht, die kulturellen und existenziellen Konsequenzen der Weltanschauung des szientistischen Naturalismus zu beschreiben. In seiner Abhandlung über die »Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie« konstatiert er eine umfassende Krise, an der alle Wissenschaften, die gesamte Kultur und ebenso die Menschen leiden, die im europäischen Einflußkreis leben. Und er versucht nachzuweisen, daß eben die metaphysische Weltanschauung, die von ihm als Naturalismus, Objektivismus, Positivismus und auch speziell als Physikalismus charakterisiert wird, die Ursache dieser Krise ist. Mit seiner Klage über eine umfassende Krise im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich Husserl allerdings nicht von seinen Zeitgenossen. Allgemein wird die historische Situation als Krisensituation charakterisiert. Auch in der inhaltlichen Diagnose der Krise stimmt er mit seinen Zeitgenossen überein. Sie besteht in einer mehrfachen Verlusterfahrung: einem Verlust an Sinn und Orientierung; einem Verlust an Realität und Realitätserfahrung; einem Verlust an Gemeinschaftlichkeit bei anwachsendem Individualismus; einem Verlust an universal gültigen Einsichten und Werten. Doch während die breiten sozialen, politischen und ökonomischen Diskussionen dieser brisanten Zeit ihre Kritik auf die Organisation von Staat und Gesellschaft konzentrieren, macht Husserl weder den Kapitalismus, die Klassengesellschaft, die mechanische Arbeitsteilung noch die junge parlamentarische Demokratie oder ihr Scheitern im totalen Führerstaat für die Krise verantwortlich. Stattdessen bietet er einen eigenständigen philosophischen Beitrag an: eine philosophiehistorische Erklärung der Krise und des allgemeinen Leidens an ihr – was nicht monokausal verstanden werden muß. Er sieht in der Krise, die oberflächlich betrachtet in dem Verlust an Sinn, Realität, Gemeinschaft,

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Universalität besteht, zutiefst eine Krise des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses, eine Krise der Vernunft. Und da Vernunft in ihrem Kern Intentionalität als Selbstund Weltbezug ist, erklärt er die Krise intentionalitätstheoretisch. Seiner Begründung der These, ein falsches Verständnis von Vernunft, von lebensweltlicher und wissenschaftlicher Intentionalität und damit ein falsches Verständnis von Welt und Selbst sei für die Krise verantwortlich, dienen die philosophiegeschichtlichen Ausführungen der Krisisabhandlung, deren drei Teile sich mit medizinischen Metaphern charakterisieren lassen: der erste Teil enthält die Diagnose der Krise, der zweite Teil die Anamnese, der dritte Teil v.a. die Therapie in Form der Phänomenologie, die sich als strenge Wissenschaft und Theorie der Lebenswelt von den exakten mathematischen Wissenschaften abgrenzen will. Husserls philosophiehistorischer Erklärung zufolge läßt sich die Krise seiner Gegenwart vor dem Hintergrund der zweiten philosophiehistorischen Revolution verstehen. Die erste Revolution lokalisiert er in der griechischen Antike, die den Menschen als autonomes Vernunftwesen und die Idee der Philosophie und Wissenschaft entdeckt habe; die zweite Revolution lokalisiert er am Beginn der Neuzeit, die die Idee der Vernunft, der Wissenschaft und Philosophie und das Verständnis von Mensch und Welt »wesentlich verwandelt« hat. Die zentralen Figuren dabei sind Galilei und Descartes. Mit Descartes nämlich hält Galileis Entdeckung der mathematischen Naturwissenschaft Einzug in die Philosophie. Damit entsteht der physikalistische Naturalismus: eine neue Konzeption von Vernunft, von Natur und Naturerkenntnis, eine neue Konzeption von Ontologie, Epistemologie, Rationalität, Methodologie und damit eine neue Konzeption von Philosophie, die sich die mathematischen Naturwissenschaften zum Vorbild nimmt (§§  8, 9).1 Im Detail versucht Husserl, zunächst vor allem die Konsequenzen dieses Naturalismus für die verschiedenen Disziplinen und Richtungen der Philosophie bis zu seiner Gegenwart zu beschreiben. Im positivistischen 19.  Jahrhundert sieht er eine Zuspitzung der Krise. Die an sich legitime Begeisterung über die theoretischen und praktischen Erfolge der sogenannten positiven Wissenschaften wird nicht nur in die illegitime Weltanschauung des Positivismus überführt. Diese wirkt sich nun auch spürbar auf die Kultur und das menschliche Leben insgesamt aus. Es entsteht die Klage über die mangelnde existentielle Relevanz der positiven Wissenschaften und der Philosophie, die in der allgemein empfundenen »Lebenskrise« und »Lebensnot« keine Hilfe bieten und damit ihre »Lebensbedeutsamkeit« verloren haben. Es entstehen Zweifel daran, ob sich in einer auf sinnlose Tatsachen reduzierten, »entzauberten« Welt überhaupt leben läßt. Und es verbreiten sich Skeptizismus, Irrationalismus, Relativismus, Historismus, Mystizismus, Weltanschauungsphilosophien und ein isolationistischer Individualismus, auch in der Philosophie (§  2). So viel zur Diagnose und Anamnese der Krise.

1 

Die Klammern im Text beziehen sich alle auf Husserls Krisis-Abhandlung.

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2.  Husserls Kritik am physikalistischen Naturalismus und wissenschaftlichen Realismus Galileis Genialität sieht Husserl in dessen »Fundamentalhypothese«, daß die in der Antike bereits von der empirischen zur reinen entwickelte Geometrie nicht nur für die praktischen Zwecke der Feldmeßkunst und allgemein zur Messung von »Gestalten im Raum« nützlich ist, sondern auch für »Gestalten in der Zeit«, nämlich die Bewegung von Körpern, und ebenso für die sinnlichen »Füllen«, Husserls terminus technicus für die sonst so genannten »sekundären Qualitäten« (§ 9c). 2 Galileis wissenschaftliche Revolution bestand in der Erprobung der Hypothese, daß die gesamte statische und dynamische Natur, nicht nur Gestalten in Raum und Zeit, nicht nur extensive Größen wie die sog. »primären Qualitäten« mathematisierbar, meßbar, berechenbar seien, sondern auf indirekte Weise auch die intensiven Größen, die »sekundären Qualitäten«, indem sie in systematische Korrelation zu den extensiven »primären Qualitäten« gebracht werden. Die Wissenschaft, die die Natur auf diese Weise meßbar und damit besser erklärbar gemacht hat, ist die neue mathematische Naturwissenschaft der Physik in der frühen Gestalt der klassischen Mechanik. Im Unterschied zu dieser »segensreichen« Physik betrachtet er den Physikalismus als Variante des Naturalismus aber als eine illegitime philosophische Weltanschauung, die beansprucht, auch den »Rest« der Welt, den Geist und seine Produkte nach dem Modell der Physik zu beschreiben und zu erklären. Solange nun unter dem naturalistischen Objektivismus in Gestalt des Physikalismus nur die Vorschrift verstanden wird, alle Bereiche der Wirklichkeit so weit wie möglich mit den Methoden der mathematischen Naturwissenschaft, hier der Physik, zu erklären und alternative Erklärungen nicht apriori auszuschließen, könnte man das Verfahren der Naturalisierung als interessantes und wichtiges Experiment betrachten, wenn es auch in den Augen Husserls wohl nicht so »segensreich« ist wie die Physik selber. »Verhängnisvoll« aber wird der frühe rationalistische Physikalismus dadurch, daß er schon am Anfang mit einem starken ontologischen Anspruch verbunden ist, demzufolge die wahre Wirklichkeit, die Natur an sich diejenige ist, die ausschließlich mit den Mitteln der Physik erkannt werden kann (§§ 9, 34). Als wirklich und natürlich gilt dem physikalistischen Naturalismus ausschließlich das, auf das die mathematischen Formeln referieren. Husserl kritisiert nun zum einen diese ontologische Prämisse des Physikalismus, zum anderen auch den damit verbundenen wissenschaftlichen Realismus, dessen verschiedene Varianten die beiden Auffassungen verbinden, das Ziel der Physik bestehe darin, die Natur zu erkennen, und zu dieser Natur gehörten theoretische, also unbeobachtbare Entitäten hinzu. Unklar bleibt dabei allerdings, ob und wie Husserl seinen 2  Schon den antiken Pythagoräern war die Abhängigkeit der Höhe eines Tones von der Länge einer in Schwingung versetzten Saite bekannt. Im Unterschied zu Galilei hatten diese aber kein Interesse an der durch die Einsicht in solche Korrelationen eröffneten Möglichkeit einer systematischen indirekten Messung und Mathematisierung der »materialen Füllen«.

Husserls lebensweltliche Kritik am physikalistischen Naturalismus

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wissenschaftlichen bzw. physikalischen Anti-Realismus verstehen und rechtfertigen möchte. Einerseits scheint er – bei aller Kritik am klassischen erkenntnistheoretischen Empirismus – doch dem wissenschaftstheoretischen Empirismus nahezustehen, 3 demzufolge das Ziel der Physik darin bestehe, bessere Erklärungen der erfahrbaren Welt zu liefern, andererseits aber auch dem Konstruktivismus, insofern er die theoretischen Entitäten der Physik – bei denen Husserl nicht etwa an Elektronen oder Dispositionen, sondern an ideale, unanschaubare (geometrische) Gebilde denkt – als durch physikalische Methoden konstruierte betrachtet und als Ziel der Physik auch die technische Beherrschung der Natur. Husserls Hauptargument gegen den naturalistischen Physikalismus und wissenschaftlichen Realismus und deren ontologische Ansprüche bezieht sich auf die Methode der Idealisierung, die in der Antike bereits konstitutiv für die reine Geometrie war und in der frühen Neuzeit nun auch konstitutiv für die Physik wird. Um zu den physikalischen Gesetzen zu gelangen, wird die uns umgebende anschauliche Natur zunächst auf das bloß Körperliche reduziert; dann wird aus dem Gesamtbereich des Körperlichen ein Teilbereich isoliert, wenn nicht sogar erst produziert, der gemessen oder auch erklärt werden soll.4 Weiter werden durch die Methode der Idealisierung ideale Gegenstände an die Stelle realer gesetzt. 5 In den verschiedenen Varianten der Idealisierung sieht Husserl das entscheidende Argument dafür, daß die physikalischen Begriffe, Gesetze, Theorien gerade nicht auf die Wirklichkeit referieren, der vielmehr bloß ein »Ideenkleid« übergestülpt worden sei, so daß für »wahres Sein« genommen wird, was in Wahrheit nur eine »Methode« sei (§  9h). Die Idealisierungen sind für Husserl nur ein Mittel unkomplizierter Mathematisierbarkeit und intersubjektiver Mitteilbarkeit, kein Mittel der Naturerkenntnis. Sie entfernen uns vielmehr von der realen,

Empirismusnah ist seine erweiterte Variante der Verifikationstheorie von Bedeutungen und Aussagen, derzufolge alle Aussagen letztlich durch Anschauungen gerechtfertigt oder auf sie zurückgeführt werden müssen, obgleich sein Begriff der Anschauung weiter ist als der der empirischen Wahrnehmung; seine Variante der Zweiteilung von Beobachtungs- und theoretischen Begriffen; sein Verständnis von Naturgesetzen als Beschreibungen faktischer Regelmäßigkeiten; sein Verständnis der Aufgabe der Physik, empirisch angemessen zu sein und wahre Erklärungen und Prognosen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Ereignisse zu geben. Vgl. die Weiterentwicklung bei B. van Fraassens »konstruktivem Empirismus« (The Scientific Image), der davon ausgeht, daß »empirisch adäquate« Theorien die beobachtbare Welt genau beschreiben, und es wissenschaftlich uninteressant findet, ob sie außerdem auch eine verborgene Struktur der Realität beschreiben. 4  Husserl erwähnt nicht das weitere wichtige Faktum, daß auch eine solche Isolierung des Untersuchungsgegenstandes eine Idealisierungsmaßnahme darstellt. Die Gesetze, die für den isolierten Untersuchungsbereich gelten, müssen nicht auch für die konkrete Welt gelten, insofern es viele kausale Einflüsse von anderen Bereichen gibt. Vgl. zu den verschiedenen Verfahren der Idealisierung im engeren und weiteren Sinne in der Physik A. Hüttemann, Idealisierungen und das Ziel der Physik. 5  Husserl erwähnt nicht die üblichen Verfahren, gemessene Daten zu korrigieren, teils zu ignorieren, zu komplettieren und damit auch zu homogenisieren. Dazu A. Hüttemann, Idealisierungen und das Ziel der Physik, 95, 130; vgl. neuerdings auch L. Daston / P. Galison, Objektivität. Prolog. 3 

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beobachtbaren Natur. In diesem Sinne lügen die Naturgesetze.6 Erstaunlich allerdings ist Husserls Optimismus, sein erinnernder Hinweis auf die vergessene Methode der Idealisierung würde auch schon ein hinreichendes Argument für den Verzicht auf die ontologischen Ansprüche des Physikalismus und wissenschaftlichen Realismus liefern. Denn egal, ob Galilei und seine rationalistischen Nachfolger sich ihrer Idealisierungen bewußt sind oder nicht, wodurch sie sich von Husserl unterscheiden, ist der Glaube, Gott habe seine Schöpfung, das Buch der Natur, in mathematischer Sprache verfaßt, und die Methode der Idealisierung sei also ein notwendiges Mittel für den Zugang zu ihr. Dagegen könnte Husserl einwenden, es sei gar nicht ausgemacht, daß der göttliche Mathematiker auch die Schaffung einer unkomplizierten Natur bevorzugt habe, die es erlaube, viele Phänomene idealisierend unter wenige Gestalten oder Naturgesetze zu subsumieren. Doch Husserl scheint zunächst einfach gegen die rationalistische These seine quasi empiristische Gegenthese zu stellen, die wahre Natur, die Wirklichkeit an sich müsse prinzipiell anschaubar oder auf Anschauung zurückführbar sein. Die wirkliche Welt ist für ihn nicht die Welt, auf die physikalische Formeln referieren, sondern unsere Lebenswelt. Die Lebenswelt charakterisiert Husserl als »Universum prinzipieller Anschaubarkeit« (§ 34d). Unter Anschauung versteht er allerdings nicht nur die empirische Wahrnehmung, sondern jede intuitive Erkenntnis, deren Gegenstand nicht nur inferentiell erschlossen wird, sondern entweder unmittelbar selber präsent ist oder als solcher in der Erinnerung oder induktiven Antizipation (z. B. der Rückseite eines Hauses) repräsentiert wird. Husserl stützt sich dabei auf Kants Kritik an blinden, nämlich begriffslosen Anschauungen und leeren, nämlich anschauungslosen Begriffen, bei deren Verwendung »der unausrottbare Schein eines reinen Denkens« entstehe, »das, als reines um Anschaung unbekümmert, schon seine evidente Wahrheit, und sogar Weltwahrheit« habe (§ 34 f). Leer sind demzufolge die Begriffe, die dem reinen, idealisierten Denken der Physik entspringen und auf prinzipiell Nicht-Anschaubares und also Unwirkliches, also eigentlich gar nicht referieren. Nun ist es konstitutiv für die sich in der Tradition der Aufklärung verstehende Phänomenologie, daß die Berufung auf Autoritäten wie beispielsweise Kant nicht als Rechtfertigung von Überzeugungen in Anspruch genommen werden darf (§  53). Insofern stellt sich die Frage, ob Husserl seine Kritik an der Ontologie des Galileischen Physikalismus (der zufolge ausschließlich Unbeobachtbares eigentlich wirklich und natürlich ist) und des Wissenschaftlichen Realismus (dem zufolge auch Unbeobachtbares wirklich und natürlich ist) und die Verteidigung seiner eigenen lebensweltlichen Ontologie (der zufolge nur prinzipiell Anschaubares wirklich ist) noch auf andere Weise begründen kann als durch Berufung auf Kant. Sehen wir uns, auch zu diesem Zweck, Husserls Konzeption der Lebenswelt noch etwas genauer an.

Vgl. in diesem Sinne auch N. Cartwright, How the Laws of Physics Lie; M. Paul, Nancy Cartwright: Laws, Capacities and Science. 6 

Husserls lebensweltliche Kritik am physikalistischen Naturalismus

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3.  Husserls Theorie der Lebenswelt »Lebenswelt« nennt Husserl – nicht weiter überraschend, aber überraschenderweise meist übersehen – die Welt, bezogen auf die Lebewesen leben. Nur Lebewesen, genauer: nur intentionale Lebewesen, die Abwesendes repräsentieren können und also über Horizontintentionalität verfügen, haben eine Lebenswelt. Husserl beschränkt sich in seinen Ausführungen auf die Frage, wie die Welt im »intentionalen Leben« und zwar »Wachleben« gesunder, sozialisierter Menschen bewußt und damit zur Lebenswelt wird (§§ 37 f, 55).7 Als natürlichen Ausgangspunkt der Phänomenologie präsentiert Husserl den »Pluralismus« der Lebensumwelten oder Lebenswelten – seine Terminologie schwankt hier leider – mit ihren kulturellen und historischen Relativitäten. Diese können zum Gegenstand werden, indem z. B. die Wissenschaft der Geschichte und die Ethnologie einzelne dieser Lebensumwelten untersuchen. Außerdem können diese relativen Lebensumwelten aber noch auf zwei anderen, entgegengesetzten Wegen Ausgangspunkt von Wissenschaften werden.8 Der erste Weg ist der, den Galilei und die Philosophie seit Descartes in Nachahmung des Vorbildes der Physik gegangen ist. Diese physikalistisch orientierte Philosophie beansprucht, wie in ihrer Nachfolge etwa Wilfried Sellars9 und Bernhard Williams10, gegenüber den Relativitäten der Lebenswelt, eine absolute und universale Konzeption der Welt geliefert zu haben, in der die Lebenswelt nur noch als die illusionäre Perspektive erscheint, die durch die absolute Konzeption erklärt werden kann. Der zweite Weg ist der, den Husserl als Therapie gegen die Krise seiner Gegenwart und im Gegenzug gegen den Physikalismus vorgeschlagen hat, nämlich eine ebenfalls absolute und universale Wissenschaft, aber eine Wissenschaft von der Lebenswelt, die zudem imstande ist, auch die unlebensweltlichen wissenschaftlichen Perspektiven verständlich zu machen. Dabei geht es ihm um die Suche nach dem, »worin normale Europäer, normale Hindus, Chinesen usw. bei aller Relativität doch zusammenstimmen  – von dem, was doch allgemeinsame lebensweltliche Objekte für sie und für uns, obschon in verschiedenen Auffassungen, identifizierbar macht« (§ 36). Es geht ihm um die alle

  7  Damit wird der Mensch sozusagen zum Maß der Lebenswelt. Aber Husserl weist darauf hin, daß auch eine phänomenologische Untersuchung der Lebenswelt der Tiere, Kinder, Wahnsinnigen und Geschlechter, ebenso eine Untersuchung des »Unbewußten« in Form von »traumlosem Schlaf« und »Ohnmacht«, »Geburt« und »Tod« wichtig wäre. § 55.   8  Husserl selber unterscheidet terminologisch zwischen konkreten Lebensumwelten und der Lebenswelt. Ethnologen und Historiker untersuchen »die wechselnden Lebensumwelten der Völker und Zeiten« (§ 38), Zoologen die Lebensumwelt der Tiere. Da verschiedene Arten von Lebewesen und verschiedene Kulturen und Individuen »verschiedene Auffassungen« der Lebenswelt haben, spricht Husserl auch inkonsistent und verdinglichend von einem »Pluralismus von Lebenswelten«. Diese facon de parler verliert aber an sachlicher Bedeutsamkeit, da Husserl betont, daß es nur eine Lebenswelt gibt und dies »in einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist« (§ 37). Wenn Husserl also gelegentlich von Lebenswelten im Plural spricht, sind stets solche Lebensumwelten, also verschiedene Auffassungen der Lebenswelt gemeint.   9  W. Sellars, »Philosophy and the Scientific Image of Man«. 10  B. Williams, Descartes; ders., Ethics and the Limits of Philosophy.

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Relativitäten durchziehenden formal-allgemeinen Strukturen der Lebenswelt (37), aber auch um die Typen von Dingen, die in ihr vorkommen (§§ 48, 51). Das »Kategoriale der Lebenswelt« hat zwar »die gleichen Namen« wie »die theoretischen Idealisierungen und hypothetischen Substruktionen der Geometriker und Physiker«. Die Rede ist in beiden Fällen von Körpern, Raum, Zeit, Bewegung, Qualität, Kausalität. Aber die Begriffe, die Methoden und die wissenschaftsspezifische Rationalität, die Ontologie und Epistemologie sind jeweils verschieden. Zu den »allgemeinsamen lebensweltlichen Objekten« gehören, obgleich eben in verschiedenen Auffassungen: »Raumgestalt, Bewegung, sinnliche Qualitäten und dergleichen«. Diese »lebensweltlich uns wohlvertrauten Körper sind wirkliche Körper, aber nicht Körper im Sinne der Physik« (§ 36).11 Der philosophische Begriff der Lebenswelt ist also eine Abstraktion oder eine eidetische Reduktion der konkreten Lebensumwelten, in denen die Lebenswelt, von der es nur eine gibt und zwar »in einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist« (§ 38), historisch und kulturell unterschiedlich aufgefaßt wird. Was Husserl mit dieser philosophischen Theorie der Lebenswelt präsentiert, ist also eine ergänzende Fortsetzung dessen, was zuerst in realistischer Ontologie Aristoteles, dann auf transzendental-idealistische Weise auch Kant in der von Husserl bevorzugten lebensweltlichen, nicht-neukantianisch-naturwissenschaftlich dominierten Lesart der »Kritik der reinen Vernunft« mit den apriorischen Anschauungsformen und Kategorien im Sinne hatte und später in den Arbeiten von Alfred Schütz, Peter Strawson, Ernst Tugendhat weitergeführt worden ist.12 Husserl gibt weiter zum einen Beispiele für die Typen von Gegenständen, die in ihr vorkommen: »Steine, Tiere, Pflanzen« mit ihren Eigenschaften, auch »Menschen und menschliche Gebilde«, »menschliches Tun und Treiben, Wirken und Leiden, in all ihren jeweiligen sozialen Verbundenheiten« und ebenso Wertvolles, Nützliches, Schönes, Gutes: nicht-intentionale Dinge also ebenso wie Intentionalität in ihren vielfältigen Formen und Produkten. Diese Typen von »Dingen« und ihre Verhältnisse zueinander sind Thema der Regionalontologien innerhalb einer Ontologie der Lebenswelt (§§ 36, 41). Zum anderen untersucht Husserl auch die Voraussetzungen dafür, daß wir nicht nur Augenblickssubjekte in einer Augenblickswelt sind, sondern solche, die sich als identische Personen auf vielfältig verbundene identische Dinge in einer Lebenswelt beziehen und zwischen Ding- und Weltbewußtsein sowie zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit unterscheiden können. Im Zentrum stehen hier die verschiedenen Formen leiblicher Intentionalität, des Zeitbewußtseins, der Horizontintentionalität, kontinuierliche und dis-

Obgleich Objekte und Begriffe der Wissenschaft von der physikalisch erzeugten oder zugänglich gemachten Natur zum einen und der Wissenschaft von der Lebenswelt zum anderen verschieden sind, erfüllen – das ist Husserl wichtig – beide die Kriterien der Wissenschaftlichkeit: ihre Ergebnisse sind begründbar, prinzipiell von jedermann nachprüfbar, als für immer gültige Ergebnisse intendiert. 12  A. Schütz / T.  Luckmann, Strukturen der Lebenswelt; P. F. Strawson, The Bounds of Sense; E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie. Meine Ausführungen verzichten aus Gründen der Einfachheit auf die Berücksichtigung der Epoché, die Husserl zufolge eine phänomenologische Ontologie der Lebenswelt von einer Ontologie der Lebenswelt unterscheidet. 11 

Husserls lebensweltliche Kritik am physikalistischen Naturalismus

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kontinuierliche Synthesen von Erscheinungen, der Erwerb von Habitualitäten, Geschicklichkeiten und Sprache, einer zweiten Natur also  – alles Voraussetzungen dafür, daß wir, die wir zum einen Teil der Lebenswelt sind, zugleich zu ihr als Ganze in Beziehung treten können. Zur Lebenswelt gehören auch die »subjektiven Erscheinungsweisen« und »Gegebenheitsweisen« der Dinge: wie sie aussehen, riechen, sich anhören usw., wenn sie aus unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Umständen (verschiedenen Lichtverhältnissen, Distanzen usw.) gegeben sind. Zur Phänomenologie der Lebenswelt gehört daher die Untersuchung des »universalen Korrelationsaprioris«, die Untersuchung dessen, »wie Seiendes jeder Art und die Welt korrelativ in für sie spezifischen Erscheinungen und ihren Synthesen, in ihrem Sinn und Sein konstituiert wird« (§§ 38, 47 f). Auf der Basis einer solchen lebensweltlichen und phänomenologischen Ontologie muß es allerdings eigentümlich erscheinen, warum, neben der Intentionalität, speziell die sekundären Qualitäten wie Farben und Töne und die von manchen als tertiäre Qualitäten bezeichneten Werteigenschaften zu den ontologisch diskreditierten und sonderbaren Gebilden gehören sollen.13 Denn auch die Körper mit ihren primären Qualitäten sind hier nur lebensweltliche Gebilde und nicht idealisierte Körper wie in der Physik. Insofern müßten auch sie aus der Perspektive der absoluten Weltkonzeption der Physik wie die Lebenswelt insgesamt als bloße Erscheinungen bzw. Illusionen gelten. Husserls Umbenennung der zumeist sogenannten »primären« und »sekundären« Qualitäten in »spezifische« und »gemeinsame« Qualitäten (aistheta idia und aistheta koina) (§ 9b) basiert auf der lebensweltlichen Unterscheidung, daß spezifische Qualitäten nur in spezifischen Wahrnehmungen, durch Sehen oder Tasten oder Riechen bewußt werden, die gemeinsamen räumlichen Qualitäten dagegen prinzipiell durch verschiedenartige Wahrnehmungen, durch Sehen und Tasten zugänglich sind. Diese Unterscheidung Husserls basiert nicht auf der lebensweltlich unzugänglichen Behauptung, den Dingen an sich, wie sie unabhängig von Beobachtern in der Welt sind, kämen zwar primäre Qualitäten, sekundäre Qualitäten aber nur als dispositionale Eigenschaften zu, die bei Betrachtern mit einer bestimmten Leiblichkeit bestimmte Sinnesempfindungen auslösen, welche dann durch Projektion irrtümlich zu sinnlichen Eigenschaften der Dinge verzaubert würden.14 In der lebensweltlichen Perspektive sind die Fundierungsverhältnisse zwischen primären und sekundären Qualitäten andere und beide sind wechselseitig aufeinander angewiesen. Lebensweltlich gesehen setzt zum Beispiel die Wahrnehmung räumlicher Gestalten Unterschiede in der Farbwahrnehmung voraus, die Existenz der Farben dagegen räumliche Flächen, an denen sie auftreten können. Am Beispiel der Farben weist Husserl ausdrücklich darauf hin, wie der Physikalismus durch »Schulerziehung« und der PsyEine solche Auffassung vertreten u. a. J. L. Mackie, Ethik; S. Blackburn, »Errors and the Phenomenology of Values«; ders., Essays in Quasi-Realism; B. Williams, Descartes; ders., Ethics and the Limits of Philosophy. Kritisch dagegen im Sinne Husserls u. a. T. Rehbock, Goethe und die ›Rettung der Phänomene‹; dies. »Wo sind die Farben geblieben?«; H. Putnam, »Sense, Nonsense, and the Senses«; ders., »Bernard Williams und die Absolutheit der Welt«; J. McDowell, »Values and Secondary Qualities«; C. Halbig, Praktische Gründe und die Realität der Moral. 14  Das ist die, wenn auch jeweils unterschiedlich formulierte, Auffassung von Demokrit, Galilei, Boyle, Newton, Descartes, Locke, Hobbes, Kant und ihren modernen Nachfolgern. 13 

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chologismus als »schlimme Erbschaft der psychologischen Tradition seit Lockes Zeiten« die lebensweltlich realen Farbeigenschaften lebensweltlicher Objekte entweder auf physikalische Eigenschaften wie Schwingungen unterschiedlicher Frequenz, auf »reine Vorkommnisse der Gestaltenwelt« oder auf psychologische Sinnesdaten, auf subjektive Farbempfindungen reduzieren (§ 9b). Allerdings folgt aus Husserls (freilich transzendentalphänomenologisch fundiertem) Lebenswelt-Realismus und seiner Kritik der ontologischen Überzeugungen des Physikalismus nicht zwingend auch seine Ablehnung des wissenschaftlichen Realismus sowie der Annahme, daß das, was wir lebensweltlich zum Beispiel als Wärme oder Farbe wahrnehmen, mit bestimmten physikalischen Eigenschaften der Dinge identisch ist.15 Die Akzeptanz der Realität der Lebenswelt schließt per se weder die Existenz von Entitäten aus, die nicht unmittelbar durch die Wahrnehmung oder mittels zu ihrer Erweiterung angefertigten Instrumenten wie Fernrohren oder Mikroskopen erfahrbar sind, noch physikalische Erklärungen der lebensweltlichen Gegenstände. Die Akzeptanz der Realität der Lebenswelt schließt nur aus, daß sie als Ganze zum Schein erklärt wird. Sie schließt aber nicht aus, daß wir in lebensweltlicher Perspektive zwischen Arten und Graden der Objektivität oder Subjektivität der sog. primären, sekundären und tertiären Qualitäten ebenso unterscheiden können wie zwischen wirklichen und scheinbaren Qualitäten.16 In Husserls Beschreibung der Lebenswelt dominiert Theoretisches und Technisches. Obgleich er Wertvolles, also zum Beispiel Seiendes mit evaluativen Eigenschaften ästhetischer oder moralischer Art erwähnt, wird dessen Rolle in der Lebenswelt, zum Beispiel dessen Erkenntnis als Grund möglicher Handlungen, nicht ins Auge gefaßt. Und obgleich Intentionalität und Rechtfertigungspraktiken eine zentrale Rolle für die Lebenswelt spielen, ist die für sie konstitutive und in ihr konstituierte Normativität verglichen mit seiner Betonung der Anschaubarkeit der Lebenswelt nur implizit als Hintergrund präsent. Daher stellt es zum Beispiel eine eigene Aufgabe dar, die Funktion zu untersuchen, die unsere lebensweltlichen moralischen Überzeugungen und Praktiken und deren ebenfalls lebensweltliche Kritik gegenüber Moralphilosophien und moralischen Naturalismen spielen, die diese zugunsten fragwürdiger Alternativen entwerten, reduzieren oder eliminieren wollen.

In diesem Sinne behauptet zum Beispiel Hilary Putnam, daß die Relationalität der Farbeigenschaften von Dingen nicht in dem Verhältnis von Körperoberfläche und leiblicher Wahrnehmung, sondern in Beziehungen zwischen Körperoberfläche und Licht besteht. Die Physik würde unter dieser Voraussetzung unsere lebensweltlich vagen Farbwörter nur in einer bestimmten Hinsicht präzisieren, nicht aber als bedeutungslos entwerten oder eliminieren. H. Putnam, »Bernard Williams und die Absolutheit der Welt«, 120 ff, wo er der vorherrschenden Kritik an der Realität und Objektivität »sekundärer« Qualitäten eine Verwechslung von Qualitäten mit Empfindungen dieser Qualitäten vorwirft. 16  Vgl. T. Rehbock, »Wo sind die Farben geblieben?«. 15 

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4.  Die Theorie der Lebenswelt als Therapie In der Krisis-Abhandlung finden sich vor allem zwei Argumente für die Verteidigung der Realität der Lebenswelt gegen Versuche ihrer physikalistischen Entwertung. Das eine Argument besteht in dem Verweis darauf, daß Philosophien, die, wie der Physikalismus, die fundamentalen Strukturen der Lebenswelt in Frage stellen – wie die Existenz von Personen und ihren intentionalen Praktiken, die Perspektiven der Ersten Person Singular und Plural, die Ding-Eigenschaftsstruktur, die subjektive Zeitstruktur, die Bedeutung der lebensweltlichen Sprache  –, sich der unverzichtbaren Voraussetzungen berauben, die sie in ihren wissenschaftlichen Praktiken ständig in Anspruch nehmen müssen, und damit ihre eigene Existenzgrundlage eliminieren. Darin unterscheidet sich Husserl von Wilfrid Sellars Deutung des Verhältnisses von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild. Sellars ignoriert die implizite Normativität auch der Naturwissenschaften und glaubt, auf die Leiter der Lebenswelt in the long run verzichten, sie zumindest immer mehr kürzen zu können.17 Das andere Argument führt zurück auf die Krisenerfahrung, von der seine Abhandlung ihren Ausgang nimmt. Die vielfältigen Krisensymptome haben ihm zufolge ihren einheitlichen Ursprung darin, daß unhintergehbare lebensweltliche Gewißheiten durch philosophische Theorien in Frage gestellt werden. Es ist sozusagen ein pragmatisches und existenzielles Argument, das hier für eine Anerkennung der Realität der Lebenswelt und gegen deren physikalistische Entwertung spricht. Die phänomenologische Therapie der Krise in Gestalt einer Theorie der Lebenswelt verspricht dabei, die vier großen kulturellen Verluste rückgängig zu machen: den Realitätsverlust, den Sinnverlust, den Universalitätsverlust und den Gemeinschaftsverlust. Der Realitätsverlust, der mit ästhetischer Distanz vor allem auch in der Kunst und Literatur zum Thema wird, wo mit dem physikalistischen oder psychologistischen Verständnis von Welt und Selbst experimentiert wird, soll durch eine Theorie der Intentionalität geheilt werden, derzufolge wir uns in der natürlichen Einstellung auf reale Dinge der realen Lebenswelt und nicht auf bloße Erscheinungen, Sinnesdaten oder verborgene mathematisch-physikalische Strukturen beziehen. Der Sinn kehrt in die Welt der nackten Tatsachen zurück, weil die Lebenswelt zwar keine wiederverzauberte, aber doch eine bedeutsame Welt ist, in der Werte, Sinn und Normen ihren Platz haben. Gegenüber dem verbreiteten Relativismus weist Husserl auf die unhintergehbaren universalen Strukturen der Lebenswelt hin, in der alle Relativitäten ihr Fundament haben und deren Untersuchung universal gültige Erkenntnisse ermöglicht. Und, jedenfalls für die Philosophie, erhofft er sich, die Zunahme der Isolation von Individuen durch die gemeinschaftliche phänomenologische Arbeit an einer umfassenden Theorie der Lebenswelt überwinden zu können. Freilich bleiben viele Fragen, auf die Husserl aufgrund seiner Konzeption der Lebenswelt keine Antworten gibt und geben kann. Wie soll mit Konflikten zwischen konkreten lebensweltlichen und wissenschaftlichen Überzeugungen umgegangen werden, die nicht die basalen Strukturen der Lebenswelt betreffen? Wo genau sind die Grenzen zwischen erstens

17 

W. Sellars, »Philosophy and the Scientific Image of Man«.

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alternativlosen, zweitens faktisch-essentiellen und drittens akzidentellen Strukturen der Lebenswelt zu ziehen? Und was bedeutet es für die Lebenswelt, wenn ihre »Typik der Dinge« historisch verändert wird, wenn zum Beispiel Biofakte oder Roboter zu ihrem Inventar gehören, die die üblichen Dinggrenzen überschreiten oder kategorial neuartig sind? Auf welcher Seite der Grenzen sind Fragen wie die nach dem Anfang oder Ende des Lebens und dem freien Willen anzusiedeln? Husserl beschränkt sich auf innerphilosophische Konflikte zwischen verschiedenen Weltbildern, konkret dem lebensweltlichen und dem physikalistischen Weltbild, das allerdings mit der empirischen Wissenschaft der Physik in Zusammenhang steht. Diese ist, wie alle anderen Wissenschaften, Bestandteil der Lebenswelt. Nur die intendierten physikalischen Referenten, das, worauf sich ihre Formeln beziehen wollen und was die Struktur der Lebenswelt übersteigt, sind aus ihr ausgeschlossen.18 Die lebensweltliche Kritik nun, die Husserl in seiner Zeit für die metaphysische Deutung der Leitwissenschaft der Physik ausgeführt und die fünfzig Jahre später auch in der angelsächsischen Common-sense-Philosophie Hilary Putnams oder John McDowells Anklang gefunden hat, ließe sich heute für die metaphysischen Deutungen der neuen Leitwissenschaft der Biologie neu formulieren. Nun sind es neben der schon älteren Evolutionsbiologie vor allem die Molekularbiologie in Gestalt der Genetik und die Neurobiologie, von der überschwängliche, nun biologische Erklärungen über die Grenzen ihrer Disziplinen hinweg erwartet werden. Es entstehen Paralleldisziplinen, die sich von den Originalen durch das Präfix »Neuro« unterscheiden: die Neurodidaktik und -pädagogik, die Neuroästhetik und -ethik, die Neurosoziologie und -geschichte usw. Ein Problem entsteht dabei wiederum dann, wenn, nun auf neue Weise, versucht wird, unsere fundamentalen lebensweltlichen Überzeugungen, Erklärungen und Rechtfertigungen nicht nur partiell zu bereichern, sondern strukturell außer kraft zu setzen. Dies geschieht zum Teil aufgrund von Erwartungen und Hoffnungen aus der Lebenswelt selber,19 zum Teil aufgrund überschwänglicher philosophischer Deutungen der wissenschaftlichen Praxis. Dazu möchte ich nun mit einem Kommentar von Daniel Dennett schließen, der bedenkenswert ist, auch wenn seine Beschränkung der Leistungen der Philosophie bedenklich ist: »Why do chemists not have to learn the history of chemistry while philosophers do have to learn the history of philosophy? I think there is a very good and straightforward answer to that. It is that philosophy is in large measure the technology for avoiding very tempting mistakes. And if you do not see how very, very smart people like Kant, Aristotle and Plato, etc, made those mistakes, you just make them yourself. That is why when you look at a neuroscientist being an amateur philosopher, they all reinvent the classics of philosophy, but they get second rate versions of it, and they are oblivious to the fact that there are real problems with these views.«20 Daher bedarf es nach Husserl zu Erlangung der Lebenswelt zwar einer »Epoché hinsichtlich aller objektiven Wissenschaften«, aber nicht im Sinne einer »Abstraktion von ihnen, etwa in der Art eines fingierenden Umdenkens des gegenwärtigen menschlichen Daseins, als ob darin nichts von Wissenschaft vorkäme«. Gemeint ist vielmehr »eine Epoché von jedem Mitvollzug der Erkenntnisse der objektiven Wissenschaften«. § 35. (Prämissen) 19  A. Hüttemann, Zur Deutungsmacht der Biowissenschaft, Einleitung. 20  A. a. O. 202. 18 

Husserls lebensweltliche Kritik am physikalistischen Naturalismus

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Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus Thomas Fuchs

1.  Einleitung: Naturalisierung und Virtualisierung Dass alles, was Menschen erleben, in Wahr­heit eine Konstruk­tion und Vorspie­gelung ihrer Ge­hirne sei, gehört heute zu den gängigen Überzeu­gun­gen von Neuro­wissen­ schaftlern und Neu­ro­philosophen. Von Schmerz oder Ärger über Farben oder Musik bis hin zu Liebe oder Glau­ben gibt es kaum noch ein Phäno­men, das nicht irgendwo im Gehirn un­terge­bracht wird. Der Kosmos entsteht im Kopf, und die Wahrnehmung wird gewisser­maßen zu einer phy­siologischen Illusion. Typische Beschrei­bungen lauten dann etwa fol­gendermaßen: »Was Sie sehen, ist nicht, was wirklich da ist; es ist das, wovon Ihr Gehirn glaubt, es sei da.«1 »Die geis­tige Multi­media-Show ereignet sich, während das Gehirn ex­terne und interne Sin­nesreize verarbeitet …«2 »… wir (befinden) uns immer schon in einem biolo­gisch erzeugten »Phe­nospace« (…): Innerhalb einer durch mentale Simulation er­zeugten virtuellen Realität.«3 »Unsere Wahrnehmung ist (…) eine Online-Simulation der Wirklichkeit, die unser Gehirn so schnell und unmittelbar aktiviert, dass wir diese fortwährend für echt halten.«4 Nach dieser neurokonstruktivistischen Konzeption ist die reale Welt also in dramati­ scher Weise verschieden von der, die wir erleben. Was wir wahr­neh­men, sind nicht die Dinge selbst, sondern nur die Bilder, die sie im Ge­hirn her­vorrufen. Die tatsächliche Welt ist ein eher trostloser Ort von Energie­fel­dern und Teilchenbewegungen, bar jeder Qualitäten. Der Baum vor mir ist eigentlich nicht grün, seine Blüten duften nicht, der Vogel in seinen Zwei­gen singt nicht melo­disch: Das alles sind nur zweck­mäßige Schein­ wel­ten, die das Gehirn an­stelle nackter, mate­riell-kine­matischer Pro­zesse erzeugt. Das milliar­denfache Flimmern neu­ronaler Erregun­gen er­zeugt meine Illu­sion einer Außen­ welt, während ich in Wahr­heit eingesperrt bleibe in die Höhle meines Schä­dels.

1  2  3  4 

F. Crick, Was die Seele wirklich ist, 30. A. Damasio, »Wie das Gehirn Geist erzeugt«. T. Metzinger, Subjekt und Selbstmodell, 243. W. Siefer / C. Weber, Ich – Wie wir uns selbst erfinden, 259.

Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus

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Nun ist das neurobiologische Unternehmen der Naturalisie­rung des Geistes nur der letzte Schritt in einem auf die Neuzeit zurück­gehenden Pro­zess der Entanthro­ pomorphisierung, der Spaltung von Lebenswelt und Wissen­schaft. Bereits für Galilei, Descartes und andere Protago­nisten des Naturalisie­rungsprojekts ist die Welt nicht das, als was sie uns in alltägli­cher Erfahrung erscheint. Ihre eigentliche Natur ist der Wahrnehmung nicht zu­gänglich; sie muss mit mathematischen Begriffen erst aufgedeckt wer­den. Damit erhält die Lebens­welt einen virtuel­len oder illusionären Status: Wir glaub­en nur, so Descartes, »… wir sähen die Fackel selbst und hörten die Glocke selbst, während wir nur die Bewegungen empfinden, die von ihnen ausgehen.«5 Die Wahrneh­mung vermit­telt nur Scheinbilder, zweckmä­ßig für uns erzeugt durch un­sere natürliche Sinnesorganisa­tion; erst die Wissen­schaft kann uns darüber Auskunft ge­ ben, in welcher Welt wir tatsäch­lich leben. Freilich ist Descartes’ dualistische Ontologie heute längst auf dem Rück­zug. Der Materialismus löst das Problem, das durch die Spaltung zwi­schen der sinnlich wahrgenommenen Welt und dem wissenschaftlich konzi­pierten Universum entsteht, indem er nur noch letzterem ontologi­sche Reali­tät zu­spricht. In einem Punkt jedoch knüpfen die Verfechter des moder­nen Natura­lismus noch immer an Descartes und den nachfolgenden Idealismus an: Auch für sie ist die wahrgenommene Welt nur subjektive Erschei­ nung, nämlich eine Reihe von »Vorstellungen« oder »Repräsen­tationen« als inne­ren Stellvertretern der äußeren Welt. Diese ide­alistische Konzeption der Wahrnehmung übernimmt die Neurobiologie, so heftig sie ansonsten den Dualismus bekämpft. Es genügt ihr, den Begriff der Repräsentation materialis­tisch umzudeuten, näm­lich zur Bezeichnung derjenigen neurona­len Pro­zesse, die den subjekti­ven Bildern der Außenwelt zugrunde liegen sollen. Durch spe­zifi­sche Erre­gungs­muster oder Datenstruktu­ren spiegelt das Gehirn die Struktu­ren der Au­ßen­welt wider. Wie sich zeigt, passen die idealisti­ sche Innen­welt des Bewusstseins und die neu­robiologische Innen­welt des Gehirns über­ raschend gut zueinander: Denn sowohl aus idealisti­scher wie aus materialistischer Sicht hat das Sub­jekt keinen wirklichen An­teil an der Welt. Die Verknüpfung beider Traditio­ nen wird durch die Erkenntnistheorie des Neurokon­struktivismus hergestellt. Nun gibt es einen Bereich der Welt, der sich der Verbannung in die men­tale Innenwelt in besonde­rer Weise widersetzt: Es ist der eigene Leib, den wir bewohnen, jedoch nicht wie der Kapitän sein Schiff oder der Fahrer sein Auto, sondern in der Weise, dass wir selbst dieser Leib sind – in der räumlichen Ausdehnung und Meinhaftigkeit der leiblichen Empfindungen, in der Selbstbeweglich­keit der Glieder und in allen leiblichen Fähigkeiten, die sich mit den zuhande­nen Dingen und Aufgaben der Umwelt in habituel­ler Weise verbin­den. Der Leib ist das primäre Medium des In-der-Welt-Seins, und damit auch das Zentrum unserer Lebenswelt. Das Programm der Naturalisierung lässt sich daher nur konsequent durchführen, wenn es ge­lingt, diesen subjektiven Leib als Illusion oder Projektion zu erweisen und den physikalisch definierten Körper an seine Stelle zu setzen. Nicht umsonst wandte bereits Des­cartes beträchtliche Mühe auf,

5 

R. Descartes, Die Leidenschaften der Seele, 41.

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Kolloquium 4  ·  Thomas Fuchs

um die primäre Erfahrung der Räumlichkeit und Mein­haftigkeit des erlebten Leibes zu untermi­nieren. Vor allem Phäno­mene wie das Phantomglied, das Ampu­tierte an der Stelle des fehlenden Gliedes empfinden, aber auch die belie­bige Teilbarkeit des Körpers im Gegensatz zum Geist sollten seine Zeitgenos­sen davon überzeugen, dass die alte, aristote­lisch-thomistische Konzeption der Koextension von Seele und Kör­per aufzugeben sei.6 Die enge Verbindung, ja Vermischung beider, die Descartes gleichwohl noch zugestand7, sollte doch nichts daran ändern, dass der Geist des Körperkonglo­merats nicht bedürfe und von ihm radikal verschieden sei. Der gleichen Problematik begegnen wir im Neurokonstruktivismus wieder, wenn auch unter materialistischem Vorzeichen. Im Interesse des Natura­lisie­­rungsprogramms muss die leibliche Subjektivität als Konstrukt erwie­sen werden. Das Phan­tom­glied und verwandte Erfahrun­gen bei Ge­sunden, in denen eigenleibliche Empfindungen außer­ halb der Körpergren­zen lo­kali­siert werden, ja auch die sogenannten außerkör­perlichen Erfahrun­gen schei­nen hinreichend zu belegen, dass un­ser sub­jek­tiver Leib nichts ande­ res ist als ein ge­wohnheitsmäßiger Phan­tom­körper, eine Simula­tion oder Kon­struktion des Gehirns, die unter bestimmten Umständen an nahezu beliebi­ger Raumstelle erzeugt werden kann. So gibt der Hirnfor­scher Rama­chandran zwei von jedem leicht durchführbare Experi­mente zu räumli­chen Verlagerungen des Leiberle­bens außerhalb des Körpers an, die belegen sollen: »Ihr eigener [subjektiver] Körper ist ein Phantom, ein Phan­tom, das Ihr Gehirn aus rein praktischen Gründen vorübergehend kon­struiert hat.«8 Das räumliche Körperschema, die Propriozep­tion, die Kin­ästhese – all das wird demnach an bestimmten Arealen vor allem des Parietal­hirns erzeugt und in den vom Gehirn konstruierten, virtuellen Raum hin­einproji­ziert. Die grundlegende Spaltung zwi­schen der sinnlich wahrgenomme­nen Welt und dem natur­wis­sen­­schaft­lich konzi­pierten Universum kehrt somit wieder in der Spaltung zwi­schen dem subjektiven Leib und dem physiologi­schen Körper, so als ob diese zwei unterschiedli­chen Wel­ten angehör­ten  – der eine der vom Gehirn kon­struierten »Innenwelt« des Bewusst­seins, der an­dere der objektiv-physikali­schen Welt. Die oben genannten Dissoziatio­nen von leibräumlicher und körperräumlicher Erfahrung sollen unsere lebens­weltliche Intuition, im verletzten Fuß auch den Schmerz zu empfin­den, als neuronal erzeugte Illusion erweisen. Um diese ge­samte Konzep­tion noch einmal zusammenfassen und zugleich die zentrale lebensweltliche Bedeu­tung des Lei­ber­lebens zu R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, Kap. VI, § 21 f., 155 ff. A. a. O., VI, 13. 8  V. S. Ramachandran / S. Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann, 114. – Eines der bekanntesten Experi­mente dieser Art ist die »Gummihand-Illusion«: Wird eine sichtbare Gummihand auf dem Tisch synchron mit der unter dem Tisch verborgenen eigenen Hand rhythmisch berührt, so nimmt die Versuchsper­son die Gummihand nach einiger Zeit als eigene Hand mit Berührungsempfindungen wahr. (M. Botvinick, J. Cohen: Rubber hands ›feel‹ touch that eyes see).  – Metzinger und Blanke haben die­ses Prinzip auf eine Ganzkörper-Illusion ausgeweitet: Wird bei einer Versuchsperson mittels Video­brille die Wahrnehmung eines Scheinkörpers erzeugt, der gleichzeitig mit ihrem eigenen Körper am Rü­cken gestreichelt wird, so kommt es zu einer Verlagerung der Selbstwahrnehmung in den Scheinkör­per (vgl. O. Blanke, T. Metzinger, Full-body illusions and minimal phenomenal selfhood). 6  7 

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verdeutlichen, zitiere ich aus einem Buch Gerhard Roths mit dem bezeichnenden Titel »Aus Sicht des Ge­hirns«: »Die Feststellung, dass die von mir erlebte Welt des Ich, meines Körpers und des Rau­mes um mich herum ein Konstrukt des Gehirns ist, führt zu der vieldiskutier­ten Frage: Wie kommt die Welt wieder nach draußen? Die Antwort hierauf lautet: Sie kommt nicht nach draußen, sie verlässt das Ge­hirn gar nicht. Das Arbeits­zim­mer, in dem ich mich gerade befinde, der Schreibtisch und die Kaffeetasse vor mir werden ja nur als ›draußen‹ in Be­zug auf meinen Körper und mein Ich erlebt. Diese beiden sind aber eben­falls Konstrukte, nur ist es so, dass mit der Konstruk­tion meines Kör­pers auch der zwingende Eindruck erzeugt wird, dieser Körper sei von der Welt umgeben und stehe in deren Mittelpunkt. Und schließ­lich wird (…) ein Ich erzeugt, das das Ge­fühl hat, in diesem Körper zu stecken, und da­durch wird es erlebnismäßig zum Zent­rum der Welt.«9 Der subjektive Leib stellt demnach ein ganz besonderes Konstrukt des Ge­hirns dar, das uns nämlich die Illusion vermittelt, tatsächlich in der Welt zu le­ben und mit ihr in Beziehung zu stehen. Der »Kosmos im Kopf«, also die behauptete Virtualität der erlebten Welt ebenso wie des Ich, be­ruht wesent­lich auf der Annahme, auch das Leiberleben sei nur virtueller Na­tur, oder mit anderen Worten: das Subjekt sei nicht verkörpert, nicht im Leib zu­hause, sondern es entspringe allein dem Gehirn, wie Athene dem Haupt des Zeus. Soll die Wahrnehmung mehr als eine virtuelle Welt vermitteln, und soll die Le­bens­ welt gegenüber dem neurowissenschaftlichen Dominanzanspruch wieder in ihr Recht gesetzt werden, so muss vor allem die behaup­tete Virtuali­tät des Leiberle­bens wider­ legt werden. Dazu werde ich im Folgen­den eine Argumentation entwickeln, die auf der impliziten Intersubjektivi­tät der Wahrnehmung beruht. Wie sich zeigen wird, vermag sie die Erfah­rung des leiblichen In-der-Welt-Seins zu beglaubigen und trägt so dazu bei, die Vorstellung einer monadischen Innenwelt des Subjekts im Gehirn zu überwinden.

2.  Leibliches In-der-Welt-Sein: Die Koextension von Leib und Kör­per Vergegenwärtigen wir uns zu­nächst die Tatsache, dass wir den sub­jektiven Leib und den organi­schen Kör­per norma­lerweise durchaus als koexten­siv erfahren: Dort, wo wir beim Atmen ein Weit- und Engwerden spüren, hebt und senkt sich auch der sichtbare Brustkorb. Der empfun­dene Schmerz sitzt dort, wo der Nagel auch den physi­schen Fuß gesto­chen hat. Und zeigt der Pati­ent dem Arzt seinen schmerzenden Fuß, so wird dieser auch dort nach der Ur­sache su­chen. Wäre die sub­jektive Leiber­fahrung nur eine Illusion, könnte er die Aussage des Patienten als bedeutungslos ignorieren. Es gibt also eine räum­ liche Über­einstimmung oder Syn­topie von Leiblichem und Kör­perlichem, auf die bereits Husserl hingewie­sen hat: In der »Komprä­senz« des in der subjekti­ven und in der objek-

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G. Roth, Aus Sicht des Gehirns, 48.

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tiven Einstellung Ge­gebenen konstituiert sich der Leib als »physisch-aesthesiologische Einheit.«10 Das Phänomen der Phantom­schmerzen zeigt uns zwar, dass der Organismus im Ausnah­mefall auch ohne das betreffende Glied eine entsprechende Schmerz­ empfindung erzeugen kann, macht aber den Nor­mal­fall nicht weni­ger er­staunlich: Wie ist es eigentlich mög­lich, dass wir den Schmerz tat­säch­lich da empfin­den, wo sich auch der dazu pas­sende verletzte Kör­perteil befindet – und nicht z. B. im Gehirn? Der naheliegende Begriff der »Projektion« von Leibempfindungen in den Raum des Körpers führt nicht weiter, denn in einer virtuellen Welt käme dieser objek­tive Körperraum gar nicht vor. Eine Projek­tion »nach außen« kann es nicht geben, wenn diese Außenwelt doch nach der Voraussetzung nur eine vom Gehirn konstruierte Innen­welt sein soll – es gäbe gar kein »wohin« der Pro­jek­tion. Die früher noch übli­ chen Pro­jektionskonzepte sind da­her in den kognitiven Neu­rowissen­schaften weitgehend zuguns­ten eines ein­heit­lichen phänomena­len, gleichwohl aber virtuellen Raums aufgege­ben worden, eines »Phe­nospace.«11 Der empfundene Schmerz in mei­nem Fuß ist demzufolge ebenso ein Hirnkonstrukt wie der gesehene Fuß und mit ihm die gesamte Umgebung, die ich wahrnehme. Sobald wir nun aber in eine intersubjektive Situation ein­treten wie der er­wähnte Patient beim Arztbesuch, wird rasch deutlich, dass subjektives Erle­ben und ob­jektive Situation keineswegs zwei strikt voneinander getrennten Welten ange­hören. Die »Syntopie« oder das Zusam­menfallen des Ortes von Schmerz und Ver­letzung betrifft nämlich jetzt den von Arzt und Pati­ent gemeinsam wahrgenom­menen Körper: Wo der Patient den Schmerz empfin­det und wohin er deutet, eben dort sucht und findet der Arzt auch dessen Ursache. Beide sehen den gleichen Fuß, der schmerzt und verletzt ist. Der Ver­weis auf den je­weiligen »Phenospace« von Arzt und Patient hilft nun nicht mehr weiter  – wenn die Rede von einer Realität des Kör­pers überhaupt ir­gendeinen Sinn haben soll, dann in der intersub­jekti­ven Situa­tion. Denn hier kommen die sub­jektiven Räumlichkeiten beider Personen in einer Weise zur Deckung, die ihre bloße Subjekti­ vität aufhebt. Der von bei­den Personen überein­stimmend ge­meinte Körper kann kein subjektives Scheingebilde mehr sein. Er befindet sich im ge­meinsamen, intersubjekti­ven und insofern objektiven Raum. Ich will diesen Punkt der Argumentation noch weiter verdeutlichen: Nach der neurokonstruktivistischen Voraussetzung produziert je­des Gehirn nur seinen eige­nen virtuel­len Raum; es kann somit keinen »gemein­samen Phe­nospace« von Arzt und Patient geben. Daraus folgt aber: Wenn sich Wahr­neh­mung restlos als ein physi­kalischer Prozess beschreiben und erklä­ren ließe, der sich jeweils zwischen einem Gegenstand und einem Ge­hirn ab­spielt, dann könnten zwei Menschen gar nicht ge­meinsam ein- und densel­ben Gegenstand betrachten. Die zwei Prozesse liefen, vom betrachteten Objekt ausge­hend, in verschiedene Richtungen und streng getrennt vonein­ander ab, und die beiden Personen blieben in ihre jeweilige Welt einge­schlos­sen. Sie könnten zwar versu10  E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi­schen Philosophie II, 155, 161. – Vgl. zur Koextension von Leib und Körper auch T. Fuchs, Leib, Raum, Person, 135 ff. 11  T. Metzinger, Subjekt und Selbstmodell, 243.

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chen, sich über ihre Innenwelten zu verstän­digen, hätten dafür aber keine gemeinsamen Referenzobjekte mehr. Jedes Zeigen-auf-etwas verbliebe nur im eigenen Illusionsraum, und daher gäbe es auch für die sprachlichen Indexikalien (»dieses«, »hier«, »ich«) keine gemeinsamen Richtungen und Ankerpunkte. Damit aber entfiele auch die Grundlage sprachlicher Verständigung. Die neurokonstruktivistische Illusi­onsthese führt also in letzter Konsequenz zu einem »Neuro-Solipsis­mus«. Doch schon der einfache Vorgang, dass der Arzt z. B. ein Rezept für ein Schmerzmittel schreibt und das Papier dem Patienten übergibt, beruht dar­auf, dass beide denselben Gegens­tand sehen, ihn als solchen intendieren, und nicht nur mit ihren internen Konstrukten oder mentalen Bildern umge­hen. Beide haben Anteil am intersub­jektiv konstituier­ten und insofern objekti­ven Raum gemeinsamer Gegenständlichkeit. Ihre subjektive Sicht ist also zwar eine je individuelle und perspektivische Sicht, jedoch nicht etwa virtu­ell oder subjektiv in dem Sinne, als wäre das Gesehene »nur im Subjekt«. Se­ hend befinden wir uns im­mer schon in einem gemeinsamen Raum mit ande­ren Sehenden (seien sie nun anwesend oder abwesend), de­ren Perspektiven wir als gleichermaßen gültig voraussetzen. Es ist ihr Se­hen (Hören, Tasten …), das unsere eigene Wahrnehmung beglaubigt. Die Intentionalität der Wahrnehmung hebt somit die Gebundenheit an eine rein subjektive Perspektive auf; sie enthält eine implizite Intersubjekti­vität.12 Arzt und Patient nehmen also den gleichen, objektiven Körper wahr. Nun fällt aber die subjektive Stelle des Schmerzes mit dem objektiven, zeigba­ren Ort des betreffenden Körperteils zusammen. Der subjek­tiv-leibliche und der ob­jek­tive Raum kommen also tatsächlich zur Deckung, und wir müssen die Frage wieder­ho­len: Wie ist es möglich, dass der Patient den Schmerz ge­rade dort empfin­det und nicht im Gehirn? Schon die Richtung dieser Frage zeigt freilich, dass wir in cartesianischer Tradi­tion noch immer gewohnt sind, Subjektivität kategorial vom leben­digen Orga­nismus zu trennen. Evolutionär ver­hält es sich gerade umge­kehrt: Ursprüng­lich ist der ganze Körper ge­ wisserma­ßen ein Sinnes- und Fühl­organ. Gerade an seinen Grenzflä­chen mit der Um­gebung ist der Organis­mus reizbar, sensibel und responsiv. Die ele­men­tare Sensibilität beginnt an der Periphe­rie des Körpers. Die Aus­bildung eines ner­vösen Zentral­organs hebt diese peri­ phere Sensibi­lität nicht auf, sondern integriert sie. Dass das leibliche Be­wusstsein dennoch mit dem Orga­nismus koexten­siv bleibt, zeigt, dass es von An­fang an ein verkörpertes Bewusstsein ist. Es stellt das »Integral« des leben­digen Organismus insge­samt dar, nicht ein im Gehirn produ­ziertes Phantom oder Modell.13 Nach Husserl bezeugt gerade die horizonthafte Gegebenheit der Objekte, dass sie auch für andere zugäng­lich sind: Der Erfahrungsgegenstand, etwa ein Tisch, erschöpft sich nicht in den mir gegebenen Aspekten, sondern verfügt über einen Horizont gleichzeitiger Aspekte (etwa die Rückseite des Tisches), die mir nicht zugänglich sind, die aber prinzipiell von anderen wahrgenommen werden können. Auf­g rund seiner Aspektivität existiert also der Gegenstand nicht nur für mich allein, sondern verweist im­mer zugleich auf andere (E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzenden­t ale Phänomenologie, 468). Somit ist auch mein schmerzender Fuß ein implizit immer schon von ande­ren »mitgesehener« Fuß. 13  Der Begriff des Modells oder auch des »Selbstmodells« impliziert, dass dem subjektiven Erleben nur ein abgeleiteter oder sekundärer Status zukomme: Die materielle Substanz des Körpers ist die eigentli­che Realität, das subjektive Leiberleben nur deren mehr oder minder zutref12 

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So gesehen ist die Koextension von subjektivem Leib und organischem Kör­per nicht mehr verwunderlich. Sie ist aber auch funktionell sinn­voll: Das Be­w usstsein ist dort, wo die entschei­denden Interaktionen mit der Um­welt stattfinden – in der Peri­pherie, nicht im Gehirn. Schließ­lich ist der Kör­per der eigentliche »Spieler im Feld«; daher ist es sinnvoll, dass seine Grenzen, Stellun­gen und Bewegungen in der Umwelt leibräumlich erlebt und nicht nur kogni­tiv registriert werden. Theoretisch wäre es zwar auch denkbar, dass Schmerzen uns ebenso ortlos zu Bewusstsein kämen wie Gedan­ken oder Erinne­run­gen. Doch ohne die Koinzidenz der bei­den Räum­e hätten wir unse­ren Kör­per nur als ein äußerlich zu hantie­ren­des Werk­zeug und wären nicht in ihm »in­karniert«. Nur weil das Bewusstsein in der schmer­zen­den Hand ist, zieht man sie unwillkürlich vor der Nadel zurück.14 Nur weil die Empfindung des Töpfers in seiner tastenden Hand sitzt, und er dort den Widerstand und die Struk­tur des Tones spürt, kann er ihn auch ge­schickt formen. Eine bloße »zentrale Ver­rech­nung« im Gehirn könnte nie­mals leisten, was die un­mittelbare Präsenz des Sub­jekts in sei­ner Hand ermög­licht, nämlich die Verknüpfung von Leib, Wahr­neh­mung, Be­wegung und Objek­t in einem sensomotorischen Aktionsraum: »Mein Leib ist da, wo er et­was zu tun hat.«15 Wenn ich also nach etwas taste, so bewege und spüre ich keine virtu­elle, sondern meine wirkliche Hand, die ihrer­seits einen wirklichen Gegenstand berührt. Das wird da­durch möglich, dass der subjek­tive leibliche Raum in den objekti­ven Raum des Organismus in seiner Umwelt ein­gebettet ist. Mit an­deren Worten: Der Leib ist die Weise, wie wir uns als Organismen in Beziehung zur Umwelt erfahren. Wir sind leibhaf­tig in der Welt – und nicht We­sen, die nur »das Ge­fühl haben, in ihrem Körper zu ste­cken«, wie Roth meint. Freilich ist die Ausdehnung des subjektiven Leibs flexibel – nämlich entspre­chend den jeweiligen funktionellen Erfordernissen. Sie stimmt keineswegs im­mer mit den

fende Modellierung oder Reprä­sentation. Ohne hier in eine umfassende Kritik der SelbstmodellTheorie Metzingers (1999) eintre­ten zu wollen, sei doch soviel gesagt, dass ein Modell nur für jemanden ein Modell ist, also eine andere Wirklichkeit repräsentiert. Soll das personale Subjekt aber der Voraussetzung nach selbst nur ein Modell (bzw. ein »Selbstmodell«) sein, so bleibt nur übrig, dem neuronalen oder organismischen System einen Quasi-Subjekt-Status zuzuschreiben: Das Gehirn erschafft sich mit dem subjektiven Leib ein Modell des Organismus. Doch weder Gehirne noch ihre Subzentren sind Subjekte, für welche das Modell als solches fungieren könnte; und fasst man den Organismen als maschinen-analoge Biosysteme ohne Selbstsein auf, dann gibt es für sie Modelle ebensowenig wie für ein mit Zielsuchsystem ausgestatte­tes Torpedo. Der Begriff des Modells beruht also auf dem, was durch ihn erklärt werden soll, nämlich auf Subjektivität. Vgl. dazu ausführlicher T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, 59 ff. 14  Dies hat selbst Descartes klar gesehen: Die Reizung der Schmerzfasern im Fuß lasse uns den Schmerz zwar nur so empfinden, »als ob« er im Fuß wäre, was aber dennoch sinnvoll sei: »Zwar hätte Gott die Natur des Menschen auch so einrichten können, dass dieselbe Bewegung im Gehirn dem Denken irgend etwas ande­res darstellte, etwa sich selbst, sofern sie sich im Gehirn oder im Fuß oder an einer der dazwischenliegen­den Stellen befindet (…); aber nichts anderes hätte zur Erhal­tung des Körpers gleich gut beigetragen« (R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, VI, 23; 157 ff; Hvhbg. v. Vf.). Nur zieht Descartes dar­aus nicht den notwendigen Schluss, das Subjekt der Schmerzen als (leib-)räumlich zu denken. 15  M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 291.

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Grenzen des Körpers überein. So können auch In­stru­mente in das subjektive Körperschema integriert werden: »Der Stock des Blin­den«, so schreibt Merleau-Ponty, »ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrge­nommen, sein Ende ist zu einer Sinnes­zone geworden.«16 Ebenso spürt der geübte Autofah­rer die Quali­tät des Stra­ßenbelags unter den Reifen sei­nes Wagens. Ein Amputier­ter vermag durch allmähliche Ge­wöhnung seine Pro­these zu »in­korporie­ren«, so dass sie für ihn buch­stäblich zu einem neuen Leibglied wird. Statt nur zentrales Konstrukt zu sein, modifi­ziert sich also der sub­jektive Leib­raum in Abhän­gigkeit von der je­weiligen Zone, in der die tatsächliche Ausei­nanderset­zung mit der Umwelt stattfindet. Dies ist wiederum funktio­nell sinn­voll: Der phy­sische Kontakt mit dem eigentlichen Widerstand der Umgebung muss in das subjektive Erleben ein­ge­hen, damit ein adäquater Umgang mit Ob­jekten und Werkzeugen mög­lich wird. Die angeblichen »Illusio­nen«, die da­bei entstehen, sind in Wahrheit höchst sinnvolle Verschie­bungen unseres Leibbe­w usstseins im Kontakt mit der Umwelt. Wie­derum folgt: Der objek­tive Raum des physischen Or­ ganismus und der subjektive Raum des leibli­chen Erlebens sind ineinander verschränkt und modifizieren sich ständig wechsel­seitig.17 Eine Einschränkung freilich gilt: Phänomene wie die Phantomglieder oder andere Leib-Körper-Dissoziationen zeigen, dass die Diskrepanz zwischen dem objektiv-körperlichen und dem subjek­tiv-leibli­chen Raum aus­nahms­weise erhebliche bzw. dysfunktionale Ausmaße annehmen kann.18 Solche Ausnahmen sprechen aber ebenso wenig wie die Verschie­bungsphä­nomene beim Instrumentengebrauch ge­gen die grundsätzli­ che Syntopie, also gegen die prinzi­piell koextensive Räumlich­keit von Leiblichem und Organisch-Körperlichem – im Gegen­teil, sie bestäti­gen sie sogar. Wären nämlich Leib und Körper nicht normaler­weise koexten­sive so wäre für den Am­putier­ten sein Phantom­glied nicht so irritierend; denn es gäbe dann auch keine mögli­che Diskre­panz beider Räumlich­keiten.19 Freilich sind die Formen und Grenzen des gespürten Lei­bes auch im Normalfall unscharf und flie­ßend; schon deshalb können sie nicht mit den Körperformen exakt überein­stimmen. Die prinzipielle Syntopie von Leib und Körper genügt jedoch, um die Illusions­these zu widerlegen. Ebensowenig wie das Vorkommen von optischen Täuschungen oder Doppelbildern unsere visuellen Wahrnehmun­gen

A. a. O., 173. Dies gilt z. B. auch für physiologische Veränderungen, wie sie beim Autogenen Training auftreten: Die autosuggestiv hervorgerufene Wärmeempfindung in einem Leibglied geht mit einer messbar erhöhten Durchblutung des entsprechenden Körperteils einher. Ähnlich sind die meisten der in der psychosomati­schen Medizin thematisierten Phänomene in dieser wechselseitigen Verschränkung von Leiblichkeit und Körperlichkeit begründet. 18  Hierbei spielt eine Reorganisation des somatosensorischen Kortex nach Ausfall des peripheren Sig­nalinputs vom amputierten Glied eine zentrale Rolle; vgl. Ramachandran u. Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann, 57 ff. 19  So kann ein Armamputierter seinen Stumpf auf eine Wand zu bewegen und dabei zu seiner Bestürzung feststellen, wie das Phantom mühelos die Wand durchdringt und nun mit ihr »denselben« Raum ein­nimmt (vgl. D. Katz, Zur Psychologie des Amputierten und seiner Pro­ these). Doch keiner der beiden erlebten Räume ist an sich illusionär – sie sind vielmehr koextensive, sich überlagernde Modalitäten des einheitlichen Erfahrungsraums. 16  17 

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sämtlich als Illusionen erweist, lassen Phantomglieder oder außerkörperli­che Erfahrungen den Schluss auf eine generelle Virtualität unseres Leiberlebens zu.

3.  Der Ort des Schmerzes Fragen wir nun nach diesen Überlegungen noch einmal: Wo ist der Schmerz, wenn mir der Fuß weh­tut?  – Nach gängiger neurowis­senschaftli­cher Überzeugung dort, wo er angeblich er­zeugt wird, also im Gehirn. Selbst Searle, sonst ein Kriti­ker des neurobiologischen Re­duktio­nismus, ist die­ser Auffassung: »Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass unsere Schmer­zen sich im physikali­schen Raum inner­halb unse­res Körpers befin­den (…) Doch wis­sen wir nun, dass dies falsch ist. Das Hirn bildet ein Körper­ bild, und Schmer­zen – wie alle kör­perlichen Empfindun­gen – gehö­ren zum Kör­per­bild. Der Schmerz-im-Fuß ist buchstäb­lich im physi­kali­schen Raum des Hirns.«20  – Doch das Ge­hirn empfindet weder Schmerzen noch ent­hält es sie. Es produziert auch kein »Körper­bild«, denn der erlebte Leib ist kein »Bild« von einem Körper, sondern es ist der Körper selbst als empfunde­ner. Alles was sich im Ge­hirn fin­det, wenn jemand Schmerz empfin­det, sind bestimmte neuro­nale Aktivie­rungen (be­sonders im somato­sensori­schen Kortex und im Gyrus cin­guli), die zwar notwendige Bedingun­gen des Schmerzerlebens darstellen, aber sicher keine Schmerzen sind. Der Schmerz-im-Fuß ist somit weder im phy­sikali­schen Raum des Fußes noch im physikalischen Raum des Gehirns, denn Schmerzen sind nun ein­mal weder anatomische Dinge wie Sehnen oder Knochen, noch physiologi­sche Prozesse wie Ladungs­ verschiebungen an neuronalen Zellmembranen. Wo ist der Schmerz dann? Er ist im »Fuß-als-Teil-des-lebendi­gen-Kör­pers«, denn dieser einheitliche le­bendige Kör­per bringt  – nicht zuletzt vermit­tels des Gehirns  – auch eine leibliche, räum­lich aus­ge­ dehnte Subjektivi­tät hervor. Dass ich sinnvoll aussagen kann: »Ich habe Schmer­zen im Fuß«, und denselben Fuß auch meinem Arzt zei­gen kann, setzt vor­aus, dass der subjektive Raum meines Schmer­zes und der ob­jek­tive Raum meines Fu­ßes nicht zwei getrennten Welten angehören, sondern synto­pisch zur Deckung kom­men. Das ist für ein physikalistisch geprägtes Denken schwer ak­zeptabel – wird hier nicht das »Gespenst in der Maschine«21 wieder zum Leben er­weckt? Soll der Seele insgeheim wieder Einlass in die physikalisch ge­reinigte Welt ver­schafft werden? – Tatsächlich war es ein selbstver­ständlicher Bestand­teil aristote­lischer und vorneuzeitlicher Über­zeu­ gungen, dass die Seele unteil­bar und dennoch mit dem organischen Kör­per koextensiv sei. 22 Noch Kant schreibt in seiner vorkritischen Peri­ode:

J. R. Searle, Die Wiederentdeckung des Geistes, 81. So die bekannte Formulierung von G. Ryle in seiner Kritik des Leib-Seele-Dualismus (G. Ryle, The Concept of Mind). 22  Vgl. Aristoteles, De Anima 411 b 24 (»in jedem der Teile sind alle Teile der Seele vorhanden«); später dann Meister Eckhart: »Die Seele ist ganz und ungeteilt vollständig im Fuße und vollstän­dig im Auge und in jedem Gliede« (Eckhart, Predigten, 161 ff.) oder Thomas von Aquin: 20  21 

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»Ich würde mich also an der gemeinen Erfahrung halten und vorläufig sa­gen: wo ich empfinde, da bin ich. Ich bin ebenso unmittelbar in der Fin­ger­spitze wie in dem Kopfe. Ich fühle den schmerzhaften Eindruck nicht an ei­ner Gehirnnerve, wenn mich ein Leichdorn peinigt, sondern am Ende mei­ner Zehen. Keine Erfah­rung lehrt mich, (…) mein unteilbares Ich in ein mikroskopisch kleines Plätzchen im Gehirn zu ver­sperren, um von da aus den Hebezug meiner Körpermaschine in Bewegung zu set­zen, oder da­durch selbst getroffen zu werden (…) Meine Seele ist ganz im ganzen Kör­per und in jedem seiner Teile.«23 Erklärt man nun die subjektive Erfahrung leiblicher Räumlichkeit nicht zum Schein, sondern setzt sie syntopisch in Bezug zum intersubjekti­ven und da­mit ob­jekti­ven Raum, so knüpft dies in gewissem Sinn tatsächlich an die Lehren von einer Koextensivität von »Seele« und »Körper« an, aller­dings mit einer ganz anderen, nicht-dualistischen Begrifflichkeit. An die Stelle der außerweltlichen cartesischen Seele oder res cogitans tritt der sub­jekti­ve, räumlich ausgedehnte Leib. Und an die Stelle des physikalistisch als bloße res extensa verstandenen Körpers tritt der lebendige Organismus: Er stellt ein einheitliches Funktionsgan­zes dar, das unteilbar und gleich­wohl im physikali­schen Raum ausge­dehnt ist – in Parallele zum sub­jekti­ven Leib und dessen unteil­barer Ausdehnung. 24 Ein adäquater Begriff des Lebendigen muss daher den organis­misch-körperlichen ebenso wie den subjek­ tiv-leiblichen Aspekt umfassen. Beide hängen nicht nur äußerlich im Ge­hirn miteinander zusammen; sondern das Lebewesen als Ganzes er­scheint ein­mal als lebendiger, empfindender und zugleich expressiver Leib25, das an­dere Mal als lebendiger Organismus. Dass dieser lebendige Organis­mus zum Träger einer gleichfalls räum­lich ausge­dehn­ ten Subjektivi­tät werden kann, fügt der rein physi­ka­lisch be­schreib­ba­ren Welt keine neue Entität, keine Seelensubstanz hinzu, wi­der­spricht also auch keinen phy­sikalischen Geset­zen. Allerdings be­deutet es für uns selbst als leben­dige Wesen eine funda­mentale Verän­derung: Wir sind keine im Ge­hirn einge­schlossene Monaden mehr, denen ein Bild der Welt vor­gespie­gelt wird, sondern wir bewohnen unse­ren Leib und durch ihn die Welt. Die Phäno­menologie kann damit un­sere primäre Erfahrung wie­der in ihr Recht setzen, als leibliche Wesen in der Welt zu sein. »Anima homi­nis est tota in toto corpore et tota in qualibet parte ipsius« (T. von Aquin, Summa Theologiae, I q 93 a 3). 23  So Kant in den »Träumen eines Geistersehers« von 1794 (324 f.). 24  Die von Descartes behauptete beliebige Teilbarkeit des organischen Körpers ist also ebensowenig aufrechtzu­erhalten wie die Unausgedehntheit des Subjekterlebens (vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, VI, 17, 19; 151 ff.). Auch die leibliche Subjektivität ist unteilbar ausgedehnt, inso­fern ihr alle räumlich verteilten Leibempfin­dun­gen gleichermaßen zugehören und in der einheitlichen »Meinhaftigkeit« des Leibes vereinigt sind. Man kann dies beim eigenleiblichen Spüren mit geschlosse­nen Augen leicht nachprüfen. Räumlich ist auch die am ganzen Leib empfundene Frische oder Müdig­keit, das Missbefin­den oder das Krankheits­gefühl (vgl. dazu H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegen­stand, 117 ff., sowie T. Fuchs, Leib, Raum, Person, 97 ff). 25  In der Wahrnehmung eines schmerzverzerrten Gesichts wird der Schmerz auch der Perspektive der 2. Person zugänglich, erweist sich also auch in dieser Hinsicht als ein Phänomen, das nicht einer virtuellen Innenwelt angehört, sondern dem lebendigen und sichtbaren Leib als ganzem.

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4.  Resümee: Lebenswelt und Neurowissenschaften Der Leib ist das Zentrum und die Grundlage der Lebenswelt. Durch seine ausge­dehnte Räumlichkeit, Beweglichkeit und Geschicklichkeit sind wir in die Welt eingebettet und in ihr zuhause. Durch seine Erscheinung, seine Bewegungen und seinen Aus­druck werden wir aber auch als Personen für an­dere wahrnehmbar und ver­ständlich. Es ist die von Husserl so genannte perso­n alistische oder lebens­weltliche Einstellung, in der wir einander als leibliche Wesen, als verkörperte Subjekte erfahren, verstehen und miteinan­ der kommu­nizie­ren. In der Lebenswelt begegnen wir einander nicht wie Körperve­hi­kel, in deren Gehirnen wir die Gedanken und Gefühle des ande­ren lokalisie­ren, sondern als Personen, die ihren gesamten Leib bewohnen, in ihm erscheinen und sich ausdrücken. Schon der Dualismus bei Descartes, aber auch der neurobiologische Konstrukti­ vismus beruht nun auf einer doppelten »Entleiblichung«. Zum einen nämlich wird der lebendige Leib objek­tiviert zu einem bloßen Kör­perding; zum an­deren wird das leibliche Subjekt zu einem Bewusstseins-Ich hypostasiert und in eine mentale Innen­welt eingesperrt. Der Körper lässt sich dann aus der Beobachterper­spek­tive oder 3. PersonPerspektive erforschen; dem Bewusst­seinsubjekt bleibt nur noch die zwar unbestreit­ bare, aber doch un­zugängliche 1. Person-Perspektive. Was damit wegfällt, ist zum einen die lebens­weltliche oder Teilnehmer-Perspektive, die Perspek­tive der 2.  Per­son; zum anderen das Prinzip des Lebens, das dem Organis­mus als ganzem zukäme. Der neurobiologi­sche Re­duktionis­mus ergibt sich dann aus ei­nem Kurzschluss zwischen 1.  und 3.  Person-Perspek­tive, nämlich zwischen dem abstra­hierten Bewusst­sein und dem objektivier­ten Körper bzw. dem Gehirn als seinem pars pro toto. Doch es ist nicht das Gehirn, das fühlt, denkt, wahr­nimmt oder sich bewegt, son­dern nur das Lebewesen, der lebendige Organis­mus als ganzer. Wie sich zeigt, ist die Leiblichkeit die Schlüsselstelle und zugleich die Achilles­ferse des neurobiologischen Reduktionismus. Um die physikali­sche Welt von allem Erlebten und Lebendigen zu reinigen, muss der subjek­tive Leib zum internen Konstrukt des Gehirns erklärt werden; seine räumliche Ausgedehntheit darf nur eine Illusion sein. Demgegen­ über habe ich zu zeigen versucht, dass Leib und Körper eine »physisch-ästhesiologi­sche Einheit« darstellen, wie Husserl es ausdrückt; dass also der subjektiv erlebte Leib und der intersubjektiv wahrgenommene, physi­sche Körper synto­pisch zur De­ckung kommen. Dieser Körper ist freilich nicht mehr der teil­bare Maschinenkörper einer mechanistischen Physiologie: Der Einheit des subjektiven Leibes entspricht vielmehr die unteilbare Einheit des lebendigen Organismus. Eine Neubegründung des Lebensbe­griffs auf der Basis der leiblichen Selbster­fahrung ebenso wie einer systemischen Biologie ist insofern die zent­rale Voraussetzung dafür, die naturalistische Aufspal­tung der Per­son in Physi­ sches und Mentales zu überwinden. 26 Das Subjekt ist ausgedehnt über den leibli­chen Raum, und dies nicht in Form eines Phantomge­bildes, eines Hirnkon­strukts, sondern als die in einen le­bendigen Kör­per Dazu habe ich in meinem Buch »Das Gehirn – ein Beziehungsorgan« einen Ansatz entwickelt (insbes. Kap. 3). 26 

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ein­gebet­tete und mit ihm koexten­sive verkör­perte Subjek­ti­vität. Die somatosensori­ schen und motori­schen Strukturen im Ge­hirn sind freilich notwendige Bedingun­gen dieses Sub­jekterlebens. Doch be­deutet dies nicht, dass das Leib­subjekt im Gehirn zu lokalisieren wäre wie Descartes‹ Seele in der Zirbeldrüse. Wir gehö­ren der Welt an, mit Haut und Haaren – wir sind leibliche, leben­dige und damit »organischere« We­sen als es der neuro­wis­senschaftliche Zerebro­zentrismus suggeriert. Die Neurobiologie unterschlägt den Primat der lebensweltlichen oder Teilneh­merPerspektive, in der alleine sich Lebendiges und Leibliches wahr­nehmen lässt. Stattdessen vertritt sie letztlich einen metaphysischen Realismus, der das »Gehirn an sich« erkennen zu können glaubt, und der Lebenswelten als bloße Konstrukte betrachtet. Die Verfeinerungen neurobiologi­scher Messver­fahren, so schreibt etwa Singer, »… machen oft als psy­chisch bezeichnete Phänomene zu objektivier­baren Verhal­tens­leistun­ gen (…) Darunter fal­len Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Verges­sen, Bewerten, Planen und Entscheiden, und schließlich die Fä­hig­keit, Emo­tionen zu haben. All diese Verhaltensma­nifestationen lassen sich operationalisieren, aus der Dritten-PersonPerspektive heraus ob­jektivieren und im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückfüh­ren.«27 Wie man aus der 3.-Person-Perspektive (d. h. ohne mit der betreffen­den Per­son zu sprechen) Wahrnehmungen oder Emotionen fest­stellt, bleibt frei­lich Singers Geheimnis. Die Teilnehmerperspektive ist im Unter­schied zur Beobachter-Perspektive die soziale Perspektive, in der Men­schen einander als Personen wahrnehmen und mitein­ander kommuni­zieren. Das Erleben, Wahrnehmen, Fühlen und Han­deln von Perso­nen ist überhaupt nur aus die­ser Perspektive zu erfassen und dann unter gewissen Einschränkun­gen auch mit neurowissen­schaftli­chen Befun­den korrelierbar. Wer nicht weiß, was »Sehen« ist und sich mit anderen Sehen­den darüber verständigen kann, kann auch keine Neurophysiologie der optischen Wahrnehmung treiben. Schon die Gegenstandskonstitution erfordert vom Neurowissenschaftler also das Einnehmen der Teilnehmerper­pek­tive. »Ohne Intersubjektivität des Ver­stehens keine Ob­jektivität des Wissens.«28 In der 2.-Person-Perspektive begegnen wir einander als verkörperte Sub­jekte, als Lebewesen mit einem Leib, der weder in Innen- noch in Außen­per­spektive ein Hirnkonstrukt darstellt, sondern eine physisch-ästhesiolo­gische Einheit. Und so wie es keinen Körper im Kopf gibt, so auch keine Hirnwelten, keinen Kosmos im Kopf. Denn der Kosmos ist nicht der ídios, son­dern der koinós kósmos, die Welt, die wir mit den ande­ ren teilen. Indem sie in ihrer Leiblichkeit für uns wirklich werden, werden wir auch uns

W. Singer, »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung«, 238. J. Ha­bermas, »Freiheit und Determinismus«, 885. – »Die Objektivität der Welt konstituiert sich für einen Beobachter nur zugleich mit der Intersubjek­tivi­tät der möglichen Verständigung über das, was er vom innerweltlichen Geschehen kogni­tiv erfasst. Erst die intersub­jektive Prüfung subjektiver Eviden­zen ermöglicht die fort­schrei­tende Ob­jektivierung der Natur. Darum können die Verständi­gungspro­zesse selbst nicht im Gan­zen auf die Objektseite gebracht, also nicht vollständig als in­nerweltlich determi­niertes Geschehen be­schrieben und auf diese Weise ob­jektivierend ›eingeholt‹ werden« (a. a. O., 883). 27 

28 

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Kolloquium 4  ·  Thomas Fuchs

selbst wirk­lich, als leibhaftige und in ihrem Leib erscheinende Wesen. Leiblich­keit und Lebenswelt begründen einander wechselseitig.

Literatur von Aquin, Thomas: Summa Theologiae. Milano 1988. Aristoteles: Vom Himmel – Von der Seele – Von der Dichtkunst. Hg. u. übs. v. O. Gigon. München 1950). Blanke, Olaf / Metzinger, Thomas: Full-body illusions and minimal phenomenal selfhood. Trends in Cognitive Sciences 13 (2008), 7–13. Botwinick, Matthew, Cohen, Jonathan: Rubber hands ›feel‹ touch that eyes see. Nature 391 (1998), 756. Crick, Francis: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erfor­schung des Be­wusstseins. München 1994. Damasio, Antonio: »Wie das Gehirn Geist erzeugt«, in: Spektrum der Wissenschaft, Dos­ sier 2: Grenzen des Wissens, (2002), 36–41. Descartes, René : Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die erste Philoso­ phie. Hg. v. L. Gäbe., Hamburg 1959. Descartes, René: Die Leidenschaften der Seele. Hg. und übs. v. K. Hamma­cher. ­Hamburg 1984. Eckhart [Meister]: Predigten. Bd. 1. Stuttgart 1958. Fuchs, Thomas: Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropolo­gie, Stuttgart 2000. Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologi­sche Konzeption, Stuttgart 2008. Habermas, Jürgen: »Freiheit und Determinismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philo­ sophie 52, (2004), 871–890. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi­schen Philosophie II. Husserliana Bd. 4., Den Haag 1952. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Bd. 6., Den Haag 1962. Kant, Immanuel: Träume eines Geistersehers, in: Werke, hg. v. d. Preußischen Akade­mie der Wissenschaften, Bd. 2., Berlin (1905). Katz, David: Zur Psychologie des Amputierten und seiner Pro­these. Leipzig 1921. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Ber­lin 1965. Metzinger, Thomas: Subjekt und Selbstmodell. 2. Aufl., Paderborn 1999. Ramachandran, Vilaynur S. / Blakeslee, Sandra: Die blinde Frau, die sehen kann. Rät­ selhafte Phänomene unseres Bewusstseins, Rein­bek / Hamburg 2001. Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt a. M. 2003. Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, London 1949. Searle, John R.: Die Wiederentdeckung des Geistes. München 1993.

Hirnwelt oder Lebenswelt? Zur Kritik des Neurokonstruktivismus

275

Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1995. Siefer, Werner / Weber, Christian: Ich – Wie wir uns selbst erfinden. Frankfurt a. M. 2006. Singer, Wolf: »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei konflikt­ trächtige Erkenntnisquellen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philo­sophie 52 (2004), 235–255.

Kolloquium 5 Rechtsphilosophie und Rechtstheorie

Eric Hilgendorf Einführung: »Themenwechsel. Versuch einer Lagebestimmung der deutschsprachigen Rechtsphilosophie« Matthias Jestaedt Rechtstheorie als Euthanasie der Rechtsphilosophie? Hans Kelsens Ergänzungsthese gegen Gustav Radbruchs Verdrängungsthese Thomas Gutmann Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff Winfried Brugger Menschenwürde, Menschenrechte und Rechtsphilosophie im anthropologischen Kreuz der Entscheidung

Einführung: »Themenwechsel. Versuch einer Lagebestimmung der deutschsprachigen Rechtsphilosophie« Eric Hilgendorf

Die deutsche Rechtsphilosophie befindet sich in keinem guten Zustand.1 Für diese Feststellung lassen sich mehrere Belege anführen: Zum einen wird die Rechtsphilosophie von der Rechtsdogmatik, also der Rechtswissenschaft i.e.S., kaum mehr zur Kenntnis genommen. Unter Rechtsdogmatik soll in diesem Zusammenhang die systematische Analyse und Interpretation des gegebenen Rechts nach den Regeln der juristischen Kunst verstanden werden. Zwar sind Rechtsphilosophen, sofern sie an deutschen Fakultäten lehren, so gut wie immer gleichzeitig auch Vertreter eines der dogmatischen Fächer Zivilrecht, Strafrecht oder öffentliches Recht, doch existieren selbst bei ihnen kaum mehr Schnittstellen zwischen ihrer rechtsphilosophischen und der rechtsdogmatischen Tätigkeit. Von der Diskursphilosophie, die vor gut 30 Jahren neuen Schwung in die deutsche rechtsphilosophische Landschaft zu bringen versprach, gehen keine intellektuellen Impulse mehr aus, sie wirkt vielmehr scholastifiziert und in mehr als einer Hinsicht verstaubt. Auch die juristische Grundlagenforschung allgemein, also die »Rechtstheorie« im weiteren Sinne, spielt weder in der rechtspolitischen Debatte noch in der Praxis eine erkennbare Rolle. 2 Ein weiteres Indiz für die Krise der deutschsprachigen Rechtsphilosophie ist ihr Schweigen angesichts der aktuellen Herausforderungen, mit denen es die Rechtssysteme in den entwickelten Ländern zu tun haben. So wird etwa der rasante Fortschritt der Technik in der deutschen Rechtsphilosophie kaum reflektiert. Eine Ausnahme stellt allerdings die Humanbiotechnik dar, zu der sich, in Anlehnung an die angelsächsische Bioethik, bemerkenswerte Beiträge finden. Auch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung wurden in der juristischen Grundlagendebatte rezipiert. Dagegen haben Themen wie das Internet, die Nanotechnik oder die moderne Robotik bislang kaum ein Echo in der juristischen Grundlagenforschung hervorgerufen. Noch mehr erstaunt die Zurückhaltung der Rechtsphilosophen gegenüber den vielfältigen Fragen der technischen, wirtschaftlichen und schließlich kulturellen Globalisierung. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht kulturell (mit)bedingte Konflikte, vom »Ehrenmord« bis hin zum modernen Terrorismus, die Öffentlichkeit bewegen. Die 1  Zum Folgenden auch E. Hilgendorf, »Zur Lage der juristischen Grundlagenforschung in Deutschland heute«. Vgl. ferner die Überblicksdarstellungen von R. Dreier, »Deutsche Rechtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«. 2  Anders noch in den 60er und 70er Jahren, vgl. E. Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie zwischen 1965 und 1985; dazu R. Dreier, »Von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie und wieder zurück?«.

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Kolloquium 5  ·  Eric Hilgendorf

»Rückkehr der Religionen« lässt Religionskritik wieder auf die Tagesordnung rücken. Doch die damit angesprochenen Probleme und weitergehenden Fragestellungen werden in der deutschsprachigen Rechtsphilosophie nur mit großer Zurückhaltung thematisiert. Immerhin existieren mittlerweile, häufig angeregt durch die Terrorismusdebatte in den Vereinigten Staaten, auch in Deutschland Arbeiten zum »Sicherheitsrecht« und seinen Ausprägungen. Gerade über die Zulässigkeit von Folter zur Rettung unschuldigen Lebens wird intensiv debattiert, wobei aber auch hier der Focus der meisten Beiträge nicht auf rechtsphilosophischen, sondern auf rechtsdogmatischen Fragen liegt. Es mehren sich allerdings die Zeichen, dass der juristischen Grundlagenforschung in Deutschland ein Neuanfang gelingen könnte. In der Rechtstheorie gibt es neue, interessante Ansätze, die deutlich über den bisherigen Themenkreis hinausgehen. 3 Gleichzeitig stoßen die Grundlagen rechtstheoretischen Arbeitens im deutschsprachigen Raum, vor allem die »Reine Rechtslehre« Hans Kelsens, auf neues Interesse. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Erlanger Projekt einer Gesamtausgabe von Kelsens Werken.4 Der Leiter dieses Projekts, Matthias Jestaedt, gibt in seinem hier abgedruckten Vortrag eine fundierte Einführung in Kelsens Werk und seine Bedeutung für die heutige Rechtswissenschaft. Im Untertitel ist von der »Eigengesetzlichkeit des Rechts« die Rede, ein Topos, der bereits auf das viel beachtete neue Projekt einer besonderen »Rechtswissenschaftstheorie«5 hinweist. Auch Fragen des »richtigen« oder »guten« Rechts werden in der neueren Rechtsphilosophie wieder thematisiert. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Konzept der Menschenwürde, das angesichts der erheblichen kulturellen und religiösen Pluralisierung der westlichen Gesellschaften eine Art »normative Klammer« darstellen könnte, um die divergierenden moralischen und religiösen Positionen unter einer Rechtsordnung zu verbinden. Dafür muss der Begriff der Menschenwürde, der in vielen traditionellen rechtsphilosophischen Darstellungen und auch in der Rechtspraxis bislang eher nebulös blieb, zunächst einmal präzisiert und operationalisierbar gemacht werden.6 In diesem Zusammenhang ist der Versuch Thomas Gutmanns zu lesen, Struktur und Funktion des Konzepts der Menschenwürde zu klären. Einen anderen Ansatz wählt Winfried Brugger, der es unternimmt, mittels des »Kreuzes der Entscheidung«7 verschiedene Dimensionen der Menschenwürde herauszuarbeiten. Dabei werden wesentliche Facetten der heutigen juristischen Debatte(n) über Bedeutung und Reichweite der Menschenwürde thematisiert. Die Leistungsfähigkeit des »Kreuzes der Entscheidung« als heuristisches Instrument ist unbestritten. Noch offen ist hingegen, ob es darüber hinaus weitere Funktionen übernehmen kann.

S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hgg.), Neue Theorien des Rechts. http: / / www.hans-kelsen.org /  5  M. Jestaedt / O. Lepsius (Hgg.), Rechtswissenschaftstheorie. 6  E. Hilgendorf, »Die mißbrauchte Menschenwürde – Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion« 7  Zur Leistungsfähigkeit des »Kreuzes der Entscheidung« vgl. H. Joas / W. Jung (Hg.), Über das anthropologische Kreuz der Entscheidung. 3  4 

Einführung

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Die drei hier abgedruckten Beiträge erschöpfen das Spektrum der gegenwärtigen deutschsprachigen Rechtsphilosophie nicht. Sie zeigen aber beispielhaft Themen auf, welche die juristische Grundlagenforschung in Zukunft beschäftigen werden. Es bleibt zu hoffen, dass dabei auch die Zusammenarbeit mit der Fachphilosophie wieder an Bedeutung gewinnen wird.

Literatur Buckel, Sonja / Christensen, Ralph / Fischer-Lescano, Andreas (Hgg.): Neue Theorien des Rechts, Stuttgart 22009. Dreier, Ralf: »Deutsche Rechtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: R. Alexy (Hg.): Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, Tübingen 2005. Dreier, Ralf: »Von der Rechtsphilosophie zur Rechtstheorie und wieder zurück?«, in: R. Grote u. a. (Hgg.): Die Ordnung der Freiheit. Festschrift für Christian Starck zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2007. Hilgendorf, Eric: »Die mißbrauchte Menschenwürde - Probleme des Menschenwürdetopos am Beispiel der bioethischen Diskussion« in: B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden (Hgg.): Jahrbuch für Recht und Ethik, Band 7 (1999). Hilgendorf, Eric: Die Renaissance der Rechtstheorie zwischen 1965 und 1985, Würzburg 2005. Hilgendorf, Eric: »Zur Lage der juristischen Grundlagenforschung in Deutschland heute«, in: Winfried Brugger, Ulfrid Neumann, Stephan Kirste (Hgg.): Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008. Jestaedt, Matthias / Lepsius, Oliver (Hgg.): Rechtswissenschaftstheorie, Tübingen 2008 Joas, Hans / Jung, Matthias (Hgg.): Über das anthropologische Kreuz der Entscheidung, Baden-Baden 2008. Klatt, Matthias: »Contemporary Legal Philosophy in Germany«, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie (ARSP) 93 (2007). http: / / www.hans-kelsen.org / 

Rechtstheorie als Euthanasie der Rechtsphilosophie? Hans Kelsens Ergänzungsthese gegen Gustav Radbruchs Verdrängungsthese Matthias Jestaedt

1.  Zum Auftakt 1.1  Der Euthanasie-Vorwurf Radbruchs Hans Kelsens (1881–1973) »Reine Rechtslehre« darf wohl als der kühnste und klarste, konsequenteste und elaborierteste Entwurf eines Rechtspositivismus gelten. Dass er von Beginn an scharfen und erbitterten Widerspruch hervorrief  – und nach wie vor herruft – kann aus vielerlei Gründen nicht überraschen. Wer sich, wie Kelsen, daran macht, das juridische Weltbild und damit das Verständnis von Jurisprudenz von Grund auf zu revolutionieren, darf nicht darauf rechnen, dass seinem Treiben ungeteilte Sympathie entgegenschlägt.1 Ideologiekritische »Alleszermalmer«2 sind intellektuelle Unruhestifter und haben als solche in aller Regel nicht das Zeug zu »everybody’s darling«. Die Abwehrreflexe namentlich des Establishments wie auch der Konkurrenz geben sich für gewöhnlich durch Vorurteile ein gutes Gewissen und ersparen sich die offene und daher immer riskante Auseinandersetzung. An der Rezeptionsgeschichte von Kelsens Lehren in dessen ursprünglichem akademischem Wirkbereich, der deutschen Staatsrechtslehre, ließe sich anschaulich zeigen, wie wirkmächtig verzerrende und entstellende Vorurteile sich zu Verweigerungsstrategien zusammenfügen lassen und einen auf Kenntnis von Ansatz und Argument basierten Diskurs auf lange Zeit ver- oder doch zumindest behindern. 3 Gewiss stellt sich die Rezeptionsgeschichte von Kelsens rechtspositivistischem Projekt in der Rechtsphilosophie – auch der deutschen – nicht in gleicher Weise als dunkles Kapitel dar wie in der Staatsrechtslehre, doch auch hier hatte die faire und offene, sine ira et studio betriebene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der »Reinen Rechtslehre« unter den wechselseitigen Vorwürfen und Vorurteilen von Protagonisten der Naturrechtslehre einer- und des Rechtspositivismus andererseits zu leiden.

Das vielleicht eindrücklichste Zeugnis davon, dass und wie Kelsen selbst die seiner Lehre (und Person) entgegengebrachte Ablehnung und Gegnerschaft reflektierte, findet sich im Vorwort zur Erstauflage der »Reine[n] Rechtslehre« aus dem Jahre 1934: H. Kelsen, Reine Rechtslehre 1, IV–IX (= Studienausgabe, 4–8). 2  Moses Mendelssohn (1729–1786) sprach im »Vorbericht« seiner »Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes« vom »alles zermalmenden Kant«, »der hoffentlich mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat« (M. Mendelssohn, Morgenstunden, 3 und 5). 3  Vgl. einige exemplarische Nachweise bei M. Jestaedt, Kelsens Reine Rechtslehre, XII–XV. 1 

Rechtstheorie als Euthanasie der Rechtsphilosophie?

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Einem dieser Vorwürfe sei im Folgenden nachgegangen. In seinem im Jahre 1965 in der »Juristenzeitung« veröffentlichten programmatischen Beitrag »Was ist Juristischer Positivismus?« verwehrt sich der bereits seit einem Vierteljahrhundert im US-amerikanischen Exil lebende, mittlerweile hochbetagte Hans Kelsen4 dagegen, dass der Rechtspositivismus – in Folge und im Wege der Ersetzung der Rechtsphilosophie durch eine allgemeine Rechtslehre  – zur »Euthanasie der Rechtsphilosophie« führe. 5 Autor der Euthanasie-These ist kein Geringerer als der in etwa gleichaltrige Gustav Radbruch (1878–1949) – jener selbe Radbruch, der die berühmte und nach ihm benannte These zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht nicht zuletzt mit dem Hinweis untermauert hatte, der Rechtspositivismus habe den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen den Nationalsozialismus.6 Dass die – ja ebenfalls gegen den Rechtspositivismus gerichtete  – Euthanasie-These und die sogenannte Radbruchsche These Fleisch vom selben Fleische sind, offenbart sich bereits beim ersten Hinsehen. Freilich bedarf der Erwähnung, dass Radbruch sein Verdikt nicht – vielleicht wäre vorsichtiger zu formulieren: wohl nicht – über jedwede Form von Rechtspositivismus spricht, sondern eine bestimmte Spielart desselben im Auge hat.7 Der von Kelsen in Bezug genommenen Wendung von der »Euthanasie der Rechtsphilosophie« geht bei Radbruch folgende Passage voraus: »Wir treten in die Jahrzehnte des juristischen Positivismus ein. Man sucht nicht mehr in der Rechtswirklichkeit auch den Rechtswert, man erklärt vielmehr alle Rechtswertbetrachtung für unwissenschaftlich und beschränkt sich bewußt auf die empirische Erforschung des Rechts. Den Platz der Rechtsphilosophie nimmt die Allgemeine Rechtslehre ein, das jetzt erst ausgebaute höchste Stockwerk der positiven Rechtswissenschaft, der die Aufgabe gesetzt wird, die mehreren Rechtsdisziplinen gemeinsamen allgemeinsten Rechtsbegriffe zu untersuchen, vielleicht auch über die Kelsen, der als jüdisch(stämmig)er Rechtslehrer bereits im April 1933 aufgrund des NS»Gesetz[es] zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April (RGBl. I S. 175) von seinem Ordinariat an der Universität zu Köln suspendiert worden war, ging, nach einer mehrmonatigen Zwischenstation in Wien, im Spätsommer 1933 nach Genf, wo er am Institut des Hautes Etudes Internationales (HEI) Völkerrecht lehrte und forschte. In den Jahren 1936–1938 lehrte Kelsen zugleich an der Deutschen Universität seiner Geburtsstadt Prag, musste diese Tätigkeit aber wegen gegen seine Person gerichteter nationalsozialistischer Umtriebe aufgeben. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges sah Kelsen auch sein Schweizer Exil als nicht mehr sicher an und emigrierte Mitte 1940 in die USA, deren Staatsbürgerschaft er im Jahre 1945 erwarb. Seine aktive akademische Laufbahn beendete er 1952 an der University of California in Berkeley. Kelsen wohnte und publizierte bis zu seinem Tode im Jahre 1973 in Berkeley, so auch, als über Achtzigjähriger, den auf Wunsch der Redaktion verfassten Beitrag »Was ist Juristischer Positivismus?« in der »Juristenzeitung«. 5  H. Kelsen, Juristischer Positivismus, 468 (= WRS 1, 953). 6  G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht, 105 ff. (= Gesamtausgabe, Bd.  3, 83 ff.). Dazu aus dem reichen Schrifttum vgl. namentlich H. Dreier, Radbruchsche Formel, 117 ff.; T. Osterkamp, Gerechtigkeit, 36 ff., 42 ff. – Zur Frage, inwieweit Radbruch selbst als Rechtspositivist einzustufen ist: S. L. Paulson, Mythos, 105 ff. 7  Unter dem Label des »Rechtspositivismus« werden zahlreiche, nicht selten untereinander inkompatible Spielarten zusammengefasst. Dazu näher W. Ott, Rechtspositivismus, passim. 4 

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Kolloquium 5  ·  Matthias Jestaedt

nationale Rechtsordnung sich erhebend, die verwandten Rechtsbegriffe verschiedener Rechtsordnungen vergleichend darzustellen, ja, über das Rechtsgebiet überhaupt hinausschreitend, seine Beziehungen zu anderen Kulturgebieten zu erforschen.«8 Dieser »rein empiristische[n] Allgemeine[n] Rechtslehre«, als deren Hauptvertreter er Karl Bergbohm (1849–1927), Ernst Rudolf Bierling (1841–1919), Adolf Merkel (1836– 1896) und Karl Binding (1841–1920) ausfindig macht,9 attestiert er, die »Euthanasie der Rechtsphilosophie« zu sein. Nun mag man füglich darüber streiten, ob sowohl die Radbruchsche Darstellung als auch dessen Bewertung dem Werk der Genannten gerecht wird. Auch gehörte ein gerüttelt Maß an Phantasie dazu, Kelsens Lehre, die Radbruch in diesem Kontext im Übrigen nicht erwähnt,10 als »empiristische« Variante des Rechtspositivismus auszuflaggen. Und doch verspürt Kelsen die Notwendigkeit, Radbruchs Euthanasie-Verdikt in entschiedener Weise entgegenzutreten. Und wie ich meine: durchaus nicht ohne Anlass. Denn auch dem von ihm propagierten Konzept von Rechtspositivismus, insbesondere seiner Rechtstheorie haften Strukturen und Wirkungen an, die den von Radbruch ins Visier genommenen ähnlich sind.

1.2  Anknüpfungspunkte für die Euthanasie-These Nun ist hier weder Zeit noch Ort, Übereinstimmungen und Unterschiede einer »rein empiristische[n] Allgemeine[n] Rechtslehre« einerseits mit der »Reinen Rechtslehre« andererseits im Blick auf die von Radbruch inkriminierten Eigenschaften und Wirkungen im Detail herauszuarbeiten. Hier mag es mit der Nennung von vier Stichworten sein Bewenden haben, um plausibel zu machen, warum Kelsen auch seine, mit dem Prädikat des »Reinen« versehene Allgemeine Rechtslehre wenn schon nicht im strenG. Radbruch, Rechtsphilosophie, 21 (= Gesamtausgabe 2, 246 f.)  – Hervorhebung im Original. Mit einigen wenigen Unterschieden findet sich die Passage bereits in Radbruchs »Grundzüge[n] der Rechtsphilosophie«, 14 (= Gesamtausgabe 2, 33 f.), dort nennt er auch  – anders als in der Rechtsphilosophie – die inkriminierten Werke von Bergbohm, Bierling, Merkel und Bekker (a. a. O., 15 f. Anm. 15–18 [= Gesamtausgabe 2, 34 Anm. 15–18]).    9  In den »Grundzüge[n] der Rechtsphilosophie« hatte Radbruch zusätzlich noch Ernst Immanuel Bekker (1827–1916) genannt, freilich Binding noch nicht hervorgehoben (G. Radbruch, Grundzüge, 15 f. [= Gesamtausgabe 2, 34]). – Radbruchs Positivismus-Verständnis dürfte sich zu wesentlichen Teilen mit jenem des »späten« Rudolf von Jhering treffen: In seiner Wiener Antrittsvorlesung aus dem Jahre 1868 geißelt von Jhering den Positivismus als »das Grundübel« (R. von Jhering, Jurisprudenz, 54), ja »den Todfeind der Jurisprudenz; denn er würdigt sie zum Handwerk herab und ihn hat sie daher zu bekämpfen auf Leben und Tod« (a. a. O., 52); der Positivismus begründe für den Juristen »die Gefahr, sich und sein Denken und Fühlen an das dürre, todte Gesetz dahin zu geben, ein willensloses und gefühlloses Stück der Rechtsmaschinerie zu werden, kurz die Flucht aus dem eigenen Denken« (a. a. O., 50 f.). 10  Radbruch kennzeichnet die »Reine Rechtslehre« wenige Seiten weiter als »Rechtsphilosophie des positiven Rechts, wenn überhaupt Rechtsphilosophie, eine eigenartige Verbindung des Positivismus mit seinem scheinbaren Gegenteil der ›normlogischen‹ Sollenslehre« (G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 27 [= Gesamtausgabe 2, 253]).   8 

Rechtstheorie als Euthanasie der Rechtsphilosophie?

285

gen Anwendungsbereich, so doch zumindest im Ausstrahlungsbereich der EuthanasieThese ansiedelt und ihn daher ein Richtigstellungsbedürfnis umtreibt.

1.2.1  »Nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis« Kelsen umreißt Aufgabe und Ziel der »Reinen Rechtslehre« wie folgt: »Wenn sie sich als eine ›reine‹ Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie nur eine auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen und weil sie aus dieser Erkenntnis alles ausscheiden möchte, was nicht zu dem exakt als Recht bestimmten Gegenstande gehört.«11 Damit scheiden, neben anderem, insbesondere die Bewertung und die Gestaltung des Rechts als Aufgabe und Zuständigkeit der Rechtslehre aus. Noch einmal Kelsen: »Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht, die Frage zu beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder gemacht werden soll. Sie ist Rechtswissenschaft, nicht aber Rechtspolitik.« Eine »Rechtswertbetrachtung« im Sinne Radbruchs liegt folglich außerhalb des Fokus der »Reinen Rechtslehre«.

1.2.2  »Jurisprudenz ist eine formale Disziplin« Das zweite Stichwort: »… die Eigenart des Erkenntniszieles meiner Arbeit«, so schreibt Kelsen in der Vorrede seiner die »Reine Rechtslehre« grundlegenden Habilitationsschrift aus dem Jahre 1911, sei darin zu erblicken, dass sie »über eine rein formale Betrachtungsweise der rechtlichen Normen nicht hinausgehen will, weil meiner Ansicht nach in dieser Beschränkung das Wesen der formal-normativen Betrachtungsweise der Jurisprudenz überhaupt gelegen ist.«12 Er wird nicht müde, den »streng formalen Charakter der Jurisprudenz«13, den er in engem Zusammenhang mit dem in gleicher Weise »streng heteronomen Charakter«14 des positiven Rechts sieht, immer und immer wieder ins Bewusstsein zu heben.15 Derlei Inhaltsabstinenz widerstreitet nicht minder als

H. Kelsen, Reine Rechtslehre 1, 1 (= Studienausgabe, 15); H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , 1 – Hervorhebung jeweils nicht im Original. 12  H. Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur 1. Aufl., IX (= HKW 2, 57 f.). 13  H. Kelsen, Hauptprobleme, 19 (= HKW 2, 99). 14  H. Kelsen, Hauptprobleme, 43 (= HKW 2, 128). 15  Vgl. pars pro toto: »Man scheint nur eine Binsenwahrheit mit der Behauptung auszusprechen, daß die Jurisprudenz eine formale Disziplin ist, und kein Theoretiker dürfte diese Anschauung prinzipiell in Frage stellen.« (H. Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur 1. Aufl., VIII [= HKW 2, 56]); die »formal-normative Betrachtung der dogmatischen Rechtswissenschaft« (a. a. O., XVII [= HKW 2, 67]); »Der ausschließlich normative Charakter der Jurisprudenz beruht auf der besonderen Eigenart des Rechtssatzes gegenüber dem Sittengesetze, auf dessen streng heteronomen Charakter und der daraus resultierenden formalistischen Betrachtungsweise dieser Disziplin.« (a. a. O., 43 [= HKW 2, 128]). Zusammenhängend vgl. H. Kelsen, Juristischer Formalismus, 1723 ff. 11 

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Kolloquium 5  ·  Matthias Jestaedt

die Wertungsabstinenz der Vorstellung einer »Rechtsphilosophie als einem Zweige der praktischen Philosophie«16.

1.2.3  »Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein« Welchen Raum belässt eine Rechtslehre der Rechtsphilosophie, wenn sie – und damit bin ich beim dritten Stichwort – sich den Satz auf die Fahnen schreibt: »Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein«17? Hier wird, sieht man genauer zu, mit anderen Worten und aus anderer Perspektive einmal mehr der Inhaltsabstinenz – man mag auch formulieren: der inhaltlichen Offenheit respektive Aufgeschlossenheit – des Kelsenschen Rechtspositivismus Ausdruck verliehen. Wird die Geltungsfrage so radikal von der Inhaltsfrage entkoppelt, drängt sich die Frage auf, welche Berechtigung da noch für die Rechtsphilosophie bleibt, zu deren Kerngeschäft seit jeher die Inbezugsetzung von Rechtsinhalt und Rechtsgeltung zählt?

1.2.4  »Die Illusion der Gerechtigkeit« Als letztes Stichwort darf die »Illusion der Gerechtigkeit« nicht fehlen. In mehreren Arbeiten unternimmt es Kelsen, Rolle und Bedeutung der Gerechtigkeit – auch und gerade für das Recht – kritisch zu beleuchten,18 und zwar, wie er ausdrücklich betont, wegen des Wertcharakters der Frage »außerhalb einer Rechtstheorie …, die sich auf eine Analyse des positiven Rechts als der Rechtswirklichkeit beschränkt«.19 Seine Bilanz fällt, um es gelinde zu formulieren, ernüchternd aus: »Ein allgemeiner Begriff der Gerechtigkeit kann in bezug auf die entscheidende Frage: Wie Menschen behandelt werden sollen, wenn die Behandlung als gerecht gelten soll, nur völlig leer sein«. 20 Das »Wesen der Gerechtigkeit« sei in den Grenzen menschlicher Vernunft nicht bestimmbar, 21 als absolute Gerechtigkeit markiere sie ein »irrationales Ideal«. Spricht nicht auch hieraus ein der »Rechtsphilosophie als einem Zweige der praktischen Philosophie« feindlich gesinnter, auf ihre Abschaffung drängender Geist?

G. Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 22 (= Gesamtausgabe 2, 247). H. Kelsen, Reine Rechtslehre 1, 63 (= Studienausgabe, 74); entsprechend H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , S. 201: »… Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.« 18  Vgl. exemplarisch H. Kelsen, Platonische Gerechtigkeit, 91 ff.; H. Kelsen, Idee der Gerechtigkeit, 157 ff.; H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?; H. Kelsen, Problem der Gerechtigkeit, 355 ff.; H. Kelsen, Illusion der Gerechtigkeit, insb. 205 ff. und 433 ff. 19  Zitat: H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , Vorwort, VIII. 20  H. Kelsen, Problem der Gerechtigkeit, 397. 21  H. Kelsen, Problem der Gerechtigkeit, 399.  16  17 

Rechtstheorie als Euthanasie der Rechtsphilosophie?

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2.  Rechtsphilosophie und Rechtstheorie – Potenzial einer Unterscheidung Bevor wir uns indes Kelsens Zurückweisung des Euthanasie-Vorwurfes zuwenden können, sind einige Worte zum Auseinanderfallen von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, zum Potenzial der Unterscheidung von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zu verlieren. Denn die Euthanasie-These setzt, soll sie mehr ausdrücken, als dass sich bei Identität der Disziplin ein bloßer Bezeichnungswechsel, also gleichsam eine bloß »terminologische Euthanasie« vollzieht, ein sachliches Alternativitäts- oder Verdrängungsverhältnis zwischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie voraus. Das jedoch erfordert seinerseits, dass beide nicht deckungsgleich, sondern voneinander abschichtbar sind. Das wiederum bedingt, dass sich für beide Disziplinen eigene – möglichst sogar überschneidungsfreie – Definitionen finden lassen.

2.1  Mangelnder Konsens bezüglich disziplinärer Einordnung Davon kann indes nicht ohne weiteres gesprochen werden. Vielmehr kann weder für die Rechtsphilosophie noch für die Rechtstheorie von einer unbestrittenen Definition und, folgeweise, einem festumrissenen disziplinären Status ausgegangen werden. Einigkeit herrscht zwar darüber, dass beide, Rechtsphilosophie wie Rechtstheorie, juridische Reflexionsdisziplinen bezeichnen, also zu den theoretischen Subdisziplinen der Jurisprudenz zählen. Bei allem Weiteren kann hingegen von Konsens nicht gesprochen werden. In der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft steht es insoweit nicht besser als etwa in der englischsprachigen: Auch dort herrscht alles andere als Klarheit, ob und gegebenenfalls wie sich »legal philosophy« und »legal theory« voneinander unterscheiden und zueinander verhalten; erschwerend tritt dort sogar noch hinzu, dass mit Begriff und Konzept der »jurisprudence« ein dritter Kandidat im Spiel ist. 22 Ungeachtet des im Weiteren zugrunde gelegten Verständnisses von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sei darauf hingewiesen, dass der Zuschnitt der Disziplinen und deren Benennung zu nicht geringen Teilen »lediglich« eine Frage von Tradition und Konvention, von disziplinärer Diversifikation und – nicht zuletzt am Maßstab der Intention des jeweiligen Verwenders gemessenen – Funktionalität ist. Von einem Falsch oder Richtig lässt sich auf diesem Hintergrund nicht sprechen.

22  Nicht übersehen werden darf darüber hinaus, dass gerade der anglo-amerikanische Diskurs sich weitaus stärker als hierzulande in der Tradition der analytischen Philosophie sieht; die »analytical jurisprudence«, die in Jeremy Bentham (1748–1832) und John Austin (1790– 1859) ihre Ahnherren erblickt, ist geprägt von Wissenschaftlern wie Heribert Lionel Adolphus (»H. L.A.«) Hart (1907–1992), Joseph Raz (geb. 1939) und Jules L. Coleman, Leslie Green und John Gardner (geb. 1965).

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2.2  Trennbarkeit und Eigenständigkeit von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie Da darf es nicht wundernehmen, dass nahezu sämtliche denkbare Deutungen des Propriums und des Verhältnisses von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie Befürworter finden:23 So wird etwa die Rechtstheorie als die modernere – oder auch nur modische – Bezeichnung der guten, alten Rechtsphilosophie angesehen. Manche betrachten die Rechtstheorie als Ausschnitt der umfassender gedachten Rechtsphilosophie, 24 manche wiederum erblicken just umgekehrt in der Rechtstheorie die Mutterdisziplin, indes der Rechtsphilosophie der Status einer Tochterdisziplin zukommt. Auch die Deutung, bei der Rechtstheorie handele es sich um nichts anderes als die gleichsam ab­strakteste Reflexionsstufe der anwendungsorientierten Rechtsdogmatik, wird vertreten. Schließlich – und diese Deutung dürfte von den Meisten geteilt werden – lassen sich Rechtsphilosophie und Rechtstheorie als zwar benachbarte, aber doch eigenständige, in ihrem »theoretischen« Zugriff zwar ähnliche, aber doch nach ihrer Fragerichtung trennbare Subdisziplinen der Rechtswissenschaft(en) begreifen. 25 Davon gehen, bei aller Divergenz der Einschätzung im Übrigen, offenbar auch Radbruch und Kelsen aus. Als Arbeitshypothese soll daher im Folgenden die disziplinäre Divergenz oder auch Eigenständigkeit von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zugrunde gelegt werden. Freilich sei die Beobachtung nicht verschwiegen, dass die Antwort auf die Frage, ob und gegebenenfalls wie sich Rechtsphilosophie und Rechtstheorie voneinander unterscheiden, nicht selten in Korrelation zu der Präferenz steht, die der Antwortende für eine der juridischen Weltanschauungen hegt. So tendieren Positivisten regelmäßig zu einer möglichst scharfen Trennung von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie und verwenden sich dafür, dass die Rechtstheorie in einem hinter dem disziplinären Ausdifferenzierungsgrad der Rechtsphilosophie nicht zurückstehenden Maß ausgearbeitet werde. Auf der Gegenseite messen Nonpositivisten der Trennungsfrage tendenziell weniger Gewicht bei oder sehen, weitergehend, sogar weder die Notwendigkeit noch auch nur das Bedürfnis, der Rechtstheorie – neben oder zwischen der Rechtsphilosophie auf der einen sowie der Rechtsdogmatik und Rechtsmethodik auf der anderen Seite – ein eigenes disziplinäres Feld zuzuweisen. In dem Maße, in dem material-substanzielle Richtigkeitsanforderungen an das Recht als Recht gestellt werden – d. h. in dem Maße, in dem es als notwendige Bedingung, will heißen: als Geltungsbedingung von Recht erachtet wird, dass die betreffende Verhaltensanforderung auf die eine oder andere, vom Recht selbst nicht bestimmte

Die Schwierigkeiten der Zuordnung lassen sich durchaus noch vermehren. So ist etwa bei den obigen Betrachtungen keine Rücksicht darauf genommen, in welchem Verhältnis die Rechtsphilosophie zur allgemeinen Philosophie zu sehen und welchem Zweig der Philosophie sie – am ehesten – zuzuordnen ist. Das mag hier, um nicht ungebührlich von der eigentlichen Zuordnungsproblematik abzulenken, auf sich beruhen. 24  Prononciert etwa D. von der Pfordten, Rechtsphilosophie, 157 ff.; vgl. ergänzend D. von der Pfordten, Rechtsethik, 17 ff. 25  Dazu stellvertretend E. Hilgendorf, Renaissance, passim; R. Dreier, Rechtsphilosophie, 21 ff. 23 

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(und bestimmbare) Weise richtig ist –, ist die Neigung, die Rechtstheorie gewissermaßen auf Kosten der Rechtsphilosophie stark zu machen, weitaus geringer ausgeprägt. 26

2.3  Disjunkte Erkenntnisinteressen Geht man, wie im Folgenden, von der Eigenständigkeit von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie aus, so lassen sich die divergierenden, das jeweilige disziplinäre Proprium mitbestimmenden Erkenntnisinteressen wie folgt kennzeichnen: Während die disziplinäre Leitfrage der Rechtsphilosophie lautet: »Unter welchen Bedingungen ist Recht gerecht?«, widmet sich die Rechtstheorie der disziplinären Leitfrage: »Welches sind die Strukturen und Funktionsbedingungen des Rechts?« Während erstere – »Ist das Recht gerecht?« – den präskriptiven Aspekt der Reflexion über Recht zum Gegenstand hat und nach dem Grund des Rechts fragt, wendet sich letztere – »Wie funktioniert das Recht?« – dem deskriptiven Aspekt zu und fragt nach den Funktionsmechanismen von Recht als Recht. In beiden Richtungen, jener der Gerechtigkeit wie jener der Funktionsweise, ist Adressat der Frage üblicherweise ausschließlich das positive, also von Menschen gesetzte Recht. 27 Die Rechtsphilosophie operiert rechtstranszendent, wenn sie an den Gegenstand »positives Recht« einen meta-positivrechtlichen Maßstab, etwa die Gerechtigkeit, anlegt und nach dem letzten – und daher notwendigerweise dem positiven Recht selbst nicht zugehörigen – Grund des positiven Rechts fragt. Demgegenüber kann die Operationsweise der Rechtstheorie als gleichsam (rechtsordnungs)immanent bezeichnet werden, teilt sie doch, wie Niklas Luhmann es einmal formuliert hat, die »normative Grundeinstellung des [ergänze: positiven] Rechts«28. Um Missverständnisse zu vermeiden: Anders als die juridischen Teilnehmerdisziplinen, anders insbesondere als die Rechtsdogmatik und die Rechtsmethodik, denen es um Verfügungswissen geht, steht die Rechtstheorie, die auf Orientierungswissen zielt, 29 ihrem Gegenstand nicht kraft ihrer Aufgabenstellung affirmativ gegenüber  – sowenig wie sie auf der anderen Seite die kritisch-bewertende Grundhaltung der Rechtsphilosophie teilt. Sie tritt ihrem Gegenstand vielmehr indiffeExemplarisch N. Hoerster, Was ist Recht?, passim; D. von der Pfordten, Recht, 641 ff. Das nimmt auch nicht wunder, besteht doch zwischen dem Naturrecht, dem Vernunftrecht oder gar dem göttlichen Recht auf der einen und der Gerechtigkeit auf der anderen Seite noch nicht einmal eine potentielle Divergenz. Und im Blick auf die genannten metapositiven Rechte dürfte es, wenn nicht ausnahmslos, so doch regelmäßig weder einen Sinn noch einen Ansatzpunkt geben, zwischen Legitimität und Funktionalität zu unterscheiden. 28  N. Luhmann, Rechtssoziologie, 361. 29  Zur Unterscheidung und Entgegensetzung von Verfügungs- und Orientierungswissen: J. Mittelstraß, Wissenschaft, 65; J. Mittelstraß, Glanz und Elend, 19; J. Mittelstraß, Bildung, 164 (Hervorhebungen im Original): »Verfügungswissen ist ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel; es ist das Wissen, das Wissenschaft und Technik unter gegebenen Zwecken zur Verfügung stellen. Orientierungswissen ist ein Wissen um gerechtfertigte Zwecke und Ziele; gemeint sind Einsichten, die im Leben orientieren (z. B. als Orientierung im Gelände, in einem Fach, in persönlichen Beziehungen), aber auch solche, die das Leben orientieren (und etwa den ›Sinn‹ des eigenen Lebens ausmachen). Verfügungswissen ist insofern ein positives Wissen, Orientierungswissen ein regulatives Wissen.« 26  27 

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rent im Sinne von wertneutral gegenüber, anders formuliert: sie stellt ihren Gegenstand in seinem Wert überhaupt nicht in Frage. Das macht sie aber, um dieses Missverständnis abzuschneiden, nicht wertlos. Denn dass mit zunehmender Ausdifferenzierung, also mit zunehmender Verselbständigung, Spezialisierung und Komplexität der als »positives Recht« bezeichneten Sozialtechnik das Bedürfnis nach verlässlicher Information über Struktur und Funktionsweise, sprich: über die Eigenrationalität des positiven Rechts, wächst, dürfte schwerlich zu bestreiten sein. Und dieses Bedürfnis nach Orientierungswissen über die Specifica des positiven Rechts befriedigt, ohne dass ein Rechtsanwendungs-, d. h. ohne dass ein Rechtspraxisbezug erforderlich wäre, 30 die Rechtstheorie. Die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zeitigen auch einen unterschiedlichen Zugriff auf das positive Recht oder, um es anders zu formulieren, einen unterschiedlichen Umgang mit dem und ein unterschiedliches Interesse am positiven Recht: Während die Rechtsphilosophie typischerweise eine makroskopische Betrachtung wählt, Interesse am Großen und Ganzen, an »dem Recht« zeigt, an der idealtypischen Rechtsgehorsamssituation, an den für die Wertbetrachtung spektakulären, besonders herausfordernden und herausgehobenen Rechtsinhalten oder Rechtsinstituten, gilt die Aufmerksamkeit der Rechtstheorie auch und gerade dem »Technisch«-Formalen und Instrumentellen des Rechts, neben dem Makroskopischen mindestens in gleicher Weise dem Mikroskopischen, der alltäglichen Rechtsgewinnungssituation, wie dem Mesoskopischen, dem Aufbau und der Funktionsweise der Rechtsnorm als Basisbaustein des Rechts, den konkreten und kontingenten positivrechtlichen Strukturen und Prozeduren, der Mechanik des hochkomplexen Räderwerks des positiven Rechts mit seinen Mechanismen der Systemstabilisierung, Konfliktlösung und Praktikabilitätserhaltung, schließlich dem Phänomen der Vielheit der Rechtsnormen und der sich über diesen herstellenden Einheit der Rechtsordnung.

3.  Interdependenz von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie Dass Kelsen selbst sich Unterschied und Zusammenspiel von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie in etwa derselben Weise vorstellt, belegt seine Zurückweisung von Radbruchs Euthanasie-Vorwurf: »Der Rechtspositivismus führt nicht  – wie Radbruch behauptet  – zur Ersetzung der Rechtsphilosophie durch eine allgemeine Rechtslehre, zu einer ›Euthanasie der Rechtsphilosophie‹, sondern zu einer Arbeitsteilung zwischen beiden. Die allgemeine Rechtslehre hat das positive Recht ohne jede Bewertung desselben zu beschrei30  Der Anwendungsbezug dogmatischer Jurisprudenz  – und damit des Herzstücks deutschen Rechtswissenschaftsverständnisses (vgl. dazu in Kontrastierung zum US-amerikanischen Wissenschaftsverständnis von Rechtswissenschaft: H. Dedek, Recht an der Universität, 540 ff., insb. 543)  – hat die Praxisrelevanz auf seiner Seite, freilich um den unvermeidlichen Preis, in theoretischer Hinsicht unterkomplex zu sein (dazu, am Exempel des Zusammenspiels von Verfassungsdogmatik und Verfassungstheorie: M. Jestaedt, Verfassung, 32 ff.).

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ben, so wie es ist, nicht so, wie es sein soll … Eine solche Bewertung, die Antwort auf die Frage, wie das Recht sein soll, was das richtige, gerechte Recht ist, ist der Rechtsphilosophie vorbehalten.«31 Unter Arbeitsteilung begreift Kelsen, dass zwei derart zusammenwirken, dass der eine sich der einen und der andere sich der anderen Fragestellung in einem gemeinsamen thematischen Horizont – hier dem des positiven Rechts – annimmt und damit auf getrennten Wegen und mit getrennten Antworten zum Ganzen beitragen. 32 Statt dieser Spielart des komplementären Zusammenwirkens lässt sich Arbeitsteilung aber auch in dem Sinne verstehen, dass beide auf den je anderen bei ihrem Tun angewiesen sind. Arbeitsteilung meint und beruht in dieser Variante auf Interdependenz. Dass das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie auch in diesem zweiten Verständnis arbeitsteilig ist und dass just Kelsens Spielart des Rechtspositivismus dem in besonderer Weise Rechnung trägt, soll Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen sein. Zugespitzt lautet die Doppel-These – in Anlehnung an Kants Diktum, dass Gedanken ohne Inhalt leer und Anschauungen ohne Begriffe blind sind33 – dahin, dass Rechtsphilosophie ohne Rechtstheorie gegenstandsblind und Rechtstheorie ohne Rechtsphilosophie prämissenblind ist. 34 In Frageform gekleidet ließe sich auch formulieren: Welches sind die Folgen, wenn Rechtsphilosophie ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Rechtstheorie und wenn umgekehrt Rechtstheorie ohne Rücksicht auf die Erkenntnisse der Rechtsphilosophie betrieben wird?

3.1  Rechtsphilosophie ohne Rechtstheorie ist gegenstandsblind Um mit der ersten These zu beginnen: Die philosophische Reflexion ist verwiesen auf Sachverstand, d. h. Verstehen und Verständnis der Sache, die Gegenstand der Reflexion ist. Sie setzt mithin ein Verstehen, ein Begriffenhaben des zu reflektierenden SachverH. Kelsen, Juristischer Positivismus, 468 f. (= WRS 1, 953). Entsprechend H. Kelsen, Philosophie du droit, 131. – Dass für Kelsen das Arbeitsteilungsverhältnis nicht nur Theorie bleibt, sondern gelebte wissenschaftliche Praxis ist, zeigt die große Anzahl von rechtsphilosophischen Schriften. Exemplarisch können, über die bereits erwähnten Schriften zur Frage der Gerechtigkeit (Anm. 18) hinaus, genannt werden: H. Kelsen, Gott und Staat, 261 ff.; H. Kelsen, Philosophische Grundlagen; H. Kelsen, Rechtsgeschichte; H. Kelsen, »Politik« des Aristoteles, 625 ff.; H. Kelsen, Metamorphoses, 390 ff.; H. Kelsen, Absolutism, 906 ff.; H. Kelsen, Philosophie du droit, 131; H. Kelsen, Norm and Value, 1624 ff. 32  Das Verhältnis der Arbeitsteilung, wenn man so will: das Verhältnis disziplinärer Komplementarität, gilt nicht nur für das Zusammentreffen von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, sondern, mutatis mutandis, auch für das Aufeinandertreffen der Rechtstheorie mit anderen Grundlagendisziplinen wie der Rechtspsychologie und der Rechtssoziologie (zum Zusammentreffen mit der Psychologie wie der Soziologie prononciert: H. Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur 1. Aufl., V–X [= HKW 2, 53–58]); insbesondere gilt dies aber auch für das Zusammentreffen von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik (dazu: M. Jestaedt, Theorie, passim, insb. 43 ff., 69 ff.). 33  I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 51, B 75 (130). 34  Zur Bedingtheit der Rechtstheorie durch Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie jüngst M. Jahn, Pluralität, 179. 31 

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halts in seiner Tatsächlichkeit voraus. Nur ein derart sachbestimmtes35, der Sache zugewandtes, sich auf die Sache einlassendes Philosophieren kann als – im wahrsten Sinne des Wortes – sachgerecht bezeichnet werden. Sachverstand in diesem Sinne vermitteln aber zuvörderst die Erkenntnisse der sachbezogenen Spezialdisziplin. Dies gilt auch für das Philosophieren über das (positive) Recht als eigengeartete und eigensinnige Sozialtechnik. Kenntnisse über die  – realen im Sinne von positivrechtlichen36  – Strukturen und das Funktionieren des Rechts liefert aber primär die Rechtstheorie. Infolgedessen erhebt J.  M. Broekman ein keineswegs unerhebliches Monitum, wenn er feststellt, dass das »Recht der juristischen Positivität […] der R[echtsphilosophie] […] unbekannt« bleibe. 37 Ins Positive gewendet: Die Berücksichtigung von Art und Weise der (Selbst-)Organisation des positiven Rechts, d. h. der konkreten und kontingenten positivrechtlichen Regelungen des Entstehens und des Vergehens, der Geltungsvermittlung und des Geltungsentzuges sowie des Zusammenstimmens von materialen und formal-prozeduralen Regelungen, kurz: des Soseins und des Funktionierens des positiven Rechts, bestimmt die Sachgerechtigkeit des Räsonnements über Begriff und Natur des Rechts. Eine Rechtsphilosophie, die an den als allzu juristisch-technisch empfundenen Strukturfragen und am parzellenscharfen KleinKlein im juristischen Regelungsgeflecht kein Interesse zeigt, steht leicht in der Gefahr, an der Sache vorbeizureden. Eine philosophische Rechtsgeltungstheorie etwa darf nicht die vorhandenen Selbstregulierungsmechanismen des positiven Rechts überspielen oder außer Betracht lassen, hat, um den grundsätzlichsten Punkt anzusprechen, namentlich darauf Bedacht zu nehmen, in welchem Maße und in welcher Weise das positive Recht die Geltungsfrage von der Inhaltsfrage entkoppelt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. 38 Dieser Sachverhalt lässt sich ins Wissenschaftstheoretische wenden: Mit zunehmender Ausdifferenzierung der sozialen Subsysteme und der damit einhergehenden Spezialisierung und Arbeitsteilung wissenschaftlicher Behandlung verändern sich Rolle und Bedeutung der Disziplin fürs Allgemeine, der Philosophie. In dieser neuen disziplinären Gewaltenteilung lässt sich die Kompetenz der Philosophie immer weniger bestimmen ohne Rücksicht auf die Kompetenz der Disziplinen fürs Besondere. Zugespitzt für das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie: Ohne oder gar gegen den Erkenntnisstand der Rechtstheorie kann Rechtsphilosophie nicht gegenstandsadäquat betrieben werden, hat doch so manche rechtstheoretische Aufklärung Licht in jenes Dunkel gebracht, welches vordem Anstoß, Voraussetzung und Rechtfertigung für philosophisches Gründeln war.

35  Dazu M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, 271 ff., bes. 273 unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse der Philosophischen Hermeneutik bei H.-G. Gadamer und dessen Lehrer M. Heidegger. 36  Zum rechtsrealistischen Moment des Rechtspositivismus: H. Kelsen, Reine Rechtslehre2, 112. 37  J. M. Broekman, Rechtstheorie, Sp. 342. 38  Vgl. nachfolgend 6.

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3.2  Rechtstheorie ohne Rechtsphilosophie ist prämissenblind Die Komplementärthese, dass Rechtstheorie ohne Rechtsphilosophie prämissenblind ist, braucht im hier gegebenen Rahmen nicht näher erläutert zu werden. 39 Nur so viel: Wer, ganz auf das positive Recht beschränkt und eingestimmt, glaubt, dass die rechts­ immanente Struktur- und Funktionsanalyse sich selbst trage und begründe, übersieht, wie viele Prämissen er bereits – offenbar unbewusst – gewählt, wie viele philosophische Grundsatzfragen er in die eine oder andere Richtung bereits – wiederum unbewusst – entschieden hat, wie voraussetzungsvoll, bedingt und kontextgebunden, kurz: wie relativ seine eigenen Thesen und Argumentationen sind. Das fängt bereits beim Rechtsbegriff an, betrifft aber unter anderem auch und gerade die Grundlagen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die nicht in der und durch die Rechtstheorie selbst – und schon gar nicht durch die rechtsanwendungsbezogenen Gebrauchsdisziplinen der Jurisprudenz wie die Dogmatik und die Methodik – erarbeitet, sondern in den juridischen Spezialdisziplinen schlicht als nicht weiter hinterfragte Axiome den Gedankenoperationen, als deren Infra- oder auch Suprastruktur zugrunde gelegt werden.

4.  Philosophische Prämissen der Reinen Rechtslehre Für die durch Kelsen vorgenommene Verhältnisbestimmung von Rechtsphilosophie einerseits und Rechtstheorie als Strukturtheorie des positiven Rechts andererseits ist es von Belang, dass er von seiner professionellen Sozialisation und Ausrichtung her Jurist und nicht Philosoph ist. Mehr noch: Als Rechtswissenschaftler gilt sein Interesse nicht überwiegend oder gar ausschließlich den Metafragen des Rechts – wenngleich die Verteidigung seiner heftig angefeindeten Reinen Rechtslehre ihn immer stärker auf dieses Feld treibt –, sondern er forscht und publiziert zu einer Reihe von handfest rechtsdogmatischen Themen wie etwa sein Lehrbuch zum Österreichischen Staatsrecht40 oder sein Kommentar zur UN-Charta41 belegen mögen. Schließlich beschränkt sich seine Arbeit als Jurist nicht auf den akademischen »Elfenbeinturm« als Forscher und Lehrer. Kelsen versieht daneben eine Reihe rechtspraktischer – und das heißt: in der einen oder anderen Weise rechtsgestalterischen – Tätigkeiten – ob als Verfassungsberater von Karl Renner,42 dem ersten Staatskanzler der Republik Österreich, ob als Richter zunächst des deutschösterreichischen VfGH,

Angemerkt sei aber so viel, dass – auch – die obige These nicht unwesentlich davon abhängt, was genau unter Rechtsphilosophie verstanden wird und inwieweit Rechtsphilosophie ihrerseits Aussagen zur rechtsbezogenen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie bereithält. 40  H. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht. 41  H. Kelsen, Law of the United Nations. 42  Dazu H. Kelsen, Autobiographie, 65–67. Zu Kelsens Anteils an der Schaffung der ersten (nicht-provisorischen) Verfassung der Republik Österreich, dem Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) von 1920: F. Ermacora, Bundesverfassung, 22 ff.; G. Stourzh, Bundesverfassung, 7 ff.; G. Schmitz, Vorentwürfe Kelsens, passim. 39 

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sodann rund ein Jahrzehnt des durch das B-VG errichteten VfGH43 oder schließlich in US-Diensten als Völkerrechtsgutachter. Nichtsdestoweniger ist, wie Kelsen es im Vorwort der Erstauflage der »Reine[n] Rechtslehre« aus dem Jahre 1934 formuliert, »von allem Anfang« sein Hauptanliegen, »die Jurisprudenz, die – offen oder versteckt – in rechtspolitischem Raisonnement fast völlig aufging, auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben.«44 Der Weg zu dem »Ideal einer objektiven Wissenschaft von Recht und Staat«45 kann aus seiner Sicht nur von der Methode her, also auf der Basis der »Methodenreinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis«46 beschritten werden. Bereits seine rechtstheoretische Erstlingsschrift, die »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze« aus dem Jahre 1911, versteht und exponiert sich als eine »Revision der methodologischen Grundlagen«47 der zeitgenössischen Jurisprudenz.48 Sein methodenkritisches  – man mag auch formulieren: sein prononciert methodenbewusstes – Konzept von Jurisprudenz gründet er im Wesentlichen auf drei philosophische, näherhin erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Positionen. Bildlich gesprochen spannt er zwischen diesen drei Eckpfeilern seine gesamte Rechtslehre, sind diese also deren unerlässliche Stützen. Mit beharrlicher Konsequenz erinnert er bei der Lösung konkreter Konzeptionsfragen stets von neuem an seine Ausgangsaxiome.49 Konsequenz und Konsistenz, Kompromisslosigkeit und Unbestechlichkeit in Bezug auf die philosophischen Ausgangspunkte sind denn auch die Markenzeichen der sich selbst mit dem Epitheton des »Reinen« schmückenden Rechtstheorie – einem Epitheton, bei dem nicht zu übersehen ist, dass es der sprachlich-ästhetischen Zeitmode des anhebenden 20.  Jahrhunderts verhaftet ist. 50 Die »Reine Rechtslehre« erhebt denn auch den Anspruch, einen »konsequenten Rechtspositivismus«51 zu verfolgen.

Kelsen war von 1919 bis 1920 zunächst Mitglied des – provisorischen – deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshofes, sodann  – von 1920 / 21 bis 1930  – Mitglied und ständiger Referent des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) nach dem B-VG 1920. Dazu H. Kelsen, Autobiographie, 67–77. 44  H. Kelsen, Reine Rechtslehre 1, Vorwort, III (= Studienausgabe, 3). 45  H. Kelsen, Reine Rechtslehre1 , Vorwort, X (= Studienausgabe, 8). 46  H. Kelsen, Reine Rechtslehre2 , Vorwort, VII. 47  H. Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur 1. Aufl., III (= HKW 2, 51). 48  Vgl. dazu Schönberger, Kelsens »Hauptprobleme«, 23–35. 49  Eine profunde Deutung des Kelsenschen Œuvres anhand der Grundspannung von rechtspositivistischem Projekt als Konstante auf der einen und der Durchführung in Gestalt einer Allgemeinen Rechtslehre als Variable auf der anderen Seite bietet G. N. Dias, Rechtspositivismus, 9 ff., 129 ff. und 257 ff. 50  Kelsen steht hier, wie auch in manch’ anderem, in großer Nähe zu dem Haupt der Marburger Schule des Neukantianismus, Hermann Cohen (1842–1918). Während dieser in seiner »Ethik des reinen Willens« durchgängig die »Methode der Reinheit« propagiert (insb. V, 90, 91, 92, 108, 135, 136, 147, s.a. 27 f.), bildet für Kelsen die »Reinheit der Methode« den articulus stantis et cadentis. 51  Vgl. stellvertretend H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 127 (= Studienausgabe, 136). 43 

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4.1  Die Sein-Sollen-Dichotomie Das erste der drei Axiome ist der »unauflösbare Dualismus von Sein und Sollen«, 52 dass ein Sollen sich nicht auf ein Sein und ein Sein sich nicht auf ein Sollen reduzieren und dass sich folgeweise ein Sein nicht aus einem Sollen und umgekehrt ein Sollen nicht aus einem Sein deduzieren lässt. Der Unterschied zwischen den beiden alternativen Modi Sein und Sollen, der mit dem Dualismus von Wirklichkeit und Wert zusammenfalle, 53 könne nicht näher erklärt werden, sondern sei unserem Bewusstsein »unmittelbar gegeben«. 54 Bereits in seiner Habilitationsschrift aus dem Jahre 1911 zählt Kelsen die Sein-Sollen-Dichotomie zu den »prinzipielle[n], letzten Endes in der Weltanschauung wurzelnde[n], daher subjektive[n] und undiskutierbare[n] Voraussetzungen«55  – was ihn nicht daran hindert, insbesondere in späteren Jahren den philosophischen Versuchen, die die an sich »logisch unbestreitbare Disparität von Sein und Sollen«56 leugnen, beherzt entgegenzutreten. 57 Wenige Seiten nach dem soeben wiedergegebenen Zitat macht Kelsen, der große Ideologiekritiker unter den Rechtswissenschaftlern, folgende, für unsere Thematik höchst aufschlussreiche Zusatzbemerkung: »Diese Arbeit hat mir den lange und schmerzlich vermißten Zusammenhang zwischen Fachdisziplin und Weltanschauung gezeigt. Ich weiß, es wird viele befremden, daß ich einen Weg zu philosophischen Höhen aus einem Geistesgebiete suche, das heute weiter von solchem Ziele entfernt ist, als irgendein anderes, so weit, daß jene Disziplin, die als solche berufen wäre, die Brücke zwischen Rechtswissenschaft und Philosophie zu schlagen, die Rechtsphilosophie, nur mit einem Tone der Geringschätzung genannt wird. […] Aber ich glaube zuversichtlich, daß es nicht nur möglich, daß es notwendig und von großem Nutzen ist, die Beziehungen aufzudecken, die zwischen der kleinen Welt der Rechtswissenschaft und der großen eines universalen philosophischen Systems bestehen.«58

H. Kelsen, Allgemeine Theorie, 44, s.a. 49. H. Kelsen, Allgemeine Theorie, 47. 54  H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , 5; H. Kelsen, Allgemeine Theorie, 48. 55  H. Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur 1. Aufl., V (= HKW 2, 54). 56  H. Kelsen, Allgemeine Theorie, 49. 57  Pars pro toto: H. Kelsen, Allgemeine Theorie, 48–62 sowie ergänzend 62–65; seiner Auffassung nahe steht David Hume (1711–1776), wie Kelsen a. a. O., 68 f. bemerkt. 58  H.  Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur 1. Aufl., XII (= HKW 2, 62). Dort, XII  f. (= HKW 2, 62 f.), auch: »Die Gewißheit, daß die Gegensätze juristischer Theorie letzten Endes Weltanschauungsgegensätze sind, führt auch zu der versöhnenden Erkenntnis – und besonders für dieses beneficium bitte ich pro domo plädieren zu dürfen –, daß die strittigen Gegensätze notwendige sind, daß nicht bloß die eigene Ansicht, daß auch die gegnerische, wenn sie nur von der entgegengesetzten Voraussetzung aus logisch entwickelt ist, den gleichen Geltungsanspruch hat, weil nur aus der dauernden Spannung zwischen zwei Polen aller Fortschritt der Wissenschaft erwächst.« 52  53 

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4.2  Der Werterelativismus Nicht minder wichtig ist für Kelsens Rechtslehre die Überzeugung, dass vom Standpunkt wissenschaftlicher – und das heißt zuvörderst: rationaler, nicht-metaphysischer – Erkenntnis absolute Werte abzulehnen sind, folglich lediglich relative, d. h. nur in einem bestimmten Bezugsfeld gültige Werte angenommen werden können. Absolute Werte könnten »nur auf der Grundlage eines religiösen Glaubens an die absolute und transzendente Autorität angenommen werden«.59 Der Begründung dieses, zumindest im Ergebnis nonkognitivistischen und auf dem Boden der Kohärenztheorie der Wahrheit stehenden Ansatzes widmet Kelsen von Anfang an viel Aufmerksamkeit, liegt doch hier der Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit den Protagonisten einer Naturrechtslehre.60

4.3  Die disziplinkonstituierende Rolle des Formalobjekts Kelsens dritter Ausgangspunkt für die Konstruktion seiner »Reinen Rechtslehre« ist die disziplinkonstituierende Rolle des Formalobjekts oder auch der Methode: Kelsen spricht von dem »Fundamentalsatz aller Erkenntnistheorie, daß der Gegenstand der Erkenntnis durch die Erkenntnisrichtung bestimmt sei und daß daher zwei verschiedene Methoden […] nicht ein und denselben Gegenstand […], sondern zwei verschiedene Gegenstände erzeugen müssen, die mit dem gleichen Namen […] zu bezeichnen, nur ein irreführender Fehler sein kann.«61 Für alle drei Grundaxiome kann in gewisser Weise gesagt werden, dass Kelsen sich ihnen nicht aus der Sicht und mit dem Anspruch des Philosophen nähert, sondern aus der Position des Rechtswissenschaftlers, der seine eigene Disziplin mit anspruchsvollen, namentlich der zeitgenössischen Erkenntnistheorie genügenden Wissenschaftsstandards konfrontieren möchte.62 Bezeichnend für seine an rechtswissenschaftlichen Bedürfnissen ausgerichtete Art des Philosophierens dürfte sein, dass Kelsen nach eigenem Bekunden erst nach Erscheinen seiner Habilitationsschrift auf die weitgehenden Parallelen aufmerksam wird, die zwischen seiner dort grundgelegten Position und der neukantianischen »erkenntnistheoretischen Grundeinstellung Cohens [bestehen], der zufolge die Erkenntnisrichtung den Erkenntnisgegenstand bestimmt«.63

H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , 65. Dazu näher H. Dreier, Rechtslehre, 31 ff., 52 ff., 98 ff.; C. Heidemann, Norm, 55 ff., 113 ff., 165 ff.; S. Uecker, Reinheitspostulat, 25 ff. 61  H. Kelsen, Souveränität, 10 f. 62  Zur Wiener rechtstheoretischen Schule als Forschungsformation, die sich prononciert den Idealen der wissenschaftlichen Moderne verschrieben hat, vgl. die Hinweise bei M.  Jestaedt, Kelsens Reine Rechtslehre, XVIII–XXI. 63  H. Kelsen, Hauptprobleme, Vorrede zur 2. Auflage, XVII. 59 

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5.  Kelsens Option für einen normativistischen Rechtspositivismus Wie sich sein dreifacher erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Ausgangspunkt in der Bestimmung der juridischen Weltanschauung einerseits und in Konzeption und Durchführung einer darauf gründenden Rechtswissenschaft andererseits niederschlägt, sei mit einigen wenigen Federstrichen zu skizzieren versucht.

5.1  Wider Naturalismus und Moralismus Mit seiner Option für die Sein-Sollen-Dichotomie auf der einen und für den Werterelativismus auf der anderen Seite sieht sich Kelsen zwischen zwei für seine juridische Weltanschauung ausschlaggebende Fragen manövriert: Wie nämlich lässt sich die Positivität des Rechts bewahren, wenn die Geltung von Normen nicht aus Tatsachen – mag man sie auch Macht, Anerkennung, Wirksamkeit nennen – begründet werden kann? Und wie lässt sich gleichzeitig die Normativität des Rechts behaupten, ohne dass dabei auf eine Ableitung aus absoluten Werten – mag man sie auch Vernunft, Gerechtigkeit oder Gott nennen – zurückgegriffen werden darf? Anders formuliert: Wie lässt sich in Bezug auf das Recht die Unableitbarkeit des Sollens aus dem Sein und die Unableitbarkeit des Rechts aus der Moral gleichzeitig aufrechterhalten? Kelsen findet die Lösung, an der Zurückweisung sowohl des naturalistischen als auch des moralistischen Ansatzes festhalten zu können, in der Koinzidenz eines Positivismus ohne Naturalismus auf der einen und eines Normativismus ohne Moralismus auf der anderen Seite. Kelsens (Doppel-)Antwort kann man folglich als normativistischen Rechtspositivismus oder auch als rechtspositivistischen Normativismus bezeichnen.

5.1.1  Positivismus ohne Naturalismus Den überkommenen Rechtspositivismus lehnt Kelsen ab, weil jener mit seinem naturalistischen Fehlschluss gegen den Satz verstoße, dass ein Sollen sich nicht aus einem Sein ableiten lasse. Den positivistischen Standpunkt teilt er aber darin, dass Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis nur das von Menschen gesetzte, positive Recht sein könne. Damit jedoch ist die spezifisch rechtliche Existenz, sprich: die Geltung,64 von Recht – in einer vom Recht in Gestalt von Rechtserzeugungsvoraussetzungen selbst geregelten Weise  – an das Vorliegen (oder Fehlen) bestimmter menschlicher Verhaltensakte geknüpft. Da es sich aber bei letzteren um empirisch verifizierbare Tatsachen handelt, ist die Rechtsgeltung durch Tatsachen bedingt. »Dabei ist zu beachten«, setzt Kelsen hinzu, »daß diese Tatsache, als Seins-Tatsachen, nur die Bedingung der Geltung, nicht 64  Grundlegend: H.  Kelsen, Reine Rechtslehre 1, 7, 22 (=  Studienausgabe, 21, 34) u.ö.; H. Kelsen, Allgemeine Theorie, 2, 3, 22 f., 39, 136 f., 139, 167 f., 171; dazu G. N. Dias, Rechtspositivismus, 216 ff., 246 ff. sowie 275 ff.

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die Geltung sind, die ein Sollen ist.«65 Menschliches Verhalten ist für das Entstehen von Recht folglich conditio sine qua non, nicht aber conditio per quam. Indem die Reine Rechtslehre auf der Positivität im Sinne der Tatsachenbedingtheit des Rechts beharrt, beansprucht sie mit Recht, eine »radikale realistische Rechtstheorie«66 zu sein.

5.1.2  Normativismus ohne Moralismus Gleichsam im Gegenzug lehnt die Reine Rechtslehre die Naturrechtslehre ab, insbesondere weil sie das Axiom des Wertrelativismus und die Unableitbarkeit des positiven Rechts aus der Moral missachte oder gar bestreite. Unbeschadet dessen teilt sie den regelmäßig von den Vertretern eines naturrechtlichen Ansatzes propagierten Normativismus, dass eine Norm ihre Geltungsgrundlage nur wiederum in einer Norm – also ein Sollen in einem Sollen  – haben könne. Geltungsvermittelnd seien jedoch, einer kohärenztheoretisch-relationen Geltungsvorstellung entsprechend, stets nur Normen derselben Geltungssphäre. In Bezug auf Rechtsnormen einer konkreten Rechtsordnung bedeutet das, dass nur Rechtsnormen derselben Rechtsordnung als Geltungsgrundlage in Betracht kommen. Auf das damit aufgeworfene Problem einer Letzt- respektive Erstbegründung von Rechtsgeltung wird noch zurückzukommen sein.67 Aus der Koinzidenz von Normativismus und Positivismus in der Reinen Rechtslehre erhellt auch, dass und warum Kelsen, wiewohl ein dezidierter Parteigänger des Positivismus, ein scharfer Gegner des Legalismus ist, demzufolge mit der Frage der Rechtsgeltung  – »Welche Sollensanordnung gilt als Rechtsnorm?«  – pari passu jene nach dem Rechtsgehorsam – »Welchen Befehlen habe ich als Rechtsnormen Gehorsam zu leisten?« – beantwortet werde.68 Die Reine Rechtslehre wie überhaupt die Rechtstheorie – in Kelsens Verständnis: die Rechtswissenschaft69 – hat keinerlei (Kompetenz für die) Antwort auf die Frage nach dem Rechtsgehorsam, sondern erklärt sich für unzuständig und verweist die Frage an die individuelle (Rechts-)Moral. Ist einmal erkannt, dass die Rechtsgeltung nicht mit moralischer Befolgungswürdigkeit begründet werden kann, kann die Befolgungswürdigkeit umgekehrt nicht mehr allein unter Hinweis auf die Rechtsgeltung begründet werden.

5.2  Recht und Rechtswissenschaft als eigenrationale Systeme Sowohl das Recht wie die auf seine Erkenntnis und Darstellung gerichtete Wissenschaft vom Recht sind auf dieser Folie, und zwar auf je spezifische Weise, eigenrationale Systeme. H. Kelsen, Juristischer Positivismus, 455 (= WRS 1, 942) – Hervorhebungen im Original. H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , 112. 67  Dazu nachfolgend 6. 68  Dazu jüngst und eindringlich H. Dreier, Naturrecht, 137 ff., ergänzend 140 ff. 69  Dazu G. N. Dias, Rechtspositivismus, 112–127; H. Dreier, Kelsens Wissenschaftsprogramm, 81–114. 65 

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5.2.1  Die »Eigengesetzlichkeit«70 des Rechts Das positive Recht unterscheidet sich als von Menschen erzeugte und auf menschliches Verhalten ausgerichtete »normative Zwangsordnung«71 von allen sonstigen faktischen und normativen Phänomenen der Verhaltensstabilisierung, von allen sonstigen Techniken sozial(-psychisch)er Steuerung. Sozusagen »nach innen« gewendet besteht seine »Eigengesetzlichkeit« darin, dass Recht – wie eigens zu betonen ist: als Recht und nicht etwa als soziales oder psychisches, als ökonomisches oder als historisches Faktum – nur nach Maßgabe seiner selbst entsteht und vergeht, genauer: dass eine neue Rechtsnorm nur entstehen kann, wenn eine bestehende Rechtsnorm an ein entsprechendes menschliches Verhalten die Rechtsfolge der Entstehung einer neuen Rechtsnorm knüpft. Recht ist also operativ autoreferenziell. Damit wird dem positiven Recht nicht ein struktureller Autismus bescheinigt, der es unfähig machte, in Kontakt mit den nicht-rechtlichen Phänomenen – meinetwegen auch: mit den sonstigen sozialen Subsystemen – zu treten. Nicht-rechtliche Ingerenzen, seien sie moralischer oder religiöser, ökonomischer oder sonstwie empirisch fassbarer Provenienz, erlangen jedoch rechtliche Relevanz, erlangen rechtliche Existenz, also Geltung, nur, indem sie nach Maßgabe des bestehenden Rechts in Recht transformiert werden, ihre – neue – Geltungsgrundlage also in diesem finden. Das positive Recht unterliegt also keiner Fremd- oder Außensteuerung, sondern ausschließlich seiner Selbst- oder Innensteuerung. Ist es aber ausschließlich das positive Recht selbst, das bestimmt, welcher Norminhalt unter welchen Bedingungen von welchem Akteur zu Recht erhoben werden kann, so kann in der Tat eine Rechtsnorm virtualiter jeden beliebigen Inhalt haben – das Anathema aller Naturrechtler! Wenn das Recht aber jeden beliebigen Inhalt annehmen kann, so kann es selbstredend auch jeden moralischen Wert, jede Gerechtigkeitsnorm zu positivem Recht erheben. Struktur und Anlage des positiven Rechts als autopoietisches System hindern also keineswegs, dass dieses sich Moralvorstellungen öffnet – was es ja auch auf Schritt und Tritt, in der weit überwiegenden Zahl der Normen tut. Die prominentesten Beispiele positivierter Moralvorstellungen markieren etwa in der grundgesetzlichen Ordnung die Grundrechte mit der Menschenwürde an der Spitze. Sperrt sich aber das positive Recht nicht per se gegen die Rezeption von Moralsätzen (was ja auch eine absurde Vorstellung wäre), sondern stellt sie deren Rechtsgeltung »lediglich« unter die Bedingung des Positivierungsnachweises, d. h. unter die Voraussetzung, dass die vom positiven Recht aufgestellten tatsächlichen Rechtserzeugungsvoraussetzungen erfüllt, die inhaltlichen Vorgaben beachtet, die formal-prozeduralen Kautelen eingehalten sind, so gerät der Nonpositivist in Rechtfertigungsnot, der trotz möglicher, aber eben nicht vollzogener Positivierung die Recht(serheb)lichkeit bestimmter moralischer Inhalte behauptet.

70  Kelsen verwendet in diesem Kontext vorzugsweise den Begriff der »Eigengesetzlichkeit« des Rechts; pars pro toto: H. Kelsen, Reine Rechtslehre 1, III, 11, 21 und 33 (= Studienausgabe, 3, 24, 33 und 44); s. a. »Selbstbestimmung des Rechts«: H. Kelsen, Selbstbestimmung des Rechts, 1087 ff. (= WRS 2, 1445 ff.). 71  Stellvertretend: H. Kelsen, Juristischer Positivismus, 455 (= WRS 1, 941).

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5.2.2  Die »Reinheit« der Rechtswissenschaft Auch die Rechtswissenschaft, wie Kelsen sie versteht, erhebt einen Autonomie-Anspruch, der im »Reinheits«-Postulat zum Ausdruck gelangt. Doch dieser AutonomieAnspruch unterscheidet sich inhaltlich von jenem des positiven Rechts – wird er doch nicht gegenüber der Faktizität, der Politik oder der Moral erhoben, sondern gegenüber den Naturwissenschaften, den übrigen Sozial- und Geisteswissenschaften.72 Darüber hinaus ist er dem Autonomie-Anspruch des Rechts auch akzessorisch. Kelsen geht es um eine »reine […], ihrer Eigenart weil der Eigengesetzlichkeit ihres Gegenstandes bewußte Rechtstheorie«73. Die Eigenart der Rechtstheorie, die Kelsen nicht selten schlichtweg gleichsetzt mit Rechtswissenschaft überhaupt,74 leitet sich also daraus ab, dass sie die »Eigengesetzlichkeit« des positiven Rechts disziplinär verinnerlicht, zum eigentlichen Erkenntnisziel erhebt. Die strikte Beschränkung der solcherart betriebenen Rechtslehre auf Erkenntnis und Beschreibung des positiven Rechts, damit der Ausschluss jeglicher Bewertung und Gestaltung desselben, gründet, mit anderen Worten, auf der »Selbstbestimmung des Rechts«:75 Kann Recht nur nach Maßgabe des Rechts selbst erzeugt und verändert werden und finden auch rechtserhebliche Bewertungen nur nach Maßgabe des Rechts selbst statt, so hat eine Wissenschaft, die sich zum Ziele gesetzt hat, das Recht in seiner »Eigengesetzlichkeit« darzustellen, sich aller Versuche zu enthalten, von sich aus, d. h. kraft Eigenrechts und ohne positivrechtliches Mandat, auf das Recht verändernd Einfluss zu nehmen. »Die juristische Selbstreflexion ist an eine spezifische Methodologie ihrer Wissenschaft gebunden. Diese entfaltet sich jenseits der Beurteilung von Wert oder Unwert des Rechts.«76 Dabei ist zu beachten, dass das Reinheits- oder, was dasselbe ist, das methodologische Konsequenzgebot nicht gleichberechtigt neben der Zielsetzung der Beschäftigung mit Recht steht, sondern diese voraussetzt.77 Dass aber die von der Reinen Rechtslehre verfolgte Zielsetzung, möglichst exakte und objektive Informationen über Struktur und Funktionsweise des positiven Rechts zu vermitteln, ihrerseits die einzig richtige oder legitime Zielsetzung einer Beschäftigung mit dem Phänomen »Recht« wäre, lässt sich nicht begründen und behauptet auch Kelsen nicht. Vielmehr lassen sich zahlreiche weitere, auf das Recht bezogene Erkenntnisinteressen formulieren. Aber auf der Grundlage Versuch, die beiden Autonomie-Ansprüche zu unterscheiden, zu kontrastieren und in ein Verhältnis zueinander zu setzen, bei M. Jestaedt, Theorie, 27 ff., 30 ff., 32 ff. 73  H. Kelsen, Reine Rechtslehre 1, Vorwort, III (= Studienausgabe, 3). 74  Bei Lichte betrachtet meint Kelsen hier allenfalls die auf bloße Erkenntnis des positiven Rechts gerichteten Disziplinen, also die Rechtstheorie sowie die anwendungsbezogenen Disziplinen der Methodik und der Dogmatik (soweit sie auf die Erkenntnis und nicht auf die Erzeugung von Recht gerichtet sind). Zur intradisziplinären Vielfalt der Jurisprudenz vgl. M. Jestaedt, Rechtswissenschaftstheorie, 185 ff. 75  H. Kelsen, Selbstbestimmung des Rechts, 1087 ff. (= WRS 2, 1445 ff.). 76  Zitat: J. M. Broekman, Rechtsphilosophie, Sp. 322. 77  Vgl. H. Kelsen, Souveränität, Vorwort, VII: »Darin liegt ja gerade die alle ›Wissenschaft‹ erst ermöglichende Reinheit, daß die Erkenntnis innerhalb der ihr durch Gegenstand und Methode gezogenen Grenzen bleibt.« 72 

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der These von der gegenstands-»konstituierenden« Bedeutung der (ihrerseits von der Erkenntnisrichtung abhängigen) Methode beharrt Kelsen auf einer sorgfältigen Trennung der nach Erkenntnisrichtung, Erkenntnisverfahren und – sogar – nach Erkenntnisgegenstand unterschiedlichen Disziplinen. Der Pluralität möglicher wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen entspricht die Alternativität, Selektivität und Relativität disziplinärer Erkenntnisse und Ergebnisse. Mit seiner Reinen Rechtslehre macht Kelsen – so kann man ihn auch lesen – also Front gegen jede Form von methodisch-disziplinärem Holismus und Substanzialismus. Er formuliert mit seiner Reinen Rechtslehre nichts weniger als eine juridische Relativitätstheorie.

6.  Der Probierstein: Die Geltungsfrage Probierstein für die Doppel-These, dass auf der einen Seite Rechtsphilosophie ohne Rechtstheorie in Gefahr steht, die Selbststeuerungsmechanismen des positiven Rechts zu ignorieren, und dass auf der anderen Seite Rechtstheorie ohne Rechtsphilosophie Gefahr läuft, die Bedingtheit des positiven Rechts auszublenden, soll die Frage der Rechtsgeltung sein.78 Ich möchte hierzu abschließend und in gedrängter Kürze Kelsens Lösung präsentieren. Geltung ist für Kelsen die spezifische oder auch dem Recht eigentümliche Existenzform des Rechts, sozusagen die rechtliche Existenzweise von Recht. Eine Norm gilt als Rechtsnorm, wenn sie, getreu dem Norm-Norm-Ableitungszusammenhang, ihre GelEs könnten selbstverständlich auch andere Beispiele gewählt werden. So könnte etwa die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral als Exempel herangezogen werden. R. Alexy etwa votiert, um die Bedeutung der Rechtsphilosophie zu unterstreichen, jüngst (R. Alexy, Natur der Rechtsphilosophie, 11 ff.) für einen »Einschluss von Moral ins Recht« (a. a. O., 23) mit Rücksicht darauf, dass diese Option eine dreifache Problemlösungshilfe biete, nämlich in Bezug auf »erstens das Problem der Grundwerte, die die Basis des Rechts bilden und es rechtfertigen, zweitens das Problem der Realisierung des Anspruchs auf Richtigkeit im Rahmen der Setzung und Anwendung des Rechts und drittens das Problem der Grenzen des Rechts« (ebd.). Hier sei nur der zweite der drei Gründe herausgegriffen; er ist in Verbindung mit Alexys Sonderfallthese zu sehen, dass nämlich der juristische Diskurs nur einen Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses markiere (dazu insb. R. Alexy, Juristische Argumentation, 261 ff.). Aus hiesiger Sicht bedarf es nicht des – wohlgemerkt: nicht rechtsendogen gesteuerten – »Einschlusses von Moral ins Recht«, um »das Problem der Realisierung des Anspruchs auf Richtigkeit im Rahmen der Setzung und Anwendung des Rechts« zu lösen; genau genommen verbietet sich sogar ein derartiger »Einschluss«, hält doch das positive Recht selbst einen – im Übrigen: im Vergleich weitaus komplexeren  – Problemlösungsmechanismus vor. Der rechtsphilosophische approach von Alexy verleitet dazu, an der Tatsache vorbeizugehen, dass das positivierte Rechtssystem selbst eine spezifische Form eines Diskurses (besser wohl: eine Vielzahl funktionsspezifischer Formen von Diskursen) institutionalisiert; darüber hinaus tendiert die vorgeschlagene Problemlösung dazu, die Dichotomie der Rechtsgewinnung in Rechtserkenntnis (der lex lata) und Rechtserzeugung (der lex ferenda) zu überspielen, indem ein holistisch-idealistischer Rechtsgewinnungsprozess kraft des besseren Arguments (statt kraft der positivrechtlich zugewiesenen Kompetenz) propagiert wird. In den Kontext des Einschlusses von Moral ins Recht zählt auch die in der anglo-amerikanischen Rechtstheorie ausgetragene Auseinandersetzung des »inclusive« versus den »exclusive legal positivism« (dazu Marmor, Exclusive Legal Positivism, 104 ff. sowie Himma, Inclusive Legal Positivism, 125 ff.). 78 

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tungsgrundlage in einer oder mehreren – bestehenden – Rechtsnorm(en) findet. Anders ausgedrückt: Ein Sollenssatz hat positivrechtliche Geltung (innerhalb der betreffenden rechtlichen Bezugsordnung, beispielsweise der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland), wenn das menschliche Verhalten, an welches das geltende positive Recht mit materiellen wie formellen Voraussetzungen die Rechtsfolge der Normerzeugung knüpft, tatsächlich geübt wird. Es ist nur eine weitere Facette der »Selbstbestimmung des Rechts«, dass Rechtsgeltung ein Synonym ist für Rechts(ordnungs)zugehörigkeit. Jeder Studierende der Rechtswissenschaft weiß dies, wenn auch zumeist unreflektiert, bereits im ersten Semester: Ein privatrechtlicher Vertrag ist nur dann zustandegekommen – also in rechtliche Existenz, in Geltung getreten –, wenn die im Bürgerlichen Gesetzbuch statuierten Voraussetzungen de facto vorliegen; ein Bundesgesetz entgeht umgekehrt nur dann dem Verdikt der Nichtigkeit – also der Nichtgeltung –, wenn es die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit sowohl in formeller als auch in materieller Weise unbeschadet übersteht, sprich: wenn es die notwendigen Rechtserzeugungsvoraussetzungen tatsächlich erfüllt. Betrachtet man den Rechtserzeugungsprozess in einer modernen ausdifferenzierten Rechtsordnung aus der Perspektive der Rechtstheorie, so offenbaren sich einerseits dessen hierarchische und andererseits dessen dichotome Struktur: Die einzelnen NormNorm-Ableitungen sind positivrechtlich in einem hochkomplexen Rechtserzeugungszusammenhang organisiert, der, auf der Grundlage arbeitsteiliger Rechtsproduktion, als stufenförmig – und damit hierarchisch – sich vollziehender Rechtskonkretisierungsund Rechtsindividualisierungsprozess beschrieben werden kann – etwa von der Verfassung über Gesetz, Verordnung, Satzung hin zu Vertrag, Verwaltungsakt und Urteil. Die Reine Rechtslehre hat hierfür Theorie und Begriff des »Stufenbaus der Rechtsordnung« entwickelt.79 Wichtigste Bausteine sind gewiss die Vorrangsätze wie etwa der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht, der Vorrang der Verfassung oder jener des Gesetzes. Freilich kann allein damit das Rechtsgeltungsarrangement des positiven Rechts nicht adäquat erfasst werden, sieht dieses, zumeist aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechts(anwendungs)klarheit, doch ein sogenanntes »Fehlerkalkül« vor, also Regeln, die ihrerseits bestimmen, welche Rechtserzeugungsvoraussetzungen hinreichend und welche notwendig sind.80 Ein Rechtserzeugungsfehler hat dementsprechend nicht ohne weiteres das Nichtzustandekommen einer Rechtsnorm, die Rechtswidrigkeit nicht immer und schon gar nicht zwingend die Nichtigkeit zur Folge. Mit diesem dem positiven Recht abgeschauten Geltungskonzept kann der Jurist sämtliche Rechtsgeltungsfragen einer abschließenden Antwort zuführen – bis auf eine einzige, die indes dem Rechtsalltag so entrückt ist, dass sie ein praktisch tätiger Jurist und dass sie sich einem praktisch tätigen Juristen (unter Einschluss der anwendungsbezogen arbeitenden Rechtswissenschaftler) in aller Regel nicht stellen wird. Es ist dies die 79  Zum Theorem des Stufenbaus der Rechtsordnung richtungweisend: A. J. Merkl, Prolegomena, 464 ff., 480 ff.; H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , 228 ff. 80  Grundlegend zum »Fehlerkalkül«: A. J. Merkl, Verwaltungsrecht, 191 ff., bes. 195–201 (die Bezeichnung als »Fehlerkalkül« auf 196); vgl. auch A. J. Merkl, Recht im Lichte, 122–134; A. J. Merkl, Rechtskraft, passim; eingehend zu Entwicklung und Bedeutung der Lehre vom Fehlerkalkül R. Lippold, Recht, 407–420.

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Frage, wie sich die Geltung der höchsten oder auch ersten Rechtsnorm der betreffenden Rechtsordnung begründen lasse. Diese, die Geltung und Einheit der Rechtsordnung allererst stiftende und gewährleistende Rechtsnorm – Kelsen nennt sie die »historisch erste Verfassung«81  – kann rechtsordnungsimmanent, also mit den Mitteln des positivrechtlichen Norm-Norm-Ableitungs­zusammenhangs nicht mehr begründet werden. Weil aber die Geltung aller anderen Normen einer Rechtsordnung sich – unmittelbar oder mittelbar – von dieser höchsten, letzten Norm ableitet, hängt mit dem fehlenden Beleg für deren Geltung die Geltung aller Normen dieser Rechtsordnung in der Luft. Selbst in dieser argumentativen Notlage versagt es sich Kelsen, seinen beiden Grundüberzeugungen  – dem Normativismus ohne Moralismus und dem Positivismus ohne Naturalismus – untreu zu werden und wohlfeil Zuflucht zu nehmen bei der Anerkennung oder der Machtlage, der Natur oder Gott. Eine kategorische Letztbegründung des positiven Rechts ist für ihn denn auch folgerichtig nicht möglich. Seine Lehre von der – vielleicht nicht ganz glücklich so genannten, da Missverständnisse nachgerade provozierenden – »Grundnorm« bietet denn konsequenterweise die Grundlage einer bloß hypothetischen Geltung: Die historisch erste Verfassung kann ihre Rechtsgeltungs- und Rechtsbegründungsfunktion für die konkrete Rechtsordnung als ganze wie mittelbar auch für jede einzelne konkrete Rechtsnorm definitionsgemäß nur erfüllen, wenn sie ihrerseits Rechtsgeltung besitzt. Da diese aber nicht bewiesen werden kann – das positive Recht, die einzige Quelle der Rechtsgeltungsbegründung fällt ja insoweit aus –, muss sie, will man den Zusammenhang von zwangsbewehrten Verhaltensanordnungen als geltende Rechtsordnung begreifen, wider die positivrechtliche Realität angenommen werden. Dabei spielt es aus Sicht der Rechtstheorie keine Rolle, ob man sie als transzendental-logische Bedingung der Rechtserkenntnis, als Hypothese oder aber als Fiktion im Sinne Hans Vaihingers qualifiziert.82 Mehr als diese Geltungs-»Annahme«, dieses »Als ob« der Geltung, enthält die Grundnorm nicht; insbesondere hängt von ihr nicht ein einziger Inhalt des positiven Rechts ab. Nach Kelsen ist das Modell der Rechtsgeltung, so geschlossen es in inhaltlicher Sicht ist und so rechtsrealistisch es im Rechtsalltag daherkommt, folglich keine selbsttragende Konstruktion. Anders formuliert: Das positive Recht erkauft sich seinen Selbstand um den Preis, keinen festen Grund mehr zu finden – und teilt damit das Schicksal jedes kohärenztheoretischen Wahrheitskonzepts. An Kelsens Rechtsgeltungstheorie lässt sich, so meine ich, recht eindrucksvoll zeigen, in welchem Maße die Rechtsphilosophie sich auf die Anlage des konkreten positiven Rechts einlassen muss, um nicht monströse und (rechts)realitätsfremde, weit überdimensionierte und in Rechtsinhaltsfragen intervenierende Rechtsgeltungstheorien zu entwickeln. Und umgekehrt bezeichnet die Lehre von der »Grundnorm« jenen Ort, an

Vgl. H. Kelsen, Reine Rechtslehre 2 , 47, 203, 242, 335, 339. 82  Zu den unterschiedlichen Lesarten und Begründungen der Grundnorm, die Kelsen im Verlaufe der Jahrzehnte geliefert hat: S. L. Paulson, Toward a Periodization, 11 ff.; S. L. Paulson, Formulierungen der »Grundnorm«, 53 ff.; S. L. Paulson, Four Phases, 153 ff.; S. L. Paulson, Defensible Periodization, 351 ff.; G. N. Dias, Rechtspositivismus, 169 ff., 192 ff., 236 ff. 81 

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dem die Rechtstheorie mit ihrer Beschränkung auf die Rechtsimmanenz nicht mehr weiterkommt und sich rechtsphilosophischer Hilfe zu versichern hat.

7.  Der »Ort« der Rechtsphilosophie im juridischen Weltbild der Reinen Rechtslehre Der Kreis meiner Überlegungen ist abgeschritten und ich komme zum Schluss. Kelsen stellt der Radbruchschen Konfrontationsthese im Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie eine Kooperationsthese gegenüber. Aus Sicht der Rechtstheorie, überhaupt aus Sicht der der Erkenntnis und Darstellung des positiven Rechts verpflichteten juridischen (Sub-)Disziplinen bedarf es der (rechts)philosophischen Expertise demnach in drei Richtungen: Erstens fungiert Rechtsphilosophie, soweit es um die namentlich erkenntnistheoretischen Prämissen rechtstheoretischen Räsonnements geht, als Basisdisziplin der Rechtstheorie. Zweitens liefert sie der Rechtstheorie Begründungsbausteine, die den Horizont der Rechtstheorie übersteigen: Rechtsphilosophie also als Komplementärdisziplin zur Rechtstheorie. Und schließlich bewahrt die Rechtsphilosophie ihren Charakter als eigenständige Nachbardisziplin, soweit sie ihren Fokus auf Fragen richtet, die jenseits des Horizontes einer auf Beschreibung des positiven Rechts beschränkten Rechtstheorie liegen.

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Rechtstheorie als Euthanasie der Rechtsphilosophie?

307

Kelsen, Hans: »Die Selbstbestimmung des Rechts«, in: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur 18 (1963), 1087–1095 (= Hans Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck [Hgg.], Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Bd. 2 [= WRS 2], Wien / Frankfurt a. M. / Zürich / Salzburg / München 1968, 1445–1454). Kelsen, Hans: »Was ist Juristischer Positivismus?«, in: Juristenzeitung 20 (1965), S. 465– 469 (= Hans Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck [Hgg.], Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Bd. 1 [= WRS 1], Wien / Frankfurt a. M. / Zürich / Salzburg / München 1968, 941–953). Kelsen, Hans: »Norm and Value«, in: California Law Review 54 (1966), 1624–1629. Kelsen, Hans: Allgemeine Theorie der Normen, im Auftrag des Hans Kelsen-Instituts aus dem Nachlass hg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1979. Kelsen, Hans: Die Illusion der Gerechtigkeit. Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, im Auftrag des Hans Kelsen-Instituts aus dem Nachlass hg. von Kurt Ringhofer und Robert Walter, Wien 1985. Lippold, Rainer: Recht und Ordnung. Statik und Dynamik der Rechtsordnung, Wien 2000. Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie, Wiesbaden 42008. Marmor, Andrei: »Exclusive Legal Positivism«, in: Jules Coleman / Scott Shapiro (Hgg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, Oxford / New York 2002, 104–124. Mendelssohn, Moses: »Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes« [1785], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. III, 2: Schriften zur Philosophie und Ästhetik, Stuttgart 1974, 1–175. Merkl, Adolf Julius: »Das Recht im Lichte seiner Anwendung« (1916 / 1917 / 1919), in: Adolf Julius Merkl, Gesammelte Schriften, Bd. I / 1, Berlin 1993, 85–146. Merkl, Adolf Julius: Die Lehre von der Rechtskraft entwickelt aus dem Rechtsbegriff. Eine rechtstheoretische Untersuchung, Leipzig / Wien 1923. Merkl, Adolf Julius: Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien / Berlin 1927. Merkl, Adolf Julius: »Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues« (1931), in: Adolf Julius Merkl, Gesammelte Schriften, Bd. I / 1, Berlin 1993, 437–492. Mittelstraß, Jürgen: »Wissenschaft als Kultur«, in: Heidelberger Jahrbücher 30 (1986), S. 51–71. Mittelstraß, Jürgen: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften, Oldenburg 1989. Mittelstraß, Jürgen: »Bildung und ethische Maße«, in: Nelson Killius / Jürgen Kluge / Linda Reisch (Hgg.), Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a. M. 2002, 151–170. Osterkamp, Thomas: Juristische Gerechtigkeit. Rechtswissenschaft jenseits von Rechtspositivismus und Naturrecht, Tübingen 2004. Ott, Walter: Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, Berlin 21992. Paulson, Stanley L.: »Toward a Periodization of the Pure Theory of Law«, in: Letizia Gianformaggio (Hg.), Hans Kelsen’s Legal Theory. A Diachronic Point of View, Turin 1990, 11–34.

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Kolloquium 5  ·  Matthias Jestaedt

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Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff Thomas Gutmann

1.  Rechtliche Interpretation Die Diskussion um den Menschenwürdesatz des Grundgesetzes ist in Bewegung geraten und der gegenwärtige Stand dieser Debatte vermag aus philosophischer Sicht ebenso wenig zu befriedigen wie aus juristischer. Der vorliegende Beitrag will zeigen, dass sich Klarheit gewinnen lässt, wenn man sich von der Frage nach der normativen Struktur und der Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff leiten lässt. »Die Würde des Menschen« statuiert Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes, »ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«. Als (so das Bundesverfassungsgericht) »tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Wert der Verfassung«1 ist Würde ein Begriff, der das Recht mit Notwendigkeit auf philosophische Analysen verweist. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland hat mit dem Menschenwürdesatz einen zentralen Begriff des Vernunftrechtsdenkens und damit der neuzeitlichen Moral- und Rechtsphilosophie als Konzept des positiven Rechts inkorporiert. Zugleich ist jedoch zu sehen, dass Moral im Rechtssystem nicht unmittelbar gelten kann. Das Rechtssystem ist, soweit ist Niklas Luhmann zu folgen, insoweit normativ geschlossen, als es sich »gegen die unbeständige Flut und Ebbe moralischer Kommunikationen« differenzieren und sich von diesen anhand rechtseigener Kriterien unterscheiden muss – schon weil sich die Pluralität und mangelnde Konsensfähigkeit der in der Gesellschaft vorfindlichen Moralprogramme und ihre Kriterien für die Unterscheidung von gut und schlecht (oder würdig und unwürdig) nicht mit dem Ziel hinreichender Konsistenz rechtlichen Entscheidens vertragen. 2 Der Gehalt der Menschenwürde als Rechtsbegriff lässt sich mithin nicht dadurch gewinnen, dass man im breiten Angebot der moralphilosophischen Tradition eine Schublade aufzieht und deren Inhalt an das Recht heranträgt. Das wiederum bedeutet, wie zu zeigen sein wird, allerdings nicht, dass – wie heute so viele Staatsrechtslehrer zu glauben scheinen – der Menschenwürdebegriff entweder als Einfallstor für Partikularethiken3 in der in juristischen Kommentaren so gerne nacherzählten Kakophonie konkurrierender moralphilosophischer Interpretationsansätze verschwimmen muss oder aber als Rechtsbegriff so »abstrakt [und] inhaltsarm«4 wird, dass er nicht mehr operationalisierbar ist. Vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE), Band 109, 279, 311 (2004). N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 78 ff. 3  Vgl. H. Dreier, »Kommentierung zu Art. 1 GG«, Rn. 33; vgl. Rn. 53, 169; F. Hufen, »Erosion der Menschenwürde?«, 314. 4  J. Isensee, »Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten«, 214. 1  2 

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Kolloquium 5  ·  Thomas Gutmann

Blickt man auf die Entstehungsgeschichte des Artikels 1 GG, so wird zunächst deutlich, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Menschenwürdesatz in erster Linie als Reaktion auf die nationalsozialistische Diktatur und deren systematische Strategien der Entmenschlichung, Gewalt und totalitären Missachtung des Individuums verstanden. Der Parlamentarische Rat wollte im Jahre 1948 jedoch in seiner Mehrheit nicht ein bestimmtes philosophisches oder gar theologisches Narrativ der Würde im Grundgesetz verbindlich machen – und er tat dies aus gutem Grund nicht. Eine Verfassung muss auch für Agnostiker, Athei­sten und Anhänger anderer Religionsgemeinschaften begrün­dete Autorität beanspruchen können. Der Staat der Bundesre­ publik ist zudem auf konfessionelle Neutralität ver­pflichtet, so dass gerade auch der Menschenwürdesatz, ungeachtet der gelegentlichen Versuche seiner christlichen ReInterpretation5, ein säkulares Konzept sein muss, das nur nach den Regeln des öffentlichen Vernunftgebrauchs (im Sinne des späten Rawls6) ausbuchstabiert werden kann.7 Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass schon während der Beratun­gen zum Grundge­setz der Antrag einer Gruppe von Abgeordne­ten scheiterte, in der Verfassung festzuschreiben, dass Menschen­rechte und -würde »von Gott gegeben« seien. Die Würde des Men­schen, wie sie im Artikel 1 niedergelegt ist, sollte vielmehr – in den gerne zitierten Worten von Theodor Heuss  – als »nicht interpretierte These«8 verstanden werden. Nun ist das Interpretieren das Kerngeschäft der Juristen. In den vergangenen sechzig Jahren ist, vorangetrieben von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtswissenschaft, ein ausdifferenziertes Verständnis des Würdekonzepts gewachsen, das sich in der Tiefenstruktur des Rechts verankert und rhizoid vernetzt hat. In dieser Form hat es als »oberstes Konstitutionsprinzip« eine strukturbildende Funktion für die Rechtsordnung der Bundesrepublik übernommen und zugleich darüber entschieden, welche Argumente im Medium des Rechts anschlussfähig sind, weil sie rekursiv auf vorhandene Kommunikationen im System Bezug nehmen und so rechtsspezifischen Sinn produzieren können.9 Die Diskussion um die Menschenwürde, wie sie heute etwa aus Anlass des Streits um die Präventivfolter, die Terrorismusabwehr und die Humangenetik geführt wird, zielt deshalb notwendigerweise auf die architektonischen Fundamente des Rechts und führt schon aus diesem Grund ein massives Potential an Kollateralschäden mit sich. Die Rede von einem »gewachsenen Verständnis des Würdekonzepts, das sich in der Tiefenstruktur des Rechts verankert und vernetzt hat« verweist zugleich auf das

Vgl. etwa Ch. Starck, »Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat«; A. Pawlas, »Grundgesetz und Menschenbild«; J. Isensee, Die bedrohte Menschenwürde, 8; zum Ganzen J. Isensee, »Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten«. 6  J. Rawls, Political Liberalism, 45. 7  Zu einer Analyse des Grundgesetzes in diesem Sinn vgl. St. Huster, Die ethische Neutralität des Staats. 8  Parlamentarischer Rat, Akten und Protokolle, Band 5, 72. 9  Vgl. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 41 ff., 66. 5 

Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff

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methodische Werkzeug zu seiner Analyse. Recht ist sowohl in seiner Anwendung als auch in seiner wissenschaftlichen Behandlung ein interpretatives Konzept10 und zugleich eine interpretative Praxis.11 Ich folge jedoch Ronald Dworkin und anderen in der Überzeugung, dass über konkurrierende Interpretationen des Rechts mittels eines Bewertungsmaßstabs entschieden werden kann, der dem Recht selbst, und zwar seiner Prinzipienebene, immanent ist. Es ist der Maßstab der Kohärenz. Dieser meint mehr als die logische Konsistenz (also die Widerspruchsfreiheit) rechtlicher Aussagen12; er zielt auf einen normativen Begründungszusammenhang13, der eine notwendige (wenngleich nicht zwangsläufig hinreichende) Bedingung gelingender juristischer Argumentation darstellt: Interpretationen des Rechts bemessen sich daran, wie weit es ihnen gelingt, einen kohärenten Rechtfertigungszusammenhang im Lichte seiner leitenden normativen Prinzipien zu bilden.14 In diesem Kontext ist der Verweis des Bundesverfassungsgerichts auf ein über den Wortlaut der Gesetze hinausgehendes »Mehr an Recht […], das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt«15, zu verstehen. Der folgende Text kann methodisch deshalb in einem »glücklichen Positivismus«16 verbleiben. Die Philosophie braucht hier als ancilla iuris nur Hilfe zur begrifflichen Rekonstruktion eines normativen Zusammenhangs zu leisten, der als solcher dem Recht angehört: Was ist diejenige Interpretation des Würdekonzepts, die die normativen  – rechtlichen – Aussagen, die aus ihm gewonnen wurden, in einen möglichst kohärenten Rechtfertigungszusammenhang bringt? Welche Interpretation des Würdekonzepts kann die normative Struktur und Funktion des Begriffs auf der Ebene seiner Tiefengrammatik rekonstruieren?

10  11 

R. Dworkin, Law’s Empire, 410. R. Dworkin, Law’s Empire, 87 ff., 90, 410; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts,

119. Vgl. R. Alexy / A. Peczenik, »The Concept of Coherence and its Significance for Discursive Rationality«; K. Kress, »Coherence«; N. MacCormick, »Coherence in Legal Justification«. 13  Vgl. R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen; ders., Law’s Empire; K. Günther, »Ein normativer Begriff der Kohärenz für eine Theorie der juristischen Argumentation«; D. Patterson, »Dworkin on the Semantics of Legal and Political Concepts« und nunmehr B. Jakl, Recht aus Freiheit; vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 258 f. 14  K. Günther, a. a. O., 351 f.; R. Dworkin, Law’s Empire, 164 ff. Dieses interpretative Ziel scheitert nicht an der faktisch unvollkommenen Kohärenz des positiven Normenbestands bzw. des vorhandenen Korpus’ gerichtlicher Entscheidungen, vgl. Dworkin, a. a. O., 217. 15  BVerfGE 34, 269, 286 f. (1973). 16  Vgl. M. Foucault, Die Archäologie des Wissens, 182. 12 

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Kolloquium 5  ·  Thomas Gutmann

2.  Basisfunktionen des Würdegrundsatzes 2.1  Garantie elementarer Gleichheit autonomer Rechtspersonen Der Würdegrundsatz umschreibt das Fundament wechselseitiger Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen. Als solcher ist er Resultat eines Anerkennungsprozesses, der sich nicht in der historischen Kontingenz des Aktes der Verfassungsgesetzgebung in den Jahren 1948 / 49 erschöpft17, sondern sich als eine quasi transzendentale Voraussetzung rechtsstaatlicher Ordnung darstellt.18 Für die normative Ordnung der Bundesrepublik erfüllt Art. 1 Abs. 1 GG so mehrere Funktionen. Zunächst eine dreifache, die Garantie elementarer Gleichheit autonomer Rechtspersonen: Rechtspersonen haben Anspruch auf Achtung. Sie haben Anspruch darauf, als Personen respektiert zu werden. Der Menschenwürdesatz affirmiert dies und garantiert dem Einzelnen ein »Recht darauf, Rechte zu haben«.19 Und weil allen Rechtspersonen der Anspruch darauf, als Personen respektiert zu werden, gleichermaßen zukommt, haben sie Anspruch auf gleiche Achtung. Insofern gewährleistet Art. 1 Abs. 1 GG zweitens eine elementare Basisgleichheit. 20 Die Menschenwürdenorm dient als »Grundnorm personaler Autonomie« sodann drittens dem Schutz der jeweiligen Selbst- und Weltvorstellung des Einzelnen und verpflichtet die Rechtsordnung auf den Schutz individueller Dispositions- und Gestaltungsfreiheit. Dies zeigt sich an dem jedenfalls seit drei Jahrzehnten zu beobachtenden Rückzug heteronomer Würdekonzepte zugunsten eines Verständnisses von Würde im Rechtssinn, zu der wesentlich »die grundsätzliche Freiheit gehört, über sich selbst verfügen und sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten zu können«. 21 »Selbstentwürdigung« in den Augen anderer ist als solche folglich kein Gege­n­stand einer staatlichen Schutzpflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG. 22 Für die hier gestellte Aufgabe wichtiger ist indessen eine weitere Funktion:

2.2  Schutz des Einzelnen Im Rechtssatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen wird die Frage verhandelt, ob und wann Individualrechte – und damit ihre Träger – absolut geschützt werden. Der Würdesatz soll dem Einzelnen in seinem irreduziblen Eigenwert einen schlechthin nicht

So aber H. Hofmann, »Die versprochene Menschenwürde«. K. Seelmann, »Menschenwürde: ein Begriff im Grenzgebiet von Recht und Ethik«, 34.  19  Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 591. 20  W. Höfling, »Kommentierung zu Art. 1 GG«, Rn. 33; Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 391. 21  Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 44, 308 ff., 317 (1998); vgl. M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium. 22  H. Dreier, »Kommentierung zu Art. 1 GG«, Rn. 151 f.; M. Herdegen, »Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG«, Rn. 75; U. Neumann, »Die Tyrannei der Würde«. 17 

18 

Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff

313

antastbaren Freiheits- und Schutzbereich gegenüber Kollektivinteressen garantieren 23. Er fungiert als »Bollwerk gegen den Leviathan«24, gerade weil die durch die Verfassung garantierten einzelnen Freiheitsrechte keine »Trümpfe« der Individuen (Dworkin25) und keine »side constraints« (Nozick26) staatlichen Handelns sind und dies auch nicht sein können. Die einzelnen Individualrechte können vielmehr eingeschränkt werden, sowohl zugunsten konkurrierender Rechte als auch zugunsten kollektiver Güter27, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Bleibt man in der für die Rede über subjektive Rechte seit jeher typischen Raummetaphorik28, so soll ein »Kern«, ein (im Einzelnen unterschiedlich zu bestimmender29) »Würdegehalt« der Grundrechtsgarantien der Abwägung entzogen, also absolut garantiert sein. Wird ein Grundrecht in modaler Hinsicht auf entwürdigende Weise verletzt oder dem Grundrechtsträger eine elementare Bedingung seiner Existenz oder Entfaltung verwehrt, greift die kategorische Schranke des Art. 1 Abs. 1 GG ein.30 Nichts anderes meint die Vorstellung von der Menschenwürde als »Wurzel aller Grundrechte«, der zufolge »sämtliche Grundrechte Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde sind«.31 Das Würdeprinzip untersagt die Opferung des Einzelnen für andere und das Kollektiv. Das in Art. 1 Abs. 1 GG enthaltene Instrumentalisierungsverbot wurde vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung mit der »Objektformel« erläutert, die besagt, dass es der menschlichen Würde widerspreche, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates (oder Privater) zu ma­chen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität, d. h. seinen Status als Rechtssubjekt prinzipiell in Frage stelle, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lasse, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukomme. 32 Mit diesem auf die Formulierung des Instrumentalisierungsverbots in der Kantschen Moralphilosophie33 rekurrierenden Topos M. Herdegen, »Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG«, Rn. 1; P. Badura, »Generalprävention und die Würde des Menschen«, 339 ff. 24  K. Bayertz, »Die Idee der Menschenwürde«, 471. 25  R. Dworkin, »Rights as Trumps«; ders., Bürgerrechte ernstgenommen. 26  R. Nozick, Anarchy, State, and Utopia, 27 ff. 27  Zur These des in Gesellschaften, die den Einzelnen als Einzelnen respektieren, aus normativen Gründen gebotenen prima facie-Vorrangs von individuellen Rechten gegenüber kollektiven Gütern, R. Alexy, »Individuelle Rechte und kollektive Güter«, 260 f. 28  Spätestens seit Savigny rekurriert die Be­g riffsbestimmung des Schutzbereichs eines subjektiven Rechts in einer räumlichen Metaphorik auf den Begriff des »sichern freyen Raums« bzw. »Gebiets«, das dem individuellen Willen »angewiesen ist, in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen hat«. (F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, I, § 52, 331, 333. Vgl. typisch bereits den früheren Rechtskantianismus, etwa bei A. Bauer, Lehrbuch des Naturrechts, § 44: »Innerhalb dieser Sphäre (Rechtsgebiet, Rechtssphäre) kann er [der Mensch] seine Willkür frei äußern, und alles, was er binnen deren Gränzen thut, ist recht«). 29  Vgl. M. Herdegen, »Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG«, Rn. 23. 30  W. Höfling, »Kommentierung zu Art. 1 GG«, Rn. 65. 31  BVerfGE 93, 266, 293 (1995); vgl. E. Stein / G. Frank, Staatsrecht, 234 (§  28 II) und E. Hilgendorf, »Die mißbrauchte Menschenwürde«, 149. 32  Z. B. BVerfGE 87, 209, 228 (1992); BVerfGE Band 115, 118 (2006). 33  Siehe vor allem die »Zweckformel« des kategorischen Imperativs: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als 23 

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Kolloquium 5  ·  Thomas Gutmann

hat das Gericht beispielsweise das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden  – z. B. des zwangsweisen Einsatzes des Lügendetektors34 –, das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung im Strafprozess35 und den »absoluten Schutz eines Kernbereichs privater Lebensgestaltung« vor staatlichen Überwachungsmaßnahmen36 be­gründet. Er erfasst umso mehr die Folter, weil deren Anwendung »die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs [macht] und grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen [zerstört]«. 37 Auch der Anspruch auf rechtliches Gehör wurzelt in letzter Konsequenz in Art. 1 Abs. 1 GG und vermittelt die Garantie, dass wir Subjekte unserer rechtlichen Verfahren bleiben. Selbst der strafende Staat darf die Identität eines Menschen nicht brechen – so wurde die le­ benslange Freiheitsstrafe nur unter der Bedingung für mit der Verfassung vereinbar erklärt, dass dem Verurteilten grundsätzlich die Chance ver­bleibt, je wieder in Freiheit zu kommen. 38 Seit dem er­sten »Volkszählungsurteil« wurde zudem ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung als würdegeneriertes right to privacy und right to self-representation entwickelt, weil es »mit der Menschen­w ürde nicht zu vereinbaren wäre, wenn der Staat für sich das Recht in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangs­weise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und katalogisieren«. 39 Die »Objektformel« vermag insgesamt, der Kritik an ihrer angeblich zu großen Unbestimmtheit40 zum Trotz, die Grundlagen wechselseitiger Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen hinreichend genau und operationalisierbar zu erfassen, zumal nachdem sie in ihrer Entwicklung zwei Schärfungen erfahren hat, die Stationen ihrer Emanzipation aus einer allzu großen Nähe zur kantischen Moralphilosophie darstellen. So hat das Gericht zum einen seine frühere Formulierung, derzufolge eine die Subjektqualität des Betroffenen in Frage stellende Behandlung »Ausdruck der Verachtung

Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 61, vgl. 67, 75). Ein Würdekonzept, das das Fundament wechselseitiger Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen umschreibt, lässt sich indessen gerade auch in der Kantischen Rechtsphilosophie verankern; siehe B. Jakl, »Human Dignity as fundamental right to freedom in the law«. 34  BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift 1982, 375; M. Herdegen, »Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG«, Rn. 81. 35  BVerfG, Neue Juristische Wochenschrift  1993, 3315; Ch. Starck, »Kommentierung zu Art. 1 GG«, Rn. 56. 36  BVerfGE 109, 279. 37  BVerfG Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2004, 807; vgl. für Viele: H. D.  Jarass, »Kommentar zu Art. 1 GG«, Rn. 14a. Die Grenzfälle der hier vertretenen Interpretation stellen Notwehr-, Nothilfe und Notstandsmaßnahmen dar, deren Problematik besonders in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich wird, dass die Menschenwürde auch durch eine langdauernde Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt werde, wenn diese wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Untergebrachten notwendig sei (BVerfGE 109, 133 [2004]). 38  BVerfGE 45, 187 (1977). 39  BVerfGE 65, 1 (1983). Vgl. auch K. Seelmann, »Repräsentation als Element von Menschenwürde«. 40  Für viele: B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte (Staatsrecht II), Rn. 375 f.

Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff

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des dem Menschen kraft seines Personseins zukommenden Wertes«41 sein müsse, zunehmend entweder stillschweigend fallengelassen oder aber auf eine Weise verwendet, die jedenfalls implizit klarstellt, dass mit dem Begriff der »Verachtung« kein qualifiziertes subjektiv-intentionales Moment in der Person des Handelnden gefordert wird.42 Zugleich wird in der Judikatur zu Art. 1 Abs. 1 GG keineswegs modal auf die immer problematische Vorstellung der »Instrumentalisierung«, also des »Gebrauchens« eines Anderen als bloßes Mittel abgestellt, sondern – mit einer Ausnahme43  – durchgehend auf die Verletzung von Rechten und Interessen, die elementare Bedeutung für die Existenz oder Entfaltung des Betroffenen haben. In seinem Anwendungsbereich statuiert Art.  1 Abs.  1 GG ein absolutes Verletzungsverbot. Die Würde des Menschen unterliegt nach dem nahezu unangefochten herrschenden verfassungsrechtlichen Verständnis keinen Grundrechtsschranken und entzieht sich als rechtliche Regel jeder Abwägung mit anderen Rechten oder Rechtsgütern, auch mit solchen von Verfassungsrang.44 Sie umschreibt m.a.W. ein striktes, unbedingtes Gebot, das sich aus der Vorstellung nährt, dass der Einzelne einen auch in Konfliktfällen immer vor Verletzung geschützten und niemals fungiblen Anspruch auf Respekt vor seiner Rechtsperson hat. Hieraus lässt sich ein weiteres Strukturmerkmal des Würdebegriffs gewinnen: Die Würde im Rechtssinn ist kein kollisionsfähiges Gut. Sie ist zunächst und vor allem eine Verbotsnorm, die sich nicht werttheoretisch in der Begrifflichkeit der Vorzugswürdigkeit von Gütern formulieren lässt, die nach Verwirklichung streben und um Vorrang konkurrieren.45 Dies bedeutet zugleich, dass innerhalb des Art. 1 Abs. 1 GG die negative Dimension des Würdesatzes, d. h. das Verletzungsverbot (»unantastbar«) der Schutzdimension lexikalisch vorgeordnet ist. Der Staat kann nicht beides gegeneinander stellen und letztere gegen ersteres ausspielen. Er darf auch nicht zum Zwecke des Schutzes der Würde Anderer entwürdigen. Die sich zunehmender Beliebtheit erfreuen-

Seit BVerfGE 30, 1, 26 (1970): »Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das Gesetz vollzieht, muß […], wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine ›verächtliche Behandlung‹ sein.« 42  So eindrücklich in der gleich zu behandelnden Entscheidung BVerfGE 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz). 43  Gemeint ist das en passant formulierte obiter dictum des sogenannten Zweiten Abtreibungsurteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 88, 203 = NJW 1993, 1751 [1778]), demzufolge Art. 1 Abs. 1 GG »eine rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle« untersage, weswegen in Fällen, in denen ein Kind ohne ärztlichen Fehler nicht geboren worden wäre, der Arzt bzw. sein Versicherungsunternehmen den Eltern des Kindes nicht als weiterer Unterhaltsschuldner an die Seite treten dürfe. Diese (in der Zivilrechtsprechung weitgehend folgenlos gebliebene) These wird man als Beispiel einer symbolischen Rechtsprechung begreifen dürfen, die sich nicht nur von den in Frage stehenden Rechtsgütern der Beteiligten, sondern überhaupt von Fragen rechtlicher Begründung und rechtlicher Implementierbarkeit gelöst hat. 44  BVerfGE 93, 266 (1995); M. Herdegen, »Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG«, Rn. 5, 43 ff.; Höfling, »Kommentierung zu Art.  1 GG«, Rn.  11; Dreier, »Kommentierung zu Art.  1 GG«, Rn. 44, 131 ff. 45  Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 310 ff. 41 

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de Rede von »Menschenwürdekollisionen« – etwa zwischen der Würde des zu folternden mutmaßlichen Entführers und der seines Opfers46 – ist deshalb normlogisch falsch und eine irreführende façon de parler. Gerade weil die primäre Struktur und Funktion des Würdeschutz die eines constraints, einer deontologisch zu verstehenden Grenze dessen ist, was Rechtspersonen angetan werden darf, tritt der Anspruch auf Schutz als bloßes prima facie-Recht zurück. Niemand kann den Anspruch erheben, um den Preis der Würdeverletzung Anderer vor Entwürdigung geschützt zu werden. Die Vorstellung, ein Rechtssatz, der eine spezifische Unverletzlichkeit des Einzelnen ausdrücklich als das grundlegende Anerkennungsverhältnis des Rechts postuliert, könne eine solche Verletzung erlauben oder gar fordern, wäre offenbar widersprüchlich.47 Auch dieser Befund korrespondiert im Übrigen mit der idée directrice des Würdekonzepts, dem kantischen Rechtsbegriff, der erlaubt, den Rechtsbrecher mit Zwang in seinen Rechtskreis zurückzuweisen48, nicht aber, ihm dabei die Anerkennung als Rechtsperson zu versagen. Damit hängt ein weiterer Aspekt eng zusammen:

2.3  Sicherung eines nichtkonsequentialistischen Verständnisses von Grundrechten Der Würdegrundsatz, der die Opferung des Einzelnen zugunsten des Kollektivnutzens untersagt und einen kategorischen Basisrespekt vor der Rechtsperson sans phrase einfordert, bildet zugleich den Kern der (bei Notwendigkeit weiterer Differenzierungen) nichtkonsequentialistischen, insbesondere nichtutilitaristischen Struktur der Grundrechtsordnung. Dem nichtkonsequentialistischen, d. h. deontologischen Verständnis moralischer und juridischer Rechte49 ist es darum zu tun, zum Ausdruck zu bringen, dass der Einzelne Selbstzweck ist.50 Subjektive Rechte und Ansprüche stehen in diesem Verständnis in einem Spannungsverhältnis insbesondere zu Vorstellungen kollektiver Wohlfahrt, die auf utilitaristischer Nutzenaggregation beruhen. Deontologisch verstandene Rechte beharren auf der »Getrenntheit der Personen«51 und dem Respekt vor ihrem der Ver46  F. Wittreck, »Menschenwürde und Folterverbot«, 879 ff. mit dem Argument, »beide Varianten im Art. 1 Abs. 1 GG [stünden] normtextlich gleichberechtigt nebeneinander, so daß sich ein allgemeingültiger Vorrang der ›Achtung‹ nicht ohne weiteres erschließ[e]« (880); ähnlich F. Ekardt, »Folterverbot, Menschenwürde und absoluter Lebensschutz«, 65 und schon W. Brugger, »Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?«, 169. In diesem Sinn auch, mit dem zirkulären Argument, ein solcher Konflikt sei jeweils kurzerhand zugunsten des »wehrhaften Rechtsstaats« und gegen den »rechtswidrigen Angriff« zu lösen, P. Kirchhof, »Menschenbild und Freiheitsrecht«, 294 f. sowie J. Isensee, Die bedrohte Menschenwürde, 18 und ders., »Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten«, 190 ff. 47  Vgl. F. M. Kamm, Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, 264. 48  I. Kant, »Rezension zu Gottlieb Hufeland«, 810 f.; vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 127 f. 49  Vgl. zum Streit über die normativen Grundlagen subjektiver Rechte T. Gutmann, Iustitia Contrahentium, Kap. 2.1. 50  Zusammenfassend F. M. Kamm, »Nonconsequentialism«, 205. 51  J. Rawls, Political Liberalism, 45, Übers. verändert.

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rechenbarkeit entzogenen Eigenwert und fungieren so als Schranken für die kollektive Gütermaximierung, wenn diese droht, über die berechtigten Ansprüche Einzelner hinwegzugehen. Jedenfalls im Anwendungsbereich des Würdesatzes ist die Rationalität der Rechte eine strikt nicht­konsequentialistische. An der Struktur des Menschenwürdeschutzes entscheidet sich deshalb, ob die Rechtsordnung und die von der Verfassung garantierten subjektiven Rechte des Einzelnen auch künftig in einem deontologischen Sinn verstanden werden können oder sie sich bereits auf konzeptioneller Ebene konsequentialistischen, d. h. folgenorientierten Erwägungen und damit zugleich ihrer Assimilation an Güter öffnen und beugen müssen. Hier liegt zugleich die entscheidende Weichenstellung für die Frage nach dem rechtlichen Verhältnis des Einzelnen und seiner Interessen zum sozialen Kollektiv. Im Bereich der klassischen »negativen« Funktion von Rechten als Abwehrrechte52 wird die von Art.  1 Abs.  1 GG vermittelte antiutilitaristische Struktur der Grundrechtsordnung auf dramatische Weise in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.02.2006 zur Nichtigkeit der Ermächtigung zum Abschuss von durch Terroristen gekaperten Flugzeugen durch § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes deutlich. »Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG«, so der Erste Senat des Gerichts, »ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten 52  Der Würdeschutz hat daneben die leistungsrechtliche Dimension der Existenzsicherung (BVerfGE 82, 60 [1990] und 40, 12 [1975]). Die teilhaberechtliche Dimension der Würde ist angesprochen, wenn der Staat oder seine Agenturen lebensnotwendige, aber knappe Ressourcen zu verteilen haben. Besonders augenfällig wird der Bezug des Würdegrundsatzes auf die Achtung der leiblichen Kontingenz des Menschen etwa bei der Frage der Verteilung der notorisch knappen Transplantate im Bereich der Organtransplantation, namentlich dort, wo es – wie bei der Allokation von Lebern – um Leben und Tod der Patienten geht (T. Gutmann / B. Fateh-Moghadam, »Rechtsfragen der Organverteilung«; T. Gutmann, »Der Faktor δ«.). Hierbei ist es wiederum der Würdegehalt des Lebensgrundrechts, der klarstellt, dass Gerechtigkeit bei der Verteilung von Überlebenschancen nicht auf eine Form von Gleichheit reduziert werden kann, die  – wie dies konsequentialistische Theorien wie etwa der Utilitarismus tun – den Einzelnen nur als gleichwertigen Ausgangsfaktor einer Aggregation von Interessen oder Gütern für gleich wichtig erachtet. Die staatliche Schutzpflicht für das Leben soll vielmehr in unverrechenbarer Weise auf das je einzelne Leben (BVerfGE 39, 1, 59 [1975] und BVerfGE 88, 203, 252 [1993] und nicht auf das Aggregatsrecht eines Kollektivs bezogen sein. Darüber hinaus ist es der Würdegehalt des Grundrechts auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes, der diesem eine in besonderem Maße egalitäre Struktur verleiht: »Jedes menschliche Leben« ist, wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, »als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden« (BVerfGE 39, 1, 39 [1975]). »Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz« (BVerfGE 115, 118, 158 [2006]). Die »Lebenswertindifferenz« dieses Grundrechts untersagt es also, zwischen mehr und weniger »lebenswertem« Leben zu differenzieren bzw. die Leben der Grundrechtsträger für allokative Zwecke nach ihrer sozialen Funktionsfähigkeit, ihrer medizinischen oder sonstigen Qualität oder ihrer mutmaßlichen Dauer zu unterscheiden. Im Hinblick auf die Teilhabefunktion des Lebensgrundrechts bei der Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen stellt die von Art. 1 Abs. 1 strukturierte Grundrechtsordnung also den egalitären Schutz der Lebens- und Gesundheitsinteressen jedes einzelnen Patienten über die Maximierung dieser Interessen in ihrer Gesamtsumme.

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Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, vorsätzlich zu töten. […] Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht«. 53 Nach der konsequent deontologischen Argumentation des Bundesverfassungsgerichts soll weder die Intention bzw. Finalität des staatlichen Akts (Gefahrenabwehr) noch der Umstand, dass möglicherweise eine insgesamt weit größere Zahl von Menschenleben gerettet werden könnte, für das Verdikt des Würdeeingriffs von Bedeutung sein; an diesem »ändert es nichts, dass dieses Vorgehen dazu dienen soll, das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten«. 54 Der so verstandene Würdesatz vermittelt eine radikale Absage an die Quantifizierung von Rechten und einen utilitarianism of rights (Nozick55). An diesem Befund sind vier Aspekte hervorzuheben. Erstens: Wiederum zeigt sich, dass die Würde im Rechtssinn kein kollisionsfähiges Gut ist. Sie postuliert vielmehr den genetischen Code einer Rechtsordnung, die in ihrem Kern auf dem Vorrang des Rechten vor dem Guten56 beruht. Zweitens: Einmal mehr wird deutlich, warum innerhalb des Art. 1 Abs. 1 GG die negative Dimension des Würdesatzes, d. h. das Verletzungsverbot (»unantastbar«) der Schutzdimension lexikalisch vorgeordnet ist. Drittens: Unterscheidet man mit Amartya Sen normative Prinzipien anhand der für sie konstitutiven informationellen Beschränkungen57, erweisen sich die informational constraints des so verstandenen Würdesatzes als radikal. Die faux frais seines deontologischen Rigorismus liegen daran ist, dass er sich konkurrierenden normativen Prinzipien kaum mehr zu öffnen vermag und sich auch nicht mehr ohne Weiteres mit der Summe unserer moralischen Intuitionen in ein Überlegungsgleichgewicht bringen lässt – ein Umstand, der den rechtlichen Würdediskurs zunächst jedoch nicht unmittelbar zu beunruhigen braucht. Viertens schließlich bedeutet die dem Würdebegriff inhärente radikale Absage an die Quantifizierung von Rechten, dass derjenige, der das Ergebnis der Entscheidung des Gerichts zum Luftsicherheitsgesetz für falsch hält, die deontologische Struktur des Würdesatzes aber ernst nehmen und dadurch gleichsam »im Spiel bleiben« will, rechtstheoretisch nur darauf abstellen kann, ob und, wenn ja, wie Fragen der Aggregation und Allokation von würderelevanten Rechten (oder gar von Leben und Tod) in Zwangslagen mit nichtkonsequentialistischen Mitteln beantwortet werden können. 58 Der schon bisher intensiv geführten Debatte lassen sich (was hier nicht weiter verfolgt BVerfGE 115, 118 (157). Ebd. 55  R. Nozick, Anarchy, State and Utopia. 56  J. Rawls, »Der Vorrang des Rechten und die Idee des Guten«. 57  A. Sen, »Well-being, Agency and Freedom. The Dewey Lectures«, 169 ff. 58  Siehe hierzu etwa die Arbeiten von F. Kamm (Morality, Mortality, Vol. I and II; »Nonconsequentialism«, Intricate Ethics); R. Merkel, »§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: wann und warum darf der Staat töten?«; K. Möller, »Abwägungsverbote im Verfassungsrecht«; M. Kumm, »What Do You Have in Virtue of Having a Constitutional Right?«; W. Lübbe, »Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen« und dies., »Konsequentialismus und Folter«, sowie künftig A.  Voloj Dessauer, Philosophische Überlegungen zum Luftsicherheitsgesetz. 53 

54 

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werden kann) möglicherweise Gründe dafür entnehmen, dass die Ermächtigung, ›unschuldige‹ und ohnehin dem Tod geweihte Menschen an Bord eines entführten Luftfahrzeugs vorsätzlich zu töten, nicht zwingend als deren Entwürdigung begriffen werden muss. Unter den Ansätzen, die gleichsam methodisch anschlussfähig bleiben, wäre etwa auf Frances Kamms sich als deontologisch verstehendes Principle of Permissible Harm59 zu verweisen.

2.4  Zwischenergebnis Wenn das Recht jedes einzelnen Bürgers auf equal concern and respect (Dworkin60) die Fundamentalnorm liberaler Rechtsstaaten ist, so ist es der Würdegrundsatz, der dieses Fundament der Achtung vor Menschen als Rechtspersonen sichert. Wenn man die Vorstellung einer konsequent auf die Achtung vor dem Individuum ausgerichteten Rechtsordnung als idée directrice des neuzeitlichen westlichen Rechtsdenkens begreift, dann erweisen sich die dargelegten Funktionen des Menschenwürdesatzes als deren notwendiger Schlussstein. Vieles spricht dafür, dass es gerade die vom Würdeschutz her konstruierte Rechtsordnung der Bundesrepublik ist, die das Prinzip der Achtung vor dem Einzelnen im Konzert der westlichen Verfassungstraditionen am konsequentesten umgesetzt hat  – ein Befund, der angesichts des »langen Weges nach Westen« (Heinrich August Winkler), den Deutschland genommen hat, nicht ohne historische Ironie ist. In jedem Fall ist es aber diese strukturierende Funktion des Würdegrundsatzes für die rechtlichen Anerkennungsverhältnisse schlechthin, die in den Debatten etwa über die Zulässigkeit der polizeilichen Präventivfolter oder des Abschusses von Passagierflugzeugen verhandelt wird. Die Antwort auf die eingangs gestellten Fragen – Was ist diejenige Interpretation des Würdekonzepts, die die normativen Einzelaussagen, die aus ihm gewonnen wurden, in einen kohärenten Rechtfertigungszusammenhang bringt? Welche Interpretation des Würdekonzepts kann die normative Struktur und Funktion des Begriffs auf der Ebene seiner Tiefengrammatik rekonstruieren? – lautet mithin: Der Würdegrundsatz umschreibt das Fundament reziproker Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen. Seine primäre Struktur und Funktion ist die eines constraints, einer deontologisch verstandenen und als subjektives Abwehrrecht ausgestalteten Grenze dessen, was Rechtspersonen angetan werden darf. Er umschreibt ein »Recht auf absolute Rechte« und kein Gut. Der Würdegrundsatz ist weder Gegenstand noch Resultat von Prozessen der Güterabwägung. Er garantiert so, dass in seinem Anwendungsbereich die Rationalität individueller Rechte eine strikt nichtkonsequentialistische ist und bringt damit zugleich die normative Entscheidung dafür zum Ausdruck, dass die Opportunitätskosten 59  Vgl. inbesondere F. Kamm, Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, sowie dies., Intricate Ethics: Rights, Responsibilities, and Permissible Harms. 60  R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 298 ff.; ders., »Liberalism«, 191.

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der so generierten absoluten Individualrechte – d. h. die Verluste an anderen Gütern, die nur durch die Nichtachtung dieser Rechte zu verhindern wären  – hinzunehmen sind. Diese Kosten können erheblich sein, und ein rationaler Würdediskurs wird gut daran tun, sie nicht zu invisibilisieren. Sie sollen jedoch von denen zu tragen sein, denen sie nur durch die Verletzung der Würde Anderer abgenommen werden können. Dem primär auf den Respekt vor dem Einzelnen verpflichteten Staat sind dadurch viele Handlungsmöglichkeiten verwehrt, für die gute Gründe sprechen. In moralischer und auch in metaethischer Hinsicht kann man diesen Befund deshalb kritisieren. Zudem präjudizieren Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff nicht den moraltheoretischen Diskurs über die Würde des Menschen und anderer Wesen (wenngleich die Moraltheorie gut daran tut, das philosophisch auf den Begriff gebrachte Würdekonzept des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes zu rezipieren). Wer allerdings im Recht von einer anderen Interpretation des Würdesatzes ausgeht, verfehlt dessen Tiefengrammatik und gibt den Anspruch auf, den Würdesatz und die aus ihm abgeleiteten Entscheidungen als kohärenten Rechtfertigungs­zusammen­hang und die Rechtsordnung insoweit als vernünftige zu begreifen.

3.  Kritik I: juristisch Dennoch wird dieses Normverständnis seit einigen Jahren häufiger in Frage gestellt. Dies geschieht zunehmend in der methodischen Absicht, den der Abwägung und der Zweck-Mittel-Rationalität schlechthin entzogenen Würdesatz systematisch der Verrechenbarkeit zu öffnen. Als sichtbarster – und deshalb an dieser Stelle exemplarisch zu behandelnder – Versuch in diese Richtung kann der methodische Teil der Kommentierung des Art. 1 GG durch Matthias Herdegen61 gelten, der den Ansatz verfolgt, den Menschenwürdesatz hinsichtlich seiner Rechtsfolgen zwar weiterhin als kategorisch wirkendes Verletzungsverbot zu verstehen62 , seinen Schutzbereich jedoch als »abwägungsgeprägt« zu begreifen und in diese Abwägung die mit dem Eingriff verfolgte Finalität, d. h. den Zweck der Beeinträchtigung einzustellen.63 Ein »guter Zweck« vermag in dieser Perspektive also nicht nur das Mittel zu heiligen, sondern soll dem Betroffenen die Möglichkeit nehmen, die von ihm erlittene Grundrechtsbeeinträchtigung überhaupt als Verletzung seiner Menschenwürde im Rechtssinn darzustellen. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht zuletzt in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz vom 15.02.2006 die von Herdegen ein Jahr zuvor publizierte These, dass die Intention bzw. Finalität des staatlichen Akts – hier: der Abschuss eines gekaperten Flugzeugs zum Zweck der Gefahrenabwehr und der Rettung einer größeren Zahl von Menschenleben – seine Qualifikation als Würdeverletzung sperren könnte, nachdrück-

61  62  63 

M. Herdegen, »Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG«. A. a. O., Rn. 69. A. a. O., Rn. 43 ff.

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lich zurückgewiesen.64 Ein Blick auf die »Neukonstruktion« des Würdekonzepts bei Herdegen scheint dennoch lehrreich. Die These von der »Wertungs- und Abwägungsgebundenheit von Würdeanspruch und Verletzungsurteil«65 versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wann der nicht relativierbare und abwägungsfeste Menschenwürdesatz aktiviert wird. Die Problematik dieser Antwort liegt nach dem Ausgeführten auf der Hand. Herdegens Ansatz zielt so tief, dass er notwendigerweise in weiten Teilen den strukturellen Sinn des Würdeprinzips zerstört und sich damit zugleich des theoretischen Instrumentariums begibt, die von ihm verfolgte Verflüssigung des Konzepts noch auf »Randzonen der Würdegarantie«66 beschränken67 oder sonst argumentativ kontrollieren und steuern zu können. Dies wird etwa an der Frage polizeilicher Präventivfolter sichtbar, deren Szenarien definitionsgemäß dem Zweck der Rettung des Lebens Unschuldiger – also dem hohen Gut der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – gelten. Wenn Herdegen einräumt, dass es durchaus einen »Würdekern« gebe, »dessen Verletzung rein gegenständlich-modal durch die Art der Behandlung in Abstraktion von weiteren Umständen begründet ist (etwa Genozid und Massenvertreibung)«68, so zeigen die von ihm gewählten Beispiele (Genozid und Massenvertreibung), dass es sich hierbei um Sachverhalte handelt, deren Zweck schlechthin keiner vernünftigen Rechtfertigung zugänglich ist. Dies unterscheidet Genozid beispielsweise von polizeilicher Präventivfolter mutmaßlicher Terroristen mit dem Ziel der Rettung Unschuldiger in den omnipräsenten ticking-bomb-scenarios. Konsequenterweise wendet sich Herdegen zunächst auch dagegen, in solchen Fällen die Zufügung körperlicher Schmerzen zur Willensbeugung »rein modal […] und deswegen stets – in völliger Abstraktion vom intendierten Lebensschutz – als Würdeverletzung«69 zu beurteilen. Unerfindlich bleibt jedoch, warum sich Herdegen sodann auf die Behauptung zurückzieht, in der Folter zur Rettung unmittelbar bedrohter Menschenleben in Abwesenheit erfolgversprechender Alternativen sei eine »Grenze würdeimmanenter Abwägung« und ein »Dilemma« zu sehen, das sich nach verfassungsrechtlichen Maßstäben keiner befriedigenden Lösung zuführen lasse, denn gerade in der von ihm begründeten theoretischen Perspektive wird in ticking-bomb-scenarios die »Abwägung von Zweck und Beeinträchtigung« immer zugunsten des Eingriffs ausschlagen müssen. Dies gilt umso mehr, als Herdegen – entgegen seiner nicht weiter begründeten These, dass die Zahl der in ihrer Würde oder ihrem Leben betroffenen Menschen kein entscheidendes Kriterium liefern könne70 – im Rahmen seines Ansatzes über keine theoretischen Mittel verfügt, sich bei der Anwendung seines Abwägungsmodells der Quantifizierung von Rechten und Schutzgütern An dem Verdikt des Würdeeingriffs »ändert es nichts, dass dieses Vorgehen dazu dienen soll, das Leben anderer Menschen zu schützen und zu erhalten«, vgl. oben, Fn. 54. 65  Vgl. a. a. O., Rn. 44. 66  A. a. O., Rn. 44. 67  Dies sieht auch K.-E. Hain, »Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?«, 204 f. 68  M. Herdegen, a. a. O., Rn. 43. 69  A. a. O., Rn. 45. 70  A. a. O., Rn. 45. 64 

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zu entziehen, hat der Versuch der Rettung Hunderter oder Tausender in der Logik der Zweck-Mittel-Relation doch evidenter Weise ein anderes Gewicht als die Rettung eines Einzelnen. Die Folterung einer Handvoll mutmaßlicher Terroristen zur Rettung des Lebens hunderter potentieller Opfer ist im verrechnenden Kalkül allemal gerechtfertigt (und in Herdegens Ansatz mithin hinreichender Grund dafür, den Akt der Folter selbst nicht unter Art.  1 Abs.  1 GG zu subsumieren). Herdegens Rückzugsposition, gegen die Zulässigkeit der Folter spreche letztlich »ein traditioneller Konsens«, auf dessen Grundlage sich bei Folter eine Würdeverletzung eben doch »rein modal, ohne Berücksichtigung des verfolgten Zwecks begründen« lasse71, markiert (abgesehen davon, dass dieser Konsens längst brüchig ist) nur einen mit den theoretischen Mitteln seines Ansatzes nicht mehr herzuleitendes und deshalb kontingentes Zurückweichen vor den Konsequenzen einer Interpretation, auf deren Grundlage jeder modal menschenwürdeverletzende Eingriff in individuelle Grundrechte for the greater good gerechtfertigt werden kann, soweit es sich bei diesem »höheren« Gut um den intendierten Schutz eines unmittelbar bedrohten und hinreichend gewichtigen Rechtsguts von Verfassungsrang handelt. Herdegen, der den notwendigerweise deontologischen Sinn des kategorischen Würdesatzes als »Simplifikation« missversteht, unternimmt mit seiner Forderung nach »situationsgebundener Abwägung von Zweck und Beeinträchtigung« 72 und trotz seiner Betonung des Finalitätsbegriffs letztlich eine schlichte konsequentialistische Reformulierung des Würdekonzepts. Diese verfehlt gerade deshalb den normativen Sinn des Würdesatzes, weil in Art. 1 Abs. 1 GG vom Rechten die Rede ist und nicht von einem Gut unter anderen Gütern.73 Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass das von Herdegen adressierte Problem existiert. Eben weil der als rechtliche Regel verstandene Menschenwürdesatz, anders als die Einzelgrundrechte, nicht relativierbar und abwägungsfest ist, muss sich der Diskurs über ihn auf die Frage verlagern, wann er aktiviert wird74 − ohne dieses »Konkretisierungsdilemma«75 ist die Norm nicht zu haben. Allerdings folgt die Bestimmung des Schutzbereichs der Menschenwürdegarantie nicht der Logik der Abwägung zwischen konkurrierenden Gütern oder auf ihre bestmögliche Realisierung zielenden Prinzipien. Es erscheint als spezifisch juristische déformation professionelle, die Normenkonkretisierung nur noch als Abwägungsprozess76 begreifen zu können. Menschenwürde ist kein Prinzip im Sinne Robert Alexys, auf den das Missverständnis zurückgeht, dass der Regelgehalt (bzw. Schutzbereich) der Menschenwürde nur als das A. a. O., Rn. 45, 90. A. a. O., ebd., Rn 43. 73  W. Lübbe, »Konsequentialismus und Folter«, 74. 74  R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 96 f. 75  W. Höfling, »Kommentierung zu Art. 1 GG«, Rn. 9. 76  So für Art. 1 Abs. 1 nachdrücklich Hain. Seine zentrale These, aus dem Umstand, dass die Würdegarantie der Konkretisierung und Operationalisierung bedürfe, folge, dass ihr Gehalt Gegenstand einer »Abwägung« und folglich »Relativierung« sein müsse (K.-E. Hain, »Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?«, 191 und passim und ders., »Menschenwürde als Rechtsprinzip«, 95 f.) ist ein ersichtliches non sequitur. 71 

72 

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jeweilige Ergebnis konkreter Abwägungen verstanden werden könne.77 Menschenwürde ist insbesondere kein Optimierungsgebot des Inhalts, »Würde« in einem relativ zu den tatsächlichen und die – von konkurrierenden Prinzipien definierten – rechtlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maß zu realisieren. Sie ist nicht ein Grund innerhalb von Abwägungen78, sondern deren Grenze, nicht reason, sondern constraint. Ihre Funktion ist es, der Assimilation von Rechten an Werte79 Grenzen zu setzen. Der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie richtet sich danach, was als eine Behandlung zu verstehen ist, die das Fundament reziproker Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen berührt. Dies ist kein Satz, unter den der Amstrichter einfach subsumieren kann. Deshalb bleibt Würde als Rechtsbegriff ein essentially contested concept 80 – ein komplexer wertender Begriff, über dessen adäquate Interpretation im Licht normativer Gründe nach den Regeln des öffentlichen Vernunftgebrauchs gestritten werden muss (und gestritten werden kann) und der bereichsspezifisch konkretisiert werden muss. Diese Konkretisierung81 folgt jedoch nicht den Regeln der Prinzipienoder Güterkollision. Die Antwort auf die Frage, was zum Fundament wechselseitiger Anerkennung von Menschen als Rechtspersonen gehört, hängt nicht von Abwägungsprozessen ab. 4.  Kritik II: philosophisch Die theoretische Schraube lässt sich allerdings noch einmal weiterdrehen. Dass sich der Rechtssatz von der Menschenwürde nicht an Werte oder Güter assimilieren lässt und seine Reichweite nicht von einer einfachen Abwägung mit konkurrierenden Gütern im Einzelfall abhängen kann, besagt noch nicht, dass Güterkollisionen mit Menschenwürdebezug nicht gleichsam auf einer höheren Ebene theoretisch bewältigt werden können – einer Ebene, die auf die Gründe dafür rekurriert, warum wir absolute constraints, d. h. unverletzliche Rechtspositionen zuschreiben (sollten). Zumindest ein theoretischer Kandidat für einen solchen Versuch ist zu nennen. Er stammt wiederum von der in Harvard lehrenden Frances Kamm, die heute in der nichtkonsequentialistischen Theoriebildung jene Rolle der kreativen Querdenkerin einnimmt, die Derek Parfit im konsequentialistischen Theorielager gespielt hat. Kamm fragt  – im Rahmen einer Argumentation, die sich in durchaus kantischer Tradition als deontologisch versteht – nach den Gründen für die Zuschreibung absoluR. Alexy, Theorie der Grundrechte, 95 ff. Vgl. R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts , 120; ders., Theorie der Grundrechte, 71 ff.; ders., »Individuelle Rechte und kollektive Güter«, 202 ff.; J. R. Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtsystems, 62 ff.; K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, 345 f. 79  Vgl. zur Kritik J. Habermas, Faktizität und Geltung, 310 ff. 80  W. B. Gallie, »Essentially Contested Concepts«, 171 f. 81  Vgl. zu einem überzeugenden Versuch, den Menschenwürdeschutz als ein Ensemble von sieben Fallgruppen subjektiver Rechte zu rekonstruieren, die den Würdediskurs zugleich einer normativen Anthropologie öffnen, E. Hilgendorf, »Die mißbrauchte Menschenwürde«, 148 ff. und ders., »Folter im Rechtsstaat«, 336. 77  78 

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ter moralischer Rechte. Ihre Antwort, die sie am Beispiel des Rechts auf Leben gibt, ist die einer »Statustheorie der Person«82 , wobei der Begriff »Status« umschreibt, was der Person, die ihn innehat, zulässigerweise angetan werden darf. Er bezeichnet insoweit ein subjektives moralisches Recht der Person.83 Am Beispiel der Situation illustriert, die das Luftsicherheitsgesetz regeln wollte, lautet Kamms Argument: Wenn wir erlauben würden, dass wenige (Unschuldige) getötet werden, um viele zu retten, würden wir zwar den Lebensschutz maximieren, dabei jedoch den Status eines jeden beeinträchtigen. Jeder wäre weniger unverletzlich, weniger wichtig, jeder hätte weniger rechtlichen Eigenwert. Der Unverletzlichkeitsstatus sei jedoch ein intrinsisches Gut für die Person (»in itself a benefit to us«) und zugleich sei die Welt mit ihm ein normativ »besserer« Ort, weil sie »moralisch wichtigere Wesen« beherberge.84 Kamm versteht ihre Statustheorie als nichtkonsequentialistisch, weil Status in diesem Sinne nicht aus den Folgen von Handlungen oder Unterlassungen resultiere, sondern etwas sei, was Personen als solchen zugeschrieben werde85 und im Übrigen als unveräußerlich qualifiziert werden müsse. Bei dieser Selbstbeschreibung der Theorie dürfte es sich zumindest in rechtstheoretischer Sicht um ein Missverständnis handeln. Kamms Entscheidung dafür, den subjektiv-rechtlichen Unverletzlichkeitsstatus  – also das, was wir unter dem Begriff Menschenwürde verhandeln und den auch Kamm auf die kantische Vorstellung der Selbstzweckhaftigkeit der Person zurückführt86 – axiologisch, also als »Wert« (value)87 zu begreifen, bedeutet, dass es sich um etwas handeln soll, das (maximal88) realisiert werden soll, sofern dem nicht konkurrierende Werte, die ebenfalls verwirklicht werden wollen, entgegenstehen. In der Tat versteht sie »Unverletzlichkeit« als eine Zuschreibung, die graduellen Abstufungen zugänglich ist89 und sowohl qualitativ als auch quantitativ (d. h. im Hinblick auf numerische Schwellen, also die gleichrangigen Interessen einer größeren Zahl anderer Personen) begrenzt sein kann.90 Man kann nach alledem mehr oder weniger »unverletzlich« sein. Verzichtet man auf die vollständige Realisierung dieses Werts »Unverletzlichkeit«, lassen sich gegebenenfalls andere Werte – etwa der Lebensschutz  – in höherem Maße verwirklichen. Die Kollision von Leben gegen Leben beispielsweise bleibt so Gegenstand eine Abwägung, wenngleich einer qualifi-

Vgl. zum Folgenden F. M. Kamm, Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, 272 ff. 83  Vgl. F. M. Kamm, »Nonconsequentialism«, 217; Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, 271. 84  F. M. Kamm, Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, 272. 85  »The value already resides in persons«, F. M. Kamm, »Nonconsequentialism«, 217. 86  F. M. Kamm, Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, 286. 87  F. M.  Kamm, »Nonconsequentialism«, 217 und dies., Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, 279. 88  A. a. O., 279 (»maximal presence« of a value). 89  A. a. O., 274. 90  A. a. O., 215. Kamms Theorie thematisiert insbesondere die Frage, wann die Verletzung eines spezifischen individuellen Rechts zum Zwecke der Minimierung gleichartiger Rechts­ verletzungen zulässig ist. 82 

Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff

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zierten, weil sie als weiteren Rechnungsposten den hohen Wert einer möglichst hohen Unverletzlichkeit aller in das Kalkül einstellen muss. Das Argument Kamms lässt sich ohne Weiteres auf die Diskussion über Art.  1 Abs. 1 GG übertragen. Tut man dies, dann hat man zu entscheiden, »wie wichtig einem Unverletzlichkeit ist« und die Unverletzlichkeit der Menschenwürde unter den Vorbehalt einer solchen qualifizierten Abwägung zu stellen.91 Man könnte und sollte dann den Bürgern zwar einen hohen, aber möglicherweise nicht absoluten Unverletzlichkeitsstatus zusprechen, der im Einzelfall nicht zur Rettung eines Menschenlebens, aber vielleicht zum Zwecke der Rettung Hunderter zurückstehen würde. Bei der Zuschreibung des Rechtsstatus, der von Art. 1 Abs. 1 GG garantiert wird, würde folglich graduell und abwägungsabhängig verfahren. Warum berührt dies die hier geführte Diskussion über Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff letztlich nicht? Frances Kamms Ansatz ist der paradox anmutende Versuch, den Vorrang des Rechten vor dem Guten in einer Theorie des Guten zu fundieren.92 Dabei begreift sie das subjektive Recht auf Unverletzlichkeit von vornherein werttheoretisch und teleologisch, es beruht auf dem Ziel der (maximalen) Realisierung eines als intrinsisch gut verstandenen Wertes. Das normativ Gebotene hängt von einem vorgängigen Begriff des Guten ab. Ihre Position ist damit – jedenfalls in rechtstheoretischer Hinsicht – entgegen ihrer Selbsteinschätzung keine deontologische, sondern die avancierteste Form eines gegenüber dem Anliegen der kantischen Tradition problembewussten Konsequentialismus, wenngleich eines Konsequentialismus mit einer pluralen Axiologie. Unser Status soll nach Kamm zwar ein besonderer Wert sein, aber doch nur einer unter mehreren. Das ist nicht mehr als eine alternative Version der idealutilitaristischen Theorie der Freiheitsschrift John Stuart Mills, der ebenfalls einen Wert, ein Gut unter mehreren, nämlich individuelle Autonomie, mit besonderem Gewicht versehen wollte, ohne die Logik des utilitaristischen Kalküls der Gütermaximierung (oder doch zumindest: -realisierung) als solche zu verlassen.93 Kamm verwechselt damit einen Grund dafür, warum wir den Status von Rechtspersonen, warum wir Würde im Rechtsinn, warum wir unverletzbare Rechte zuschreiben, mit der Struktur des hierdurch vermittelten Schutzes. Auf die Interpretation des Menschenwürdesatzes des Grundgesetzes lässt sich dies nicht übertragen, weil dieser die Unverletzlichkeit bestimmter Rechtspositionen als Ausdruck der Achtung vor dem Einzelnen in ein Fundierungsverhältnis zur Rechtsordnung stellt. Deshalb wirkt er als deontologische Grenze, als constraint staatlichen Handelns und nicht als kollisionsfähiges Gut – auch nicht auf der abstrakten Ebene der Kammschen Diskussion. Auch Kamms Statustheorie lässt sich deshalb mit der Tiefengrammatik des rechtlichen Würdesatzes nicht vermitteln.

91  92  93 

Vgl. K. Möller, »Abwägungsverbote im Verfassungsrecht«, 121 ff. Vgl. F. M. Kamm, Morality, Mortality: Volume II: Rights, Duties, and Status, 279 f. Vgl. R. J. Arneson, »Mill versus Paternalism«, 472 ff.

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5.  Evolutionär unwahrscheinliche Errungenschaften Die Problematik kategorischer Grundsätze wie der Menschenwürde (in dem hier vorgestellten Sinn) liegt in ihrem Rigorismus und, damit einhergehend, in ihrem möglichen Mangel an intuitiver normativer Plausibilität – jedenfalls in Grenzsituationen. Die fiat iustitia pereat mundus-Logik der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz, die den Tod Tausender in Kauf nimmt, weil sie den Abschuss von hundert Personen verbietet, lässt sich in ihrer Radikalität mit normativen Alltagsurteilen nicht ohne Weiteres vermitteln. Dasselbe gilt von der anscheinend radikalen Absage des Grundgesetzes an das Ziel der Gesamtwohlfahrt aller Patienten im Bereich der Zuteilung bzw. Rationierung knapper lebenswichtiger Güter.94 Dass es schließlich in Ordnung sein muss, den mutmaßlichen Schwerverbrecher oder Terroristen zu foltern, um ein Entführungsopfer oder gar eine ganze Stadt zu retten, vermitteln die ticking-bomb-scenarios in Filmen wie 24 mit 24 Bildern pro Sekunde oder 1440 beats per minute. Die Entscheidung dafür, das Recht von einem radikalen Prinzip des Respekts für den Einzelnen her zu denken, ist höchst voraussetzungsvoll und darüber hinaus eine, mit Luhmann gesprochen, evolutionär unwahrscheinliche Errungenschaft. Auch im internationalen Vergleich ist sie kein Gemeingut95; es ist unwahrscheinlich, dass das Verfassungsgericht eines anderen westlichen Staates ein Urteil fällen würde, das in ähnlicher Weise von deontologischem Rigorismus geprägt wäre wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Aufgrund der autopoietischen Strukturen, in denen sich das Recht reproduziert, hängen seine Geltungsansprüche zwar nicht unmittelbar von ihrer lebensweltlichen Überzeugungskraft ab; der normative Anspruch der Verfassung kann sich durchaus gegen Ebbe und Flut der moralischen Alltagskommunikation behaupten, wie etwa die Diskussionen über die Todesstrafe gezeigt haben. Die Debatten um das Luftsicherheitsgesetz und – stärker noch – um die »Rettungsfolter« zeugen jedoch davon, dass der Sinn für den Vorrang des Rechten vor dem Guten, den Art. 1 Abs. 1 GG einfordert, auch im Rechtssystem selbst in Vergessenheit geraten kann.

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Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff

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Menschenwürde, Menschenrechte und Rechtsphilosophie im anthropologischen Kreuz der Entscheidung Winfried Brugger

1.  Handeln im anthropologischen Kreuz der Entscheidung Das Recht muss menschengemäß sein! Es muss der Natur der Menschen entsprechen und an Merkmalen anknüpfen, die allen Menschen gemeinsam sind! Über diese Postulate werden sich viele Schulen der Rechtsphilosophie einig sein. Uneinigkeit entsteht, sobald detailliert »wesentliche« Kriterien für »Menschsein« und dessen »Natur« vorgeschlagen werden. Hier streiten empirische Naturverständnisse von Grundbedürfnissen gegen Vorstellungen von »Vernunft« und »Geist« als eigentlichen Humanitätsbestimmungen. Relativistische Schulen verweisen skeptisch auf die Pluralität und Historizität vieler Rechtsüberzeugungen. Prozeduralisten suchen den Ausweg aus der Unbestimmtheit und Streitigkeit einer angemessenen Menschen- und damit verbunden Rechtsbestimmung in Konkretisierungsprozessen, die mindestens Gewalt ausschließen und im besten Fall größtmögliche Integration aller Betroffenen einschließen. Hier wird der Vorschlag unterbreitet, das den Menschen gemäße Recht über ein Faktum zu erhellen, das an deren »Handeln« ansetzt. Alle Lebewesen »verhalten« sich, oft zweckmäßig; viele sind lernund in gewissem Umfang kommunikationsfähig. Der Mensch aber handelt, er empfindet, deutet, gewichtet, artikuliert und entscheidet. So trivial das klingt, so vielschichtig und erhellend ist »Handeln«, insbesondere soweit es sich um »hard cases« handelt, die typischerweise zu verbindlichen Entscheidungen im Recht führen. Sie sind mit dem »anthropologischen Kreuz der Entscheidung« belastet. Was ist damit gemeint?1 Handeln läuft oft über Gewohnheiten ab, die wir tagein, tagaus praktizieren, um zeitsparend unsere Alltagsprobleme zu bewältigen. Der Störungs- und Krisenfall jedoch transformiert die Gewohnheiten in Entscheidungslagen, die Aufmerksamkeit wecken und bewusste Abwägungen erzwingen. Auf Fälle dieser Art bezieht sich die Redensart »Es ist ein Kreuz mit« einer Person oder einer Situation. Damit werden im engeren, religiösen Sinn das Kreuz Christi, Mühsal, Leid und Qual bezeichnet. Die Redensart hat sich aber verallgemeinert und überschreitet nunmehr den christlichen Ausgangskontext. Alltagssprachlich bezieht sich die Redensart auf alle Situationen, in denen man mit jemandem oder etwas Mühe hat oder schwer fertig wird, in denen man zwischen unterschiedlichen Optionen hin und her schwankt. Präziser gesagt: Hier stehen moralisch 1  Die folgenden Ausführungen schließen an mein Buch »Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht« an. Dort finden sich zahlreiche Nachweise; hier sind nur einige wenige Belege angeführt. Siehe zu dieser Konzeption auch H. Joas / M. Jung (Hgg.), Über das anthropologische Kreuz der Entscheidung.

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Kolloquium 5  ·  Winfried Brugger

heikle, konsequenzenreiche und / oder identitätsbestimmende Entscheidungen an. Dass es mit ihnen »ein Kreuz« ist, weist nur auf den ersten Blick auf eine Verlegenheit hin. Auf den zweiten Blick lässt sich aus dieser Redensart mittels zweier Überlegungen eine systematische Anthropologie menschlichen Handelns entwickeln, die in individuellen Lebensplänen wie kollektiven Handlungsprogrammen nach Berücksichtigung verlangt. 1. Nur der Mensch versteht sich, kommuniziert und handelt in der Zeitspanne von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Phänomen des Konjunktivs ganz zu schweigen. Dies ist die Horizontale des Kreuzes der Entscheidung. Im Hier und Jetzt einer problematischen Entscheidung drängt »von hinten« die Vergangenheit und »von vorne« die Zukunft auf Berücksichtigung bei der Wahl eines Aktionsplans. Dabei sind sowohl Ziele auszuwählen als auch Mittel-ZweckÜberlegungen anzustellen im Hinblick auf die Wertigkeit des Ziels wie dessen Erreichbarkeit angesichts der konkreten Umstände und der sozialen Randbedingungen. Ob überhaupt etwas entschieden oder was auch immer letztlich entschieden wird, hat Auswirkungen auf die Bestätigung, Korrektur oder den Abbruch bisheriger Kontinuitätslinien und biographischer Verständnisse oder auf die Aussicht auf Durchführung einer Option für die Zukunft. 2. Die Vertikale des Kreuzes der Entscheidung kommt ins Spiel, weil der Mensch durch seine Instinkte nicht gänzlich festgelegt ist. Er ist »sich selbst Aufgabe – er ist das stellungnehmende Wesen«, er »macht sich zu etwas«. 2 Zwar bedrängen den Menschen viele Grundbedürfnisse, von Essen und Trinken über sexuelle Befriedigung bis zu Anerkennung und Liebe, aber die genauen Wege und die Auswahl der geeigneten Objekte zur Befriedigung dieser Bedürfnisse sowie deren konkrete Wertigkeit sind durch die genetische Ausstattung des Menschen nicht im Detail vorgegeben. Vielmehr haben Gott, die Natur und / oder die Evolution für den Menschen die Wahl der Qual getroffen. Zunächst ist der Mensch konfrontiert mit der Qual der Wahl von Mitteln, Wegen und Zielen im äußeren Verhältnis zur Welt der Gegenstände, Mitmenschen und sozialen Verhältnisse. Damit verbunden ist die Qual der Wahl der inneren Lebensführung mit ihren undurchsichtig verwobenen Aspekten von Vitalantrieben, Emotionen, Kognitionen und Idealen. All diese Komplikationen treten zwischen Antrieb und Vollzug und transformieren Verhalten in Handeln. Sie machen das Charakteristikum des menschlichen Schicksals aus, das selbst bei der Verfolgung der »von unten« sich meldenden Antriebe noch Deutungsaufgaben meistern muss. Nach Kant ist der Mensch durch seine Antriebe affiziert, aber nicht nezessitiert, weswegen er für selbstgesetzte und selbstüberprüfbare Normen ansprechbar ist. So ergibt sich für den Menschen die Aufgabe, seine Antriebe zu disziplinieren, kultivieren, zivilisieren und moralisieren.3 Die Psychoanalyse ist einer der Wissenszweige, der diese Hinweise Siehe A. Gehlen, Der Mensch, 32. Zusammenfassend zu diesen Kantischen Themen G. Funke, »Kants Stichwort für unsere Aufgabe«. 2  3 

Menschenwürde, Menschenrechte und Rechtsphilosophie

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systematisiert hat. Sigmund Freud spricht von der menschlichen Seelenausstattung in den Kategorien von Es, Ich und Über-Ich.4 Das Es ist das »von unten« das Ich bedrängende Naturpotential, dort melden sich die Grundbedürfnisse, die nach Befriedigung verlangen. »Von oben« melden sich bildlich die in dem jeweiligen Kulturkreis propagierten Normen und Ideale des Schönen, Guten, Gerechten und Transzendenten, die einem im Blick nach vorn Wege, Objekte und Ziele zur Befriedigung der Grundbedürfnisse anzeigen. Manchmal werden diese Grundbedürfnisse sogar transzendiert, etwa in der Vorstellung eines Gottes, der physische Bedürfnisse weniger wichtig oder gar unwichtig werden lässt oder neue, geistige Bedürfnisse schafft. Solche Imaginationen »von oben« sind zum Teil gegenstands- und körperbezogen, reichen etwa von Askese bis zur Völlerei, zum Teil sind sie für sich stehende kreative Produkte des menschlichen Geistes, die die menschliche Bedürfnisstruktur zumindest partiell distanzieren oder neue Erfahrungswelten schaffen, etwa in der Liebe oder in religiöser Sinngebung. 3. Das Ich oder Selbst steht im Mittelpunkt dieser »von unten« und »von oben« einwirkenden Impulse, wenn es ein Kreuz mit einer schwierigen Entscheidung ist. In ihm kreuzen sich die horizontale und die vertikale Abwägungsschiene mit jeweils zwei in Spannung stehenden Polen, also insgesamt vier Entscheidungsperspektiven. Wir haben also nicht »zwei«, sondern »vier Seelen in unserer Brust«. Die vier Faktoren wirken als Informationsströme und Motivbündel in jede problematische Handlung hinein und sind dort in zwei Hauptvarianten aufweisbar: (1) Sie kommen in der bewussten Reflexion des Akteurs selbst bei der Abwägung und Entscheidungsfindung zum Vorschein. (2) Die bewusste Entscheidung wird verstärkt oder im Grenzfall ersetzt durch die Handlungswahl emotional anleitende Impulse von grünem Licht (»Los!«), gelbem Licht (»Los?«) oder rotem Licht (»Halt!«). 4. Das anthropologische Kreuz der Entscheidung erlaubt somit kategorial, Verhalten und Handeln, Mensch und Tier zu unterscheiden. Daneben besitzt es eine analytische sowie eine normative Dimension. Analytisch erlaubt es, den Input menschlicher Entscheidungen anhand der vier Perspektiven zu entschlüsseln, entweder aus der Außenperspektive des Beobachters oder aus der Innenperspektive des Akteurs. Die »Blicke« (Reflexionen) nach oben, unten, hinten und vorne zu den Idealen, Grundbedürfnissen, überkommenen Selbstverständnissen und Zukunftsplänen samt den darin umfassten Mittel-Zweck-Überlegungen bieten einen Atlas der Tiefenstruktur menschlicher Entscheidungsbildung. Diese stellt keine »black box« dar, wenngleich zuzugeben ist, dass bei weitem nicht alle Details des Zusammenwirkens von Kognition, Evaluation, Emotion und Dezision oder von neurologischen Prozessen und menschlicher Entscheidungswahl präzis aufgeklärt sind. Weniger stark entwickelt, aber trotzdem nicht trivial ist das normative Potential des Kreuzes der Entscheidung. Eine »gute«, eine »gelungene Handlung« ist eine solche unter strukturellem Bezug auf alle vier Perspektiven, 4 

Siehe S. Freud, Abriß der Psychoanalyse, 9 ff.

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Kolloquium 5  ·  Winfried Brugger

bevor dann der Handelnde situativ sich für eine konkrete Richtung und Gewichtung entscheidet. Schlecht, jedenfalls höchst gefahrenträchtig sind Entscheidungen, die auf Dauer eine oder mehrere der Perspektiven ausblenden; so kommt keine mehrdimensionale Verankerung menschlicher Handlungen zustande, die diesen mehr Halt und Verortung, wenngleich nicht Sicherheit in jeder Situation, geben kann als eine Tyrannei des einen Ziels oder Werts. 5. Diese für individuelle Akteure entwickelten Aufklärungsleistungen des Kreuzes der Entscheidung gelten analog für Organisationen jeder Art, von Firmen über Rechtsordnungen und Staaten bis zu supranationalen Gebilden. Sie sind keine natürlichen Personen mit individueller Persönlichkeitstextur, sondern von Menschen zur Erledigung konkreter Produktions- und Ordnungsaufgaben eingesetzte juristische Personen mit einem individuell zugeschnittenen Organisationstext. Solche Kollektive agieren ebenfalls im Lichte ihrer Herkunft, Zukunftspläne, Ideale und der Grundbedürfnisse, zu deren Befriedigung der jeweilige Kollektivakteur aufgerufen ist. Sie sind, ebenso wie Individuen, gut beraten, wenn sie sich zur Bestimmung einer überzeugenden »corporate identity« oder eines gelingenden Verfassungsprofils im Lichte aller vier Perspektiven positionieren und organisieren. 6. Anlass für Handlungen im Kreuz der Entscheidung können Störsignale aus der Verfassung des Individual- oder Kollektivakteurs ohne Fremdverursachung sein; in der Regel jedoch wird sich die Notwendigkeit einer Entscheidung durch anvisierte oder vollzogene Handlungen mit Richtung auf – oder ausgehend von – Personen oder Institutionen im Umfeld der Lebenswelt der Akteure ergeben. Kurz formuliert: »Ego growth through crisis resolution«. All diese anderen Personen und Institutionen handeln ebenfalls im anthropologischen Kreuz der Entscheidung. Damit weitet sich der Blick von der individuellen Aktions-Perspektive hin zur Interaktions-Perspektive vieler Menschen und Organisationen, die wiederum alle über den Blick nach hinten und oben mit objektivierten Kulturgehalten konfrontiert sind, die in den unterschiedlichsten Gestalten und Verfestigungsgraden als Resultate früherer Interaktionen die Sprache und den Geist der jeweiligen Zeit prägen. Aktion ist in Deutung und Wertung konstitutiv mit Interaktion und Enkulturation verbunden.

Menschenwürde, Menschenrechte und Rechtsphilosophie

Persönliche Ideale, Werte; das ideale Ich, Selbst

Sozialisation Enkulturation

Aufwärts: Entscheidung in der Gegenwart

Rückwärts: Wo komme ich her?

Sozialisation Interaktion Enkulturation

Sozialisation Interaktion

Interaktion

Vergangenheit

335

Das wahre, eigentliche Ich, Selbst

Abwärts:

Antriebe, Bedürfnisse; das empirische Ich, Selbst

Enkulturation

Vorwärts: Wer will ich sein? Zukunft

Sozialisation Interaktion Enkulturation

Der Akteur im anthropologischen Kreuz der Entscheidung

2.  Menschenwürde und Menschenrechte im anthropologischen Kreuz der Entscheidung 1. Wenn der Mensch mit Körper und Geist, Leib und Seele, Herz und Verstand genau an dem Punkt steht, wo sich die Horizontale mit ihrer Zeit- und MittelZweck-Reflexion und die Vertikale mit ihrer Sein-Deutung-Sollen-Reflexion auf die nach wie vor verbleibende Naturausstattung kreuzen, dann lässt sich von diesem Punkt aus ein nicht ausschließlicher, aber wichtiger Zugang zum Begriff der Menschenwürde gewinnen. Objektiv bedrängen den Menschen in schwierigen Entscheidungssituationen Motive und Argumente aus den vier Richtungen, die aber nicht in die gleiche Richtung weisen. Vielmehr stehen sie in Spannung zueinander, widersprechen sich vielleicht sogar - zwischen den vier Perspektiven, aber auch innerhalb der einzelnen Perspektiven! Das macht die Entscheidung zu einem »Kreuz« und den Entscheidungsträger zum »Subjekt«, denn wer anders als der Handelnde selbst spürt die Qual der Wahl der Entscheidungsfindung und Handlungsausdeutung. Er, der Mensch, trägt die Verantwortung für die Entscheidung, die er letztendlich trifft; ihn trifft die Zurechnung. Daran knüpft die soziale Umwelt an; daran knüpft auch die gesamte Rechtsordnung an, soweit

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nicht ganz außergewöhnliche Konstellationen vorliegen, in denen die Bedrängnis durch äußere Faktoren (Zwang, Druck) oder innere Lagen (etwa seelische Krankheiten) so groß ist, dass eine Zurechnung der Handlung gerade zu diesem Individuum als einer abwägungsfähigen Person entfallen muss.5 Der Begriff der Person ist im Kreuz der Entscheidung verankert. Er knüpft an die Reflexions-, Selektions- und Rechtfertigungsverfassung des Menschen gerade als Menschen an; hierin liegt seine artspezifische Anlage. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass dieses Gattungsmerkmal in jedem Exemplar der Gattung, in jedem Individuum, angelegt ist und unter Normalvoraussetzungen jedenfalls beim erwachsenen Menschen informiert und reflektiert aktualisiert werden kann. Allgemeine Person und besondere Persönlichkeit lassen sich unterscheiden. Zur Persönlichkeit wird der Mensch oder die Person durch die individuelle Art und Weise, wie sie sich im Kreuz der Entscheidung, also geprägt durch ihre spezifische Mischung von Grundbedürfnissen, durch gerade ihre Autobiographie, durch gerade ihre Auffassung der sie leitenden Ideale und Werte im Blick nach vorn eine Identität schafft und im Laufe der Zeit umschafft. Das mag angepasster und standardisierter geschehen (als Sohn seiner Zeit oder Tochter ihrer Mutter) oder kreativer vorgenommen werden (durch Sinnverleihen und Stellungnehmen); es kann perennierender oder flüchtiger geschehen; Persönlichkeitsbildung kann freiwillig oder erzwungen sein. Auf jeden Fall ist jeder Mensch in seinem mehr oder weniger reflektierten Selbstverständnis von dem, was ihn prägt und ausmacht, ein unauswechselbares Individuum; hier liegt die Basis für den legitimatorischen Individualismus. Wenn wir so die Würde des Menschen im Kreuz der Entscheidung verstehen, dann erschließt sich der Zusammenhang von Würde mit den leitenden Rechtsbegriffen von Person, Persönlichkeit, Verantwortung und Zurechnung. Dann erklärt sich, warum Verfassungen und Menschenrechtspakte die Handlungsfreiheit und Persönlichkeitsentfaltung der Menschen schützen. Die Persönlichkeit ist individualisiert, weil sie sich notwendigerweise aus der Ich-Perspektive wahrnimmt – selbst »Otto Normalverbraucher« ist aus seiner Binnenperspektive ein Unikat! Handlungsfreiheit meint nicht kausale Nichtdeterminiertheit von Handlung, sondern umschließt vielfältige Beeinflussungen unseres Verhaltens von innen und außen, aber eben auch das Recht, in der Bewertung und Selektion von Handlungen in dem »Vierspalt« von Gefühlen und Perspektiven eine eigene, gerade für den Akteur passende Wahl zu treffen. Die Gleichheit aller Menschen ergibt sich aus dieser Anlage aller Menschen zum Personsein und Persönlichkeitswerden. Wenn es das ist, was uns vom Tier und der übrigen Natur unterscheidet, und nicht Hautfarbe, Rasse, Geschlecht oder sonstige unveränderliche Persönlichkeitsmerkmale, dann bietet es sich an, den Schutz der Gleichheit »als Mensch« an eben dieser Anlage festzumachen. An dieser Anlage- oder Persongleichheit all derer, die Menschenant5  Siehe etwa § 20 Strafgesetzbuch: »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.«

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litz tragen, ist die Grundachtung von Würde angekoppelt. Für diese Grundachtung sollten wir nicht darauf abstellen, ob der Einzelne immer und überall in der Lage ist, reflektiert, artikuliert, verantwortlich und individualisiert aufzutreten und zu handeln. Diese Fähigkeiten sind allerdings für die Zuerkennung von Hochachtung bedeutsam, etwa bei der gesellschaftlichen Reputation, die man sich mühsam zu erarbeiten hat. Der strafrechtliche Ehren- und Würdeschutz durch die Beleidigungsdelikte in den §§ 185 ff. Strafgesetzbuch umfasst beide Ebenen: Dem Verbrecher darf man den Status als Mensch und Person nicht streitig machen; man darf ihn nur böse und verwerflich nennen. Der gute Ruf des ehrbaren Bürgers darf durch Dritte nicht ohne guten Grund beschnitten werden. 2. Aktion, Handeln ist, vom Rückzug ins Private abgesehen, meist Interaktion, soziales Handeln. Dieses kann eingeübt, problemlos oder kreativ, problemlösend oder aber auch konflikthaft sein. Letzteres ruft dann im Zweifelsfall Recht und Staat auf den Plan zur gewaltfreien und möglichst produktiven Bewältigung solcher Krisen. Wie auch immer, in solchen Interaktionen sollte vorausgesetzt werden, dass jeder Akteur als ein eigenständiger Träger von Deutung, Bewertung und Handlung zählt und darin frei und gleich und auf Reziprozität angelegt ist. Darin kommt der Anspruch auf Achtung seiner Würde zum Ausdruck. Das gilt im Kreuz der Entscheidung grundsätzlich für alle vier Perspektiven: im Hinblick auf die Grundbedürfnisse – etwa die auf Leiblichkeit bezogenen Bedürfnisse nach Essen, Trinken, Ruhe, Fortpflanzung und Sexualität. Es gilt aber auch in Bezug auf das biographische Selbstverständnis in Form der vergangenheitsinformierten und gleichzeitig zukunftsorientierten Identität und Authentizität samt den darin verarbeiteten Idealen. In solcher Interaktion steckt ein konsentierter Kern, aber auch der Kern für viele streitige Fragen: Der Konsens erstreckt sich auf die grundsätzliche Anerkennung der Wichtigkeit der in den vier Perspektiven auftauchenden Aspekte von Personsein und Persönlichkeitsentfaltung für alle Menschen in Aktion, gleichermaßen. Juristisch formuliert: Im Blick auf den Einzelakteur mit seinem Kreuz der Entscheidung erschließen sich einschlägige »Rechte auf« Achtung und Schutz. Das »Recht auf« benennt aber noch nicht den Adressaten der Verpflichtung, das »Recht gegen«; es spezifiziert auch noch nicht den konkreten Umfang der beidseitigen oder mehrseitigen Berechtigungen und Verpflichtungen und sagt noch nichts zum absoluten oder relativen Charakter des subjektiven Rechts. Hier beginnen oft der Dissens und die Konkurrenz von Geben und Nehmen, von Fragen der angemessenen Reaktion auf Verletzungen von Moral und Recht ganz abgesehen. Solche Konkurrenzen löst das Kreuz der Entscheidung im Detail so wenig wie eine schlichte Berufung auf die Würde aller Menschen; es bedarf zusätzlicher Abwägungen. Drei Voraussetzungen zur Lösung solcher Konfliktlagen lassen sich aber benennen: (1) Zunächst sollten bei solchen Abwägungsentscheidungen grundsätzlich alle Menschen als betroffene Personen und Persönlichkeiten ein Recht zur Mit-

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sprache haben und angehört werden. Das führt politisch zur Demokratie als Menschenrecht, zu vorgelagerten Kommunikationsrechten wie Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie zu nachgelagerten Anhörungsrechten im Prozess.6 (2) Neben diesem Prozedurargument sollte inhaltlich ein Kern- oder Wesensgehaltsargument stehen: Jedenfalls ein Basiselement der jeweiligen vier Perspektiven des Kreuzes sollte geachtet und – von dann noch näher zu spezifizierenden anderen Akteuren – gefördert werden.7 Dazu einige Beispiele, die sich im Kreuz der Entscheidung aufdrängen und typischerweise auch in modernen Verfassungen und Menschenrechtserklärungen garantiert sind: Im Blick nach unten geht es um die Organisation der Sicherung des Existenzminimums eines jeden Menschen, im Blick nach oben etwa um die Absicherung eines Freiraums für Religion und Weltanschauung. Wesentlich im Blick in die Vergangenheit, nach hinten, ist die Achtung und Förderung von Ehe und Familie, in denen wir unsere Biographie entwickeln. Im Blick nach vorn ist die Anerkennung von Bereichen und Spielräumen eigener Zukunftsplanung und Zweckwahl zu sichern. Man kann diese vier Reflexionsebenen auch zusammenfassen und formulieren: Für die Achtung der Würde der Menschen ist es wesentlich, dass jedenfalls im Kernbereich ihre Integrität gesichert ist, sowohl im Hinblick auf ihre körperliche Verletzbarkeit und Bedürftigkeit wie die Psyche oder Identität, die sich der Mensch im Laufe seiner Lebensgeschichte bildet. (3) Schließlich bedarf die konkrete Abwägung von Fordern und Leisten, Nehmen und Geben, »rights and responsibilities« einer Berücksichtigung der Sphären von Interaktion mit ihren unterschiedlichen Ausprägungen von Nah- bis Ferngemeinschaft, von Emotion bis Kalkulation, von sektoralen und spezifischen bis zu universellen Zusammengehörigkeitsaspekten, von gesellschaftlicher bis staatlicher Organisation. Zum Teil wird hier für einen Vorrang der lokalen, regionalen oder nationalen Nahgemeinschaft plädiert. Anders als diese Partikularisten setzen sich Universalisten für eine Priorität der Ferngemeinschaft aller Menschen als Menschen ein. Vermittelnd geht der liberale Kommunitarismus vor: Er argumentiert für eine Stufung der gegenseitigen Verantwortlichkeiten von Familial- bis Universalgemeinschaften im Innen- wie Außenverhältnis, unter Achtung des Eigenstands oder Selbstzweckcharakters eines jeden Menschen, der sich aus seiner Position im Kreuz der Entscheidung ergibt.8

6  Siehe dazu exemplarisch den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes in Abschnitt I, der all diese Rechte schützt, sowie das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG. 7  Zur Wesensgehaltsgarantie siehe exemplarisch Art. 19 Abs. 2 GG. 8  Siehe W. Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, §§ 11–13.

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3. Fasst man die Leistung des Kreuzes der Entscheidung für die Aufhellung der Begriffe Menschenwürde und Menschenrechte zusammen, so ist die positive von der negativen Ebene zu unterscheiden: Positiv bietet das Kreuz der Entscheidung eine Ensembletheorie der Menschenwürde, aber eben eine systematisierte, architektonisch in die vier Perspektiven ausdifferenzierte Theorie, in denen Menschen in »hard cases« deuten, werten und entscheiden. So wird deutlich, dass »aktionistisch«, selbstbezüglich, sowohl Bedürfnisansätze (im Blick nach unten), Identitätsansätze (im Blick nach hinten und oben), kantische Vernunftansätze (im Blick nach oben zur Moralität) religiöse Ansätze (in der Deutung des Blicks nach oben als Transzendenz) wie Kreativitätsansätze (in der produktiven Kreuzung der vier Perspektiven) eine Verortung finden; der Blick auf das Kreuz weist auf die für jeden Menschen wichtige Dimension all dieser Würdeaspekte hin! Das Gleiche gilt »interaktionistisch«, fremdbezüglich, für die Ausgestaltung von Anerkennungsverhältnissen zwischen den Menschen in einschlägigen Lebensformen und Organisationen samt deren »kulturalistischer« Ausdeutung und Verdichtung in symbolischen Formen und Gestalten des »objektiven Geistes«. Das Kreuz der Entscheidung zeigt auch auf, dass der Schritt von der Würde der Gattung Mensch über die Würde der Person bis zur Würde des unauswechselbaren Individuums möglich und sinnvoll ist. Das Kreuz der Entscheidung ist für alle diese Ebenen relevant, als universelle Anlage und persönliche Aufgabe wie manchmal auch als individuelle Leistung. Trotzdem darf von der Formel nicht zu viel verlangt werden. Sie schließt manche Antworten aus und lässt viele offen. Sie weist Würdetheorien als reduktiv aus, die nur auf einen Gesichtspunkt setzen und diesen verabsolutieren, etwa das Grundbedürfnis nach Leben und Leidensfreiheit, oder die Geistnatur, oder die bloße Gestaltungsmacht im Mittel-Zweck-Denken, statt den anderen Aspekten auch Gewicht einzuräumen. Das Kreuz der Entscheidung schließt auch Theorien aus, die dem gleichen Status aller Menschen mit ihren »vier Seelen« in der Brust keine Rechnung tragen. Von daher sind zum Beispiel Theorien rassischer Überlegenheit abzulehnen. Es exkludiert auch Theorien, die im Rahmen der Perspektiven eine Perspektive ganz entfallen lassen wollen, wie z. B. die Fragilität und Verletzbarkeit aller Menschen in ihrer Körperlichkeit und Psyche; diese jeden Menschen betreffende Verletzbarkeit führt zu den Postulaten der Achtung der körperlichen und psychischen Integrität und schließt schlimme Demütigungen oder Folterungen aus. Trotzdem bleiben viele Fragen offen. Das gilt nicht in dem Sinn, dass die einschlägigen Argumente nicht im Kreuz der Entscheidung verankert werden könnten; dieses hat ja nicht nur vier Perspektiven, sondern lässt innerhalb einer jeden der Perspektiven viele unterschiedliche Deutungen von Herkunft, Zukunft, Idealität und Grundbedürfnissen zu. Offen ist die konkrete Gewichtung einzelner Aspekte in den vier Perspektiven: Das trifft schon für den Einzelnen zu, der zumindest untergründig permanent damit beschäftigt ist, seine spannungsreichen Präferenzen zu deuten und zu ordnen. In diesem Prozess gewinnt er gerade seine Persönlichkeit! Noch stärker trifft dies für Kollisionen von Deutungen, Wertungen und Entscheidungen zwischen Akteuren individueller und

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kollektiver Art zu, etwa wenn Leben gegen Leben oder Würde gegen Würde steht. Solche konkreten Abwägungen werden durch das Kreuz der Entscheidung und meist auch durch eine einzelne Würdetheorie nicht abschließend getroffen, da diese ja relativ abstrakte und zunächst für sich stehende, also entkontextualisierte Wertungen enthalten. Hier muss notwendigerweise die schon erwähnte Kontextualisierung und Prozeduralisierung über Verfassungs- und Gesetzgebung einsetzen, deren Konkretionsaufgabe vom gleichen Recht aller Betroffenen oder Staatsbürger auf Deutung, Abwägung und Mitwirkung getragen ist und immer den Wesensgehalt des einschlägigen Aspekts achten sollte. Wenn das Kreuz der Entscheidung insoweit auch keine Detailergebnisse determiniert, so ist es doch hilfreich bei der topischen Suche nach einschlägigen Aspekten bei der Problemlösung. Dazu noch einige Illustrationen: (1) Sollte ein Adoptivkind ein Grundrecht auf Kenntnis seiner Abstammung zur Erforschung seiner genetischen Identität haben? Im Kreuz der Entscheidung ist klar, dass aus dem Blick nach unten, zu der Naturbasis dieses Menschen, sowie dessen Identität, die sich in der Horizontalen des Kreuzes der Entscheidung bildet, die Relevanz dieser Kenntnis folgt. Man muss aber die Situation der Adoptivfamilie dazunehmen. Die Adoptivfamilie, die die sonstigen Grundbedürfnisse des Kindes befriedigt, ihm die Welt von Werten erschließt und eine eigene – soziale statt genetische - Identitätslinie anbietet, kann möglicherweise aus ihrer Sicht ein Interesse an der Anonymität der genetischen Eltern haben – je nach Lage der Dinge. Was hier Vorrang hat, kann das Kreuz der Entscheidung nicht für alle Fälle festlegen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in Band 79, 256 ff. seiner Entscheidungssammlung hat ein adoptiertes Kind grundsätzlich ein Recht auf Kenntnis seiner genetischen Abstammung, sofern die entsprechenden Fakten vorliegen. Das ist eine aus Gesichtspunkten der Würde wie des Kreuzes der Entscheidung vertretbare, wenngleich nicht unbedingt immer die einzige richtige Lösung. (2) Das Kreuz der Entscheidung ist nicht spezifisch genug, um über die Folgen von Rechtsverletzungen etwas Präzises sagen zu können, etwa über Art und Dauer einer Strafe. Dazu bedarf es zusätzlicher Straftheorien und eines Blickes auf die Umstände des Falls. Klar ist aber Folgendes: Wer einen Mord begeht, wer also i.S.d. § 211 Strafgesetzbuch das Leben eines anderen Menschen aus besonders verwerflichen Beweggründen vernichtet und damit auch die vitale Basis seiner Würde zerstört, muss ernsthafte Sanktionen erwarten. Ob eine solche Sanktion zur Todesstrafe oder zwingend zur lebenslangen Freiheitsstrafe oder zu einer »grundsätzlich« lebenslangen Freiheitsstrafe führt, die aber in der Regel dann nur 15 Jahre beträgt, kann das Kreuz der Entscheidung nicht für sich genommen festlegen. Es kann aber zumindest auf die aktionsbezogene, eigenbezügliche Dimension des Täters in seinem Selbstverständnis im Rahmen der vier Entscheidungsperspektiven aufmerksam machen und auf die Relevanz der Motivlage, den Vorsatz und die Schuld des Täters hinweisen. Es kann interaktionistisch, fremdbezüglich, auf die Verletzungsdimension und

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die Auswirkungen auf das Opfer wie seine Verwandten sowie die Bevölkerung generell hinweisen. Schließlich kann es auf die Relevanz der kulturellen Ebene aufmerksam machen, etwa Argumente von effektiver Rechtsbewahrung durch die Tötung des Täters eingrenzen durch den Hinweis auf die drohende Verrohung bei Zulassung der Todesstrafe. Das Bundesverfassungsgericht hat in BVerfGE 45, 187 ff. in Bezug auf die für Mord in § 211 Strafgesetzbuch zwingend vorgesehene lebenslange Freiheitsstrafe entschieden, dass diese zwar verfassungsgemäß sei, aber in der Regel nach 15 Jahren einer Überprüfung bedarf, die oft mit einer vorzeitigen Entlassung endet. Das Kreuz der Entscheidung erklärt, warum dieses verfassungsgerichtliche Urteil einschlägig, wenngleich in der Abwägung nicht zwingend dominierend ist: Die Personalität der Menschen umfasst die grundsätzliche Möglichkeit, sich für das Gute oder das Böse zu entscheiden. Wer eine schlimme Straftat begeht, hat damit konkret und individuell versagt; er hat sich aber nicht generell der Möglichkeit und Aufgabe enthoben, künftighin, nach Verbüßung der gerechten, schuldangemessenen Strafe, sich rechtsgetreu zu verhalten und das Lebensrecht anderer zu achten. Zudem ist die Zukunftsdimension eine der auszeichnenden Qualitäten des menschlichen Lebens. Ein Straftäter, dem man eine Zukunft durch lebenslange Haft gänzlich »versperrt«, den man somit in einen Teil seiner Vergangenheit »einsperrt«, verliert damit einen Teil seiner Menschlichkeit, seiner Würde. Das zu vermeiden, zählt sicher zu den einschlägigen Überlegungen, wenngleich dieses Argument nicht immer die entscheidende Antwort gibt – soweit nach Entlassung weitere Straftaten drohen, kommen konkurrierende Gesichtspunkte ins Spiel. (3) Aus dem Kreuz der Entscheidung ergibt sich im Blick nach unten, dass die Bedürfnisstruktur der Menschen, soweit sie mit der Bedrohung von Leib und Leben zu tun hat, zum Menschen dazugehört. Aber sie ist eben ein Charakteristikum, das der Mensch mit den Tieren teilt, das ihn nicht auszeichnet. Weder Mensch noch Tier sollten gequält werden, ihre körperliche Integrität sollte grundsätzlich geachtet werden. Trotzdem essen wir Tiere, aber nicht Menschen. Das lässt sich nur erklären und vielleicht rechtfertigen, wenn man Würde nicht nur über körperliche »Leidensfähigkeit« und »Schmerzempfinden« definiert, sondern eben Reflexivität, Individualität und Identität hinzunimmt, wenn man also, mit anderen Worten gesagt, Vertikale und Horizontale des Kreuzes der Entscheidung aufeinander bezieht. In diesem Sinne ist richtig, was § 90 a Bürgerliches Gesetzbuch sagt: »Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt.« Diese besonderen Gesetze knüpfen an körperliche Leidensfähigkeit und Schmerzempfinden sowie einige weitere Annäherungen an »menschliches Verhalten« an, aber sie reichen nicht in alle vier Dimensionen des Kreuzes der Entscheidung hinein. Deshalb teilen Tiere mit uns zwar eine Welt und einige auch menschliche Charakteristika, aber letztlich sind sie uns nur »nahe«, nicht »gleich«. (4) Hier lässt sich auch der Streit über die »höchsten« oder »eigentlichen« Aspekte von Würde und Grund- und Menschenrechten verorten: In diesem Streit kann

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man eher nach oben, zur Transzendenz oder zur Geistnatur nur der Menschen, schauen, oder aber nach unten zu Leib und Leben blicken, an deren Schutz alle lebenden Wesen hängen. Zugespitzt formuliert: Je nachdem, wo man den Schwerpunkt setzt, erscheint einem der Mensch als »cogital« oder »animal«9, als »Geschöpf Gottes« oder als »arrivierter Affe«.10 Aus Sicht des Kreuzes der Entscheidung bringen solche Hierarchisierungen wenig, denn beides gehört notwendig zum menschlichen Leben dazu, samt der in der Vertikaldimension der Reflexion noch fehlenden Ebene von Biographie und Zukunftsplanung. Je nach den Umständen kann mehr die eine oder die andere Dimension gefährdet sein.

3.  Grundrechtsdimensionen im Kreuz der Entscheidung Die Verankerung der Grundrechte im Kreuz der Entscheidung tritt deutlich hervor: Sie antworten auf vergangene Verletzungen wichtiger Grundbedürfnisse und diese legitimierender Werte, um für die Zukunft ähnlichen Gefahren vorzubeugen. In diesem Sinne steht der ganze Grundrechtsteil des Grundgesetzes (wie auch alle internationalen Menschenrechtspakte, die nach dem Zweiten Weltkrieg erlassen worden sind) unter dem Motto: Nie wieder! Nie wieder soll in unserem Gemeinwesen die Barbarei des nationalsozialistischen Terrors herrschen. Wegen dieser Legitimitätsfunktion sind die Grundrechte nicht ohne weiteres durch einen bloßen Mehrheitsbeschluss des Parlaments zu beschränken; es bedarf verschärfter Anforderungen an die Existenz und den Nachweis gewichtiger öffentlicher Interessen. Die Abschlusskontrolle obliegt deshalb auch nicht einem Fachgericht, sondern einem Verfassungsgericht. Die Grundrechte haben aber noch eine zweite Dimension, die sich genau in die Reflexionsstufen des Kreuzes der Entscheidung einpasst. Schützen Grundrechte nur gegen einen in der Vergangenheit liegenden Akt der Staatsgewalt, der sich als Verletzung dieses Grundrechts darstellt und zu irgendeiner Art von Kompensation führt, oder auch gegen künftiges Amtshandeln? Ihr Wortlaut beantwortet diese Frage nicht: Sie sind entweder als Freiheitsrechte gegen das Handeln der öffentlichen Gewalt formuliert und bezeichnen dann einen Lebensbereich (z. B. Familie) oder eine Handlungsform (z. B. sich versammeln), die geschützt sein soll, oder sie bezeichnen im Rahmen einer Gleichheitsgarantie das Kriterium von Gleich- und Ungleichbehandlung, das die Verfassung gebietet oder verbietet (etwa Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, Verbot der Ungleichbehandlung aufgrund von Herkunft und Geschlecht). Wenn die Grundrechte so bedeutsam sind für die Legitimität eines politischen Gemeinwesens, dann sollten sie eigentlich »nach hinten« wie »nach vorne« wirken. Das ist im deutschen Recht auch so. Grundrechte sollen generell die Integrität des im Schutzbereich umrissenen Bereichs oder der jeweiligen Handlungsvariante gegen ungerechtfertigte staatliche Eingriffe garantieren. Ist eine unangemessene Einschränkung in Form einer »Grundrechtsverletzung« in der   9  10 

Siehe F. Nietzsche, »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, 360. So A. Gehlen, a. a. O., 9.

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Vergangenheit schon eingetreten, die aus Rechtsstaats- und Gerechtigkeitserwägungen nach Korrektur verlangt, dann ergeben sich für den Grundrechtsträger je nach Situation und in der Regel gemäß einer Spezifizierung im Parlamentsgesetz Beseitigungsansprüche, Wiederherstellungsansprüche, Entschädigungsansprüche oder Schadenersatzansprüche. Liegt dagegen noch kein abgeschlossener Grundrechtsschaden vor, sondern droht dieser erst in absehbarer Zukunft, wendet sich der Integritätsgedanke »von hinten« »nach vorne« und transformiert sich in einen grundrechtlich inspirierten und meist gesetzlich detaillierten Unterlassungsanspruch gegen die drohende Verletzung. Der grundrechtliche Integritätsgedanke gibt so eine nach hinten wie nach vorne gerichtete Schutzdimension zu erkennen, die im Blick nach unten wichtige Grundbedürfnisse wie etwa Eigentum und Ehre diagnostiziert und diese im Blick nach oben als grundrechtliche Achtungsansprüche normativ adelt; so wird in den vier Perspektiven des Kreuzes einer gerechten Sozialordnung durch Verfassung und Gesetz Wirklichkeit verliehen.

4.  Rechtsphilosophien und Auslegungsmethoden im Kreuz der Entscheidung Werfen wir vom Kreuz der Entscheidung aus einen Blick auf Schulen der Rechtsphilosophie. Hier herrschen, wie eingangs schon erwähnt, Wettbewerb und Vielfalt. Hinter dieser Vielfalt aber verbirgt sich eine beschränkte Anzahl von Idealtypen von Rechtsphilosophie. Vier davon entsprechen den Perspektiven des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung. Dazu je kurz ein Beispiel: Wenn wir in der horizontalen Dimension von der Gegenwart aus den Blick »nach hinten«, in die Vergangenheit, richten und das Recht vor allem in dem zur Jetztzeit führenden Traditionsstrang verstehen, bewegen wir uns im Bannkreis der Historischen Rechtsschule, wie sie im 19. Jahrhundert etwa von Friedrich Carl von Savigny vertreten worden ist. Seine Grundfrage ist: »In welchem Verhältniß steht die Vergangenheit zur Gegenwart, oder das Werden zum Seyn?« Und seine Antwort lautet: »[J]eder einzelne Mensch [ist] nothwendig … zu denken als Glied einer Familie, eines Volkes, eines Staates, jedes Zeitalter eines Volkes als die Fortsetzung und Entwicklung aller vergangenen Zeiten …«. »Die Geschichte ist … nicht mehr blos Beispielsammlung, sondern der einzige Weg zur wahren Erkenntniß unsers eigenen Zustandes.«11 Evolution und Tradierung des Volksgeistes stehen hier also im Vordergrund. Anders ist dies bei Rechtslehren, die den Blick visuell »nach oben« richten, also das Recht primär von Werten und Idealen aus verstehen. Der »Wert« einer Rechts- und Staatsordnung kann unterschiedlich bestimmt werden, etwa im Sinne des Schutzes von Menschenwürde und Menschenrechten, aber auch des Machterwerbs, der Förderung einer bestimmten Kultur, Religion, Klasse oder Rasse, um nur einige Beispiele zu nennen. Weit verstanden umfasst der Rechtsidealismus jede Art von Theorie, die einem Gegebenen (inbesondere einem Grundbedürfnis) eine Deutung und eine Rechtfertigung F. C. von Savigny, »Über den Zweck der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft« (1815), 43. 11 

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im Form des argumentativen »Weil« an die Seite stellt. Stellt man auf moderne, konsensfähige Legitimationskriterien ab, so ist vor allem an die Gerechtigkeit als oberste Tugend von Rechtssystemen zu denken. Das Naturrecht und das Vernunftrecht sind zwei Theoriestränge, in denen der Gerechtigkeitsgedanke expliziert worden ist, wobei sich moderne Varianten dieser Theorien dadurch auszeichnen, dass sie von der gleichen Freiheit aller Bürger / Menschen in der Bestimmung der Gehalte gerechter Regelungen ausgehen. Solche Theorien vertreten einen moralischen Rechtsidealismus, der sich von dem Rechtshistorismus und Rechtsevolutionismus Savigny‘scher Art durch die Betonung des eigenständigen Charakters von Gerechtigkeitsurteilen auszeichnet. So gesteht Kant, der für unser Rechtsdenken wichtigste Vernunftrechtler, zwar zu, dass der Mensch durch Triebe affiziert, nicht aber determiniert ist, und erweist sich insoweit als Klassiker der Anthropologie. Aber aus seiner Sicht muss das Recht die menschlichen Antriebe nicht nur disziplinieren und kultivieren, sondern auch und vor allem moralisieren. Und »moralisieren« meint nach Kant, dass das Recht, um wirklich legitim und gerecht zu sein, eine Ordnung gegenseitiger Freiheit und Anerkennung verwirklichen muss. Wenden wir nunmehr den rechtsphilosophischen Blick »von oben nach unten«, zum kollektiven Es, den anthropologischen Konstanten in den menschlichen Antrieben und Grundbedürfnissen. Diese umfassen im Kreuz der Entscheidung nicht nur »Leib und Leben«, »Lust« oder »Libido«, sondern alle konkreten Bedürfnisse, die sich persönlichkeitsund kulturenübergreifend bei den meisten Menschen und ihren Gemeinschaften finden, also etwa auch Bedürfnisse nach Achtung, Liebe, Gesellung, Entfaltung, Ruhe, Rückzug u. a. m. Rechtsphilosophien treffen hier typischerweise eine Auswahl. Wir stoßen etwa auf Rechtsphilosophien, deren gemeinsames Merkmal es ist, dass sie die menschliche Vernunft tendenziell als Vollstrecker der empirischen Antriebe im Menschen begreifen – Vernunft mutiert so zur verständigen Mittel-Zweck-Optimierung. Manchmal werden diese Antriebe weniger gutartig als bedrohlich oder gar bösartig charakterisiert, woraus sich eine relativ pessimistische Sicht des Menschen ergeben kann. Ihr entspricht dann konsequent eine starke Rolle für den Staat. Seine Funktion ist vor allem auf die Gewährleistung der elementarsten Bedürfnisse der Menschen gerichtet: Sicherung des Überlebens und Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung. Diese Art von Theorie könnte man einen engen Rechtsanthropologismus nennen. Bestes Beispiel ist Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert, die englischen Bürgerkriege vor Augen, in seinem Buch »Leviathan« davon gesprochen hat, jeder Mensch sei jedem anderen Menschen ein Wolf. Somit drohe, wenn nicht ein starker Staat dazwischentrete, ein Naturzustand, in dem »herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz«.12 Kein Wunder, dass Hobbes in einer solchen Situation den Rat gibt, einen Staatsvertrag abzuschließen, in dem ein starker, ja übermächtiger Herrscher vor allem Leben und Sicherheit für alle zu sichern hat. Damit bleibt nur noch, einen Blick »nach vorne« zu werfen auf Rechtsphilosophien, die die Rolle des Rechts primär aus der Perspektive der erfolgreichen Zukunftsgestaltung 12 

Siehe T. Hobbes, Leviathan, 96.

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bestimmen und damit dem Rechtsinstrumentalismus zuzurechnen sind. Dazu gehört der Kritische Rationalismus, der von Karl Popper entwickelt worden ist und in Deutschland einen prominenten Vorkämpfer in Hans Albert gefunden hat. Sein Stichwort ist: Recht als Sozialtechnologie.13 Die Wissenschaft hat das Recht über die realen Zusammenhänge personaler, institutioneller und technischer Verhältnisse aufzuklären. Aus dieser Aufklärung lässt sich das Steuerungspotential rechtlicher Normen und Arrangements entwickeln, das nach Auffassung des Kritischen Rationalismus sich an den jeweils anerkannten Leistungskriterien der unterschiedlichen Ordnungen ausrichten sollte. Das waren Beispiele rechtsphilosophischer Reflexion für alle vier Dimensionen des anthropologischen Kreuzes der Entscheidung. Eine attraktive, überzeugende Philosophie des Rechts zeichnet sich dadurch aus, dass sie strukturell alle vier Perspektiven thematisiert und bestmöglich aufeinander bezieht; auf jeden Fall sollte sie nicht von vornherein eine oder mehrere wegfallen lassen. Das wäre töricht, denn die vier Perspektiven selbst sind immer schon mit uns, sind vorgegeben. Sie gehören konstitutiv zur Lebenswelt oder, im Recht, zur Rechtswelt. Sie sind präskriptiv in praktischer Konkordanz aufeinander zu beziehen. Und in der Tat ließe sich aufzeigen, dass eine jede der genannten Rechtsphilosophien alle vier Perspektiven thematisiert und bis zu einem gewissen Grad auch integriert, aber eben mit dem genannten Schwerpunkt auf Evolutionismus, Idealismus, Anthropologismus und Instrumentalismus. Für Auslegungsmethoden bietet das Kreuz der Entscheidung ebenfalls einen Reflexionsspiegel. Gesetze haben keine natürliche »Persönlichkeitstextur«, aus der heraus sich die Identität eines Individuums bilden und umbilden muss; dafür besitzen sie eine demokratisch beschlossene »Textstruktur«. An der Stelle der Aufgabe der »Lebensführung« bei Individuen steht bei Gesetzen die »Aufgabenerledigung« gemäß der ratio legis. In Anschluss an und Weiterführung von Maximen von Friedrich Carl von Savigny besteht der moderne Auslegungskanon aus Textauslegung, systematischer Auslegung, historischer Auslegung und teleologischer Auslegung. Im Blick »nach hinten« erblickt der Interpret ein in der Vergangenheit liegendes Datum: den Erlass des für ein Fallproblem einschlägigen Gesetzes, das zum Erlasszeitraum selbst eine kollektive Entscheidung im Kreuz der Entscheidung war. Im weiteren Blick in die Vergangenheit hilft dem Interpreten die historische Kontinuität und Klarheit vieler Rechtsbegriffe, soweit sie für die Falllösung relevant werden. Beides gehört zur »historischen Auslegung«: voluntative Genese und kontinuierliche Entwicklung. Die ratio legis legt der Interpret aber nicht nur vergangenheitsbezogen fest, das Gesetz soll nicht nur gestern, sondern auch heute und morgen »vernünftig«, »angemessen« sein und auf größtmögliche Zustimmung hoffen können. Diese Wertmaßstäbe sind im Kreuz der Entscheidung in der Vertikalen angesiedelt: Gesetze sind auf die Befriedigung sektoraler Grundbedürfnisse bezogen, das Sozialrecht primär auf »Leib und Leben« mit Elementen von »Gesellung« und »kultureller Teilhabe«, das Ehe- und Familienrecht auf »Gemeinschaft, Stabilität, Sexualität« usw. Die abstrakte Wertverankerung solcher Grundbedürfnisse in Gesetzen ergibt sich im Blick nach oben aus den einschlägigen Verfassungsnormen oder nicht explizit in der Verfassung auftauchenden sonstigen Werten des 13 

Siehe H. Albert, Kritischer Rationalismus, 64 ff.

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Gemeinwesens. Die konkrete Wertung in Bezug auf die detaillierte Gewichtung und Zurichtung von Rechtsregeln haben in der Kreuzung der vier Perspektiven zunächst der Gesetzgeber, später, im Akt der Gesetzesinterpretation, der Bürger, Jurist und Richter zu verantworten. In beiden Konkretisierungsstadien sind subjektive Beurteilungselemente nicht zu vermeiden: Die konkrete, angemessene Einzelfallentscheidung ist aus der ratio legis und der Anwendungssituation heraus meist nicht »objektiv ablesbar«; das steht in Parallele zu Persönlichkeitsbildungs- oder Identitätsentscheidungen bei Individuen, die ebenfalls nicht oder jedenfalls nicht nur vorgegeben, sondern immer auch aktiv aufgegeben sind. Wenn insoweit von Individuen gesagt wird, dass sie sowohl Geschöpf wie Schöpfer ihrer Persönlichkeit und Kultur sind, so gilt das parallel auch für die Interpretation von Rechtsnormen: Sie sind vorgefundene, verbindliche »Geschöpfe« von Verfassung und Gesetzgeber für den Interpreten; gleichzeitig ist der Interpret »Schöpfer« des konkreten, situativen Sinns der einschlägigen Vorschrift. Vorbildung steht neben Fortbildung des Rechts. Blick auf Ideale/Werte in oder jenseits von Recht und Verfassung – positivierter oder moralischer Rechtsidealismus Aufwärts: Rückwärts: Historische Auslegung: (1) Blick auf Entwicklung des Rechtsbegriffs – Rechtshistorismus; (2) genetische Auslegung: Blick auf damals Gewolltes – Rechtsvoluntarismus

Vorwärts: Auslegung in der Gegenwart: Blick auf Rechtstext und Rechtskontext – Textualismus. Ziel: Richtige Auslegung, durch Wenden des Blicks nach vorne und hinten sowie oben und unten

Teleologische Auslegung: Blick in die Zukunft – Rechtsinstrumentalismus

Abwärts: Blick auf die Bedürfnisse der Betroffenen/des Interpreten – Rechtsanthropologismus

Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Rechtsphilosophie und Methodenlehre

Menschenwürde, Menschenrechte und Rechtsphilosophie

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5.  Zum Abschluss Das Kreuz der Entscheidung bietet kein »Subsumtionsmodell« zur Ableitung richtiger Entscheidungen, weder im individuellen noch im kollektiven Bereich. Es stellt keine detaillierten Entscheidungsregeln zur Verfügung, und es geht auch nicht um die Maximierung der vier Perspektiven als separate Prinzipien. Vielmehr geht es in streitiger Aktion, Interaktion und diese umgreifender Enkulturation um die Strukturierung eines Deutungs-, Wertungs- und Entscheidungsfeldes, in dem der Mensch immer schon steht. Das Kreuz der Entscheidung trifft ihn als ganzheitlichen leiblichen und geistigen, emotionalen und abwägenden Akteur – als Akteur, der an seinem Schicksal der Qual der Wahl von Handlungsoptionen, das Gott, die Natur oder die Evolution für ihn als Wahl der Qual getroffen hat, manchmal schwer zu tragen hat. Nicht umsonst wird oft das Lob der Routine gesungen, bei der aus Sicht des Kreuzes des Entscheidung alle vier Perspektiven in die gleiche Richtung zeigen und die Entscheidung sich eben von selbst versteht. Doch wenn sich die vier Perspektiven im Persönlichkeitskern kreuzen, ist Handeln im emphatischen Sinne gefragt, dann muss »Kreuz«, Rückgrat gezeigt werden. Es geht bei der Ausbalancierung solchen Handelns nicht um die Annäherung an einen »Durchschnitt« oder die Privilegierung der Sichtweise von »Erfahrenen und Verständigen«, sondern um Ausschaltung von Einfalt durch Ermöglichung von Vielfalt im Handeln. Jeder Mensch ist Subjekt, Person und Unikat – dies können wir im Kreuz der Entscheidung erkennen, dieses Faktum bedarf der Anerkennung. In den Worten eines alten deutschen Sprichworts: »Im Creutz lernt sich der Mensch erst selber recht kennen.«14

Literaturverzeichnis Albert, Hans: Kritischer Rationalismus, Tübingen 2000. Brugger, Winfried: Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, Baden-Baden 1999. Brugger, Winfried: Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht. Zweite, erweiterte Auflage, Baden-Baden 2008. Sigmund Freud: Abriß der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1953 / 1972. Funke, Gerhard: »Kants Stichwort für unsere Aufgabe: Disziplinieren, Kultivieren, Zivilisieren, Moralisieren«, in: ders. (Hg.), Akten des Vierten Internationalen Kant-Kongresses, Berlin / New York 1974. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 12 1978. Hobbes, Thomas: Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, Berlin 1966. Joas, Hans / Jung, Matthias (Hgg.): Über das anthropologische Kreuz der Entscheidung, Baden-Baden 2008. K. F. W. Wander (Hg.), Deutsches Sprichwörterlexikon, Band 2, 1870, Sp. 1607 unter Nr. 59. 14 

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Kolloquium 5  ·  Winfried Brugger

Nietzsche, Friedrich: »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: Kurt Rossmann (Hg.): Deutsche Geschichtsphilosophie von Lessing bis Jaspers, BirsfeldenBasel 1959. Savigny, Friedrich Carl von: »Über den Zweck der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft«, in: Gerd Roellecke (Hg.), Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie?, Darmstadt 1988.

Kolloquium 6 Sprache und Kommunikation

Günter Abel Einführung: »Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft« Dagfinn Føllesdal Husserls Begriff der Lebenswelt Hans Julius Schneider Unsagbarkeit, Ungegenständlichkeit und religiöse Erfahrung. Ludwig Wittgensteins Überwindung des Notationsparadigmas der sprachlichen Darstellung Pirmin Stekeler-Weithofer Wissen und Begriff. Zum normativen Status generischer Sätze

Einführung: »Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft« Günter Abel

Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft sind nicht bloß extern, sondern intern miteinander verwoben. Welcher Art diese Verhältnisse im Einzelnen sind, ist Gegenstand unterschiedlicher Auffassungen und Kontroversen in der Philosophie wie in den Wissenschaften und anderen Künsten. Im Folgenden möchte ich unter sieben Gesichtspunkten einige der internen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen markieren und damit verbundene Forschungsdesiderate benennen.

1.  Verständigungsverhältnisse und Kommunikabilität Die auf Sprache und nichtsprachlichen Zeichen beruhenden Verhältnisse der Verständigung und Kommunikabilität zwischen Personen sind konditionale Bestandteile eines jeden flüssigen Funktionierens der Lebenswelten ebenso wie der Wissenschaften. Verständigung findet in sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen statt. Und jede Wissenschaft ist auf die Artikulation, Kommunikation und Evaluation ihrer Ergebnisse in einer Sprache angewiesen und verpflichtet. Wissenschaften und auch die Philosophie sind in Sprache verstrickt, da sie sich in ihr bewegen. Das macht verständlich, wieso Sprachphilosophie zur Grunddisziplin der Philosophie aufsteigen konnte. Philosophie, Wissenschaften und Künste vollziehen sich in Sprachen und / oder nichtsprachlichen Zeichen. Mit Fokus auf charakteristische Sachfelder wie Bedeutung und Referenz, Bedeutung und Wahrnehmung, Bedeutung und Handlung, Sprache und Wirklichkeit, Sprache und Kognition, Sprache und Ethik können die internen Verschränkungen von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft im einzelnen verdeutlicht werden. Im Folgenden wird dies in Begrenzung auf einige dieser Felder ansatzweise ausgeführt. 2.  Flüssiges Funktionieren von Sprache und Kommunikation In der Regel funktionieren die in Lebenswelten eingebetteten Verhältnisse der Verständigung und des kooperativen Handelns flüssig. Sachlich unangemessen ist daher jede Modellierung, der zufolge Sprache und Kommunikation so funktionieren, dass es in ihnen primär um die Überwindung von Missverständnissen und die Beseitigung von Unverständnissen geht. Missverständnisse und Unverständnisse können zwar jederzeit auftreten. Sie werden dann, mit Hilfe anderer Wörter, Zeichen oder Handlungen er-

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Kolloquium 6  ·  Günter Abel

folgreich beseitigt oder nicht. Jedoch stellen sie die erklärungsbedürftigen Fälle dar und können nicht als die basalen Ausgangsgrößen für ein angemessenes Modell des Sprach-, Zeichen- und Handlungsvollzugs dienen. Charakteristisch ist vielmehr, dass flüssige Verständigung und Kommunikabilität nicht erst in einem zweiten Schritt hergestellt werden müssen, sondern in einem grundlegenden Sinne zunächst und zumeist gegeben sind. Dieses Funktionieren manifestiert sich vor allem darin, dass an artikulierte Wörter, Sätze, Zeichen, Gedanken und Handlungen angeschlossen werden kann bzw. diese flüssig fortgesetzt werden können, ohne dass zuvor jeweils die Frage nach den semantischen Merkmalen (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen) gestellt und definitiv beantwortet werden müsste. Das solcherart flüssige Funktionieren von Sprache und Kommunikation kann als ein Drehtüreffekt beschrieben werden. Dieser besteht zwischen der Situiertheit der semantischen Merkmale von Wörtern, Sätzen, Zeichen und Handlungen in Lebenswelten und der Bestimmung dieser semantischen Merkmale im Rekurs auf die mit anderen Sprechern und Hörern geteilte öffentliche Praxis des Gebrauchs der Zeichen, letztlich also im Rekurs auf die Struktur unserer Lebenswelt. Öffentlichkeit und Lebenswelt können auf diese Weise als letzte semantische Bestimmungsinstanzen und zugleich als letzte Begründungsinstanzen angesehen werden. Sie sind uns zugänglich und bestens vertraut, da wir uns in ihnen bewegen. Und wir können sie nicht noch einmal hintergehen. Der Sinn, in dem wir es mit einer fundierenden Stellung der Lebenswelt zu tun haben, ist daher ein pragmatischer. Es handelt sich nicht um eine eschatologischmetaphysisch ›letzte‹ Instanz der Bestimmung und Begründung. ›Lebenswelt‹ wird vielmehr im Sinne Edmund Husserls als die Welt verstanden, die in unserer Erfahrung so begegnet, dass sie den Horizont unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns, kurz: den Horizont einer jeden unserer Tätigkeiten formt. Sie ist die Welt, wie sie vom Subjekt erfahren und erlebt wird, in Husserls Worten: »die Welt im Wie der Erlebnisgegebenheit.«1 Aufschlussreich zeigt sich die Eingebettetheit und Situiertheit von Sprache und Kommunikation in Lebenswelten an den Störfällen, an jenen Situationen, in denen wir die Kommunikation nicht mehr flüssig fortsetzen und Handlungen nicht mehr flüssig anschließen können. Das sind die Situationen, in denen wir die Frage nach den semantischen Merkmalen der Sprache und Zeichen zu stellen genötigt werden, diese also nicht mehr als fraglos feststehend voraussetzen, verstehen und verwenden können. In solchen Fällen stellen wir die Frage: »Was ›bedeutet‹ das Wort, der Satz, das Zeichen, die Handlung?« Die Störfälle und vor allem dann die Strategien der erfolgreichen Beseitigung der Störfälle sind daher besonders aufschlussreich im Hinblick darauf, wie Lebenswelten in der Regel und bis auf weiteres (eben bis erneut ein Störfall eintritt) fraglos funktionieren. Die Beseitigung der Störfälle dient dem Wiederherstellen einer Situation, in der wir unser Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln erneut flüssig fortsetzen können. E. Husserl, Erste Philosophie (1923 / 24), Husserliana VII, 232; zitiert im Kongressbeitrag von Dagfinn Føllesdal: Husserls Begriff der Lebenswelt, im vorliegenden Band. 1 

Einführung

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Entscheidend ist nun, dass wir zwecks Beseitigung von Störfällen in Sprache und Kommunikation nicht über ein metaphysisches rotes Telefon verfügen, mit dem wir bei den Göttern, der Evolution oder bei einer metaphysischen Semantik-Kommission anrufen könnten, um die ›richtige‹ Bedeutung und Referenz des nicht mehr fraglos verstandenen sprachlichen oder nichtsprachlichen Zeichens (z. B. des Wortes »Freizeitindustrie«) zu erfragen. Und entscheidend ist des näheren dann, dass uns eine solcherart metaphysische Notrufzentrale (sollte es sie denn überhaupt geben) noch keine Garantie dafür böte, den eingetretenen Störfall auch tatsächlich erfolgreich beseitigen und die Verständigungs- und Handlungsverhältnisse wieder in Gang setzen zu können. Denn selbst wenn wir über dieses Telefon die einzig richtige Antwort erhielten: sie wäre damit noch keineswegs in den Sprach- und Zeichengebrauch implementiert, und es gäbe für uns (im Falle sprachlicher Zeichen) als endliche Sprecher und Hörer angesichts unserer epistemischen Situation keinen Grund, der uns zwingen könnte, dies dem metaphysischen Call-Center auch glauben zu müssen, – selbst wenn die Antwort richtig wäre. Seit Ludwig Wittgensteins später Sprachphilosophie kommt man im Hinblick auf die Störfall-Situation schon eher auf den Gedanken, nicht das rote metaphysische Telefon zu benutzen, sondern stattdessen schlicht bei den anderen Sprechern und Hörern einer Sprach- und Zeichengemeinschaft nachzufragen bzw. nachzuschauen, wie sie das fraglich gewordene Wort oder Zeichen verwenden, wovon es für sie handelt (welches also seine Bedeutung ist) und worauf es sich bezieht (welches also seine Referenz ist). Freilich heißt dies nicht, dass die Sprach-, Zeichen- und Interpretationsgemeinschaft in jedem Falle stets schon und gleichsam instantan über die richtigen Antworten verfügt. In besonderen Fällen kann es durchaus erforderlich sein, Bedeutung und Referenz öffentlich erst noch auszuhandeln und zu umgrenzen. In solchen Fällen sind Bedeutungen und Referenzen nicht bereits vorab fertig explizite und (unter Einschluss der Weltverbundenheit) individuierte Bedeutungen und Referenzen. Wir können an dieser Stelle nun noch einen Schritt weiter gehen. Wie soll ich es mir denn denken, dass ich kraft Auskunft durch andere Sprecher und Hörer und kraft des Umstandes, dass »ein Andrer mich lehren kann«2 , welches das richtige Wort und die richtige Bedeutung eines fraglich gewordenen Zeichens ist, erneut in den quasi-paradiesischen Zustand versetzt werde, Sprechen, Denken und Handeln flüssig fortsetzen und mich in der Welt wieder zurechtfinden und orientieren zu können? In der Antwort auf diese Frage stoßen wir letztlich auf die Lebenswelt und auf den mit dieser verschränkten öffentlichen Charakter eines jeden Sprach- und Zeichengebrauchs. Lebenswelt und Öffentlichkeit erscheinen so in ihrer internen Verbindung als der pragmatisch ›letzte‹ Grund der Umgrenzung, Bestimmung und Rechtfertigung der semantischen Merkmale des Sprechens, Denkens und Handelns. Lebenswelt und Öffentlichkeit können so als die Bereiche angesehen werden, in denen diejenige Normativität letztlich gründet, die aktualisiert werden muss, sobald die Frage nach den ›richtigen‹ Bedeutungen und Referenzen, nach den ›richtigen‹ Wörtern, Zeichen, Gedanken und Handlungen auftritt und geklärt werden muss, um Sprechen, Denken und Handeln erneut flüssig fortsetzen 2 

L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, I, Nr. 378.

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Kolloquium 6  ·  Günter Abel

zu können. Und ›flüssig fortsetzen können‹ heißt hier: so fortsetzen können, dass die Kommunikabilität zwischen den menschlichen Subjekten, im Zusammenspiel mit anderen Personen, ebenso wie die Weltverbundenheit und die Orientierung in der Welt gewährleistet sind. 3.  Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxis Solange die Verständigung flüssig funktioniert, machen wir uns keine Gedanken über die Frage, woher denn ein Zeichen seine Bedeutung und Referenz hat oder wie die semantischen Merkmale in die Zeichen kommen. Das scheint in den unproblematischen Fällen schon selbstverständlich gegeben zu sein. Freilich ist nicht davon auszugehen, dass die semantischen Merkmale der Zeichen vorab durch ein göttliches Dekret oder irgendeine andere metaphysische Instanz ein für alle Mal festgesetzt wurden. Andererseits jedoch ist die Bedeutung der Zeichen einer gegebenen Sprache offenkundig auch keineswegs beliebig, d. h. gänzlich von den subjektiven Meinungen und psychischen Zuständen der einzelnen Sprecher und Hörer abhängig. Letzteres wäre relativistische Beliebigkeit der Bedeutung. 3 Sie ist für erfolgreiche Verständigungsverhältnisse gerade nicht kennzeichnend. Die Frage, wie Bedeutung und Referenz in die Zeichen kommen, wird in der neueren Sprachphilosophie zumeist im Rekurs auf eine der beiden unterschiedlichen Thesen beantwortet, die ich die ›Kopf-These‹ und die ›Welt-These‹ nennen möchte. Der Kopf-These nach erfolgt die Festlegung und Umgrenzung der Bedeutung und Referenz unserer Zeichen und Gedanken in unseren Köpfen (jedenfalls in unserem Inneren). Der Welt-These zufolge erfolgt sie von Seiten der Welt und / oder durch die Gesellschaft (jedenfalls nicht von uns als zeichenkompetenten und denkenden Subjekten, sondern außerhalb von uns, durch die materielle Beschaffenheit der Objekte und durch den öffentlichen Gebrauch der Zeichen). Die Kopf-These tritt vor allem in Form der Deskriptionalen Theorie auf (etwa bei B. Russell und J. R. Searle). Die Welt-These hat ihre deutlichsten Ausprägungen gegenwärtig in der sogenannten »Kausaltheorie« der Referenz (in reduktionistischer Form etwa bei J. A. Fodor, H. Field, und im Sinne einer kausalen Interaktionstheorie der Referenz bei H. Putnam, S. A. Kripke, K. Donnellan) und in der »Teleosemantik« (etwa bei R. Millikan und D. Papineau) gefunden. Die Teleosemantik möchte die Bedeutung von Zeichen durch ihre biologische Funktion erklären und zwar so, dass Bedeutungen auf biologische Prozesse ohne Bedeutungsgehalt zurückgeführt werden. Es lässt sich jedoch zeigen, dass diese Theorieansätze und

Eine zweite Form von relativistischer Beliebigkeit wäre gegeben, wollte man einfach eine zufällig gegebene Sprach-, Zeichen- und Interpretationsgemeinschaft als die Letztinstanz ansehen, welche die Bedeutung der Zeichen definitiv umgrenze und festlege. Da auch diese Sichtweise nicht kohärent explizierbar ist, bleibt jeder Konsensus in Sachen Bedeutung und Referenz letztlich nicht nur kontingent. Wird er hypostasiert, kann er vielmehr als eine Form relativistischer Beliebigkeit angesehen werden. Der psychologistische Relativismus ist mithin komplementär durch den konsensualistischen zu ergänzen. 3 

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mit ihnen die ganze Dichotomie von Kopf und Welt scheitern, dass sie die Ausgangsfrage, wie Bedeutung und Referenz in die Zeichen kommen, mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarium nicht zufriedenstellend beantworten können.4 Um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Bedeutung und Referenz in die Zeichen kommen, kann man von der Einsicht ausgehen, dass in jedem gelingenden Sprechen, Denken und Handeln intern stets bereits eine Interpretation dieser Sprache und Zeichen vorausgesetzt ist. Bedeutung und Referenz der Zeichen hängen daher von unserer Praxis der Interpretation der Wörter, Zeichen und Handlungen ab. Und diese Praxis der Sprach- und Zeicheninterpretation kann als die in die lebensweltliche Praxis eingebettete, situierte und von dort mitgeformte Sprach- und Zeichenpraxis verstanden werden. Die These der sich von hier aus ergebenden allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie5 kann daher lauten: Bedeutung und Referenz eines Ausdrucks werden durch die angemessene Interpretations-Praxis umgrenzt und bestimmt. Dabei verstehe ich – und das ist kardinal – ›Interpretation‹ bzw. ›interpretative nicht bloß im Sinne einer nachträglichen Deutung, sondern vor allem als die dem sinnvollen Zeichengebrauch inhärente interpretatorische Umgrenzung der Bedeutung und Referenz, als die Interpretationsverfasstheit der Zeichenfunktionen selbst. Bedeutung und Referenz unserer Zeichen sind intern stets bereits interpretativ verfasst. Es ist vornehmlich diese interpretative Verfasstheit, die eine nachträgliche Deutung ›richtig‹ oder ›unrichtig‹ werden lässt, sofern die nachträgliche Deutung nämlich zu den vorgängigen Interpretativitätsformen passt oder nicht. Im positiven Fall des erfolgreichen Passens ermöglicht dies das flüssige Fortsetzen des Sprechens, Denkens, Handelns und Sichorientierens in der Welt. Die Frage der gelingenden Verständigung wird dann im Kern zu einer Frage des Eingespieltseins, des mehr oder weniger fraglosen Funktionierens einer Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxis, der Art und Weise eben, wie wir die Wörter und Zeichen gewöhnlich und erfolgreich verwenden und verstehen. Wichtig für die Frage der internen Wechselspiele, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen des Quadrupels Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft ist der sich hier nahtlos anschließende Punkt: das Eingespieltsein der Sprach-, Zeichenund Interpretations-Praxis kann als das Eingespieltsein derjenigen Lebenswelt angesehen werden, in die situiert und eingebettet unser Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln die semantischen Merkmale besitzen, die ihr flüssiges Funktionieren ermöglichen, gewährleisten, stabilisieren und begründen. Und umgekehrt ist in der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie damit zugleich eine These bezüglich der Verfasstheit von Lebenswelten verbunden: Lebenswelten sind in ihren Horizontbildungen in sich zeichen-interpretativ verfasst. Horizonte zu bilden, die unsere Erfahrungen und Erlebnisse formen, ist ein Vorgang von Interpretationszeichen-setzender Kraft und

4  Zu den Einzelheiten dieses Nachweises und zum Folgenden vgl. G. Abel, Interpretationswelten, Kap. 11–13; und G. Abel, Zeichen der Wirklichkeit, Kap. 3. Zur Teleosemantik vgl. G. Macdonald / D. Papineau (Hgg.), Teleosemantics. 5  Die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie wird entfaltet in den in Anmerkung 4 genannten Arbeiten sowie in G. Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation.

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Kolloquium 6  ·  Günter Abel

sehr grundlegender Art. Des näheren heißt dies, dass bereits diejenigen Prozesse, kraft deren die Lebenswelt den Horizont unserer Erfahrungen und Erlebnisse formt, sich als Zeichen- und Interpretationsprozesse vollziehen, manifestieren und als solche in ihren Horizontformaten verstanden werden können. In diesem Sinne können Lebenswelten (die selbst keine Gegenstände der semantischen Logik, mithin nichts Gegenständliches sind, sondern semantische Logik und Gegenständlichkeit vielmehr überhaupt erst ermöglichen) als Zeichen- und Interpretationswelten verstanden werden. Im Hinblick auf die Prozesse des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns kann die Lebenswelt in ihrer zeichen-interpretationalen Verfasstheit als formierend für die Horizonte unserer Erfahrungen und zugleich als in der Reflexion nichthintergehbar charakterisiert werden. 4.  Lebenswelt als Fundierung und Begründungsinstanz Die Lebenswelt spielt die letztlich entscheidende, die gleichsam letztinstanzliche Rolle nicht nur in Sachen Umgrenzung und Festlegung der semantischen Merkmale unserer Wörter, Zeichen, Gedanken und Handlungen. Sie spielt diese Rolle auch im Hinblick auf die Reihe der Ursachen und Gründe. Die Ursachen und Gründe für Handlungen, Sprechweisen und überhaupt für das Folgen von Regeln erschöpfen sich nach wenigen Schritten. Man gelangt dann bei dem an, was Wittgenstein mit der Formulierung beschreibt: »Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ›So handle ich eben‹.«6 Die Rede von ›Lebenswelt‹ wie die vom »harten Felsen« meint offenkundig keine Letztbegründung im Sinne eines reflexiven Rückgangs in der Reihe der Gründe bis zu einem in der Sache definitiven und allgemein verbindlichen metaphysischen Letztgrund. Der Rückgang in und der Rekurs auf die Lebenswelt stellt also in einer Hinsicht eine letzte Fundierung und Begründungsinstanz dar, in einer anderen Hinsicht jedoch keineswegs. Die Lebenswelt ist, es sei erneut betont, pragmatisch letzte Instanz unserer Lebensvollzüge, hinter der wir uns nicht noch einmal aufstellen können. Sie ist aber nicht Letztbegründung im Sinne eines metaphysisch Letzten. Dass sie dies nicht ist, zeigt sich auch daran, dass wir als endliche Geister und Akteure mitverantwortlich sind für unsere Lebenswelt. Und es ist die Lebenswelt als pragmatisch letzte Instanz, deren Begründungs-bezogene Prozesse beschrieben und näher charakterisiert werden können, etwa mithilfe einer Gleichgewichts-Theorie. Letzteres sei im Folgenden näher ausgeführt. Die Lebenswelt kann übrigens schon bei Husserl als die letzte Instanz der Fundierung und Begründung angesehen werden. Dagfinn Føllesdal macht dies in seinem angeführten Beitrag eindrucksvoll deutlich und bringt diese Begründungsstrategie Husserls mit derjenigen des »reflektierten Equilibriums« bei John Rawls und Nelson Goodman 6 

L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, I, Nr. 217.

Einführung

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in eine enge Verbindung.7 Diesem Versuch schließe ich mich ausdrücklich an, wobei ich die erkenntnistheoretische Anwendung des Gleichgewichts-Gedankens durch Catherine Z. Elgin hinzufügen möchte.8 Der Ausdruck »reflektiertes Equilibrium« bezeichnet in systematischer Hinsicht bekanntlich eine Methode der Begründung in Bezug auf das Verhältnis zwischen partikularen Sätzen / Positionen und generellen Sätzen / Positionen / Regeln / Normen. Als Beispiel sei das Verhältnis zwischen partikularen Erfahrungssätzen und einer auf diese bezogenen wissenschaftlichen Theorie angeführt. (Die Methode ist anwendbar aber auch in Mathematik, Logik und Ethik). Keine wissenschaftliche Theorie ist immun gegen Modifikation, Korrektur oder Revision, bis hin zur Verwerfung der ganzen Theorie. Letztere Operationen erfolgen oftmals unter dem Druck der partikularen Befunde. Und umgekehrt sind die partikularen wissenschaftlichen Sätze stets Sätze im Lichte der Theorie und durch diesen Bezug gerechtfertigt oder nicht. Zugleich dient die Methode des reflektierten Equilibriums dazu, Einigkeit und Kohärenz innerhalb des Verhältnisses von Generellem und Partikularem zu gewährleisten. Erreicht wird dies, so die Vorstellung bei Rawls, Goodman, Elgin und Føllesdal, durch ein wechselseitiges Einbalancieren und Korrigieren entweder der partikularen Positionen (sofern diese zu sehr von der generellen Regel bzw. Position abweichen) oder der generellen Positionen / Regeln (sofern die Anzahl der akzeptierten partikularen Fälle eine kritische Grenze überschreitet, so dass die bislang gültigen allgemeinen Sätze / Positionen / Regeln korrigiert werden). In seinem erkenntnistheoretischen Einsatz des Gleichgewichts-Gedankens soll das Ziel »einer reflektierenden, sich selbst korrigierenden Erkenntnistheorie« erreicht werden. Bei Elgin stehen dabei die Bedingungen im Vordergrund, die ein Gleichgewicht in Bezug auf das herstellen, was der Fall ist. Prinzipien und Praxis werden wechselseitig in Einklang gebracht, wobei unterstellt wird, dass Ziel solchen Einbalancierens ein »System in reflektierendem Gleichgewicht« ist.9 In der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie wird eine Variante der Methode des reflektierten Equilibriums unter dem Titel des »Verstehensgleichgewichts« vor allem in zwei Bereichen zur Anwendung gebracht. Zum einen im Bereich der Prozesse des erfolgreichen Verstehens und Verwendens von Zeichen, zum anderen im Rahmen der Frage der Dynamiken von Formaten des Wissens und der Wissenschaften, des szientifischen wie des nicht-szientifischen Wissens.10 In beiden Hinsichten wird die Methode des Gleichgewichts als charakteristisch für das Funktionieren der Zeichen- und Interpretations-Praxis angesehen, die ihrerseits wiederum als LebensweltPraxis verstanden werden kann.

Vgl. J. Rawls, A Theory of Justice, und N. Goodman, Fact, Fiction, Forecast, der die Methode für den Bereich der Logik entwickelt hat. 8  C. Z. Elgin, Considered Judgment, Kap. IV, und dies., »Erkenntnistheoretisches Gleichgewicht«. 9  C. Z. Elgin, »Erkenntnistheoretisches Gleichgewicht«, 202 und 203. 10  Vgl. dazu und zum Folgenden G. Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. 4, insbesondere 95 f., und ders., Zeichen der Wirklichkeit, Kap. 10, insbesondere 337 f. 7 

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Kolloquium 6  ·  Günter Abel

Dass für die Verständigungsverhältnisse zwischen Hörern und Sprechern ebenso wie in beider Verhältnis zu ihrer Welt ein Verstehensgleichgewicht erforderlich und charakteristisch ist, zeigt auch, dass es hier nicht nur um das Verhältnis von generellen und partikularen Sätzen geht. Es geht vielmehr, so die These der Zeichen- und Interpretationsphilosophie, um die gelebten Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse / –verständnisse. Für deren flüssiges Funktionieren spielt das Verständigungsgleichgewicht eine entscheidende Rolle. Das Gelingen von Verständigungsverhältnissen erfordert, dass Sprecher und Interpret bereit sind, ihre die Bedeutung und Referenz der Zeichen bestimmenden Interpretationshypothesen, mit deren Hilfe Verständigung in Gang gekommen ist, zu erweitern, abzuändern oder gar zu revidieren. Dieser zwischen Hörer und Sprecher, zwischen Interpret und Zeichen oszillierende Vorgang eines dynamischen Justierens dient dem Zweck, das zu erreichen, was ich Verstehensgleichgewicht, ein Gleichgewicht im Zeichenverstehen nenne. Damit ist das reziproke Einbalancieren der Verstehens-Horizonte ebenso wie die sich darin vollziehende Umgrenzung der semantischen Merkmale der Wörter, Zeichen, Gedanken und Handlungen gemeint. Ist dies eine angemessene Beschreibung der Situation der Verständigung, dann ist deutlich, dass die Bereitschaft, ein Verstehensgleichgewicht zu erreichen, Bestandteil auch der Rationalität von Verständigungsverhältnissen ist. In diesem Sinne bildet die Lebenswelt, aufgefasst als Zeichenund Interpretationswelt, zugleich auch den pragmatisch letzten Boden der Rationalität und Normativität. Interpretatives Verstehensgleichgewicht ist das, was in Sachen Zeichenverstehen bleibt, sofern wir weder von einem hinter dem Zeichengebrauch stehenden vorab fertigen Sinn noch davon ausgehen können, dass jede Interpretation so gut wie jede andere ist. In diesem Sinne ist es unsere Lebenswelt bzw. unsere Zeichen-undInterpretationswelt, die jede Form von Relativismus und Skeptizismus unterläuft.11 Des näheren ist dabei das Verstehensgleichgewicht in den Verständigungsverhältnissen in zumindest zwei Hinsichten involviert. Zum einen geht es um ein Gleichgewicht zwischen dem allgemeinen, in einer Zeichen- und Interpretationsgemeinschaft sedimentierten Verstehenshorizont und dem individuellen, dem im Zeichengebrauch hier und jetzt aktualisierten, einzelnen Horizont des Zeichenverstehens. Zum anderen geht es um ein Gleichgewicht zwischen dem eigenen, individuellen Horizont und dem Horizont der Zeichenäußerung einer anderen, auch fremden Person. Zu beachten ist hier zunächst, dass es um Verhältnisse des Ausbalancierens, nicht um Subsumption unter einen Begriff geht. Sodann geht es nicht um Verhältnisse der Isomorphie, der Adaequatio, oder schwächer: der Übereinstimmung, sondern eben um einbalancierte Gleichgewichte, um ein Gleichgewicht allgemeiner und besonderer sowie eigener und nicht-eigener, fremder Horizonte. In Bezug auf die Dynamiken des Wissens und der Wissenschaften (zumal in den Erfahrungswissenschaften) kommt die Methode des Gleichgewichts entscheidend ins Spiel, sobald es um das Verhältnis von Wissen und seiner empirischen Überprüfung, des näheren um Verifikation und Falsifikation von Theorien, Hypothesen, Aussagen 11 

Vgl. dazu G. Abel: »Mondi dei segni e dell‘interpretazione: la sfida del relativismo«.

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und Modellen geht. Die durch diese Faktoren bestimmte Dynamik ist, was den Bereich der Wissenschaften angeht, in der jüngeren Wissenschaftsphilosophie Gegenstand ausführlicher Erörterungen gewesen. Sind empirische Befunde nicht mehr in eine bislang akzeptierte Theorie einzugliedern bzw. zu subsumieren, dann wird die Theorie abgewandelt und es werden unter Umständen auch die bis dahin als gültig akzeptierten allgemeinen Grundsätze der Theorie einer Revision der Art unterzogen, dass die auftretenden Einzelfälle fortan wieder in den Horizont der dann veränderten Wissensbzw. Theorieform integriert werden können und die bislang problematischen oder gar disparaten Fälle einsichtiger in das veränderte Organisationsmuster passen. In diesem Sinne kann die Wissensdynamik ebenfalls als ein Prozess des wechselseitigen Einbalancierens und des dynamischen reziproken Justierens von allgemeinen Grundsätzen und empirischen Daten, mithin im Sinne der Methode des Gleichgewichts modelliert werden. Und es ist – vor allem auf die Betonung dieses Leitfadens kommt es hier an – die als Zeichen- und Interpretationswelt sowie darin natürlich zugleich als Kulturwelt aufgefasste Lebenswelt, aus der heraus und auf die hin die Horizonte auch einer jeden Fundierung und Begründung ebenso wie die Horizonte eines jeden erfolgreichen Verstehensgleichgewichtes geformt werden. Letztlich besitzen Fundierungen und Begründungen aufgrund ihrer Verankerung in der Lebens- bzw. in der Zeichen-und-Interpretationswelt die Kraft ihrer Überzeugung und Plausibilität. Es ist mir wichtig, den Unterschied zwischen ›Letztbegründung‹ und ›letzter Begründungsinstanz‹ zu betonen. Letztbegründung müsste sich, es sei wiederholt, metaphysisch vollblütig, in der Sache definitiv und allgemein verbindlich verstehen. Die für die Lebens- bzw. Zeichen-und Interpretationswelt reklamierte Rede von ›Fundierung und letzter Instanz der Begründung‹ dagegen meint den pragmatischen Abschluss in der Reihe der Gründe nach Menschenmaß und auf Zeit. Die Wechselwirkungen in Sachen Begründung innerhalb des Quadrupels Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft sind von letzterer Art. Sie können nicht als eine apriorische oder ontologische Ordnung und nicht als metaphysisch definitive und externalistisch allgemein verbindliche Letztbegründung verstanden werden. Die Lebenswelt als pragmatisch letzte Instanz der Fundierung und Begründung kann sowohl im Bereich des Theoretischen (in Bezug z. B. auf Theorien) als auch im Bereich des Praktischen (in Bezug auf die tatsächlich gelebte Sittlichkeit, in der jeder theoretisch drohende Begründungsregress pragmatisch unterlaufen wird) verdeutlicht werden. Zu betonen ist freilich zugleich und nachdrücklich, dass damit in keinem der beiden Bereiche das Prinzip der Vernunftkritik zugunsten eines lebensweltlichen Konservativismus außer Kraft gesetzt wird. Nicht jede lebensweltliche Überzeugung ist automatisch vernünftig. So formt die Lebenswelt etwa die Horizonte unserer Entscheidungen, aber es sind die Menschen, die Personen, nicht die Lebenswelt und deren Strukturen, die entscheiden. Es geht mir hier also um Fundierung und pragmatisch letzte Instanz, keinesfalls jedoch um einen lebensweltlichen Reduktionismus. Im Theoretischen lässt sich diese Rückführung auf die skizzierte formierende Kraft der Lebenswelt als der letzten Fundierungs- und Begründungsinstanz auch verdeutlichen, indem wir kurz die unterschiedlichen Festsetzungen betrachten, die in den Wis-

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senschaften in puncto Theoriebildung wirksam und unverzichtbar sind. Dabei geht es in unserem Zusammenhang vor allem um den Punkt, dass wir auf der Objekt-bezogenen Forschungsebene mit Standards operieren, die auf einer nächsten Ebene ihrerseits nach Standards evaluiert und bewertet werden. Die Frage ist, wo und wie die Reihe dieser Standards der Standards zu einem Ende kommt (was offensichtlich der Fall ist, sobald wir in Theoriebildung und / oder Handlungen eintreten). Die Reihe der Standards kommt zu einem Abschluss, so die bereits betonte These, nicht in einem Himmel reiner Ideen, sondern in den in der Lebenswelt inkorporierten normativen Strukturen. In diesem Sinne kann die Lebenswelt als pragmatisch letzte Instanz der Begründung gelten. Der wichtige Aspekt ist, dass die im Folgenden angeführten Festlegungen, ohne die wir in den Wissenschaften gar nicht anfangen könnten, letztlich in der Lebenswelt verankert, situiert, eingebettet, fundiert sind. In Sachen Theoriebildung haben wir es mit mindestens den folgenden fünf Festlegungen zu tun12: (i) »ontologischen« Festsetzungen: Sie legen fest, welches die elementaren Gegenstände sind, auf die unsere epistemische Aufmerksamkeit bzw. unser Forschen gerichtet ist (wie z. B. Neuronen, Galaxien, Viren); (ii) »axiomatischen« Festlegungen, die für die Durchführung der Forschung als unabdingbar angesehen werden (wie z. B. in der Physik der Energieerhaltungssatz); (iii) Festlegungen hinsichtlich der »Erkenntnisquellen« und deren »Hierarchisierung«: Sie bestimmen, welche Rolle z. B. die Beobachtung, das Experiment, die Messung, die Evidenz, Tradition oder Autorität spielen und welchen dieser Wissensquellen ein Vorrang vor anderen eingeräumt wird; (iv) »judikalen« Festsetzungen: Sie legen fest, was als ein Beweis, als eine Begründung und als eine Kritik zählt, reglementieren also die Verfahren, mit denen die Aussagen einer Wissenschaft bewiesen oder widerlegt, verifiziert oder falsifiziert werden (wie z. B. durch empirische Beobachtung); (v) »normativen« Festsetzungen: Sie legen mit fest, warum bestimmte Theorien oder Theorieteile akzeptiert und anderen gegenüber ausgezeichnet werden. Hier sind unter anderem die Eleganz eines Beweises, die Einfachheit in der Organisation von Sachverhalten, die Widerspruchsfreiheit von Theorien oder Theorieteilen wichtig. Werden die genannten Festlegungen als methodologische Regeln verstanden, dann haben wir es innerhalb eines gestuften Modells mit Regeln erster Stufe und Regeln zweiter Stufe zu tun. Letztere enthalten diejenigen Verfahren, nach denen die Objektbezogenen Regeln erster Stufe gegebenenfalls verändert oder verworfen werden können. Geht es nun um die Begründung der Regeln zweiter Stufe, zeigt sich sehr schnell, dass diese Begründungen nicht auf der objektsprachlichen Ebene, sondern nur im Rekurs auf das Weltbild einer Zeit und Kultur gegeben werden können.13 Die Macht der Weltbilder kann verstanden werden als die Macht der Lebenswelten, die als Hintergrund-Stabilisatoren und in dieser Funktion als pragmatisch letzte Fundierungs- und Begründungsinstanzen fungieren. 12  Vgl. die Darstellung dieser Punkte bei H. Poser, Wissenschaftstheorie, 187 ff., und G. Abel, Zeichen der Wirklichkeit, 394 f. 13  Vgl. dazu im Einzelnen G. Abel, Zeichen der Wirklichkeit, Kap. 3.

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Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass alle fünf Arten von Festsetzungen so beschaffen sind, dass ihr öffentlicher (ihr intersubjektiv mit anderen Personen geteilter) Charakter ebenso offenkundig ist wie die Fundierung und Verankerung ihrer Geltung in der Lebenswelt, im Sinne der skizzierten pragmatisch letzten Begründungsinstanz. Das Scheitern und der Verlust der metaphysischen Letztbegründung ebenso wie der eines vermeintlich normativen Relativismus, überhaupt der Kollaps der ganzen Dichotomie von Letztbegründung und Relativismus, lassen die Lebenswelt als Instanz der Fundierung, Begründung und Geltung umso deutlicher hervortreten. Im Praktischen und in den Verhältnissen der gelebten Sittlichkeit liegt nach dem Zusammenbruch der Dichotomie von Letztbegründung und Relativismus / Partikularismus eine analoge Rückführung der Fundierung und Begründung der Normen moralischen Handelns in die Lebenswelt als letzter Instanz ebenfalls auf der Hand. Man denke etwa an die folgende Situation: ich komme an einem Autounfall vorbei, sehe sofort, dass die verletzte Person, das Unfallopfer, schnelle Hilfe benötigt, rufe über das Handy einen Krankenwagen und leiste Erste Hilfe. Obzwar ich selbst gerade von einer Tagung zum Thema Organspende komme, wo alle Teilnehmer, auch ich selbst, die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung zur Organspende beklagten, ist es doch so, dass ich angesichts der verletzten Person nicht einmal auf den Gedanken komme, dass vor mir ein nächster Organspender liege. Fragen wir nun, woher diese und vergleichbare Normen letztlich ihre Kraft besitzen, die unser Handeln bestimmen, und worauf letztlich ihre Geltung beruht, so kommen wir schnell zu der einfachen Einsicht, dass es die tief sitzenden normativen Strukturen unserer Lebenswelt sind, die hier als pragmatisch letzte normative Orientierungs- und Begründungsinstanz fungieren. Der moralphilosophisch entscheidende Punkt ist mithin, dass wir uns in einer moralischen Reflexion nicht gleichsam auf den ›höchsten, letztbegründenden Punkt‹ hinauf reflektieren und von dort dann in die Handlung eintreten. Entscheidend ist vielmehr, dass wir an die lebendige Sittlichkeit gelebter Lebenswelten andocken und von dort her und auf diese hin direkt handeln. In den zunächst noch ungegliederten Verhältnissen der Lebenswelt liegen letzte Instanzen auch ethischer Grundlegung und Geltung. Dies zu sagen verkennt keineswegs die zumal heute in der wissenschaftlich-technischen Welt so oft gegebenen Situationen, in denen angesichts mehrerer gleichermaßen legitimer moralischer Alternativen explizit Beratung und moralische Argumentation erfordert sind. Man denke beispielsweise an Entscheidungen in Bezug auf hoch invasive medizinische Eingriffe in das menschliche Leben oder an wissenschaftliche Forschungseingriffe an Tieren. Die Lebenswelt als Begründungsinstanz zu betonen verkennt auch keineswegs, dass in der Lebenswelt auch widersprüchliche Normen anzutreffen sind. Und auch heißt es nicht, dass am Ende einer moralischen Beratung und Argumentation eine und nur eine einzige gerechtfertigte Handlung steht. Aber es heißt zu sagen, dass die Frage der richtigen Standards und Entscheidungen ihre Antwort, wenn überhaupt, dann unter Rekurs auf bzw. unter wesentlicher Einbeziehung der in die Strukturen der Lebenswelt eingelassenen Normativität zu finden vermag, einschließlich drohender und irreduzibler Konflikte, Unentscheidbarkeiten sowie der individuellen Übernahme der Verantwortung für ein bestimmtes Handeln auch ohne letztinstanzliche, metaphysische Absicherung.

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5.  Lebenswelt und Wissenschaft Die Frage des Verhältnisses von ›Lebenswelt und Wissenschaft‹ kann entfaltet werden als die Frage nach dem Verhältnis von ›lebensweltlichem Wissen‹ und ›szientifischem Wissen‹. Darin ist vorausgesetzt, dass es unterschiedliche Formen des Wissens gibt (z. B. theoretisches, praktisches, moralisches, ästhetisches Wissen) und dass ›szientifisches‹ Wissen eine dieser Formen ist, nicht die überhaupt einzige metaphysisch seriöse. Und vorausgesetzt ist weiterhin, dass ›lebensweltliches Wissen‹ in ein Verhältnis der wechselseitigen Herausforderung mit ›szientifischem Wissen‹ treten kann und in vielen Fällen auch tritt. Lebensweltliches Wissen wird im vorliegenden Zusammenhang vor allem nach der Seite des in gelebten, vor-prädikativen, in den Lebensvollzügen inkorporierten Wissens im Sinne des Könnens sowie der menschlichen Fähigkeiten und praktischen Kompetenzen des ›Wissen-Wie‹ akzentuiert. Dass lebensweltliches Wissen in vielen Fällen sehr wohl prädikative und propositionale Züge hat, wird im Augenblick also nicht weiter verfolgt. Dagegen wird szientifisches Wissen im vorliegenden Zusammenhang akzentuiert nach der Seite der Form von Wissen, die sprachlich mitteilbar, prädikativ verfasst, buchstäblich denotierend, digitalisierend und propositional ausdrückbar im Sinne eines ›Wissen-Dass‹ ist. Nicht weiter verfolgt wird, dass in szientifisches Wissen auch Komponenten des Könnens und der praktischen Fähigkeiten eingehen. Eine feinkörnigere Betrachtung würde zutage fördern, dass innerhalb der beiden Formen von Wissen, des lebensweltlichen und des szientifischen Wissens, jeweils mehrere Komponenten sichtbar werden. Es geht also nicht um eine irgendwie geartete Dichotomie von lebensweltlichem und szientifischem Wissen. So werden bei näherem Hinsehen hinter der abkürzenden Rede von ›lebensweltlichem Wissen‹ sehr unterschiedliche Aspekte sichtbar, etwa »Knowing-how«- und »Knowing-that«-Aspekte, einfache Heuristiken, Faustregeln und anderes. Ebenso treten hinter dem Etikett ›szientifisches Wissen‹ recht unterschiedliche Ingredienzen zutage, zum Beispiel die auf sinnlichen, beobachtbaren Evidenzen und / oder praktischen Fertigkeiten oder nichtsprachlichen, etwa diagrammatischen oder bildgebenden Verfahren beruhenden Komponenten der Akzeptabilität szientifischen Wissens. ›Szientifisches Wissen‹ wie ›lebensweltliches Wissen‹ sind nur als sprachliche Ausdrücke eine Einheit.14 »Lebenswelt und Wissenschaft« lautet das Thema des ›XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie‹ (2008) insgesamt. Es spielt deutlich auf Husserls Auffassung des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft an. Dabei ist wichtig zu sehen, dass

Im Anschluss an den Artikel von J. Stanley und T. Williamson, »Knowing How«, hat in der analytischen Philosophie der letzten Jahre die Vorstellung erneut Karriere gemacht, dass von einem systematischen Vorrang des »knowing-that« vor dem »knowing-how« und sogar davon auszugehen sei, dass »All knowing-how is knowing-that« (a. a. O., 444). Diese Auffassung teile ich nicht. Auf dem Boden und mit den Instrumenten der Zeichen- und Interpretationsphilosophie werde ich an anderer Stelle einen Beitrag vorlegen, der nicht nur die vermeintliche Priorität des »knowing-that« vor dem »knowing-how«, sondern die Architektur der gesamten Problemlage selbst zu reformulieren und darin zugleich das klassische Modell der Erkenntnistheorie zu unterlaufen versucht. Vgl. G. Abel, »Das Wechselspiel der Wissensformen«. 14 

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Husserl ›Lebenswelt‹ nicht einfach als einen Bereich sozialer Tatsachen auffasst, die dann etwa in der Soziologie zum Thema wissenschaftlicher Forschung gemacht werden könnten. Entscheidend ist vielmehr, dass ›Lebenswelt‹ die Form, das Netzwerk und den Hintergrund derjenigen kognitiven Einstellungen, Erlebnisse und Erfahrungen meint, die es dem Menschen erlauben, sich auf seine Welt zu verstehen, sich in ihr zu orientieren und seine praktischen Absichten, seine ethischen, kognitiven und aufklärerischen Aktivitäten umsetzen zu können. Wissenschaften haben eine lebensweltliche Verankerung (auch wenn diese, wie schon Husserl kritisierte, nicht immer auch präsent ist). Freilich dürfen die Wissenschaften – und ich füge hinzu: die Technologien – sich nicht, ebenfalls schon Husserls Diagnose, zu weit von ihren lebensweltlichen Fundamenten entfernen. Denn dann können die Erfolge der Wissenschaften und Technologien nur noch schwer oder schließlich gar nicht mehr in Lebensformen und lebensweltliche Sinnkonzepte integriert werden. Sie werden dann leicht entweder zu einem Mirakel oder drohen, im Grenzfall, in ein gnostisches Syndrom der Fremdheit und Weltverlorenheit zu führen.15 Das heißt nicht, dass wir alle Meinungen und Überzeugungen, die in Lebenswelten anzutreffen sind, automatisch für gerechtfertigt und rational halten müssten. Aber die Standards der Rechtfertigung und der Rationalität von kognitiven, operativen, strategischen, ethischen Einstellungen und Handlungen finden ihren pragmatischen Abschluss in den internen Strukturen der Lebenswelt selbst. Dies schließt ein, dass solcher Abschluss stets nach Menschenmaß und auf Zeit erfolgt. Gleiches gilt für unsere menschlichen Wissensordnungen und deren Transformationen. Konsequenter Weise sind sie Ordnungen und Transformationen nach Menschenmaß.16 Auf diese Weise rückt die Lebenswelt in die Rolle der Begründungsinstanz,  – stets allerdings unter Einschluss der Möglichkeit, die in ihr sitzenden Normen auch einer diskursiven und damit einer Prüfung auf Rationalität im engeren Sinne unterziehen zu können. Nicht alle Normen einer Lebenswelt sind vernünftig. Bei näherer Prüfung und Analyse können sich Widersprüche zeigen, die wir so bislang nicht gesehen hatten. Aber alle vernünftigen Normen haben ihren pragmatisch ›letzten‹ Sitz in der Lebenswelt. Es ist diese Differenz, die in der kritischen Prüfung zutage tritt. In ihr kann es nicht um eine erneut externe Instanz der Begründung gehen. Unter kritischem Vorzeichen kann akzeptable Begründung stets nur interne Begründung sein. Die Lebenswelt kann als ein zunächst noch ungegliedertes, noch nicht aufgetrenntes, kontinuierliches Geflecht von Lebens-, Welt-, Fremd-, Selbst- und Handlungsverhältnissen angesehen werden. Man bemerkt sie zunächst nicht explizit. Aber es sind letztlich diese noch ungegliederten Verhältnisse, aus denen heraus und auf die hin sich unsere im weiten Sinne kognitiven ebenso wie unsere moralischen Unterscheidungen und fortschreitend feinkörnigeren Differenzierungen entwickeln. Die Kontinuitäten der

15 

Zum Verhältnis von Lebenswelt und Technologie vgl. G. Abel, »Technik und Lebens-

welt«. Vgl. dazu G. Abel, »Die Transformation der Wissensordnungen und die Herausforderungen der Philosophie«. 16 

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Lebenswelt werden durch unsere im engeren Sinne kognitiven Unterscheidungen mit Hilfe von zerteilenden Prädikaten, Begriffen und Urteilen und durch unsere praktischen Handlungen gleichsam digitalisch aufgebrochen. Das ist der Übergang vom ›Sehen einer Wiese‹ zum ›Sehen einer grünen Wiese‹ und weiter zum ›Sehen, dass die Wiese grün ist‹. Dieses Aufbrechen der kontinuierlichen Verhältnisse, der lebensweltlichen Kontinuitäten, setzt sich fort bis in die Bildung explizit symbolisierender Zeichen, bis in die Formulierung expliziten Wissens, bis in die Formulierung buchstäblich denotierenden Wissens in szientifischen Theorien und bis in die Symbolismen von Mathematik und formaler Logik. All diese zunehmend spezifischeren Aktivitäten haben stets bereits eine (wenngleich noch weitgehend unaufgeklärte) Genealogie aus Lebenswelten hinter sich. Und sie bleiben mit der Lebenswelt verbunden, nicht zuletzt in den Standards der Geltung und im Blick darauf, dass letztlich doch alle kognitiven und praktischen Tätigkeiten des Menschen dazu dienen, unsere Lebens- bzw. Zeichen-und-Interpretationswelten flüssig funktionierend zu halten und diese Prozesse des flüssigen Funktionierens selbst zugleich auch besser verstehen und beschreiben zu können. Insofern dienen auch alle segmentierenden und digitalisierenden, alle unsere ungegliederten Lebensverhältnisse aufbrechenden Unterscheidungen und Eingriffe letztlich dem Leben, der Intensivierung und Erweiterung der Möglichkeiten menschlicher Lebensvollzüge. Als Beispiel denke man heute etwa an die Entwicklung von Kommunikationstechnologien, einschließlich des Internets, aus Lebenswelten heraus und auf diese hin bzw. hinsichtlich ihrer Rückwirkungen auf die Strukturen von Lebenswelten. In diesem Sinne erfolgen auch die kognitiven Leistungen des Menschen aus Lebenswelten heraus und auf diese hin (– wobei ich ›kognitive‹ und ›Kognition‹ hier im weiten Sinne all derjenigen menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten verstehe, die in der Intersubjektivität sowie an den Schnittstellen zwischen den Subjekten und der Welt verbindende und orientierende Kraft besitzen). Eines von mehreren in diesem Zusammenhang spannenden Szenarien ist das folgende. Einerseits versuchen wir mit unseren digitalisierenden Zeichen (das heißt mit den in ihren syntaktischen, semantischen und pragmatischen Funktionen digitalisierend wirkenden Zeichen) Repräsentationen der noch ungegliederten Verhältnisse der Lebenswelt zustande zu bringen. Andererseits werden in der Zeichenbildung und im Zeichenhandeln gliedernde und auftrennende kognitive Strukturen gelegt. Daher müssen wir auch die Frage stellen, wie viel von den noch ungegliederten Lebensverhältnissen einer Lebenswelt in den nicht mehr ungegliederten und nicht mehr kontinuierlich verfassten Zeichen selbst überhaupt repräsentiert, erfasst, beschrieben, theoretisch oder normativ dargestellt werden kann? In der Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist dies eine der grundlegendsten Fragen überhaupt. Der unverzichtbare Schritt in die Verwendung symbolisierender und digitalisierender Zeichen bedeutet so in einer Hinsicht einen Gewinn, in einer anderen Hinsicht einen Verlust. Der Gewinn liegt im Zuwachs an diskursiver Klärung und kognitiver Beschreibung. Der Verlust ist mit der phänomenalen und semantischen Ausdünnung der mit den noch ungegliederten Verhältnissen gegebenen Dichte und Fülle durch diskursive, vor allem prädikativ-propositionale Zeichen gegeben.

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In diesem Zusammenhang ist auch der besondere Charakter lebensweltlicher Einstellungen und Überzeugungen hervorzuheben. Als Beispiel einer lebensweltlichen Einstellung sei z. B. unsere Überzeugung angeführt, dass Personen sich nicht bloß nach dem physiologischen Reiz-Reaktions-Schema verhalten, sondern auch aufgrund von Gründen, von normativen Regeln in einer bestimmten Weise agieren. Solcherart lebensweltliche Einstellungen und Überzeugungen beruhen auf praktischen Erfahrungen im Zusammenleben zwischen Individuen / Personen. Menschen tun beispielsweise etwas Bestimmtes, weil sie einen bestimmten Wunsch haben. So nimmt Onkel Paul den Hut vom Hutständer, weil er den Wunsch hat, jetzt mit Dackel Waldi seinen Nachmittagsspaziergang zu machen. Dieses »weil« ist offenkundig keine szientifische Erklärung des Verhaltens von Onkel Paul (keine physikalistische Erklärung zum Beispiel, die letztlich bis auf die Ebene der Elementarteilchen zurückgehen müsste und aus deren Konstellation dann die zu erwartende Handlung von Onkel Paul, dass er nämlich gleich die Tür öffnen und spazieren gehen wird, explanatorisch und prognostisch sicher abzuliefern hätte). Der Sitz der lebensweltlichen Überzeugungen und entsprechend auch der Erklärungen und Prognosen im Sinne unseres Common Sense und unserer Alltagspsychologie (die bei vielen, und nicht nur bei Szientisten, zur Zeit keine gute Presse hat) in der Lebenswelt wird an diesem Beispiel unverkennbar. Die Prognose- und Erklärungskapazität der Alltagspsychologie bzw. (um psychologistische Verkürzungen zu vermeiden) des Common Sense in Bezug auf das, was Onkel Paul gleich tun wird, ist um ein Vielfaches höher, gigantisch treffsicherer als die Leistung der erhofften rein szientifischen Erklärung und Prognose der Handlung, z. B. einer neurobiologischen, einer neurochemischen oder einer physikalistischen. Eine lebensweltliche Einstellung und Überzeugung ist z. B. auch die, dass wir uns und anderen Personen, gelegentlich zumindest, den ›freien Willen‹ unterstellen, in eine Handlung einzutreten oder sie zu unterlassen. So unterstellen wir, dass Menschen aus freien Stücken Teilnehmer an Handlungen und Praktiken (z. B. an einem Marathonlauf) sein können oder nicht. Auch unterstellen wir, dass Personen als Adressaten von Normen, Aufforderungen, Geboten und Befehlen angesehen werden können.17 Wir schreiben uns selbst und anderen Personen diese lebensweltlich verankerten Fähigkeiten, Einstellungen und Überzeugungen zu, auch um uns überhaupt einen Reim darauf machen zu können, dass wir uns auf andere Personen, auf uns selbst und auf unsere Welt verstehen und uns ihnen gegenüber und in ihr orientieren, mit ihnen und ihr zurechtkommen. Ohne lebensweltliche Annahmen fänden wir uns selbst und die anderen Personen gar nicht verständlich, fehlte uns die Orientierung in der Welt. Und diese eminent wichtige Funktion kann von rein szientifischen Beschreibungen und Erklärungen nicht, jedenfalls nicht ohne signifikante Verluste, Erklärungs- und Prognoselücken übernommen werden. Die Lebenswelt sowie ihre Einstellungen und Annahmen sind vor-theoretischen Charakters, bleiben zugleich jedoch in jeder szientifischen Beschrei-

Zum Verhältnis von Wissenschaft und menschlichem Selbstverständnis vgl. L. Wingert, »Lebensweltliche Gewissheit versus wissenschaftliches Wissen?« 17 

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bung vorausgesetzt, die sich an lebensweltliche Überzeugungen anschließt oder von diesen abgrenzt. Lebensweltliches Wissen kann als Wissen im weiten Sinne von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Können, aber auch als ein implizites Wissen gedacht werden, das in vielen Fällen sehr wohl auch in propositionale Aussagen transferiert werden kann (wie z. B. die Aussage, dass Personen gelegentlich aufgrund von Wünschen und Überzeugungen handeln). Das szientifische Wissen ist demgegenüber Wissen im engeren Sinne der an methodische Verfahren, Begründungen, Rechtfertigungen, empirische Evidenzen, Wiederholbarkeit des Experimentes gebundenen Vorgehensweisen. Dass lebensweltliche Einstellungen, Unterstellungen und Annahmen in Konflikt mit strikt szientifischen Beschreibungen und Erklärungen treten können, liegt in vielen Fällen offen zutage. Man denke beispielsweise an die neurobiologisch fundierte Leugnung der menschlichen Willensfreiheit in den gegenwärtigen Debatten zwischen Hirnforschung und Philosophie. Gleichwohl gilt grundsätzlich: Lebensweltliches Alltagswissen und szientifisches Wissen sind in vielen Fällen drehtürartig ineinander verschränkt, voneinander abhängig und aufeinander angewiesen, wenn anders Wissenschaft nicht unverstanden gleichsam in der Luft hängen soll.

6.  Lebensweltliche Erfahrungen und die irreduzible Pluralität von Sprach- und Zeichenspielen Die Frage des Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft kann auch als Frage des Verhältnisses von ›lebensweltlicher Erfahrung‹ und ›wissenschaftlicher Erfahrung‹ thematisiert werden. Lebensweltlich-alltagssprachliche Erfahrungen, etwa ästhetische, moralische oder religiöse Erfahrungen scheinen sich der Darstellung in propositionalen Aussagen eigentümlich zu entziehen. Mit dieser Feststellung meine ich jedoch keineswegs, dass lebensweltliche Erfahrungen stets nicht-propositional seien. Das sind sie offenkundig nicht. Doch sie widerfahren eher passivisch als dass sie aktivisch und / oder urteilsgrammatisch hergestellt werden. Sie scheinen schwer fassbar, elusive sich teils ganz der Artikulation in einer Sprache zu entziehen. Demgegenüber werden wissenschaftliche Erfahrungen gezielt herbeigeführt (z. B. in Experimenten, Laboren, Beobachtungen, Messungen, Interventionen in Materie, Leben, Intelligenz, Gehirn und Lebenswelt). Zugleich sind sie auf methodisch geordnete Vorgehensweisen gebaut und an wissenschaftliche Begründung, Erklärung und Prognose gebunden. Lebensweltliche Erfahrungen dagegen treten nicht in Form von Theorien auf. Sie sind vor-theoretischer Art, eingekapselte Heuristiken einer hoch wirksamen Art, die unsere lebensweltlichen Einstellungen, Überzeugungen und Handlungen formen, gleichsam  – im älteren Bild von ›Theorien‹ gesprochen – subkutane ›kleine Theorien‹ einer besonderen und weitgehend noch unaufgeklärten Art.18 Wie bereits betont zeigt eine feinkörnigere Betrachtung, dass es sich bei lebensweltlichem Wissen ebenso wie bei lebensweltlicher Erfahrung nicht um ›Theorien‹ im engeren terminologi18 

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Letzteres Bild erlangt eine gewisse Attraktivität, wenn wir erneut die bereits angeführte und auffallend hohe Erklärungs- und Prognosekapazität betrachten, die mit unseren lebensweltlich-alltagssprachlichen und alltagspsychologischen Erfahrungen verbunden ist. Erinnert sei erneut an das Beispiel der Erklärung und Prognose des Verhaltens von Onkel Paul, der seinen Hut nimmt, um den Nachmittagsspaziergang zu beginnen. Hier liegt die Erklärungs- und Prognosekapazität effektiv so hoch, dass man – gefangen noch im Bild, dass starke Erklärung und Prognose szientifischen Charakters sein müsse – durchaus auf den Gedanken kommen kann, in solch erfolgreicher Alltagspsychologie stecke viel Wissen und Theorie um die lebensweltlichen, existenziellen, Erfahrungs- und Erlebnis-bezogenen Dinge. Manches spricht für eine solche Sicht, obwohl die Verhältnisse des Übergangs ebenso wie die der Grenze zwischen Lebenswelt und Wissenschaft nach wie vor unaufgeklärt sind. Auf sprach- und zeichenphilosophischer Ebene kann die Frage des Verhältnisses von lebensweltlicher und wissenschaftlicher Erfahrung als Frage des Verhältnisses unterschiedlich profilierter Sprach- und Zeichenspiele gefasst werden. Dabei geht es um lebensweltliche Sprach- und Zeichenspiele (z. B. das ästhetische, das moralische, das religiöse) in ihrer Beziehung zu den szientifischen Sprachspielen (z. B. dem neurobiologischen, dem physikalischen, dem mathematischen). Die beiden Arten von Sprachspielen können und müssen zum einen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Zum anderen aber sind sie nicht verlustfrei, nicht frei von Unbestimmtheiten ineinander übersetzbar. Und schon gar nicht kann das eine Sprach- und Zeichenspiel auf das andere zurückgeführt oder durch dieses substituiert werden. Es ist kein Zufall, dass es bislang noch niemandem gelungen ist, ein lebensweltliches Sprachspiel gänzlich verlustfrei in ein szientifisches zu übersetzen (oder umgekehrt) und die dazu erforderlichen Regeln der Übersetzung anzugeben. Wohlgemerkt: das heißt nicht, dass die beiden gänzlich inkommensurabel und inkompatibel sowie gegeneinander völlig isoliert wären. Das ist offenkundig nicht der Fall. Denn wir können über sie und ihre Unterschiede sprechen, können sie wechselseitig in ein Gespräch bringen, selbst in ein solches eintreten und tun dies in vielen Fällen auch. Aber es muss darauf bestanden werden, dass wir es mit einer irreduziblen Pluralität gleichermaßen legitimer Sprachspiele zu tun haben, dass die Sprachspiele nicht isomorph aufeinander abgebildet werden können, dass die unterschiedlichen Sprachspiele nicht frei von Unbestimmtheit und nicht im Rekurs auf so etwas wie eine metaphysische Übersetzungsmaschine ineinander übersetzt werden können. Bei näherem Hinsehen beginnen die Schwierigkeiten sogar bereits eine Stufe vorher. Wir wissen nämlich noch keineswegs, wie lebensweltliche und szientifische Sprach- und Zeichenspiele sowie die diesen intern zugehörigen Wissensformen gegeneinander abzugrenzen und in ein Verhältnis zueinander zu setzen sind. Strenggenommen wissen wir noch nicht einmal, was genau ein lebensweltliches und / oder ein szientifischen Sinne und auch nicht um eingekapselte instrumentalistische Kalküle handelt. Vielmehr geht es um eine noch unaufgeklärte Gemengelage von Heuristiken, Faustregeln, Formen des Wissens-wie und des Wissens-dass, sprachlichen und nichtsprachlichen Wissensformen sowie deren Wechselspiele.

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sches Sprachspiel ist. Jedenfalls sind beide keineswegs einfache homogene Gebilde. Die damit gegebenen offenen Fragen zählen gegenwärtig mit zu den wichtigsten Desideraten der sprach-, zeichen- und interpretations-philosophischen Forschung. Insbesondere ist offen, wie genau die Verhältnisse gefasst werden können zwischen den unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissensformen (z. B. zwischen einer religiösen, einer ästhetischen, einer moralischen und einer szientifischen Erfahrung, Weltsicht und Weltbeschreibung). Auch ist bislang ungeklärt, welcher Art die Wechselspiele und Interpenetrationen der unterschiedlichen Weisen der Erfahrungen in den tatsächlichen Vollzügen menschlicher Lebenswelten sind. Und in all dem manifestiert sich offenkundig etwas von der bei Nelson Goodman19 so sehr ins Zentrum gerückten Frage des Verhältnisses zwischen der Verwendung ›symbolisierender Zeichen‹ und den in diesen Verwendungen individuierten symbolischen Welten, unseren wirklichen Welten, auf die wir uns gut verstehen, mit denen wir zurechtkommen und in denen wir uns erfolgreich orientieren können. Im Blick auf unsere Welt bzw. unsere Welten haben wir es darüber hinaus mit dem ebenfalls unaufgeklärten Verhältnis zwischen dem zu tun, was in solcherart lebensweltlichen symbolischen Welten ›konstruiert‹ und dem, was im Zuge eben solcher symbolisierender Konstruktion ›entdeckt‹ wird, mit dem drehtürartigen (nicht-oppositiven und nicht-dualistischen) Verhältnis von welterschließender Konstruktion und darin zustande gebrachter Entdeckung. Im Lichte der Leitfrage des ›XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie‹ insgesamt (»Lebenswelt und Wissenschaft«) stehen die einzelnen Vorträge des Kolloquiums 6 »Sprache und Kommunikation« in einem Zusammenhang mit den hier bislang erörterten Themen. So ist die Frage des Verhältnisses von Konstruktion und Entdeckung mit der des Verhältnisses von Wissenschaft und Lebenswelt und der möglichen Begründungsrolle der Lebenswelt verbunden. Dass Husserls Konzept der Lebenswelt als letzte Instanz der Begründung fungieren kann, wird von Dagfinn Føllesdal mit Blick vor allem auf die wissenschaftliche Erfahrung in seinem Kolloquiums-Beitrag »Husserls Begriff der Lebenswelt« überzeugend dargelegt. Am Beispiel der lebensweltlichen religiösen Erfahrung und der lebensweltlichalltäglichen religiösen Sprache kann Hans Julius Schneider in seinem Vortrag »Unsagbarkeit und religiöse Erfahrung. Ludwig Wittgensteins Überwindung des Darstellungsparadigmas« für den Bereich der religiösen Erfahrung den spezifischen Charakter lebensweltlich-alltagssprachlicher Erfahrungen gut verdeutlichen. Schneider verwendet den Begriff der ›religiösen Erfahrung‹ (W. James) so, dass verständlich wird, dass es sich hier um wirkliche Erfahrungen handelt. Im Anschluss an die Sprachphilosophie des späten Wittgenstein macht er darüber hinaus deutlich, dass religiöse Erfahrung damit keineswegs ins Unaussprechliche abgleitet. Vielmehr ist es möglich, über religiöse Erfahrung sinnvoll und kommunikabel zu sprechen, sofern nämlich diejenigen Sprachformen unseres lebensweltlich situierten Sprechens betont werden, die nicht mehr dem Darstellungsparadigma sowie dem Modus der Gegenständlichkeit verpflichtet sind. Vgl. N. Goodman, Ways of Worldmaking; ders., The Structure of Appearance. Vgl. auch G. Abel, Interpretationswelten. 19 

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Ein anderer und ebenfalls noch weitgehend unaufgeklärter Aspekt des Verhältnisses von Lebenswelt und Sprache betrifft die Frage des sprachlichen Inhaltsverstehens. Diese kann als Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Bedeutung, Inhalt und Inferenz, »semantischen Schlussnormen« und »faktischem Schließen« entfaltet werden. Diesen Verhältnissen nachzugehen ist das Ziel des Kongress-Beitrags von Pirmin Stekeler-Weithofer »Wissen und Begriff. Zum normativen Status generischer Sätze«. Das sprachliche Inhaltsverstehen wird von Stekeler-Weithofer im Anschluss an Positionen Robert Brandoms und anderer so gesehen, dass es in einem »gemeinsam kontrollierten generischen Wissen und kooperativen Können« bestehe. Im Kern geht es hier um die Frage des Verhältnisses zwischen dem logischen Denken im engeren Sinne des formalen Schließens und dem logischen Denken des »Volksmundes«, wenn dieser auf seine Weise etwa Ereignisse identifiziert und deren Ursachen ermittelt. In der Sicht und im Vokabular der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie könnte man das Verhältnis, um das es hier geht, auch als Verhältnis zwischen der ›kleinen Logik‹ (des regelgeleiteten prämissenfolgernden gültigen Schließens) und der ›großen Logik‹ (dem lebensweltlich geformten Geben und Akzeptieren von Gründen sowie der Explikation derjenigen Präsuppositionen und Muster, die sinnlogisch und faktisch das flüssige Verwenden- und Verstehenkönnen von Zeichen ermöglichen und gewährleisten) fassen. 20 Anders formuliert geht es um das Verhältnis des expliziten diskursiven Denkens zur Logik der Lebenswelt. Im Unterschied zum Inferentialismus Brandomscher Prägung legt die Zeichen- und Interpretationsphilosophie den Akzent stärker auf zwei Aspekte. Zunächst auf die Transformation der Frage nach dem ›Sinn der Logik‹ zur Frage nach der ›Logik des Sinns‹. Sodann auf eine Konzeption des grundlegenden Verhältnisses von Zeichen und fortsetzendem bzw. anschließendem Folgezeichen, welches Verhältnis nicht inferentialistisch und nicht deterministisch, weder kausal noch logisch determiniert verstanden wird. In beiden Hinsichten (Logik des Sinns; Verhältnis Zeichen-Folgezeichen) erweist sich auch in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie die Lebenswelt in ihrer Verfasstheit als Zeichen- und Interpre20  Vgl. dazu G. Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, Register »Logik, kleine / große«. Des näheren unterscheide ich dort »große«, »mittlere« und »kleine Logik«, vgl. insbesondere 81 f. Unter der »kleinen« Logik verstehe ich die Logik im Sinne des Zeichen-Deutens und des korrekten prämissenfolgernden Schließens. Unter der »mittleren« Logik kann man die Logik im Sinne des Aufstellens von Listen zugelassener Zeichen verstehen, in Bezug auf die z. B. die Frage gestellt werden kann, ob man alle darin möglichen Wahrheiten formalisieren und alle entsprechenden Sätze entscheiden kann. Die berühmten Fragen der Vollständigkeit und der Entscheidbarkeit gehören in diesen Bereich. Zur mittleren Logik gehört zugleich die Metalogik im Sinne der Lehre von den philosophischen Grundlagen, d. h. den formalen Voraussetzungen des Logikkalküls. Die »große« Logik und deren implizite Regularität des Zeichen-Vollzugs liegen dem erfolgreichen Zeichengebrauch der mittleren und kleinen Logik bereits zugrunde. Deshalb kann sie in diesen nicht ausgedrückt werden. Die große Logik ist selbst kein Gegenstand der semantischen Logik, wohl aber deren Bedingung der Möglichkeit. Die große Logik ist, als transzendentale Zeichenund-Interpretations-Logik, Bedingung sowohl für Verständigung und Aussagen als auch für das, was als ›gegeben‹ und als ›wahr‹ gelten kann. In diesem Sinne ist sie eng mit dem verbunden, was man im Unterschied zum »logischen« das »lebensweltliche Apriori« (Husserl), das vor der kleinen und mittleren Logik liegende Apriori der Lebenswelt, nennt.

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tationswelt als der Stabilisator und Garant für das flüssige und semantisch gehaltvolle Funktionieren unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Erkennens ebenso wie als pragmatisch letzte Instanz der Begründung.

7.  Selbstverständnis der Philosophie In der Frage des internen Zusammenhangs von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft geht es offenkundig nicht um einen Nebenschauplatz und nicht um eine bloß kleine Stellschraube innerhalb der Philosophie. Offenkundig geht es in jedem der sechs angeführten Punkte auch um das Selbstverständnis der Philosophie selbst. Denn je nach dem, wie die Antworten ausfallen, haben wir es mit einem unterschiedlichen Verständnis von Philosophie zu tun. Ein Aspekt zieht sich jedoch quer durch alle genannten Punkte: Philosophie hat im Kern damit zu tun, die Prozesse, Standards und semantischen Merkmale unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Erkennens in ihren internen und nach wie vor noch weitgehend unaufgeklärten Beziehungen zu den zunächst ungegliederten Verhältnissen unserer Lebenswelten zu verdeutlichen. Darüber hinaus hat Philosophie sich an der normativen Frage abzuarbeiten, wie wir unser Leben in Theorie und Praxis richtig führen können. Das Programm der Zeichen- und Interpretationsphilosophie läuft in Bezug auf diese Frage darauf hinaus, dem Menschen Mittel bereitzustellen, die es ihm ermöglichen, Störungen in Verständigungs-, Weltbezugs- und Handlungsverhältnissen so zu beseitigen, dass das flüssige Funktionieren unserer Alltagspraxis und Lebenswelt wiederhergestellt wird. 21 Im Kern heißt dies, ein Zeichen-interpretierendes Verfahren zur Klärung der fraglich gewordenen semantischen und pragmatischen Merkmale von Sprache, Kommunikation und Handlung bereitzustellen. Dies schließt ein, die Intersubjektivität zwischen den beteiligten Personen ebenso wiederherzustellen wie deren Verhältnis zur Welt. Nicht zuletzt in der Bereitstellung eines solchen Verfahrens besteht die humane Funktion der Philosophie.

Literaturverzeichnis Abel, Günter: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M. 1995. Abel, Günter: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M. 1999. Abel, Günter: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2004. Abel, Günter: »Technik und Lebenswelt. Wechselseitige Herausforderung?«, in: Hans Poser (Hg.): Herausforderung Technik, Frankfurt a. M. 2008, 77–96. Abel, Günter: »Mondi dei segni e dell‘interpretazione: la sfida del relativismo«, in: Luigi Ruggiu / Francesco Mora (Hgg.): Identità Differenze Conflitti, Milano 2007, 131–145. 21 

Vgl. dazu G. Abel, Zeichen der Wirklichkeit, 310–315.

Einführung

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Husserls Begriff der Lebenswelt Dagfinn Føllesdal

Die Lebenswelt ist ein umfassendes Gebiet bei Husserl und ich werde mich auf ein einziges, aber zentrales Thema im Zusammenhang mit der Lebenswelt konzentrieren: ihre Rolle als letzte Begründungsinstanz. Ich werde versuchen zu zeigen, dass Husserl eine Theorie der Begründung hat, die derjenigen ähnelt, die später von Nelson Goodman und auch John Rawls vorgeschlagen wurde und die ich, Rawls folgend, eine Theorie des reflexiven Gleichgewichts nennen will. Husserl so zu interpretieren, ist aus zwei Gründen bedenklich: Erstens widerspricht meine Interpretation allen Husserl-Interpretationen, die ich kenne. Gewöhnlicherweise sieht man in Husserl einen sehr fundamentalistischen Philosophen, in dem Sinne, dass er behauptet haben soll, dass man eine unfehlbare, absolut sichere Einsicht erreichen kann, auf der das Übrige unseres Wissens aufgebaut werden kann. Ich werde mich darum bemühen, meine Interpretation reichlich mit Zitaten aus Husserl's Schriften zu belegen, und hoffe, dass dies meinen Vortrag nicht zu schwerfällig machen wird. Zweitens hat Ernst Tugendhat scharfe Einwände gegen die Theorie des reflexiven Gleichgewichts der Begründung gerichtet. Ich werde aber zu zeigen versuchen, dass Husserl sehr interessante Reflexionen über Begründungen dieser Art gemacht hat, Reflexionen die in wichtiger Weise auf seinem Begriff der Lebenswelt beruhen und die auch ein besseres Verständnis dieser Begründungsweise ergeben kann, als diejenige, die von Goodman und Rawls und anderen zeitgenössischen Philosophen vorgebracht worden ist. Husserls Idee von der Lebenswelt hat viel mehr Aufmerksamkeit erregt als irgendeine seiner anderen Ideen. Husserl hat vom zunehmenden Interesse an den verschiedenen Lebensphilosophien profitiert, die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit William James und Bergson und hier in Deutschland mit Dilthey, Avenarius, Simmel und vielen anderen begonnen haben. Dieses Interesse an den verschiedenen Lebensphilosophien hat nach dem 2. Weltkrieg stark zugenommen. Ich werde mich hier nicht mit der Herkunfts- oder der Entwicklungsgeschichte des Begriffs der Lebenswelt befassen, sondern mich auf den Gebrauch, den Husserl davon gemacht hat, konzentrieren und insbesondere auf die heiklen Stellen in seinem Werk eingehen, wo die Interpretationen in verschiedenen Richtungen gehen oder wo die volle Bedeutung seiner Idee noch nicht in vollem Umfange anerkannt worden ist. Husserl hat dem Begriff der Lebenswelt sehr große Bedeutung beigemessen. Er betrachtete ihn als besonders geeignet, um ein volles Verstehen der zentralen Ideen der Phänomenologie zu erreichen, obwohl das Wort ›Lebenswelt‹ sehr spät in seiner Philosophie erscheint – Husserl war bereits sechzig Jahre alt, als er das Wort in einem Manuskript von 1917zum ersten Mal benutzte. Die Probleme der Lebenswelt sind sehr eng mit dem zentralen Thema der Phänomenologie verbunden, dem der Intentionalität. Um

Husserls Begriff der Lebenswelt

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die Lebenswelt mit all ihren Nuancen richtig zu verstehen, ist es wichtig, die Verbindungen zwischen der Lebenswelt und den anderen Teilen der Husserlschen Philosophie zu kennen, insbesondere Husserls Theorie der Intentionalität. Ich werde darum als erstes mit einigen Worten auf die Intentionalität eingehen. Nach dieser kurzen Übersicht über die Hauptideen der Husserlschen Phänomenologie werde ich dann auf die Lebenswelt zurückkommen.

1. Intentionalität Wie Sie alle bereits wissen behauptete Husserl ebenso wie sein Lehrer Brentano, dass Bewusstsein durch eine bestimmte Art der Gerichtetheit charakterisiert ist. Es scheint immer ein Objekt zu geben, auf das sich Bewusstsein richtet und von dem wir Bewusstsein haben. Brentano versuchte diesen Begriff der Gerichtetheit zu klären, indem er sich auf das Objekt konzentrierte. Er kam jedoch in ernsthafte Schwierigkeiten bei Fällen, wo es kein solches Objekt gibt, wie im Falle von Halluzinationen oder wenn sich jemand einen Pegasus vorstellt. Man mag versucht sein, diese Schwierigkeiten dadurch zu überwinden, dass man behauptet, die Objekte unseres Bewusstseins seien nicht real, sondern in irgendeiner Weise in unserem Bewusstsein enthalten, was immer dies auch bedeuten mag. Allerdings führt ein derartiges ›Verwässern‹ der Objekte trotzdem zu Schwierigkeiten bei vielen anderen Akte, z. B. bei Akten der normalen Wahrnehmung. Es scheint dieser Sicht gemäß so zu sein, dass wir, wenn wir einen Baum sehen, nicht den realen Baum vor uns wahrnehmen, sondern etwas anderes, was wir auch gesehen hätten, würden wir halluzinieren. Somit führt die Ansicht, jeder Akt habe ein Objekt, auf das er sich richtet, zu einem Dilemma. Husserl löste dieses Dilemma, indem er eine Analyse des Bewusstseins vorschlug, wo es nicht mehr entscheidend ist, dass es ein Objekt gibt, auf das sich der Akt richtet, sondern wo die Aufmerksamkeit vielmehr darauf konzentriert wird, worin die Gerichtetheit besteht, welche Züge des Bewusstseins es sind, die ausmachen, dass das Bewusstsein immer auftritt, als sei es Bewusstsein von etwas. Im Falle der Wahrnehmung ist Husserl somit an jenen Zügen des Bewusstseins interessiert, die ausmachen, dass ein Wahrnehmungsakt derart ist, als sei er von einem Objekt einer ganz bestimmten Art, das in einer ganz bestimmten Weise bezüglich anderer Objekte und bezüglich des Wahrnehmenden lokalisiert ist. Darüber hinaus ist Husserl auch an jenen Zügen des Aktes interessiert, die ihn zu einem Wahrnehmungsakt machen und nicht z. B. zu einem Akt der Erinnerung oder Vorstellung.

2. Das Noema Alle diese Züge des Aktes, sowohl jene, die das Objekt bestimmen, falls er eins besitzt, als auch jene, die dessen Art bestimmen, nennt Husserl das Noema eines Aktes.

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Kolloquium 6  ·  Dagfinn Føllesdal

Husserl erachtet das Noema als eine intensionale Entität (›intensional‹ mit einem  ›s‹). Das Noema ist »nichts weiter als die Verallgemeinerung der Idee der Bedeutung auf das Gesamtgebiet der Akte«1, sagt er. Genauso wie der Sinn eines linguistischen Ausdruckes wichtig ist für die Frage, auf welches Objekt sich der Ausdruck bezieht, so ist das Noema wichtig für die Frage, was das Objekt eines Aktes ist – falls der Akt ein Objekt besitzt; einige Akte haben ein Noema, aber kein Objekt Nicht nur das Objekt, sondern auch der Charakter des Aktes hat ein Gegestück in das Noema: ein und demselben Objekt können durchaus mehrere unterschiedliche Noemata entsprechen, abhängig von den unterschiedlichen Arten, auf die das Objekt erfahren werden kann, ob es also wahrgenommen wird, vorgestellt, erinnert usw., und auch abhängig von dessen Orientierung, von unserem Gesichtspunkt usw. Um ein Beispiel aus der Wahrnehmung herauszugreifen, wollen wir den Akt des Sehens eines Baumes betrachten. Wenn wir einen Baum sehen, sehen wir nicht eine Ansammlung von farbigen Punkten, z. B. die bestimmte Verteilung von braun und grün, sondern wir sehen einen Baum, ein materielles Objekt mit einer Rückseite, mit anderen Seiten und dergleichen mehr. Einen Teil davon, z. B. die Rückseite, können wir augenblicklich nicht wahrnehmen, aber wir sehen trotzdem ein Ding, das eine Rückseite besitzt. Dieses Sehen ist intentional, objektgerichtet, was besagen soll, dass die zugewandte Seite des Dinges vor uns lediglich als eine Seite des Dinges angesehen wird, und dass das Ding, das wir sehen, auch andere Seiten und Züge hat, die in dem Sinne gleichzeitig mit intendiert werden, dass das gesamte Ding als etwas angesehen wird, das mehr als nur eine Seite besitzt. Das Noema ist das komplexe System von Bestimmungen, das die Vielheit dieser Züge zu Aspekten eines einzigen Objektes vereinigt. Man beachte, dass das Noema selber eine abstrakte Entität ist. Dessen unterschiedliche Komponenten entsprechen unterschiedlichen Charakteristika des Objektes, etwa der Farbe, der Brennbarkeit, der Veränderlichkeit usw., wohingegen das Noema diese Charakteristika nicht besitzt. Z. B. kann das Noema nicht brennen, wie Husserl feststellte2 .

3. Der Horizont Wir finden, ich zitiere Husserl: daß jede Wahrnehmung, noematisch: jeder einzelne Aspekt des Gegenstandes in sich selbst auf eine Kontinuität; ja auf vielfältige Kontinua möglicher neuer Wahrnehmungen verweist, eben diejenigen, in denen sich derselbe Gegenstand von immer neuen Seiten zeigen würde.3

1  2  3 

E. Husserl, Ideen III, 89. E. Husserl, Ideen I, 222. E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 5.

Husserls Begriff der Lebenswelt

375

Gemäß Husserl führt jedes Gegebene einen offenen, endlosen Horizont von allerlei Erwartungen mit sich. ›Erwartungen‹ ist hier kein gutes Wort, denn an die meisten von ihnen haben wir überhaupt nie gedacht. Ein einfaches Beispiel: Falls ich Sie vor Ihrem Eintritt in diesen Zimmer, noch außerhalb der Türe, gefragt hätte, welche Erwartungen Sie haben, wenn Sie in das Zimmer eintreten, würden Sie vielleicht etwas über diesen Vortrag sagen, oder über Freunde, die Sie hier zu treffen hofften. Sie würden aber höchst wahrscheinlich nicht sagen, dass Sie erwarteten, hier im Zimmer einen Fußboden zu finden, wahrscheinlich haben Sie nie darüber nachgedacht. Wenn Sie so vertrauensvoll hier in den Raum traten, war es dennoch klar, dass Sie auf Grunde von früherer Evidenz, über die Sie gar nicht nachgedacht haben, erwarteten, hier einen Fußboden zu finden.

4.  Zwei Hauptunterschiede zwischen Husserls Noema und Brentanos intentionalem Objekt Es gibt zwei Züge der Husserlschen Analyse der Intentionalität, die von entscheidender Bedeutung sind und die sehr klar hervortreten, wenn man ihn mit Brentano vergleicht. Zum einen und wohl am meisten ins Auge fallend ist das Noema, vermöge dessen der Akt ein gerichteter ist, nicht dasjenige, auf das sich der Akt richtet. Wäre das Noema das Objekt eines Aktes oder würde es das Objekt als einen Teil enthalten, dann würden wir wieder in Brentanos Dilemma zurückfallen und keine befriedigende Art und Weise aufweisen können, um solche Akte wie das Vorstellen eines Pegasus, denen ein Objekt fehlt, behandeln zu können. Zum anderen legt Husserl, indem er sich auf die Strukturen unseres Bewusstseins konzentriert, mehr Gewicht darauf, worin die Intentionalität des Bewusstseins besteht, als Brentano. Einfach wie Brentano zu behaupten, die Intentionalität bestünde darin, dass das Bewusstsein immer ein Objekt hat, ist, wie wir gesehen haben, nicht ganz richtig. Es ist darüber hinaus auch nicht sehr vielsagend. Was wahr ist, ist vielmehr, dass das Bewusstsein so ist, als ob es ein Objekt hätte. Diese Formulierung behält Brentanos wertvolle Einsicht bei. Das »Als ob« veranlasst uns auch, die Fragen zu stellen, die Husserl stellte und dadurch seine Phänomenologie zu beantworten suchte: Was bedeutet es für das Bewusstsein, ein Objekt zu haben?

5. Evidenz Wir wollen uns jetzt unserem nächsten Thema zuwenden: Husserls Begriff der Evidenz. Kurz ausgedrückt, besteht für Husserl Evidenz darin, dass eine oder mehrere Komponenten in dem Noema erfüllt sind. Seine Ansichten über Evidenz können in vier Thesen kondensiert werden:

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Kolloquium 6  ·  Dagfinn Føllesdal

(1) Evidenz ist die Selbstgegebenheit eines Gegenstandes in unserer Erfahrung, das ist, der Gegenstand wird erfahren als »selbst-da« und nicht nur als vorgestellt, vermutet, etc. Sofort, wenn das Noema eines Aktes teilweise oder vollständig gefüllt ist, haben wir Evidenz, dass der Gegenstand des Aktes existiert und dass der Gegenstand die Eigenschaften hat, die wir ihm gemäß dem Noema zuschreiben. Husserl hebt hervor: (2) Evidenz erfordert nicht vollständige Füllung, oder Adäquatheit, die Füllung des Noemas darf partiell sein. Husserl warnt vor den Assoziationen des Wortes ›evident‹ in der Richtung von perfekter Evidenz: Als evident bezeichnen wir somit jederlei Bewußtsein, das hinsichtlich seines Gegenstandes als ihn selbst gebendes charakterisiert ist, ohne Frage danach, ob diese Selbstgebung adäquat ist oder nicht. Damit weichen wir von dem üblichen Gebrauche des Wortes Evidenz ab, das in der Regel in Fällen verwendet wird, die richtig beschrieben solche adäquater Gegebenheit, andererseits apodiktischer Einsicht sind.4 Wichtig ist für Husserl, dass obwohl das Urteilen Evidenz voraussetzt, Evidenz nicht Urteilen voraussetzt. Evidenz kann schon auf der vorprädikativen Ebene gefunden werden, wie Husserl sagt. Das heißt, wir haben eine Menge von Evidenz über Sachen, an die wir nie gedacht haben und die wir noch weniger zum Thema gemacht haben. Erinnern wir uns nur an meine Beispiel mit dem Fußboden in diesem Raum. Darum lautet unsere dritte These: (3) Evidenz ist nicht auf Gebiete der Urteile begrenzt; ein Gegenstand kann mit Evidenz gegeben sein, ohne dass darüber prädikativ geurteilt worden ist. Um Husserl zu zitieren: Ein Gegenstand als mögliches Urteilssubstrat kann evident gegeben sein, ohne dass er beurteilter in einem prädikativen Urteil sein muß. 5 Ein wichtiges Charakteristikum des Husserlschen Begriffes der Evidenz, das meines Wissens nicht in der Literatur über Husserl erwähnt worden ist, kann in der folgenden, letzten unserer vier Thesen ausgedrückt werden: (4) Evidenz ist nicht nur durch wahrnehmungsmäßige Erfüllung gegeben, sondern auch durch praktische Aktivität und durch Gefühle. Das Wort ›Gefühle‹ bedeutet für Husserl hier etwa dasselbe, wie das, was die britischen Moral-sense-Philosophen ›feeling‹ oder ›sentiment‹ genannt haben, das für sie als Evi4  5 

E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 12, Hervorhebung im Original. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 12.

Husserls Begriff der Lebenswelt

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denz in der Moralphilosophie eine wichtige Rolle gespielt hat. In seinen Frühschriften kümmert Husserl sich wenig über praktische Aktivität und Gefühle, sondern konzentriert sich auf Wahrnehmung und andere kognitive Aktivitäten. Ab 1917 aber beginnt er, praktische Aktivitäten und Gefühle und ihre Zusammenhänge mit kognitiven Aktivitäten zu diskutieren. 6. Die Lebenswelt Nach meinen kurzen Andeutungen über die Phänomenologie kann ich jetzt Folgendes über die Lebenswelt sagen. (a) Die Lebenswelt ist die Welt, die den Horizont von jedem unserer Akte formt. Von dem ausgehend, was wir schon von Husserls Theorie über die Akte, die Noemata und ihre Gegenstände wissen, können wir sofort eine Anzahl von Merkmalen der Lebenswelt auflisten: (b) Die Lebenswelt ist eine Welt, nicht nur ein Aspekt der Welt oder eine Perspektive auf die Welt oder ein Noema von der Welt. Das heißt, die Lebenswelt ist in diesem Punkt nicht verschieden von allem andern, was wir erfahren: In unserer normalen natürlichen Einstellung erfahren wir Dinge in der Welt, nicht Noemata oder Perspektiven. Aber Perspektiven kommen in der folgenden Weise hinein: (c) Die Lebenswelt ist die Welt, wie sie von dem Subjekt erfahren wird. Husserl definiert die Lebenswelt oft gerade auf diese Weise als »die Welt im Wie der Erlebnisgegebenheit«6. 7. Eine Lebenswelt oder viele? Aber wir stehen jetzt vor einem Problem: Husserl scheint sich selbst zu widersprechen, wenn er sich über die Anzahl der Lebenswelten äußert. Von dem ausgehend, was gesagt worden ist, sollten wir erwarten, dass wir alle verschiedene Lebenswelten haben, abhängig von unserem kulturellen Hintergrund, unseren diversen Erfahrungen usw. Auch Husserl sagt z. B. in seinen Vorlesungen über Phänomenologische Psychologie 7 von 1926: Nicht mit allen Menschen teilen wir dieselbe Lebenswelt, nicht alle Menschen »auf der Welt« haben mit uns alle Objekte, die unsere Lebenswelt ausmachen und die unser personales Wirken und Streben bestimmen, gemeinsam, selbst wenn sie mit

6  7 

Siehe z. B.: E. Husserl, Philosophie der Arithmetik, 232. E. Husserl, Phänomenologische Psychologie.

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Kolloquium 6  ·  Dagfinn Føllesdal

uns in aktuelle Gemeinschaft treten, wie sie es jederzeit können (sofern wir, falls sie nicht gegenwärtig sind, zu ihnen und sie zu uns kommen könnten).8 Dies passt auch gut mit Husserls Äußerung zusammen, dass wenn sich unsere Auffassungen verändern, sich auch die Lebenswelt verändert. Wie wir später sehen können, wird z. B. die Entwicklung der Wissenschaft unsere Lebenswelt verändern können. Auf der anderen Seite sieht auch Husserl, dass es nur eine Lebenswelt gibt. In seiner Erörterungen über die Lebenswelt in der Krisis schreibt er: Andererseits ist Welt nicht seiend wie ein Seiendes, wie ein Objekt, sondern seiend in einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist. Jeder Plural und aus ihm herausgehobene Singular setzt den Welthorizont voraus.9 Wir können selbstverständlich konstatieren, dass Husserl sich hier selbst widerspricht, und eine von zwei Alternativen wählen, die seine Ansichten am besten interpretiert: Entweder es gibt eine Pluralität von Lebenswelten oder nur eine Lebenswelt. Wenn wir jedoch Husserl in einer wohlwollenden Weise interpretieren, gibt es keinen Widerspruch und wir können beide Ansichten akzeptieren, da sie beide wichtige Eigenschaften von der Lebenswelt ausdrücken. Husserl benutzt gern, aber nicht immer, das Wort ›Welt‹ wenn er über die eine Welt schreibt und das Wort ›Lebenswelt‹ wenn er »die Welt im Wie der Erlebnisgegebenheit« meint. Um Husserl in dieser Weise zu lesen, brauchen wir uns nur an sein immer wiederkehrendes Thema zu erinnern, nämlich, dass ein und derselbe Gegenstand in vielen verschiedenen Weisen erscheinen kann. Lassen Sie uns zuerst sehen, in welchem Sinn es nur eine Lebenswelt gibt. Es gibt eine Lebenswelt in folgendem Sinn: Es gibt eine Welt, die für eine Person in jeder von ihren vielen Erfahrungen erscheint, und diese eine Welt ist es, die jedem anders erscheint, abhängig davon, wann und wo er lebt. Unsere Auffassungen von dieser Welt mögen verschieden sein und in dieser Weise leben wir alle in verschiedenen Lebenswelten. Aber verschieden ist nicht nicht-identisch. Die Welt, in welcher wir alle leben, ist ein und dieselbe, wenngleich sie für jeden von uns verschieden scheint. Dass die Welt für jeden von uns verschieden scheint, ist selbstverständlich, aber dass es nur eine Lebenswelt gibt, ist ein wichtiger Punkt für Husserl, auf den wir genau achten sollen. Die Idee, dass es nur eine Welt gibt, in welcher wir alle leben, ist ein Fundament für seine Ansichten über Intersubjektivität und Kommunikation. Die Intersubjektivität und auch die Kommunikation basieren auf dieser Idee, dass es nur eine gemeinsame Welt gibt, die wir von unseren verschiedenen Perspektiven aus erfahren. Eine andere sehr wichtige Eigenschaft dieser einen Lebenswelt ist in dem letzten Satz des letzten Zitats angesprochen, dass ich von Husserl angeführt habe. Ich zitiere noch einmal: »Jeder Plural und aus ihm herausgehobene Singular setzt den Welthorizont voraus«10.

8  9  10 

E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, 496. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 146; Hervorhebung D. F. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, § 37.

Husserls Begriff der Lebenswelt

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Dieses Thema ist in Husserls Theorie von der Lebenswelt ein sehr wichtiges und es ist an vielen Stellen seiner Arbeiten erläutert. Besonders beleuchtend ist § 37 von der Krisis. 8. Die Lebenswelt als vorgegebener Boden Dort und an vielen anderen Stellen hebt Husserl die Vorgegebenheit der Lebenswelt hervor: Die Lebenswelt ist – in Vergegenwärtigung von wiederholt Gesagtem – für uns, die in ihr wach Lebenden, immer schon da, im Voraus für uns seiend, »Boden« für alle, ob theoretische oder außertheoretische Praxis. Die Welt ist uns, den wachen, den immerzu irgendwie praktisch interessierten Subjekten, nicht gelegentlich einmal, sondern immer und notwendig als Universalfeld aller wirklichen und möglichen Praxis, als Horizont vorgegeben. Leben ist ständig In-Weltgewißheit-leben. Wenn wir einen Standpunkt einnehmen zur Existenz oder Nicht-Existenz eines Gegenstandes, der Wahrheit oder Falschheit eines Satzes, wenn wir etwas als positiv oder negativ werten und wenn wir Ziele und Normen für unser Leben haben, dann wird dies immer innerhalb der Lebenswelt stattfinden. Wichtig ist, dass es Kraft der Lebenswelt geschieht; die Lebenswelt ist, wie Husserl es ausdrückt, die »Geltungsfundierung« oder »der Boden« für das Standpunkt-Einnehmen11. Die Lebenswelt ist »schon da« und dient als ein »unhintergehbarer« Hintergrund für jedes Standpunkt-Einnehmen. Z. B. können wir die Existenz eines Gegenstandes immer bejahen oder verneinen, aber wir können nicht die Existenz der Welt verneinen. Wir könnten versuchen dies zu tun, aber unsere Worte hätten keine »behauptende Kraft«, um mit Frege zu sprechen. Husserls Ansichten zu diesem Punkt haben Ähnlichkeiten mit denjenigen von G. E. Moore und dem späten Wittgenstein. Ich werde aber diese hier nicht diskutieren, sondern vielmehr auf eine sehr wichtige Funktion der Lebenswelt eingehen, die mit derjenigen verbunden ist, die wir gerade diskutiert haben und die das letzte und wichtigste Thema meines Vortrages sein wird: die Rolle der Lebenswelt für die Begründung.

9. Begründung Die Begründungsproblematik steht nämlich im Mittelpunkt von Husserls Interesse. Husserl schreibt oft, als ob wir eine unfehlbare, absolut sichere Einsicht erreichen können, auf der das übrige unseres Wissens in einer Cartesianischen Weise aufgebaut werden kann. So lobt er in der Formalen und Transzendentalen Logik Platon und andere, weil diese

11 

E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 132, 143, 462.

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Kolloquium 6  ·  Dagfinn Føllesdal

[…] kein Wissen gelten […] lassen, für das nicht Rechenschaft gegeben werden kann aus ursprünglich ersten und dabei vollkommen einsichtigen Prinzipien, hinter die zurückzufragen keinen Sinn mehr gibt.12 Die abschließenden Worte dieses Zitats, dass man immer solche Prinzipien suchen sollte, hinter die zurückzufragen keinen Sinn mehr gibt, scheinen fundamentalistisch zu sein. Ich werde aber jetzt zu zeigen versuchen, dass dies nicht die richtige Weise ist, Husserl zu interpretieren. Husserl charakterisiert in sehr vielen Schriften die Phänomenologie als ein Studium des a priori. Das bringt ihn natürlich in den Vergleich zu Kant und dessen Fundamentalismus. Husserl meint jedoch mit ›a priori‹ etwas anderes, als das, was Kant damit meint. Für Husserl ist das ›a priori‹ das, was wir antizipieren, was wir zu finden erwarten, vorgegeben in dem Noema, das wir haben. Die Phänomenologie untersucht diese Antizipation und versucht sie zu erfassen, aber wie wir wissen sind unsere Antizipationen oft fehlerhaft, unsere Erfahrungen erweisen sich oft von dem verschieden, was wir erwartet haben, und immer wieder müssen wir unsere Ansichten und unsere Erwartungen revidieren. In der Art, auf die ich Husserl interpretiere, sind seine Aussagen nur oberflächlich betrachtet fundamentalistisch. Ich werde wie versprochen zu zeigen versuchen, dass Husserl trotz seiner Terminologie keine fundamentalistische, sondern eine Theorie des »reflexiven Gleichgewichts« der Begründung vor Augen hat. Ich will zuerst diese Theorie erklären und dann zu zeigen versuchen, dass Husserl eine solche hatte.

10. Reflexives Gleichgewicht Ich übernehme die Bezeichnung ›reflexives Gleichgewicht‹ von John Rawls, der sie in seinem Buch Eine Theorie der Gerechtigkeit13 von 1971 für eine Methode, die er schon in seinem Aufsatz »Outline of a decision procedure for ethics« 1951 entwickelt hat, benutzt. Es mag irreführend sein, diese Bezeichnung für eine Methode der Begründung zu gebrauchen; wenn Rawls in Eine Theorie der Gerechtigkeit und späteren Schriften diese Bezeichnung wählt, meint er nicht eine Methode der Begründung, sondern eine Methode, um Einigkeit zu erreichen. Rawls schwankt in diesem Punkt ein wenig; im Aufsatz »Outline of a decision procedure for ethics« betrachtet er sie als eine begründende Methode14. Er bezeichnet sie dort als eine, die uns hilft, ethische Einsicht zu bekommen und spricht auch von ethischen Regeln als durch den Gebrauch dieser Methode als gültig erwiesen. Ebenso sagt er dort, dass er sich nicht »mit dem Problem, wie man psychologisch effektiv Uneinigkeiten lösen kann«15, beschäftigen möchte. In E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, 8. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit; J. Rawls, »Outline of a decision procedure for ethics«. 14  J. Rawls, »Outline of a decision procedure for ethics«, 186. 15  J. Rawls, »Outline of a decision procedure for ethics«, 177. 12  13 

Husserls Begriff der Lebenswelt

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seinen späteren Schriften ist er aber sehr vorsichtig und unterscheidet zwischen ›Einigkeit erreichen‹ und ›Begründung zu geben‹. Er behauptet nicht mehr, dass die Methode Begründung schafft, sondern sagt eher bescheiden, dass die Methode eine praktische Weise sei, Einigkeit zu schaffen. Wir werden jetzt für jede Methode, die bestimmte allgemeine Charakteristika hat, die Bezeichnung ›reflexives Gleichgewicht‹ benutzen. Diese Charakteristika werden wir anführen, unabhängig davon, ob diese Methode als eine Methode der Begründung oder als eine Methode zur Lösung von Uneinigkeiten aufgefasst wird. Es gibt keine andere Bezeichnung, die Husserl näher kommt. Die Bezeichnung ›hypothetisch-deduktive Methode‹ ist nicht so passend, weil diese Methode nur einige der Bestandteile hat, die man bei Husserl findet. Dies sind Bestandteile, die wir bei sehr vielen verschiedenen Begründungsmethoden finden und die deshalb nicht helfen, Husserls Ansichten im Detail zu charakterisieren. Die Hauptmerkmale der Methode des ›reflexiven Gleichgewichts‹ sind, so wie ich die Bezeichnung benutzen werde, die folgenden sechs: (i) Es ist in der Regel eine Methode der Begründung. Wie wir bemerkt haben, betrachtet Rawls in seinen späteren Schriften die Methode nur als eine praktische Weise, um Einigkeit zu erreichen, und es gibt auch einige, die die Methode nur als eine Methode der Erklärung oder Voraussagen sehen, aber die keine Begründung liefert. Alle Versionen der Methode haben jedoch die übrigen fünf Eigenschaften gemeinsam: (ii) Die Methode legt das Gewicht auf die Kohärenz der Ansichten, die man hat. Die Kohärenz ist, wonach wir gemeinhin in den wissenschaftlichen Theorien suchen; deduktiv logische Inferenz spielt eine wichtige Rolle, und ebenso Einfachheit und andere Züge: Einige wollen gern das Kriterium der Inferenz zur besten Erklärung benutzen. Typischerweise sind partikulare Sätze dadurch gerechtfertigt, dass sie von generelleren Sätzen abgeleitet sind, andererseits sind diese generelleren Sätze ihrerseits gerechtfertigt durch die Tatsache, dass die gewünschten partikularen Sätze aus ihnen folgen. Soweit ist die Methode nichts anderes als die hypothetisch-deduktive Methode. Jetzt aber kommen wir zu den unterscheidenden Charakteristika dieser Methode, die die Methode des reflexiven Gleichgewichts als eine spezielle Variante der generelleren hypothetisch-deduktiven Methode darstellen. (iii) Totale Korrigierbarkeit: Kein Satz in einer ›Theorie‹ ist gegen Revision immun (ich benutze das Wort ›Theorie‹ hier in einem weiten Sinn, der nicht erfordert, dass eine Theorie im deduktiven System vollständig ausgearbeitet ist, jedoch erfordert, dass die Sätze ausreichend verbunden sind, so dass ein Transfer der Evidenz möglich ist). Jeder Satz kann aufgegeben werden, wenn wir sehen, dass diese Aufgabe eine Vereinfachung und eine größere Kohärenz in unsere Theorie bringt. Die Ansichten einiger logischer Empiristen über sogenannte

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»Protokoll-Sätze« als nicht-revidierbar und nicht von der Theorie betroffen, sind mit dieser Auffassung nicht kompatibel, und ihre Methoden sind deshalb keine Beispiele des reflexiven Gleichgewichts, obwohl diese Beispiele aus der hypothetisch-deduktiven Methode sind. Die Methode des reflexiven Gleichgewichts ist ebenfalls nicht mit der Theorie des »sense data« vereinbar, wo Sätze über Sinnesdaten als nicht korrigierbar angenommen werden. Die Anhänger der Theorie des reflexiven Gleichgewichts sind Fallibilisten, nicht nur in Bezug auf einige oder die meisten Sätze, sondern in Bezug auf alle. (iv) Die Methode des reflexiven Gleichgewichts kann in einer Anzahl verschiedener Gebiete angewendet werden, vier wichtige davon sind die empirischen Wissenschaften, Mathematik, Logik und Ethik. Philosophen können diese Methode als für alle diese vier Felder passend ansehen. Auch unter den Philosophen kann unterschieden werden, je nachdem ob sie diese vier Gebiete als separate ansehen, wo die Evidenz aus dem einen Gebiet sich nicht auf die eines anderen übertragen lässt, oder ob sie sogenannte »unbegrenzte« Holisten sind und alle vier Gebiete als Teil eines Ganzen betrachten, wo Kohärenz-Betrachtungen alle vier miteinander verbinden und Evidenz dementsprechend von einem Gebiet zum anderen übertragen wird. Die Evidenz der empirischen Wissensschaften wird in dem Fall relevant sein für Fragen über Werte und Normen, und – noch bemerkenswerter – Evidenz aus der Ethik kann für Fragen aus der Mathematik, Logik oder den empirischen Wissenschaften relevant sein. Zwei herausragende Vertreter dieses unbegrenzten Holismus sind William James und Morton G. White16. Husserl benutzte die Methode des reflexiven Gleichgewichts, wie wir sehen werden, innerhalb dieser vier Gebiete separat, versuchte aber nicht, sie zu verbinden. Quines oft zitierte Charakterisierung des Holismus' am Ende des Aufsatzes »Two dogmas of empiricism« ist in knapper Form eine Beschreibung der Methode des reflexiven Gleichgewichts, angewandt auf ein weites Gebiet, empirische Wissenschaften, Mathematik und Logik beinhaltend, jedoch nichts aussagend über die Ethik: Die Gesamtheit unseres sogenannten Wissens oder Glaubens, angefangen bei den alltäglichsten Fragen der Geographie oder der Geschichte bis hin zu den grundlegendsten Gesetzen der Atomphysik oder sogar der reinen Mathematik und Logik, ist ein von Menschen geflochtenes Netz, das nur an seinen Rändern mit der Erfahrung in Berührung steht. Oder, um ein anderes Bild zu nehmen, die Gesamtwissenschaft ist ein Kraftfeld, dessen Randbedingungen Erfahrung an der Peripherie führt zu Anpassungen im Inneren des Feldes. Wahrheitswerte müssen über einige unserer Aussagen neu verteilt werden. Die Umbewertung einiger Aussagen zieht aufgrund ihrer logischen Zusammenhänge die Umbewertung einiger anderer Aussagen nach

G. M. White, Toward Reunion in Philosophy; ders., What Is and What Ought To Be Done? und ders., : A Philosophy of Culture. 16 

Husserls Begriff der Lebenswelt

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sich – die logischen Gesetze wiederum sind nur gewisse weitere Aussagen des Systems, gewisse weitere Elemente des Feldes. Wenn wir eine Aussage neu bewertet haben, müssen wir einige andere neu bewerten, die entweder logisch mit der ersten verknüpft sind oder selbst Aussagen logischer Zusammenhänge sind. Doch das gesamte Feld ist so sehr durch seine Randbedingungen, durch die Erfahrung, unterdeterminiert, daß wir eine breite Auswahl haben, welche Aussagen wir angesichts einer beliebigen individuellen dem System zuwiderlaufenden Erfahrung neu bewerten wollen. Keinerlei bestimmte Erfahrungen sind mit irgendwelchen bestimmten Aussagen im Inneren des Feldes auf andere Weise verbunden als indirekt durch Erwägungen des Gleichgewichts für das Gesamtfeld.17 Ehe ich auf die letzten zwei Merkmale dieser Methode komme, mag es lehrreich sein, ein Beispiel einer Anwendung dieser Methode des reflexiven Gleichgewichts zu dem Problem der Rechtfertigung in der Logik zu betrachten. Lassen Sie mich eine klassische Beschreibung dieser Methode von Nelson Goodman zitieren: Wie rechtfertigt man eine Deduktion? Einfach dadurch, daß man zeigt, daß sie den allgemeinen Regeln des deduktiven Schließens entspricht. […] Doch wie kann man entscheiden, ob Regeln gültig sind? Hier begegnet man wieder Philosophen, die behaupten, diese Regeln folgten aus einem evidenten Axiom, und anderen, die zu zeigen versuchen, daß die Regeln in der Natur des menschlichen Geistes selbst begründet seien. Mir scheint, die Antwort liegt viel näher an der Oberfläche. Die Regeln des deduktiven Schließens werden durch ihre Übereinstimmung mit der anerkannten Praxis der Deduktion gerechtfertigt. Ihre Gültigkeit beruht auf der Übereinstimmung mit den speziellen deduktiven Schlüssen, die wir tatsächlich ziehen und anerkennen. Wenn eine Regel zu unannehmbaren Schlüssen führt, so läßt man sie als ungültig fallen. Die Rechtfertigung allgemeiner Regeln leitet sich also von Urteilen her, die einzelne deduktive Schlüsse verwerfen oder anerkennen. Das sieht eindeutig zirkulär aus. Ich sagte, deduktive Schlüsse würden aufgrund ihrer Übereinstimmung mit allgemeingültigen Regeln gerechtfertigt und allgemeine Regeln würden aufgrund ihrer Übereinstimmung mit gültigen Schlüssen gerechtfertigt. Doch das ist ein ›guter‹ Zirkel. Es ist eben so, dass sowohl die Regeln als auch die einzelnen Schlüsse gerechtfertigt werden, indem sie miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Eine Regel wird abgeändert, wenn sie zu einem Schluss führt, den wir nicht anzuerkennen bereit sind; ein Schluss wird verworfen, wenn er eine Regel verletzt, die wir nicht abzuändern bereit sind. Der Vorgang der Rechtfertigung besteht in feinen gegenseitigen Abstimmungen zwischen Regeln und anerkannten Schlüssen; die erzielte Übereinstimmung ist die einzige Rechtfertigung, derer die einen wie die anderen bedürfen.18

17  18 

W .V. O. Quine, »Zwei Dogmen des Empirismus«. N. Goodman, Tatsache, Fiktion, Voraussage, 85 ff.

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Beachten Sie hier die drei Merkmale der Methode des klassischen Gleichgewichts, das wir bis hierher diskutiert haben: Rechtfertigung, Kohärenz und völlige Korrigierbarkeit. Dieser Absatz von Goodman lenkt die Aufmerksamkeit auf ein weiteres, sehr wichtiges Merkmal, dem wir uns nun zuwenden werden: prä-reflexive intuitive Annahmen als grundlegende Quelle der Evidenz. (v) Die Methode des reflexiven Gleichgewichts benutzt auf entscheidende Weise unsere prä-reflexive intuitive Annahme von verschiedenen Sätzen. Durch Überlegung, Systematisierung und Beobachtung versucht die Methode, allmählich unsere Annahme zu modifizieren, indem sie einige von ihnen stärkt und andere schwächt. Die Methode versucht aber nicht eine vollständige Zurückweisung von allen Sätzen, um sie durch etwas absolut Neues zu ersetzen. Es gibt keine Evidenzquelle, die als Basis für ein solches neues ›Gebäude‹ dienen könnte; die gesamte Evidenz, die es gibt, kommt aus den intuitiven Annahmen. (vi) Quellen der Evidenz: Nur ein sorgfältiges Studium darüber, wie verschiedene Beobachtungen, Erfahrungen und Veränderungen in unserem System unsere Annahme beeinflussen, kann uns sagen, ob zusätzlich zu den Kohärenz-Betrachtungen, die entscheidend für die Methode des reflexiven Gleichgewichts sind, auch andere Quellen der Evidenz besonders wichtig sind. Die Wahrnehmung sollte (zumindest von Empiristen) als eine solche privilegierte Quelle angesehen werden, die, obgleich sie nicht unfehlbar ist, angibt, was immer es, zusätzlich zu den Kohärenz-Betrachtungen an Evidenz gibt. Rawls scheint in seinem Aufsatz »Outline of a decision procedure for ethics«19 zu meinen, dass die partikularen moralischen Urteile einen solchen privilegierten Status haben: Die allgemeinen ethischen Prinzipien haben die Billigung, die sie haben, nur, weil sie unsere partikularen ethischen Urteile gut systematisieren. Unsere Annahme von einigen dieser partikularen Urteile mag durch diese Systematisierung modifiziert werden, aber die partikularen Urteile bleiben die letzte Evidenzquelle für die ethischen Prinzipien, so wie in der Naturwissenschaft die partikularen Beobachtungs-Thesen die letzte Quelle der Evidenz für die allgemeine Hypothese der Theorie ist. Obwohl die meisten Philosophen zugestehen werden, dass Wahrnehmung und Beobachtung in der Naturwissenschaft solch eine privilegierte Rolle spielen, ist die Situation in der Ethik nicht so klar. Es gibt Philosophen, die moralische Gefühle als eine ethische Parallele zur Wahrnehmung behandelt haben. Wie wir sehen werden, teilte Husserl diese Ansicht. Rawls jedoch gab den partikularen moralischen Urteilen in seinen späteren Schriften keinen privilegierten Status gegenüber den generellen Urteilen, sondern beiden den gleichen Status. Diese Veränderung der Sichtweise begleitet seinen Wandel im Hinblick auf das Betrachten der Methode des reflexiven Gleichgewichts als eine Methode der Rechtfertigung, zu einer Betrachtung, laut der es nur eine Art ist, Uneinigkeiten zu lösen. 19 

J. Rawls, »Outline of a decision procedure for ethics«.

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11. Reflexives Gleichgewicht bei Husserl Welche Belege gibt es dafür, dass Husserl die Methode des reflexiven Gleichgewichts akzeptiert hat und in welchen Gebieten akzeptierte er sie? Wir werden jetzt die verschiedenen Merkmale der Methode betrachten und ich werde anhand von Zitaten aus Schriften Husserls zeigen, dass er alle diese sechs Charakteristika akzeptiert hat, dass er das separat für all diese vier Gebiete, die wir beschrieben haben, tat, und dass er der Methode eine spezielle Wendung gab, die seine Ansichten über die Wahrnehmung und die Lebenswelt widerspiegeln. (i) Begründung. In seiner Erörterung über Kohärenz, Korrigierbarkeit etc., die ich jetzt zitieren will, beschäftigt sich Husserl immer wieder mit Rechtfertigung und Gültigkeit, er ist nie – so wie später Rawls – nur an der praktischen Einigkeit innerhalb einer Gemeinschaft interessiert. ›Rechtfertigung‹, ›Evidenz‹, ›Gültigkeit‹, ›Wahrheit‹ sind Begriffe, die in seinen Erörterungen immer wieder auftauchen. (ii) Kohärenz. Wieder und wieder betont Husserl die Wichtigkeit der Kohärenz für Gültigkeit und Wahrheit. Das folgende Zitat ist typisch: Eine Urteilseinheit geht durch alle einzelnen Urteile hindurch […] sie haben eine Urteilssinn mit Urteilssinn verknüpfende, sich im Fortgang des Urteilens sinnvoll aufbauende Einheit, […] die eines zusammengesetzten, übergreifenden, in den einzelnen Urteilen fundierten Urteils, das ihnen allen Einheit einer innerlich zusammengehörigen Geltung erteilt. In dieser Art haben die mannigfaltigen Aussagen einer Abhandlung und hat in ihrer Art jede Theorie und jede ganze Wissenschaft allübergreifende Urteilseinheit. 20 Schon in den Logischen Untersuchungen betonte Husserl Kohärenz als eine Quelle der Gültigkeit. Er bezieht sich auf Ernst Machs Idee, dass eine wissenschaftliche Theorie die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen und Intuitionen summiert, und zwar in eine einheitliche Konzeption. Mach nannte dies das Prinzip der Denkökonomie. Husserl akzeptierte die Denkökonomie; er betrachtete sie aber nicht so wie Mach als eine biologische Sache, sondern als ein Prinzip der größtmöglichen Rationalität unserer Erfahrungen. Bemerken Sie, wie Husserl in dem Zitat nicht nur vorgibt, dass die verschiedenen Urteile in einer Abhandlung, einer Theorie, einer Wissenschaft und in unserem ganzen Netz von Auffassungen eine Einheit bilden, sondern dass diese Einheit Gültigkeit für all diese Urteile hervorbringt; die Einheit rechtfertigt die Urteile. Husserl benutzt den Begriff der ›zusammengehörenden Geltung‹, und macht so die zentrale Idee der Goodman-Rawls-Theorie des reflexiven Gleichgewichts erkennbar, dass nämlich die kohärente Einheit der individuellen Urteile anderen Urteilen Gültigkeit verleihen.

20 

E. Husserl, Erste Philosophie. Teil 1, 19.

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(iii) Totale Korrigierbarkeit. Es mag schwer sein, diesen Punkt in der Interpretation Husserls zu verteidigen, weil Husserl häufig sehr fundamentalistisch klingt. Jedoch ist Husserl nur an der Oberfläche ein Fundamentalist. Wenn wir ihn sorgfältig studieren, dann erkennen wir, dass er der Methode des reflexiven Gleichgewichts anhängt. Wir werden jetzt einige der wichtigen Passagen untersuchen und dabei empirische Wissenschaften ebenso wie Logik, Mathematik und Ethik betrachten– in dieser Reihenfolge. Um nicht von Husserls fundamentalistischer Redeweise irregeführt zu werden, notieren wir uns folgende Frage aus der Krisis: Kann ich mit einer Wahrheit  – einer endgültigen Wahrheit anfangen? […] Habe ich schon solche ›unmittelbar evidenten‹ Wahrheiten, so könnte ich mittelbar neue vielleicht ableiten. Aber wo habe ich sie?21 Der einzige Fall, wo wir möglicherweise eine endgültige Wahrheit haben können, ist der Fall unserer eigenen Existenz. Selbst hier aber fügte Husserl ein ›vielleicht‹ hinzu, und er hat auch sofort darauf hingewiesen, dass sogar unsere Selbst-Erfahrung in jedem Fall inadäquat, partiell und obskur ist. (iv) Begründung innerhalb verschiedener Gebiete. Im Fall der empirischen Wissenschaften betont Husserl immer und immer wieder, dass wir stets riskieren, Fehler zu machen. Ich kann mir zwar einer Sache sicher sein, jedoch existiert immer das Risiko, dass ich im Irrtum bin. Es ist gewiß, aber diese Gewissheit kann sich modalisieren, es kann zweifelhaft werden, sich im Fortgang der Erfahrung in Schein auflösen. […] die bloße Bewährung, die in der Einstimmigkeit der wirklichen Erfahrung liegt, bewahrt nicht vor der Möglichkeit des Scheins. 22 Jeder wird heutzutage mit Husserl über die empirische Wissenschaft übereinstimmen. Husserl gibt aber durch seine Theorie der Wahrnehmung eine detailliertere Ausführung von den vielen Weisen, in denen wir uns irren können. Husserl sagt nicht nur wie Popper und so viele andere Wissenschaftsphilosophen, dass unsere Hypothesen falsch sein können, er erklärt auch in aufhellender Weise wie unsere ObservationsSätze falsch sein können. Quine führt aus: Auch ein Satz in der Nähe von der Peripherie kann wahrgehalten werden trotz zuwiderlaufenden Erfahrungen bei Anführung von Halluzinationen oder bei Revision von gewissen Aussagen, die logische Gesetze genannt werden. 23 Husserls Theorie von Noema und Füllung, die ich vorher skizziert habe, gibt uns jedoch eine sehr viel einfachere Erklärung. Nur selten brauchen wir uns auf Halluzinati21  22  23 

E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, VI, 269. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 270.  W. V. O Quine, »Zwei Dogmen des Empirismus«, 43.

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onen oder einer Veränderung unserer Logik berufen. Was meist passiert, ist, dass wir ein neues Noema bekommen, wie wenn wir statt einer Ente einen Hasen wahrnehmen, oder ein Mannequin statt eines Mannes. Die Irritationen unserer äußeren Sensoren (Sinn-Oberfläche) bleiben die gleichen, was wir sehen, ändert sich. Wissenschaftsphilosophen haben sehr viel über die Theoriegeladenheit der Beobachtung gesprochen, sie haben jedoch selten Beispiele gegeben und ebenfalls selten eine Theorie geliefert, die zeigt, wie es passiert, dass die Theorien unsere Beobachtung beeinflussen. Nicht so Husserl mit seiner Theorie vom Noema. So viel von den empirischen Wissenschaften. Wenden wir uns jetzt dem Rechtfertigungsstatus der Mathematik und der Logik zu. Nach Husserl ist die Möglichkeit der Täuschung, des Scheins, auch hier anzutreffen. Der folgende Absatz ist typisch für viele Beispiele, anhand derer er den Status dieser zwei Gebiete erörtert. […] so sind alle deskriptiven Aussagen notwendig relative und alle erdenklichen Schlüsse, deduktive oder induktive, relativ. 24 Demnach kann auch die Logik nur inadäquat begründet werden! Husserl kommt immer wieder auf die unvermeidbare Möglichkeit der Täuschung, des Fehlers zurück. So in Formale und Transzendentale Logik, wo er sagt: Selbst eine sich als apodiktisch ausgebende Evidenz kann sich als Täuschung ent­ hüllen und setzt doch dafür eine ähnliche Evidenz voraus, an der sie ›zerschellt‹. 25 Achten Sie auf den letzten Teil dieses Zitates, wo Husserl herausstellt, dass diese »Erschütterung« nicht von einer speziellen, privilegierten Art von Einsicht abhängt, sondern immer das Ergebnis von mehr Evidenz derselben Art ist. Wir werden darauf in unserem nächsten Punkt zurückkommen [Punkt (v)], uns aber zunächst kurz der Ethik zuwenden und sehen, wie die Situation dort ist. Husserl hat im Vergleich zur Logik und Erkenntnistheorie nur wenig zur Ethik geschrieben, aber aus dem, was er dazu geschrieben hat, scheint hervorzugehen, dass er auch in der Ethik ähnliche Vorstellungen von der Begründung hat wie in der Logik. Eingangs wirft Husserl die Frage auf, welche Art der Evidenz in der Ethik vorliegt: Und so haben wir auch in der Ethik zu fragen: Wo ist die Quelle der primitiven ethischen Begriffe, wo sind die Erlebnisse, auf Grund deren ich diesen Begriffen Evidenz der begrifflichen Geltung verleihen kann?26 Für Husserl scheinen Gemütsakte als konstituierende Akte für Werte unabweisbar zu sein 27. Denn:

24  25  26  27 

E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 270. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, 164. E. Husserl, Alte und neue Logik, 316. E. Husserl, Alte und neue Logik, 316, Anm. 3.

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Wie kann die unbedingte Gültigkeit des Sollens eingesehen werden, wenn nicht irgendwelche Beziehungen oder Eigentüm­lichkeiten von Gefühlen, von Gefühlsakten zugrunde liegen, auf welche der Urteilende hinsieht. 28 Ferner heißt es: Die englische Gefühlsmoral hat es doch außer Zweifel gesetzt: Fingieren wir ein Wesen, das gleichsam gefühlsblind ist, so wie wir Wesen kennen, die farbenblind sind, dann verliert alles Moralische seinen Inhalt, die moralischen Begriffe werden zu Worten ohne Sinn. 29 So ist es »selbstverständlich, dass von ›gut‹ und ›böse‹ gar keine Rede ist, wenn vom Gefühl abstrahiert ist«30. Nicht als ob wir dem Inhalt seiner (sc. Humes) Argumentation in allem beipflichten könnten, aber eines macht sie doch gewiss, eines wird dadurch völlig evident: das Gefühl ist an dem Zustandekommen der ethischen Unterscheidungen wesentlich beteiligt […]. 31 Schließlich sei noch etwas über die Methode gesagt. Husserl sagt darüber weniger, er deutet jedoch an, dass diese in der Ethik parallel zur Methode der Logik geht: Die Analogie ist gegeben […] durch die Einheitlichkeit der Vernunft, die dort als Verstand bzw. Intellekt, hier als Gemüt in Erscheinung tritt […]. 32 An anderer Stelle heißt es dazu: Wir überlegen gegenwärtig das Verhältnis zwischen Vernunft in der Sphäre des Intellekts und Vernunft in der Sphäre des Gemüts. 33 Die Methode ist nicht axiomatischer oder fundamentalistischer Art, sondern klärend und reflektierend: Sokrates […] erkannte den Grundsinn dieser Methode, modern ausgedrückt, als intuitive und apriorische Kritik der Vernunft. Oder, genauer bezeichnet, er erkannte ihren Grundsinn als Methode klärender Selbstbesinnungen […].34 Unmittelbar vorher heißt es: In der reflektiven Evidentmachung dessen, worauf man eigentlich hinaus will, und all dessen, was man dabei unklar vorausgesetzt hat an vermeintlichen Schönheiten und Hässlichkeiten, Nützlichkeiten und Schädlichkeiten, scheidet sich Wahres und 28  29  30  31  32  33  34 

E. Husserl, Alte und neue Logik, 317, Anm. 6. E. Husserl, Alte und neue Logik, 317, Hervorhebung D. F. E. Husserl, Alte und neue Logik, 317, Anm. 6. E. Husserl, Alte und neue Logik, 317, Anm. 7. E. Husserl, Alte und neue Logik, 317, Hervorhebung D. F. E. Husserl, Alte und neue Logik, 317, Anm. 4, Hervorhebung D. F. E. Husserl, Erste Philosophie. Teil 1, 11.

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Falsches, Echtes und Unechtes. Es scheidet sich, weil eben in der vollendeten Klarheit der Wesensgehalt der Sachen selbst zur anschaulichen Verwirklichung kommt, und damit in eins Wertsein und Unwertsein selbst.35 Weil damit unsere konkreten Einzelintuitionen die letzten Rechtsquellen der Ethik sind, entgeht Husserl genau wie Rawls der von Hermann Lübbe erwähnten Gefahr, die totalitären Systemen so oft zugrunde liegt: im Namen des höheren Zweckes gegen alle Gemeinmoral zu handeln. (v) Prä-reflexive, intuitive Annahmen. Wie wir gesehen haben, meint Husserl, dass die Evidenz nur durch eine andere Evidenz korrigiert werden kann, und dass es keine tiefere Quelle der Rechtfertigung gibt. Die Menge dieser intuitiven Annahmen bildet das, was Husserl die »Lebenswelt« nennt; in der Krisis hebt Husserl die entscheidende Rolle der Lebenswelt im Prozess der Rechtfertigung hervor: [N]ie wissenschaftlich gefragt ist nach der Weise, wie die Lebenswelt beständig als Untergrund fungiert, wie ihre mannigfachen vorlogischen Geltungen begründend sind für die logischen, die theoretischen Wahrheiten. Und vielleicht ist die Wissenschaftlichkeit, die diese Lebenswelt als solche und in ihrer Universalität fordert, eine eigentümliche, eine eben nicht objektiv-logische, aber als die letztbegründende nicht die mindere, sondern die dem Werte nach höhere.36 Man merkt, dass Husserl hier eine Ansicht vertritt, die der Goodmans sehr ähnlich ist: Die prälogischen Gültigkeiten fungieren als Basis für die logischen, die Lebenswelt fungiert als ein Unterbau. Erinnern wir uns, dass – ich zitiere Goodman – »die Regeln des deduktiven Schließens […] gerechtfertigt [werden] durch ihre Übereinstimmung mit den speziellen deduktiven Schlüssen, die wir tatsächlich ziehen und anerkennen«. Auch Rawls beruft sich schließlich auf das,  – ich zitiere  – »was intuitiv akzeptabel zu sein scheint und vernünftige moralische Entscheidungen«37. Ebenso sagt Husserl: Wie andere Vorhaben, praktische Interessen und die Verwirklichungen derselben der Lebenswelt zugehören, sie voraussetzen als Boden und sie im Handeln bereichern, so gilt das auch für die Wissenschaft, als menschliche Vorhabe und Praxis. Und dazu gehört, wie gesagt, alles objektive Apriori, in seiner notwendigen Rückbezogenheit auf ein entsprechendes lebensweltliches Apriori. Diese Rückbezogenheit ist die einer Geltungsfundierung. Eine gewisse idealisierende Leistung ist es, welche die höherstufige Sinnbildung und Seinsgeltung des mathematischen und jedes objektiven Apriori zustande bringt, aufgrund des lebensweltlichen Apriori. 38

35  36  37  38 

E. Husserl, Erste Philosophie. Teil 1, 10. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 127. J. Rawls, »Outline of a decision procedure for ethics«, 194. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 143, Hervorhebung D. F.

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Und er sagt: Jede objektive Logik, jede apriorische Wissenschaft gewöhnlichen Sinnes ist zu begründen, nicht mehr »logisch«, sondern durch Rückleitung auf das universale vor-logische Apriori, aus dem alles Logische, der Gesamtbau einer objektiven Theorie, nach allen ihren methodologischen Formen, seinen rechtmäßigen Sinn ausweist, durch welchen also alle Logik selbst erst zu normieren ist.39 Es gibt eine Menge von ähnlichen Textstellen in der Krisis, die wichtigsten davon sind die folgenden: das Subjektiv-Relative [fungiert für den Naturwissenschaftler] nicht etwa als ein irrelevanter Durchgang sondern als das für alle objektive Bewährung die theoretisch-logische Seinsgeltung letztlich Begründende, also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle.40 Es ist freilich selbst eine höchst wichtige Aufgabe der wissenschaftlichen Erschließung der Lebenswelt, das Urrecht dieser Evidenzen zur Geltung zu bringen, und zwar ihre höhere Dignität der Erkenntnisbegründung gegenüber derjenigen der objektiv-logischen Evidenzen. Es muß völlig aufgeklärt, also zur letzten Evidenz gebracht werden, wie alle Evidenz objektiv-logischer Leistungen, in welcher die objektive Theorie (so die mathematische, die naturwissenschaftliche) nach Form und Inhalt begründet ist, ihre verborgenen Begründungsquellen in dem letztlich leistenden Leben hat, in welchem ständig die evidente Gegebenheit der Lebenswelt ihren vorwissenschaftlichen Seinssinn hat, gewonnen hat und neu gewinnt. Von der objektiv-logischen Evidenz (der mathematischen »Einsicht«, der naturwissenschaftlichen, der positiv-wissenschaftlichen »Einsicht«, so wie sie der forschend-begründende Mathematiker usw. im Vollzug hat) geht hier der Weg zurück zur Urevidenz, in der die Lebenswelt ständig vorgegeben ist.41 Das Wissen von der objektiv-wissenschaftlichen »gründet« in der Evidenz der Lebenswelt.42 Es gibt auch eine kurze Goodmansche Bemerkung über Induktion in der Krisis: Induktionen können sich durch Induktionen in miteinander bewähren.43 Auch in Erfahrung und Urteil gibt es mehrere ähnliche Textstellen: Der Rückgang auf vorprädikative Erfahrung und die Einsicht darin, was die tiefste und letztursprüngliche Schicht vorprädikativer Erfahrung ist, [bedeutet] eine Recht-

39  40  41  42  43 

E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 27–34, Hervorhebung D. F. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 129. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 131, Hervorhebung D. F. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 133. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 130.

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fertigung der Doxa, die der Bereich der letztursprünglichen, noch nicht exakten und mathematisch-physikalisch idealisierten Evidenzen ist. Damit erweist sich auch, daß dieser Bereich der Doxa nicht ein solcher von Evidenzen minderen Ranges ist als das der Episteme, des urteilenden Erkennens und seiner Niederschläge, sondern eben ein Bereich der letzten Ursprünglichkeit, auf den sinngemäß die exakte Erkenntnis zurückgeht, deren Charakter als einer bloßen Methode und nicht als eines ein An-sich vermittelnden Erkenntnisweges durchschaut werden muß.44 Ich würde gern die Diskussion über diesen Punkt mit einer ziemlich langen Passage aus der Krisis beenden, wo Husserl Ideen ausdrückt, die denjenigen von Goodman annähernd gleich sind: Das wirklich Erste ist die »bloß subjektiv-relative« Anschauung des vorwissenschaftlichen Weltlebens. Freilich für uns hat das »bloß« als alte Erbschaft die verächtliche Färbung der doxa. Im vorwissenschaftlichen Leben selbst hat sie davon nichts; da ist sie ein Bereich guter Bewährung, von da aus wohlbewährter prädikativer Erkenntnisse und genau so gesicherter Wahrheiten, als wie die ihren Sinn bestimmenden praktischen Vorhaben des Lebens es selbst fordern. Die Verächtlichkeit, mit welcher alles »bloß Subjektiv-Relative« von dem neuzeitlichen Objektivitätsideal folgenden Wissenschaftler behandelt wird, ändert an seiner eigenen Seinsweise nichts, wie es darin nichts ändert, daß es ihm doch selbst gut genug sein muß, wo immer er darauf rekurriert und unvermeidlich rekurrieren muß.45 (vi) Quellen der Evidenz. Es mag scheinen, daß wir bereits alles gesagt haben, was über die Quellen der Evidenz gesagt werden kann: Die einzige Art der Evidenz sind unsere vorwissenschaftlichen Auffassungen in der Lebenswelt. Husserl drängt jedoch weiter. Diese vorwissenschaftlichen Auffassungen sind nicht nur eine Sache der internen Kohärenz, sie hängen letztlich davon ab, was mit unseren Sinnesorganen geschieht, nämlich bei der Wahrnehmung. Für Husserl spielt die Wahrnehmung daher in der Begründung von wissenschaftlichen Theorien eine ganz spezielle Rolle, so wie Gefühle eine spezielle Rolle in der Begründung der Ethik spielen. Dies ist aber nicht eine Ein-Weg-Abhängigkeit. Wie wir früher bemerkt haben, ist die Wahrnehmung nicht eindeutig bestimmt durch die Einwirkungen auf unsere Sinnesorgane, sondern sie hängt auch von unseren anderen reflexierenden Auffassungen ab. Das gleiche gilt für unsere Gefühle. Ich werde nicht weiter Husserls Wahrnehmungstheorie diskutieren, sondern werde meinen Vortrag mit einer Diskussion über zwei wichtige Charakteristika unserer vorwissenschaftlichen Auffassungen beenden: Sie sind von unseren wissenschaftlichen Theorien beeinflusst und sie bilden eine letzte Instanz, hinter der es keinen Sinn hat, nach weiteren Begründungen zu fragen.

44  45 

E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 44, Hervorhebung D. F. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 127 f., Hervorhebung D. F.

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12.  Lebenswelt und Wissenschaft Gemäß Husserl sind unsere vorwissenschaftlichen Auffassungen, das heißt die Lebenswelt, nicht ein Gebiet, das von den Wissenschaften getrennt gesehen werden kann. Wie wir bemerkt haben, haben die Wissenschaften die Lebenswelt als ihren evidentiellen Boden. Auf der anderen Seite verändern die Wissenschaften allmählich die Lebenswelt. Wie Husserl es in Erfahrung und Urteil formuliert: Der Sinn dieser Vorgegebenheit ist dadurch bestimmt, daß zur Welt, wie sie uns, erwachsenen Menschen unserer Zeit, vorgegeben ist, alles mitgehört, was die Naturwissenschaften der Neuzeit an Bestimmungen des Seienden geleistet hat. Und wenn wir auch selbst nicht naturwissenschaftlich interessiert sind und nicht von den Ergebnissen der Naturwissenschaft wissen, so ist uns doch das Seiende vorweg wenigstens so vorgegeben, daß wir es auffassen als prinzipiell wissenschaftlich bestimmbar.46 In der Krisis sagt Husserl in gleicher Weise: Und weiter sehen wir, daß alle diese theoretischen Ergebnisse den Charakter von Geltungen für die Lebenswelt haben, als solche ihrem eigenen Bestande sich immerfort zuschlagend und vorweg schon als Horizont möglicher Leistungen der werdenden Wissenschaft ihr zugehörig. Konkrete Lebenswelt [ist] also zugleich für die »wissenschaftlich wahre« Welt der gründende Boden und zugleich in ihrer eigenen universalen Konkretion sie befassend […].47 Der Grund, warum die Wissenschaften zur Lebenswelt gehören, ist nach Husserl die Tatsache, dass die Wissenschaft als etwas aufgefasst wird, das gültig ist und einen Wahrheitsanspruch hat: Mag die besondere Leistung unserer objektiven Wissenschaft der Neuzeit auch unverstanden sein, daran ist nicht zu rütteln, daß sie eine aus besonderen Aktivitäten entsprungene Geltung für die Lebenswelt und selbst ihrer Konkretion zugehörig ist.48

13. Die Lebenswelt als die letzte Instanz der Begründung Schließlich komme ich zu dem wichtigen Punkt, dass für Husserl die Lebenswelt eine letzte Instanz ist, hinter der es keinen Anhaltspunkt gibt, nach weiterer Begründung zu fragen. Der Hauptgrund dafür ist nach Husserls Theorie, dass das meiste der Lebenswelt aus Auffassungen besteht, die wir nie für uns selbst thematisiert haben und darum gar keinen Grund für eine ausdrückliche Urteilsentscheidung bestand

46  47  48 

E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 39. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 134. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 136, Hervorhebung D. F.

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Denn wo solche vollkommen selbstgebende Anschauung vorliegt, ist ja gar kein Zweifel hinsichtlich des »so« oder »anders« möglich, und damit kein Anlaß für eine ausdrückliche Urteilsentscheidung gegeben.49 Husserl macht hier eine sehr wichtige Bemerkung. Der Schlüssel, den Husserls Begriff der Lebenswelt zur Eröffnung des Problems der Begründung darbietet, ist die Rehabilitierung der Doxa, nicht hauptsächlich im Sinne der vorwissenschaftlichen Auffassungen, sondern vielmehr im Sinne der nicht-thematisierten »Auffassungen«, falls wir sie überhaupt ›Auffassungen‹ nennen dürfen: die verborgene Vorgriffe, von denen wir nichts wissen, aber die für unser ganzes Leben so entscheidend sind, und die Begriffen wie ›Wirklichkeit‹ und ›Verpflichtung‹ zugrundeliegen. Jeder Anspruch auf Gültigkeit und Wahrheit beruht auf diesem »Eisberg« von »Auffassungen« (mit Anführungszeichen), die nicht thematisiert worden sind und über die man nie eine Entscheidung gefällt hat. Jede Nachfrage nach einer Begründung führt letztlich zu dieser Art von Auffassungen zurück. Es gibt nichts mehr dahinter, woran man sich wenden kann, und es gibt nichts mehr zu ergründen: […] wobei wieder nichts zu postulieren und »passend« zu »interpretieren«, sondern aufzuweisen ist. Dadurch allein ist jenes letzte Weltverständnis zu schaffen, hinter das, als letztes, es sinnvoll nichts mehr zu erfragen und verstehen gibt. 50

Literatur Goodman, Nelson: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt a. M. 1975. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, erstes Buch (Husserliana III), Tübingen 1950. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, drittes Buch (Husserliana V), Tübingen 1952. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana VI), Den Haag 1954 [1936]. Husserl, Edmund: Erste Philosophie. Teil 1: Kritische Ideengeschichte (Husserliana VII), Den Haag 1956. Husserl, Edmund: Phänomenologische Psychologie (Husserliana IX), Den Haag 1962. Husserl, Edmund: Analysen zur passiven Synthesis (Husserliana XI), Den Haag 1966. Husserl, Edmund: Philosophie der Arithmetik (Husserliana XII), Den Haag 1970. Husserl, Edmund: Formale und transzendentale Logik (Husserliana XVII), Den Haag 1974. Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil, Hamburg 1999.

49  50 

E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 330, Hervorhebung D. F. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, 249.

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Husserl, Edmund: Alte und neue Logik: Vorlesung 1908 / 09 (Husserliana Materialien VI), Dordrecht 2003. Quine, Willard Van Orman: »Zwei Dogmen des Empirismus«, in: ders.: Von einem logischen Standpunkt, Frankfurt a. M. 1979. Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975. Rawls, John: »Outline of a decision procedure for ethics«, in: The Philosophical Review 60, 2, 1951. White, Morton Gabriel: Toward Reunion in Philosophy, Harvard 1956. White, Morton Gabriel: What Is and What Ought To Be Done?, New York 1981. White, Morton Gabriel: A Philosophy of Culture, Princeton 2002.

Unsagbarkeit, Ungegenständlichkeit und religiöse Erfahrung. Ludwig Wittgensteins Überwindung des Notationsparadigmas der sprachlichen Darstellung Hans Julius Schneider

1. Einleitung Es wird mir im Folgenden darum gehen, mit Hilfe des späten Wittgenstein einige sprachphilosophische Vorbereitungsschritte zu tun, die es erlauben sollen, den Begriff der ›religiösen Erfahrung‹, wie er von William James benutzt wird, so zu deuten, dass verständlich wird, dass es hier wirklich um Erfahrungen geht, nicht um Hirngespinste.1 Auf der anderen Seite möchte ich aber (gegen James) zeigen, dass ein solcher Erfahrungsbezug nicht die Unterstellung verlangt, hier werde ein menschliches Rezeptionsorgan (bei James: das ›subliminale Bewusstsein‹2) von einem transzendenten Gegenstand (›Gott‹) affiziert. Sprachphilosophisch gesagt: Man braucht nicht davon auszugehen, dass in Artikulationen religiöser Erfahrungen ein im Prinzip ausweisbarer Gegenstand benannt und unter einen Begriff gebracht würde, auch wenn dies auf der sprachlichen Oberfläche oft so aussieht. Wo ein Gegenstandsname erscheint, braucht nicht immer ein Gegenstand zu sein. Auch beim Thema der ›Darstellung eines Sachverhalts‹3 korrigiert Wittgenstein also eine von ihm selbst im Tractatus vertretene Auffassung.4 Diese ältere, zu überwindende Sicht lässt sich genauer durch die Aussage charakterisieren, sie orientiere sich am symboltheoretischen Spezialfall der Notation; und genau dadurch gelange sie zu falschen Aussagen über die Sprache. Die Darstellung eines komplexen Sachverhalts wurde von Wittgenstein damals wie das Notieren einer Melodie gedacht: Die Töne als Elemente des musikalischen Sachverhalts werden mitsamt ihrer Konstellation durch die musikalischen Noten und ihr räumliches Verhältnis zueinander auf dem Papier dargestellt. Wenn der späte Wittgenstein diesen Darstellungsbegriff als den diskursiven Sprachen völlig unangemessen zurückweist, dann hat dies nach der hier vertretenen Lesart zur Folge, dass auch das Schweigegebot des Tractatus fallen kann; wir müssen nicht verIch möchte deutlich sagen, dass es in diesem Text nicht um eine Definition von ›Religion‹ geht. Meine Vorschläge dazu finden sich in: H. J. Schneider, Religion. 2  W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, 225–227, 477. 3  Der Begriff der Darstellung orientiert sich in einem ersten Zugriff an Bühlers Unterscheidung zwischen Darstellung, Ausdruck und Appell (K. Bühler, Sprachtheorie). Es geht mir dann aber um die spezielle Einengung dieses Begriffs durch den frühen Wittgenstein. Terminologisch benutze ich für das Resultat dieser Verengung den Begriff der ›Notation‹, und zwar in dem Sinne, wie Goodman ihn definiert hat in: N. Goodman, Sprachen der Kunst, Kap. IV. 4  L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Wenn dies möglich ist, zitiere ich hier und im Folgenden wie üblich nach Wittgensteins Dezimalnummerierung. 1 

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stummen, wenn es um ›religiöse Dinge‹ geht. Die Einsicht in die Begrenztheit der Möglichkeiten einer Notation rechtfertigt keine generelle Unsagbarkeitsthese der Art, wie sie der Tractatus für ›die Sprache‹ im Bereich dessen aufstellt, was dort ›das Mystische‹ heißt. Der Gedankengang gliedert sich wie folgt: Zunächst wird ein Blick auf den Begriff der Erfahrung geworfen, speziell auf die Frage, wie eng oder weit man ihn fassen sollte. Das dort Erwogene wird in einem zweiten Schritt auf Wittgensteins Vortrag über Ethik bezogen.5 Nach seinem Verständnis gehören Ethik und Religion aufs engste zusammen, und wenn er erläutert, was er darunter versteht, bindet er seine Aussagen an seine persönlichen Erfahrungen. Nun führte ihn seine damalige Sprachtheorie aber dazu, von diesem Bereich zu behaupten, er lasse sich nicht zur Sprache bringen. Ein wesentlicher Grund dafür besteht in seiner Weigerung, ihn durch Psychologisierung zu ›entsorgen‹. Dieser Schritt wird hier nicht in Frage gestellt. Wittgenstein war zu dieser Zeit aber so radikal, die betreffenden Inhalte aus dem Bereich des sprachlich Zugänglichen ganz hinauszudrängen. Nicht nur lassen sich die fraglichen Aussagen nicht so verstehen, als würden sie (im Sinne einer ›Empirie nach innen‹) von sehr speziellen Sachverhalten handeln. Sondern er meinte damals, dass alle unsere diesbezüglichen Formulierungsversuche streng genommen unsinnig sind. Dieser weitergehenden These soll hier widersprochen werden. Drittens schließlich soll die Art und Weise skizziert werden, in der Wittgenstein später in den Philosophischen Untersuchungen plausibel macht, dass es Sprachformen gibt, die sich dem Notationsparadigma nicht fügen, ohne deshalb dem Bereich nicht sachhaltiger Zeichen zugeordnet werden zu müssen. 6 Dies führt aus dem Dilemma des Tractatus hinaus: Es gibt neben der Sachverhaltsdarstellung im dort entwickelten engen Verständnis und neben dem Unsinn ein Drittes.7 Diese Möglichkeit müssen wir durchschauen, wenn es darum geht, den Begriff der religiösen Erfahrung und ihrer Artikulation zu verstehen.

2.  Äußere und innere Erfahrung Der Empirismus ist heute die Philosophie des Common Sense. Wer möchte leugnen, dass alles ›welthaltige‹ Wissen auf Erfahrung beruht? Stets scheint es doch darum zu gehen, die ›Gegenstände‹ des Wissens zu bestimmen, und dann Aussagen über sie zu machen, die an der Erfahrung nachprüfbar sind. Wo materiale Wahrheit beansprucht wird, scheint es daher mindestens einen Gegenstand geben zu müssen, von dem die Rede ist, und entweder eine Eigenschaft, die ihm zugesprochen wird, oder (im Fall

L. Wittgenstein, »Vortrag über Ethik«. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Im Folgenden wie üblich nach der Nummer des Paragraphen im ersten Teil zitiert. 7  Die in dieser Perspektive vierte Möglichkeit, die für den vorliegenden Kontext aber nicht von Bedeutung ist, ist die von sinnleeren Sätzen, z. B. von Tautologien. 5  6 

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dass es sich um mehrere Gegenstände handelt) eine Relation, in der sie stehen. Das bedeutet: Alle Aussagen, die einen Wahrheitsanspruch erheben und nicht der Logik oder der Mathematik zuzuordnen sind, benötigen zu ihrer Formulierung erstens einen logischen Eigennamen und zweitens einen (ein- oder mehrstelligen) Begriffsausdruck. Bei sprachlichen Gebilden, deren Sinn sich nicht auf diese Form bringen lässt, handelt es sich entweder gar nicht um Behauptungen oder um unsinnige Schein-Aussagen. Aber hier stellen sich Zweifel ein, sobald es um die Einzelheiten geht. Auch wer nicht leugnet, dass alles sinnvolle nicht-formale Sprechen in irgendeinem Sinne ›erfahrungsbezogen‹ sein muss, möchte vielleicht eine Erfahrungsbezogenheit in einem weiten Sinne unterscheiden von der Eigenschaft, ›empirisch‹ im Sinne der Wissenschaften zu sein. Zum Bereich der erfahrungsbezogenen aber nicht empirischen Aussagen wären aus einer solchen Sicht z. B. Sätze zu zählen, die eine Lebenserfahrung artikulieren oder eben eine religiöse Erfahrung. Lassen sich solche Intuitionen sprachphilosophisch präzisieren? Nun scheint allerdings schon der klassische Empirismus dem angedeuteten Beispielbereich dadurch gerecht zu werden, dass er von vornherein unter den Bausteinen der Erkenntnis zwei Sorten unterscheidet. Er kennt nicht nur eine über die Sinnesorgane vermittelte Erfahrung von äußeren Dingen, sondern auch eine Erfahrung von inneren Gegenständen und Prozessen. In der zeitgenössischen Philosophie des Geistes ist entsprechend ganz selbstverständlich von mentalen Zuständen, mentalen Prozessen und von mentalen Ereignissen die Rede, und dies sollen Gegenstände sein, die wir ›an‹ oder ›in‹ uns selbst wahrnehmen und dann natürlich auch darstellen können. Und grundsätzlich wird vermutet: Was wir an Erkenntnisansprüchen im Gebiet der ›äußeren Erfahrung‹ nicht so leicht unterbringen (etwa die erwähnte ›Lebenserfahrung‹), wird wohl zur ›inneren Erfahrung‹ gehören,  – oder eben (wenn es sich nicht so verstehen lässt) Ausdruck von Halluzinationen und Gespensterglaube sein. Mich interessiert nun die Frage, ob es zutrifft, dass die Ergänzung der ›Empirie nach außen‹ um eine ›Empirie nach innen‹ der richtige Weg ist, um diejenigen Erfahrungen, die sich dem Paradigma für die äußere Sinneswahrnehmung nicht fügen, in die Betrachtung einzubeziehen. Wenn es so wäre, dann könnten wir durch eine einfache Addition der Bausteine unseres Wissens die Gesamtheit dessen in den Blick nehmen, was es gibt. Naturwissenschaft und Psychologie zusammen würden alles abdecken, was sich mit Hilfe einer rational zugänglichen Sprache an Erfahrungen artikulieren lässt. Stanley Cavell soll den Gedanken geäußert haben, nachdem man Logik und Mathematik im 19. und 20. Jahrhundert erfolgreich einer ›Entpsychologisierung‹ unterzogen habe, sei es nun an der Zeit, dasselbe auch mit der Psychologie zu tun. Ich möchte das so verstehen: Wir sollten diejenigen Bereiche, die sich dem empiristischen Paradigma der ›äußeren Wahrnehmung‹ nicht leicht fügen, in ihrer Vielfalt und ihrem jeweils spezifischen Charakter genauer untersuchen, bevor wir annehmen, dabei gehe es stets um etwas ›Inneres‹, und mit dieser Auskunft sei die Frage ›grundsätzlich‹ (wenn auch nicht in den Einzelheiten) geklärt. So interpretiert passt dieser Gedanke zu der Vermutung Georg Henrik von Wrights, es könnte sein, dass eines Tages nicht die Sprachphilosophie das Gebiet sein werde, in dem das vom späten Wittgenstein eingeleitete radikale

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Umdenken am folgenreichsten sein wird, sondern die Sphäre des heute so genannten ›Psychologischen‹.8 Wir hätten die Rede über uns selbst zu ›entpsychologisieren‹. Worin besteht dieses Umdenken? In einem ersten Anlauf lässt sich formulieren: Wittgenstein argumentiert gegen die Auffassung, dass sich das semantische Paradigma von Gegenstand und Benennung durch die These aufrecht erhalten lässt, in den angedeuteten Problembereichen handle es sich um eine ›Empirie nach innen‹. Dabei ist im Auge zu behalten, dass er das empiristische Bild von der Erkenntnis und der Sprache als ganzes problematisiert. Es ist nicht so, dass er dessen semantische Grundvorstellung intakt lassen würde und nur die Existenz (oder die wissenschaftliche Zugänglichkeit) eines Teilbereichs der Gegenstände leugnen würde, nämlich der ›mentalen‹ Gegenstände der ›inneren Erfahrung‹. Eine solche Position wäre eine Spielart des Behaviorismus, gegen den er sich aber ausdrücklich wendet. Zweitens ist es nicht so, dass er die ›Darstellung eines Sachverhalts‹ einfach um andere, nicht sachhaltige kommunikative Funktionen ergänzt, etwa um das, was bei Karl Bühler ›Ausdruck‹ und ›Appell‹ heißt.9 Er tut mehr und Gravierenderes als das: Er weist auch im Bereich sachhaltigen Redens sprachliche Funktionen auf, die keine ›Darstellungen von etwas‹ sind; genauer: die dies nur auf der oberflächengrammatischen Ebene sind. In dieser Leugnung der Darstellungsfunktion als einziger, stets gleicher Basis sachhaltigen Redens liegt der Stachel von Wittgensteins Kritik an der empiristischen These. Er entwirft eine Semantik, in der es auch eine Sachhaltigkeit gibt, die sich nicht der Darstellungsfunktion verdankt.

3. Erfahrungen jenseits der Sprache: Eine Grenze der Sprache oder der Sprachtheorie? Zunächst zum Vortrag über Ethik.10 Wittgenstein war ein Bewunderer Gottlob Freges, der die Idee, die Mathematik würde von den Vorstellungen der Mathematiker handeln, mit beißendem Spott bedacht hatte;11 diese Kritik am Psychologismus hat er übernommen. Die für uns wichtigste Aussage des Vortrags über Ethik lässt sich als eine Anwendung dieses Antipsychologismus auf die Ethik lesen. Sie lautet, dass sich die Aussagen über ›das Ethische‹ nicht als Aussagen über mentale Vorkommnisse verstehen lassen. Anders als für die Logik hat Wittgenstein aber für die Ethik damals noch keinen positiven Vorschlag anzubieten. Er macht zwar klar, dass er diesen Bereich überaus wichtig findet. Er kommt aber trotzdem zu der Schlussfolgerung: Da die hier zur Debatte stehenden Sätze weder einer ›Empirie nach außen‹ noch einer ›Empirie nach innen‹ zuzuordnen sind, bleibt für sie kein sprachlicher Ort übrig. Das, worum es hier geht, lässt sich nicht zur Sprache bringen.

8  9  10  11 

G. H. von Wright, »Wittgenstein and Tradition«. K. Bühler, Sprachtheorie. L. Wittgenstein, »Vortrag über Ethik«. G. Frege, »Über die Zahlen des Herrn H. Schubert«.

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In diesem Sinne heißt es schon im Tractatus: »Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.«12 und: »Wenn es einen Wert gibt, der Wert hat, so muss er außerhalb alles Geschehens und So-Seins liegen. Denn alles Geschehen und So-Sein ist zufällig. … Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken.«13 Dies heißt insbesondere, dass auch ein inneres ›Geschehen und So-Sein‹ nicht das sein kann, was einen Wert im Sinne seines Verständnisses von ›Ethik‹ und ›Religion‹ ausmacht. Hier muss zunächst Wittgensteins intuitive Vorstellung von Ethik kurz umrissen werden; dann lässt sich nachvollziehen, aus welchen Gründen eine so verstandene Ethik als Resultat einer Empirie weder nach außen noch nach innen interpretierbar ist, und dies, obwohl sich Wittgenstein auf Erfahrungen beruft, wenn er versucht, sein Verständnis von Ethik mitzuteilen. Er beginnt seine Überlegungen damit, eine relative, d. h. zweckrationale Bedeutung von ›gut‹ von einer nicht-relativen, ethischen Bedeutung zu unterscheiden. Im ersten Sinne sprechen wir z. B. von einem guten Messer, im zweiten Sinne möchte Wittgenstein von Handlungsweisen sagen können, sie seien gut in dem Sinne, dass sie Forderungen an uns entsprechen, die nicht auf unsere eigenen Zweckentscheidungen bezogen sind, und er möchte auch von einem Leben im Ganzen sagen können, es sei gut oder sinnvoll. Für unser Thema ist nun der erwähnte Umstand von Belang, dass er seine Intuitionen darüber, worum es in der Ethik geht, unter Rekurs auf seine persönlichen Erfahrungen erläutert. Er schreibt: »Am ehesten lässt sich diese Erfahrung, glaube ich, mit den Worten beschreiben, dass ich, wenn ich sie mache, über die Existenz der Welt staune. Dann neige ich dazu, Formulierungen der folgenden Art zu verwenden: ›Wie sonderbar, dass überhaupt etwas existiert‹, oder ›Wie seltsam, dass die Welt existiert‹. Hier werde ich gleich anschließend eine weitere Erfahrung erwähnen, die mir ebenfalls vertraut ist und die womöglich auch manchen von Ihnen bekannt ist. Diese könnte man die Erfahrung der absoluten Sicherheit nennen. Damit meine ich den Bewusstseinszustand, in dem man zu sagen neigt: ›Ich bin in Sicherheit, nichts kann mir weh tun, egal was passiert.‹«14 Sofort fügt er aber hinzu: »Und da muss ich als aller erstes feststellen, dass der sprachliche Ausdruck dieser Erfahrungen Unsinn ist!«15 Die zuletzt genannte These, »… dass der sprachliche Ausdruck dieser Erfahrungen Unsinn ist« muss wie folgt spezifiziert werden: Wenn die genannten erfahrungsbezogenen Sätze etwas Ethisches ausdrücken sollen, dann sind sie unsinnig; wenn wir ihnen aber dadurch einen Sinn zu sichern versuchen, dass wir sie auf Mentales beziehen (im Sinne einer ›Empirie nach innen‹), dann hören sie durch genau diesen Schritt auf, ethische Sätze zu sein.

6.52. 6.41, 6.42. 14  L. Wittgenstein, Vortrag über Ethik, S. 14 f. 15  A. a. O., S. 15. Ich habe hier die Übersetzung Joachim Schultes verändert, indem ich sein ›Erlebnis‹ durch das Wort ›Erfahrung‹ ersetzt habe; im Original steht ›experience‹. 12  13 

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Dieses Dilemma erläutert Wittgenstein durch ein Gedankenexperiment: Er stellt sich vor, jemand sei allwissend; er kenne »die Bewegungen aller toten oder lebendigen Körper in der Welt, und er kennt auch sämtliche Bewusstseinszustände aller Menschen, die je gelebt haben.«16 Würde dies alles aufgeschrieben, dann (so seine These) »stehen sämtliche Sätze auf derselben Ebene. Es gibt keine Sätze, die in einem absoluten Sinne erhaben, wichtig oder belanglos sind.« Er erwägt dann, ob man sagen könne, »… dass das Gute und das Böse zwar keine Eigenschaften der Welt außer uns, wohl aber Attribute unserer Bewusstseinszustände sind.« Und nun kommt der für unseren Kontext entscheidende Satz: »Ich meine jedoch, dass ein Bewusstseinszustand, soweit wir darunter eine beschreibbare Tatsache verstehen, in keinem ethischen Sinne gut oder böse ist.«17 Das heißt: Ein so verstandener ›Bewusstseinszustand‹ ist ein Faktum wie alle anderen Fakten auch. Noch einmal Wittgenstein: »Soweit es um Tatsachen und Sätze geht, gibt es wie gesagt nur relativen Wert und relativ Gutes, Richtiges, usw.«18 Sätze über Fakten (gleichgültig, ob dies ›äußere‹ oder ›innere‹ Fakten sind), können (wie es schon im Tractatus heißt) »… nichts Höheres ausdrücken.« Eine Psychologisierung von Ethik und Religion wäre deshalb ihre Beseitigung, und diese will Wittgenstein nicht zulassen. So bleibt er bei der These, die Ethik habe es nicht mit Bewusstseinszuständen zu tun, »… soweit wir darunter eine beschreibbare Tatsache verstehen.« In dieser Ausdrucksweise können wir die Formulierung einer Aufgabe sehen. Sie legt nämlich die Frage nahe: Ist es möglich, über ›Bewusstseinszustände‹ zu sprechen (und was hieße dieses Wort dann?), soweit wir darunter nicht eine beschreibbare Tatsache verstehen? Allgemein: Wie könnte man ›eine Erfahrung zur Sprache bringen‹, wenn man sich damit nicht auf ein äußeres oder inneres Faktum beziehen wollte? Hatte uns Wittgenstein dies nicht selbst vorgeführt, indem er auf seine eigenen Erfahrungen rekurriert hat, um zu sagen, worum es in der Ethik und der Religion gehe? Er hat diesen Versuch gemacht, aber er meinte, dass er damit gescheitert sei und dass solche Versuche stets zu Unsinn führen müssten. Das Motiv hinter solchen Versuchen sieht er zwar als ehrenwert an, er bezeichnet es als etwas, »… das ich für mein Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde.«19 An der Bedeutsamkeit der Erfahrungen will er unbedingt festhalten, aber die Versuche, sie zur Sprache zu bringen, so glaubt er, müssen zwangsläufig zu unsinnigen Sätzen führen. Zu diesem Resultat kommen wir allerdings nur, wenn wir als eine unserer Prämissen ein Bild von der Sprache unterstellen, das oben als ›Darstellungs-‹, speziell als ›Notationsparadigma‹ bezeichnet wurde. Es ist mit Bezug auf den Tractatus auch üblich, von einer ›Abbildtheorie‹ der Sprache zu sprechen; hier soll dagegen in einem an Nelson Goodman 20 orientierten Sinne davon gesprochen werden, dass der Verfasser des

16  17  18  19  20 

A. a. O., 12.  Ebd. A. a. O., 13. A. a. O., 19. N. Goodman, Sprachen der Kunst.

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Tractatus die Sprache so darstellt als wäre sie eine Notation. Vieles, was er über ›die Sprache‹ sagt, wird gut verständlich und einleuchtend, wenn man es auf Notationen bezieht, wie wir sie aus der Musik kennen, und nicht auf diskursive Sprachen. Dies kann hier nur kurz skizziert werden: 21 Nach diesem Bild heißt ›eine Erfahrung zur Sprache bringen‹ dasselbe wie ›einen Gegenstandskomplex darstellen, mit dem wir konfrontiert waren‹. Das können wir uns veranschaulichen, wenn wir daran denken, dass ›eine Melodie in Notenschrift notieren‹ soviel heißt wie: den von einer Folge von Tönen gebildeten Komplex durch eine Folge von Noten darstellen. Die Artikulation einer Erfahrung ist dann stets die Darstellung eines Komplexes von Gegenständen durch einen komplexen Ausdruck; die Wörter als Elemente solcher Ausdrücke müssen sich auf Gegenstände beziehen, um einen Sinn zu haben. Dass wir den Bereich des Sagbaren damit stark einschränken würden, zeigt sich bereits, wenn es im Tractatus heißt: »Die Gesamtheit der wahren Sätze ist die gesamte Naturwissenschaft …«22 , wozu Ethik und Religion nicht gehören. Und es ist leicht zu sehen, dass die Einbeziehung einer ›Empirie nach innen‹, die Betrachtung von einem »… Bewusstseinszustand, soweit wir darunter eine beschreibbare Tatsache verstehen«, an dieser Begrenztheit nichts ändert. Wenn es nur die Einbeziehung mentaler Gegenstände ist, um die eine zunächst auf die äußere Wahrnehmung gerichtete Sprache erweitert wird, dann bleibt es dabei, dass die so erweiterte Sprache »nichts Höheres ausdrücken« kann. Dies wird durch die Antwort bestätigt, die Wittgenstein auf die von ihm selbst erwogene Frage gibt, ob nicht die Aussagen, zu denen er zur Artikulation seiner eigenen ethisch-religiösen Erfahrungen gegriffen hatte, als Gleichnisse zu verstehen wären.23 Unsinnig wären sie dann vielleicht nur bei buchstäblicher Interpretation; als Gleichnisse verstanden könnten sie sehr wohl sinnvoll, vielleicht sogar wahr sein. Dem setzt er aber die These entgegen, zu jedem Gleichnis müsse es eine äquivalente wörtliche Formulierung geben; man müsse sagen können, wofür ein Gleichnis ein Gleichnis sei. Eine solche wörtliche Formulierung könne aber wiederum nichts anderes sein als ein Satz über eine ›beschreibbare Tatsache‹, und deshalb würde das Resultat dieser Umformulierung mit der Ethik nichts zu tun haben. Folglich könne auch die ursprüngliche (gleichnishafte) Aussage kein gelungener ethischer Satz sein, denn beide sollen ja die gleiche Bedeutung haben: Wenn der eine Unsinn ist, dann gilt das auch für den anderen. Hier müssen wir aber gut aufpassen: Wittgensteins gerade referierte Antwort ist eine Wenn-dann-Aussage; es handelt sich um eine Konklusion aus zwei Prämissen: Wenn alles sinnvolle behauptende Sprechen ein Darstellen von Sachverhalten im dargestellten, an der Notation orientierten Sinne ist (gleichgültig, ob es zunächst in Gleichnissen formuliert ist oder nicht), und

21 

Eine ausführliche Darstellung findet sich in: H. J. Schneider, »Satz  – Bild  – Wirklich-

keit«. 22  23 

4.11. L. Wittgenstein, »Vortrag über Ethik«, S. 16 f.

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wenn es in den Sätzen der Ethik nicht um die Darstellung von (äußeren oder inneren) ›Sachverhalten‹ geht, die Ethik aber gleichwohl sachhaltig in dem Sinne sein soll, dass sie z. B. nicht nur eine Sammlung von Imperativen, Normen oder Expressionen ist, dann (Schluss) lässt sich das, was man mit Sätzen der Ethik sagen will (die ›Sache‹ ihrer Sachhaltigkeit), nicht zur Sprache bringen, auch nicht durch Gleichnisse. Die Sätze, mit denen man das versucht, sind zwangsläufig unsinnig. Im Folgenden soll die zweite Prämisse (die Ablehnung des Psychologismus und das Bestehen auf der Sachhaltigkeit der Ethik) als akzeptiert gelten. Die Unsinns- oder Unsagbarkeitsthese (d. h. die Konklusion) soll dagegen als eine falsche Mystifikation erwiesen werden. Daher muss die erste Prämisse (die universale Geltung des Darstellungsparadigmas) in Zweifel gezogen werden. Nun ist bekannt, dass die Unsagbarkeitsthese bei manchen religiösen Lesern durchaus beliebt ist. Sie bescheiden sich mit der Auskunft: Die Erfahrungen, über die Wittgenstein im Vortrag über Ethik berichtet, sind eben Erfahrungen von etwas ›Höherem‹. Dort gibt es besondere Gegenstände, zu denen unsere Sprache einfach nicht hinaufreicht. Der Vorteil einer solchen Lesart ist, dass sie das Höhere vor Kritik schützt: Wenn zugegeben ist, dass sich darüber überhaupt nicht reden lässt, dann kann man auch nicht in destruktiver Absicht darüber reden. Aber eine solche Entrückung in einen sprachlich unzugänglichen Bereich scheint doch an dieser Stelle unangemessen oder zumindest verfrüht zu sein, weil dadurch zu viele sprachliche Möglichkeiten unbeachtet bleiben. Wir können mit der Sprache sehr viel mehr tun als äußere oder innere Sachverhalte darzustellen oder zu notieren. Hier soll also die Unsagbarkeitsthese (die Konklusion) in Zweifel gezogen werden, und zwar dadurch, dass die erste Prämisse in Frage gestellt wird. In diesem Sinne soll (mit Argumenten des späten Wittgenstein) gezeigt werden: Es trifft nicht zu, dass alles erfahrungsbezogene Sprechen (in einem mehr als nur oberflächengrammatischen Sinn) ein Darstellen (›Notieren‹) von äußeren oder inneren Sachverhalten ist. Hieraus ergibt sich bereits die Möglichkeit, dass dies auch für manche gleichnishaften Redeweisen gelten könnte, die dann auch nicht in Sachverhaltsdarstellungen umgeformt werden könnten. Bevor diese Frage erörtert wird, soll ein kurzer Blick auf den ›Non-Kognitivismus‹ geworfen werden, also auf die These, was Ethik und Religion uns zu sagen hätten, habe mit Erkenntnis nichts zu tun, also auch nicht mit einer Erkenntnis aus Erfahrung. Wer diese Strategie wählt, kann das Darstellungsparadigma intakt lassen, er muss es nur durch die Anerkennung zusätzlicher semantischer Funktionen erweitern, etwa der Funktion des ›Appells‹. Sind die Aussagen der Ethik ausschließlich Appelle an die Hörer, bestimmte Handlungen zu tun (oder sich bestimmte Normen des Handelns zu eigen zu machen)? Haben sie mit Erfahrungen wirklich nichts zu tun? Diese Lösung ist aus zwei Gründen unbefriedigend: Erstens ist mit dem frühen Wittgenstein daran festzuhalten, dass es darum gehe, ›die Welt richtig zu sehen‹, 24 auch

Wittgenstein sagt im Tractatus (6.54) über den Leser, der ihn versteht: »er muss diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.« 24 

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wenn das Wort ›richtig‹ hier nicht im Sinne der Wahrheit empirischer wissenschaftlicher Sätze zu verstehen ist. Dem kann man terminologisch dadurch Rechnung tragen, dass man bei den ›erfahrungsbezogenen‹ aber nicht wissenschaftlichen Aussagen von ›Adäquatheit‹ oder ›Angemessenheit‹ spricht. Hier soll also daran festgehalten werden, dass die Aussagen der Ethik und der Religion uns ein mehr oder minder angemessenes Bild von unserer Situation zeichnen. In einem mit der Psychotherapie vergleichbaren Sinne möchten sie uns dazu bringen, uns keine Illusionen über unsere Situation zu machen. Wie der Ausdruck ›Lebenslüge‹ signalisiert, gibt es auch auf das Ganze der Lebenssituation bezogen die Möglichkeit der Selbsttäuschung. Zweitens ist der Non-Kognitivismus überflüssig. Er ist die Lösung eines Problems, das es nicht mehr gibt, sobald man die Beschränkung auf das Darstellungsparadigma aufgibt und der Vielfalt im wirklichen Funktionieren der natürlichen Sprachen gerecht wird, einer Vielfalt, die auch im sachhaltigen Bereich existiert. Es ist der Schein der sprachlichen Oberfläche, der uns den Eindruck vermittelt, es gehe stets darum, einen Gegenstand zu benennen und zu sagen, unter welchen Begriff er falle. Dies lässt sich nun nach der Auffassung des späten Wittgenstein nicht dadurch korrigieren, dass man die etablierten Oberflächenformen durch ›logisch korrekte‹ Formen ersetzt. Alles, was man tun kann, ist, sich die Arbeitsweisen der Sprache klar zu machen und sich davor zu hüten, auf das Glatteis falscher Anschlussfragen zu geraten. 25 Das Bild von einer ›Empirie nach innen‹, von vorliegenden mentalen Gegenständen, die wir genauso ›darstellen‹ können wie Ameisen oder Molekülstrukturen, wäre eine solche falsche Fortsetzung von Redeweisen, die im Alltag keine Probleme bereiten. Wenn wir aber bereits in einem alltäglichen Bereich des ›Redens über Inneres‹ auf Arten sachhaltiger Bedeutung stoßen, die sich nicht der Darstellungsfunktion verdanken (die also bei Licht besehen auch nicht von ›inneren Gegenständen‹ handeln, obwohl es auf den ersten Blick so aussieht), dann haben wir gute Gründe, auch auf anderen Feldern damit zu rechnen, dass ein Festhalten am Darstellungsparadigma uns in die Irre führen könnte. 26

4. Die Überwindung des Notationsparadigmas der Darstellung Hier soll nun an einigen Hauptpunkten aus der späten Philosophie Wittgensteins gezeigt werden, dass das Darstellungsparadigma dem Funktionieren der natürlichen Sprachen nicht gerecht wird. Dabei werden die Beiträge von Wittgenstein so dargestellt, dass zugleich plausibel wird, in welchem Sinne sie geeignet sind, den eingangs genannten ›Überglauben‹ von James an einen Verursacher religiöser Erfahrungen entbehrlich zu machen. Als erster Hauptpunkt lässt sich hervorheben, dass Wittgenstein in seiner Spätphilosophie sprachliche Äußerungen in einem nicht sprachlichen Kontext betrachtet, der notwendig ein sozialer Kontext ist. Äußerungen sind sozial situiert; eine private Sprache kann es nicht geben. Deshalb haben alle sprachlichen Ausdrücke, auch diejenigen 25  26 

Vgl. H. J. Schneider, Phantasie und Kalkül. Vgl. H. J. Schneider, »Reden über Inneres«.

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über die einsamsten Erfahrungen, die in der ersten Person Singular formuliert sind, eine soziale Dimension. Niemand entscheidet allein darüber, ob er Napoleon ist; die Kliniker haben da ein Wörtchen mitzureden. Anders als bei der Sprechakttheorie von John Searle dient die Einbeziehung des Kontexts bei Wittgenstein aber nicht dem Hinweis, dass Sprecher und Hörer mit der sprachlichen Äußerung, deren Kern nach Searle stets darstellenden Charakter hat, dar­ über hinaus auch noch etwas machen (sie zum Stellen einer Frage, zum Geben eines Befehls und dergleichen benutzen).27 Es ist nach Wittgenstein gerade nicht so, dass primär stets ein ›propositionaler Gehalt‹ dargestellt wird (durch die Akte der Referenz und der Prädikation), und dass sekundär diese Darstellung einem konkreten situativen Zweck dient. Wäre dies der Fall, dann würde das Darstellungsparadigma durch die Sprachspielkonzeption nur ergänzt. Vielmehr ist das, was wir als den darstellenden ›Teil‹ einer Äußerung wahrzunehmen meinen, oft gerade keine Darstellung in einem mehr als oberflächengrammatischen Sinn. Das lässt sich mit einer Stelle aus den Philosophischen Untersuchungen illustrieren, an der Wittgenstein einen zentralen Punkt seiner Spätphilosophie in einer allgemeinen Formulierung ausspricht. Er schreibt, es sei nötig, dass wir: »… radikal mit der Idee brechen, die Sprache funktioniere immer auf eine Weise, diene immer dem gleichen Zweck: Gedanken zu übertragen – seien diese nun Gedanken über Häuser, Schmerzen, Gut und Böse, oder was immer.«28 Diese Aussage lässt sich so paraphrasieren: Sein Verständnis der Situiertheit des Sprechens und Hörens ist nicht auf solche Situationen eingeschränkt, in denen es um das Klassifizieren von Gegenständen der äußeren oder der inneren Wahrnehmung geht. Der ›Bezug auf Gegenstände‹ ist nicht die einzige sachhaltige Funktion der Sprache. Es geht von vornherein um mehr und anderes. Deshalb sind die ›Teile‹ oder ›Bereiche‹ einer ›Situation‹, die ›zur Sprache kommen‹ können, nicht wie Gebäude in einem Gebäudekomplex (oder wie Töne in einer Melodie) zu denken. Sie sind weder auf gegenständliche ›Dinge‹, noch auf Eigenschaften solcher Dinge (bzw. Relationen zwischen ihnen) eingeschränkt, und zwar weder auf äußere noch auf innere Gegenstände. Ein in seiner Rationalität unanfechtbares Beispiel dafür ist Wittgensteins Behandlung der Zahlwörter in so einfachen Kontexten wie dem Einkauf von ›fünf roten Äpfeln‹. Man kann im Deutschen zwar sagen, das Wort ›fünf‹ stehe für die Zahl fünf; es stelle sie dar; diese Zahl sei das, was es bezeichne. Aber Wittgenstein zeigt, dass durch diese Angleichung der Beschreibung die tatsächlichen Funktionsunterschiede zwischen den Wörtern ›Apfel‹ und ›fünf‹ nicht geringer würden. Nur die Oberflächengrammatik lässt es so erscheinen, als sei das Darstellungsparadigma unangefochten, – und als müssten wir nur bereit sein, abstrakte (nicht sinnlich wahrnehmbare) Gegenstände als besondere Objekte der Darstellung anzuerkennen. 29 Für diesen oberflächenorientierten Blick sind »Häuser, Schmerzen, Gut und Böse« (und Zahlen; möglicherweise 27  28  29 

J. R. Searle, Sprechakte. PU 304. PU 1, 10.

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auch Gott) allesamt Gegenstände, die sprachlich ›dargestellt‹ werden, nur dass wir über manche dieser Gegenstände noch gründlichere Forschungen anstellen müssen. Genau dies hält Wittgenstein für falsch; ein Wort wie ›fünf‹ dient gerade nicht dazu einen Gegenstand zu benennen, es ist ein in seiner Funktion eigens zu erlernender Bestandteil der komplexen Handlung des Zählens. Einen parallelen Punkt macht er für die Wörter für ›mentale Vorgänge‹, und hier sehe ich eine konstruktive Wendung in seinem schon früher vertretenen Anti-Psychologismus. So lesen wir im Zusammenhang einer Erörterung des Ausdrucks ›Denken‹: »Man könnte aber sagen ›Denken ist ein unkörperlicher Vorgang‹, wenn man dadurch die Grammatik des Wortes ›denken‹ von der des Wortes ›essen‹, z. B., unterscheiden will. Nur erscheint dadurch der Unterschied der Bedeutungen zu gering. (Ähnlich ist es, wenn man sagt: die Zahlzeichen seien wirkliche, die Zahlen nicht-wirkliche Gegenstände.) Eine unpassende Ausdrucksweise ist ein sicheres Mittel, in einer Verwirrung stecken zu bleiben. Sie verriegelt gleichsam den Ausweg aus ihr.«30 Von zentraler Bedeutung ist hier die These: Wenn wir uns an der grammatischen Oberfläche orientieren, dann erscheint »… der Unterschied der Bedeutungen zu gering«. Genau dies passiert, wenn wir sagen, die Sprache diene stets dazu, Gegenstände darzustellen, seien diese nun Gegenstände der äußeren oder der inneren Wahrnehmung. Dieser Schachzug macht es sich zu einfach, weil er wichtige Unterschiede nivelliert und uns auf eine falsche Fährte schickt, auf der wir auch dort nach besonderen Gegenständen suchen, wo in Wirklichkeit gar keine Gegenstände sind. Wer z. B. sagt ›ich hatte gedacht, du würdest heute zum Kaffee kommen‹, stellt damit keinen ›unkörperlichen Vorgang des Denkens‹ dar, dessen Auftreten er so vergegenwärtigen würde wie das eines körperlichen Vorgangs, etwa das sporadische Auftreten einer Rötung seiner Augen. Da die hier einschlägigen Wörter aber Funktionen haben, und zwar solche, die ihnen Sachhaltigkeit verleihen (sie sind weder allein Ausdruck noch allein Appell), müssen wir die Tatsache akzeptieren, dass es nichtgegenständliches Reden gibt, das gleichwohl sachhaltig ist. Auch dies zeigt sich an so einfachen Sätzen wie ›hier liegen fünf rote Äpfel‹. In ihm stellt das Wort ›fünf‹ nicht einen Gegenstand dar, es spricht auch nicht (wie das Wort ›rot‹) einem oder mehreren Äpfeln eine Eigenschaft zu. Trotzdem kann dieser Satz genau darin falsch sein, dass es nicht fünf sondern sechs Äpfel sind. Aber wenn er in dieser Hinsicht falsch sein kann, muss das Wort ›fünf‹ auch sachhaltig sein. Auf eine weitere Art eines solchen nicht-gegenständlichen Redens weist Wittgenstein in einem Passus hin, in dem es um das Äußern eines Schmerzes geht, also um eine Redeweise, die einem als paradigmatisch für die Darstellung eines inneren Gegenstandes erscheinen könnte. In seiner typischen dialogischen Sprachform lässt er seinen fingierten Gesprächspartner (der ihn behavioristisch missversteht) sagen: »›Aber du wirst doch zugeben, dass ein Unterschied ist, zwischen Schmerzbenehmen mit Schmerzen und Schmerzbenehmen ohne Schmerzen.‹ Zugeben? Welcher Unterschied könnte größer sein! – ›Und doch gelangst du immer wieder zum Ergebnis, die Empfindung selbst

30 

PU 339.

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sei ein Nichts.‹ – Nicht doch. Sie ist kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts!«31 Hier haben wir ein hochdramatisches Beispiel für Sachhaltigkeit (›welcher Unterschied könnte größer sein!‹), die aber nach Wittgensteins Aussage nicht gegenständlich missverstanden werden sollte: Wir haben kein ›etwas‹ vor uns, keinen Gegenstand einer ›Empirie nach innen‹, keinen »Bewusstseinszustand, soweit wir darunter eine beschreibbare Tatsache verstehen«. Gleichwohl handelt es sich um einen dramatischen Unterschied. Mit Wittgensteins Formel: Die Empfindung ist »kein Etwas, aber auch nicht ein Nichts!« Eine wichtige Besonderheit an Ausdrucksformen, die das Darstellungsparadigma trotz ihrer Sachhaltigkeit nicht erfüllen, besteht darin, dass wir längere Sequenzen interaktiven Sprechens betrachten müssen, um zu erfassen, ›was‹ dasjenige ist, was in ihnen ›zur Sprache kommt‹. Das heißt negativ: Es genügt in diesen Fällen nicht, eine Auskunft darüber einzuholen, ›worum es sich handelt‹ (wovon berichtet wird, welcher Gegenstand dargestellt wird), um allenfalls danach zu betrachten, warum Sprecher und Hörer sich gerade über ›diese Sache‹ unterhalten (etwa über das Motiv einer Handlung, was sich jemand bei einer Handlung ›gedacht‹ hat, etc.). Eine ›Sache‹ gibt es nach Wittgensteins Lesart in diesen Fällen nur auf der Ebene der Oberflächengrammatik; man kann ›sie‹ nicht kennen lernen (so wenig wie die Zahlen), ohne sich in ein soziales Geflecht von Sprachspielen praktisch hineinzubegeben. Nur durch die Teilnahme an der Praxis, seine eigenen Handlungen anderen Menschen zu erläutern, kann man z. B. lernen, was ein ›Beweggrund‹ für eine Handlung ist. Bei ›Gegenständen‹ dieser Art gilt, dass man sie nicht nur ›nicht gut‹ kennen lernen kann (wie eine exotische Frucht, wenn man sie nur anschaut und betastet, ohne sie zu probieren), sondern man kann die hier erörterten ›Gegenstände‹ überhaupt nicht kennen lernen, ohne an den entsprechenden Sprachspielen teilzunehmen. Man könnte sagen, sie entstünden erst im Diskurs. 32 Es ist nur eine leichte Erweiterung dieses Gedankens, wenn man die These hinzufügt, das angedeutete Einbeziehen von längeren Sequenzen interaktiven Sprechens sei das Einbeziehen einer Geschichte (im Sinne einer story). Passive oder aktive Mitspieler in Geschichten sind wir von Anfang an, und das heißt auch, schon lange vor dem Sprach­ erwerb. Der Psychologe Jerome Bruner hat dafür das Bild gefunden, es sei als würden wir bei unserer Geburt auf eine Bühne kommen, auf der das zu spielende Stück schon im Gange sei.33 Auf Wittgenstein bezogen lässt sich z. B. sagen: Bevor die Arbeiter im § 2 der Philosophischen Untersuchungen die einfachsten deskriptiven Wörter (›Platte‹, ›Balken‹, etc.) erlernen, müssen sie schon begriffen haben, worum es geht; es soll ein Haus errichtet werden. Es ist der Ort in der schon praktisch geteilten Geschichte ›zusammen ein Haus bauen‹, der auch denjenigen Wörtern Sinn verleiht, die (nachdem ihr imperativer Gebrauch erlernt ist), später tatsächlich auch der Darstellung dienen können. Mit diesem Blick auf die Verankerung des sprachlichen Handelns in praktisch beherrschten Geschichten wird es möglich, auf das Thema der Unsagbarkeit zurückzukommen und zu fragen: Was heißt ›eine Erfahrung zur Sprache bringen‹, wenn wir uns 31  32  33 

PU 304. Vgl. H. J. Schneider, »›Den Zustand meiner Seele beschreiben‹«. J. Bruner, Sinn, Kultur und Ich-Identität.

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hinreichend weit orientieren? Wir sind hier bei einem besonderen Fall der Frage: Auf welche Weisen kann zu einer bereits geteilten (sprachlichen oder nicht sprachlichen) sozialen Interaktion ein (gegebenenfalls ebenfalls) sprachliches Handeln hinzutreten? Die wenigen betrachteten Beispiele machen bereits deutlich, dass dies auf sehr verschiedenartige Weisen geschehen kann. Statt wie im Darstellungsparadigma sofort einen ›Gegenstand der Erfahrung‹ zu unterstellen, der benannt oder klassifiziert wird, können wir sehr viel offener fragen: Was alles kann in einer Situation gemeinsamen Handelns als eine ›Stelle‹ in Frage kommen, an der etwas Sprachliches (verschiedenster Art) hinzutreten kann? Wo kann ›eine Situation‹ durch Sprache ergänzt, bereichert, vielleicht effektiver gemacht (und schließlich auch ›definiert‹ und verändert) werden? Wir haben gesehen, dass es dafür nicht von vornherein um einen ›Gegenstand der Erfahrung‹ gehen muss, den das neue sprachliche Element darstellen würde. Dafür war bereits der Fall der Ziffern ein Gegenbeispiel: Ein Sprachspiel wird sachhaltig erweitert, ohne dass dabei ein neuer Gegenstand zur Sprache käme. Es gibt also viele verschiedenartige Stellen, an denen die Sprache eine Rolle spielen kann, und die Frage, was denn durch ein sprachliches Element dargestellt würde, ist nicht immer sinnvoll, obwohl sie fast immer eine oberflächengrammatische Antwort erhalten kann. Selbst vom logischen Junktor ›vel‹ kann man auf der Ebene der grammatischen Oberfläche sagen, er stelle ein logisches Verhältnis dar. Aber damit ist nichts weiter gesagt als dass dieses Wort sinnvoll ist (und nur der Kenner findet angedeutet, von welcher Art dieser Sinn ist). Wir finden in Wittgensteins später Sprachphilosophie also eine ausdrückliche Behandlung des Themas der Ungegenständlichkeit mancher sachhaltiger Redeweisen; darin kann man einen entscheidenden Fortschritt gegenüber den Mystifikationen des Tractatus und des Vortrags über Ethik sehen. Nicht die Erfahrung von Gespenstern, an die wir mit unseren zu kurzen Spracharmen so wenig heranreichen wie an die Sterne, macht das Religiöse aus, sondern eine nicht darstellende (im Sinne von: nicht-notationale) Verwendung der Sprache, in der die Bedeutung der Ausdrücke nicht an der Funktion hängt, einen Gegenstand namhaft zu machen. Damit wird auch ein transzendenter Gegenstand als Verursacher religiöser Erfahrungen, wie ihn James vermutet, sprachphilosophisch überflüssig. Wenn akzeptiert ist, dass es eine Fülle schon einfachster Sprachverwendungen gibt, die sachhaltig sind aber dem Darstellungsparadigma nicht genügen, können wir auf die Frage zurückkommen, ob jedes Gleichnis umgeformt werden kann in eine Aussage, die einen Sachverhalt darstellt und nicht gleichnishaft ist. Die Antwort ist jetzt ganz klar negativ. Wenn die Darstellungsfunktion nicht mehr als Sinnbedingung sachhaltigen Redens überhaupt gilt, dann können gleichnishafte Ausdrucksweisen auch nicht mit dem Argument ausgeschlossen werden, es lasse sich zu ihnen kein darstellendes aber nicht gleichnishaftes Äquivalent finden. So wie die Zahlangabe nicht darstellend aber sinnvoll und sachhaltig ist, so könnte es auch andere sinnvolle, sachhaltige aber nicht darstellende Aussagemöglichkeiten geben, zu denen auch manche Gleichnisse gehören können. Die Worte, mit denen Wittgenstein in seinem Vortrag diejenigen seiner Erfahrungen zur Sprache zu bringen versucht, die für ihn das Gebiet der Ethik umreißen, scheinen

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nun genau von dieser Art zu sein. Sie beziehen sich nicht psychologisierend auf Bewusstseinszustände als ›beschreibbare Tatsachen‹; sie sind nicht im Sinne das Darstellungsparadigmas als Notationen für Komplexe von Gegenständen zu verstehen. Wenn wir (um den Gewohnheiten der Oberflächengrammatik zu entsprechen) von einem ›Bezug‹ sprechen wollen, können wir am ehesten sagen, sie würden sich gleichnishaft auf eine Lebenssituation im Ganzen ›beziehen‹, d. h. auf unseren Ort in einer umfassenden story, nicht auf ein ›Ding‹ in einer Situation (oder auf einen ›Komplex‹ von Dingen wie bei einem Gebäudekomplex). Ihr kognitiver Gehalt ist ihr Anspruch auf Angemessenheit; es sei angemessen, unsere Situation, den Ort in der story, in der wir uns vorfinden, gerade so zu sehen; manche anderen Sehweisen bezeichnen wir dagegen als Illusionen. Darüber ist, wie bei einer Psychotherapie, im Normalfall eine argumentative Einigung möglich. Es geht also um Wittgensteins Thema des ›Etwas als etwas Sehens‹. Die Artikulation einer Sehweise aber kann erfahrungsbezogen im oben genannten weiten Sinne sein, ohne dadurch zu einer ›empirischen‹ Aussage im Sinne der Wissenschaften zu werden.

Literatur Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart 1982. Bruner, Jerome: Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns, Heidelberg 1997. Frege, Gottlob: »Über die Zahlen des Herrn H. Schubert«, in: Ignacio Angelelli (Hg.): Frege, Kleine Schriften, Hildesheim 21990, 240–261. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Frankfurt a. M. 1995. James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Olten 1979. Schneider, Hans Julius: Phantasie und Kalkül, Frankfurt a. M. 1992. Schneider, Hans Julius: »›Den Zustand meiner Seele beschreiben‹ – Bericht oder Diskurs?«, in: Wolfgang R. Köhler (Hg.): Davidsons Philosophie des Mentalen, Pader­born 1997, 33–51. Schneider, Hans Julius: »Reden über Inneres. Ein Blick mit Ludwig Wittgenstein auf Gerhard Roth«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53, 2005, 743–759. Schneider, Hans Julius: »Satz – Bild – Wirklichkeit. Vom Notationssystem zur Autonomie der Grammatik im ›Big Typescript‹«, in: Stefan Majetschak (Hg.): Wittgensteins ›große Maschinenschrift‹. Untersuchungen zum philosophischen Ort des Big Type­scripts (TS 213) im Werk Ludwig Wittgensteins, Bern e.a. 2006, 79–98. Schneider, Hans Julius: Religion, Berlin 2008. Searle, John R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1971. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen / Philosophical Investigations, London 1953. Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, Kritische Edition, hgg. von Brian McGuiness / Joachim Schulte, Frankfurt  a. M. 1989.

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Wittgenstein, Ludwig: »Vortrag über Ethik«, in: ders.: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1989, 9–19. Wright, Georg Henrik von: »Wittgenstein and Tradition«, in: Colloquium Philosophicum. Annali del Dipartimento di Filosophia II, Firenze 1997, 31–46, hier: 38.

Wissen und Begriff. Zum normativen Status generischer Sätze Pirmin Stekeler-Weithofer

1.  Materiale Inferenznormen im empirischen Wissen 1.1  Zu Thema und These Verstehen von Inhalten und damit auch das Fassen und Haben von Gedanken besteht in einem Können. Es besteht in der praktischen Beherrschung inhaltsbestimmender Formen des richtigen Schließens. Es gibt, so können wir wohl sagen, keine sprachlichen Inhalte ohne zugehörige Inferenznormen. Deren Beherrschung bestimmt, ob und wie weit einer die Inhalte einer Sprechhandlung versteht. Diese Normen umfassen die Be­grün­dungs­verpflichtungen für gewisse Züge im Sprachspiel. Jedes Sprachspiel ist seinerseits immer auch schon eingebettet in eine weitere kommunikative und kooperative Praxis. Das ist so, selbst wenn diese Einbettung bloß darin besteht, dass unser vorplanendes Eigenhandeln, nämlich im sprachlich expliziten Vorgriff auf einen Handlungszweck und auf mögliche Mittel, gelernt werden muss. Jede kontrollierte Intention auch in einer bloß instrumentellen Zielverfolgung setzt damit das Verstehen sprachlicher Bedeutung voraus. Diese Bedeutung kann daher nicht durch Sprecherintentionen erklärt werden. Robert Brandom hat diese Tatsachen, die im Grunde auch schon von W. Sellars und K. Lorenz1 in der Nachfolge von Wittgenstein gesehen wurden, mit vollem Recht wieder in den Mittelpunkt der Beachtung gerückt. Allerdings wird in der Rede über ein Geben und Erfragen von Gründen nicht befriedigend erklärt, was denn gute Gründe sind und was richtiges Schließen insgesamt ist. Denn als Beispiele für gültige Schlüsse präsentiert man uns im Allgemeinen nur Schlüsse, die sich in der mereologischen Termlogik und Syllogistik des Aristoteles oder der mathematischen Prädikaten- oder Quantorenlogik Freges ergeben. Doch deren ›allgemeine‹ Gültigkeit hängt von höchst speziellen Sprach­kon­struktionen ab. Bei Aristoteles sind das klassifikatorische Taxonomien, bei Fre­ge schematisierende Normierungen des Ge­brauchs der so genannten logischen Form- oder Struktur­wörter »nicht« bzw. »wenn-dann« und der Aussageformen »für alle x gilt A(x)«. Deren Kalkülisierung setzt wiederum einen ›sortalen‹ mathema­tischen Redebereich diskreter, also von einander unterschiedener, abstrakter Gegenstände voraus. Dabei haben schon die megarischen Logiker, wohl in Kenntnis entsprechender Kritikpunkte des Zenon, Sokrates und Platon, nicht zuletzt am Beispiel des Haufenparadoxes eingesehen, dass man das rein schematische Schließen der Mathematiker nicht unmittelbar für weltbezogene (›empirische‹) Siehe K. Lorenz, »Dialogischer Konstruktivismus«; ferner ders.: »Das dialogische Prinzip in der Philosophie«. 1 

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Aus­sagen anwenden kann. Dem ist so aufgrund der Vagheit weltbezogener Prädikate. Außerdem gibt es notorische Unklarheiten im Hinblick auf die zeit- und aspektinvariante Identität von Dingen. Diese haben eine unvermeidliche Unschärfe welt­bezogener Namenreferenzen zur Folge, wenn man von den lebenslangen Benennbarkeiten menschlicher und tierischer Individuen einmal absieht, da man diese bekanntlich nicht in zwei Teile teilen kann. Entsprechend ist das inhaltliche Schließen im Reden über die Dinge der realen Welt von ganz anderem Typ als das for­male Rechnen und Deduzieren in der idealen Mathematik. Man kann die Leitfrage der hier vorgetragenen Überlegung daher auch so formulieren: Wie verhält sich das innerakademische ›Collegium Logicum‹, das uns das Denken in die Spanischen Stiefel des mathematischen und philosophisch-formalen Schließens einschnürt, zum ›logischen Den­ken‹ des Volksmundes oder der Detektivromane mit ihren Ermittlungen von Tathergängen und Ursachen für Geschehnisse? Dieses logische Denken ist ein ›materiales‹ Schließen im Sinne von Sellars und Brandom. Brandoms ›sprechaktpragmatischem‹ Ansatz zufolge soll sich nun die Richtigkeit eines materialen Schlusses in den Anerkennungen der je angegebenen Gründe im Dialog manifestieren. Doch wie ist dann die Differenz zwischen bloß kontingenten Zustimmungen und der Anerkennungswürdigkeit von Aussagen, Gründen und Schlüssen zu verstehen? J. Habermas meint entsprechend, die ›Gültigkeit‹ eines Sprechaktes ergebe sich aus ihrer ›Akzeptabilität‹. Sein all­bekannter Appell an einen Konsens lässt aber die Frage eben­falls offen, wie sich eine bloß zufällige Akzeptanz zur Anerkennungswürdigkeit verhält. Brandom hebt hier zwar mit Recht die Nor­mativität des Richtigen hervor. Worin sie aber besteht, bleibt auch noch nach Brandoms wichtigem Buch Making It Explicit offen, und zwar weil sie nicht einfach im Erreichen eines realen Konsenses besteht. 2 Damit bleibt der Zusammenhang zwischen Wissen und Bedeutung, Inhalt und Inferenz, semantischen Schlussnormen und faktischem Schließen immer noch unaufgeklärt. Die Bedeutung sprachlicher Aus­drucks­formen besteht nämlich nicht einfach in deren faktischem Gebrauch. Wittgensteins Rat, statt nach einer abstrakten Bedeutung nach dem Gebrauch der Worte zu schauen, sollte also nicht einfach behavioristisch (miss)verstanden werden, und zwar weder auf der Ebene des individuellen, noch auf der Ebene des kollektiven Verhaltens. Sprachliches Inhaltsverstehen besteht vielmehr in einem gemeinsam kontrollierten generischen Wissen und kooperativen Können. Die Denktradition des Empirismus schwankt dem gegenüber seit Locke und Hume zwischen einer mentalistischen und einer naturalistischen Fehldeutung unseres Sinn­ver­ stehens, zugleich zwischen einem metaphysischen Physikalismus und einem solipsistischen Skeptizismus. Im zweiten Teil geht es mir daher auch um eine Kritik an dieser Ideologie der Moderne, am Empirismus, besonders an den Hypostasierungen der generischen Grundprinzipien unserer Dar­stel­lungs- und Erklärungsformen von Welt und am Glauben an einen durchgängigen Kausalnexus allen Geschehens. Infrage steht die zugehörige naiv-

2 

Vgl. dazu auch P. Stekeler-Weithofer, The Pragmatics of Making it Explicit.

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korrespon­denz­theoretische Deutung unserer reflexionslogischen Reden über Wahrheit, Wirklichkeit, Ursachen und Gründe.

1.2  Die Anwendungsform materialbegrifflichen Wissens Für die Überwindung des Empirismus ist ein angemessenes, innerweltliches, also die Tatsachen nicht mystifizierendes, und zugleich hinreichend grobes, pragmatisches, Verständnis der Ver­fassung sprachlichen Inhaltsverstehens notwendig. Sprachkompetenz verlangt dann offenbar nicht bloß die Beherrschung von Lexikon und Syntax, sondern auch von inhaltsbestimmenden Inferenznormen, wie ich die kriterial wirksamen Formen ›materialbegrifflichen‹ Schließens und Urteilens zusammenfassend nennen möchte. Dabei gebrauche ich in einer Art Verallgemeinerung von Lorenzens Gebrauch von »materialanalytisch« und in einer Art Verengung von Brandoms Gebrauch des Wortes »material«3 das Wort »materialbegrifflich«, um das Folgende auszudrücken: Materialbegriffliches Wissen bestimmt die Form des richtigen, zulässigen bzw. notwendigen, Folgerns, Schließens oder Urteilens. Wir urteilen und schließen immer schon auf der Basis von Prämissen, wobei auch nicht­sprachliche ›Prämissen‹ wie Wahrnehmungen zuzulassen sind und Handlungen als nichtsprachliche ›Folgerungen‹ auftreten können. Es sind dabei, wie wir sehen werden, Prämissen und Folgerungsformen, die aus einem inhaltsbestimmenden public (oder auch social) domain eines Allgemeinwissens stammen,4 zu unterscheiden von Prämissen, die als empirisches Einzelwissen einzelner Personen auftreten.5 Wie das in generischen Aussagen artikulierte Allgemeinwissen den Inhalt empirischer Aussagen bestimmt, soll paradigmatisch an folgendem Beispiel skizziert werden. Wenn ich von dir höre, dass dort drüben eine Katze lauere, gehe ich davon aus, dass es weder ein Tiger noch ein Plüschtier ist. Ich ›schließe‹ aus deiner Aussage außerdem, dass das Tier nicht tot ist. Tote Tiere lauern nicht. Und ich erwarte, dass das Tier nicht bloß so aussieht, als lauere es. Wenn sich etwa herausstellt, dass das Tier blind und taub ist, müsstest du deine Aussage wohl zurücknehmen. Und wenn du weißt, dass eine generische Normalerwartung wie die, dass das Tier nicht auf schwerwiegende Weise krank ist, nicht erfüllt sind, hast du das normalerweise explizit zu machen. In eben diesem Sinn ›erwarten‹ wir, dass eine Katze vier und nicht etwa bloß drei Beine hat, dass sie, wenn sie nicht kastriert ist, regelmäßig läufig wird und normalerweise einige Junge wirft.6 In ähnlichem Sinn erwarten wir, dass ein Kleidungsstück, von dem du sagst, es Siehe R. B. Brandom, Making It Explicit, Kap. I, IV; ders., Articulating Reasons, 52 ff. Ohne Erläuterung als eines public domain bleibt die Rede von einem ,›space of reasons‹ unverstanden. 5  Die im Ausdruck »materialbegrifflich« angedeutete Differenz zum Ansatz Brandoms besteht darin, dass dieser die Kategorie generischer Aussagen und damit Hegels Kategorie der Allgemeinheit gar nicht eigens behandelt. Generische Aussagen sind aber keine empirischen Allaussagen oder Häufigkeitsaussagen einzelner Personen. 6  Siehe dazu auch M. Thompson, Life and Action. 3  4 

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sei grün, auch grün bleibt, wenn es aus dem Laden ans Tageslicht gebracht wird. Wenn das nicht der Fall ist, musst du dich korrigieren und sagen, dass es im Laden bloß grün aussah. Das gilt nicht, solange wir uns nur im Geschäft bewegen und ich dich etwa bitte, das grüne Hemd zu bringen: Hier reicht es, wenn es grün aussieht. Wir passen also offenbar unser Verstehen der Sätze im konkreten Dialog an die Sprech- und Bezugssituation an. Aber ohne appellativen und gemeinsamen Rückgriff auf einen public domain materialbegrifflichen Allgemeinwissens bliebe das Com­­­­mit­­ ment des Sprechers ebenso wie das diesem entsprechende Entitlement des Rezipienten inhaltlich unbestimmt. Es fehlte dann jedes Kriterium dafür, was ein prima facie zulässiges Folgern, was ein berechtigtes Fragen nach Gründen und was befriedigende Antworten wären. Ohne urteilskräftige und erfahrene Projektion generischer Folgerungen auf je reale Fälle in einer perzeptiven Anschauung gegenwärtiger Weltverhältnisse, samt der zugehörigen Geltungskontrolle, bliebe ein bloß verbales Folgern und Begründen eine Art spinning in the void, ein sich leer drehendes Rad, wie sich John McDowell ausdrückt.7 Die konkrete Anwendung materialbegrifflich-generischen Wissens im realen Weltbezug geschieht nun aber keineswegs schematisch. Er setzt die Beherrschung einer Art von Projektionsfilter voraus, der in einer angemessenen Berücksichtigung des je begrenzten Redekontextes und einer mit der konkreten Kommunikationssituation verbundenen Rele­vanzbetrachtung besteht. Besonders schön sieht man das am Umgang mit den insgesamt generischen Wahrheiten der idealen mathematischen Geometrie. Ihr projektiver Ge­brauch in der Darstellung realer Körperformen oder Raumverhältnisse bedarf entsprechender Urteilskraft. Es ist ja nicht jeder formal folgerbare Satz der idealen Geometrie unmittelbares Kriterium dafür, ob eine Fläche ausreichend eben oder eine Kante hinreichend gerade ist. Die in der Euklidischen Geometrie formal als ›wahr‹ gesetzten Sätze lassen sich nicht unmittelbar, d. h. nicht ohne besondere Betrachtung der relevanten Größenordnungen unserer Maßbestim­mungen in einer von uns entsprechend eingerichteten Messpraxis, auf räumliche Verhältnisse an Dingen oder zwischen Dingen im realen empirischen Raum der relativ zu einander bewegten Dinge projizieren. Für empirische Aussagen gibt es immer die Möglichkeit, dass eine Korrektur nötig ist. Das liegt nicht bloß an unserer Unfähigkeit, etwas ganz sicher zu wissen. Es ist ein systematischer Bestandteil unserer Sprache. Es gehört zur realen Form von sprachlich (oder sonst wie symbolisch) vermittelter Kommunikation. Damit berücksichtigen wir die Tatsache, dass weltbezogene Urteile aufgrund der mit ihnen verwobenen allgemeinen Inferenznormen einen inferentiellen Überschuss enthalten. Das einzelne Subjekt, der Sprecher, kontrolliert keineswegs vollständig, ob ›alle‹ Defaultinferenzen gesichert sind.8 Es steht daher im Fall der empirischen Einzelurteile die subjektive Gewissheit bzw. berechtigte Versicherung des Sprechers der sich zumeist erst später zeigenden objektiven 7  Siehe J. McDowell, »Criteria, Defeasibility, and Knowledge«; ferner ders., Mind and World. 8  Die Normen und Normalformen, welche in begrifflichen Formaussagen artikuliert werden, zeigen sich am klarsten ex negativo, in ironischer Rede oder im Witz.

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Verlässlichkeit der Aussage gegenüber. Ob das (hoffentlich mit ehrlicher Gewissheit, also wahrhaftig) behauptete Ur­teil als empirisches Wissen zählt, wird dabei im Allgemeinen nicht bloß von mir, sondern auch von den konkreten Adressaten kontrolliert.9 Wenn die Kommunikation klappt, die gegebene Information richtig ist, sind freilich keine weiteren Fragen nach der ›eigent­lichen Wahrheit‹ mehr sinnvoll. Das ist so gemeint: Wenn ich dir sage, da draußen steht ein Stuhl, du gehst raus, holst ihn rein und setzt dich darauf, sind keine weiteren Fragen nach der ›wirklichen Existenz‹ des Stuhles mehr sinnvoll. Empirisches Einzelwissen ist in diesem Sinn immer mehr oder minder situationsbezogen, begrenzt. Es ist zwar in einem gewissen Sinn fallibel und daher korrigierbar. Aber es findet in einer gelingenden Handlung oder Kooperation seine vollkommene Erfüllung, so wie ein zielgerichtetes Tun im Erreichen des Zieles. Was wir als »empirische Hypothesen« ansprechen, sind dann schon Aussagen im Modus des Allgemeinen. Diese müssen noch darauf­hin geprüft werden, ob man sie mehr oder minder endgültig und mit Gewinn als Sätze in die inhaltsbestimmende public domain des Allgemeinwissens aufnehmen kann oder soll. Ob eine generische Hypothese etwa in eine Realenzyklopädie aufgenommen werden bzw. darin bleiben soll, wird nicht einfach von einzelnen Personen festgesetzt, sondern ergibt sich in einem gemeinsam kontrollierten, aber gerade als solchem immer auch offenen Prozess der Wissens- und Begriffsentwicklung. In der Normalsprache gebrauchen wir das Wort »Wissen« gerade auch dafür, was ich als einzelne Person so alles gelernt habe. Was wir dabei lernen, ist neben den Einzelberichten einer bloßen empeiria oder historia etwa über Cäsar oder Einstein ein situationsübergreifendes materialbegriffliches und eben damit generisches ›Wissen‹. Man denke z. B. an ein Wissen über die Chemie des Wassers oder über das Verhältnis zwischen temporalen und lokalen Datierungen von Ereignissen auf relativ zu einander bewegten Festkörpern und zu Maxwells Elektrodynamik bzw. zur Lichtausbreitung. Während der Gehalt empirischer Geltungsansprüche im engeren Sinn des bloßen Berichts immer in Relation auf die besondere Sprechersituation, Perspektive und Relevanz zu verstehen und entsprechend zu beurteilen ist, ist materialbegriffliches Wissen dem Anspruch nach in einem gewissen Sinn ›achron‹ und ›situationsinvariant‹, in die9  Im Unterschied zu einem Wissen ist Gewissheit eine performative Haltung bzw. ein Gefühl. Eine Kenntnis oder eine Er­kenntnis ist eine von anderen Personen attestierbare und kontrollierbare Fähigkeit. Es ist die in einem gewissen Rahmen jederzeit aktivierbare Fähigkeit, richtig zu urteilen, oder deren konkrete Aktualisierung. Unsere Rede von einem Wissen ist dagegen in gewissem Sinn gespalten: Einerseits bestimmt das laufende Gemein­schaftsprojekt der Entwicklung von Wissenschaft, was zum Allgemeinwissen gehört, also zu einem fixierten System materialbegrifflicher Wahrheiten in der Kategorie des Allgemeinen gehört und was entsprechend der Sinngehalt empirischer Aussagen der Kategorie des Einzelnen ist. Andererseits nehmen wir als einzelne Personen an diesem Projekt der Arbeit am Begriff durch Entwicklung des Allgemeinwissens teil. Dies tun wir, indem wir Erkenntnis- oder Wissensansprüche, etwa geäußert im Modus der Gewissheit, bei anderen und bei uns selbst auf Richtigkeit und Verlässlichkeit im Blick auf die mit ihnen formal- und materialbegrifflich verbundenen inferentiellen Gehalte kontrollieren und beurteilen, und daraufhin die Sätze oder Aussagen als allgemein verlässliche Orientierungen bis auf Weiteres bestätigen oder durch bessere aufheben und nicht etwa einfach ohne gangbare Alternative verwerfen.

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sem Sinn ›ewig‹ bzw. ›unendlich‹. Um die Form dieses Wissens zu artikulieren, gebrauchen wir daher eine von uns selbst entworfene Konstruktion eines Idealbegriffs des vollkommenen Wissens und der absoluten Wahrheit. In ihr stellen wir das ideale Ziel unserer allgemeinen Wissensentwicklungen dar – und gebrauchen dazu seit Parmenides und Platon die Metapher von einem göttlichen oder unendlichen Wissen, was hier allerdings nicht weiter thematisiert werden kann. Generisches Wissen ist nun aber als solches gerade nicht als eine Menge empirischer Allsätze oder von Aussagen über empirische Häufigkeiten zu verstehen. Es ist vielmehr ein System von teils nichtsprachlich, teils sprachlich erlernter bzw. erlernbarer Normalerwartungen, welche den Hintergrund bilden dafür, was besondere Sprecher oder einzelne Autoren (die auch als Gruppe Einzelne sind) ›nach bestem Wissen und Gewissen‹ sagen oder schreiben können oder müssen, um im besonderen Fall so verstehbar zu sein, dass sich Hörer oder Leser auf das Gesagte nach Maßgabe der allgemeinen Grenzen des Verlässlichen verlassen dürfen. Generisches Wissen dieser Art bestimmt den seman­tischen und das heißt immer auch inferentiellen Inhalt empirischer Aussagen in der Form eines Systems von Defaultschlüssen und Normalerwartungen wesentlich mit. Als materiales Wissen und Können geht es über rein formale Inferenznormierungen, insbesondere über bloße definitorische und terminologische Sprachregeln, weit hinaus. Es steht längst schon im Rahmen allgemeiner Erfahrung, und zwar selbst dann, wenn die Inferenzformen als solche rein schematisch lernbar sind. Das schließt die Notwendigkeit von kontext- und relevanzbezogener Urteilskraft im besonderen Anwendungsfall keineswegs aus. Inferenzen, die bloß auf der Ebene syntaktisch-konfigurativer Deduktionen operieren, heißen oft auch »(formal)analytisch« oder auch »strukturbegrifflich«. Rein formal oder strukturbegrifflich in diesem Sinn ist z. B. ein Schluss bzw. Übergang von »Peter läuft« zu »es gibt jemanden, der läuft«. Formalanalytisch ist aber auch ein Schluss ge­mäß einer terminologischen Inferenznormierung wie dieser: Was immer »Wal« genannt werden kann, darf auch »Säuger« genannt werden. Synthetische Urteile sind solche, die nicht analytisch sind. Die Frage nach der Normativität der durch allgemeines Wissen bestimmten semantischen Inferenzformen lässt sich jetzt auch als eine Art Neuauflage der kantischen Frage nach der präsuppositionalen oder transzendentalen Rolle synthetischer Urteile a priori und nach ihrem geltungstheoretischen Status begreifen. Diese Aussagen artikulieren Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass sich in anderen Sätzen oder Aussagen wohlbestimmte empirische Inhalte ausdrücken lassen. Der Unterschied zwischen synthetisch-apriorischen oder materialbegrifflichen Inferenzen und Urteilen zu rein formalanalytischen liegt dabei in der Art der Begründung ihrer Setzung im public domain. Im formalanalytischen Fall ist die Setzung eine sprachliche Konvention, wie z. B. im Fall einer Ge­brauchsform für logische Strukturworte wie »es gibt« oder für Terme in Taxonomien. Materialbe­griff­liche Inferenznormen basieren auf einem allgemeinen Erfahrungswissen. Der Begriff der allgemeinen Erfahrung ist jetzt freilich vom Begriff des bloß Empirischen, der Einzelwahrnehmungen, zu unterscheiden. Diese Unterscheidung

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ersetzt  bzw.  ergänzt in gewissem Sinn Kants Unterscheidung zwischen  synthetischapriorischen und aposteriorischen Urteilen. Empirie im Sinne von Einzelbeobachtungen produziert als solche immer nur Häu­ figkeits­ur­teile über Einzelnes. Sie ist damit bloße historia im klassischen Sinn des Wortes und als sol­che noch keine Wissenschaft (theoria, scientia). Der allzu positive Klang des Wortes »Empirie« er­schwert diese Unterscheidung zu einem allgemeinen Er­fahrungs­ wissen. Hinzu kommt eine extrem breite Verwendung des englischen Wortes »experience«, die von der subjektivsten Empfindung bis zur allgemeinsten ›Erfahrung‹ reicht, wie etwa der, dass Geraden und Kreise maximal zwei Stellen gemeinsam haben. Wir müssen außerdem über Kants Betrachtung von Sätzen hinaus gehen. Denn keineswegs alle begriffsbestimmenden Inferenznormen, welche den Inhalt eines Ausdrucks im Kontext seiner Gebrauchsformen in Sprechhandlungen bestimmen, sind schon in expliziter Satz- oder Regelform artikuliert. Viele sind und bleiben ein ›vor­sprachlich‹ eingeübtes Können, das sich nur zum Teil in explizite Regeln oder in die Form eines satzartig kodifizierten Wissens überführen bzw. durch dieses darstellen lässt. Jedes explizite Wissen setzt zwar Sprache voraus. Jedes Sprechen basiert aber seinerseits auf einem, wie schon Karl Bühler passend gesagt hat, empraktischen10 Wissen. Die zugehörigen praktischen Kenntnisse, oder besser Handlungskompetenzen, entstammen der Teilnahme an gemeinsamen Praxisformen und ›bewähren‹ sich in ihr.

1.3  Differenz und Inferenz Wir können jetzt schon das Folgende festhalten: Unsere Klassifikationen von Dingen oder Qualitäten sind immer schon mit zugehörigen inferentiellen Commitments und Entitlements verbunden, also mit Folgerungserlaubnissen und Begründungsverpflichtungen. An einer bloß formalen Wahrheit rein klassifikatorischer Aussagen ohne differentielle Fol­gerungen gibt es kein Interesse, wie Wittgenstein in einem Kommentar zu Freges Wahrheitswert­semantik arithmetischer Sätze sagt. Wittgenstein erkennt dabei, erstens, dass die mathematischen Sätze (wie andere generische Sätze auch) selbst als Schlussregeln deut­bar sind, dass wir, zweitens, etwas immer nur dann differenzieren, wenn die Unterschiede manchmal mit verschiedenen Folgerungen verbunden sind. Gleich­ setzungen sind immer dort sinnvoll bzw. geboten, wo die relevanten Inferenzen gleich sind, wo es also inferentiell nichts Wesentliches zu differenzieren gibt. Das geschieht, sozusagen, gemäß dem Motto: Keine Differenz ohne Inferenz. Andererseits sind keine (differentiellen) Inferenzen ohne relevante (klassifikatorische) Differenzen möglich. Damit sehen wir auch, warum die Reden über Qualia, also darüber, wie sich etwa mein Schmerz anfühlt, nur dort sinnvoll sind, wo wir auch Anderen die von ihnen selbst erfahrenen Differenzen, sagen wir zwischen einem stechenden und einem dump-

10 

48.

Siehe K. Bühler, Sprachtheorie, 52 und 155; Kamlah / Lorenzen, Logische Propädeutik,

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fen Schmerz, erläutern können – und daraufhin vielleicht unterschiedliche Maßnahmen treffen, um dem jeweiligen Schmerz zu entgehen oder ihn wenigstens abzuwandeln. Die Normen für das richtige Klassifizieren und Schließen sind dabei zunächst immer empraktisch anerkannte Berechtigungen und Verpflichtungen, welche das ›richtige‹ klassifikatorische und inferentielle Reden und Handeln der Einzelnen im Kontext gemeinsamen Lebens be­stimmen. Wir machen solche Normen des Richtigen auf die eine oder andere Weise explizit, entweder durch bloße Nennung der Norm oder in der Form bedingter Regeln, einfacher Bedingungssätze (bzw. dann auch logisch kom­plexer Sätze, in denen Bedingungssätze auf vielerlei Weise ›vorkommen‹ können). So kann man zum Beispiel die Schlussform des Modus Ponens für den Bedingungspfeil einfach durch ihren traditionalen Namen benennen. Oder man kann sie wie folgt durch eine Pfeilq. Diese Regel muss man dann aber wieder praktisch richtig Regel notieren: (p, p → q)   verstehen. Offenbar ist die Rede von einem impliziten Wissen ähnlich wie die von impliziten Regeln leicht so misszuverstehen, als ließe sich die inferentielle Sprachkompetenz immer durch ein explizites Wissen artikulieren. Es wird durch das Wort »implizit« nahegelegt, dass das ›Eingefaltete‹ als solches ›ausgefaltet‹ werden könne, explizierbar sei, so wie jede stille Rede laut artikulierbar sein muss. Doch während die zweite Aussage richtig ist, ist das von Searle und Habermas vertretene Prinzip der ›expressibility‹, der vollen Explizierbarkeit jeder empraktischen Norm des Richtigen, einfach falsch.11 Es verkennt den empraktischen Status von Normen im Unterschied zu a fortiori schon benennungsartig explizierten Prinzipien und formel- oder satzartig explizierten Regeln. Die Rede von rein impliziten Regeln oder Prinzipien spricht sogar über ein hölzernes Eisen. Als implizite müsste eine solche Regel nämlich schon auf die eine oder andere Art explizierbar sein. Daher trifft Bühlers Ausdruck »empraktisch« das, worum es hier geht, besser. Die Rede von einem sich empraktisch im Tun zeigenden Können oder Know-How steht auch nicht einfach, wie Gilbert Ryle und die in seiner Nachfolge geführte Debatte um ein ›nicht-propositionales Wissen‹ suggeriert, einem propositionalen Know-That gegen­über. Denn ein Können wird, wie wir sehen, nicht etwa nur durch Propositionen, sondern auch durch Nennungen der Formen des Handelns explizit gemacht. Dasselbe gilt auch für Formen des Urteilens und Schließens. Dabei hat schon Platon in seinen Überlegungen zur Methodik oder Anwendung von eidetischen (d. h. modellinternen) Aussagen über Formen gesehen, dass reale Anwendungen sprachlicher Ausdrücke in der phänomenalen Erfahrung die praktische Beherrschung der normgerechten Projektion voraussetzen. Lewis Caroll und Wittgen­stein erkennen Entsprechendes für die Anwendung von Regeln, und zwar sowohl für PfeilVgl. dazu J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 25: »Unser Wissen hat propositionale Struktur; Meinungen lassen sich explizit in der Form von Aussagen darstellen (…) In sprachlichen Äußerungen wird Wissen explizit ausgedrückt, in zielgerichteten Handlungen drückt sich ein Können, ein implizites Wissen aus; auch dieses know-how kann grundsätzlich in die Form eines know-that überführt werden …« mit dem auf den Seiten 377 und 449–451 zum impliziten Hintergrundwissen Gesagten, ferner mit Searle, Speech Acts, 88: »… whatever can be meant can be said«. 11 

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q, als auch für die Erläuterung ihres Gebrauchs durch Regeln der oben notierten Art p   q, dann auch q«.12 folgende Wenn-dann-Regel: »wenn p zur Verfügung steht und p   Alle diese ›Regeln‹ setzen einen kompetent beherrschten Umgang mit den entsprechenden Regelartikulationen voraus, und zwar ge­mäß der empraktisch zu beherrschenden Inferenznorm des ›Modus Ponens‹. Zu den Bedingungen des Gebrauchs bedingter Regeln gehören immer auch Vor­oder Rahmenbe­dingungen, welche den Anwendungsbereich der Regel praktisch mitbestimmen, ohne in der Regelformulierung mitartikuliert zu sein. Analoges gilt für Recht­fertigungen und Begründungen von Urteilen und Aussagen. Manche dieser Vorbedingungen werden von uns selbst in illokutionären Sprech­handlungen ›spontan‹ geschaffen: Indem ich etwas behaupte oder verspreche, verpflichte ich mich zu etwas. Diese Verpflichtungen oder Commitments sind dann in einer komplexen Diskurs-, Kontroll-, Kritik- und dann vielleicht auch Sanktionspraxis tätig zu erfüllen, oder es ist zu zeigen, dass sie schon erfüllt sind. Die Kompetenz des Regelfolgens oder, allgemeiner, des rechten Umgangs mit inferentiellen Commitments und Folgerungserlaubnissen (Entitlements) lässt sich nun aber nicht einfach so beschreiben, dass einer sie besitzt, wenn er nur selten genug in seinem Tun von anderen Akteuren kri­tisiert (›sanktioniert‹) wird, wenn sich also die beteiligten Akteure in einer entsprechen­den Interaktion hinreichend häufig mit seinem Tun oder dessen Ergebnis zufrieden geben. Die empraktische Existenzweise von Formen des Handelns ist vielmehr in gewis­sem Sinn als ein Sonderfall der aristotelischen energeia, einer sich in der Tätigkeit zeigenden Fähigkeit zu begreifen, und das heißt in diesem Fall: einer im Normfall spontan, d. h. nach Belieben, wiederholbaren generischen Handlung, die, wenn sie intrinsisch auf eine hinreichende Formerfüllung verweist, unter den Titel einer entelecheia, der Gerichtetheit auf ein Ziel fällt: Die Handlung ist in ihrem Begriff zielgerichtet, perfektiv charakterisiert, und kann im Normalfall erfolgreich ausgeführt werden. Im Fall von Lebewesen betrifft die Zielerfüllung der Entelechie ihre Lebensvollzüge, bei Men­schen insbesonders auch das individuelle oder kooperative Handeln und damit die hin­reichend richtige, gute oder erfolgreiche Teilnahme an der je relevanten Praxisform. Aber auch sonst gibt es ein Telos, so wie die Eichel auf die Eiche verweist oder eine Kreis­figur auf den Kreis. In der Idealform ist eine vollkommene Erfüllung von GüteBe­dingungen (pars pro toto: das Erreichen eines Ziels) artikuliert. Der Einzelfall, das Einzelding, das einzelne Wesen bzw. der einzelne Prozess verweist in seinem Sein, seiner Entelechie, auf die Erfüllung einer Form oder Norm. Diese Form existiert als Telos oder Ziel bzw. als Idee des hinreichend Guten im Sein des Lebewesens oder Gegenstandes. Ich kann in diesem Sinn der Erfüllung von Zielbedingungen im Normalfall sprechen und denken, handeln und Wissen erweben, ich kann etwa schwimmen, Fahrrad fahren und dieses Können weiter vermitteln. In allen diesen Fällen kann in der Einzelanwendung des Könnens freilich immer auch etwas schief gehen, ähnlich wie generiSiehe L. Carroll, »What the Tortoise said to Achill«; mit Wittgensteins Tractatus, 6.1264: »Und den modus ponens kann man nicht durch einen Satz ausdrücken.« 12 

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sche Ursachen im Einzelfall sich kreuzender Kausallinien unvorhergesehene, insofern zufällige, Wirkungen ›hervorbringen‹ können. Angesichts des Denkens der Moderne, das die Ebene des Idealen samt der Rede über eine absolute Wahrheit in ihrer sprachtechnischen Konstitution weitgehend nicht (mehr) zu begreifen scheint, ist noch einmal an die intrinsische Endlichkeit jedes realen Wissens zu erinnern. Das Normal­fallwissen ist das einzige situationsübergreifende Wissen, das es wirklich gibt, über die Einzelkenntnisse einer bloßen historia hinaus. Es ist, wie ich mich ausdrücken möchte, zwar theoretisches, aber gerade auch als solches bürgerliches Real­wissen. Als theoria ist es zwar immer auch fallibel und in gewissen Hinsichten vielleicht auch verbesserbar. Unsere Orientierung an ihm kann schief gehen. Aber im Normalfall werden diese Bedingungen bürgerlichen Allgemeinwissens erfüllt. Der In­halt des Wissens ist dann so wahr und richtig, wie etwas in dieser Welt nur wahr und richtig sein kann – und eine andere Welt gibt es nicht. Dabei ist die Einsicht der philosophischen Phänomenologie Husserls und Heideggers von zentraler Bedeutung, dass alles Wissen der Wissenschaft auch nur ein leicht verfeinertes bürgerliches Wissen ist, allen Überschätzungen der Wissenschaften in unserem Zeitalter, wie etwa in Bachelards Épistémologie, zum Trotz.

1.4  Wirklichkeitserfahrungen Wirklichkeit zeigt sich im (durchschnittlichen) Erfolg des Realge­brauchs unserer immer schon allgemein bzw. generisch verfassten begrifflichen Orien­tierungen. In Theorien machen wir diese Orientierungen auf die eine oder andere Weise explizit. In diesem Sinn ist unser Begriff des Wirklichen längst schon in sich reflektiert: Es ist ein hochstufiger Begriff der Beurteilung der relativen Qualität bzw. relativen Richtigkeit unseres generischen Wissens. Diese Richtigkeit ist relativ insofern, als wir hier immer nur darüber urteilen können, was das beste verfügbare Wissen ist. Die Rede von jeder unverfügbaren, in diesem Sinn transzendenten, Wahrheit ist aus dem Realbegriff des Wissens also systematisch auszuschließen. Sie bleibt unverstanden und irreführend, es sei denn, wir wollen nur darüber sprechen, dass wir natürlich auch unser Allgemeinwissen und damit den begrifflichen Rahmen zur Artikulation von empirischen Einzelwissen nach und nach verbessern. Unser eigener Begriffsrahmen bleibt dennoch für alle unsere eigenen Beurteilungen von Aussagen als richtig oder falsch apriorisches und normatives Fundament. Damit erkennen wir auch, dass Erfahrung viel mehr und Anderes ist als bloße ›empirische‹ Beobachtung von Einzeltatsachen. Echtes Experimentieren ist kein bloßes Probieren. Es ist Austesten und Verschieben der Grenzen bisherigen allgemeinen Könnens und generischen Wissens. Dieses Wissen wird in Theorien vorzugsweise satzartig artikuliert, so dass man die durch die Theorien intern oder formal als wahr erklärten Sätze einfach lernen kann. Mathematik ist unter Anderem ein System der einfachen Lernbarkeit von vielen solcher Sätze: Man lernt die Axiome und die Methoden der Herleitung der Sätze.

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Hegels Wort »Dialektik« meint in diesem Kontext bemerkenswerter Weise nichts Anderes als das was Karl Popper später als Logik der Forschung skizziert:13� Im Unterschied zu einer internen Logik mathematisierbarer Satzsysteme handelt es sich um ein Austesten der Grenzen theoretisch artikulierter Welt­darstellung und Welterklärung. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zwischen Hegel und Popper: Popper meint offenbar, dass sich Theorien durch einzelne Gegenbeispiele widerlegen lassen, nicht bloß, dass gehaltvolle Theorien im Grundsatz durch ›mögliche Erfahrung‹ widerlegbar sein sollen.14 Hegel dagegen kennt den generischen Charakter aller unserer Theorien. Ihre besondere Rolle in der Begriffsbestimmung gerade auch von empirischen Aussagen ist der eigentliche Grund dafür, warum bloß einzelne Beispiele ein allgemeines Wissen in seiner Funktion als begriffsbestimmendes Normal­fallwissen nicht begründen bzw. widerlegen können. Das wiederum heißt, dass die theoretischen Aussagen als generische Aussagen nicht einfach als Allaussagen über jeden Einzelfall zu verstehen sind. Wie aber dann? Man betrachte dazu zunächst den Fall sogenannter naturhistorischer bzw. ethologischer Aussagen. Wir sprechen dort etwa über den Berglöwen (an sich) und dessen Lebensform. Wir sagen etwa, die Berglöwin jage Kaninchen, habe zwei Jungen und so fort. Wir sprechen dabei offenbar nicht über einzelne oder über alle Berglöwen.15 Auch ein Kreis an sich oder der Staat an sich sind nicht einfach empirische Redegegenstände. Aussagen über sie sind keine Allsätze im Bezug auf eine Menge empirischer Einzelgegenstände. Sie sind vielmehr Aussagen über Typisches und werden in einem System von Sätzen als wahr gesetzt. Musterbeispiele für derartige Aussagen sind, wie schon erwähnt, seit Platon die Aussagen der Geometrie. Dass es zu jedem Punkt auf dem Kreis genau eine Tangente gibt, lässt sich zum Beispiel durch die bloße Betrachtung einzelner Figuren weder widerlegen noch begründen. Derartige Sätze transzendieren das Reich des Empirischen, des bloß Einzelnen und Häufigen, ohne transzendent-metaphysisch zu sein. Dagegen ›schließen‹ Empiristen, wie schon Protagoras und mit ihm dann auch Sextus Empiricus oder Hume, dass es den Kreis an sich gar nicht gebe. Das ist aber entweder eine begrifflich verwirrte und damit falsche These, oder bloß eine unglückliche Ausdrucksweise der begrifflichen Selbstverständlichkeit, dass Formen und Begriffe, auch die bloß teilweise modellinternen, theoretischen, Redegegenstände der Physik, etwa die Elektronen oder Protonen, keine unmittelbar wahrnehmbaren empirischen Gegenstände sind. Die Abhängigkeit empirischer Einzelaussagen von einem begrifflichen Rahmen, wie er in generischen Sätzen partiell artikuliert ist, ist freilich als Theorieabhängigkeit von Einzelbeo­bachtungen prinzipiell bekannt und anerkannt. Konkret aber bleibt der Status dieser Theorien, ihre eigene Abhängigkeit von allgemeinen Erfahrungen, bis heute unklar und vage. Das generisch-theoretische Wissen darüber, wie sich Dinge der Welt 13  Das pragmatische Denken etwa eines John Dewey oder Karl Popper steht übrigens auch historisch, über die Vermittlung bei J. Royce und W. James, und dann auch systematisch dem Erbe Hegels viel näher, als die genannten Autoren wissen oder wahrhaben wollen. 14  Wie aber sollte z. B. das gehaltvolle materialbegriffliche Prinzip widerlegbar sein, dass man aus dem Innern einer Kugel nur durch die Oberfläche ins Äußere kommt? 15  Siehe M. Thompson: Life and Action.

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›an sich‹ oder im Allgemeinen verhalten, ist obendrein als praktische Beherrschung materialbegrifflicher Inferenznormen immer nur zu einem gewissen Teil schon explizit artikuliert. Es ist daher nach wie vor eine zentrale Aufgabe der Philosophie, den begriffsbestimmenden Status dieses empraktischen generischen Wissens explizit zu machen. Eines der Hauptprobleme ist offenbar das rechte Verständnis unserer Unterscheidung zwischen einem empirischen Einzelerkennen auf der einen Seite, Erfahrungen mit generischem Status auf der anderen. Das Hauptproblem des (traditionell angelsächsischen und inzwischen welt­weiten) Empirismus besteht in der verfehlten Identifikation von Erfahrung (experience) mit subjektiver Empfindung oder Perzeption – ein Fehler, den schon Platon im Dialog Theaitetos erkennt und analysiert. Kein Wunder, dass Brandom daher die Wörter »experience« bzw. »Erfahrung« lieber generell vermeiden möchten. Doch das hilft nicht weiter. Die Aufgabe der Philosophie besteht nämlich gerade in der Klärung des Be­griffs einer vernünftigen allgemeinen Welterfahrung. Die Vermeidung der Themen­benennung führt am Ende zur Selbstaufgabe oder wenigstens Orientierungslosigkeit der Philosophie. Ich lese daher Brandoms Bedenken lieber so: Die empiristische Vorstellung unmittelbarer Erfahrung (in Empfindung und Perzeption) ist irreführend. Erfahrung ist immer schon begrifflich geformt. Sie ist immer schon höherstufige Erfahrung: Wir machen gute Erfahrungen mit unseren materialbegrifflichen Gliederungen zunächst der Welt der präsentischen Anschauung, unserem allgemeinen Wissen und den sich ergebenden Orientierungen im tätigen Handeln. Wenn wir daher die Natur an ihren Gelenken begrifflich schneiden wollen, wie sich Platon ausdrückt, dann geht es darum, dass unsere Unterscheidungen und unsere durch diese Differenzierzungen angeleiteten Schlüsse nicht willkürlich, sondern möglichst erfahrungs­konform und orientierungsrichtig sein sollen. Dieses pragmatische Verständnis vermeidet jede transzendente Metaphysik, die naiv von einem Spiegel der Natur oder einer unmittelbaren Ab­bildung einer Wahrheit an sich in unserem Reden und Denken spricht. Auf seiner Grundlage ist also die Verzahnung zu betrachten von begrifflichen Nor­men des rechten Differenzierens und des differentiellen Schließens mit einem allgemeinen Vorwissen. Es ergibt sich eine komplex gestufte Struktur unseres Wissens. Für viele Sätze gilt, damit sie überhaupt falsch oder wahr sein können, dass viele andere Sätze schon wahr sein müssen. Das widerspricht einem zentralen Urteil in Wittgensteins Tractatus: Jede Suche nach unmittelbar in perzeptivischer Anschauung vom Einzelsubjekt auf ihre Geltung überprüfbaren elementaren Sätzen als logische Basis für sachhaltige Weltaussagen führt ins Leere. 2. Schematisierte Erfahrung im begrifflichen Rahmen 2.1  Theoretische Gliederung der Welt Die Welt ist nicht schon für sich ohne unser Zutun begrifflich gegliedert. Sie ist schon gar nicht per se mathematisch verfasst. Ihre begriffliche Gliederung ist unsere Gliederung. In diesem Sinn hat die gegliederte Welt, auf die wir uns in unserem Weltwissen

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be­ziehen, immer auch schon Teil an den idealen Formen, die wir in unseren Gliederungen zielgerichtet durchsetzen. Ihre mathematische Struktur entsteht durch unsere Identitäts- und Maßbestimmungen, und zwar so, dass die Struktur als System quantitativer Funktionen darstellbar wird. Aber erst vermöge der Rückprojektion eines solchen von uns ent­worfenen und dabei immer wesentlich auch sprachlich verfassten Weltmodells auf ›unsere Erfahrung‹ erhält die Welt die entsprechende relationale, funktionale oder dann auch schon voll mathematisierte Struktur. Das ist die trotz aller Probleme des Frühwerks nach wie vor tiefe Wahrheit der These des Tractatus von der Isomorphie der Welt und ihrer sprachlich-begrifflichen Darstellung. Die Welt ist dabei das, worauf wir uns in Anschauung, handelndem Tun und Reden beziehen. Wittgenstein warnt freilich von Beginn an davor, Thesen dieser Art ›wörtlich‹ zu nehmen. Einer der Gründe für diese Warnung liegt darin, dass es eine Vielfalt von Modellstrukturen gibt. Unvorsichtige Denker werden daher regelmäßig zur These von einer Pluralität von Welten oder auch nur von einer Inkommensurabilität von Weltbildern verführt. Zwar ist die Einheit der Welt am Ende immer durch die Einheit der Erfahrung, nicht durch die Uniformität eines einzigen Weltmodells be­stimmt. Dennoch ist sie der Rede von divergierenden Welten entgegenzusetzen. Der spätere Wittgenstein nähert sich dieser Einsicht an, indem er die Zweckabhängig­keit unserer immer bloß lokalen Weltmodelle erkennt. Es gibt nicht eine Theorie der Welt, nicht ein wahres Weltbild; sondern wir machen gute Erfahrungen mit lokalen Strukturen, die zu einander kom­plementär sein können, und zwar gerade im Sinne einer Komplementarität, wie sie Niels Bohr als Grundform der verschiedenen Formen physikalischer Weltmodellierung erkennt oder jedenfalls erahnt. In ihrer allgemeinen Bedeutung begriffen ist diese Lokalität aller un­serer Darstellungen und Erklärungen von Welt aber noch lange nicht. Lokal sind sie, erstens, in ihrem Bezug auf einen begrenzten Relevanz- und Erfahrungs­bereich und, zweitens, in ihrer Abhängigkeit von einem begrenzten Vorwissen über diesen Bereich. Wir befinden uns wohl gerade deswegen noch immer in der Zeit des (empiristischen) Weltbildes, wie sich Heidegger ausdrückt, weil wir den begrifflichen Status unserer Weltdarstellungs- und Erklärungsprinzipien nicht begreifen. Es ist dies die Zeit der Glaubensphilosophien, der Ideologien, zu denen eben auch der sich selbst »Naturalismus« nennende Szientismus gehört, der Glaube an einen Spiegel der Natur, dass sich also in unserem wissenschaftlichen Wissen die Welt unmittelbar abbilde. Dieser Glaube ist ein Aberglaube. Das erkennt schon der frühe Wittgenstein. Er kritisiert ihn ins­besondere im Hinblick auf das Prinzip der Kausalität. Dieses Prinzip des zureichenden Grundes, wie es bei Leibniz heißt, artikuliert zunächst den berechtigten Wunsch, also das Ziel, im Ausgang von post-hoc-Erklärungen von Geschehenem möglichst exakte und möglichst globale bedingte Vorhersagen zu machen. Der Glaube aber, dass wirklich alles Geschehen kausal durch vorgängige Ursachen determiniert sei, ergibt sich erst aus einer naiven Begeisterung darüber, dass es inzwischen ein paar mehr oder weniger befriedigende Erfüllungen dieses unseres Wunsches gibt. Der Glaube an einen durchgängigen Kausalnexus allen Weltgeschehens ist also eine Art verbale Selbsterfüllung eines überschwänglichen Ziels. Weil er überschwänglich ist, ist er ein transzendent-metaphy­sischer Wunsch oder Glaube. Das gilt ganz entsprechend für die

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These, die Verursachung jedes Ereignisses durch eine causa efficiens sei der Zement des Universums (Mackie). In Wirklichkeit ist die Suche nach Ursachen bloß die Leitidee einer an technischer Weltbeherrschung ausgerichteten Naturwissenschaft. Zwar ›dürfen‹ wir immer nach Kausalerklärungen suchen. Wir wissen dann aber noch nicht, ob wir etwas suchen, von dem wir wissen, dass es existiert, wie etwa ein im Wald verlorener Schlüssel, oder ob wir bloß erst mal so herumsuchen, um zufällig etwas Brauchbares zu finden. Die Suche nach Ursachen im Sinn einer besonderen Anwendung einer generischen Erklärung für ein Einzelgeschehen ist keineswegs immer von der ersten Art. Viele vermeintlichen Kausalerklärungen enthalten daher oft unbemerkte Entstehungsgeschichten post hoc, wie z. B. die so genannte Evolu­tionstheorie, die jedenfalls keine reine causa-efficiens-Erklärung der Entstehung der Arten des Lebendigen liefert, sondern nur des Überlebens von Arten oder Rassen durch künstliche oder ›natürliche‹ Auslese.

2.2  Analogische Redeformen in kausalen Erklärungen Die so genannte causal connectedness allen Geschehens wird dann noch zusätzlich notorisch verwechselt mit dem Prinzip der Stetigkeit von Körperbewegungen. Ein Grund für diese Verwechslung liegt in den extremen Unschärfen unserer Reden von Gründen und Ursachen. Man hält dabei oft schon generische Momente einer rein theoretischen Darstellung wiederholter bzw. wiederholbarer Bewegungsformen (wie die mit gemessenen Massenzahlen und Relativgeschwindigkeiten korrelierten Kräfte) für allgemeine Ursachen, ohne zu bemerken, dass im Übergang zu Einzelursachen immer auch kontingente Aspekte und Erklärungen ›post hoc‹ auftreten. Wesentlicher als dieser ›Zufall‹ sich kreuzender Kausallinien ist, dass es keinerlei Grund gibt anzunehmen, die ›Bestimmung‹ (Determination) des Einzelfalles sei immer schon eine ›Prädetermination‹ (notwendige kausale Folge) durch vorgängige Ereignisse. Wir haben vielmehr gute Gründe, das Gegenteil anzunehmen, und wenn auch bloß aufgrund der Tatsache, dass es freie Entscheidungen zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten gibt. Diese Möglichkeiten werden zwar von uns selbst symbolisch repräsentiert. Aber nicht die Repräsentation wirkt dann kausal auf mein Tun ein, sondern ich bestimme mein Tun durch ihren Inhalt, etwa indem ich diesen als Grund für meine Entscheidung im Tun anerkenne. Wie dem aber auch sei, das tief in unserer Erfahrung im Umgang mit Dingen verankerte Prinzip der Stetigkeit der Relativbewegungen von Festkörpern ist jedenfalls in seiner prognostischen Kraft viel schwächer als das Kausalitätsprinzip. Denn ihm zufolge ist die weitere Bewegung noch lange nicht prä­determiniert. Aber nicht einmal das Stetigkeitsprinzip gilt so allgemein, wie seine übliche Formulierung nahe legt. Diese Formulierung besagt: Die Natur macht keine Sprünge. Wie nicht bloß die Quantenphysik zeigt, macht die Natur doch Sprünge. Das Stetigkeitsprinzip wird freilich für die Bewegungsformen von Festkörpern mit völligem Recht als materialbegrifflich allgemein gültig angenommen. Es lässt sich aber nicht einfach auf den ganz anderen Erfahrungs- und Redebereich der subatomaren Teil-

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chen und damit auf elektrodynamische und quantenmechanische Phänomene übertragen. Trotzdem suggeriert schon die Rede über Partikel, als seien diese bloß kleinere Dinge und verhielten sich daher analog zu Festkörpern. Das tun sie aber nicht. Und das zeigt, dass diese Partikel nach wie vor als theoretische Redegegenstände zu deuten sind. Das heißt gerade, dass die Übertragung der Normaleigenschaften von Festkörpern auf diese Partikel zumindest zu­nächst metaphorisch-analogisch ist, und das trotz aller Vertuschung dieser Tatsache durch ein exaktes Rechnen in zugehörigen mathematischen Kalkülen. Das wiederum bedeutet, dass, wie im Fall der zunächst groben Analogisierung des Atomkerns mit einer Sonne und der Elektronen mit Planeten, immer noch im Detail festzulegen bzw. zu prüfen ist, welche Strukturmomente oder Aspekte des Urbildes der metaphorischen Modellierung, der Bewegungen von Festkörpern, sich sinnvoll auf den Bildbereich übertragen lassen. Der rechte Umgang mit analogischen Übertragungsmethoden und damit mit unserer Struktur­bestimmung von Erfahrung wird freilich zunächst immer bloß praktisch eingeübt. Er wird immer nur partiell in seiner Form explizit artikuliert. Das ist der Grund, warum wir uns immer auch darüber wundern, dass sich das Verhalten subatomarer Partikel vom Verhalten der Festkörper wesentlich unterscheidet. Die Experimente, in denen sich die Unterschiede zwischen Festkörpern und Teilchen zeigen, sind bekannt und werden hier nicht näher erläutert. Ihre Beschreibung führen manche Autoren dazu, für das Verhalten der Teilchen ein Prinzip der unmittelbaren Fernwirkung (actio in distans) anzunehmen und damit für sie das Grundprinzip der Relativitätstheorie aufzugeben, nach welchem, grob gesagt, alle Fernwir­kungen Zeit brauchen. Denn in der Relativitätstheorie setzen kausale Ursachen- und Wirkungsbeziehungen zwischen (raumzeitlich lokalisierten) Ereignissen eine Unterscheidung der temporalen Regionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voraus. Und es kann ihr zufolge keine Kausalwirkung in der Gegenwart oder gar in die Vergangenheit geben. Dieses Prinzip soll nun einerseits ganz allgemein sein, andererseits jetzt offenbar doch nur für bestimmte Ereignisse gelten. Manche Kommentatoren der Phänomene der Quantenphysik bemühen sogar eine backward causation, nach welcher die Zukunft die Vergangenheit kausal bestimme. Dabei soll nicht geleugnet werden, dass eine solche Modellierung der Phänomene rein mathematisch, also rechnerisch-formal, zu den erwünschten Ergebnissen führen kann. Wenn man aber so zu reden beliebt, erweitert man den an eine gerichtete Zeit bzw. die temporale Abfolge des Vorher und Nachher echter Bewegungen von echten Körpern gebundenen Begriff einer causa efficiens unter der Hand in eine causa finalis, und zwar schon in der Quantentheorie, nicht erst in der Biologie. Als Problem sehe ich dabei nicht etwa den Vorgriff auf Späteres in der Darstellung von natürlichen Prozessen, sondern die Tatsache, dass man nicht weiß, dass man so vorgreift. Problematisch, ja gänzlich unverständlich ist die Unterstellung oder explizite Aussage, es handele sich auch bei einer backward causation um eine causa efficiens. Es ergibt sich insbesondere die Frage, wie sich das nicht bloß für unser lebensweltliches Handeln, sondern auch sonst absolut allgemeine und fundamentale Prinzip, nach welchem nichts, was in der Vergangenheit geschehen ist, durch ein zukünftiges Geschehen ungeschehen gemacht werden kann, kohärent mit der Rede von einer back-

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ward causation sein soll. Mir geht es hier nun aber nicht um die Klärung dieser Frage. Es geht mir auch nicht darum, im Einzelnen die Gründe für die offenbare Aufhebung material­begrifflicher Grundprinzipien für Körperbewegungen auf der Ebene der quantentheoretischen Entitäten oder Partikel näher darzustellen oder zu beurteilen. Mir geht es vielmehr nur erst um die Erinnerung an diese Tatsachen. Der Status der genannten Prinzipien sollte nämlich nicht etwa nur in der Philosophie, sondern offenbar schon in der Physik befragt werden. Denn es hat die Umkehrung des Zeitpfeils im Zusammenhang mit einer bloß mathe­ matisch-funktionalen Rede von Ursachen am Ende eine unverständliche Mystifi­zierung der eigenen Modellierungen von Erfahrung zur Folge. Man widerspricht sich implizit selbst, wenn man einerseits eine universale causal connectedness allen Geschehens behauptet, und dabei implizit mit einem Begriff der Kausalität oder causa efficiens operiert, wie er sich aus der klassischen Mechanik bzw. der Relativitätstheorie ergibt, gleichzeitig diese Annahme, ohne es zu merken, wieder aufhebt. Insbesondere sollte uns inzwischen klar sein, dass die cartesische Idealvorstellung einer mathematischen Totalbeschreibung der ganzen Welt in der Form von prädeterminierten Bewegungsbahnen punktartiger Partikel ein ideales Vorstellungsbild ist, das zwar die erwünschte absolute Exaktheit mathematischer Darstellungs- und Erklärungsform metaphorisch explizit macht, aber insgesamt utopisch ist. Unsere kausalen Prognosen von Realbewegungen von Körpern sind nur in einem gewissem Betracht präzise. Das heißt, dass wir am Ende immer recht grobe Maßstäbe oder Präzisionsmargen benutzen, jedenfalls im Vergleich zum utopischen mathematischen Ideal. Wie wir dabei vorgehen, sieht man schon an dem einfachen Fall, der seit Platon mit Recht als Muster betrachtet wird, dem Fall der Geometrie. Seit Platon sagen wir, dass eine reale Fläche der idealen Form der Ebene irgendwie nahe kommt. Wir meinen damit aber nur, dass sie einen von unserem Interesse abhängigen sehr groben Grad an Ebenheit erfüllt. Analoges gilt für gerade Linien, rechte Winkel oder Kreise. Die utopische Idealität der Aussagen jeder mathematisierten Weltdarstellung ist zwar allgemein bekannt. Was sie konkret bedeutet, ist aber nach wie vor kaum begriffen. Schon gar nicht begriffen ist ihr generischer Status. Die generische Idealität der Prinzipien unserer Weltdarstellung und Welterklärung wird gerade im Kontext von Kausalerklärungen und der Rede von Ursachen und Wirkungen bedeutsam. Wenn wir nämlich nach der wirklichen Ursache eines Geschehens suchen, geht es immer um eine Art Annäherung unserer realen Kausalerklärungen an ein Ideal. Im Realfall ist man dann aber doch immer mit einer für gewisse praktische Zwecke hinreichend vollständigen generischen Erklärung des für relevant erachteten Geschehenstyps zufrieden. Das heißt, die Rede von der einen Gesamtursache für ein bestimmtes Einzelereignis (als so genanntes Token) ist selbst kontrafaktisch-ideal. Das ist eine begriff­liche Tatsache. Sie korrespondiert der materialbegrifflichen Selbstverständlichkeit, dass all unser Wissen verbesserungsfähig ist. Wissen, wenn es begrifflich an­ gemessen verstanden ist, ist ja immer immanentes Realwissen, menschliches Wissen, eben ›bürgerliches‹ Wissen. Unsere kontrafaktischen Reden von einem Wis­sensideal oder von einem idealen Wesen, das nicht an die ›für uns‹ notwendigen Bedingungen des

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Wissens gebunden wäre, sind demnach bloß verbale Konstruktionen. Verbal ist vieles möglich, sogar die ›Existenz‹ von Pegasus oder Rübezahl, von Engeln oder Göttern. Wie wir mit derartigen Reden etwas an unserem Wissen und Leben zeigen können, und zwar ex negativo, das gilt es dann aber selbst erst einmal angemessen zu begreifen. In Wirklichkeit handelt es sich also bei der These, dass jedes Einzelereignis eine Einzelursache habe, um ein utopisches Ideal der Form einer Darstellung und Erklärung. Denn das absolut Einzelne ist nicht artikulierbar, ja nicht einmal zeigbar. Daher ist die in der Philosophie Donald Davidson so wichtige Rede von einem ›Token‹ eines Ereignistyps selbst schon höchst unklar. Die Unterscheidung zwischen allgemeinem Typ und ein­zelnem Token ist nämlich selbst eine generische Unterscheidung. Das Einzelne kann immer bloß als besonderer Fall eines allgemeinen Falls thematisch werden. Das ist eine vielleicht nicht unmittelbar einleuchtende, aber absolut zentrale Einsicht Hegels. Man versteht sie schon etwas besser, wenn man bemerkt, dass jeder Bezug auf einen Einzelgegenstand nur dann verstehbar ist, wenn klar ist, erstens, um welche Sorte von Gegenständen es sich handelt (etwa Dinge, Farben, Gestalten, Bewegungen etc.) und, zweitens, wie Andere sich aus anderen Perspektiven, von anderen Orten aus und zu an­ deren Zeiten, auf ›dasselbe‹ beziehen können. In diesem Sinn ist jeder Einzelgegenstand selbst schon ein Allgemeines, auch wenn er etwa als Stein oder Löwe ein Einzelstein oder Einzellöwe ist. Wir können jetzt wohl auch sehen, dass und warum in der Vorstellung vom Spiegel der Natur, dem naturalistischen Weltbild der Naturwissenschaften, ein Idealismus oder Platonismus enthalten ist. Diese geheime Ideologie der modernen mathematischen Naturwissenschaft besteht in einer Hypostasierung unserer eigenen, idealiter erwünschten, Darstellungs- und Erklärungsformen von realiter erfahrbarem Geschehen in der Welt. Die­se Formen werden als eigentliche, die erfahrenen Phänomene angeblich hervorbrin­gende und erklärende Wirklichkeit unterstellt. In Wirklichkeit sagt man damit aber nichts Anderes, als dass wir als Wirklichkeit die von uns mit den besten uns zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln dargestellte und erklärte Welt nehmen sollen. Gegen diese Lesart, nach der die Wirklichkeit die vernünftig begriffene Welt ist, wäre nichts einzuwenden, wenn nur zusätzlich geklärt wäre, unter welchen Aspekten und zu welchen Zwecken welche Darstellung oder Erklärung vernünftig ist, und warum der Glaube an die Möglichkeit einer Totaldarstellung und Totalerklärung allen Geschehens in der Welt im Rahmen einer universalen Physik entweder unvernünftig ist, oder das Wort »Physik« so unspezifisch macht, dass es, wie schon in der Antike, alles Sachwissen umfasst, von der Biologie bis zur Humangeschichte, so dass es keine spezifischen Prinzipien einer ›physikalischen‹ Darstellung und Erklärung mehr gäbe, da nicht einmal die Idee flächendeckend vernünftig ist, sich möglichst um mathematisierte Darstellungen und Erklärungen zu bemühen. Nancy Cartwrights Frage, warum die Gesetze der Physik lügen,16 ist angesichts derartiger Be­griffsverwirrungen in der Physik und der Philosophie der Naturwissenschaften völlig berechtigt. Doch es geht hier gar nicht um Lüge und Falschheit, obwohl eben 16 

N. Cartwright, How the Laws of Physics Lie.

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das auch schon Nietzsche behauptet hatte. Denn die eigentliche Frage lautet, wie die Gesetze der Physik bzw. die Grundprinzipien auch der anderen Naturwissenschaften angemessen zu verstehen und anzuwenden sind, wie ihr Status zu begreifen ist, was es also überhaupt heißt, sie formal (also generisch) für wahr zu erklären, und wie wir diese formalen (generischen) Wahrheiten von Gesetzen und Prinzipien begründen. Der erste Schritt, der hier zu gehen ist, ist die Einsicht in die generische Formalität (bzw. Idealität) jeder achronen ›Wahrheit‹ in der Wissenschaft, gerade auch der von uns mathematisierten Naturgesetze. Der zweite Schritt besteht in der schon von Platon und dann wieder von Hegel und im Amerikanischen Pragmatismus vorgeschlagenen Ersetzung des Wortes »wahr« durch das Wort »gut«: Was wir als Naturgesetze anerkennen (sollten), das sind die jeweils besten uns verfügbaren allgemeinen Darstellung-, Ordnungs- und Erklärungsprinzipien in unserem sprachlich artikulierten und technisch kontrollierten Wissen über die Natur. Natur ist dabei das, was ohne unser handelndes Zutun von selbst geschieht, also etwa das, was nach den von uns tätig erzeugten Anfangsbedingungen eines Experiments, unter Einschluss der Rahmenbedingungen einer Beobachtung, ohne weitere Intervention normalerweise zu geschehen pflegt.

2.3  Sinnabhängigkeit und Objektabhängigkeit der Referenz Um jetzt noch dem nahe liegenden Vorwurf zu entgehen, die Identifikation des Wirklichen mit den besten verfügbaren Erklärungsmodellen liefe auf einen konstruktivistischen Idealismus hinaus, ist zwischen der sich ergebenden transzendental- oder präsuppositionslogischen Beziehung der Sinnabhängigkeit (Brandoms sense-dependence) und einer ganz anders gearteten Abhängigkeit der Referenz unserer Benennungen von der Existenz der Bezugsobjekte (reference-dependence) unbedingt zu unterscheiden. Analoges gilt für den Sinn und die Wahrheit von Weltaussagen. Unsere Rede vom Mond ist zum Beispiel sinnabhängig von unserer Unterscheidung zwischen Sonnen bzw. Sternen, Sonnenplaneten und Monden. Sie ist bezugsabhängig davon, dass es den Mond gibt, gab und geben wird, unabhängig davon, was wir heute von ihm wissen. Indem wir so etwas sagen, und dabei vielleicht noch hinzufügen, dass es auch die anderen Dinge der Physik wirklich gibt, etwa die Elektronen oder andere subatomare Partikel, investieren wir freilich Wörter, die sinnabhängig sind von unserem Wissen bzw. unseren theoretischen Überzeugungen. Wir tilgen aber in gewissem Sinn die Zeitabhängigkeit und Perspektivität eben dieses Wis­sens gleich wieder. Wir abstrahieren also von uns als Sprecher, und sprechen de re über die Bezugsabhängigkeit der guten Erfahrungen, die wir mit dem entsprechenden Wissen, artikuliert in Theorien oder Aussagen gemacht haben. Dabei zeigt Brandom, wie wir diese Redeform de re zu verstehen haben, nämlich nicht etwa als Tilgung jeder Perspektive des Sprechers, als Aussage von Nirgendwo über eine Welt an sich, sondern indem wir selbst für die Behauptung einstehen. Die Unterscheidung einer Rede de re, etwa über die Sonne, und de dicto, etwa über den Sonnengott Helios, von dem die Griechen meinen, dass er den Sonnenwagen führt,

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ist also eine interne Unterscheidung. Sie betrifft die Differenz zwischen der eigenen Übernahme (undertaking; auch acknowledgment oder Anerkennung) von Geltungsansprüchen inner­halb unserer eigenen begrifflich geformten Systeme des Wissens, und der Zuschreibung (assignment) entsprechender Geltungsansprüche an Andere. Eine solche Zuschreibung ist möglich, ohne die Geltungsansprüche selbst zu übernehmen. Es kann ja in distanzierenden Berichten über Fremdbehauptungen de dicto sogar eine Aufdeckung ihrer Falschheit folgen. Während ich im Modus de dicto sagen würde, dass die Griechen glaubten, die Sonne sei eine Scheibe auf dem Wagen des Helios, kann ich von dieser Scheibe de re gar nichts sagen: Es gibt sie nicht. Nun ja, ich kann von ihr in einem bloß formalen Modus de re sagen, sie sei der Vorstellung gemäß aus Gold gewesen, so wie ich von Rübezahl sagen kann, er sei der Fabel gemäß ein Erdgeist im Riesengebirge. Aber dann ist der gesamte Kontext gewissermaßen schon als ein de-dicto Kontext markiert. Es unterscheiden sich also de-re-Aussagen von de-dicto-Aussagen durch verschiedene inferentielle Normen für das jeweilige Commitment des Sprechers. Diese sind durch Sub­situtierbarkeitsregeln bestimmt, wie dies Brandom im Detail zeigt, und zwar in Über­nahme von logischen Einsichten, die W. V. Quine in Word and Object entwickelt hatte. Damit wird noch klarer als schon bei Frege, dass ge­rade in so genannten obliquen Kontexten, wenn wir also über Aussagen Anderer sprechen und unseren eigenen Weltbezug von dem Anderer unterscheiden, immer auch die Sprecherperspektive für den inferentiellen Gehalt von Aussagen relevant ist. Sie gehört daher zur logischen Semantik (der Analyse des Sinns) der Aussage und nicht bloß zu einer außerlogischen oder außersemantischen ›Pragmatik‹ der Intentionen der Einzelsprecher. Die Frage, die es nun weiter zu verfolgen gälte, ist nun offenbar diese: Wie entscheiden wir, ob ein Satz oder eine Aussage als empirische These, als rein terminologischer, rein verbaler Vorschlag zur Normierung eines verbalen Inferenzsystems oder als Erfahrungswissen mit generellem oder als Erfahrungswissen mit generischem Geltungsanspruch zu verstehen ist? Es ist diese Frage, zu der unsere Überlegungen hinführen wollen. Die Frage zeigt, dass es sich hier immer auch um metastufige Entscheidungen handelt, wie der Satz oder die Aussage in das System des Wissens einzuordnen ist. Und da derartige Entscheidungen selbst immer schon generische Wir-Entscheidungen sind, also Entscheidungen im generischen ‚we-mode’, wie wir mit Tuomela sagen können, ist nicht zu erwarten, dass wir immer alle darin übereinstimmen, wie hier zu entscheiden ist, ja dass wir häufig solche Entscheidungen (etwa an Experten) delegieren, dass sie sich oft auch gewissermaßen kollektiv ereignen und daher gar keine Individualentscheidungen sind. Aber wir können dennoch unterscheiden, ob eine solche Entscheidung als Wir-Entscheidung vorgeschlagen ist oder bloß als Ich-Entscheidung, ob sie je als solche hinreichend gut begründet ist und ob sie entsprechend anerkannt bzw. anerkennbar ist. Derartige Entscheidungen geschehen im Rahmen unserer je eigenen Unterscheidungskriterien und unserer je eigenen Normen des Richtigen oder Wahren und Falschen. Andere gibt es nicht. Könnte man sie so lesen, würde ich Brandoms Analyse voll zustimmen. Das Wörtchen »unser« wirft dann aber immer noch die Folgefrage auf, wer alles zur Wir-Gruppe der Kriteriensetzer und Erfüllungskontrolleure zählt. Das

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wiederum führt in neues, noch schwierigeres Terrain. Es führt zur Frage, ›wer‹ wir als Subjekte und Personen sind, und das heißt, als kompetente Teilnehmer einer formellen Institution Wissenschaft und einer informellen Praxisform der Entwicklung generischen Wissens, und wie dabei dieser sowohl generische wie offenbar auch normative Ge­brauch von Wörtern wie »wir«, »man« und »ich« je konkret zu verstehen ist.

Literatur Brandom, Robert B.: Making it Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Com­ mitment, Cambridge / Mass. 1994. Brandom Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge / Mass. 2000. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena 1934. Carroll, Lewis: »What the Tortoise said to Achill«, in: ders.: The Complete Works, London 1966, 1104–1108. Cartwright, Nancy: How the Laws of Physics Lie, Oxford 1983. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bd., Frankfurt a. M. 1981. Kambartel, Friedrich / Stekeler-Weithofer, Pirmin: »Ist der Gebrauch der Sprache ein durch ein Regelsystem geleitetes Handelns? Das Rätsel der Sprache und die Versuche seiner Lösung«, in: Arnim von Stechow / Marie-Therese Schepping (Hgg.): Fortschritte in der Semantik, Weinheim 1988, 201–223. Kambartel, Friedrich: Philosophie der humanen Welt. Abhandlungen, Frankfurt  a. M. 1989. Kambartel, Friedrich: »Versuch über das Verstehen«, in: B. McGuiness e. a. (Hgg.): Der Löwe spricht… und wir können ihn nicht verstehen, Frankfurt a. M. 1989, 121–137 Kambartel, Friedrich: »Strenge und Exaktheit«, in: G.-L. Lueken (Hg.): Formen der Argumentation, Leipzig 2000, 75–85. Kambartel, Friedrich / Stekeler-Weithofer, Pirmin: Sprachphilosophie, Stuttgart 2005. Kamlah, Wilhelm / Lorenzen, Paul: Logische Propädeutik, Mannheim 1973. Kannetzky F.: »Some Problems of a Conventionalist Approach to Communication, Meaning and Understanding«, in: Georg Meggle / Christian Plunze (Hgg.): Saying, Meaning, Implicating, Leipzig2003, 30–62. Lewis, David: Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung, Berlin 1975. Lorenz, Kuno: »Dialogischer Konstruktivismus«, in: K. Salamun (Hg.): Was ist Philosophie?, Tübingen 1986, 335–352. Lorenz, Kuno: »Das dialogische Prinzip in der Philosophie. Ein Beitrag zur Über­windung der Subjekt-Objekt-Spaltung«, in: Peter Janich (Hg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1992, 47–53. McDowell, John: Mind and World, Cambridge / Mass. / London 1994. McDowell, John: »Criteria, Defeasibility, and Knowledge«, in: ders.: Meaning, Knowledge, and Reality, Cambridge / Mass. 1998. Searle, John: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge 1969.

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Kolloquium 6  ·  Pirmin Stekeler-Weithofer

Stekeler-Weithofer, Pirmin (Hg.): The Pragmatics of Making it Explicit, Amsterdam 2008. Thompson, Michael: Life and Action, London 2008. Tuomela, Raimo: The Importance of ›Us‹, Stanford 1995. Wellmer, Albrecht: Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, Frankfurt a. M. 2004.

Kolloquium 7 Die Renaissance von Dispositionen in der gegenwärtigen Naturphilosophie

Michael Esfeld Einführung: »Wozu Dispositionen?« Andreas Bartels Dispositionen in Raumzeit-Theorien Andreas Hüttemann Eine dispositionale Theorie der Kausalität Stephen Mumford / Rani Lill Anjum Dispositional Modality

Einführung: »Wozu Dispositionen?« Michael Esfeld

1.  Die Metaphysik von Dispositionen Das Thema von Dispositionen erfreut sich eines regen Interesses in der gegenwärtigen Naturphilosophie. Dieses Interesse steht im Zusammenhang damit, dass seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine kausale Theorie von Eigenschaften entwickelt wurde, die inzwischen zu einem starken Konkurrenten zur vorherrschenden Humeschen Metaphysik kategorialer Eigenschaften geworden ist. Dispositionen gelten gemeinhin als kausale Eigenschaften: Sie sind die Kraft, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Eine punktförmige Elementarladung zum Beispiel ist die Kraft, ein elektromagnetisches Feld aufzubauen, durch das dann Objekte angezogen oder abgestoßen werden; Masse ist die Kraft, Widerstand gegen Beschleunigung zu leisten; Quantenzustände in Superposition sind die Kraft, räumlich lokalisierte Eigenschaften mit definiten numerischen Werten hervorzubringen (Beispiel spontaner Zerfall radioaktiver Atome). Wenn Eigenschaften Dispositionen sind, ist es somit essentiell für sie, in bestimmten Kausalrelationen zu stehen. Kategoriale Eigenschaften sind hingegen so beschaffen, dass das, was sie sind, unabhängig von den kausalen Beziehungen ist, in denen sie stehen. Wenn Eigenschaften kategorial sind, kann man daher das, was sie sind, nicht aus den Kausalbeziehungen ersehen, in denen sie stehen. Hingegen geben dispositionale Eigenschaften durch die Kausalbeziehungen, in denen sie stehen, zu erkennen, was sie sind. Dispositionale Eigenschaften sind nicht reine Potentialitäten, sondern reale, aktuale Eigenschaften. Die Sicht von Eigenschaften als Dispositionen denkt den qualitativen Charakter von Eigenschaften so, dass dieser qualitative Charakter kausal und damit dispositional ist: Insofern Eigenschaften bestimmte Qualitäten sind, sind sie die Kraft, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Die Theorie kategorialer Eigenschaften sieht Eigenschaften hingegen als reine Qualitäten an. Die Frage, um die es hier geht, ist eine der Metaphysik von Eigenschaften. Ob Eigenschaften kategorial oder kausal sind, fügt zu ihrem qualitativen Charakter nichts hinzu. Eine Disposition (kausale Kraft) ist nicht etwas zusätzliches Qualitatives, das zu dem qualitativen Charakter einer Eigenschaft hinzukommt, so dass man durch empirische Untersuchung herausfinden könnte, ob die Kraft vorhanden ist oder nicht. Eine Welt bestehend aus kategorialen Eigenschaften, wenn sie denn metaphysisch möglich ist, unterscheidet sich qualitativ nicht von einer Welt, die aus kausalen Eigenschaften besteht. Kurz, wenn Eigenschaften kausal sind, dann sind sie in allen möglichen Welten kausal. Und wenn Eigenschaften kategorial sind, dann sind sie in allen möglichen Welten kategorial. Selbstverständlich ist es logisch möglich, beide Positionen miteinander zu verbinden und zu vertreten, dass es sowohl kategoriale als auch kausale Eigenschaften in der Welt

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Kolloquium 7  ·  Michael Esfeld

gibt1. Aber eine solche Theorie ist nicht attraktiv. Jede metaphysische Position ist mit einem Preis verbunden – das heißt, man muss gewisse Dinge als nicht weiter hintergehbaren Ausgangspunkt und damit als primitiv akzeptieren, die dann bestimmte Konsequenzen haben, und beide sind nicht unbedingt unmittelbar einsichtig. Wenn man vertritt, dass es sowohl kategoriale als auch kausale Eigenschaften gibt, dann muss man die unhintergehbaren Ausgangspunkte dieser beiden Theorien akzeptieren. Die Motivation für die Metaphysik kausaler Eigenschaften speist sich aus dem Haupteinwand gegen das, was die Metaphysik kategorialer Eigenschaften als primitiv akzeptieren muss: Wenn Eigenschaften kategorial sind, dann ist das, was die Eigenschaften sind, unabhängigen von allen kausalen und nomologischen Beziehungen. Zwei mögliche Welten können daher in Bezug auf alle kausalen und nomologischen Beziehungen ununterscheidbar sein, und dennoch qualitativ unterschiedliche Welten sein, weil verschiedenartige kategoriale Eigenschaften den betreffenden kausalen und nomologischen Beziehungen zugrunde liegen. Nichts hindert beispielsweise, dass die Eigenschaften, die in der realen Welt die fundamentale physikalische Beschreibung »negative Elementarladung« wahr machen, in einer anderen möglichen Welt die fundamentale physikalische Beschreibung »Masse x« wahr machen und umgekehrt. Mit anderen Worten, Eigenschaften desselben Typs können in einer Welt die Ladungs-Rolle ausüben, in einer anderen Welt hingegen die Masse-Rolle. Die Theorie kategorialer Eigenschaften sieht somit Welten als qualitativ unterschieden an, ohne dass der betreffende Unterschied einen Unterschied macht. Es ist eine primitive Tatsache, dass die beiden genannten Welten qualitativ voneinander unterschieden sind. Die Metaphysik kategorialer Eigenschaften ist infolgedessen darauf festgelegt zu sagen, dass das, was eine Eigenschaft ist, in einer primitiven Washeit (quidditas) besteht. Primitiv ist diese Washeit, weil sie von sich aus keinerlei nomologische oder kausale Beziehungen festlegt. Sie ist ferner unerkennbar: Alle unsere Erkenntnis erfolgt über Kausalrelationen zwischen etwas in der Welt und unserem Erkenntnisapparat. Wir können das, was es in der Welt gibt, mithin nur bis zu kausal-nomologischer Äquivalenz bestimmen. Mit anderen Worten, wenn das, was die Eigenschaften sind, nicht die kausal-nomologischen Beziehungen festlegt, die in der Welt bestehen, dann können wir die Eigenschaften nicht erkennen. Diese Konsequenz ist in der Literatur als Bescheidenheit (humilitas) bekannt 2 . Wenn es somit zwei Welten gibt, die in Bezug auf alle kausalen und nomologischen Beziehungen ununterscheidbar sind, dann können wir prinzipiell nicht wissen, in welcher der beiden Welten wir leben. Die Festlegung auf unerkennbare, primitive Washeiten ist eine schwere metaphysische Hypothek: Man muss Unterschiede zwischen Welten anerkennen, die keinen Unterschied machen, und man muss akzeptieren, dass es jenseits der kausalen und nomologischen Beziehungen ein Wesen der Eigenschaften gibt, das prinzipiell unerkennbar ist. Man kann diese Festlegung einfach dadurch vermeiden, dass man das, was die

1  2 

Siehe zum Beispiel: B. Ellis, Scientific essentialism. Siehe zu den beiden genannten Konsequenzen: D. Lewis, »Ramseyan humility«.

Einführung

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Eigenschaften sind, an die kausalen und nomologischen Beziehungen bindet, in denen die Eigenschaften stehen3. Das stärkste metaphysische Argument für die kausale Theorie von Eigenschaften ist dementsprechend, dass sie sagen kann, worin der qualitative Charakter einer Eigenschaft besteht, nämlich in der Kraft, bestimmte Wirkungen zu produzieren. Mit anderen Worten, gemäß der kausalen Theorie von Eigenschaften muss man als primitiv akzeptieren, dass Eigenschaften bestimmte Kräfte sind. Die Frage beispielsweise, warum eine Ladung ein elektromagnetisches Feld aufbaut, ergibt keinen Sinn: Ein elektromagnetisches Feld aufzubauen ist das, was eine Ladung ist. Die Konsequenz dieser Position ist, dass die Naturgesetze metaphysisch notwendig sind: Die Naturgesetze beschreiben das, was Objekte aufgrund ihrer Eigenschaften bewirken können4. Wenn die Eigenschaften in dem bestehen, was sie bzw. was Objekte aufgrund von ihnen bewirken können, dann sind die Naturgesetze in allen möglichen Welten gleich, weil die Identität der Eigenschaften in dem aufgeht, was sie bewirken können. Wenn es ein Naturgesetz ist, dass alle Fs raumzeitlich benachbart mit Gs auftreten, weil die Fs die Kraft sind, Gs hervorzubringen, dann gilt in jeder möglichen Welt, in der Eigenschaften des Typs F auftreten, dass die Eigenschaften des Typs F Eigenschaften des Typs G hervorbringen. In jeder möglichen Welt, in der es Ladungen gibt, bauen diese ein elektromagnetisches Feld auf, weil Ladungen nichts anderes tun können, als ein elektromagnetisches Feld aufzubauen. Selbstverständlich können unsere Theorien darüber, was die Naturgesetze sind, falsch sein, aber die Naturgesetze selbst sind von diesen Theorien unabhängig. Es wird gemeinhin angenommen, dass die Metaphysik kausaler Eigenschaften darauf festgelegt ist, gegen Hume notwendige Verbindungen zwischen distinkten Entitäten in der Natur anzuerkennen, nämlich die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung als eine notwendige anzusehen. Rani Lill Anjun und Stephen Mumford bestreiten dieses in ihrem Beitrag zu diesem Kolloquium. Sie akzeptieren Notwendigkeit in dem Sinne, dass die kausale Rolle essentiell für eine Eigenschaft ist, sind jedoch der Auffassung, dass die Konzeption einer solchen Notwendigkeit nicht die Anerkennung notwendiger Verbindungen in der Natur impliziert. Um zwischen einer Notwendigkeit in dem Sinne, dass die kausale Rolle essentiell für eine Eigenschaft ist, und einer Notwendigkeit in dem Sinne, dass die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung eine notwendige ist, trennen zu können, muss man voraussetzen, dass (a) die Manifestation der Kraft (Disposition), die eine Eigenschaft ist, auch im Falle fundamentaler physikalischer Eigenschaften von kontingenten äußeren Manifestationsbedingungen abhängt und dass (b) auch im Falle fundamentaler physikalischer Eigenschaften Faktoren auftreten können, welche diese Verbindung unterbinden. Hiergegen sprechen jedoch ein metaphysischer und ein physikalischer Einwand: Wie erwähnt ist es ein wesentliches Motiv für die Theorie kausaler Eigenschaften, die Konsequenzen einer primitiven Washeit und damit der Unerkennbarkeit der Eigen3  Siehe insbesondere: S. Shoemaker, »Causality and properties«; S. Mumford, Dispositions; A. Bird, Nature’s metaphysics. 4  Siehe dazu auch: A. Bartels, »The idea which we call power«.

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Kolloquium 7  ·  Michael Esfeld

schaften zu vermeiden. Diese Konsequenzen werden jedoch nur dann umgangen, wenn man die fundamentalen physikalischen Eigenschaften so konzipiert, dass sie von selbst die Wirkungen hervorbringen, die sie hervorbringen können. Wenn auch für die fundamentalen physikalischen Eigenschaften qua Dispositionen äußere Manifestationsbedingungen erforderlich wären, dann wäre das Qualitative, das die Eigenschaften sind, wiederum verborgen. Es könnte dann eine Welt bestehen, in der die Manifestationsbedingungen nicht vorhanden sind, so dass es wiederum zwei Typen von Eigenschaften P und P* geben könnte, ohne dass sich der Unterschied zwischen diesen Eigenschaften irgendwo in der Welt manifestiert – also wiederum einen Unterschied, der keinen Unterschied macht. Folglich wäre das, was die Eigenschaften sind, in einer solchen möglichen Welt prinzipiell unerkennbar. Ferner vergeht zwischen fundamentalen physikalischen Eigenschaften und ihren Wirkungen keine Zeit in dem Sinne, dass irgend etwas zwischen die Ursache und ihre Wirkung treten könnte und das Eintreten der Wirkung unterbinden könnte, obwohl die Eigenschaft die Kraft, die sie ist, ausübt. So ist zum Beispiel die unmittelbare Wirkung einer punktförmigen Ladung nicht das Anziehen oder Abstoßen von Objekten, sondern der Aufbau eines elektromagnetischen Feldes in deren unmittelbarer Umgebung (durch das dann Objekte an- oder abgestoßen werden). Nichts kann verhindern, dass eine Ladung ein Feld aufbaut. Wie sich physikalische Objekte in dem Feld bewegen, hängt dann selbstverständlich von weiteren Faktoren ab. Ebenso ist zum Beispiel der Prozess quantenphysikalischer Zustandsreduktionen von Superpositionen zu klassischen Eigenschaften (Beispiel Zerfall eines radioaktiven Atoms) nicht so, dass irgendwelche kontingenten äußeren Bedingungen einen solchen Prozess unterbrechen könnten. Die Zustandsreduktion erfolgt spontan und erstreckt sich nicht über eine Zeitspanne. Auf den ersten Blick mag die Annahme notwendiger Verbindungen in der Natur als eine schwere metaphysische Last erscheinen, und solche Verbindungen werden manchmal sogar als mysteriös angesehen. Dieser Blick täuscht jedoch: Die Anerkennung metaphysisch notwendiger Verbindungen in der Natur ergibt sich einfach aus dem kausalen Charakter der Eigenschaften. Das Argument für die kausale Sicht von Eigenschaften ist, die Festlegung auf primitive Washeiten und die Konsequenz der prinzipiellen Unerkennbarkeit dessen, was die Eigenschaften sind, zu vermeiden. Kurz, mysteriös und ontologisch inflationär ist die Festlegung auf primitive Washeiten und ein unerkennbares Wesen der Eigenschaften. Diese Festlegung vermeidet man, indem man das Wesen der Eigenschaften an die Kausalbeziehungen bindet, in denen sie stehen, und daraus folgt dann in einer klar nachvollziehbaren Weise die Festlegung auf die Anerkennung notwendiger Verbindungen in der Natur. Deshalb schneidet die Theorie kausaler Eigenschaften im metaphysischen Vergleich besser ab als ihr Konkurrent, die Theorie kategorialer Eigenschaften5.

Siehe zu den entsprechenden Argumenten ausführlich M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Kapitel 5.1 bis 5.3. 5 

Einführung

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2.  Physik und Dispositionen Die Frage danach, ob die Eigenschaften kausal oder kategorial sind, ist zwar eine Frage der Metaphysik der Eigenschaften. Aber dennoch sind empirische Überlegungen für die Beantwortung dieser Frage relevant. Man kann nicht eine Metaphysik des Wesens der Eigenschaften entwickeln, ohne sich damit auseinanderzusetzen, was die Wissenschaften über die Eigenschaften aussagen, die es in der Welt gibt. Mit anderen Worten, die kausale Theorie der Eigenschaften muss sich auch als die beste Interpretation unserer naturwissenschaftlichen Theorien bewähren. Eine wichtige Frage in der Philosophie der Physik ist die folgende: Wodurch unterscheiden sich reale physikalische Eigenschaften bzw. Strukturen von mathematischen Strukturen? Die fundamentalen physikalischen Theorien benutzen mathematische Strukturen, um die physikalische Wirklichkeit darzustellen und um beobachtbare Phänomene vorauszusagen. Bei weitem nicht alle mathematischen Strukturen, die unsere physikalischen Theorien verwenden, referieren jedoch auf eine physikalische Struktur und stellen deren Beschaffenheit dar. Die Metaphysik kausaler Eigenschaften bietet eine klare Antwort auf diese Frage: Mathematische Strukturen, was auch immer sie sein mögen, sind nicht kausal wirksam. Reale physikalische unterscheiden sich dadurch von bloß mathematischen Strukturen, dass sie kausal wirksam sind. Folglich ist es eine notwendige Bedingung dafür, dass eine Beschreibung in Begriffen mathematischer Strukturen auf reale physikalische Strukturen referiert und deren Beschaffenheit offen legt, dass diese Strukturen als kausal wirksam verstanden werden können. Man kann die Metaphysik kausaler Eigenschaften konkret zur Interpretation der fundamentalen physikalischen Theorien einsetzen. Dispositionen spielen in der Interpretation der Quantentheorie eine wichtige Rolle. Man kann vertreten, dass die Quanten-Superpositionen einschließlich der Quantenstrukturen der Zustandsverschränkungen die Disposition sind, durch Zustandsreduktionen zu klassischen Eigenschaften und Korrelationen zwischen klassischen Eigenschaften zu führen. Für diese Interpretation sprechen eine Reihe von Argumenten, die ganz unabhängig von der Debatte um die Metaphysik der Eigenschaften sind: (a) Diese Interpretation bietet eine klare Antwort auf die Frage, was die Eigenschaften von Quantenobjekten sind, sofern es sich nicht um klassische Eigenschaften mit definiten numerischen Werten handelt, nämlich Dispositionen, klassische Eigenschaften zu produzieren. (b) Diese Interpretation bietet eine Lösung für das sogenannte Messproblem in der Quantentheorie, die unabhängig von der Bezugnahme auf Beobachter ist und die keine physikalisch nicht klar bestimmbaren Begriffe wie den von Messgeräten in eine fundamentale physikalische Theorie hineinschmuggelt. (c) Diese Interpretation erklärt die Richtung der Zeit und die Existenz zeitlich irreversibler Prozesse in der Welt: Prozesse der Zustandsreduktion von quantenphysikalischen Superpositionen zu klassischen physikalischen Eigenschaften sind unumkehrbar und zeichnen dadurch eine Zeitrichtung aus. Wenn diese Prozesse solche der Manifestation von Dispositionen sind, dann ist deren Unumkehrbarkeit einfach eine Konsequenz dessen, dass Kausalbeziehungen asymmetrisch sind: Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung kann nicht umgekehrt werden. Die Richtung der Zeit

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ist dieser Interpretation zu Folge die Richtung der Kausalität, die darin besteht, dass Dispositionen die Wirkungen hervorbringen, die sie hervorbringen können6. Die raumzeitlichen, metrischen Relationen gelten als das Paradebeispiel für kategoriale Eigenschaften. Nichtsdestoweniger erfolgt unsere Erkenntnis raumzeitlicher Relationen auch durch Kausalrelationen zwischen Objekten, die in diesen Relationen stehen. Deshalb war beispielsweise Leibniz der Auffassung, dass das Netz raumzeitlicher Relationen an sich selbst keine Realität hat – eben eine bloße mathematische im Unterschied zu einer realen physikalischen Struktur ist. Die Situation hat sich jedoch mit der allgemeinen Relativitätstheorie gewandelt. Gemäß dieser Theorie enthalten die raumzeitlichen Strukturen selbst Energie, nämlich die gravitationelle Energie. Das Gravitationsfeld ist identisch mit dem metrischen Feld der Raumzeit. Infolgedessen kann man das metrische Feld als ein materielles Feld ansehen und die Punkte der Raumzeit, charakterisiert durch ihre metrischen Eigenschaften, als genuine physikalische Objekte anerkennen. Denn die gravitationelle Interaktion ist eine physikalische Interaktion ebenso wie beispielsweise die elektromagnetische Interaktion. Vor diesem Hintergrund wird es möglich, die raumzeitlichen, metrischen Eigenschaften ebenfalls als kausale Eigenschaften anzusehen: Sie sind die Kraft (Disposition), unter anderem die beobachtbaren Gravitationsphänomene hervorzubringen. Andreas Bartels zeigt in seinem Beitrag zu diesem Kolloquium, wie man eine solche Interpretation im Einzelnen ausführen kann und wo ihre Grenzen liegen. Andreas Hüttemann plädiert in seinem Beitrag ebenfalls dafür, Dispositionen in der Physik anzuerkennen. In diesen Beiträgen wird deutlich, dass die Frage nach Dispositionen und Kausalität eines der interessantesten – und damit zugleich auch eines der umstrittensden  – Themen in der zeitgenössischen Philosophie der Physik ist.

3.  Dispositionen von der Wissenschaft bis zur Lebenswelt Die Idee kausaler Eigenschaften hat ihren Ursprung in der Lebenswelt, in der täglichen Erfahrung unserer Umwelt und von uns selbst als handelnder Wesen in dieser Umwelt. Diese Idee hat in den Wissenschaften Bestand: Die nicht-physikalischen Einzelwissenschaften – wie zum Beispiel die Biologie, die Psychologie und die Sozialwissenschaften – beschreiben die Welt in Begriffen funktionaler Eigenschaften bzw. Strukturen. Das sind kausal definierte Eigenschaften: Wenn es diese Eigenschaften gibt, dann bestehen sie darin, unter bestimmten Umständen bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Wie ich angedeutet habe, kann man vertreten, dass diese Idee auch in der Physik Bestand hat: Es gibt gute Argumente dafür, die Eigenschaften, von denen die fundamentalen physikalischen Theorien handeln, ebenfalls als kausale Eigenschaften aufzufassen.

Siehe zur Interpretation der Quantenphysik ausführlich M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Kapitel 3 und 5.4. 6 

Einführung

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Das beste Argument für Dispositionen in der Form einer Theorie kausaler Eigenschaften ist daher ein Kohärenz-Argument: Von dem Ausgangspunkt aus, die Idee kausaler Eigenschaften und Erklärungen aus der täglichen Erfahrung unserer Umwelt und von uns selbst als handelnder Wesen aufzunehmen, kann man zu einer vollständigen und in sich zusammenhängenden Sicht der Welt gelangen, die von der fundamentalen Physik über die Einzelwissenschaften bis hin zu der Erfahrung von uns selbst als handelnder Wesen in der Welt reicht7. Auf diese Weise nimmt die Theorie von Dispositionen als kausaler Eigenschaften nicht nur unser gesamtes Wissen über die Welt auf, sondern verbindet auch Lebenswelt und Wissenschaft miteinander.

Literatur Bartels, Andreas: »The idea which we call power. Naturgesetze und Dispositionen«, in: Philosophia Naturalis, 37, 2000, 255–268. Bird, Alexander: Nature’s metaphysics. Laws and properties, Oxford 2007. Ellis, Brian: Scientific essentialism, Cambridge 2001. Esfeld, Michael: Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Frankfurt a. M. 2008. Esfeld, Michael / Sachse, Christian: Kausale Strukturen. Eine Theorie der Einheit der Natur und der Naturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2010. Lewis, David: »Ramseyan humility«, in: David Braddon-Mitchell / Robert Nola (Hgg.): Conceptual analysis and philosophical naturalism, Cambridge Mass. 2009, 203–222 Mumford, Stephen: Dispositions, Oxford 1998. Shoemaker, Sydney: »Causality and properties«, in: ders.: Identity, cause, and mind. Philosophical essays, Cambridge 1984, 206–233.

7 

Siehe dazu ausführlich M. Esfeld / C. Sachse: Kausale Strukturen.

Dispositionen in Raumzeit-Theorien Andreas Bartels

1.  Was können wir aus der Philosophie der Physik über Dispositionen lernen? In der neueren Debatte über Dispositionen hängt vieles davon ab, ob wenigstens einige fundamentale Eigenschaften der Physik als Dispositionen verstanden werden können. Wenn es schon auf der basalen Ebene der Physik keine wesentlich dispositionalen Eigenschaften gäbe, so würde dies die Plausibilität dafür vermindern, dass höherstufige biologische oder mentale Eigenschaften in wesentlicher Weise als Dispositionen zu verstehen sind.1 Die Klärung des ontologischen Status fundamentaler physikalischer Eigenschaften muss sich natürlich daran orientieren, wie die entsprechenden Eigenschaften in physikalischen Theorien repräsentiert sind, und da semantische Fragen der Physik jedenfalls teilweise interpretationsabhängig sind, bringt dies auch die Philosophie der Physik ins Spiel. Auf den ersten Blick spricht einiges zugunsten der Vermutung, dass fundamentale physikalische Eigenschaften der Physik wie Ladung, Gravitationsmasse, Spin, oder auch die metrischen Eigenschaften von Raumzeitpunkten durch charakteristische kausale Aktivitäten gekennzeichnet sind. Dass ein Teilchen eine bestimmte Ladung trägt, bedeutet beispielsweise, dass dieses Teilchen die Fähigkeit besitzt, ein elektromagnetisches Feld zu erzeugen. Solche kausalen Charakterisierungen scheinen in einer Weise zentral für die entsprechende Eigenschaft zu sein, dass sie als essentiell oder definierend angesehen werden können. Es scheint zutreffend zu sein, dass eine Eigenschaft nicht die Eigenschaft der Ladung sein kann, wenn sie nicht mit der kausalen Aktivität der Erzeugung eines elektromagnetischen Feldes einhergeht. Freilich gibt es weitere Merkmale der Eigenschaft Ladung, wie z. B. jenes, dass die zeitliche Veränderung eines Magnetfeldes die Bewegung freier Ladungen hervorrufen kann. Aber auch dies ist ein Beispiel eines Merkmals von Ladung, das in einer Fähigkeit besteht, in bestimmte kausale Beziehungen zu anderen Eigenschaften zu treten. Daneben gibt es aber auch Merkmale von Ladung, die nichts mit kausalen Aktivitäten zu tun haben, etwa das Merkmal, das darin besteht, dass klassische Ladungen durch eine skalare Größe, und nicht etwa durch einen Vektor repräsentiert werden. Ist dieses Merkmal nun weniger essentiell für Ladungen als die genannten kausalen Merkmale? Ich sehe dafür jedenfalls kein gutes Argument. Eine Zwischenbilanz dieser Überlegung wäre also, dass die Eigenschaft Ladung durch verschiedene, teils kausale, teils nicht kausale (kategoriale) Merkmale 1  Nach M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, 175 ist es sogar »nicht kohärent zu vertreten, dass die fundamentalen Eigenschaften rein kategorial sind, es zusätzlich zu diesen aber höherstufige Eigenschaften gibt, die dispositional sind […]«.

Dispositionen in Raumzeit-Theorien

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charakterisiert wird, die alle essentiell für Ladung sind, so dass zwar manche kausalen Merkmale von Ladung essentielle Merkmale von Ladung sind, aber jedenfalls nicht ohne weitere Argumentation folgt, dass Ladung in essentieller Weise eine kausale oder dispositionale Eigenschaft ist. Die Diskussion dieses Beispiels soll hier nicht weiter vertieft werden, sie zeigt aber schon, wie verwickelt die Aufgabe werden kann, zu überprüfen, ob es sich bei fundamentalen physikalischen Eigenschaften tatsächlich um Dispositionen handelt. Im Folgenden will ich mich nun ganz auf das Beispiel der metrischen Eigenschaften von Raumzeitpunkten konzentrieren, und versuchen an diesem Beispiel herauszuarbeiten, (a) ob metrische Eigenschaften Dispositionen sind, und (b) welchen Begriff der Disposition sie gegebenenfalls erfüllen.

2.  Was für metrische Eigenschaften als Dispositionen spricht: Die dynamische Raumzeit In Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie erhält die Raumzeit erstmals eine aktive, dynamische Rolle. Einstein sucht in seiner Theorie alle Größen zu eliminieren, die durch starre, nicht interaktive Strukturen charakterisiert sind, und ist bestrebt, sie durch Größen zu ersetzen, deren Werte erst durch kausale Interaktion bestimmt werden. Unter anderem verwendet er als Auswahlprinzip für physikalisch akzeptable Lösungen der Feldgleichungen das Mach-Prinzip, in dem gefordert wird, dass die großräumige Verteilung der Materie im Universum die lokalen Trägheitseigenschaften eines Körpers bestimmt  – während die Trägheitseigenschaften in der speziellen Relativitätstheorie noch einer starren, von den physikalischen Prozessen unbeeinflussten Trägheitsstruktur folgen. Die kausale Realitätsauffassung Einsteins, die in der Theorienkonstruktion wirksam wird, begünstigt eine Metaphysik der fundamentalen physikalischen Eigenschaften, vor allem eine Metaphysik der Eigenschaften der Raumzeit (bzw. der Raumzeit-Punkte), in der diese Eigenschaften als wesentlich kausale Eigenschaften (Dispositionen) aufgefasst werden. In einer modernen Version 2 besagt das Kovarianzprinzip der allgemeinen Relativitätstheorie genau das, was der Anhänger der kausalen Theorie der Eigenschaften fordert: Es gibt keine absoluten Objekte in der Welt3, d. h. keine Objekte, die nicht andere Objekte kausal beeinflussen oder durch andere Objekte kausal beeinflusst werden, z. B. keinen starren raumzeitlichen Hintergrund für die materiellen Prozesse. Die raumzeitlichen Eigenschaften, die in der klassischen Physik paradigmatisch für nicht kausale, kategoriale Eigenschaften standen, müssen nun als kausale, dispositionale Eigenschaften aufgefasst werden. Das beobachtbare Verhalten physikalischer Objekte scheint Einsteins dynamisches Verständnis der Raumzeit zu bestätigen. Wassertropfen werden in vertikaler Richtung zur Erdoberfläche gestreckt und in horizontaler Richtung zusammengepresst, sie neh-

2  3 

M. Friedman, Foundations of Space-Time Theories. Vgl. M. Friedman, Foundations of Space-Time Theories, 214.

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Kolloquium 7  ·  Andreas Bartels

men also die Form eines Ellipsoids an, wenn sie im Gravitationsfeld der Erde fallen – dies ist eine Wirkung der Gezeitenkräfte der Gravitation, die darauf zurückgehen, dass die Gravitationskraft bei Annäherung an die Erdoberfläche zunimmt.4 Dieser beobachtbare Effekt zeigt, dass die Raumzeit, in der nach Einsteins Theorie die Gravitationskraft inkorporiert ist, tatsächlich Wirkungen auf physikalische Objekte ausübt. 5 Dass Raumzeitpunkte ausschließlich durch ihre kausalen metrischen Eigenschaften individuiert werden, und nicht durch andere intrinsische Eigenschaften, ist eine Konsequenz des Kovarianzprinzips der allgemeinen Relativitätstheorie. In der ›Lochbetrachtung‹ von 1913 war Einstein auf das Problem gestoßen, dass das Prinzip der allgemeinen Kovarianz scheinbar nicht mit dem Mach-Prinzip harmonierte, nach dem der Materieinhalt eindeutig die metrische Struktur einer Raumzeit bestimmen sollte. Die metrischen Strukturen können, so fand Einstein, frei vor einem Hintergrund von Raumzeitpunkten verschoben werden, mit dem Resultat, dass die Theorie offenbar nicht vorauszusagen erlaubt, welche metrischen Eigenschaften welchem Raumzeitpunkt zugeordnet sind. Nach vielen Umwegen stieß Einstein schließlich 1915 auf die Lösung: Es war falsch, die metrische Struktur als etwas anzusehen, das frei vor einem Hintergrund von Raumzeitpunkten verschoben werden kann. Die Punkte selbst besitzen keine Identität unabhängig von der metrischen Struktur. Die ›Punkte‹ unabhängig vom metrischen Feld sind zunächst nur Namen ohne physikalische Bedeutung. Physikalische Bedeutung trägt das metrische Feld. Die Raumzeit (bzw. die Raumzeit-Punkte) sind kein unabhängig existierender Träger der metrischen Eigenschaften, und in diesem Sinne die Raumzeitpunkte nichts weiter als Vorkommnisse bestimmter Werte der metrischen Eigenschaften. Darin drückt sich das allgemeine Kovarianzprinzip aus: Raumzeitpunkte sind ausschließlich durch kausale metrische Eigenschaften individuiert; sie sind nichts anderes als Teile eines speziellen physikalischen Feldes, des metrischen Feldes. Aber ist das dynamische Verhalten des metrischen Feldes überhaupt kausal zu verstehen? Ist es nicht vielmehr völlig ausreichend, die beobachtete Deformation der Wassertropfen so zu beschreiben, dass die einzelnen materiellen Punkte des Wassertropfens dem Verlauf ihrer jeweiligen Geodäten (Trägheitsbahnen) folgen und dabei aufgrund der Geodätenstruktur im Schwerefeld der Erde die Abstände der Punkte sich so verändern, dass der Tropfen als Ganzes Ellipsoid-Form annimmt? Die Frage nach einer möglichen kausalen Interpretation des Vorgangs hängt offensichtlich davon ab, welchen Kausalbegriff wir zugrunde legen. Ich werde diese Diskussion an dieser Stelle nicht weiter verfolgen und sie erst wieder aufnehmen, wenn es (in Abschnitt 4) um die Frage geht, ob die metrischen Eigenschaften von Raumzeitpunkten tatsächlich dispositionale Eigenschaften sind, d. h. ob sie wesentlich (und ausschließlich) durch kausale Beziehungen charakterisierte Eigenschaften sind. Bis hierhin werde ich im Folgenden

Vgl. H. C. Ohanian, Gravitation and Spacetime, 34.  Es gibt weitere Hinweise darauf, dass die Raumzeit in Einsteins Theorie tatsächlich ein eigenständiger kausaler Agent geworden ist. Die Existenz von Vakuumlösungen belegt, dass die Geodätenstruktur nicht durch eine Materieverteilung hervorgebracht werden muss, sondern ›autonom‹ existieren kann. 4  5 

Dispositionen in Raumzeit-Theorien

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den Kausalbegriff in naiver Weise verwenden und annehmen, dass die metrischen Eigenschaften der Raumzeit, die sich in der Geodätenstruktur ausdrücken, tatsächlich als kausale Eigenschaften zu verstehen sind.

3.  Metrische Eigenschaften als intrinsische Eigenschaften von Raumzeitpunkten Metrische Eigenschaften gelten klassisch als kategoriale und relationale Eigenschaften. Ein Raumpunkt besitzt seinen Abstand zu einem anderen Raumpunkt eben nicht unabhängig davon, ob er allein oder in Begleitung anderer Raumpunkte auftritt.6 Die Eigenschaft, einen bestimmten Abstand zu einem anderen Raumpunkt aufzuweisen, ist natürlich abhängig vom Vorkommen dieses anderen Raumpunktes. Für die Metrik einer Riemannschen Mannigfaltigkeit, wie sie der Standardformulierung der allgemeinen Relativitätstheorie zugrunde liegt, ergibt sich aber eine andere Situation. Diese Metrik ist für eine ›infinitesimale‹ Umgebung eines Raumzeitpunktes p definiert, sie ist nicht identisch mit der klassischen relationalen Eigenschaft, die eine Abstandsstruktur zwischen endlich entfernten Punkten beschreibt, sondern stellt eine intrinsische Eigenschaft von p dar, die die raumzeitliche Länge infinitesimaler, durch p führender Kurvensegmente ausdrückt. Mathematisch wird die Metrik an Punkt p durch eine bilineare reellwertige Funktion auf dem Tangentialraum an p dargestellt, die die Länge jedes Tangentenvektors dieses Tangentialraums bestimmt.7 Diese Definition der Metrik enthält keine explizite Bezugnahme auf andere Raumzeitpunkte der Mannigfaltigkeit als p selbst. Es ist zwar richtig, dass die Komponenten der Tangentenvektoren durch p eine Art impliziter Bezugnahme auf die infinitesimale Umgebung von p enthalten, da ja immerhin infinitesimale Segmente von Kurven durch p betrachtet werden. Das Vorkommen von anderen Mannigfaltigkeitspunkten als p ist also eine Voraussetzung der Definition; sie würde gar keinen Sinn machen, wäre p nicht ein Punkt innerhalb einer Punktmannigfaltigkeit. In diesem Sinne ist also auch die Riemannsche Metrik ›relational‹, aber dies ist nun ein sehr schwacher Sinn von ›relational‹, nach dem etwa auch die Geschwindigkeit eines Körpers an einem bestimmten Raumzeitpunkt relational ist – weil eben die Definition der Geschwindigkeit die Existenz einer Umgebung von Punkten voraussetzt. Dennoch würde man sagen, dass die Geschwindigkeit des Körpers an einem Punkt eine Eigenschaft ist, die eben an diesem Punkt vorhanden ist, unabhängig von irgendwelchen Geschwindigkeits-Eigenschaften, die an anderen Punkten auftreten. Ebenso wird eine elektrische Feldstärke an einem Punkt angenommen, unabhängig davon, welche Feldstärken an anderen Punkten vorliegen. In demselben Sinn sind nun die metrischen Eigenschaften von Raumzeitpunkten, durch die diese Punkte individuiert sind, intrinsische Eigenschaften. Offenbar treten hier zwei verschiedene Begriffe von ›intrinsisch‹ miteinander in Konkurrenz: Der erste bezieht sich auf die impliziten Voraussetzungen der Definition

6  7 

Vgl. M. Esfeld, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, 179. Vgl. M. Friedman, Foundations of Space-Time Theories, 40 f.

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einer Größe, durch die eine Eigenschaft erfasst wird, der andere auf Vorkommnisse der durch eine solche Definition erfassten Eigenschaft selbst. Ich plädiere dafür, in der Frage, ob die Riemannsche Metrik eine intrinsische oder relationale Eigenschaft beschreibt, den zweiten Begriff zugrunde zu legen, mit dem Ergebnis, dass die Riemannsche Metrik in diesem Sinne eine intrinsische Eigenschaft repräsentiert. Der hier favorisierte Begriff von ›intrinsisch‹ ist jedenfalls gehaltvoll und interessant: er erlaubt es beispielsweise, die intrinsischen Feldeigenschaften, die in klassischen, separablen Feldern (wie dem metrischen Feld der allgemeinen Relativitätstheorie) auftreten, von nicht-intrinsischen Feldeigenschaften zu unterscheiden, wie sie in nicht-klassischen, nicht-separablen Quantenfeldern auftreten; in letzteren ist das Auftreten einer Feldeigenschaft an einem Punkt eben nicht unabhängig davon, welche Feldeigenschaften an anderen Punkten auftreten. Die Komponenten des Riemannschen Krümmungstensors folgen direkt aus dem Metrik-Tensor und dessen ersten und zweiten Ableitungen. Sie sind in der gleichen Weise intrinsisch wie der Metrik-Tensor selbst.8 Da sie den Beitrag eines Raumzeitpunktes für die messbaren Gezeitenkräfte bestimmen, sind sie ›dispositional‹. Sie drücken aus, wie ein Raumzeitpunkt an der ›Krümmung‹ der Geodäten mitwirkt, mit anderen Worten, sie drücken intrinsische Dispositionen von Raumzeitpunkten aus, die sich in messbaren lokalen Kräften manifestieren, die ihrerseits von der Totalität der Beiträge der Punkte des entsprechenden Raumzeitgebietes abhängen. Anstatt von Krümmungseigenschaften von Raumzeitpunkten im Unterschied zu ihren metrischen Eigenschaften zu sprechen, erscheint es einfacher, den Raumzeitpunkten nur eine Sorte von Eigenschaften, nämlich die metrischen Eigenschaften zuzusprechen. Indem sie die Krümmungskomponenten bestimmen, sind es die metrischen Eigenschaften, die sich in Gezeitenkräften manifestieren.

4.  Sind metrische Eigenschaften dispositional? Nach Stephen Mumford9 sind Eigenschaften dispositional, wenn sie eine bestimmte kausale Rolle spielen.10 Die metrischen Eigenschaften von Raumzeitpunkten wären demnach dispositional, indem sie die kausale Rolle spielen, lokale Gezeitenkräfte hervorzurufen. Im Besonderen sind sie solche dispositionalen Eigenschaften, die keiner besonderen Stimuli oder Manifestationsbedingungen bedürfen, um sich zu manifestieren. Die geometrisch charakterisierten Gezeitenkräfte als Manifestationen metrischer Dispositionen treten auch in Vakuumlösungen mit ihrer wohldefinierten Geodätenstruktur auf, obgleich in ihnen per definitionem keine Testpartikel vorhanden sind, die

8  Die Komponenten des Krümmungstensors sind im Gegensatz zu den Komponenten des Metrik-Tensors messbare Größen – analog zu den elektrischen und magnetischen Feldstärken in der Elektrodynamik im Vergleich zum Vektorpotential. 9  Mumford, Stephen: »The Ungrounded Argument«. 10  Vgl. S. Mumford, Dispositions, 135.

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solche Gezeitenkräfte spüren. Der dispositionale Charakter der metrischen Eigenschaften kann daher in Anlehnung an Bird wie folgt angegeben werden (auf die Erwähnung eines Stimulus kann, wie eben ausgeführt, in unserem Fall verzichtet werden):11 Raumzeitpunkt p besitzt die Disposition D, genau dann wenn p besitzt die intrinsische Eigenschaft g (metrischer Tensor). g ist eine p-vollständige Ursache von G (Gezeitenkräfte). Die p-Vollständigkeit von g besagt, dass in g alle intrinsischen Eigenschaften von p eingeschlossen sind, die zu G beitragen. Am Ende von Abschnitt 2 wurde bereits die Frage gestellt, inwiefern es gerechtfertigt ist, die Beziehung zwischen dem Metrik-Tensor g und den Gezeitenkräften G als kausale Beziehung aufzufassen. Einsteins geometrische Deutung der Gravitation scheint doch, so jedenfalls eine geläufige Interpretation der Theorie, gerade darauf hinaus zu laufen, dass die kausale Beschreibung der Gravitation durch eine geometrische Beschreibung ersetzt wird. Von der Beantwortung der Frage nach der kausalen Beziehung zwischen g und G hängt letztlich ab, ob metrische Eigenschaften tatsächlich als Dispositionen verstanden werden können. Eine naheliegende Möglichkeit, g’s Einfluss auf G als kausal zu rekonstruieren, bestünde darin, auf das Energie-Transfer-Konzept der Verursachung zurückzugreifen. Diese Theorie der Verursachung ist ja besonders auf die Physik zugeschnitten, und ihre Anwendungsbedingungen scheinen erfüllt zu sein, weil das metrische Feld ein Träger von Energie ist. Tatsächlich ist dieser Weg aber angesichts der Nicht-Lokalisierbarkeit der Energie des Gravitationsfeldes12 nicht (oder nur unter großen Mühen) realisierbar. In dieser Situation bietet es sich an, auf den minimalen Kausalbegriff der nomologischen Abhängigkeit zurückzugreifen. Zwar gibt es auch hier Probleme, etwa den Fall der synchronen wechselseitigen nomologischen Beziehung von Druck und Temperatur eines Gases, die aufgrund dieses Begriffs als kausal zu gelten hat. Auch die EPR-Korrelationen der Quantenmechanik sind gesetzesartige, gleichwohl nicht kausale Beziehungen. In klassischen Raumzeittheorien haben wir es aber weder mit instantanen noch mit nicht-lokalen gesetzesartigen Beziehungen zu tun, und daher erscheint es hier akzeptabel den Begriff der nomologischen Abhängigkeit zu verwenden. Die Beziehung zwischen g und G lässt sich wie folgt als eine gesetzesartige Beziehung verstehen. Metrik g und Gezeitenkräfte G sind nur relativ zu einem gegebenen affinen Zusammenhang eindeutig miteinander verbunden. Dabei bestimmt der affine Zusammenhang einer Raumzeit die Änderung von Vektoren, die entlang einer raumzeitlichen Kurve verschoben werden. Im Besonderen legt ein bestimmter affiner Zusammenhang fest, was es heißt, dass ein Vektor bei Verschiebung entlang einer Kurve derselbe Vektor bleibt. Geodäten (geradeste Kurven) in einer Raumzeit (gemäß des in ihr geltenden affinen Zusammenhangs) sind die Kurven mit der Eigenschaft, dass der Tangentialvektor an einem Punkt einer Kurve bei ungeänderter Verschiebung entlang der Kurve Tangen-

11  12 

Vgl. A. Bird, »Dispositions and Antidotes«, 233. Vgl. A. Bartels, Kausalitätsverletzungen in allgemeinrelativistischen Raumzeiten, 224 f.

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tialvektor an die Kurve bleibt. Für die Riemannsche Mannigfaltigkeit der allgemeinen Relativitätstheorie ist nun ein besonderer affiner Zusammenhang charakteristisch: Die geodätischen (geradesten) Kurven dieses affinen Zusammenhangs sollen dadurch bestimmt sein, dass sie zugleich Kurven extremaler Länge sind.13 Durch dieses ›Gesetz‹ der allgemeinen Relativitätstheorie ist eine besondere Verbindung zwischen der Metrik und der affinen Struktur der Raumzeit ausgezeichnet. Andere Raumzeiten, z. B. Weyls Versuch der Vereinigung von Gravitation und elektromagnetischer Wechselwirkung, erfordern andere affine Zusammenhänge. Das Vorliegen des Metriktensors g an Punkt p ist daher nicht hinreichend dafür, dass g zu einer bestimmten affinen Struktur – und demgemäß zu bestimmten Gezeitenkräften führt. Andere Gesetze des affinen Zusammenhangs würden zu anderen Konsequenzen hinsichtlich der Gezeitenkräfte führen. Es ist denkbar, dass Punkt p dieselben metrischen Eigenschaften besitzen könnte, ohne dass diese Gezeitenkräfte die Folge wären – ohne dass die metrischen Eigenschaften diese kausale Rolle gespielt hätten. Halten wir zunächst fest, dass die Frage, ob es sich bei der Beziehung zwischen g und G um eine kausale Beziehung handelt, bei Zugrundelegung eines nomologischen Kausalbegriffs positiv beantwortet werden kann. Metrische Eigenschaften sind danach Dispositionen. Im Folgenden soll untersucht werden, um welche Art von Dispositionen es sich handelt. Dabei geht es im Einzelnen um folgende Fragen: (a) Sind die metrischen Eigenschaften ›Kräfte‹, d. h. verursachen metrische Eigenschaften ihre Manifestationen mit metaphysischer Notwendigkeit oder liegt nur nomologische Notwendigkeit vor? (b) Sind die metrischen Eigenschaften ausschließlich dispositional (d. h. sind metrische Eigenschaften ›reine Dispositionen‹, ›ungrounded dispositions‹14) oder sind diese Eigenschaften teilweise kategorial? In diesem Fall gäbe es kategoriale und dispositionale Arten der Zuschreibung metrischer Eigenschaften, wobei die kategorialen Zuschreibungen eine kategoriale Basis zur Erklärung des Zutreffens der dispositionalen Zuschreibungen bilden würden. Wenden wir uns zunächst Frage (a) zu.

5.  Sind metrische Eigenschaften Kräfte? Verursachen im Fall der metrischen dispositionalen Eigenschaften Dispositionen ihre Manifestationen mit metaphysischer oder nur nomologischer Notwendigkeit? Auch wenn wir davon ausgehen, dass die Beziehung zwischen g und G eine nomologische, und in diesem Sinne kausale Beziehung ist, ist damit die Antwort auf (a) noch nicht festgelegt. Die Antwort hängt vielmehr davon ab, wie diese nomologische Beziehung

13  14 

Vgl. M. Friedman, Foundations of Space-Time Theories, 42 f. Vgl. S. Mumford, Dispositions, 167 f. und ders., »The Ungrounded Argument«.

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interpretiert wird, d. h. welcher Gesetzesbegriff unterstellt wird. Eine Regularitätsauffassung von Gesetzen würde natürlich zu dem Ergebnis führen, dass G durch g nicht mit metaphysischer Notwendigkeit verursacht wird. Aber wenn man sich stattdessen eine Dispositionsauffassung von Gesetzen zu eigen macht, so ist die gesetzesartige Beziehung zwischen g und G nur ein Ausdruck für die Tatsache, dass G durch g mit metaphysischer Notwendigkeit hervorgebracht wird (wenngleich sie in epistemischer Hinsicht kontingent ist). Die Metrik g ist dann ›aus sich selbst heraus‹ der Grund dafür, dass eine bestimmte Geodätenstruktur mit den entsprechenden Gezeitenkräften vorliegt, und das entsprechende Gesetz ist lediglich eine Formulierung der so begründeten Beziehung. Ein Vorteil der Dispositionsauffassung besteht darin, dass sie konkrete Vorkommnisse von g und G mithilfe von Tatsachen verbindet, die in dem Sinne ›lokal‹ sind, dass sie nur das konkrete Vorkommnis von g und G selbst betreffen. Es ist eben die dem Vorkommnis von g ›innewohnende Disposition‹, die mit Notwendigkeit G hervorbringt – und nicht etwa eine raumzeitlich ›verteilte‹ Tatsache wie das Vorhandensein einer Regularität, die alle Vorkommnisse von g und G in der Raumzeit betrifft. Ein Nachteil der Dispositionsauffassung scheint mir darin zu bestehen, dass die entsprechenden Eigenschaften, hier die metrischen Eigenschaften, mit einer nicht weiter analysierbaren Kraft ausgestattet werden, die nicht Gegenstand der Physik ist. Damit tritt ein überwunden geglaubter Dualismus von physikalischen und metaphysischen Kräften wieder auf den Plan, und mit ihm die prinzipiell unbeantwortbare Frage, wie die Kraft von g, G zu verursachen, es denn anstellt zu gewährleisten, dass Vorkommnisse von g, die diese Kraft besitzen, notwendig zu Vorkommnissen von G führen. Die Frage nach dem Mechanismus scheint grundsätzlich nicht beantwortbar zu sein, und dieser Umstand erweckt Zweifel daran, dass eine Dispositionsauffassung von Gesetzen, nach der Dispositionen als ein letzter, nicht selbst wieder mithilfe gesetzesartiger Erklärungen analysierbarer Grund auftreten, wissenschaftskompatibel ist. Aus dem zuletzt genannten Grund plädiere ich dafür, g und G als mit nomologischer Notwendigkeit verbunden aufzufassen. Das Vorliegen einer Disposition wird also auf die Geltung von Gesetzen zurückgeführt und nicht umgekehrt. Dies schließt nicht aus, dass die Geltung dieser Gesetze wiederum mithilfe von weiteren, fundamentaleren Dispositionen verstanden werden kann. Die Dispositionsauffassung von Gesetzen soll also nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Im Fall der metrischen Eigenschaften sind aber solche grundlegenderen Dispositionen nicht bekannt, auf die sie gestützt werden könnten. Ist die Möglichkeit der weiteren Begründung von Dispositionen (zu einem bestimmten Zeitpunkt) nicht gegeben, sollte man nicht bei ›ultimate dispositions‹ stehenbleiben – sondern bei Gesetzen, deren tiefere dispositionale Begründung eben noch aussteht.

6.  Besitzen metrische Eigenschaften eine kategoriale Basis? Wären die metrischen Eigenschaften ausschließlich dispositional (d. h. wären sie identisch mit ihrer kausalen Rolle der Erzeugung von G), dann könnte eine gesetzesartige Erklärung dafür, dass G durch g erzeugt wird, jedenfalls nicht an irgendwelchen kate-

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gorialen Kennzeichnungen dieser metrischen Eigenschaften (die nicht mit der Bezeichnung der kausalen Rolle identisch sind) ansetzen. Dies ist aber tatsächlich der Fall. Indem die im metrischen Sinne geradesten Kurven (Kurven extremaler Länge) mit den im affinen Sinne geradesten Kurven gleichgesetzt werden, wird auf die Kennzeichnung der Metrik als Maß für die Länge infinitesimaler Kurvensegmente Bezug genommen. Ein Maß für die Länge infinitesimaler Kurvensegmente zu sein, ist für sich genommen keine dispositionale Kennzeichnung, sondern eine kategoriale Kennzeichnung. Sie als dispositional aufzufassen, weil sie – vermittelt durch einen gesetzesartigen Zusammenhang – zu kausalen Konsequenzen führt, würde zu einer Trivialisierung des Begriffs ›dispositional‹ führen: Alle Kennzeichnungen wären dann letztlich dispositional. Ich möchte die Unterscheidung von ›kategorial‹ und ›dispositional‹ so handhaben, wie von Mumford vorgeschlagen: »Disposition ascriptions are ascriptions of properties that occupy a particular functional role as a matter of conceptual necessity and have particular shape or structure characterizations only a posteriori. Categorical ascriptions are ascriptions of shapes and structures which have particular functional roles only a posteriori«15. Danach ist die mathematische Definition des Metrik-Tensors ein Fall davon, metrische Eigenschaften in kategorialer Weise zuzuschreiben, während die Angabe, welche Gezeitenkräfte ein Testteilchen in einem kleinen Gebiet der Raumzeit spüren würde, ein Fall davon ist, metrische Eigenschaften in Form ihrer kausalen (oder funktionalen) Rolle zuzuschreiben. Wenn man das Verhältnis kategorialer und dispositionaler Eigenschaftszuschreibungen in dieser Weise versteht, dann vermeidet man, dass in unserem Fall metrische Eigenschaften in kategoriale und dispositionale Eigenschaften zerfallen. Die metrischen Eigenschaften sind, was sie sind, aber was sie sind, lässt sich sowohl in kategorialer als auch in dispositionaler Weise beschreiben.16 Die mathematische Definition gehört zur kategorialen Beschreibungssorte, während die Kennzeichnung dieser Eigenschaften im Hinblick auf ihre kausale Rolle zur dispositionalen Beschreibungssorte gehört. In der Explikation von ›Disposition‹ im Abschnitt 4 dieses Aufsatzes steht (i) für den kategorialen Aspekt von g, (ii) für den dispositionalen Aspekt. Metrische Eigenschaften sind also in einem bestimmten Sinn kategoriale und dispositionale Eigenschaften, aber eben nicht, weil hier zwei verschiedene Eigenschaftssorten nebeneinander vorkommen, sondern weil diese Eigenschaften in unterschiedlichen Weisen und Hinsichten beschrieben werden können. In welchem Verhältnis stehen nun kategoriale und dispositionale Kennzeichnungen der metrischen Eigenschaften zueinander? Die Tatsache, dass bestimmte kategoriale Kennzeichnungen durch Vorkommnisse metrischer Eigenschaften erfüllt sind, stellt einen ontologischen Grund dafür dar, dass bestimmte dispositionale Kennzeichnungen auf diese Vorkommnisse metrischer Eigenschaften zutreffen. Wenn eine Maßbestimmung für die Länge infinitesimaler Kurvensegmente am Punkt p gegeben ist (d. h. bestimmte Werte des metrischen Tensors vorliegen), dann erfüllt diese Maßbestim-

15  16 

S. Mumford, »The Ungrounded Argument«, 77. Vgl. S. Mumford, »The Ungrounded Argument«, Kap. 7: Property Monism.

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mung aufgrund kontingenter Gesetze die kausale Rolle, bestimmte Gezeitenkräfte zu verursachen (bzw. einen kausalen Beitrag zu den Gezeitenkräften in der unmittelbaren Umgebung von p zu leisten). Es gibt nur eine Art von Eigenschaften, die metrischen Eigenschaften17, aber diese Eigenschaften treten in Form verschiedener Kennzeichnungen auf: zum einen in der Form, die geometrischen Verhältnisse an Punkt p zu bezeichnen (in kategorialer Form) und zum anderen in der Form, die kausale Rolle der Erzeugung von Gezeitenkräften zu bezeichnen (in dispositionaler Form). Besitzen daher nun die metrischen Eigenschaften an einem Punkt p eine kategoriale Basis? Nein, wenn damit gemeint ist, dass diese Eigenschaften aufgrund der Existenz anderer Eigenschaften vorkommen. Raumzeitpunkte sind einfache unzerlegbare Gegenstände, deswegen gibt es keine Mikrokonstituenten, auf deren Eigenschaften die metrischen Eigenschaften eines Punktes zurückgeführt werden könnten. Ja, in dem Sinne, dass diese Eigenschaften ihre kausale Rolle aufgrund der Tatsache erfüllen, dass sie bestimmte kategoriale Zuschreibungen erfüllen (und bestimmte kontingente Gesetze gelten). Gleichgültig, wie die metrischen Eigenschaften gekennzeichnet werden, ob kategorial oder dispositional, sie erfüllen ein und dieselbe kausale Rolle (die Tatsache der Erfüllung der kausalen Rolle ist mit der dispositionalen Kennzeichnung begrifflich notwendig verbunden, mit der kategorialen Kennzeichnung empirisch-kontingent). Die metrischen Eigenschaften besitzen eine kategoriale Basis, aber sie sind nicht verschieden von dieser kategorialen Basis: »[…] dispositions are not distinct from their causal bases, they are identical with them […]«18. ›Ungrounded dispositions‹ stellen einen Spezialfall in Mumfords Theorie der doppelten Kennzeichnung dar: »[…] what of dispositions which allegedly have no categorical base? These ›ungrounded‹ dispositions are commonly understood to be the fundamental powers of subatomic particles which […] have a causal role but nothing which causes them to behave the way they do […] There is no explanation of why they possess their dispositions; no underlying categorical explanation. They are more like powers in the old-fashioned sense […]«19. Zusammen mit der Ladung und dem Spin von Elementarteilchen kommen prima facie auch die metrischen Eigenschaften von Raumzeit-Punkten als Instanzen dieses Spezialfalls in Frage. Die Einschätzung, nach der diese Eigenschaften ›strukturloser‹ Objekte nicht weiter zurückführbare Dispositionen sein sollten, beruht aber auf der einseitigen Fokussierung auf den Fall, in dem eine kategoriale Basis von Mikrokonstituenten abhängt. Ladung, Spin, Metrik und andere fundamentale Eigenschaften der Physik können in ihrer kausalen Rolle tatsächlich nicht durch Rückgang auf die Eigenschaften irgendwelcher Mikrokonstituenten erklärt werden. Aber die Diskussion über die metrischen Eigenschaften hat gezeigt, dass es für sie durchaus kategoriale Kennzeichnungen gibt, auf die sich eine Erklärung der kausalen Rolle dieser Eigenschaften 17  Die metrischen Eigenschaften exemplifizieren damit Mumfords ›property monism‹ (S. Mumford, »The Ungrounded Argument«, Kap. 7). 18  S. Mumford, »The Ungrounded Argument«, 144. 19  S. Mumford, »The Ungrounded Argument«, 167 f.

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stützen kann. Metrische Eigenschaften sind kategorial und dispositional zugleich – und daher keine ›ungrounded dispositions‹.

Literatur Bartels, Andreas: Kausalitätsverletzungen in allgemeinrelativistischen Raumzeiten, Berlin 1986. Bird, Alexander: »Dispositions and Antidotes«, in: The Philosophical Quarterly 48, 1998, 227–234. Esfeld, Michael: Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Frankfurt a. M. 2008. Friedman, Michael: Foundations of Space-Time Theories, Princeton 1983. Mumford, Stephen: Dispositions, Oxford 1998. Mumford, Stephen: »The Ungrounded Argument«, in: Synthese 149, 2006, 471–489. Ohanian, Hans C.: Gravitation and Spacetime, New York 1976.

Eine dispositionale Theorie der Kausalität Andreas Hüttemann

1.  Einleitung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts argumentierten Ernst Mach und Bertrand Russell für die These, die Begriffe der Ursache und der Wirkung sollten eliminiert werden. Einerseits seien sie nicht sehr präzise und andererseits könnten ihre Anwendungsbedingungen nicht erfüllt sein, denn das Bestehen dieser Bedingungen sei nicht verträglich mit einer Welt, wie sie von der Physik beschrieben wird. Im Alltag und in den sog. speziellen Wissenschaften spielen kausale Begriffe allerdings eine wichtige Rolle und für die Unterscheidung erfolgreicher Strategien des Handelns von weniger erfolgreichen Strategien sind sie unverzichtbar.1 Mein Argumentationsziel ist es, zu zeigen, dass Ursachen und Wirkungen in einer Welt, wie sie die Physik beschreibt, (im Folgenden: der physikalischen Welt) durchaus ihren Platz haben (wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen). Insbesondere möchte ich zeigen, dass die Zuschreibung von Dispositionen zu physikalischen Systemen ein wichtiger Zwischenschritt ist, um einzusehen, wo Kausalität in einer physikalischen Welt zu verorten ist.

2.  Die Elimination des kausalen Vokabulars In der einflussreichen Vorrede zu seinen Vorlesungen über Mechanik aus dem Jahre 1876 kritisierte Gustav Kirchhoff den Begriff der Ursache: Man pflegt die Mechanik als die Wissenschaft von den Kräften zu definiren, und die Kräfte als die Ursachen, welche Bewegungen hervorbringen oder hervorzubringen streben. Gewiss ist diese Definition bei der Entwicklung der Mechanik von dem größten Nutzen gewesen, und sie ist es auch noch bei dem Erlernen dieser Wissenschaft, wenn sie durch Beispiele von Kräften, die der gewöhnlichen Erfahrung entnommen sind, erläutert wird. Aber ihr haftet die Unklarheit an, von der sich der Begriff der Ursache und des Strebens nicht befreien lassen. […] Aus diesem Grunde stelle ich es als die Aufgabe der Mechanik hin, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben, und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.

1 

Vgl. N. Cartwright, How the Laws of Physics Lie, Kap. 1.

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Kolloquium 7  ·  Andreas Hüttemann

Ich will damit sagen, daß es sich nur darum handeln soll, anzugeben, welches die Erscheinungen sind, die stattfinden, nicht aber darum, ihre Ursachen zu ermitteln.2 Der spezifische Begriff der Ursache, den Kirchhoff kritisiert, ist der einer produktiven, hervorbringenden Ursache. Dieser Begriff war tatsächlich jener, der von Physikern in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts bevorzugt verwendet wurde3. Die Elimination produktiver Ursachen betrifft anders konzipierte Ursachenbegriffe zunächst nicht. Gustav Theodor Fechner und der junge Ernst Mach knüpften beispielsweise an John Stuart Mills Ursachenbegriff an. Mill hatte selbst produktive Ursachen zurückgewiesen und eine an Hume anknüpfende alternative Konzeption vorgestellt: To certain facts certain facts always do, and, as we believe, will continue to, succeed. The invariable antecedent is termed the cause; the invariable consequent the effect.4 Im Wesentlichen vertritt Mill eine Regularitätsauffassung von Kausalität derart, dass die Ursache das Antezedens eines Naturgesetzes und damit hinreichende Bedingung für das Auftreten der Wirkung ist. Mach und Russell hatten diesen Millschen Ursachenbegriff im Blick, als sie ihre Kritik formulierten. Mach glaubte, man könne den Begriff der Ursache nicht auf die Wirklichkeit anwenden und hat dafür eine Reihe verschiedener Gründe angeführt. 1. Wenn man ernst nimmt, dass der Begriff der Ursache Bedingungen für bestimmte Ereignisse bezeichnet, dann bedeutet dies, dass jeder Faktor in der Geschichte eines Ereignisses, von dem dieses abhängt, spezifiziert werden müsste, wenn man die Ursache angeben möchte: Strebt man die Spuren von Fetischismus zu beseitigen, welche dem Begriff der Ursache noch anhaften, überlegt man, dass eine Ursache in der Regel nicht angebbar ist, sondern dass eine Thatsache meist durch ein ganzes System von Bedingungen bestimmt ist, so führt dies dazu, den Begriff der Ursache ganz aufzugeben. 5 2. Der Begriff der Ursache setzt strikte Gesetzmäßigkeiten voraus. Solche Gesetzmäßigkeiten gibt es aber nicht, wenn man sie als tatsächliche Beschreibungen des Weltverlaufs auffasst: In der Natur gibt es keine Ursache und keine Wirkung. Die Natur ist nur einmal da. Wiederholungen gleicher Fälle, in welchen A immer mit B verknüpft wäre, also gleiche Erfolge unter gleichen Umständen, also das Wesentliche des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, existieren nur in der Abstraktion, die wir zum Zweck der Nachbildung der Tatsachen vornehmen.6 2  3  4  5  6 

G. Kirchhoff Vorlesungen über Mechanik, Vorrede. A. Hüttemann, »Die Elimination des kausalen Vokabulars in der Physik des 19. Jahrhunderts«. J. S. Mill, A System of Logic, 213. E. Mach, Principien der Wärmelehre, 435 f. E. Mach, Die Mechanik, 459.

Eine dispositionale Theorie der Kausalität

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3. Schließlich ersetzen die Wissenschaften selbst den Begriff der Kausalität durch den genaueren Begriff der mathematischen Funktion: In den höher entwickelten Naturwissenschaften wird der Gebrauch der Begriffe Ursache und Wirkung immer mehr eingeschränkt, immer seltener. Es hat dies seinen guten Grund darin, daß diese Begriffe nur sehr vorläufig und unvollständig einen Sachverhalt bezeichnen, daß ihnen die Schärfe mangelt, […]. Sobald es gelingt, die Elemente der Ereignisse durch meßbare Größen zu charakterisieren, was bei Räumlichen und Zeitlichen sich unmittelbar, bei anderen sinnlichen Elementen sich aber doch auf Umwegen ergibt, läßt sich die Abhängigkeit der Elemente voneinander durch den Funktionsbegriff viel vollständiger und präziser darstellen, als durch so wenig bestimmte Begriffe wie Ursache und Wirkung. Dies gilt nicht nur dann, wenn mehr als zwei Elemente in unmittelbarer Abhängigkeit (das Beispiel vom Gas pv / T= konst. […]), sondern noch viel mehr, wenn die betrachteten Elemente nicht in unmittelbarer, sondern in mittelbarer durch mehrfache Ketten von Elementen vermittelter Abhängigkeiten stehen. Die Physik mit ihren Gleichungen macht dieses Verhältnis deutlicher, als es Worte tun können.7 Russell hat diesen Überlegungen zwei wichtige Punkte hinzugefügt: 4. Ursachen werden gewöhnlich als lokale Ereignisse aufgefasst. Das führt zu einem Dilemma. Ein lokales Ereignis ist nämlich niemals hinreichend für das Auftreten eines anderen Ereignisses, denn es kann immer Störfaktoren geben, die dazwischen treten. Wenn man andererseits statt eines lokalen Ereignis, den Zustand der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt als Ursache auffasst, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass es eine Regelmäßigkeit gibt, dergestalt, dass dieser Zustand regelmäßig als hinreichende Bedingung für einen anderen auftritt. In order to be sure of the expected effect, we must know that there is nothing in the environment to interfere with it. But this means that the supposed cause is not, by itself, adequate to insure the effect. And as soon as we include the environment, the probability of repetition is diminished, until at last, when the whole environment is included, the probability becomes nil.8 5. Die zweite Beobachtung, die Russell hinzufügt, betrifft den Umstand, dass in physikalischen Systemen, die von den fundamentalen Gleichungen der Physik beschrieben werden, die Zukunft die Vergangenheit in genau der gleichen Weise festlegt, wie die Vergangenheit die Zukunft.

7  8 

E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, 278. B. Russell, »On the Notion of Cause«, 7/8.

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… the future ›determines‹ the past in exactly the same sense in which the past ›determines‹ the future. The word ›determine‹, here, has a purely logical significance: a certain number of variables ›determine‹ another variable if that variable is a function of them.9 Die Asymmetrie, die wir mit der Kausalrelation verknüpfen, scheint es in der physikalischen Welt nicht zu geben.

3.  Die alltägliche Auffassung von Kausalität und ihre Probleme Im alltäglichen Leben und in vielen Wissenschaften ist von Ursachen und Wirkungen sehr häufig die Rede, ohne dass wir deshalb in große Schwierigkeiten geraten. Wie ist das vor dem Hintergrund der Beobachtungen von Mach und Russell möglich? Ist es möglich, Bedingungen anzugeben, unter denen die Anwendung kausalen Vokabulars trotz der Einwände Machs und Russells möglich ist? Dazu ist zunächst zu klären, welche Merkmale der Kausalrelation üblicherweise (z. B. im Alltag) zugeschrieben werden. Vermutlich gibt es keine einheitliche Alltagsvorstellung von Kausalität.10 Gleichwohl werden bestimmte Merkmale häufig mit Kausalität verknüpft: Hervorbringen (Produktion): Eine Ursache bringt ihre Wirkung hervor, produziert sie. Norton11 nimmt an, dies sei das zentrale Merkmal der Alltagskonzeption. Asymmetrie: Ursachen bringen ihre Wirkungen hervor, aber Wirkungen keine Ursachen. Zeitliche Priorität: Ursachen gehen ihren Wirkungen zeitlich vorher. Lokalität: Ursachen und Wirkungen sind lokale Ereignisse in Raum und Zeit. Hauptursache: Es gibt einen Unterschied zwischen einer Hauptursache und sekundären Kausalfaktoren (bloßen Bedingungen). Dies sind einige der Bedingungen, die Norton12 nennt. Für alle gilt, dass im Lichte der Kritik von Mach und Russell fraglich geworden ist, ob es eine Kausalrelation, die diese Merkmale besitzt, wirklich geben kann. Das gilt insbesondere für das Merkmal Hervorbringen. Letztlich ist dieses Merkmal schon problematisch, seit im 17.  Jahrhundert die substantiellen Formen zurück gewiesen wurden, die eine produktive Kausalität nahe gelegt hatten. Ich teile Mills und

9  10  11  12 

B. Russell, »On the Notion of Cause«, 15. Vgl. J. Norton, »Causation as Folk Science«. J. Norton, »Causation as Folk Science«, 34. J. Norton, »Causation as Folk Science«.

Eine dispositionale Theorie der Kausalität

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Kirchhoffs Auffassung, dass sich ein solch starker Kausalbegriff nicht in eine physikalische Welt integrieren lässt. Wenn wir also versuchen, Kausalbeziehungen in der physikalischen Welt zu entdecken, dann sollten wir Hervorbringen ersetzen durch eine schwächere Beziehung, die zum Ausdruck bringt, dass die Ursache eine ›modale Kraft‹ ausübt, so dass die Wirkung auftreten ›muss‹, dass sie die Wirkung determiniert o.ä. (Weiter unten werden Kandidaten diskutiert, die die Rolle einer ›modalen Kraft‹ – was immer das sein mag – spielen könnten.) Das Problem, wie diese ›modale Kraft‹ zu explizieren sei, sowie die Frage des Ursprungs der kausalen Asymmetrie sind von Christopher Hitchcock als die ›wirklich schwierigen Probleme‹ (hard problems) bezeichnet worden, mit denen sich eine Theorie der Kausalität zu beschäftigen hat. Ich werde mich in diesem Aufsatz mit dem ersten Problem beschäftigen. 4.  Optionen Das Problem, die Beobachtungen Machs und Russells damit in Einklang zu bringen, dass Kausalbeziehungen im Alltag, in den speziellen Wissenschaften und zur Identifikation erfolgreicher Strategien benötigt werden, hat Hartry Field als das zentrale Problem in der Metaphysik der Kausalität bezeichnet13. Welche grundsätzlichen Optionen stehen uns offen? 1. Kausaler Eliminativismus: Es gibt keine Ursachen und Wirkungen. Wir täuschen uns, wenn wir annehmen in der Natur gebe es Kausalrelationen. Diese Position ist darauf verpflichtet, zu erklären, weshalb wir in verschiedenen Bereichen die kausale Terminologie erfolgreich anwenden. 2. Unvollständigkeit: Die Physik liefert keine Beschreibung aller Tatsachen. Kausale Tatsachen werden von der Physik nicht berücksichtigt. 3. Integration: Kausalrelationen, die die genannten Eigenheiten (oder manche) besitzen, haben sehr wohl ihren Platz in einer physikalischen Welt. In Bezug auf das Merkmal der ›modalen Kraft‹ werde ich im Folgenden die dritte Option verteidigen. 5.  Naturgesetze und Dispositionen Wie eingangs erwähnt ist die Zuschreibung von Dispositionen zu physikalischen Systemen ein wichtiger Schritt zur Integration von Kausalbeziehungen in die physikalische Welt. Ich werde mich daher zunächst der Frage widmen, warum wir physikalischen

13 

H. Field, »Causation in a Physical World«, 443.

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Systemen Dispositionen zuschreiben sollen, um dann im Anschluss eine dispositionale Konzeption der Kausalität zu skizzieren.

5.1  Teil-Ganzes-Erklärungen Das Argument, das ich vortragen werde, lautet, dass sich Teil-Ganzes-Erklärungen nur verstehen lassen, wenn man unterstellt, dass physikalische Systeme Dispositionen besitzen. 5.1.1  Ein Beispiel Die Erklärung des Energiespektrums von Kohlenstoffmonoxid ist ein Beispiel für eine Teil-Ganzes-Erklärung. Kohlenstoffmonoxidmoleküle bestehen aus zwei Atomen mit den Massen m1 und m 2 , die sich in einem Abstand x voneinander befinden. Abgesehen von Schwingungen entlang der x-Achse können sie Rotationen im dreidimensionalen Raum durchführen. Das System lässt sich daher als rotierender Oszillator beschreiben. Das Verhalten des zusammengesetzten Systems wird durch das Verhalten der Teile (Oszillator und Rotator) erklärt. (Es handelt sich hier nicht um räumliche Teile, sondern um verschiedene Freiheitsgrade.) Der Physiker Arno Bohm, der dieses Beispiel in seinem Lehrbuch der Quantenmechanik behandelt, beschreibt das Vorgehen im Falle einer solchen Erklärung wie folgt: We shall therefore first study the rigid-rotator model by itself. This will provide us with a description of the CO states that are characterised by the quantum number n=0, and will also approximately describe each set of states with a given vibrational quantum number n. Then we shall see how these two models [Der harmonische Oszillator wurde schon in einem früheren Kapitel diskutiert. A. H.] are combined to form the vibrating rotator or the rotating vibrator.14 In einem ersten Schritt wird das Gesamtsystem (das CO-Molekül) in Teilsysteme aufgeteilt (Rotator und Oszillator). Diese werden nun im zweiten Schritt betrachtet, als seien sie jeweils isoliert. In Bezug auf den isolierten Rotator gilt das folgende Gesetz: 1. Rotatoren werden durch die Schrödingergleichung mit dem folgenden Hamiltonoperator beschrieben: H rot  L2/2I, mit L als Drehmomentoperator und I als Trägheitstensor. In Bezug auf den Oszillator gilt das Gesetz: 2. Oszillatoren werden durch die Schrödingergleichung mit dem folgenden Hamiltonoperator beschrieben: Hosc  P2/2µ  µω2Q2/2, mit P als Impulsoperator,

14 

A. Bohm, Quantum Mechanics, 128.

Eine dispositionale Theorie der Kausalität

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Q als Ortsoperator, ω als Frequenz des oszillierenden Gegenstandes und µ als reduzierter Masse. Diese Gesetze, die sich auf die als isoliert gedachten Subsysteme beziehen – also auf kontrafaktische Situationen, bringen wir nun –in einem dritten Schritt – zur Anwendung auf das zusammengesetzte System und konstruieren einen Hamiltonoperator für das CO-Molekül als Ganzes und somit das folgende Gesetz: 3. Oszillierenden Rotatoren werden durch die Schrödingergleichung mit dem folgenden Hamiltonoperator beschrieben: H  H rot  I  I  Hosc, mit I als Identitätsoperator. Dabei stützen wir uns auf ein Gesetz, das beschreibt, wie man Teilsysteme zusammenfügt: Let one physical system be described by an algebra of operators, A1, in the space  R1, and the other physical system by an algebra A 2 in R 2 . The direct-product space R1  R 2 is then the space of physical states of the physical combinations of these two systems, and its observables are operators in the direct-product space. The particular observables of the first system alone are given by A1  I, and the observables of the second system alone are given by I  A 2 (I  identity operator).15 Dieses Zusammensetzungsgesetz erlaubt uns das Verhalten des zusammengesetzten Systems durch (3) zu beschreiben und mithin durch (1) und (2) zu erklären. Ein weiteres Beispiel für eine solche Teil-Ganzes-Erklärung betrifft das Verhalten des Sonnensystems. In die Beschreibung des dynamischen Verhaltens des Sonnensystems gehen die Terme für die kinetische Energie der Planeten und der Sonne ein (diese Terme beschreiben, wie sich die jeweiligen Teilsysteme in Isolation verhielten). Aufgrund eines Zusammensetzungsgesetzes können wir diese Terme in eine einzige Hamiltonfunktion zusammenführen. (Der einzige Unterschied zu dem zuvor beschriebenen Fall besteht darin, dass hier auch Wechselwirkungsterme berücksichtigt werden.)

5.1.2  Allgemeines Schema von Teil-Ganzes-Erklärungen Eine Teil-Ganzes-Erklärung eines zusammengesetzten Systems liegt dann vor, wenn es sich – zumindest im Prinzip – auf der Basis (1) des Verhaltens der isolierten Teilsysteme (2) allgemeiner Gesetze der Zusammensetzung von Systemen und (3) allgemeiner Wechselwirkungsgesetze erklären bzw. ableiten lässt.16

A. Bohm, Quantum Mechanics, 147. Vgl. dazu ausführlicher A. Hüttemann, »Explanation, Emergence and Quantum-entanglement«. 15  16 

458

Kolloquium 7  ·  Andreas Hüttemann

5.2  Dispositionen Ich möchte nun zeigen, dass wir Dispositionen benötigen, um uns Teil-Ganzes-Erklärungen verständlich zu machen. Kategorische und dispositionale Eigenschaften unterscheide ich folgendermaßen: Eine dispositionale Eigenschaft ist eine Eigenschaft, die, wenn sie von einen Gegenstand instantiiert wird, nur unter ganz bestimmten Bedingungen manifest ist. Eine kategorische Eigenschaft dagegen ist, wenn sie von einem Gegenstand instantiiert wird, unter allen Umständen manifest. Auch wenn dies nicht die orthodoxe Art und Weise ist, diese Unterscheidung einzuführen, sieht man leicht, dass die üblicherweise diskutierten klaren Fälle auf die richtigen Seiten dieser Unterscheidung fallen. Zerbrechlichkeit oder Löslichkeit, sind, wenn sie ein Gegenstand besitzt oder instantiiert, nur unter bestimmten Bedingungen manifest. Die Masse oder Struktur eines Gegenstandes sind (möglicherweise) Kandidaten für kategorische Eigenschaften. (Letztlich bin ich nicht auf die These festgelegt, dass es überhaupt kategorische Eigenschaften gibt.) Warum müssen wir physikalischen Systemen Dispositionen unterstellen? Wesentlich für Teil-Ganzes-Erklärungen ist die Bezugnahme auf das Verhalten der Teilsysteme. Das Verhalten dieser Teilsysteme ist aber gar nicht manifest, solange die Teilsysteme das zusammengesetzte System konstituieren. Das Beispiel des Kohlenstoffmonoxids illustriert diese These. Die Teilsysteme Rotator und Oszillator tragen zum Gesamtverhalten z. B. zur Gesamtenergie bei. Aber das Verhalten der Teilsysteme, auf die Bezug genommen wird ist nicht manifest. Wäre das Verhalten des Oszillators oder des Rotators manifest, dann müsste es sich messen lassen. Gemessen werden kann aber lediglich das Energiespektrum des Gesamtsystems, es sei denn man zerstört dasselbe. Die Teil-Ganzes-Erklärung nimmt also Bezug darauf, wie sich das Teilsystem Oszillator verhalten würde, wenn der Rotator nicht vorhanden wäre. Rotator und Oszillator tragen einerseits gemeinsam zum Gesamtverhalten bei, andererseits hindern sie sich wechselseitig, ihr je eigenes Verhalten zu manifestieren. Sie sind gewissermaßen Störfaktoren (antidotes), die die (vollständige) Manifestation verhindern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Verhalten, das die Gesetze (1) und (2) den Teilsystemen zuschreiben, nicht manifest ist. Das lässt sich am besten so verstehen, dass die Gesetze den Systemen zuschreiben, ein Verhalten unter ganz bestimmten Bedingungen zu manifestieren, nämlich wenn sie isoliert sind – d. h. aber den Systemen Dispositionen zuzuschreiben. Naturgesetze schreiben typischerweise Systemen ein Verhalten zu, das diese nur dann manifestieren, wenn ganz bestimmte Bedingungen erfüllt sind, insbesondere, wenn keine Störfaktoren vorhanden sind. Naturgesetze schreiben physikalischen Systemen typischerweise Dispositionen zu. Newtons erstes Gesetz ist ein gutes Beispiel dafür, dass Naturgesetze das Verhalten von physikalischen Systemen unter ganz bestimmten Bedingungen, nämlich der Abwesenheit von Störfaktoren, beschreiben:

Eine dispositionale Theorie der Kausalität

459

Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird. Diese Bezugnahme auf Manifestations- oder Auslösebedingungen wird (in diesen Fall explizit, ansonsten oft implizit) unterstellt. Wenn behauptet wird, Wasserstoffatome verhielten sich gemäß der Schrödingergleichung mit dem Coulombpotential, dann gilt das nur für den Fall, dass keine Störfaktoren vorhanden sind. Das Galileische Fallgesetz, wonach die beim Fall zurückgelegte Strecke sich proportional zum Quadrat der Fallzeit verhält, unterstellt ebenfalls die Abwesenheit von Störfaktoren. Naturgesetze beschreiben, was passiert, wenn keine Störfaktoren auftreten. Sie beschreiben das Standard- oder Normalverhalten. (Mit dem Ausdruck »Normalverhalten« soll nicht unterstellt werden, dass dieses Verhalten normalerweise auftritt. In Ermangelung eines besseren Ausdrucks meine ich damit das störungsfreie Verhalten des Systems. Im Englischen bietet sich der Ausdruck »default-behaviour« an.) Im weiteren Verlauf werde ich an diese Charakterisierung von Gesetzen anknüpfen: Gesetze beschreiben Normalverläufe (default behaviour), die genau dann eintreten, es keine Störfaktoren gibt. Die Abwesenheit der Störfaktoren ist in unseren Fällen also die Auslösebedingung für die Manifestation der zugrunde liegenden Dispositionen.

6.  Ursachen sind keine Dispositionen Das Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, verständlich zu machen, wie Kausalbeziehungen in eine physikalische Welt integriert werden können. Die Antwort auf diese Frage kann nicht lauten, dass Ursachen mit Dispositionen im eben eingeführten Sinne zu identifizieren sind. Der Grund ist der folgende. Die Kausalrelation wird typischerweise als eine solche gedacht, bei der die Ursache der Wirkung zeitlich vorhergeht17. Ob es simultane Verursachung oder Rückwärtsverursachung gibt, ist umstritten. Unbestritten ist aber, dass es Fälle gibt, in denen die Ursache der Wirkung vorangeht, und dass dies der Standardfall ist. Ursachen, die ihren Wirkungen zeitlich vorangehen, können nicht mit Dispositionen, die für ihre (partielle) Manifestation verantwortlich sind, identifiziert werden.18 Der Grund dafür ist, dass es keinen Anhaltpunkt dafür gibt, dass Manifestation als ein zeitlicher Prozess aufzufassen ist. Ganz im Gegenteil enthalten die Zusammensetzungsgesetze, die die (partielle) Manifestation von Dispositionen beschreiben, keinen Zeitparameter. Das Teil-Ganzes-Verhältnis und damit die Manifestation einer Disposition sollte also als atemporale Determinationsrelation verstanden werden.19 Mithin

Vgl. Abschnitt 3. George Molnar hat eine solche Position vertreten (G. Molnar, Powers). 19  Eine temporale Determinationsrelation ist eine solche, bei der eine Eigenschaft oder ein Zustand zum Zeitpunkt t eine andere Eigenschaft oder einen anderen Zustand zu einem Zeit17 

18 

460

Kolloquium 7  ·  Andreas Hüttemann

könnten höchstens simultane Ursachen auf die vorgeschlagene Weise auf Dispositionen im hier eingeführten Sinne zurückgeführt werden. Es ist aber unplausibel, dass für Vorwärtsverursachung und für Simultanverursachung (falls es so etwas gibt) verschiedene Theorien der Kausalität gelten.

7.  Eine dispositionale Theorie der Kausalität 7.1  Einleitung Ausgangspunkt meiner Untersuchung war die These von Mach und Russell, dass die Begriffe der Ursache und der Wirkung in einer physikalischen Welt nicht verortet werden können. Im Anschluss an Norton20 möchte ich der Idee nachgehen, dass unsere Rede von Ursachen und Wirkungen in bestimmten Grenzfällen sinnvoll ist, die in vielen Situationen näherungsweise realisiert sind. Insbesondere möchte ich – über Norton hinausgehend  – ausbuchstabieren, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein solcher Grenzfall vorliegt. Falls dies gelingt, hätten wir gezeigt, wie Kausalität in eine physikalische Welt integriert werden kann. In Abschnitt 5 hatte ich für die These argumentiert, dass Naturgesetzaussagen als Zuschreibungen von Dispositionen verstanden werden sollten. Diese Dispositionen selbst sind allerdings nicht als Ursachen aufzufassen21. Wir müssen also nach einer Alternative suchen, um das Problem der ›modalen Kraft‹ zu lösen. Traditionell werden zwei Lösungen diskutiert, die dieses Problem zu lösen versprechen. Zunächst ist die Regularitätstheorie von Hume über Mill bis hin zu Mackie zu nennen. Nach dieser Konzeption ist eine Ursache eine hinreichende oder eine INUSBedingung für das Auftreten der Wirkung22. Dass es zu einer solchen Festlegung des Eintretens der Wirkung überhaupt kommt, verdankt sich Naturgesetzen, deren Antezedensbedingungen hinreichend für das Konsequens sind. Nach der Regularitätstheorie verdankt sich die Determination oder die modale Kraft der Ursachen den Naturgesetzen, die als strikte Regularitäten aufgefasst werden. Das Problem dieser Konzeption der modalen Kraft von Ursachen besteht darin – wie wir bei Mach und Russell hinlänglich gesehen haben –, dass es solche strikten Gesetze, die hinreichende Bedingungen für das Auftreten von Wirkungen beschreiben, offensichtlich nicht gibt. Wenn wir andererseits Kausalität über kontrafaktische Abhängigkeit definieren, dann wird die modale Kraft der Ursache durch Rekurs auf die kontrafaktische Abhängigkeit der Wirkung von der Ursache erläutert. Der Nachteil dieser Konzeption besteht darin, dass nicht zu sehen ist, dass Kausalität mit kontrafaktischer Abhängigkeit tatsächlich so

punkt t*, mit t*>t (oder t*� zu verwenden, oder stattdessen die Äquivalenz (2) zu ersetzen durch:

C ` A ∨ B genau dann, wenn A �< C ` B

(3)

und A �< C klassisch als ∼ A ∧ C zu lesen. Wenn die »Co«-Terminologie Dualität anzeigen soll, ist das letztere Vorgehen zu präferieren. Letzten Endes handelt es sich hier aber um ein notationelles und terminologisches Problem. M. Wolski, »Inforamtion Quanta«, S. 244, unterscheidet ∨ notationell zwischen der Co-Implikation → (siehe auch F. Wolter, »On Logics«), definiert durch die entsprechende Version der Äquivalenz (3), und Rauszers Pseudo-Differenz � − , definiert durch ∨ C`B die entsprechende Version von Äquivalenz (2). Aber natürlich gilt C ` A ∨ B gdw A → gdw C � A B (da ∨ kommutativ ist). ` − 10  Siehe H. Wansing, »Constructive negation«. 11  Ebd. Für eine Beweisinterpretation von Logiken mit starker Negation ist der Begriff des kanonischen Beweises zu ergänzen um den Begriff der kanonischen (direkten) Widerlegung, siehe E. G. K. López- Escobar, »Refutability«, und H. Wansing, Information Structures. 12  In der Literatur wird sowohl bestimmten Logiken als auch logischen Operatoren die Eigenschaft, konstruktiv zu sein, zu- bzw. abgesprochen. Mir ist allerdings keine explizite Stel-

1096

Kolloquium 20  ·  Heinrich Wansing

Die Disjunktionseigenschaft der intuitionistischen Logik geht in HB angesichts der Co-Negation, symbolisiert durch › − ‹, verloren. D. h., wenn eine Disjunktion (A ∨ B) beweisbar ist, ist nicht gesagt, dass A beweisbar ist oder B beweisbar ist. Für jede Formel A ist die Disjunktion − A ∨ A beweisbar, aber nicht jede Formel A oder ihre CoNegation − A ist beweisbar. Das Fehlen dieser Konstruktivitätseigenschaft von HB aufgrund der Definierbarkeit der Co-Negation kann kritisiert werden, wird aber dadurch kompensiert, dass HB bezüglich der Co-Negation eine andere Konstruktivitätseigenschaft besitzt, welche der intuitionistischen Logik hinsichtlich der intuitionistischen Negation fehlt (und die somit auch HB im Hinblick auf die in HB definierbare intuitionistische Negation fehlt), nämlich die Eigenschaft der »konstruktiblen Falschheit«: Wenn − (A ∧ B) beweisbar ist, dann ist − A beweisbar oder − B ist beweisbar. Diese vermeintlichen Defizite hinsichtlich der Konstruktivität von HB aufgrund der Definierbarkeit zweier Negationen, deren Konstruktivität zweifelhaft ist, sollten jedoch nicht überbewertet werden, denn wir können eine primitive, starke Negation ∼ zu HB hinzufügen, so dass (i) die Eigenschaft der konstruktiblen Falschheit hinsichtlich ∼ erfüllt ist, und (ii) A ∨ ∼ A kein Theorem ist.

2.1  Stark negierte Negationen, Konjunktionen und Disjunktionen Das Konzept der starke Negation ist von David Nelson in kritischer Auseinandersetzung mit dem intuitionistischen Negationsbegriff entwickelt worden. Die intuitionistische Negation ist nicht dazu geeignet, die definitive Falschheit eines Satzes auszudrücken. Eine intuitionistisch negierte Formel ∼ A ist genau dann wahr in einem Informationszustand s (einer möglichen Welt s) eines intuitionistischen Kripkemodells, wenn A in keiner möglichen Erweiterung von s (keiner von s aus zugänglichen Welt) wahr ist. Eine intuitionistisch negierte Formel ∼ A wird also nicht dadurch verifiziert, dass A an Ort und Stelle falsifiziert wird, sondern dadurch, dass A niemals (in keiner erreichbaren Welt) verifiziert wird. In der relationalen mögliche Welten Semantik für Nelsons Logiken werden dahingegen die Unterstützung der Wahrheit und die Unterstützung der Falschheit einer Formel durch einen Informationszustand als zwei gleichwertige semantische Begriffe verwendet. Ein Informationszustand s kann (i) die Wahrheit einer atomaren Formel p untertützen (intuitiv gesehen, Evidenz für p bereit stellen), (ii) die Falschheit von p unterstützen (Evidenz bereit stellen, die gegen p spricht), (iii) weder die Wahrheit, noch die Falschheit von p unterstützen, oder (iv) sowohl die Wahrheit, als auch die Falschheit von p unterstützen. Ein Zustand s unterstützt die Wahrheit einer Formel A genau dann, wenn s die Falschheit der stark negierten Formel ∼ A unterstützt. Umgekehrt unterstützt s die Falschheit einer Formel A genau dann, wenn s die Wahrheit von ∼ A unterstützt. Damit sind die Verifikations- und Falsifikationsbedingungen (verstanden als Bedingungen der Unterstützung der Wahrheit bzw. der Falschheit) stark lungnahme bekannt, derzufolge eine Logik genau dann konstruktiv ist, wenn ihre primitiven oder alle ihre definierbaren logischen Operatoren konstruktiv sind.

Negation in der konstruktiven Logik

1097

negierter Formen unmittelbar motiviert, und die Gesetze der doppelten Negation für die starke Negation unausweichlich. Es stellt sich die Frage wie die Verifikations- und die Falsifikationsbedingungen anderer komplexer Formeln zu spezifizieren sind, wobei die separate Behandlung der Verifikations- und der Falsifikationsbedingungen komplexer Formeln durchaus als eine konstruktive Behandlung der starken Negation verstanden werden kann. Unter der Annahme, dass die Verifikationsbedingungen nichtnegierte Formeln (in dem positiven primitiven Vokabular von HB) nicht nur bekannt, sondern auch korrekt sind, stellt sich somit folgende Frage: Was sind die korrekten Verifikationsbedingungen negierter komplexer Formeln? Mit anderen Worten: Was sind die korrekten Falsifikationsbedingungen komplexer Formeln? Dass die Prinzipien der doppelten starken Negation gelten und ∼ ∼ A ↔ A

(4)

gültig ist, sollte nicht irritieren. In der intuitionistischen Logik gilt weder das Prinzip der Beseitigung der doppelten Negation ∼ ∼ A → A noch das folgende DeMorgan- Gesetz: ∼ (A ∧ B) → (∼ A ∨ ∼ B). Da der konstruktive Charakter der intuitionistischen Negation zweifelhaft ist, spricht jedoch nichts gegen eine Interpretation stark negierter starker Negationen und stark negierter Konjunktionen, die ∼ ∼ A → A und ∼ (A ∧ B) → (∼ A ∨ ∼ B) validiert. Die gleichberechtigte Betrachtung von Verifikations und Falsifikationsbedingungen spricht nicht nur für die Gültigkeit der Äquivalenz (4), sondern auch für die Gültigkeit der DeMorganschen Gesetze für die starke, konstruktive Negation: ∼ (A ∧ B) ↔ (∼ A ∨ ∼ B)

(5)

∼ (A ∨ B) ↔ (∼ A ∧ ∼ B)

(6)

Das in den Äquivalenzen (4) – (6) zum Ausdruck kommende Verständnis der Konjunktion, der Disjunktion, der Äquivalenz und der Verneinung scheint tief in unseren Intuitionen verwurzelt zu sein. Weniger eindeutig sind unsere Intuitionen allerdings hinsichtlich der Verneinung der konstruktiven Implikation und Co-Implikation.

2.2  Konstruktiv negierte Implikationen Während eine negierte Implikation ∼ (A → B) nach klassischem Verständnis genau dann wahr ist (in einem Modell), wenn A wahr und B nicht wahr ist (in dem Modell), wird ∼ (A → B) gemäß dem intuitionistischen Verständnis negierter Implikationen in einem Zustand s genau dann verifiziert, wenn für jede mögliche Erweiterung t von s (jede von s aus zugängliche Welt) eine mögliche Erweiterung (eine zuängliche Welt) t´ existiert, so dass A in t´ verifiziert aber B in t´ nicht verifiziert wird. In Nelsons Logiken mit starker Negation nehmen die Falsifikationsbedingungen einer Formel in einem Zustand s niemals Bezug auf von s verschiedene Zustände; die Falsifikation ist immer

1098

Kolloquium 20  ·  Heinrich Wansing

eine Angelegenheit des betrachteten Zustands. Insbesondere unterstützt ein Zustand s die Falschheit von (A → B) (d. h., die Wahrheit von ∼ (A → B)) genau dann, wenn s die Wahrheit von A und die Falschheit von B unterstützt. Damit ist ∼ (A → B) äquivalent mit (A ∧ ∼ B), wobei ∼ B ausdrückt, dass B falsch ist, und nicht, dass B nicht wahr ist. Da die Unterstützung der Wahrheit und die Unterstützung der Falschheit einer Formel in einem Zustand beim Übergang zu einer möglichen Erweiterung dieses Zustandes erhalten bleibt, unterstützt ein Zustand s die Wahrheit von ∼ (A → B) genau dann, wenn jede mögliche Erweiterung t von s die Wahrheit von A und die Falschheit von B unterstützt. Wenn die relationale Verifikations- und Falsifikationssemantik nicht nur die Äquivalenzen (4) – (6) gültig macht, sondern auch die Äquivalenz ∼ (A → B) ↔ (A ∧ ∼ B),

(7)

dann erhalten wir eine Semantik für Nelsons vierwertige, parakonsistente, konstruktive Aussagenlogik N4 in der Sprache {∼, ∧, ∨, →}.13 Eine starke, konstruktive Negation kann aber auch auf eine andere Weise in die konstruktive Logik eingeführt werden, als dies in N4 der Fall ist. In der Tat ist bereits in der Antike ein anderes Verständnis der Beziehung zwischen der Negation und der Implikation diskutiert worden, ein Verständnis, das deutlich vom klassischen Verständnis abweicht, aber vielleicht dennoch einen gewissen Widerhall in unseren intuitiven Ansichten über das Verhältnis zwischen der Negation und der Implikation findet. Eine einfache Modifikation der Falsifikationsbedingungen für Implikationen, welche diese Bedingungen ebenso wie die Verifikationsbedingungen intuitionistischer Implikationen ›dynamisch‹ macht, führt zu einem System der konnexiven Logik.14 Ein Zustand s unterstützt nun die Falschheit von (A → B) genau dann, wenn jede mögliche Erweiterung von s die Falschheit von B unterstützt, falls sie die Wahrheit von A unterstützt. Die konnexive Aussagenlogik verwendet das Standardvokabular {∧, ∨, →, ∼} und enthält Theoreme, die keine klassischen Tautologien sind. Da die klassische Logik Post-vollständig ist, und die Hinzunahme von Axiomen, die keine klassischen Tautologien sind, zum trivialen System führt, muss jedes nicht-triviale System der konnexiven Logik auf einige klassische Tautologie verzichten. Zu den charakteristischen Theoremen konnexiver Logiken gehören die Aristotelischen Thesen: ∼ (∼ A → A), ∼ (A → ∼ A),

(8)

und die Boethiusschen Thesen (A → B) → ∼ (A → ∼ B), (A → ∼ B) → ∼ (A → B)

(9)

die allesamt keine klassischen Tautologien sind. Ein Junktor →, für den diese Formeln gültig sind, wird gelegentlich auch als eine konnexive Implikation bezeichnet. 13  In N4 kann eine verum-Konstante ┬ definiert werden durch p → p für irgendeinen Aussagebuchstaben p, aber kein falsum ⊥. S. Odintsov, Constructive Negations, untersucht Erweiterungen des Systems N4⊥ in der Sprache {∼, ∧, ∨, →, ⊥}. Ein Axiomensystem für N4⊥ entsteht

durch Hinzunahme der Formeln ⊥ → A und A → ∼ ⊥ zu den Axiomen von N4. 14  Siehe H. Wansing, »Connexive Logic«, für einen Überblick und Literaturverweise

Negation in der konstruktiven Logik

1099

2.3  Drei Motivationen für die konnexive Logik Es existieren überabzählbar unendlich viele nicht-klassische Aussagenlogiken, die einerseits Erweiterungen der intuitionistischen Aussagenlogik IPL und andererseits Teilsysteme der klassischen Aussagenlogik CPL sind. Nicht-triviale Aussagenlogiken, die, wie Systeme der konnexiven Logik, insofern orthogonal zur klassischen Aussagenlogik sind, als dass sie Theoreme enthalten, bei denen es sich nicht um klassische Tautologien handelt, sind vielleicht unorthodoxer als die intermediären Logiken zwischen IPL und CPL. Jedenfalls stellt die konnexive Logik ein wenig etabliertes Teilgebiet der nichtklassischen Logik dar, und aus diesem Grunde scheint es gerechtfertigt, kurz einige Motivationen für Systeme der konnexiven Logik zu betrachten. Zunächst einmal können Intuitionen über den Bedeutungszusammenhang (Bedeutungskonnex) zwischen dem Antezedens und dem Sukzedens einer gültigen Implikation angeführt werden, aber derartige Intuitionen bilden nicht die einzige Grundlage für die Betrachtung einer konnexiven Logik. Mir sind inzwischen drei unterschiedliche, nicht allein an die Intuition appellierende Motivationen für Systeme der konnexiven Logik bekannt. Die erste Überlegung stammt aus der Aristotelischen Syllogistik. Es ist bekannt, dass die Syllogistik Schlussfolgerungen umfasst, die unter der Standardübersetzung in die klassische Prädikatenlogik nicht gültig sind. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Schlussfolgerung von ›Jedes P ist Q‹ auf ›Einige P sind Q‹: ∀x (P(x) → Q(x)) ` ∃x (P(x) ∧ Q(x))

(10)

∀x ((P(x) ∧ ∼ P(x)) → Q(x)) ` ∃x ((P(x) ∧ ∼ P(x)) ∧ Q(x))

(11)

∀x (P(x) → Q(x)) ` ∃x ∼ (P(x) → ∼ Q(x)).

(12)

∼ (A → B) ↔ (A → ∼ B)

(13)

Die Schlussfolgerung (10) ist gültig, wenn die Interpretation von P nicht-leer ist, aber im Allgemeinen ist sie nicht gültig. Die Ableitung (10) kann auch nicht konsistent zu einem Beweissystem für die klassische Prädikatenlogik hinzugefügt werden, denn in der folgenden Einsetzung in (10):

sind die Prämissen klassisch gültig, die Konklusion aber ist klassisch unerfüllbar. Nun ist in der klassischen Logik die Konklusion der Schlussfolgerung (10) logisch äquivalent mit ∃x ∼ (P(x) → ∼ Q(x)), so dass (10) ersetzt werden kann durch:

Storrs McCall15 hat darauf hingewiesen, dass (12) in einem System der konnexiven Logik eine gültige Schlussfolgerung ist. Dass (12) konnexiv gültig ist, ist besonders augenfällig in der quantifizierten konnexiven Logik QC16, denn in dieser Logik ist

15  16 

Siehe S. McCall, »Connexive implication«. Siehe H. Wansing, »Connexive Modal Logic«.

1100

Kolloquium 20  ·  Heinrich Wansing

ein Axiom. Daher könnte vorgeschlagen werden, Aussagen der Gestalt ›Einige P sind Q‹ nicht durch ∃x (P(x) ∧ Q(x)) zu übersetzen, sondern durch ∃x ∼ (P(x) → ∼ Q(x)). Letztere Formel ist in der Logik QC äquivalent mit ∃x (P(x) → Q(x)). Eine zweite Motivation kommt aus der Kategorialgrammatik.17 Im Lambek Kalkül werden zwei direktionale Implikationen verwendet, \ und / , welche die Residua einer nicht-kommutativen (multiplikativen alias intensionalen) Konjunktion · sind. In einer Version des Lambek Kalküls ist · assoziativ; in einer anderen Version des Lambek Kalküls wird nicht angenommen, dass · assoziativ ist. Die Formeln des Lambek Kalküls stehen nicht für Aussagen, sondern für syntaktische Typen (wie z. B. Wortarten in der Schulgrammatik). Eine Ableitbarkeitsbehauptung x ` y ist zu lesen als ›jeder Ausdruck vom Typ x ist auch vom Typ y‹. Ein Ausdruck e ist vom Typ x \ y genau dann, wenn für jeden Ausdruck e´ vom Typ x, die Zeichenfolge e´e vom Typ y ist, und e ist vom Typ y / x genau dann, wenn für jeden Ausdruck e´ vom Typ x, die Zeichenfolge ee´ vom Typ y ist. Ein transitives Verb (eine transitive Verbform) wie liebt zum Beispiel kann dem syntaktischen Typ ((n \ s) / n) zugeordnet werden, weil es (sie) in Verbindung mit einem beliebigen Eigennamen vom syntaktischen Typ n, der von rechts ergänzt wird, einen Ausdruck vom Typ (n \ s) liefert, der nach Ergänzung durch einen Eigennamen von links verlangt, um einen Satz zu ergeben, einen Ausdruck vom Typ s. Das negationsfreie Vokabular des Lambek Kalküls kann durch eine Negation ∼ ergänzt werden, wobei ∼ x für die Klasse derjenigen Ausdrücke steht, die definitiv nicht vom Typ x sind. Ein Ausdruck e ist vom Typ ∼ (x \ y) genau dann, wenn für jeden Ausdruck e´ vom Typ x, die Zeichenfolge e´e vom Typ ∼ y ist. Ein Ausdruck e ist vom Typ ∼ (y / x) genau dann, wenn für jeden Ausdruck e´ vom Typ x, die Zeichenfolge ee´ vom Typ ∼ y ist. Mit diesen Festlegungen sind die Ableitbarkeitsbehauptungen ∼ (x \ y) ` x \ ∼ y, ∼ (y / x) ` (∼ y / x) und ihre Umkehrungen gültig. Der Ausdruck liebt Maria, zum Beispiel, ist vom syntaktischen Typ ∼ (n \ (n \ s)), da der Ausdruck in Verbindung mit einem beliebigen Namen von links einen Ausdruck ergibt, der eindeutig nicht vom Typ eines intransitiven Verbs ist, denn Sätze sind keine intransitiven Verben. Unter der vorgeschlagenen Lesart von ∼ gilt auch die Äquivalenz (4). Wir erhalten direktionale Versionen der Boethiusschen Thesen (als Ableitbarkeitsbehauptungen), wie etwa:18 (x \ y) ` ∼ (x \ ∼ y).

(14)

Die dritte Motivation der konnexiven Logik ist von John Cantwell vorgelegt worden,19 ohne allerdings zu bemerken, dass die von ihm entwickelte Aussagenlogik ein System der konnexiven Logik ist. Cantwell betrachtet Bestreitungen natürlichsprachlicher indikativischer Konditionale. Er argumentiert, dass wenn z. B. der Satz ›If Oswald didn’t kill Kennedy, Jack Ruby did.‹ bestritten wird, dies darauf hinausläuft, zu behaupten, dass wenn Oswald Kennedy nicht erschossen hat, auch Jack Ruby Siehe H. Wansing, »A Note«. In der Kategorialgrammatik wird nie aus der leeren Prämissenmenge abgeleitet, da die leere Zeichenfolge zu keinem syntaktischen Typ gehört. 19  Siehe J. Cantwell, »Conditional Negation«. 17 

18 

Negation in der konstruktiven Logik

1101

dies nicht getan hat. Damit wird nahe gelegt, dass die Verneinung einer Implikation (A → B) äquivalent ist mit (A → ∼ B), und wir erhalten eine der Boethiusschen Thesen und ihre Gegenrichtung. Wenn wir nun zusätzlich zur Implikation die Co-Implikation betrachten, erkennen wir, dass nicht nur die Äquivalenzen (7) und (13) jeweils ein ernst zu nehmendes Verständnis negierter Implikationen zum Ausdruck bringen. Das klassische Verständnis einer Co-Implikation (A �< B) als (A ∧ ∼ B) legt nahe, für die starke Verneinung konstruktiver Implikationen auch die folgende Äquivalenz in Betracht zu ziehen: ∼ (A → B) ↔ (A �< B),

(15)

und die klassische DeMorgan Dualität legt eine weiter Äquivalenz nahe:20 ∼ (A → B) ↔ (∼ B �< ∼ A)

(16)

2.4  Konstruktiv negierte Co-Implikationen Die Betrachtung negierter Implikationen ist nun auf negierte Co-Implikationen zu übertragen. Für die Spezifikation der Verifikationsbedingungen negierter Co-Implikationen erhalten wir vier sinnvolle Optionen: die klassische (oder besser Nelsonsche) Lesart, die konnexive Lesart, das Verständnis negierter Co-Implikationen als Implikationen, und die Lesart negierter Co-Implikationen als kontraponierte Implikationen. Insgesamt liefert uns die Kombination der verschiedenen Lesarten stark negierter Implikationen und Co-Implikationen sechzehn (konservative) Erweiterungen der Logik HB + um eine konstruktive, starke Negation. In Ermangelung einer eleganten Terminologie und Notation sind die betrachteten charakteristischen Äquivalenzen in Tabelle 1 als die Äquivalenzen I1 – I4 und C1 – C 4 aufgelistet. Die konstruktiven Aussagenlogiken in der Sprache {∧, ∨, →, ��< , ∼}, die sich nur insofern von einander unterscheiden, als dass sie ein bestimmtes Paar von Äquivalenzen (bestehend aus einer Komponente der Liste I1 – I4 Tabelle 1: Konstruktiv negierte Implikationen und Co-Implikationen

I1 ∼(A → B) I 2 ∼(A → B) I3 ∼(A → B) I4 ∼(A → B) C1 ∼(A �< B) C 2 ∼(A �< B) C 3 ∼(A �< B) C 4 ∼(A �< B)

↔ ↔ ↔ ↔ ↔ ↔ ↔ ↔

(A ∧ ∼ B) negierte Implikation, Nelsonsche Lesart (A → ∼ B) negierte Implikation, konnexive Lesart (A ��< B) negierte Implikation als Co-Implikation (∼ B ��< ∼ A) negierte Implikation als kontraponierte Co-Impl. (∼ A ∨ B) negierte Co-Implikation, Nelsonsche Lesart (∼ A �< B) negierte Co-Implikation, konnexive Lesart (A → B) negierte Co-Implikation als Implikation (∼ B → ∼ A) negierte Co-Implikation als kontraponierte Impl.

Auf diese Äquivalenz hat mich Greg Restall im Anschluß an einen Vortrag aufmerksam gemacht, den ich 2006 in Melbourne gehalten habe. 20 

1102

Kolloquium 20  ·  Heinrich Wansing

und einer Komponente der Liste C1 – C 4) enthalten, werden wir der Einfachheit halber als die Logiken (​Ii​​, ​Cj​​) bezeichnen, mit i, j ∈ {1, 2, 3, 4}.

3.  Syntax und relationale Semantik Wir betrachten weiterhin die wie folgt in Backus–Naur Form definierte aussagenlogische Sprache und nennen sie L: atomare Formeln: p ∈ Atom Formeln: A ∈ Form(Atom)  A ::= p | ∼ A | (A ∧ A) | (A ∨ A) | (A → A) | (A�< A). Die Sprache L ohne die Co-Implikation �< ist die Sprache der intuitionistischen Aussagenlogik, der von David Nelson diskutierten Aussagenlogiken mit starker Negation und der konnexiven Aussagenlogik (falls wir darauf verzichten, unterschiedliche Symbole einander ›entsprechender‹ Junktoren in den jeweiligen Logiken notationell zu unterscheiden). In der Sprache L, zu deren Vokabular sowohl →, als auch �< gehört, kann, wie schon gesagt, die intuitionistische Negation und die so genannte Co-Negation definiert werden. Die intuitionistische Negation werden wir mit dem Symbol › ¬ ‹, und die Co-Negation mit dem Symbol › − ‹ bezeichnen. Diese definierbaren Junktoren sind für uns aber nicht von primärem Interesse, da ihre Konstruktivität zweifelhaft ist. Wir konzentrieren uns auf die primitive starke Negation ∼. Das Bikonditional ↔ ist wie üblich definiert, und die Co-Äquivalenz, >�< , ist definiert wie zu erwarten ist: A > �< B := (A �< B) ∨ (B �< A). Wir werden jetzt die sechzehn konstruktiven Logiken (​I​i​, ​Cj​​), i, j ∈ {1, 2, 3, 4} in der bereits angedeuteten Verifikations- und Falsifikationssemantik definieren. Da lediglich die Verifikationsbedingungen für negierte Implikationen und Co-Implikationen variieren, erhalten wir auch in der Semantik dieser Logiken einen transparenten Vergleich zwischen den diversen Systemen. Definition 1 Ein Rahmen (frame) ist eine Präordnung hI, ≤i. Anschaulich ist I eine nicht-leere Menge von Informationszuständen und ≤ eine reflexive und transitive zweistellige Relation der möglichen Erweiterung von Zuständen über I.

Negation in der konstruktiven Logik

1103

Tabelle 2: Die Bedingungen der Unterstützung der Wahrheit und der Unterstützung der Falschheit für negierte Implikationen und Co-Implikationen

cI1 M, w ˆ− (A → B) cI 2 M, w ˆ− (A → B) cI3 M, w ˆ− (A → B) cI4 M, w ˆ− (A → B) cC1 M , w ˆ− (A �< B) cC 2 M , w ˆ− (A �< B) cC 3 M , w ˆ− (A �< B) cC 4 M , w ˆ− (A �< B)

gdw M, w ˆ+ A und M, w ˆ− B gdw für alle w' ≥ w : M, w' ²+ A oder M, w' ˆ− B gdw es gibt w' ≤ w : M, w' ˆ+ A und M, w' ²+ B gdw es gibt w' ≤ w : M, w' ²− A und M, w' ˆ− B gdw M, w ˆ− A oder M, w ˆ+ B gdw es gibt w' ≤ w : M, w' ˆ− A und M, w' ²+ B gdw für alle w' ≥ w : M, w' ²+ A oder M, w' ˆ+ B gdw für alle w' ≥ w : M, w' ˆ− A oder M, w' ²− B

Anstelle von w ≤ w' schreiben wir auch w' ≥ w. Definition 2 Ein Modell ist eine Struktur hI,≤, v +, v −i , wobei hI, ≤ i ein Rahmen und v+ (v −) eine Funktion ist, die jeden Aussagebuchstaben p ∈ Atom auf eine Teilmenge von I abbildet (nämlich auf diejenigen Zustände, welche die Wahrheit (Falschheit) von p unterstützen). Die Funktionen v + und v − müssen die folgenden Persistenzbedingungen für atomare Formeln erfüllen: wenn w ≤ w', dann impliziert w ∈ v +(p) dass w' ∈ v +(p); wenn w ≤ w', dann impliziert w ∈ v − (p) dass w' ∈ v − (p). Die Relationen M, w ˆ+ A (›Zustand w unterstützt die Wahrheit der L-Formel A in dem Modell M‹) und M, w ˆ− A (›Zustand w unterstützt die Falschheit der L-Formel A in dem Modell M‹) sind induktiv wie folgt definiert: M, w ˆ+ p M, w ˆ− p M, w ˆ+ ∼ A M, w ˆ− ∼ A M, w ˆ+ (A ∧ B) M, w ˆ− (A ∧ B) M, w ˆ+ (A ∨ B) M, w ˆ− (A ∨ B) M, w ˆ+ (A → B) M, w ˆ+ (A �< B)

gdw gdw gdw gdw gdw gdw gdw gdw gdw gdw

w ∈ v +(p) w ∈ v − (p) M, w ˆ− A M, w ˆ+ A M, w ˆ+ A und M, w ˆ+ B M, w ˆ− A oder M, w ˆ− B M, w ˆ+ A oder M, w ˆ+ B M, w ˆ− A und M, w ˆ− B für all w' ≥ w : M , w' ²+ A oder M, w' ˆ+ B es gibt w' ≤ w : M, w' ˆ+ A und M, w' ²+ B

wobei M, w ²+ A die klassische Negation von M, w ˆ+ A ist. In der Tabelle 2 sind die Falsifikationsbedingungen aufgelistet, die den Äquivalenzen I1 – I4 und C1 – C 4 aus Tabelle 1 entsprechen. Für jede Auswahl einer Äquivalenz aus Tabelle 2 ergibt sich, dass die Unterstützung der Wahrheit und die Unterstützung der Falschheit beliebiger Formeln persistent ist. Beobachtung 1 (Persistenz) Für jede L-Formel A, jedes Modell hI, ≤ , v +, v −i, und alle w, w' ∈ I: wenn w ≤ w', dann impliziert w ˆ+ A dass w' ˆ+ A; wenn w ≤ w', dann impliziert w ˆ− A dass w' ˆ− A.

1104

Kolloquium 20  ·  Heinrich Wansing

Wir halten nun fest, dass die intuitionistische Negation ¬ und die Co-Negation − in unserem Vokabular definierbar sind. Beobachtung 2 Sei p irgendeine atomare Formel, sei ┬ := p → p, und sei ⊥ := p �< p. Für jedes M und jeden Zustand w in M gilt M, w ˆ+ ┬ und M, w ²+ ⊥. Daher ist die Co-Negation › − ‹ der Heyting-Brouwer Logik definierbar durch − A := ┬ ��< A und die intuitionistische Negation ¬ durch ¬ A := A → ⊥. Die Verifikationsbedingungen für die Co-Negation lauten damit: M, w ˆ+ − A

gdw es gibt w' ≤ w und M, w' ²+ A.

M, w ˆ+ ¬ A

gdw für alle w' ≥ w, M, w' ²+ A.

Die Verifikationsbedingungen für die intuitionistische Negation sind die wohlbekannten Bedingungen:

Die ›bi-intuitionistische‹ Heyting-Brouwer Logik HB ist weniger bekannt als die intuitionistische Logik. Wenn M = hI, ≤i ein Rahmen ist, v eine Funktion von Atom in Teilmengen von I und M, w ˆ A genauso definiert ist wie M, w ˆ+ A mit der Ausnahme, dass M, w ˆ p gdw w ∈ v(p), dann ist hI, ≤, vi ein Modell in der Semantik für HB. Die Menge der Theoreme von HB ist gerade die Menge aller ∼ -freien L-Formeln A, so dass für jedes Modell M = hI, ≤ ,vi, und jedes w ∈ I gilt: M, w ˆ A. Definition 3 Die Logiken (​I​i​,​Cj​​) sind definiert als die Tripel (L, ˆ+​I​i​,​C​j​ , ˆ−​I​i​,​C​j​), wobei die semantischen Folgerungsbeziehungen ˆ+​I​i​,​C​j​ und ˆ−​I​i​,​C​j​ zwischen Teilmengen von L-Formeln wie folgt definiert sind:

Δ ˆ+​I​i​,​C​j​  Γ genau dann, wenn für jedes Modell M = hI, ≤, v +, v −i, das durch die Bedingungen c​Ii​​ und c​Cj​​ definiert ist, und für jedes w ∈ I gilt: Wenn M, w ˆ+ A für jedes A ∈ Δ, dann M, w ˆ+ B für ein B ∈ Γ, und Δ ˆ−I​​i,​C​ ​ j​Γ genau dann, wenn für jedes Modell M = hI, ≤, v +, v −i, das durch die Bedingungen c​I​i​ und c​C​j​ definiert ist, und für jedes w ∈ I gilt: Wenn M, w ˆ− A für jedes A ∈ Γ, dann M, w ˆ− B für ein B ∈ Δ. Für Einermengen {A} und {B} schreiben wir A ˆ+​I​i​​,C​j​  B (A ˆ−​I​i​,​C​j​ B) anstelle von {A} ˆ+​I​i​,​C​j​  {B} ({A} ˆ−​I​i​,​C​j​{B}).

Eine Logik wird in der Regel syntaktisch (semantisch) definiert als ein Paar bestehend aus eine Sprache und einer syntaktisch (semantisch) definierten Folgerungsbeziehung. Die obige Definition einer Logik als ein Tripel bestehend aus einer Sprache und zwei semantischen Folgerungsbeziehungen ist insofern vielleicht ein wenig ungewöhnlich, aber sie ist keineswegs unnatürlich, wenn Falschheit nicht einfach verstanden wird als die Abwesenheit von Wahrheit. 21 Diese Definition ist in unserem Falle sogar angebracht, denn wir können die folgende Beobachtung machen. 22 21  Siehe z. B. Y. Shramko und H. Wansing, »Useful 16-valued logics«, H. Wansing und Y. Shramko, »Harmonious logics«, H. Wansing und Y. Shramko, »Suszko’s Thesis«. 22  Ein Beweis findet sich in H. Wansing, »Constructive negation«.

Negation in der konstruktiven Logik

1105

Beobachtung 3 Wenn (​I​i​, ​Cj​​) ≠ (I4, C 4), dann ˆ+​I​i​​C​j​  ≠ ˆ−​I​i​,​C​j​.

Aufmerksamen Lesern wird aufgefallen sein, dass in den Logiken (​Ii​​,​Cj​​) jede stark negierte zusammengesetzte Formel A logisch äquivalent ist zu einer Formel, in der die starke Negation ausschließlich ein Präfix echter Teilformeln von A ist. In der Tat lässt sich leicht ein zeigen, dass jede Formel logisch äquivalent ist zu einer Formel in Negationsnormalform, d. h. zu einer Formel, in der das Negationssymbol nur als Präfix atomarer Formeln vorkommt. 23 Es ist zu beachten, dass eine atomare Formel p semantisch unabhängig ist von ihrer starken Negation ∼ p. Die folgenden Übersetzungen ​ρ​​I​i​,​Cj​​​bilden L-Formeln auf Formeln in Negationsnormalform ab, wobei p ∈ Atom und ˇ ∈ {∨, ∧, →, � 0. The Proposer, knowing this, will offer the smallest amount c possible. When played with real money, say £10, with offers restricted to £1 increments, this means that the Proposer will offer £1, which the Receiver will accept, leaving the Proposer with £9 for himself. In a seminal paper, Güth, Schmittberger and Schwarze26 found that when people play the Ultimatum game, their behaviour lies quite far removed from the game-theoretic solution. In fact, the modal offer for Proposers was to offer around 40% of the money (where this offer would generally be accepted). Moreover, when Proposers tried to take advantage of their asymmetric position by offering only 20% of the money, this offer would generally be rejected, even though the amount offered was not negligible. »R. McKelvey and T. Palfrey, ›An experimental study of the centipede game‹, 803– 836.« »W. Güth, R. Schmittberger and B. Schwarze, ›An Experimental Analysis of Ultimatum Bargaining‹, 367–388.« 25 

26 

1120

Kolloquium 21  ·  J. McKenzie Alexander

Since the time of Güth et al.’s original experiment, a very large number of experiments on a number of variations of the Ultimatum game have been performed. 27 The results of Henrich et al. 28 suggest that one cannot escape appealing to social norms or other cultural forces in explaining human behaviour in the Ultimatum game. What I want to illustrate in this section is simply how local interaction models of the Ultimatum game can generate a range of behaviours with are, to some extent, compatible with the experimental findings. If human behaviour in the Ultimatum game is constrained by people’s beliefs about what is fair in asymmetric resource allocation problems, this then shows that the outcome of a cultural evolutionary process is, to some extent, compatible with observed human behaviour. In any case, we find a much better agreement of the variation of human behaviour if we consider it as the outcome of an evolutionary process then if we consider it as generated by the decisions of a perfectly rational agent. Consider the following model, which is similar to that of Nowak, Page and Sigmund 29 but with different evolutionary dynamics. Suppose that each player has a strategy consisting of two components p, q  [0, 1], where p denotes the proportion of C offered when in the role of a Proposer and q denotes the acceptance threshold. When a player acts as a Proposer, she always offers p; when a player acts as a Receiver, she will accept any offer r provided that q  r.

»R. Thaler, ›Anomalies: The Ultimatum Game‹, 195–206« offers an early survey of the experimental results, albeit now rather dated. See »C. Camerer and R. Thaler, »Anomalies: Ultimatums, Dictators and Manners«, 209–219« for a follow-up and »C. Bicchieri, The Grammar of Society, 100–139« for a more recent discussion of experimental work on the Ultimatum game. »J. Henrich, R. Boyd, S. Bowles, C. Camerer, E. Fehr and H. Gintis, Foundations of Human Sociality« cover a number of ultimatum-game type experiments in »small-scale« societies, noting how considerable deviations exist as compared with previously reported results concentrating on Western societies. For example, the Au and Gnau of New Gineau reject both unfair and hyperfair offers with approximately equal frequency. (A hyperfair offer is one where the Proposer offers more than half of C to the Receiver.) 28  »J. Henrich, R. Boyd, S. Bowles, C. Camerer, E. Fehr and H. Gintis, Foundations of Human Sociality.« 29  »M. Nowak, K. Page and K. Sigmund, »Fairness versus Reason in the Ultimatum Game«, 1773–1775.« 27 

Evolution, morality and the theory of rational choice

1121

Acceptance threshold

Offer made 15 000

15 000

10 000

10 000

5000

5000 0.2

0.4

0.6

(a) Histogram of offers made when in the role of Proposer. (The x-axis indicates the fraction of C offered.)

0.8

0.1

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

(b)  Histogram  of  player's  acceptance threshold when in the role of Receiver. (The x-axis indicates the amount of cake which the player must be offered in order to accept.)

Figure 5: Results from 1,000 simulations of the Ultimatum game on random connected networks of 150 agents with an edge probability of 3%.

As in the case of our Centipede game simulations, we consider populations of 150 players situated on a connected social network with an edge probability of 3%. During the first stage of each generation (the interaction stage), for each edge in the network a coin toss determines which of the two players on that edge is assigned the role of Proposer and Receiver. As before, this means that the same player may, in a given generation, act as both the Proposer and Receiver. During the second stage of each generation (the revision stage), players use Imitate-the-Best to adopt the strategy of the maximallyscoring player in their neighbourhood. When a player imitates a strategy of one of his neighbours, he copies both the offer type p and the acceptance threshold q, though he only saw one of these components used in his last interaction. Figure 5 illustrates the outcome of 1,000 simulations on random social networks from randomly chosen initial conditions. 30One curious aspect worth noting is that, although the acceptance thresholds of the players appears to conform somewhat to what one would expect from rational agents (in that low acceptance thresholds appeared more frequently than high ones), the distribution of offer types does not. The frequency of offer types is highest around the offers of 0.3 to 0.375 of C. Perhaps the two most noteworthy aspects about the simulation outcomes are the following: 1. Considerable variation exists among the convergent states of the simulation. No one offer type overwhelming dominates among the results. This qualitative result agrees with what we know from experimental data.

The initial strategy (p, q) of each player was drawn at random from the unit square under a uniform distribution. 30 

1122

Kolloquium 21  ·  J. McKenzie Alexander

2. The vast majority of offer types lie below the 50–50 split, with some cases converging to hyperfair offers. This qualitative result agrees with the findings of Henrich et al. 31 Once again, we find that evolution yields outcomes more in agreement with actual human behaviour than the predictions of traditional game theory.

4.  Conclusion Human behaviour in experimental settings frequently violates the predictions of decision theory and game theory in interesting ways. In this paper I have attempted to show that, for the Ellsberg decision problem, the Centipede game, and the Ultimatum game, considering such problems from an evolutionary perspective yields models with quite good qualitative agreement with the experimental outcomes. Obviously these models only provide a first step towards modeling decision making in socially structured contexts, but I believe two points are worth noting. First, we do not need complicated models involving a plethora of social factors to achieve qualitative agreement with observed human behaviour; instead, relatively simple models suffice. Second, that the outcomes of an evolutionary process tend to agree both with what strikes us as intuitively »rational« or »fair«. Thus, as I stated in the introduction, this suggests that one way of reconciling the apparent competing demands of rationality and morality may be to consider both from an evolutionary perspective.

References Alexander, J. McKenzie: The Structural Evolution of Morality. Cambridge University Press, London 2007. — : »Social Deliberation: Nash, Bayes, and the Partial Vindication of Gabriele Tarde«, in: Episteme Forthcoming 2009. Bicchieri, Cristina: The Grammar of Society. The Nature and Dynamics of Social Norms, Cambridge University Press, London 2005. Camerer, Colin and Richard H. Thaler: »Anomalies: Ultimatums, Dictators and Manners«, in: Journal of Economic Perspectives 9, 2 (1995) 209–219. Dawkins, Richard: The God Delusion. Houghton Mif in Harcourt 2006. Dennett, Daniel C.: Breaking the Spell: Religion as a Natural Phenomenon. Viking Adult 2006. Ellsberg, Daniel: »Risk, Ambiguity, and the Savage Axioms«, in: Quarterly Journal of Economics 75, 4 (1961) 643–669.

»J. Henrich, R. Boyd, S. Bowles, C. Camerer, E. Fehr and H. Gintis, Foundations of Human Sociality, 19.« 31 

Evolution, morality and the theory of rational choice

1123

Gigerenzer, Gerd and Reinhard Selten: Bounded Rationality. The Adaptive Toolbox, MIT Press, 2001. Gigerenzer, Gerd, Peter M. Todd, and the ABC Research Group: Simple Heuristics That Make Us Smart. Oxford University Press, 1999. Gilboa, I. and D. Schmeidler: »Maxmin Expected Utility with Nonunique Prior«, in: Journal of Mathematical Economics 18 (1989) 141–153. Guth, Werner, Rolf Schmittberger, and Bernd Schwarze: »An Experimental Analysis of Ultimatum Bargaining«, in: Journal of Economic Behavior and Organization 3 (1982) 367–388. Hardin, Garrett: »The Tragedy of the Commons«, in: Science 162 (1968) 1243–1248. Henrich, Joseph, Robert Boyd, Samuel Bowles, Colin Camerer, Ernst Fehr, and Herbert Gintis: Foundations of Human Sociality. Economic Experiments and Ethnographic Evidence from Fifteen Small-Scale Societies, Oxford University Press 2004. McKelvey, Richard D. and Thomas R. Palfrey: »An experimental study of the centipede game«, in: Econometrica 60, 4 (1992) 803–836. Nowak, Martin A., Karen M. Page, and Karl Sigmund: »Fairness Versus Reason in the Ultimatum Game«, in: Science 289, 5485 (2000) 1773–1775. Parfit, Derek: Reasons and Persons. Oxford University Press 1984. Rosenthal, R.: »Games of Perfect Information, Predatory Pricing, and the Chain Store«, in: Journal of Economic Theory 25 (1981) 92–100. Schmeidler, David: »Subjective Probability and Expected Utility without Additivity«, in: Econometrica 57, 3 (1989) 571–587. Thaler, Richard H.: »Anomalies: The Ultimatum Game«, in: Journal of Economic Perspectives 2, 4 (1988) 195–206.

Modellieren der Humeschen Moral- und Politiktheorie * – Das Computer-Modell HUME1.0 Rainer Hegselmann und Oliver Will

Zusammenfassung Im Zentrum von Humes Moral- und Politiktheorie steht ein welthistorischer Prozess: Ursprünglich ausgestattet mit einer Natur, die uns für ein Leben in Kleingruppen prädestiniert, lernen wir im Rahmen eines sozialen Evolutionsprozesses das Zusammenleben in Großgruppen. Die Erfindung künstlicher Tugenden, Arbeitsteilung, Einrichtung von Erzwingungsstäben und vieles mehr spielt dabei ein wichtige Rolle. HUME 1.0 ist ein Computermodel, das einen Teil der von Hume angenommenen Mechanismen modelliert und simuliert. Hume hat eine detailreiche informale Theorie ausgearbeitet. Die partielle Rekonstruktion dieser Theorie durch ein computergestütztes Model erlaubt die genaue Analyse des komplexen dynamischen Zusammenspiels der von Hume angenommenen Mechanismen und der von ihm eher intuitiv vermuteten Effekte. Der Artikel beschreibt die Komponenten von HUME1.0, die Lösung von Modellierungsproblemen, einige erste Resultate (allerdings nicht mehr!) und die weitere Forschungsperspektive. Key words: Hume, Evolution der Moral, Vertrauen, Arbeitsteilung, Austausch

1.  Einleitung: Humes informale Theorie unter dem principle of suspicion In Of Morals, dem 3. Band des Treatise of Human Nature (1739)1, und im Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751)2 liefert David Hume eine Antwort auf die fundamentale Frage nach dem Ursprung von Gerechtigkeit und Staat. Beide sind Hume zufolge menschliche Erfindungen. Sie entwickelten sich in einem langwierigen Prozess an dessen Ende uns – Säugetieren mit einer Natur, die an ein Leben in kleinen Gruppen angepasst ist – das Zusammenleben in großen Gesellschaften möglich wurde. Obwohl zwischen den meisten Mitgliedern der heutigen Gesellschaften keine persönlichen Bindungen bestehen, sind große Netzwerke indirekter Tauschbeziehungen entstanden. EinDiese Arbeit ist Teil des Projektes »Emergence in the Loop« (EmiL: IST-033841), finanziert im Rahmen der Initiative »Simulating Emergent Properties in Complex Systems« durch das »Future and Emerging Technologies« - Programm der Europäischen Kommission. Wir bedanken uns bei Marlies Ahlert, Eckhart Arnold, Matthew Braham, Werner Güth, Russell Hardin, Hartmut Kliemt, Bernd Lahno und Martin Neumann für wertvolle Anregungen. 1  D. Hume, A Treatise of Human Nature. 2  D. Hume, An Enquiry concerning the Principles of Morals. * 

Modellieren der Humeschen Moral- und Politiktheorie

1125

gebettet in diese Beziehungen, genießen wir im Vergleich zu unseren vorgeschichtlichen Ahnen einen unglaublichen Wohlstand, der auf Arbeitsteilung und technischem Fortschritt beruht. Dies gilt natürlich nicht für alle Menschen, nicht immer und es gab und gibt immer wieder Rückschläge, doch für einen signifikaten Teil der modernen Welt und der jüngeren Geschichte zumindest der letzten zwei Jahrhunderte ist es zutreffend.3 Zentrale Elemente der Humeschen Theorie sind: 1. Eine menschliche Natur, die in ihrer ursprünglichen Form schwerwiegende Probleme für ein Zusammenleben in großen Gruppen bedingt (z. B. das Bevorzugen nahestehender Personen und eine systematische Kurzsichtigkeit). 2. Die Erfindung künstlicher Tugenden, insbesondere der Gerechtigkeit, die bei Hume vor allem den Respekt des Eigentums und das Halten von Versprechen meint. Humes Gerechtigkeit ist keine Verteilungsgerechtigkeit oder Form von Fairness. Eine »künstliche« Tugend ist die Gerechtigkeit, weil sie nicht Teil der menschlichen Natur ist, sondern durch eine Transformation des Charakters erlangt und durch wechselseitige Anerkennung gefestigt werden muss.4 3. Arbeitsteilung 5 und die Entwicklung spezialisierter Fähigkeiten. 4. Die Erfindung von zentralen Durchsetzungsinstanzen, die das Verhalten der Menschen überwachen, bestimmte Verhaltensweisen durchsetzen und andere bestrafen.6 Gregory Clark (Farewell to Alms) vertritt die Ansicht, die Welt sei bis etwa 1800 von einer Malthusianischen Wirtschaft geprägt gewesen, in der ein durchschnittlicher (oder medianer) Mensch auf Subsistenzniveau lebte. Diese Vorstellung ist nicht völlig neu, doch neu ist die von Clark vorgebrachte und nun heftig diskutierte Erklärung: Ermöglicht durch glückliche Umstände, die in England seit etwa 1250 vorgeherrscht haben sollen, ereignete sich eine Ausbreitung kapitalistischer Verhaltensweisen von der Elite in die Mittelklasse der Gesellschaft, die jedenfalls auf der sozialen, vermutlich aber sogar auf der genetischen, Ebene stattfand. Diese Ausbreitung ist nach Clark die Erklärung für die Überwindung der Malthusianischen Falle. 4  Bei Humes heißt es dazu: 3 

… I must here observe, that when I deny justice to be a natural virtue, I make use of the word natural, only as oppos’d to artificial. In another sense of the word; as no principle of the human mind is more natural than a sense of virtue; so no virtue is more natural than justice. Mankind is an inventive species; and where an invention is obvious and absolutely necessary, it may as properly be said to be natural as any thing that proceeds immediately from original principles, without the intervention of thought or reflection. Tho’ the rules of justice be artificial, they are not arbitrary. Nor is the expression improper to call them laws of nature; if by natural we understand what is common to any species, or even if we confine it to mean what is inseparable from the species. D. Hume, A Treatise of Human Nature, 311 Eine sehr viel detailliertere Analyse der Arbeitsteilung gibt natürlich Adam Smiths in den ersten Kapiteln seines An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Schon bei Hume sind Arbeitsteilung und Spezialiserung aber wichtige Ergebnisse und Antriebe der menschlichen Geschichte. 6  Für ein Leben in großen Gruppen ist Hume zufolge diese weitere Erfindung notwendig: 5 

But when men have observ’d, that though the rules of justice be sufficient to maintain any society, yet ’tis impossible for them, of themselves, to observe those rules, in large and polished societies; they establish government, as a new invention to attain their ends, and preserve the old, or procure new advantages, by a more strict execution of justice.

D. Hume, A Treatise of Human Nature, 348

1126

Kolloquium 21  ·  Rainer Hegselmann und Oliver Will

Schon im antiken Griechenland beschäftigte Philosophen die Frage nach der Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens in großen Gesellschaften. In einem von Platos Dialogen7 beantwortet der Sophist Protagoras die Frage im Kern wie folgt: Ein hoher Blutzoll habe gezahlt werden müssen, doch letztlich hätte die Menschheit ihre Lektion gelernt und Moral sowie Institutionen zu ihrer Durchsetzung erfunden. Diese Erfindungen hätten das Zusammenleben großer Gruppen von Menschen ermöglicht, in denen ein substantieller Anteil der kooperativen Interaktionen nicht mehr auf Familienbanden oder persönlichen Bekanntschaften beruht. Erst so habe sich die Menschheit in der Konkurrenz mit den wilden Tieren behaupten können.8 – Offensichtlich ist die Sicht des Protagoras der Humeschen sehr ähnlich. Insgesamt hat Hume hat eine sehr reiche informale Theorie ausgearbeitet, die zu seiner Zeit detaillierter und durchdachter war als alle anderen Theorien in der Tradition des Protagoras. Trotzdem handelt es sich um eine qualitative und informale Theorie, die zu einem gewissen Grad Entwurfscharakter hat. Besonders in den letzten drei Jahrzehnten wurde Humes Konzeption vielfach aufgegriffen und weiter ausgearbeitet. Humes Annahmen wurde systematisiert, Inkonsistenzen, Inkohärenzen und problematische Elemente der Theorie wurden analysiert; Humes Ideen wurden in einen breiteren wissenschaftlichen Kontext eingebettet, der beispielsweise auch die Evolutionsbiologie und die evolutionäre Psychologie einschließt.9 Mit HUME1.0 beginnen wir ein Computermodell dieser Theorie zu entwickeln. Aber warum sollte man Humes Theorie überhaupt modellieren? Humes Theorie betrifft einen, wenn nicht sogar den fundamentalen Prozeß in der Evolution des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit. Allerdings ist Humes Theorie eine informale Theorie. Als solche fällt sie unter das, was wir das principle of suspicion nennen wollen. Es lautet: Unser intuitives Verständnis der oft nicht-linearen Einflussfaktoren in (sozialen) Systemen ist – selbst wenn nur wenige Faktoren beteiligt sind – ziemlich schlecht. Deshalb: Misstraue informalen Theorien solange die Dynamik ihrer zentralen Komponenten nicht zumindest partiell durch Modelle geprüft wurde, die zentrale Parameter und Mechanismen sowie deren Zusammenspiel explizit machen (Principle of suspicion). Wenn unser Vorhaben erfolgreich ist, dann verfügen wir über ein Modell, mit dem das komplexe Zusammenspiel von Mechanismen systematisch studiert werden kann. Man beachte, dass die Einrichtung einer zentralen Durchsetzungsinstanz ein Fall von Arbeitsteilung ist. 7  Siehe Protagoras in Plato. 8  Wenn wir Lucretius De rerum natura trauen dürfen, hat auch Epikur eine ähnliche Auffassung vertreten (vgl. Lucretius, De rerum natura). 9  Zu den wesentlichen Arbeiten in diesem Bereich zählen M. Baurmann, Der Markt der Tugend, K. Binmore, Game Theory and the Social Contract, A. Gibbard, Wise Choices, Apt Feelings, R. Hardin, David Hume, H. Kliemt, Moralische Institutionen, H. Kliemt, Antagonistische Kooperation, B. Lahno, Versprechen, J. L. Mackie, Hume’s Moral Theory, B. Skyrms, The Evolution of the Social Contract, R. Sugden, The Economics of Rights, Co-operation and Welfare und E. Ullmann-Margalit, The Emergence of Norms.

Modellieren der Humeschen Moral- und Politiktheorie

1127

Wir können analysieren unter welchen Annahmen und Bedingungen Tugenden, Spezialisierung und Wohlstand wachsen und wie robust bzw. sensitiv diese Prozesse auf die Veränderung von Parametern und Mechanismen reagieren. Diese Modellierung der Humeschen Theorie ist ein Baustein zu deren systematischer Bewertung. In einem gewissen Sinn wird das Experimentieren mit der Theorie ermöglicht. Aus hermeneutischer Perspektive ist das Modell eine Interpretation oder Rekonstruktion der Theorie – eine Rekonstruktion, die zugegebenermaßen nicht sehr detailliert ist: Wir konzentrieren uns auf ganz wenige Mechanismen. Von der Humeschen Theorie bleibt nur ein Skelett übrig. Viele der von Hume ins Spiel gebrachten Mechanismen werden überhaupt nicht oder jedenfalls nicht im Detail modelliert.10 Jedenfalls für den Anfang ist das Abstrahieren von nahezu allen diesen Details eine Voraussetzung für die rigorose und explizite Analyse des dynamischen Zusammenspiels der modellierten Komponenten. Und selbst diese – böse formuliert – Schwundstufenrekonstruktion droht wegen Überkomplexität undurchführbar zu werden. Im weiteren Verlauf des Textes wird das Modell HUME1.0 beschrieben. Von den oben angesprochenen vier zentralen Elementen der Humeschen Theorie sind in HUME1.0 die ersten drei implementiert. Zentrale Durchsetzungsinstanzen, also Element 4, werden dagegen nicht in HUME1.0 sondern in späteren Versionen berücksichtigt. HUME1.0 analysiert also Humes Theorie im Hinblick auf die Frage, wie weit man ohne zentrale Autoritäten kommen kann. Die Abschnitte 2 bis 7 dienen der Beschreibung der wichtigsten Komponenten von HUME1.0. In Abschnitt 8 werden diese Teile zu einem Ganzen zusammengefügt und wir präsentieren erste Resultate. Um spätere Enttäuschungen zu vermeiden, sei bereits an dieser Stelle gesagt, dass wir in dieser Arbeit keine umfassende Analyse des Modells liefern. Es geht vielmehr um die Beschreibung von Komponenten des Modells, Lösung von Modellierungsproblemen und zukünftige Forschungsperspektiven.

2.  Komponente1: Spezialisierung und Arbeitsteilung Wir modellieren Spezialisierung und Arbeitsteilung in einer abstrakten Weise: Ausgehend von einem diskreten Zeitverlauf mit den Schritten t = 0, 1, 2, … bekommen in jedem Zeitschritt wenigsten einige Agenten ein Problem. Probleme werden mittels einer positiven natürlichen Zahl k  K charakterisiert, wobei K für die exogen bestimmte Anzahl unterschiedlicher Probleme steht. Es wird angenommen, dass K über die Zeit konstant bleibt. Eine der Eigenschaften der Agenten in HUME1.0 ist ihr Kompetenzvektor. Jede der K reellwertigen Komponenten dieses Vektors gibt die Kompetenz ​Cik​ ​ (t) eines Agenten i für die Lösung des Problems k zum Zeitpunkt t an. Die Werte des Kompetenzvektors addieren sich immer zu eins. 10  Dies betrifft z. B. die Rolle der Empathie, die Entwicklung einer moralischen Sprache (mit projektiven Komponenten), die Entstehung kontingenter Konventionen für den Eigentumstransfer oder auch die Erziehung.

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Kolloquium 21  ·  Rainer Hegselmann und Oliver Will

Zu Beginn eines Simulationsdurchlaufs sind alle Agenten gleich gut bzw. schlecht in der Lösung der möglichen Probleme, d. h. Cik(t) = 1 / K, ∀ i ∀ k. Arbeitet ein Agent an einem bestimmten Problem, so steigt seine Kompetenz es zu lösen. Gleichzeitig verringert sich jedoch die Kompetenz des Agenten zur Lösung aller anderen Probleme. Technisch wird dies dadurch erreicht, dass nach der Lösung eines Problems ein exogen gegebenes Δ zu der entsprechende Komponente des Kompetenzvektors addiert wird und der Kompetenzvektor anschließend so renormiert wird, dass die Summe seiner KomK ponenten wieder eins ergibt (​Σ​k=1   ​ c = 1). Auf diese Weise ändern sich die Kompetenzen ik der Agenten im Laufe der Zeit: Agenten, die an Problemen arbeiten, für die sie eine verhältnismäßig hohe Kompetenz haben, werden mit der Zeit immer besser darin diese zu lösen und immer schlechter in der Lösung der anderen Probleme (Spezialisierung). In kompakter Form sind die Kompetenzen des Agenten i zum Zeitpunkt t gegeben durch:11 C i(t) = hci1(t), ci2(t), …, ciK (t)i

(1)

VALUEjk = constantvalue + ​cjk​φ ​.​ 

(2)

Die Kompetenz in der Lösung eines Problems k hat Auswirkungen auf den Wert (value) einer Lösung und die Kosten (costs), die bei ihre Erstellung anfallen. Die Differenz zwischen Wert und Kosten wird als Wertschöpfung (added value) bezeichnet. Es ist naheliegend anzunehmen, dass eine höhere Kompetenz auch zu einem höheren Wert der Lösung führt. Zur Modellierung dieser Annahme könnte man verschiedenste Funktionen verwenden. Wir benutzen in HUME1.0 die einfache, nicht-lineare Funktion:

Abbildung 1. Kompetenzabhängiger Wert einer Lösung (0.25  φ  4) unter der Bedingung constantvalue = 1 (links) und kompetenzabhängige Kosten einer Lösung (0.25  σ  4) unter der Bedingung constantcosts = 1 (rechts).

Im Folgenden werden wir die Zeitabhängigkeit des Kompetenzvektors nur explizit angeben, falls andernfalls Missverständnisse provoziert würden. 11 

Modellieren der Humeschen Moral- und Politiktheorie

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VALUEjk ist der Wert der Lösung des Problems k für den Fall, dass Agent j mit der Kompetenz cjk daran arbeitet. Der Exponent φ ermöglicht die Regulierung der Intensität des Kompetenzeffektes. Für φ  1 sind die Wertzuwächse bei niedrigen Kompetenzen am höchsten und die Steigerung hoher Kompetenzen führt nur noch zu vergleichsweise geringen Wertsteigerungen. Für φ  1 gilt das Umgekehrte und für φ = 1 verhalten sich Kompetenz und Wert proportional zueinander. Änderungen der Kostante verschieben die Kurve nach oben bzw. unten. Der linke Graph in Abbildung 1 zeigt die Auswirkungen unterschiedlicher Werte von φ unter der Bedingung constantvalue = 1. Ebenfalls plausibel ist die Annahme, dass mit steigender Kompetenz die Kosten einer Lösung sinken. Analog zur Wertfunktionen verwenden wir folgende Funktion für den Zusammenhang von Kompetenz und Kosten: COSTSjk = constantcosts – ​cjk​σ ​ ​ 

(3)

Der Exponent σ beeinflusst nun die Stärke des gegebenenfalls über- oder unterproportionalen Kompetenzeffektes und die Kostenkonstante constantcosts bestimmt die Lage der Funktion. Der rechte Graph in Abbildung 1 zeigt die Kostenfunktionen für verschiedene Werte von σ unter der Bedingung constantcosts = 1. Ziehen wir vom Wert einer Lösung die bei ihrer Erstellung anfallenden Kosten ab, bleibt die Wertschöpfung: VALUE_ADDEDjk = VALUEjk – COSTSjk

(4)

Aus Gründen der Einfachheit nehmen wir nun an, dass die Kostanten für der Wert- und Kostenfunktion den Wert eins haben: constantcosts = constantvalue = 1

(5)

Die Wertschöpfung ergibt sich dann aus: VALUE_ADDEDjk = (1 + ​cjk​φ ​)​  – (1 – ​cjk​σ ​)​  = ​cjk​φ ​​ + c​ jk​σ ​  ​

(6)

Diese vereinfachende Annahme hat bestimmte Effekte: Positive Kompetenzen führen zu positiven Werten; negative Wertschöpfungen sind ausgeschlossen. Im Falle einer Kompetenz von 0 ergibt sich für Wert- und Kostenfunktion jeweils 1 und somit eine Wertschöpfung von Null. Im besten Fall ist die Kompetenz 1. Aus den Kosten von 0 und dem Wert von 2 ergibt sich dann eine Wertschöpfung von 2. Dabei ist zu beachten, dass sich die Kompetenzen der Agenten durch die oben beschriebene Dynamik der Null und der Eins zwar beliebig nähern, sie jedoch nie erreichen können. Abbildung 2 zeigt die Wertschöpfung in Abhängigkeit von der Kompetenz für verschiedene Werte von φ unter der Annahme σ = 1. Weil ein Agent in jedem Zeitschritt ein zufällig bestimmtes Problem bekommen, aber nicht zur Lösung aller Probleme eine hohe Kompetenz entwickelt haben kann, könnten die Agenten von einem funktionierenden Tauschsystems, das auf hoher Spezialisierung und Arbeitsteilung basiert, erheblich profitieren.

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Kolloquium 21  ·  Rainer Hegselmann und Oliver Will

Abbildung 2. Kompetenzabhängige Wertschöpfung für 0.25  φ  4 und σ = 1.

3.  Komponente2: Tausch Tauschakte bergen Risiken:12 Einer oder beide Partner können von getroffenen Vereinbarungen abweichen, nicht liefern, mit der Zahlung in Verzug geraten oder auf eine oder mehrere der unzähligen anderen denkbaren Weisen defektieren. In HUME1.0 ist das nicht anders.13 Die Modellierung erfordert die Explikation der angenommenen Tauschstrukturen. Wir nehmen an, dass es in jedem Zeitschritt zwei Typen bzw. Rollen von Agenten gibt, die zufällig zugewiesen werden: P-Agenten, die ein zufällig bestimmtes Problem haben und S-Agenten, die Lösungen für Probleme anbieten. Später werden wir festlegen, ob ein Agent beides zugleich sein kann oder entweder P- oder S-Agent ist. Wir nehmen an, dass P-Agenten ihre Probleme selbst lösen können, doch von Austausch im üblichen Sinn kann man nur sprechen, wenn in einem Paar P- und S-Agent nicht identisch sind. Unterschiedliche Tauschstrukturen können anhand der Frage Wer liefert bzw. zahlt wann? unterschieden werden. Abbildung 3 gibt einen Überblick.14 Das so genannte Vertrauensspiel (»trust game«, im Folgenden TG) erfasst ein fundamentales soziales Dilemma: Kooperation, Gemeinschaftsunternehmen und wechselseitige Tauschbeziehungen sind schwer zu etablieren wenn einer der Beteiligten in Vorleistung gehen muss und keine Garantie hat, dass der Partner im Anschluss auch eine Gegenleistung erbringt. Abbildung 4 zeigt das TG in extensiver Form. Die Auszahlungen der SpieR. Hardin, »Exchange theory on strategic bases.« Es gibt natürlich auch nahezu risikofreie Tauschstrukturen, z. B. bei Einsetzen eines Mediators. Diese implizieren aber die Existenz von Institutionen und damit Arbeitsteilung. In unserem vorgeschichtlichen Kontext gibt es solche Institutionen noch nicht. 14  An dieser Stelle und im weiteren Verlauf des Textest sprechen wir oft einen monetären Jargon. Die vorgeschichtliche Ökonomie, die wir modellieren, bestand allerdings lange vor der Erfindung des Geldes. Als tatsächliche Währung des Modells sollte man sich also Erträge aus Landwirtschaft, Sammeln oder Jagd, persönliche Dienstleistungen, also natürliche Güter aller Art bzw. Kombinationen aus ihnen vorstellen. 12  13 

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Abbildung 3. Drei risikobehaftete Tauschstrukturen

ler sind an den drei möglichen Endpunkten des Spiels verzeichnet. Der obere Wert bezieht sich jeweils auf die Auszahlung von Spieler 1, der untere auf die des zweiten Spielers. Wie üblich wird angenommen, dass die Auszahlungen durch eine von Neumann-Morgenstern Nutzenfunktion gegeben sind. Diese Nutzenfunktionen können positiv affinen Transformationen unterzogen werden, ohne dass sich dabei die zugrunde liegenden Präferenzordnung ändert. Wir können daher zwei der Payoffs auf 0 bzw. 1 setzen und alle möglichen TGs durch die Parameter a und b charakterisieren. Dabei muss a  0 und b  1 sein damit die für das TG spezifische Präferenzordnung über die Auszahlungen erhalten bleibt.

Abbildung 4. Das einfache Vertrauensspiel (TG)

1132

Kolloquium 21  ·  Rainer Hegselmann und Oliver Will

Durch Rückwärtsinduktion wird die einzige Lösung des nicht-iterierten TGs unter rationalen Spielern offenbar: Spieler 1 antizipiert, dass Spieler 2 ihn ausnutzen würde und vertraut ihm daher nicht. Das Ergebnis ist die Auszahlung h0, 0i und somit eine Situation, die offensichtlich ineffizient ist, da beide Spieler besser gestellt wären, wenn Spieler 1 dem zweiten Spieler vertrauen und dieser auch eine Gegenleistung bringen würde. Hume war sich der inhärenten Problematik (nicht-iterierter) Vetrauensspiel-Strukturen klar bewusst:15 Your corn is ripe to-day; mine will be so to-morrow. ’Tis profitable for us both, that I shou’d labour with you to-day, and that you shou’d aid me to-morrow. I have no kindness for you, and know you have as little for me. I will not, therefore, take any pains upon your account; and should I labour with you upon my own account, in expectation of a return, I know I shou’d be disappointed, and that I shou’d in vain depend upon your gratitude. Here then I leave you to labour alone: You treat me in the same manner. The seasons change; and both of us lose our harvests for want of mutual confidence and security.16 In der derzeitigen Version basiert HUME1.0 auf einer Variante des TGs in der ein PAgent dem ersten Spieler entspricht. Er leistet eine Vorauszahlung an den S-Agenten und dieser entscheidet danach, ob er tatsächlich eine Lösung liefert oder nicht. Wie hoch ist nun diese Auszahlung? Wir nehmen an, dass es nur eine Zahlung gibt, d. h. der P-Agent zahlt mit der Vorauszahlung den vollen Preis der Lösung. Die Vorauszahlung muss daher die Produktionskosten des S-Agenten, COSTSsk, decken. Damit der S-Agent einen Anreiz zu einer kooperativen Interaktion mit dem P-Agenten hat, muss er darüber hinaus noch einen bestimmten Anteil β (mit 0  β  1) an der Wertschöpfung erhalten. Es gibt mindestens zwei nahe liegende Möglichkeiten, die Gesamthöhe der Vorauszahlung des P-Agenten zu bestimmen: COSTS Sk + β · VALUE_ADDEDSk,

(7)

oder COSTS Sk + β · (VALUE_ADDEDSk – VALUE_ADDEDPk).

(8)

Im ersten Fall wird dem S-Agenten über seine Kosten hinaus ein Anteil an der von ihm erbrachten Wertschöpfung gezahlt. Im zweiten Fall erhält er einen Anteil an der Differenz der durch ihn erbrachten Wertschöpfung und der, die der P-Agent selbst hätte schaffen können. Während im ersten Fall nur die Kompetenz des S-Agenten die Höhe der Zahlung beeinflusst, fließt im zweiten Fall auch die des P-Agenten mit ein. Letzteres reflektiert die Verhandlungsstärke des P-Agenten. Es scheint momentan so, als würde es für große Bereiche des Parameterraums keine große Rolle spielen, welche der beiden Formeln wir verwenden. Wir werden zunächst mit der ersten Formel arbeiten. 15  Für eine gründliche und detaillierte Analyse des Vertrauensspiels und seiner Bedeutung für das Verständnis von Humes Treatise und Enquiry siehe B. Lahno, Versprechen. 16  D. Hume, A Treatise of Human Nature, 334.

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Für einen Tausch müssen Paare von P- und S-Agenten gebildet werden. Die Frage der Partnersuche wird in einem späteren Abschnitt diskutiert, doch wir können schon an dieser Stelle eine Forderung an die Paarungen des Modells stellen: Eine Paarung ist nur dann möglich, wenn die Auszahlung des P-Agenten für den Fall, dass der S-Agent eine Lösung liefert, größer ist als die Auszahlung, die der P-Agent erhält, wenn er sein Problem selbst löst. Gegeben unsere Annahmen über Kosten- und Wertfunktion kann diese notwendige Bedingung für die Paarung eines P- und eines S-Agenten wie folgt formuliert werden: (1 – β) · VALUE_ADDEDSk  VALUE_ADDEDPk.

(9)

Die Bedingung kann nur erfüllt sein, wenn die Kompetenz des S-Agenten höher ist als die des P-Agenten. Insgesamt ergibt sich für HUME1.0 ein TG wie es in Abbildung 5 dargestellt ist. Die Box (1) gibt an, welche Voraussetzungen durch die Paarung garantiert werden. Dazu später mehr. Bei (2) beginnt das TG: Der P-Agent muss entscheiden ob er dem S-Agenten vertraut oder nicht. Vertraut er ihm nicht und löst sein Problem selbst (3), ergeben sich für die Spieler Auszahlungen, die in (4) abzulesen sind. In der Abbildung bezieht sich der obere Payoff immer auf den P-, der untere auf den S-Agenten. In diesem Fall bekommt der P-Agent den Wert der von ihm produzierten Lösung abzüglich seiner Kosten, d. h. die von ihm geschaffene Wertschöpfung VALUEPk. Der S-Agent bekommt eine Auszahlung von 0. Vertraut der P-Agent dem S-Agenten, so muss er eine Vorauszahlung leisten (5) und der S-Agent entscheidet danach ob er eine Lösung produziert oder nicht (6). Nutzt der S-Agent das Vertrauen des P-Agenten aus und produziert keine Lösung (7), ist die Vorauszahlung für den P-Agenten verloren. In (8) sehen wir die entsprechenden Auszahlungen: Der P-Agent erleidet einen Verlust in Höhe der Vorauszahlung, d. h. der potentiellen Kosten des S-Agenten und dessen Anteil an der Wertschöpfung. Der S-Agent streicht diese Vorauszahlung ein und hat keine Kosten, da er keine Lösung liefert. Entscheidet sich der S-Agent in (6) dazu, an einer Lösung zu arbeiten (9), entstehen ihm entsprechende Kosten und die Wertschöpfung wird entsprechend dem Parameter β zwischen P- und S-Agent aufgeteilt (10). Die Präferenzordnung der Agenten entspricht der von Spieler 1 und Spieler 2 im TG in Abbildung 4. In HUME1.0 arbeiten wir mit einer Struktur von Tauschbeziehungen wie sie gerade beschrieben wurde und in Abbildung 5 dargestellt ist. Andere Varianten, wie die in Abbildung 3 skizzierten, in denen der S-Agent in Vorleistung geht oder der Tausch simultan erfolgt, können analog definiert werden. Der Zusammenhang, in den wir das Vertrauensspiel stellen, bringt neben der üblichen Vertrauenswürdigkeit noch mindestens zwei weitere moralische Dimensionen ins Spiel. Zum einen könnte es für Agenten Anreize geben, hinsichtlich ihrer Kompetenz zu täuschen, um trotz niedriger Kompetenz einen ›Job‹ zu bekommen. Auch der P-Agent könnte einen Anreiz haben, ein anderes als sein tatsächliches Problem anzugeben, um einen sehr kompetenten S-Agenten anzulocken, der seinerseits jedoch von der Lösung des Problems eines anderen P-Agenten stärker profitieren würde. Zum anderen ist höhere Qualität in der Regel mit höheren Kosten verbunden. Man kann sich daher gut vorstellen, dass für S-Agenten ein Anreiz besteht, nicht die ihrer

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Kolloquium 21  ·  Rainer Hegselmann und Oliver Will

1

Der P-Agent braucht eine Lösung für Problem k. Er könnte es selbst lösen, doch die Lösungskompetenz des S-Agenten ist hoch genug dem P-Agent einen Anreiz zur Interaktion zu geben: (1 ) VALUE_ADDEDSk > VALUE_ADDEDPk [durch den Paarungsalgorithmus gesichert]

2

P: vertrauen oder misstrauen? misstrauen

vertrauen

3

5

P vertraut S: P zahlt S im Voraus COSTSSk + VALUE_ADDEDSk für die Lösung von Problem k.

Der P-Agent löst sein Problem k selbst.

6

S: gegenleisten or ausnutzen? 7

ausnutzen

Der S-Agent arbeitet nicht an der Lösung, behält aber die von P geleistete Vorauszahlung.

4

VALUE_ADDEDPk 0

COSTSSk +

gegenleisten

Der S-Agent erstellt eine Lösung, liefert sie an den PAgenten und behält die geleistete Vorauszahlung.

10

8

( COSTSSk +

9

VALUE_ADDEDSk ) VALUE_ADDEDSk

(1

) VALUE_ADDEDSk

VALUE_ADDEDSk

Abbildung 5. Vertrauensspiel in HUME1.0

Kompetenz nach bestmögliche Lösung zu liefern, sondern eine minderwertige.17 In unseren Vertrauensspiel sind also mindestens drei moralische Dimensionen angelegt: 1. Vertrauenswürdigkeit: Liefert der S-Agent nach Erhalt der Vorauszahlung auch eine Lösung? 2. Ehrlichkeit: Hat der S-Agent die angegebene Kompetenz zur Lösung des Problems tatsächlich? Hat der P-Agent tatsächlich das angegebene Problem oder ein anderes?

17  Technisch könnten wir ein Anstrengungsniveau l mit 0  l  1 einführen, das angibt zu welchem Grad der S-Agent sein Bestes gibt. Dieses Anstrengungsniveau hätte Auswirkungen auf die Auszahlungen der Agenten: Während die Auszahlungen des S-Agenten mit steigendem Anstrengungsniveau sinken würden, würden sich die Auszahlungen des P-Agenten bei steigendem l erhöhen.

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1135

3. Zuverlässigkeit: Tut der S-Agent sein Bestes, die höchste Qualität zu liefern, die seine Kompetenz erlaubt? Wir vereinfachen die Situation in HUME1.0 durch zwei Annahmen: Erstens gehen wir davon aus, dass Agenten untereinander ihre Kompetenzen und Probleme direkt beobachten können. Täuschungen (einschließlich Selbsttäuschungen) sind also ausgeschlossen bzw. Agenten können nur mit ihren tatsächlichen Kompetenzen und Problemen um Partner werben. Zweitens nehmen wir an, dass die S-Agenten immer die beste Lösung liefern, die sie mit ihrer Kompetenz erstellen können. Wir vernachlässigen also Probleme der Detektion des tatsächlich geleisteten Arbeitsaufwands. HUME1.0 konzentriert sich somit auf die Dynamik der Vertrauenswürdigkeit in einer Umwelt, in der Agenten bestimmte Probleme zu lösen haben und spezielle Lösungskompetenzen entwickelt werden können, die sich auf die Auszahlungen der Agenten auswirken. Dabei entsteht das Problem der Suche nach geeigneten Partnern, bei der gleichzeitig die Vertrauenswürdigkeit und die Kompetenz berücksichtigt werden muss.18

4.  Komponente3: Sozialstruktur HUME1.0 analysiert die Entwicklung von Vertrauen und Spezialisierung in zwei unterschiedlichen Sozialstrukturen. Im ersten Szenario gehen wir von einer gitterbasierten Netzwerkstruktur aus.19 Nachbarschaften überlappen sich und die Netzwerkdistanz ist entscheidend für die Wahl der Strategie in Tauschbeziehungen, die Verbreitung und Zuverlässigkeit von Informationen usw. Im zweiten Szenario ist die Population in Untergruppen partitioniert, deren Schnittmengen leer sind. Die Tauschbeziehungen zwischen den Agenten finden entweder innerhalb der Partitionen oder auf einem zentralen Markt statt. Dabei ist die Wahl zwischen Partition und Markt entscheidend für die Wahl der Strategie und die zur Verfügung stehenden Informationen der Agenten. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass in beiden Szenarios in jedem Zeitschritt die Hälfte der Population ein zufällig bestimmtes Problem k 2 K zugelost bekommt. In jeder Periode haben wir also 50% P- und 50% S-Agenten. 20 Vertrauensspiele sind für eine wachsende Zahl von Projekten bedeutend, die der Klärung der Frage, wie Vertrauen im elektronischen Handel und elektronischen Gemeinschaften hergestellt und stabilisiert werden kann, gewidmet sind. Ein zentrales Problem ist dabei das Design und die Implementierung von Mechanismen, die es erlauben Betrüger zu identifizieren. Einen Überblick geben S. D. Ramchurn / D. Huynh / N. R. Jennings, »Trust in Multi-Agent Systems« und J. Sabater / C. Sierra, »Review on Computational Trust and Reputation Models.« 19  Für eine Beschreibung und Diskussion gitterbasierter Modellierungsansätze siehe R. Hegselmann / A. Flache, »Understanding Complex Social Dynamics« und A. Flache / R. Hegsel­ mann,»Do Irregular Grids make a Difference?.« 20  Unser Konzept würde es auch erlauben, dass P- und S-Agent nur Rollen sind und ein Agent in einer Periode beide gleichzeitig einnehmen kann. Ein Agent könnte dann nach einem Experten suchen, der sein Problem löst und zugleich seine Fähigkeiten anderen Agenten anbieten. Dadurch wird die Paarbildung jedoch sehr viel komplizierter und aus diesem Grund erlauben wir dies zum jetzigen Stand des Modells nicht. 18 

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Kolloquium 21  ·  Rainer Hegselmann und Oliver Will

Das erste Szenario bezeichnen wir als gitterdistanzbasiertes Szenario (GD-Szenario). Die Agenten leben auf einer niedrig-dimensionalen Gitterstruktur (1-dimensional, 2-dimensional, rektangular, hexagonal, irregulär im Sinne von Vorronoi-Diagrammen). Nachbarschaften sind durch Netzwerkdistanz definiert und überlappen einander. In dieser Struktur sind zwei Attribute nötig, die das Verhalten der Agenten bestimmen. 1. Innerhalb eines individuellen und dynamischen Radius, der sich auf die Netzwerkdistanz bezieht, suchen P-Agenten nach vertrauenswürdigen S-Agenten, die eine möglichst hohe Kompetenz zur Lösung ihres Problems haben. Wir nennen diesen Radius den Suchradius eines P-Agenten, formal ausgedrückt durch​ r ​P_search ​ (t). (Details des Paarbildungsprozesses und der Dynamik des Suchradius i​  werden später beschrieben.) 2. S -Agenten liefern nur in solchen Interaktionen eine Lösung, in denen die Netzwerkdistanz zu ihrem Partner kleiner ist als ihr individueller und dynamischer Gegenleistungsradius, ​r ​S_reward ​ (t). Übersteigt die Distanz zum P-Agenten den i​  Suchradius, liefert der S-Agent keine Lösung, sondern behält die Vorauszahlung ohne Gegenleistung – falls er die Gelegenheit dazu bekommt.

Abbildung 6. Die zwei Sozialstrukturen in HUME1.0: auf Partitionen und Markt basierend (links) und gitterdistanzbasiert (rechts)

In kompakter Notation können wir die Agenten im GD-Szenario durch den folgenden Entscheidungsvektor charakterisieren: ​D ​GD ​ r​P_search ​(t), ​r ​S_reward ​ (t)i. i​  ​ (t) = h i​  i​ 

(10)

Gleichung 10 umfasst die moralischen Attribute von Agent i im Zeitschritt t. (Die technischen Fähigkeiten finden sich dagegen im Kompetenzvektor C i(t).) Die zweite Komponente, der Gegenleistungsradius, repräsentiert im Modell Humes Tugend der Gerechtigkeit. Man könnte auch sagen, dass dieser Radius die Grenze festlegt, innerhalb derer ein Agent bereit ist, ein gerechter Agent zu sein.

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1137

Das zweite Szenario ist das auf Partitionen und Markt basierende PM-Szenario. Die Agenten sind auf eine exogen bestimmte Zahl von Partitionen, d. h. kleine Gruppen wie Familien, Stämme, Dörfer zu denen sie gehören, verteilt. Migration zwischen den Gruppen könnte – kontrolliert durch einen exogenen Parameter – realisiert werden. 21 Wie im GD-Szenario bekommen in jedem Zeitschritt 50% der Agenten eines von K unterschiedlichen Probleme. P- und S-Agenten entscheiden, ob sie in ihrer Partition oder auf einem globalen Markt nach Partnern suchen. Das Entscheidungsverhalten der Agenten ist mit Wahrscheinlichkeiten modelliert: 1. Jeder Agent i hat eine individuelle und dynamische Wahrscheinlichkeit, ​p ​P_market ​ (t), i​  als P-Agent auf dem Markt nach einem Partner zu suchen. Die Gegenwahrscheinlichkeit, ​p ​P_local ​(t) = 1 – ​p ​P_market ​(t), ist entsprechend die Wahrscheinlichkeit einen i​  i​  vertrauenswürdigen und möglichst kompetenten Partner innerhalb der Partition zu suchen. Analog dazu ist das Verhalten für die Zeitschritte modelliert, in denen ein Agent kein Problem hat. ​p ​S_market ​(t) ist die Wahrscheinlichkeit als S-Agent auf i​  S_local den Markt zu gehen.​ p ​i​  ​(t) = 1 – ​p ​S_market ​ (t) ist die Wahrscheinlichkeit, als Si​  Agent einen Partner innerhalb der Partition zu suchen. 2. S -Agenten liefern mit einer individuellen und dynamischen Wahrscheinlichkeit nach geleisteter Vorauszahlung Lösungen. Dabei wird zwischen Interaktionen innerhalb der Partitionen und auf dem Markt unterschieden. ​p ​S_reward_market ​(t) ist i​  die Wahrscheinlichkeit des S-Agenten i auf dem Markt eine Lösung zu liefern.​ p ​S_reward_local ​(t) ist die entsprechende Wahrscheinlichkeit für den Fall einer lokai​  len Interaktion. Auch im PM-Szenario können wir die Agenten in kompakter Form durch einen Entscheidungsvektor charakterisieren. Dieser enthält im PM-Szenario die vier oben beschriebenen Komponenten: 22 P_market ​D ​PM ​(t), p ​ S_market ​(t), p ​  ​S_reward_local ​(t), ​p ​S_reward_market ​(t)i. i​  ​(t) = h​p ​i​  i​  i​  i​​ 

(11)

Die Komponenten drei und vier des Entscheidungsvektors ​D ​PM i​  ​(t) repräsentieren Humes Tugend der Gerechtigkeit bzw. den Grad, in dem ein Agent diese Tugend internalisiert hat. Es gibt natürlich weitere strukturelle Szenarien, die in späteren Versionen des Modells analysiert werden sollten. Vielversprechende Kandidaten sind Netzwerkstrukturen, die nicht auf Gittern basieren: Statt einer konstanten Anzahl von VerUnter Anthropologen scheint Austausch von Gruppenmitgliedern ein weithin akzeptiertes Faktum vorgeschichtlicher Gesellschaften zu sein. 22  Das PM-Szenario hat Ähnlichkeiten mit einem Model von Michael Macy und Yoshimichi Sato (M. Macy / Y. Sato, »Trust, Cooperation, and Market Formation in the US and Japan«). Es gibt aber – neben anderen – einen gewichtigen Unterschied: Wir differenzieren die Wahrscheinlichkeit eine Gegenleistung zu liefern danach, ob die Interaktion lokal oder auf dem Markt stattfindet. HUME1.0 erlaubt so die Analyse von Macy und Satos Hypothesen in einem ähnlichen – aber plausibleren – Szenario. Dies ist auch deshalb interessant weil die Ergebnisse von Macy und Sato in einer früheren Arbeit nicht repliziert werden konnten (O. Will / R. Hegselmann, »A Replication That Failed«, M. Macy / Y. Sato, »Reply to Will and Hegselmann« und O. Will / R. Hegselmann, »Remark on a Reply«). 21 

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bindungen zwischen Netzwerkknoten könnten die Verbindungen von einer Wahrscheinlichkeitsverteilung bestimmt werden. Gitter sind sehr komfortabel, wenn man Strukturen mit überlappenden Nachbarschaften zu analysieren hat oder modellieren möchte. Wenn eine Gitterstruktur aber untypisch für das zu modellierende System ist und man gleichzeitig davon ausgehen muss, dass die Topologie einen signifikanten Einfluss auf die Dynamik hat, dann ist die Verwendung von Gittern problematisch. Beispielsweise hat das GD-Szenario sehr große Durchmesser der Netzwerke zur Folge. Reale soziale Netzwerke weisen dagegen oft einen überraschend kleinen Durchmesser auf. Es liegt daher nahe Strukturen zu untersuchen, die zwar Netzwerke sind, aber nicht auf Gittern basieren. Interessant könnte auch ein PM-Szenario sein, in dem innerhalb der Gruppen Netzwerkstrukturen vorliegen, die beispielsweise das soziale Lernen oder die Ausbreitung von Informationen beeinflussen.

5.  Komponente4: Paarbildung Das Vertrauensspiel ist ein 2-Personenspiel und deshalb müssen in HUME1.0 Paare von Agenten gebildet werden. Dabei entstehen zwei Probleme: Erstens sind P-Agenten nur an Interaktionen mit vertrauenswürdigen S-Agenten interessiert, weil sonst ihr Vorauszahlung verloren geht. Zweitens haben P- und S-Agenten ein Interesse an Paarungen, in denen die Kompetenz des S-Agenten und das Problem des P-Agenten gut zusammenpassen. Im Falle eines funktionierenden Tauschs ist die Auszahlung für den S-Agenten höher, wenn er ein Problem bearbeitet, für das seine Kompetenz am höchsten ist. Auch die Auszahlung des P-Agenten ist um so höher, je kompetenter der S-Agent ist. Auf dieser Ebene gibt es also keinen Interessenskonflikt zwischen den beiden Typen von Agenten. Es kann allerdings Konkurrenz um einen P-Agenten geben, dessen Problem für viele S-Agenten attraktiv ist. Außerdem könnten viele P-Agenten am selben S-Agenten interessiert sein, wenn dieser über die entsprechenden Kompetenzen verfügt. Im Wesentlichen konfligieren die Interessen von P- und S-Agenten aber nicht. 23 Das erste Problem ist ein Detektionsproblem: P-Agenten versuchen die Vertrauenswürdigkeit von S-Agenten zu ermitteln. Dies ist sozusagen die moralbezogene Komponente der Paarung. Das zweite Problem ist kein Detektionsproblem, weil wir in dieser Version des Modells annehmen, dass die Kompetenzen und Probleme direkt sichtbar sind. Das eigentliche Problem der Agenten besteht darin, möglichst effiziente Paare zu bilden. Die Paarungsproblematik beinhaltet also beides, eine moral- und eine effizienzbezogene Komponente. Paarbildung ist eine komplizierte Angelegenheit. Betrachten wir zunächst die moralbezogene Komponente: Es sind verschiedene Quellen denkbar, aus denen P-Agenten 23  Im Falle von S-Agenten, die ihre Partner ausnutzen wollen, könnte die Situation anders aussehen. Abhängig von den Parametern, β, σ und φ könnte ein Betrüger den höchsten Payoff bekommen, wenn er ein Problem akzeptiert, das nicht mit seiner höchsten Kompezenz korrespondiert.

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Informationen über die Vertrauenswürdigkeit möglicher Partner gewinnen könnten: Reputation, Signalgebung oder Erfahrungen, die Agenten in der Vergangenheit gemacht haben, sind vielleicht die wichtigsten. Reputation ist eine Art Vorstellung von der Meinung, die andere Agenten über einen Agenten haben. Es ist eine intersubjektiv mehr oder weniger konsistente und mehr oder weniger verlässliche Information, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit verbreitet. Reputation kann aufgebaut werden, aber auch verloren gehen und es können Anreize bestehen, die Reputation anderer zu destruieren. S-Agenten könnten dadurch z. B. ihre Chancen, einen Job zu bekommen, erhöhen. Signalgebung betrifft all die subtilen, nicht intendierten Signale, die etwas über die Intentionen und Charakterzüge eines Agenten verraten. Frühere Erfahrungen könnten genutzt werden, um Vermutungen über die Vertrauenswürdigkeit von S-Agenten abzuleiten. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich der Charakter der Agenten in der Zwischenzeit geändert haben kann. Hinsichtlich der Effizienzproblematik ist die Situation nicht viel weniger komplex. Wir nehmen zwar an, dass allen Agenten die wahren Kompetenzen und Probleme bekannt sind (vgl. Abschnitt 3), doch müssen die Agenten die angebotenen Kompetenzen und Probleme vergleichen. Die Paarbildung wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass einige Agenten noch nach Informationen suchen, während andere bereits Vereinbarungen treffen und so das Angebot verändern. In HUME1.0 werden wir gar nicht erst versuchen, die sozialen und kognitiven Prozesse und Fähigkeiten, die in einem solchen Paarungsprozess eine Rolle spielen können, explizit zu modellieren. Stattdessen verwenden wir ein Paarungsmodul, das direkt Paarungen generiert, die bestimmte erwünschte Eigenschaften aufweisen. Zum Verständnis der Paarungsprozedur sind die folgenden Vorabhinweise hilfreich: (a) im GD-Szenario ist für eine gegebene Netzwerkdistanz zwischen einem beliebigen P-Agenten i und S-Agenten j bereits durch den Entscheidungsvektor ​D ​GD i​  ​(t) (siehe Gleichung 10) determiniert, ob der S-Agent in einer Paarung hi, j i im Zeitschritt t eine Lösung liefern würde oder nicht. Weiterhin ist im Suchradius von i festgelegt, ob die Paarung überhaupt möglich ist oder nicht. (b) Anders sieht es im PM-Szenario aus, denn dort enthält der Entscheidungsvektor, ​D ​PM i​  ​ (t), vier Wahrscheinlichkeiten (siehe Gleichung 11) und somit ist das tatsächliche Verhalten der Agenten nicht bereits vor der Paarung fixiert. Eine Fixierung des Verhaltens erreichen wir durch die Annahme, dass die Paarungsprozedur erst startet, nachdem, erstens, bestimmt ist welche Agenten die P- und welche die S-Rolle annehmen und, zweitens, für alle Agenten ihr Verhalten unter Benutzung der Wahrscheinlichkeiten in ihren Entscheidungsvektoren bestimmt wurde. Wir nennen diese Annahme die Erst-Entscheiden-Annahme und stellen ihr später die Erst-Paaren Alternative gegenüber. Konsequenz dieser Annahme ist, dass wir in beiden Szenarios bei der Bildung der Paare von S-Agenten ausgehen können, die bereits entschieden haben, ob sie in der aktuellen Periode eine Lösung liefern würden oder nicht. Nach diesen Hinweisen können wir nun zu einer Beschreibung der Ideen und Annahmen unseres Paarungsmoduls kommen, durch das wir die explizite Modellierung des komplexen Paarungsprozesses vermeiden.

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1. Im GD-Szenario ist eine Paarung hi, j i nur dann möglich, wenn der S-Agent j sich innerhalb des Suchradius des P-Agenten i befindet. Im PM-Szenario sind nur solche Paarungen möglich, in denen beide Agenten am gleichen Ort nach einem Partner suchen, d. h. entweder beide Agenten auf dem Markt oder in der gleichen Partition auf Partnersuche sind. Alle Paarungen, die diesen Anforderungen nicht genügen, sind ausgeschlossen. 2. Eine Paarung hi, j i ist nur möglich, wenn die Auszahlung, die der P-Agent im Fall einer Bearbeitung seines Problems durch den S-Agenten erhalten würde, größer ist als diejenige, die er bekäme, wenn er selbst an seinem Problem arbeiten würde. Alle Paarungen, für die das nicht zutrifft, sind ausgeschlossen. Welche Paare nach diesem Kriterium zulässig sind, hängt von den Kompetenzen der Agenten und dem exogen bestimmten Anteil des S-Agenten an der Wertschöpfung ab. Abbildung 7 zeigt den Gewinn, den ein P-Agent im Vergleich zu seiner selbsterstellten Lösung machen würde, für verschiedenen Kombinationen von Kompetenzen des P- und S-Agenten.

2.0 1.5

1.0

1.0 0.5 0.0 0.0

0.5 competence S 0.5 competence P 1.0

0.0

Abbildung 7. Welche Paarungen sind für den P-Agenten interessant? Vertikale Achse: Differenz zwischen der Auszahlung des P-Agenten bei gelieferter Lösung durch den S-Agenten und der Auszahlung für den Fall, dass der P- Agent sein Problem selbst löst. (β = 0.2; φ = 4.0; σ = 0.25)

3. Wir nehmen an, dass jeder Agent über eine Technologie zur Detektion der Vertrauenswürdigkeit potentieller Partner verfügt. Diese Technologie funktioniert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit p und in Abhängigkeit von der sozialen Distanz zwischen den Agenten. Mit der Gegenwahrscheinlichkeit (1 – p) werden vertrauenswürdige S-Agenten für Betrüger gehalten und umgekehrt. Die Zuverlässigkeit der Detektion wird mit steigender Distanz, also bei Marktinteraktion oder größerer Netzwerkdistanz zwischen den Agenten, schlechter. Diese Detektionstechnologie könnte auf Reputation, Signalgebung oder der Verarbeitung zuvor gemachter Erfahrungen so wie einer beliebigen Kombination dieser Quellen basieren. P-Agenten nutzen diese Technologie, um die S-Agenten in vertrauens-

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würdige und solche, denen sie nicht vertrauen, einzuteilen. Wenn in Periode t der P-Agent i den S-Agenten j nicht als vertrauenswürdig betrachtet, ist die Paarung hi, j i in t nicht möglich. Alle Paarungen dieser Art werden ausgeschlossen. 4. In Abhängigkeit von den jeweiligen Problemen, Kompetenzen und intendierten Verhaltensweisen variieren die Auszahlungen in den möglichen Paarungen. Aus ihrer Kenntnis der möglichen Partner und der entsprechenden Auszahlungen könnten die Agenten eine Präferenzordnung über die potentiellen Partner des jeweils anderen Typs erstellen. Man kann unser Paarungsproblem daher als stable marriage problem ansehen für das es (typ-)optimale Lösungen gibt.24 Optimale Paarungen sind dabei im Sinne von Stabilität definiert: A particular matching is unstable if there are two parties who are not matched with each other, each of whom strictly prefers the other to his / her partner in the matching … A stable matching is … a matching that is not unstable.25 Auf den ersten Blick liegt es nahe, den Gale-Shapley-Algorithmus26 für die Paarung zu verwenden, da dieser beweisbar optimale Lösungen liefert. Dies würde aber wohl implizieren, dass die Paarungen von einer allwissenden, zentralen Autorität bzw. einem Sozialplaner bestimmt werden. 27 Sogar extrem intelligente und schnelle Agenten könnten eine solche Lösung des Paarungsproblems nicht finden, wenn ihre Kommunikation und ihr Wissen, wie hier angenommen, nur lokal ist. Paarungen, die durch den Gale-Shapley-Algorithmus generiert werden, können daher nicht plausibel als Folgen eines dezentralen sozialen Prozesses interpretiert werden, in dem die Agenten nur lokales und beschränktes Wissen haben. Auf der anderen Seite sollte die Bildung der Paare in HUME1.0 nicht zufällig erfolgen. Unsere dezentrale Paarbildung sollte weniger gut als eine perfekte Lösung, aber doch besser als eine bloß zufällige Paarung sein: Die Agenten in HUME1.0 sollten in der Lage sein, sich so zu paaren, dass attraktivere Paarungen im Durchschnitt wahrscheinlicher auftreten. Die Präferenzen von P- und S-Agenten sollten dabei gleichermaßen berücksichtigt werden. Um diese Effekte zu erreichen, transformieren wir höhere erwartete Auszahlungen von Paarungen in höhere Wahrscheinlichkeiten, dass diese Paarungen gebildet werden. 5. Alle P-Agenten, die keinen Partner finden, lösen ihr Problem selbst. Übrig gebliebene S-Agenten bekommen in der aktuellen Periode eine Auszahlung von Null.

In unserem Fall sind allerdings einige Bedingungen nicht zwingend erfüllt: Die Anzahl der P- und S-Agenten muss nicht gleich sein und die Präferenzen müssen nicht strikt und komplett sein. Es ist aber möglich Stabilitätskonzepte so auszuweiten, dass sie auch unter diesen schwächeren Bedingungen funktionieren. 25  D. Gusfeld / R. W. Irving, The Stable Marriage Problem, 2; siehe auch A. E. Roth / M. A. O.  Soto­mayor, Two-sided Matching. 26  Siehe Dan Gusfeld / R. W. Irving, The Stable Marriage Problem, 2; Fußnote 9, für eine Beschreibung des Algorithmus. 27  Wie z. B. im »National Resident Matching Program« (NRMP) mit dem in den USA die Verteilung von Medizinstudenten auf Krankenhäuser geregelt wird. 24 

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Eine mehr technische und detailliertere Beschreibung des Paarungsalgorithmus findet sich in R. Hegselmann / O. Will, »Modelling Hume’s moral and political theory«. Bisher haben wir angenommen, dass die strategische Entscheidung der S- Agenten, eine Gegenleistung zu erbringen oder ihren Partner auszunutzen, bereits zu Beginn des Paarungsprozesses feststeht. Mittels der Detektionstechnologie versuchen P-Agenten dabei die Entscheidungen der S-Agenten zu ermitteln. Im PM-Szenario enthält der Entscheidungsvektor Wahrscheinlichkeiten und ist daher für einen alternativen Ansatz geeignet. Dieser besteht darin, dass die P-Agenten mittels ihrer Detektionstechnologie versuchen, die Wahrscheinlichkeiten herauszufinden, mit der ihre potentiellen Partner eine Gegenleistung erbringen. Dabei sollte die Genauigkeit dieser wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit auf dem Markt schlechter sein als in den Partitionen. Technische Details eines solchen Ansatzes finden sich in O. Will, »An Agent-Based Model on the Evolution of Trust in Strangers and Division of Labour«. An der Paarungsproblematik wird die zentrale, treibende Dialektik des Modells HUME1.0 deutlich: Wenn jederzeit Lösungen hoher Qualität verfügbar sein sollen, müssen Tauschbeziehungen zwischen Agenten, die sowohl spezialisiert als auch vertrauenswürdig sind, bestehen. Hochspezialisierte Lösungen zu finden, bedeutet in der Regel Partner zu suchen, die in einer größeren Distanz stehen. Tausch mit Partnern, zu denen eine größere soziale Distanz besteht, ist aber gleichzeitig gefährlich, da die Detektion der Vertrauenswürdigkeit weniger gut funktioniert und für die eine Seite immer ein Anreiz zum Betrug besteht, der die andere Seite teuer zu stehen kommt.

6.  Methodische Exkurs: Prozesse repräsentieren versus Effekte generieren Sowohl für die Modellierung der Paarungsbildung wie auch die der Detektion von Vertrauenswürdigkeit benutzen wir short cuts. Der in Abschnitt 5 beschriebene Ansatz vernachlässigt die typischen oder stilisierten Details der Handlungen, die Agenten bei der Lösung eines Paarungsproblems, wie es sich in HUME1.0 stellt, ausführen müssen. Das Paarungsmodul des Modells generiert vielmehr Effekte, von denen wir, die Modellierer, annehmen, dass Agenten sie tatsächlich hervorbringen könnten – gegeben all ihre vielfältigen Limitierungen. Die Aktivitäten und Fähigkeiten der Agenten sind dabei nicht explizit modelliert. Sie explizit zu machen ist natürlich möglich. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass die Agenten eine bestimmten Sichtweite haben, innerhalb derer sie die Charakteristika anderer Agenten wahrnehmen können. Nur wenn zwei Agenten beide in Sichtweite des jeweils anderen wären, würden die beiden einander kontaktieren, Verhandlungen führen, schließlich eine Vereinbarung treffen können, usw. Wenn Explizitheit das einzige Ziel der Modellierung ist, ist es natürlich ein Nachteil grundlegende Prozesse nicht explizit zu modellieren. Auf der anderen Seite erleichtert das direkte Generieren gewünschter Effekte die Analyse anderer Komponenten des Modells. Dazu müssen die erwünschten Effekte natürlich klar dargestellt und tatsächlich erzielt werden. Eine explizite Modellierung, die nicht zu den gewünschten Effekten führt oder deren Effekte nicht bekannt sind, ist im Hinblick auf die Adäquatheit der Annahmen problematisch.

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Man kann offenbar zwei Typen von Modellkomponenten unterscheiden: effektgenerierende und prozessrepräsentierende Module. In der Regel enthalten Modelle beide Typen von Modulen. Im Fortgang der Modellierung können korrespondierende Module möglicherweise gegenseitig zur Überprüfung dienen. Wenn man beispielsweise einiges Vertrauen in ein effektgenerierendes Modul hat und gerade an einer entsprechenden prozessrepräsentierenden Komponente arbeitet, kann anhand des effektgenerierenden Moduls die Adäquatheit des prozessrepräsentierenden getestet werden. Dies setzt natürlich voraus, dass man die Effekte der beiden Module überhaupt von denen anderer Modellkomponenten separieren kann. Zudem ist es möglicherweise gar nicht leicht zu zeigen, dass ein effektgenerierendes Modul die behaupteten Effekte (und nicht noch unerwünschte andere) auch tatsächlich hervorbringt. Als black box werden solche Komponenten oft bezeichnet, die wir lieber effektgenerierende Module nennen möchten. So ist beispielsweise unser Paarungsmodul kein prozessrepräsentierendes Modul. Trotzdem wäre es irreführend, es als eine black box zu bezeichnen, da die Funktionsweise in jeder Hinsicht verständlich, transparent und in gewisser Weise sogar explizit ist. Es könnte ein gute Idee sein, während der Modellierung bereits auf der Ebene von Flussdiagrammen und Pseudo-Code diejenigen Module zu kennzeichnen, die effektgenerierend sind und plausible Erläuterungen hinzuzufügen, die diejenigen Prozesse angeben, die mit dem Modul erfasst werden sollen. Natürlich muss zu den meisten Modulen eines Models eine informale Interpretation und Erklärung geliefert werden. Der Punkt ist aber, dass im Falle von effektgenerierenden Modulen die Interpretation den Hinweis beinhalten muss, dass das Modul nicht die tatsächlichen Vorgänge darstellt – nicht einmal in stilisierter Form – und auch gar nicht mit einem solchen Ziel entworfen wurde.

7.  Komponente5 : Moralische Charaktertransformation Die Agenten in HUME1.0 sind durch ihre technischen Fähigkeiten und moralischen Eigenschaften charakterisiert. Erstere werden in ihrem Kompetenzvektor ​C​i​(t) (siehe  1), GD PM letztere in den Entscheidungsvektoren D​    ​( t) und D​      ​(t) (siehe 10 und 11) in Abschnitt i i 5) erfasst. Wie in Abschnitt 2 beschrieben, entwickeln sich die technischen Kompetenzen durch das Bearbeiten von Problemen. Auch die moralischen Charakterzüge verändern sich. Sie entwickeln sich, d. h. prägen sich im Laufe der Zeit weiter aus oder gehen zurück: Im GD-Szenario verändert sich der Such- und der Gegenleistungsradius. Im PM-Szenario verändern sich alle vier Komponenten des Entscheidungsvektors: Es kann wahrscheinlicher oder unwahrscheinlich werden, dass ein Agent als P- oder S-Agent auf dem Markt geht und als S-Agent eine Lösung produzieren würde. Agenten können Moralität also lernen und verlernen. Es gibt verschiedene Weisen zu lernen. Wie auch immer im Detail gelernt werden mag, unsere grundsätzliche Annahme ist, dass Moral erfolgsabhängig gelernt wird. Moral breitet sich aus, wenn sie sich auszahlt; sie entwickelt sich zurück, wenn Moral eine Verliererstrategie ist.

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Zwei Haupttypen des Lernens sind Imitation und systematisches Ausprobieren (»trial and error«). In unserem Kontext könnte Imitation bedeuten, dass Agenten ihre Auszahlungen vergleichen und die Entscheidungsvektoren erfolgreicher Agenten kopieren. Systematisches Ausprobieren funktioniert individuell und ohne soziale Vergleiche. Im Kontext von HUME1.0 würden Agenten mit verschiedenen Werten in ihren Entscheidungsvektoren herumprobieren und Werte, die zu höheren Auszahlungen führen, hätten höhere Wahrscheinlichkeiten, wieder benutzt zu werden (reinforcement learning). Natürlich gibt es unzählige Varianten dieser beiden Typen. Für den Anfang implementieren wir in HUME1.0 eine Form des Lernens durch Imitation. Das Grundprinzip besteht darin, dass Agenten Komponenten aus dem Entscheidungsvektor eines Rollenmodells, d. h. des erfolgreichsten Agenten in ihrer Nähe, übernehmen. Die Details sehen wie folgt aus: 1. Erfolg wird anhand der Auszahlungen bemessen. Dabei ist aber nicht nur die Auszahlung der aktuellen Periode, sondern ein aggregierter Wert aller bisherigen Auszahlungen relevant. Wenn ​​j​(t) die Auszahlung eines Agenten j im Zeitschritt t ist, dann ergibt sich die aggregierte Auszahlung aus: ​ j​​(t) +  ·  ​ ​j​(t – 1). ​​j​(t) = 

(12)

Die Auszahlungen der Vergangenheit werden mit dem Faktor  (0    1) abdiskontiert.  ist ein exogener Parameter des Modells. Ist  = 1 dann ist Erfolg mit der Summe aller jemals erzielten Auszahlungen identisch; bei  = 0 ist für den Erfolg ausschließlich die Auszahlung der aktuellen Runde relevant. 2. Das Bestimmen der Teilmenge der Agenten, aus denen ein Agent i sein Rollenmodell wählt (im Folgenden als Lernpool bezeichnet), unterscheidet sich in den beiden Szenarios. Im PM-Szenario wird der Lernpool zufällig aus den Agenten seiner Partition gezogen. Die Poolgröße ist ein exogener Parameter. Im GD-Szenario besteht der Lernpool aus den Agenten einer Lernnachbarschaft. Die Nachbarschaft ist dabei durch einen Radius exogen gegeben, der sich auf die Netzwerkdistanz zwischen den Agenten bezieht. Das Lernen ist daher je nach Größe des Radius mehr oder weniger lokal. Der Lernradius verändert sich im Laufe der Simulation nicht. Zur Untersuchung der Evolution der Moralität scheint ein verhältnismäßig kleiner Radius eine plausible Annahme zu sein. 3. Nehmen wir an, dass es in Periode t einen erfolgreichsten Agenten j in Agent is Lernpool gibt und zudem gilt, dass i  j und ​j​​(t)  ​​i​(t). Dann imitiert i den Agenten j in folgender Weise: Komponente für Komponente wird der Wert in js Entscheidungskomponten mit der Wahrscheinlichkeit  in die entsprechende Komponente in is Entscheidungsvektor kopiert. Die Wahrscheinlichkeit ist exogen gegeben. Wenn es keinen erfolgreicheren Agenten als i gibt findet keine Imitation statt. Die beschriebene Variante des Lernens generiert neue Kombinationen von Werten in den Entscheidungsvektoren der Agenten; sie generiert aber keine neuen Werte. Um diesen Mangel an Innovation zu überwinden, führen wir zusätzlich zum Lernen Mutatio-

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nen ein: In jeder Periode verändert sich jede Komponente im Entscheidungsvektor jedes Agenten mit einer geringen Wahrscheinlichkeit, . Ein weiterer Parameter, , bestimmt die Größe der Veränderung. Die Richtung der Mutation (größer oder kleiner) wird zufällig bestimmt. Die Parameter  und  sind exogen gegeben.

8.  Erste Resultate und Forschungsperspektiven In den Abschnitten (2) bis (7) haben wir die wichtigsten Komponenten von HUME1.0 vorgestellt. Periode für Periode durchläuft das Modell eine Schleife, in der all diese Komponenten involviert sind. Abbildung 8 zeigt, wie die Komponenten in der zentralen Schleife des Modells angeordnet sind. Start Probleme zuweisen

Die Natur weist einer Teilmenge der Agenten zufällig Probleme verschiedener Typen zu. Diese Agenten werden P-Agenten genannt.

Paarbildung

Agenten ohne Probleme bieten ihre Lösungskompetenzen an. Diese Agenten werden S-Agenten genannt. P-Agenten suchen nach SAgenten, die kompetent und vertrauenswürdig sind. Eine Paarung ist sowohl für den P- wie auch S-Agenten umso attraktiver je besser Problem und Lösungskompetenz zusammenpassen. Je größer die Zahl möglicher Partner ist desto größer ist die Chance einen passenden Partner zu finden, doch desto geringer wird die Zuverlässigkeit mit der die Vertrauenswürdigkeit der Agenten eingeschätzt wird.

Interaktion

Austausch zwischen P- und S-Agenten ist riskant. Die Agenten spielen das Vertrauensspiel. Entweder die P- oder die S-Agenten müssen in Vorleistung treten und erst danach entscheidet der jeweilige Partner ob er eine Gegenleistung erbringt oder nicht.

Lernen

In Abhängigkeit vom Erfolg transformiert sich der Charakter der Agenten (moralisches Lernen: Evolution von Tugenden). Durch das Lösen eines bestimmten Problems wird ein Agent besser darin es zu lösen (technisches Lernen: Arbeitsteilung)

Abbildung 8. Die zentrale Schleife in ​HUME​1.0​

Die Schleife implementiert einen dialektischen Prozess: Wenn jederzeit Lösungen hoher Qualität verfügbar sein sollen, müssen Tauschbeziehungen zwischen Agenten bestehen, die sowohl spezialisiert als auch vertrauenswürdig sind. Hoch spezialisierte Lösungen zu finden, bedeutet in der Regel, Partner zu suchen, die in einer größeren sozialen Distanz stehen. Tausch mit Partnern, zu denen eine größere Distanz besteht, ist aber gefährlich, da die Detektion der Vertrauenswürdigkeit weniger gut funktioniert und für die eine Seite immer ein Anreiz zum Betrug besteht, der die andere Seite teuer zu stehen kommt. Gleichzeitig könnte großer Wohlstand generiert werden, wenn Vertrauen in Fremde und globale Vertrauenswürdigkeit entstehen würden.

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HUME1.0 ist mehr als ein Programmierungsentwurf. Es ist ein lauffähiges Computermodell. In einer Version implementiert es das PM-Szenario. Eine andere Version implementiert ein GD-Szenario in einer 1-dimensionalen Welt: 500 Agenten leben auf einem Ring und können Tauschbeziehungen mit den Nachbarn links und rechts von ihnen eingehen (siehe Abbildung 6, rechts). HUME1.0 erlaubt Experimente mit künstlichen Gesellschaften in einer künstlichen Welt. Über eine komfortable Benutzeroberfläche können Parameterkonstellationen für die zu untersuchende soziale Dynamik festgelegt werden (siehe Abbildung 9).

Abbildung 9. Steuerelement für das GD-Szenario in ​HUME​1.0​. Im weißen Fenster können lineare oder nicht-lineare Detektionsfunktionen per Mausklick definiert werden: Mit größer werdender Netzwerkdistanz fällt die Wahrscheinlichkeit die Intention potentieller Partner korrekt einzuschätzen.

In verschiedenen Fenstern können laufende Dynamiken in HUME1.0 statistisch analysiert werden. Eines dieser Fenster ist in den Abbildung 10 und 11 zu sehen. Für das GD-Szenario zeigt es die Veränderung der Häufigkeiten der möglichen Entscheidungsvektoren ​hr​search ​(t), ​r ​reward ​ (t)i an. Auf der X-Achse ist der Suchradius und auf der  i​  i​  Y-Achse der Gegenleistungsradius abgetragen. Jede Kombination hx, yi repräsentiert einen der möglichen Entscheidungsvektoren. Unterschiedliche Graustufen zeigen die Häufigkeit des jeweiligen Vektors an. Wenn die Verteilung der Vektoren mit der Zeit nach Nordosten wandert, nimmt die künstliche Gesellschaft einen evolutionären Pfad in Richtung globaler Tauschbeziehungen.

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Abbildung 10. Dynamik der Häufigkeiten der Entscheidungsvektoren im GD-Szenario. X-Achse: Suchradius. Y-Achse: Gegenleistungsradius. Die Graustufen geben die Häufigkeit der jeweiligen hx,yi Kombination an. Schwarz: der Entscheidungsvektor kommt nicht vor. Ganz im Geiste Humes startet eine Gesellschaft mit einer Häufigkeitsverteilung, die unten links angesiedelt ist, d. h. bei Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit in kleinen Gruppen. Weißer Kreis: Durchschnittswert in der aktuellen Periode.

Abbildung 11. Die Dynamik, die in Abbildung 10 startete, einige tausend Perioden später: Die Radien der Agenten haben sich deutlich vergrößert. Weißer Kreis: Aktueller Durchschnittswert. Weißes Kreuz: Aktueller Medianwert. Offensichtlich hat die Gesellschaft einen Pfad in Richtung globaler Austauschbeziehungen eingeschlagen.

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Bislang ist ​HUME​1.0​ nicht hinreichend analysiert. Die systematische Exploration des Parameterraums hat gerade erst begonnen. Das Herumspielen mit den Parametern zeigt aber schon ganz deutlich, dass die Evolution globaler Tauschbeziehungen, die auf Arbeitsteilung, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit beruhen, kein selbstverständlicher Prozess ist. Manchmal funktioniert es, oft aber auch nicht. Es gibt eine große Menge von Problemen, die analysiert werden müssen. Im Folgenden sind einige von ihnen in thematischer Sortierung aufgelistet: 1. Effizienz der Tauschbeziehungen: (a)  Kann man typische Bedingungen oder Konstellationen angeben unter denen die dezentrale moralische Kontrolle ausreicht, damit eine wohlhabende Gesellschaft von Agenten entstehen kann, in der durch einen hohen Grad an Spezialisierung fast jedes Problem einer guten Lösung zugeführt wird? (b)  Gibt es typische Bedingungen oder Konstellationen unter denen die dezentrale moralische Kontrolle normalerweise nicht ausreicht und eine zentrale Durchsetzungsinstitution erforderlich scheint? 2. Der Weg zu globalen Tauschbeziehungen: (a)  Gibt es typische Trajektorien der Werte in den Entscheidungsvektoren ​D ​GD i​  ​(t) und​ PM D ​i​  ​(t)? Ist es ein linearer oder eher sprunghafter Prozess? (b)  Wenn sich Moralität und Arbeitsteilung entwickelt, wie sieht es mit der Wahrscheinlichkeit von Rückschlägen, tödlichen Spiralen etc. aus und unter welchen Umständen treten sie in der Regel auf? 3. Charaktertransformation: (a)  Spielt die implementierte Variante des Lernens ein Rolle? Welchen Einfluss hat die durch  kontrollierte Geschwindigkeit des Lernens? Sind die Werte der Entscheidungsvektoren in t = 0 wichtig? Was kann man über den Einfluss der Größe des Lernpools sagen? Ist es wichtig, dass schlechte Vorbilder, wie z. B. reiche Betrüger, nicht zu oft und von zu vielen Agenten beobachtet werden? (b)  Wie wichtig ist die Langfristigkeit des Erfolgs, kontrolliert durch den Diskontfaktor , für die Entwicklung der Moralität? Erleichtert die Relevanz langfristigen Erfolgs die Evolution von Vertrauen und Vertrauenwürdigkeit oder muss der Diskontfaktor in einem bestimmten Interval liegen – nicht zu hoch und nicht zu niedrig? Was passiert, wenn der relative Erfolg einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit hat, Teil des Lernpools zu sein? 4. Detektionsfähigkeiten: (a)  Wie stark beeinflusst die Verlässlichkeit der Detektionstechnologie, ob sich die Gesellschaft eher in Richtung lokaler oder globaler Tauschbeziehungen entwickelt? (b)  Wie schlecht darf die Verlässlichkeit der Detektion sein, ohne dass sie ein annehmbares Niveau von Spezialisierung verhindert? 5. Technisches Lernen and Arbeitsteilung: (a)  Wie wichtig ist die bisher exogen gegebene und in jedem Simulationslauf fixe Anzahl verschiedener Probleme? (b)  Wäre es plausibler anzunehmen, dass sich die Zahl der Probleme mit steigender Spezialisierung erhöht und was sind die Effekte einer solchen Annahme?

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Mit der Beantwortung dieser und verwandter Fragen verbinden wir zwei Hoffnungen. Eine davon ist auf der Objektebene angesiedelt, die andere ist eher methodologischer Art. Erstens hoffen wir, die Mechanismen einer der augenscheinlichsten aber auch rätselhaftesten Entwicklungen menschlichen Zusammenlebens besser zu verstehen: die Evolution von Großgesellschaften mit Arbeitsteilung, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit zwischen Menschen ohne engere persönliche Bindungen. Da es in ​HUME​1.0​ noch keine zentralen Erzwingungsinstanzen gibt, geht es um die Möglichkeiten und Grenzen dezentralen arbeitsteiligen Austausches. Die zweite Hoffnung knüpft daran an, dass ​HUME​1.0​ eine Art computergestützte, experimentelle Interpretation erlaubt. Durch Experimente lassen sich relativ präzise die Effekte bestimmter Annahmen feststellen. Intuitive Vermutungen über die Effekte bestimmter Dynamiken werden überprüfbar. Die Annahmen von ​HUME​1.0​sind dabei natürlich nicht sakrosankt. Konflikte und Widersprüche zwischen dem Modell und der informalen Theorie können Änderungen der Modellannahmen nötig machen. Gerade dieser Prozess zeigt aber, dass die computergestützte Modellierung und Simulation eine fruchtbare Methode der Interpretation und Rekonstruktion einer reichen informalen Theorie sein kann.

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Computersimulationen in der Angewandten Politischen Philosophie – ein Beispiel Claus Beisbart und Stephan Hartmann

1.  Einleitung In den vergangenen Jahren hat die Europäische Union (EU) wiederholt versucht, ihre Institutionen zu reformieren. Als der Entwurf für eine Europäische Verfassung und später der Vertrag von Lissabon ausgehandelt wurden, betraf einer der meistdiskutiertesten Streitpunkte die Frage, nach welcher Entscheidungsregel der EU-Ministerrat abstimmen sollte. Diese Frage ist eine genuin normative Frage. Deshalb sollten auch politische Philosophen und Ethiker etwas zu dieser Frage beitragen können. Im folgenden wollen wir uns dieser Herausforderung stellen und alternative Entscheidungsregeln für den EU-Ministerrat bewerten. Dabei erweisen sich die Methoden der probablistische Modellierung und der Simulation sozialer Prozesse als unerlässlich.1 Damit wird deutlich, wie Simulationen auch innerhalb der angewandten politischen Philosophie als Methode eingesetzt werden können. 2 Der EU-Ministerrat tritt in der Gestalt unterschiedlicher Fachministerräte zusammen. Es treffen sich also Fachminister der EU-Mitgliedsstaaten. Wir können sagen, dass die Fachminister ihre Staaten repräsentieren. Im Ministerrat kommt es dann zu Abstimmungen. Die Abstimmungsvorlagen stammen dabei oft von der EU-Kommission. Aber nach welcher Regel sollten die Minister abstimmen? Eine relativ einfache Abstimmungsregel ist eine gewichtete Regel. Dazu bekommt jeder Staat ein Stimmgewicht. Wenn die Stimmgewichte derjenigen Staaten, die mit ›Ja‹ stimmen, ein bestimmtes (Zustimmungs)Quorum – sagen wir etwa fünfzig Prozent der Summe aller Stimmgewichte – übersteigen, dann gilt die Vorlage als angenommen. Da die unterschiedlichen Mitgliedsstaaten der EU unterschiedliche Bevölkerungen haben, erscheint es angemessen, nicht jedem Staat dasselbe Stimmgewicht zu geben. Auf der anderen Seite erscheint es aber auch unangemessen, proportionale Stimmgewichte einzuführen. Der größte EU-Staat (Deutschland) hat eine Bevölkerung, die etwa zweihundertmal so groß ist wie die des kleinsten EU-Staats (Malta). Bei proportionalen Stimmgewichten oder proportionaler Repräsentation, wie wir auch sagen wollen, wären daher die kleinen Staaten völlig marginalisiert. Als Kompromiss könnte man vorschlagen, den 1  Siehe etwa R. Hegselmann et al., Modelling and Simulations und W. Liebrand / A. Nowak / R. Hegelsmann, Computer Modeling. 2  Für einen alternativen Ansatz zur Bewertung von Entscheidungsregeln siehe D. S. Felsenthal / M. Machover, »Enlargement« und D. S. Felsenthal / M. Machover, Measurement. Für andere wohlfahrtsbasierte Analysen siehe D. Coelho, »Maximin« und S. Barbera / M. O. Jackson, »Weights of Nations«.

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größeren Mitgliedsstaaten mehr Stimmgewichte zu geben als kleineren, aber nicht so viele wie ihrem Bevölkerungsanteil innerhalb der EU entspricht. Aber wie genau sollten wir die Stimmgewichte setzen? Wenn wir diese Frage beantworten wollen, dann brauchen wir ein Bewertungskriterium. Im folgenden wollen wir ein konsequenzialistisches Bewertungskriterium anwenden. Dabei leitet uns folgende Idee: Die Anwendung einer bestimmten Entscheidungsregel hat einen indirekten Einfluss auf die Wohlfahrtsverteilung in der EU. Das kann man sich wie folgt klarmachen: Die Abstimmungsvorlagen, über die im EU-Ministerrat abgestimmt wird, haben, wenn sie denn angenommen werden, einen Einfluss auf die Wohlfahrtsverteilung innerhalb der EU. Wenn etwa beschlossen wird, dass die Importzölle für Zuckerrüben angehoben werden, dann profitieren die Zuckerbauern, während Zuckerkonsumenten dafür zu zahlen haben. Dabei sind Zuckeranbau und Zuckerkonsum in den unterschiedlichen EU-Staaten unterschiedlich stark ausgeprägt. Es könnte daher sein, dass eine Erhöhung der Importzölle den Bürgern von Spanien im Durchschnitt schadet, während etwa ein Österreicher im Durchschnitt profitiert. Ob die Zollerhöhung, die solchermaßen die Wohlfahrtsverteilung in der EU beeinflusst, nun wirklich angenommen wird, hängt auch von der Entscheidungsregel ab. Wenn die Staaten, in denen die Bevölkerung von der Maßnahme profitiert, letzlich nicht die Stimmen zusammenbringen, die nach der Entscheidungsregel erforderlich sind, dann scheitert die Maßnahme. In diesem Sinne hat die Entscheidungsregel einen indirekten Einfluss auf die Wohlfahrtsverteilung in der EU. Nun fragt sich natürlich, welche Wohlfahrtsverteilung wir letztlich anstreben sollten. Utilitaristen werden an dieser Stelle auf die Gesamtwohlfahrtssumme oder den Gesamtnutzen blicken und fordern, dass dieser maximiert werden sollte. Egalitaristen werden stattdessen fordern, dass jeder Bürger den gleichen Nutzen aus der Anwendung der Entscheidungsregel ziehen sollte. Da es uns in dieser Arbeit vor allem um die Simulation geht, wollen wir an dieser Stelle nicht ausdiskutieren, ob wir eher den Utilitaristen oder den Egalitaristen folgen sollten. Stattdessen werden wir den Nutzen, den eine Person aus einer Abstimmungsregel zieht, durch eine Nutzenfunktion (»utility«) quantizieren und sowohl Maximierung des Gesamtnutzens als auch das Egalisieren der individuellen Nutzenfunktionen als Kriterien ansehen, die angeben, wann eine Entscheidungsregel pro tanto (in einer relevanten Hinsicht) besser ist als eine andere. 3 Wir werden also sagen, dass eine Entscheidungsregel pro tanto besser ist als eine andere, wenn sie einen höheren Gesamtnutzen herstellt. Ebenso werden wir sagen, eine Entscheidungsregel sei pro tanto besser als eine andere, wenn sie zu einer Nutzenverteilung führt, die gleichmäßiger oder homogener ist. Natürlich mag es auch noch andere Kriterien geben, die besagen, wann eine Entscheidungsregel pro tanto besser ist als eine andere. Um unsere Bewertungskriterien anwenden zu können, müssen wir natürlich wissen, welche Nutzenverteilung sich ergibt, wenn eine bestimmte Entscheidungsregel im EU-Ministerrat angewandt wird. Dazu müssen wir erstens wissen, welche Abstim3 

Zum Begriff des pro tanto siehe J. Dancy, Ethics, Kap. 2.

Computersimulationen in der Angewandten Politischen Philosophie – ein Beispiel 1153

mungsvorlagen in den Ministerrat gelangen. Zweitens müssen wir wissen, wie die Repräsentanten der Mitgliedsstaaten abstimmen. Aber das wissen wir natürlich nicht im Detail. Uns bleibt daher nur, die Abstimmungsvorlagen und den Entscheidungsprozess aufgrund plausibler Annahmen probabilistisch zu modellieren und zu simulieren. Wie das im Einzelnen geschieht, beschreiben wir im folgenden Abschnitt. Bevor wir damit beginnen, möchten wir jedoch darauf hinweisen, dass unsere Simulationen auf einigen Idealisierungen beruhen. So stimmt zusätzlich zum EU-Ministerrat oft auch das EU-Parlament über eine Abstimmungsvorlage ab. Außerdem vernachlässigen wir, dass vor vielen Abstimmungen eine Art Deliberationsprozess steht, in dessen Rahmen eine Vorlage auch geändert werden kann.4

2.  Simulationen Unser Vorgehen können wir am besten darstellen, indem wir direkt unsere Simulationen beschreiben. 5 Jede Abstimmungsvorlage fassen wir als einen Vektor von Nutzenfunktionen auf. Dabei steht jede Komponente für den Nutzen, den eine Person von der Vorlage haben wird, wenn letztere angenommen wird. Wir nehmen an, dass wir die Nutzenfunktionen unterschiedlicher Personen aufaddieren können. Da wir nicht wissen, welche Abstimmungsvorlagen die EU-Kommission einbringen wird, ziehen wir die entsprechenden Nutzenfunktionen zufällig. Dabei erweist es sich als praktisch, den Nutzen, den eine Person hat, wenn die Abstimmungsvorlage nicht angenommen wird, auf 0 zu setzen.6 Nun hat die EU eine Bevölkerung von mehreren hunderten Millionen Menschen. Das zufällige Ziehen von Vektoren mit Nutzenfunktionen wäre daher sehr aufwändig. Außerdem müssten wir uns genau überlegen, wie die Nutzenfunktionen korreliert sind – wir müssten also eine gemeinsame Wahrscheinlichkeitsverteilung über mehrere hundert Millionen Zufallsvariablen angeben. Wir ersparen uns diesen Schritt, indem wir die Nutzenfunktionen aller Menschen eines Staats mitteln und nur die Durchschnittsnutzenfunktionen für die unterschiedlichen Staaten zufällig ziehen. Für jede Abstimmungsvorlage ziehen wir also je eine zufällige Nutzenfunktion, die den Nutzen für einen Durchschnittsbriten, für einen Durchschnittsfranzosen etc. darstellt. Die Rede vom Durchschnittsbriten etc. ist dabei nur eine façon de parler, gemittelt wird über die Nutzenfunktionen der Bürger eines Staats. Insgesamt stellen wir daher jede

Für eine genauere Diskussion unserer Idealisierungen siehe C. Beisbart / L. Bovens / S. Hartmann, »Utilitarian Assessment«. 5  Die technischen Details finden sich in ebd. und in C. Beisbart / L. Bovens, »Welfarist Assessments«. Zum Modell siehe auch U. Schweizer, »Calculus«. 6  Unser Bewertungskriterium zieht nur den Nutzen in Betracht, den eine Person durch Maßnahmen (neu) hinzugewinnen kann. Bei der Egalisierung wird also nicht versucht, etwaige bereits vorhandene Ungleichheiten in der Wohlfahrtsverteilung auszugleichen. 4 

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Abstimmungsvorlage als einen Vektor mit Durchschnittsnutzenfunktionen für die 27 EU-Staaten dar. Wenn eine Abstimmungsvorlage zufällig generiert ist, dann wird der Entscheidungsprozess im EU-Ministerrat simuliert. Das Ergebnis dieser Simulation sind die Voten, die die Fachminister der einzelnen EU-Staaten abgeben. Auf die Voten wird dann eine Entscheidungsregel angewandt. Wird die Abstimmungsvorlage angenommen, dann werden die Durchschnittsnutzenfunktionen für die unterschiedlichen Staaten real – die Bürger erhalten wirklich den Durchschnittsnutzen. Wird die Abstimmungsvorlage hingegen abgelehnt, dann bleibt alles beim status quo, und alle Nutzenfunktionen sind gleich 0. Unsere Simulationen laufen daher ingesamt wie folgt ab: Es werden n mal Zufallsvektoren für die Abstimmungsvorlagen gezogen, in jedem Mal wird die Entscheidung simuliert, und je nach Abstimmungsergebnis werden Nutzenfunktionen real. Wir mitteln die Nutzenfunktionen, die sich für die unterschiedlichen Staaten ergeben, über die n Realisationen. Dadurch schätzen wir die Erwartungswerte der Nutzenfunktionen ab, die die Durchschnittsbürger der unterschiedlichen Staaten aufgrund einer Entscheidungsregel erhalten. Wenn wir diese Erwartungswerte mit den Bevölkerungszahlen gewichtet aufsummieren, dann erhalten wir den erwarteten Gesamtnutzen, den die Europäer haben, wenn nach einer bestimmten Regel abgestimmt wird. Ein Maß für die Ungleichheit, die in diesem Prozess resultiert, erhalten wir, wenn wir abschätzen, wie stark die erwarteten Durchschnittsnutzen für die unterschiedlichen Staaten streuen.7 Diese Simulationen werden für unterschiedliche Entscheidungsregeln durchgeführt. Abschließend vergleichen wir die Ergebnisse für die unterschiedlichen Regeln und fragen uns etwa, welche von ihnen den Gesamtnutzen für die europäischen Bürger maximiert. Nun gibt es sehr viele mögliche Entscheidungsregeln – für N Staaten existieren deren​ N 2 ​ ​ ​ 2​ ​. Wir können unmöglich alle Entscheidungsregeln der Reihe nach untersuchen. Daher wollen wir uns in dieser Arbeit auf eine besondere Teilklasse von Entscheidungsregeln beschränken. Bei diesen Regeln erhält jeder Staat ein Stimmgewicht. Wenn die Summe der Gewichte der Ja-Stimmen ein Quorum t übersteigt, dann gilt eine Maßnahme als angenommen. Die entscheidende Frage lautet dabei, wie die Gewichte von der Bevölkerungszahl abhängen. Wir verbinden die beiden Grenzfälle identischer Gewichte und bevölkerungsproportionaler Gewichte (proportionale Repräsentation), indem wir einen Parameter α einführen, dessen Wertebereich sich über das Intervall [0, 1] erstreckt. Für ein bestimmtes α setzen wir dann das Gewicht von Staat i proportional zu ​nα i​​ ​, wobei ​n​i​ die Bevölkerungszahl von Staat i ist. Offensichtlich haben die Staaten für α = 0 identische Stimmgewichte, während es für α = 1 proportionale Repräsentation gibt. Der Bereich dazwischen parametrisiert unterschiedliche Kompromisslösungen. Insgesamt können wir daher eine Abstimmungsregel spezifizieren, indem wir Werte für das Quorum t und für den α-Parameter angeben: (α,t).8 Dabei erscheint es uns durchaus als legitim, die Siehe dazu C. Beisbart / L. Bovens, »Welfarist Assessments« und C. Beisbart / S. Hartmann, »Dependent«. 7 

Zwei Entscheidungsregeln (α, t)  (α', t') sind nicht notwendig verschieden, weil z. B. eine geringfügige Erhöhung des Quorums oft in der Praxis gar keinen Unterschied macht. 8 

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Menge der betrachteten Entscheidungsregeln auf besonders einfache einzuschränken, ist es doch auch von Vorteil, wenn die Entscheidungsregel im EU-Ministerrat durchsichtig und einfach zu handhaben ist. Zwei Details müssen noch genauer diskutiert werden, ehe wir mit unseren Simulationen beginnen können. Erstens müssen wir ein Wahrscheinlichkeitsmodell über die Vektoren angeben, mit denen die Vorschläge modelliert werden. Zweitens müssen wir sagen, wie wir den Abstimmungsprozess simulieren. Hinsichtlich des Abstimmungsprozesses wollen wir zum Zwecke dieser Untersuchung von einer detaillierten Simulation absehen. Stattdessen wollen wir annehmen, dass den Repräsentanten der EU-Staaten bekannt ist, welchen Nutzen die Bürger ihres Staats im Durchschnitt von einer Maßnahme ziehen würden. Wir gehen dann davon aus, dass die Repräsentanten ganz im Sinne des Gesamtnutzens abstimmen, der sich für ihre Bürger ergibt. In unserem Modell heißt das, dass ein Repräsentant für eine Vorlage stimmt, wenn der Nutzen, der sich für die Bürger seines Staats insgesamt ergäbe, positiv (größer als im status quo) ist.9 Diese Annahme kann durch eine spieltheoretische Analyse gerechtfertigt werden.10 Hinsichtlich des Wahrscheinlichkeitsmodells für die Nutzenvektoren (die Abstimmungsvorlagen) wollen wir im Rahmen dieser Arbeit unterschiedliche Varianten ausprobieren. Allen diesen Varianten ist folgendes gemeinsam: Die Marginalverteilung für jede Komponente des Zufallsvektors ist normal-verteilt. Das heißt, dass der Durchschnittsnutzen aus den Vorschlägen für jeden Staat einer Normal-Verteilung folgt. Stabilitätsanalysen11 legen die Annahme nahe, dass alle diese Normalverteilungen dieselbe Varianz haben. Im folgenden werden wir beispielhaft zwei spezielle Modelle für die Nutzenvektoren angeben und die zugehörigen Ergebnisse diskutieren.

3.  Resultate der Simulationen für unterschiedliche Wahrscheinlichkeitsmodelle 3.1  Das Standardmodell Ein erstes und sehr einfaches Modell wollen wir das Standardmodell nennen. Im Standardmodell ist die Marginalverteilung für den Durchschnittsnutzen, der sich aus den Vorschlägen ergeben würde, für alle Staaten gleich. Außerdem nehmen wir an, dass der Durschnittsnutzen, der sich für die Bürger eines Staats bei Annahme des Vorschlags ergeben würde, genau null ist. Damit hat das Standardmodell eine hohe Symmetrie. Schließlich nehmen wir an, dass die durchschnittlichen Nutzenfunktionen, die sich aus den Vorschlägen ergeben würden, unabhängig verteilt sind. Anschaulich bedeutet das,

9  Dafür werden wir im folgenden manchmal der Einfachheit halber sagen, der Nutzen sei für den Staat (anstatt für seine Bürger) positiv. 10  C. Beisbart / L. Bovens, »Welfarist Assessments«. 11  Siehe etwa C. Beisbart / L. Bovens, »Welfarist Assessments« und C. Beisbart / S. Hartmann, »Dependent«.

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dass die Interessen der Bürger unterschiedlicher Staaten nicht korreliert sind. Diese Annahme führen wir hier nur der Einfachheit halber ein, sie wird unten aufgegeben.

Abbildung 1: Simulationsergebnisse für das Standardmodell. Links ist der Erwartungsnutzen für die gesamte EU als Funktion von α zu sehen, rechts ein Maß der Ungleichheit. Unterschiedliche Kurven spiegeln unterschiedliche Werte des Quorums t. Sechsecke: t = 0,8; Quadrate: t = 0,6; Dreiecke: t = 0,5. Die Punkte beruhen je auf zwei Millionen Realisationen. Der Erwartungsnutzen ist auf eine bestimmte Art und Weise so normalisiert, dass er niemals 1 übersteigt (siehe C. Beisbart / S. Hartmann, »Dependent«).

Das Standardmodell ist von besonderem Interesse, weil ihm zufolge die Bürger keines Staats systematisch benach- oder bevorteilt werden. Wenn es im Endeffekt zu Ungleichheiten kommt, dann sind diese auf die Entscheidungsregel zurückzuführen. Wegen seiner hohen Symmetrie müssen wir beim Standardmodell die beiden Quoren t und (1 − t) nicht gesondert betrachten – sie ergeben fast immer dasselbe Resultat. Dasselbe gilt auch für die weiteren Modelle, die wir unten untersuchen.12 Ergebnisse für das Standardmodell sind in Abbildung 1 zu sehen. Die unterschiedlichen Kurven mit den unterschiedlichen Symbolen stehen für unterschiedliche Werte des Quorums. Die Abszisse ist der Wert von α, so dass insgesamt ein großer Bereich von Entscheidungsregeln abgedeckt wird. Wir wenden uns zunächst unserem utilitaristischen Kriterium zu und diskutieren den erwarteten Gesamtnutzen. Dieser ist in der linken Bildhälfte als Ordinate aufgetragen. Zunächst zeigt sich, dass ein Quorum von 0.5 die besten Resultate erzielt. Das kann man qualitiativ wie folgt verstehen. Wenn das Zustimmungsquorum zu hoch ist, dann müssen viele Staaten mit Ja stimmen, damit eine Abstimmungsvorlage angenommen wird. Da die Staaten nach ihren Eigeninteressen abstimmen (oder genauer die Repräsentaten nach den Interessen der je repräsentierten Bevölkerung abstimmen), heißt das, dass ein Vorschlag nur dann angenommen wird, wenn er für sehr viele Staaten po-

Siehe dazu C. Beisbart / L. Bovens, »Welfarist Assessments« und C. Beisbart / S. Hartmann, »Dependent«. 12 

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sitiv ist. Dadurch werden aber viele Vorschläge, die für eine Mehrheit der Europäer gut wären, abgelehnt. Bei kleineren Zustimmungsquoren wird dieser Effekt vermieden. Wird das Zustimmungsquorum zu klein, tritt jedoch der gegenteilige Effekt ein. Weil bei einem geringen Zustimmungsquorum nicht besonders viele Staaten zustimmen müssen, reicht für eine Annahme, dass ein Vorschlag Vorteile für einige Staaten bringt. Darunter werden relativ viele Vorschläge sein, die den Europäern im Durchschnitt schaden. Soll dieser Effekt vermieden werden, so muss das Quorum t also hinreichend groß sein. Ingesamt darf das Zustimmungsquorum also weder zu groß noch zu klein sein. Aufgrund der Symmetrie im Standardmodell muss das optimale Zustimmungsquorum daher bei 0.5 liegen. Was den Wert von α angeht, so beobachten wir, dass der Erwartungsnutzen in der Regel ansteigt, sofern α ansteigt. Optimal in unserer Graphik ist ein α von 1, was proportionaler Repräsentation entspricht. Dieses Ergebnis überrascht nicht. Letztlich liefern die unterschiedlichen Staaten hinsichtlich des Gesamtnutzens einen Beitrag, der ihrer Bevölkerungszahl proportional ist  – ob ein Durschnittsfranzose insgesamt profitiert, wenn eine bestimmte Entscheidungsregel implemeniert wird, ist einfach aufgrund des relativ hohen Bevölkerungsanteils, den Frankreich in der EU hat, für den erwarteten Gesamtnutzen viel wichtiger als die Frage, ob ein Durchschnittsmalteser profitiert. Da sich die unterschiedlichen Staaten im Standardmodell ansonsten nicht weiter unterscheiden, leuchtet es ein, dass sich letztlich die proportionale Repräsentation als optimal herausstellt. Insgesamt ist also aus utilitaristischer Sicht eine Entscheidungsregel mit proportionalen Gewichten und einem Zustimmungsquorum von 50% optimal.13 Allerdings wird die Maximierung des Gesamtnutzens durch eine hohe Ungleichheit erkauft. Im rechten Teilbild von Abbildung 1 ist als Ordinate eine Größe abgebildet, die die Ungleichheit quantifiziert. Je größer dieser Wert, desto schlechter ist eine Entscheidungsregel nach dem egalitaristischen Kriterium. Für alle betrachteten Werte des Quorums ist die Ungleichheit maximal, wenn proportionale Repräsentation gilt. Die Ungleichheit ist minimal, ja sogar 0, wenn alle Staaten dasselbe Stimmgewicht haben. Der Grund ist einfach, dass es im Standardmodell bei gleichen Stimmgewichten überhaupt keine relevanten Unterschiede zwischen den Staaten gibt. Daher muss dann perfekte Gleichheit herrschen. Was das Zustimmungsquorum angeht, so sind jetzt hohe Zustimmungsquoren besser als ein Quorum von 50% – die entsprechenden Kurven liegen meist unter der Kurve für das Quorum von 50%. Qualitativ kann man das wie folgt verstehen. Wenn das Quorum sehr hoch ist, dann müssen sehr viele Staaten zustimmen, damit ein Vorschlag akzeptiert wird. Wenn dann ein Vorschlag akzeptiert wird, dann profitieren in der Regel sehr viele Staaten. Daher kann es zu keinen großen Ungleichheiten kommen.

Der Gesamtnutzen der Regel (α = 1, t = .5) lässt sich auch nicht weiter steigern, wenn man α größer als 1 werden lässt. Siehe dazu etwa S. Barberà / M. O. Jackson, »Weights of Nations«. 13 

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Unser Maß für die Ungleichheit quantifiziert absolute Ungleichheiten. Das heißt, wenn alle Nutzenfunktionen mit einem Parameter  multipliziert werden, dann müssen auch die Ungleichheiten mit  multipliziert werden. In manchen Kontexten erscheint aber ein relatives Maß von Ungleichheit angemessen. Ein solches Maß erhält man etwa mit dem Gini-Koeffizienten. Wir haben unsere Ergebnisse auch mit dem Gini-Koeffizienten quantifziert und fanden keine qualitativen Unterschiede.14 Ingesamt ergibt sich damit für das Standardmodell eine dilemmatische Situation. Unsere beiden Kriterien deuten in unterschiedliche Richtungen: Während die Maximierung des erwarteten Gesamtnutzens ein Zustimmungsquorum von 50% und proportionale Repräsentation erfordert, favorisiert das egalitaristische Kriterium eine Regel mit gleichen Gewichten. Sofern die Gewichte ungleich sind, d. h. α deutlich größer als 0 ist, sind dabei Zustimmungsquoren zu bevorzugen, die recht weit entfernt von 50% sind.

3.2  Erweiterungen des Standardmodells Das Standardmodell eignet sich hervorragend, wenn man ein qualitatives Verständnis unserer Simulationen und ihrer Ergebnisse erlangen möchte. Es ist jedoch alles andere als realistisch. Insbesondere haben wir angenommen, dass die Interessen der Bürger aus unterschiedlichen Staaten probabilistisch unabhängig sind. Wir erwarten jedoch in Wirklichkeit, dass die Interessen bestimmter Staaten korreliert sind. Im folgenden wollen wir daher das Standardmodell erweitern.15 Wenn wir einen Nutzenvektor (d. h. eine Abstimmungsvorlage) zufällig ziehen, dann gehen wir nun wie folgt vor. Wir gehen davon aus, dass die EU in zwei Gruppen von Staaten zerfällt. Als Beispiel betrachten wir eine Partition der EU in größere und kleinere Staaten. Für jede Realisierung eines Nutzenvektors gehen wir nun wie folgt vor: Zunächst ziehen wir ein Paar von Nutzenvektoren, das einer multivariaten Normalverteilung folgt. Jeder dieser beiden Nutzenvektoren stellt einen »Sockel« von Nutzen dar, der für alle Staaten der einen / der anderen Gruppe realisiert wird, wenn der Vorschlag angenommen wird. Zu diesem Sockel wird ein zweiter Beitrag addiert, der spezifisch für jeden Staat ist. Diese zusätzlichen Beiträge sind unabhängig und folgen derselben Verteilung. Insgesamt ergibt sich damit der Durchschnittsnutzen, den die Bevölkerung eines Staats aus einem Vorschlag zieht, sofern er angenommen wird, aus zwei Beiträgen, die aufsummiert werden. Der eine ist in jeder Gruppe gleich, der andere für jeden Staat spezifisch.16

C. Beisbart / S. Hartmann, »Dependent«. Zu den Details siehe ebd. Eine analoge Modellierung findet sich in Bezug auf Stimmanteile in Wahlen bei W. M. Crain / H. C. Messenheimer / R. D. Tollison, »Probability«. 16  Die Staatengruppen werden hier nicht als institutionalisierte Gruppen aufgefasst, vielmehr dient die Partitionierung in Gruppen nur dazu, Korrelationen zwischen den Durchschnittsnutzen, die die Staaten aus den Abstimmungsvorlagen ziehen, zu erzeugen. 14 

15 

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Abbildung 2: Erwarteter Gesamtnutzen (links) und Ungleichheit (rechts) für ein Modell, in dem die Interessen von Staaten unterschiedlicher Gruppen nicht korreliert sind.

Wenn wir so vorgehen, dann sind die Interessen der Staaten einer Gruppe (genauer ihrer Bürger) positiv korreliert. Typischerweise werden also Vorschläge der EU-Kommission vielen größeren Staaten gleichzeitig nützen oder eben gleichzeitig schaden. Dasselbe gilt für die kleineren Staaten. Wir wollen nun zunächst annehmen, dass die Interessen der Menschen beider Gruppen nicht korreliert sind. Ergebnisse unserer Simulationen sind in Abbildung 2 zu sehen. Hinsichtlich des Erwartungsnutzens gibt es gegenüber dem Standardmodell keine großen qualitativen Veränderungen. Die Kurven des erwarteten Gesamtnutzens sind gegenüber dem Standardmodell erhöht. Hingegen ändert sich das Bild für die Ungleichheiten deutlich. Bei  = 0 haben wir jetzt keine perfekte Gleichheit mehr. Der Grund dafür ist, dass die absolute Symmetrie, die wir im Standardmodell zwischen den Staaten hatten, durch die Korrelationen gebrochen ist. Die Kurven der Ungleichheit streben für höhere Wert von  einem Minimum zu, um anschließend wieder zu wachsen. In einer weiteren Variation unseres Modells wollen wir annehmen, dass die Interessen der beiden Gruppen anti-korreliert sind. Das erreichen wir, indem wir annehmen, dass die Sockelbeiträge, die wir oben definiert haben, antikorreliert sind. Qualitativ gehen wir also von folgendem Bild aus: Wenn die Bürger aus der einen Staatengruppe in der Mehrzahl von einem Vorschlag profitieren würden, dann würden die Bürger aus der anderen Staatengruppe typischerweise dafür zu zahlen haben. Die Ergebnisse sind in Abbildung 3 dargestellt. Bemerkenswert ist nun, dass die Kurven des erwarteten Gesamtnutzens für die Quoren 50% und 60% recht steil sind. Das heißt, dass der Erwartungsnutzen sich stärker ändert, wenn wir  variieren. Wir wollen unsere Ergebnisse nun aber nicht mehr im Detail diskutieren, sondern stattdessen mit einem Ausblick schließen.

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Kolloquium 21  ·  Claus Beisbart und Stephan Hartmann

4.  Abschließende Überlegungen Durch Simulationen lassen sich unterschiedliche Entscheidungsregeln im EU-Ministerrat vergleichen, was ihre Konsequenzen für die Wohlfahrtsverteilung in der EU angeht. Wir haben bisher nur sehr einfache Simulationen geschildert. Das Hauptergebnis, das wir für diese Simulationen erhielten, lässt sich wie folgt beschreiben: Wenn wir den Erwartungsnutzen maximieren wollen, dann sollten wir ein Quorum von 50% und proportionale Repräsentation wählen. Wenn wir hingegen die Ungleichheiten minimieren wollen, dann müssen wir eher recht hohe Quoren implementieren.17 Diese Ergebnisse blieben bei all unseren Simulationen in dieser Arbeit relativ ähnlich.

Abbildung 3: Erwarteter Gesamtnutzen (links) und Ungleichheit (rechts) für ein Modell, in dem die Interessen von Staaten unterschiedlicher Gruppen antikorreliert sind. Unsere Simulationen können folgendermaßen erweitert werden: 1. Bevorzugung: Bestimmte Staaten werden durch die Vorschläge der EU-Kommission systematisch bevorzugt. 2. Irrtümer: Die Repräsentanten können die Effekte, die eine Abstimmungsvorlage hat, nicht richtig einschätzen. Dadurch votieren sie teilweise gegen die wirklichen Interessen ihrer Staaten. 3. Absprachen: Einige Staaten treffen Absprachen, bevor abgestimmt wird. Solche und ähnliche Situationen lassen sich ebenfalls mit Hilfe von Simulationen behandeln. Unbefriedigend mag an dieser Stelle erscheinen, dass sich unsere Simulationen bisher nicht an empirischen Daten ausrichten. In der Tat ist es jedoch möglich, die Simulationen an Daten zu orientieren. So enthalten unsere Simulationen Vorhersagen über die Wegen der Symmetrie in unseren Modellen würden recht niedrige Quoren denselben Effekt erzielen. Quoren, die niedriger als 50% sind, gelten jedoch im allgemeinen als problematisch. 17 

Computersimulationen in der Angewandten Politischen Philosophie – ein Beispiel

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Verteilung der Voten in den Abstimmungen. Diese Vorhersagen kann man mit Daten über das Abstimmungsverhalten im Ministerrat vergleichen. Dem wollen wir uns in zukünftigen Arbeiten zuwenden. Die Simulationen, die wir durchführen, dienen unterschiedlichen Zwecken. Sie dienen zunächst dazu, bestimmte konditionale Vorhersagen zu machen (»Was würde geschehen, wenn diese oder jene Regel gelten würde?«). Auf der Basis der Vorhersagen werden dann Regeln bewertet. Häufig sind die Simulationen aber auch nützlich, um bestimmte Eigenschaften der Modelle zu finden, die sich dann analytisch beweisen lassen.18 In diesem Sinne haben unsere Simulationen auch heuristischen Wert. In vielen Fällen sind jedoch keine analytischen Ergebnisse zu gewinnen, so dass wir auf die Simulationen angewiesen sind, wenn wir Entscheidungsregeln für den EUMinisterrat evaluieren möchten.19 Literatur Barberà, Salvador / Jackson, Matthew O.: »On the Weights of Nations: Assigning Voting Weights in a Heterogeneous Union« in: Journal of Political Ecomomy 114 (2006), 317–339. Beisbart, Claus / Bovens, Luc: »Welfarist Evaluations of Decision Rules for Boards of Representatives«, in: Social Choice and Welfare 29 (2007), 581–608. Beisbart, Claus / Hartmann, Stephan: »Welfarist Evaluations of Decision Rules under Interstate Utility Dependencies«, in: Social Choice and Welfare 34 (2010), 315–344. Beisbart, Claus / Bovens, Luc / Hartmann, Stephan: »A Utilitarian Assessment of Alterantive Decision Rules in the Council of Ministers«, in: European Union Politics 6 (2005), 395–418, Appendix online unter http: /  / www.uni-konstanz.de / eup / iss64.htm. Coelho, Danilo: »Maximin Choice of Voting Rules for Committees«, in: Economics of Governance 6 (2005), 159–175. Crain, W. Mark / Messenheimer, Harold C. / Tollison, Robert D.: »The Probability of Being President«, in: The Review of Economics and Statistics 75 (1993), 683–689. Dancy, Jonathan: Ethics without Principles, Oxford 2004. Felsenthal, Dan S. / Machover, Moshé: The Measurement of Voting Power. Theory and Practice, Problems and Paradoxes, Cheltenham 1998. Felsenthal, Dan S. / Machover, Moshé: »Enlargement of the EU and Weighted Voting in its Council of Ministers«, Voting Power Report 01 / 00, London School of Economics and Political Science, Centre for Philosophy of Natural and Social Science, London; online unter http: /  / www.lse.ac.uk / vp, 2000. Hartmann, Stephan: »The World as a Process: Simulations in the Natural and Social Sciences«, in: R. Hegselmann et al.: Modelling and Simulation, 77–100.

18  Zu analytischen Ergebnissen zu unseren Modellen siehe S. Barberà / M. O.  Jackson, »Weights of Nations« und C. Beisbart / L. Bovens, »Welfarist Assessments«. 19  Zur den verschiedenen Funktionen von Simulationen siehe auch S. Hartmann, »World«.

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Kolloquium 21  ·  Claus Beisbart und Stephan Hartmann

Hegselmann, Rainer et al. (Hgg.): Modelling and Simulation in the Social Sciences from the Philosophy of Science Point of View, Dordrecht 1996. Liebrand, Wim / Nowak, Andrzej / Hegelsmann, Rainer (Hgg.): Computer Modeling of Social Processes, London 1998. Schweizer, Urs: »Calculus of Consent: A Game-theoretic Perspective«, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 146 (1990), 28–54.

Kolloquium 22 Willensfreiheit und Schuldfähigkeit

Hans-Ludwig Kröber Handlungssteuerung und Entscheidung zur Straftat aus psychiatrischer Sicht Marcus Willaschek Der Begriff der Willensfreiheit im deutschen Strafrecht

Handlungssteuerung und Entscheidung zur Straftat aus psychiatrischer Sicht Hans-Ludwig Kröber

Einige wenige in der Vielzahl solider Hirnforscher wandelten sich in den letzten Jahren zu medienaktiven Hirndeutern und behaupteten, sie könnten mit Mikroskop und Bildschirm elementare philosophische und juristische Probleme lösen. Sie erklären sich im besonderen zu Feinden des Freiheitsgedankens. Ihr Kompetenzbereich ist das Naturgesetz, dem sie alles unterwerfen wollen, auch um den Preis der Freiheit. Das ist nicht harmlos. Wenn schon jeder Gedanke an individuelle Freiheit eine Illusion ist, wieviel illusionärer muß der Wunsch nach sozialer und politischer Freiheit sein. Wolf Singer schrieb allen Ernstes, »wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen«.1 Sollten wir? Die Unfreiheit erkaufen wir mit Schuldunfähigkeit, es geht zurück mit jedermann in die Zeit vor dem Sündenfall; in eine gemütfrei naturwissenschaftlich regulierte »brave new world« im exemplarischen Sinne. Gerhard Roth und Wolf Singer unterstellen, daß wir alle schuldlos sind, wenn wir ein Verbrechen begehen, weil wir gar nicht anders konnten, als dies Verbrechen zu begehen. Nicht wir waren es, unser Gehirn war es, und das ist schließlich nichts anderes als ein Klumpen Fleisch. Unsere Entscheidung, das Böse zu lassen, unsere Entscheidung, auf Gemeinheit und Niedertracht zu verzichten, sei nichts als eine Illusion. Angesichts dieses lautstarken Dilettierens in Materialismus könnte man vergessen: Hirnforschung ist eine wichtige und spannende Wissenschaftsdisziplin, von der insbesondere für neurologisch kranke Menschen viel Hilfe zu erwarten ist. Während man früher im wesentlichen anhand von klinischen Störungsbildern und späteren Obduktionsbefunden lokalisieren konnte, welche Hirnregionen für welche Funktionen wichtig sind, kann man dies heute sozusagen unblutig anhand bestimmter bildgebender Untersuchungsverfahren. Allerdings ist die immer genauere Abklärung des »Wo« bestimmter Funktionen nicht annähernd gleichbedeutend mit einer Erforschung des »Wie«, und wir sind weit entfernt von einer materialistischen Anschauung von Phänomenen wie Selbstbewußtsein, Selbstentwurf und Intentionalität. Es sind dies Phänomene, die notwendig an die Erste-Person-Perspektive gebunden sind und die zugleich essentiell sind für die Psychiatrie und speziell für jenen Zweig der Psychiatrie, der sich mit psychisch gestörten Straftätern befaßt, der forensischen Psychiatrie. Zudem ist es durchaus so, daß es eine lange Diskussion über die Frage der Willensfreiheit in der forensischen Psychiatrie gegeben hat, der die gegenwärtige keine grundlegend neuen Argumente hinzugefügt hat. Diese Argumente sollen gesichtet werden.

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W. Singer, »Verschaltungen legen uns fest«.

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Kolloquium 22   ·  Hans-Ludwig Kröber

1.  Psychiatrie als Wissenschaft Das erste Jahrhundert der wissenschaftlichen Psychiatrie von 1800–1900 war geprägt durch drei zentrale Gegenstände2: 1. die wissenschaftliche Sichtung des »Materials«, mit dem sich dies Fach zu befassen hat, und der »Methoden«, mit denen dies geschehen könnte, 2. durch den Kampf um die wissenschaftliche / universitäre Anerkennung und Ver­ selbständigung sowie 3. durch die Etablierung eines psychiatrischen Versorgungssystems (Anstalts­ wesens) und den Kampf zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatrie. Viel spricht für die Anschauung, daß am Ausgangspunkt der Entwicklung des Faches die Betrauung mit einer sozialen Aufgabe stand, nämlich der Musterung der zu­neh­mend aus feudalen Bindungen und Sicherungen gelösten, behinderten, kranken, dis­sozialen, wohnungslosen, kriminellen Gruppen innerhalb der Gesellschaft unter dem Blickpunkt ordnungsrechtlich-polizeilicher und auch medizinischer Intervention.3 Diese Aufgabenzuweisung ist andererseits nicht vorstellbar ohne den Fortschritt in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaften durch die zunehmende Anwendung naturwissenschaftlich-empirischer Verfahren im Verlauf des 19. Jahrhunderts und danach. Der Kampf um die Etablierung der Psychiatrie als wissenschaftlicher Disziplin ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts fiel zeitlich etwa zusammen mit der Entwicklung der modernen Strafrechtswissenschaft und fand in dieser einen wichtigen Gesprächspartner. Psychiater haben ganz wesentlich die Entwicklung des wissenschaftlichen Faches »Kriminologie« bewirkt und wesentliche Forscher gestellt.4 Als medizinisches Fach wurde sie von den allgemeinen medizinischen Entwicklungen in der Physiologie und anderen Grundlagenfächern beflügelt sowie speziell von den Erkenntnissen in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten und von der Hirnforschung; Neurologie und Psychiatrie waren klinisch wie in der Forschung überwiegend eng verbunden. Gerade die Jahre um 1900 herum waren geprägt durch eine Vielzahl von neuen somatodiagnostischen Verfahren und eine rapide Ausweitung des empirischen Wissens; die »Hirnforschung« wurde vor 100 Jahren mit mindestens soviel Optimismus betrachtet wie heute in der Erwartung, in absehbarer Zeit das Funktionieren des psychischen Apparates wissenschaftlich aufklären zu können.

2  H.- L. Kröber, »Die psychiatrische Diskussion um die verminderte Zurechnungs- und Schuldfähigkeit«. 3  M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft; K. Dörner, Bürger und Irre; C. Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. 4  C. Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat.

Handlungssteuerung und Entscheidung zur Straftat aus psychiatrischer Sicht

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2.  Forensisch-psychiatrische Begutachtung Eine rechtsmedizinische Begutachtung, unter Einschluß psych­iatri­scher Fragestellungen, gab es in beachtlichem Umfang schon vor dem 19. Jahrhundert. Auf dem Boden der Constitutio Criminalis Carolina von 1532, die psychische Gestörtheit als allgemei­nen Milderungsgrund anerkannte und dann insbesondere der »Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium« von Carpzow (1595–1666), »das die deutsche Strafrechtspflege über ein Jahrhundert hindurch mit nahezu gesetzesgleicher Wirkung beherrschte«, 5 entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert ein medizinisches Begutachtungswesen durch Syndici und Kollegien der Medizinischen Fakultäten, das im wesentlichen durch Fallsammlungen zu einer Sammlung von Wissen und zur Herausbildung von diagnostischen und Beurteilungsmaßstäben führte.6 Ihren Bezugspunkt fanden die Begutachtungen in deutschen Partikulargesetzen wie dem Bayrischen Gesetzbuch von 1751, das jene, denen der Verstand nur halb verrückt sei, von der ordentlichen Strafe befreite, oder dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794. Dort heißt es in Teil II, 20, I, § 16: »Wer frei zu handeln unvermögend ist, bei dem findet kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt.« § 18: »Alles, was das Vermögen eines Menschen, mit Freiheit und Überlegung zu handeln, mehrt oder mindert, mehrt oder mindert auch den Grad der Strafbarkeit.« In Art.11 §§ 2 ff. waren die psychischen Verfassungen bzw. Krankheiten benannt, die in Frage kamen, so »völlige Gemütsverrückung, als bey Toll und Unsinnigen«, Rausch, Taubstummheit und entsprechenden Behinderungen. Gegenstand einer zunehmend eigenständigen wissenschaftlichen medizinischen Disziplin war die psychiatrische Begutachtung aber erst ab dem 19. Jahrhundert. Die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden wissenschaftlichen Organe waren von Beginn an Zeitschriften für allgemeine und gerichtliche Psychiatrie. Dies implizierte nicht nur strafrechtliche Fragen, sondern nicht minder öffentlich-rechtliche bzw. verwaltungsrechtliche Themen. 1808 prägte Johann Christian Reil den Begriff »Psychiatrie«, ungleich älter waren Begriffe wie »Seelenkunde« und insbesondere »Psychologie«, der auf Melanchthon zurückgeht.7 Die ersten, im 19. Jahrhundert bedeutsamen Lehrbücher der forensischen Psychiatrie nannten sich solche der »psychisch gerichtlichen Medizin«8 oder der »gerichtlichen Psychologie«9 oder verwendeten den Terminus »Criminal-Psychologie«10. Ende des 19. Jahrhunderts verlagerte sich die Begutachtung der Zurechnungsfähigkeit in Strafverfahren zunehmend von den Kreis-Physici, den Amtsärzten, auf die in Anstalten oder als Gerichtsärzte tätigen Psychiater.

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W. Janzarik, »Forschungsrichtungen und Lehrmeinungen in der Psychiatrie«. M. Lorenz, Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. W. Janzarik, »Forschungsrichtungen und Lehrmeinungen in der Psychiatrie«. J. C. A. Heinroth, System der psychisch-gerichtlichen Medizin. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie.  J. C. A. Heinroth, Grundzüge der Criminal-Psychologie.

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Kolloquium 22   ·  Hans-Ludwig Kröber

Straftäter waren von Anfang an für die Psychiatrie von hohem wissenschaftlichem Interesse. Hagner schreibt:11 »Genialität, Kriminalität und Wahnsinn waren Erscheinungen, deren somatische Disposition es herauszufinden galt« – anhand der Extreme, anhand der Normabweichung wollte man Einsicht in den Aufbau der menschlichen Psyche und des menschlichen Gehirns gewinnen. Während die Juristen mit Straftätern allein im Rahmen des strikt reglementierten Strafverfahrens zu tun hatten und (bis heute) abgesehen von Ausnahmen sehr wenig Neigung zu empirischer Forschung hatten, waren die Psychiater mit den real existierenden Rechtsbrechern sowohl bei der Begutachtung als auch bei der Internierung in Irrenanstalten lange und eingehend befaßt. Psychiater waren diejenigen, die psychisch kranke, persönlichkeitsgestörte, aber auch recht unauffällige Straftäter eingehend kannten und entsprechend den klinischen Methoden eines Kraepelin wahrzunehmen, zu dokumentieren und zu systematisieren gelernt hatten. Dieser seit über 100 Jahren kasuistisch gesammelte klinische Erfahrungsschatz bildete den empirischen Grundstock der Kriminologie, die wesentlich durch Psychiater geschaffen wurde.12 Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Zeit, die viele Hoffnungen auf die baldige Aufklärung der cerebralen Ursachen der psychischen Phänomene hegte und auf deren baldige Behandelbarkeit. Die meisten Psychiater reklamierten sehr energisch die Zuständigkeit nicht nur für psychisch Kranke im engeren Sinne, sondern auch für sozial abweichende Menschen und insbesondere Straffällige, obwohl sie außer Verwahrung wenig für sie tun konnten. Anhand der Frage, ob auch leichter Gestörte, die man nicht als schuldunfähig ansprechen konnte, über den Weg der »verminderten Zurechnungsfähigkeit« psychiatrischer Obhut überstellt werden sollten, entwickelte sich eine jahrzehntelange Diskussion unter Psychiatern und Juristen.13 Die gegenwärtige Diskussion mit einigen eliminativen Materialisten unter den Hirnforschern ist insofern eine Reprise. Interessant waren also vor allem die als stark rückfallgefährdet eingestuften Täter mit »minderwertigen« oder »abartigen« überdauernden Persönlichkeitsverfassungen, die weder als ungestört noch als krankhaft einzuordnen waren, also das Problem des Umgangs mit den »Psychopathen«. Offenbar spielte hier ein Optimismus eine Rolle, des Problems bald Herr zu werden, der allerdings die nachfolgenden Jahrzehnte über nicht bestätigt wurde. Der Optimismus rührte aus der naturwissenschaftlichen Auffassung des Problems. 1859 war Darwins Werk über den Ursprung der Arten erschienen, die Medizin und speziell die Psychiatrie beschäftigte sich intensiv mit der Frage der »Entartungen«, der »Degenerationen«. Man postulierte einen Urtyp, von dem sich die Menschheit zunehmend entferne; Vererbung wurde weitgehend mit Degeneration gleichgesetzt, zumindest mit dem Risiko der Degeneration. So war auch Lombrosos

M. Hagner, Geniale Gehirne. C. Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. 13  H.- L. Kröber, »Die psychiatrische Diskussion um die verminderte Zurechnungs- und Schuldfähigkeit«; ders., »Forensische Psychiatrie«; C. Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. 11 

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»uomo delinquente« ein Degenerierter, der entsprechend seiner Anlage – die Lombroso und andere naturwissenschaftlich und soziologisch zu vermessen suchten – auf eine primitivere Entwicklungsstufe zurückgesunken war.14 »Der Degenerationsbegriff hatte sich dadurch rasch unentbehrlich gemacht, daß er ein Unterkommen für die in der älteren Psychiatrie vernachlässigten Fälle zwischen Gesundheit und psychischer Krankheit bot«.15 Gemeinsam war den unterschiedlich benannten Zuständen bis hin zu sexuellen Perversionen die Annahme, daß ihre Grundlage in genetisch bedingten, degenerativen Hirnprozessen zu suchen sei. Wenn Psychopathien aber Folge von Hirndegenerationen waren, »heredodegenerativ« wie manche neurologische Erkrankungen, waren sie Erkrankungen, nur mit leichterer Symptomatik. Erkrankung hieß hier primär, daß durch die Hirnprozesse die psychische Verfassung und das Handeln determiniert seien. Die Jahre um 1900 waren eine Blütezeit des naturwissenschaftlich veredelten Determinismus, der Mensch wurde im Maschinenmodell erfaßt, die Abläufe in vivo wurden denen in vitro gleichgesetzt, der »freie Willen« aber wurde zur mitleidig belächelten Fiktion. Aber dann kam erst einmal der 1. Weltkrieg. Die Debatte endete nach Zwischenetappen, die hier nicht nachgezeichnet werden müssen,16 vorläufig in der letzten großen Strafrechtsreform 1975. Die rechtliche Grundlage der Zuerkennung verminderter oder gar aufgehobener Schuldfähigkeit findet sich seither in den §§ 20, 21 StGB. Sie lauten: § 20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seeli­schen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. § 21 StGB Verminderte Schuldfähigkeit Ist die Fähigkeit eines Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. Dabei bedeuten –– Krankhafte seelische Störung: Psychotische Störungen – schizophren, manisch, depressiv, chronische (z. B. Alzheimer) oder akute hirnorganische Störungen (z. B. Alkoholrausch) und schwere Angst- und Zwangskrankheiten. –– Tiefgreifende Bewußtseinsstörung: Normalpsychologisch durch hochgradige affektive Erregung bedingte Bewußtseinseinengung.

14  15  16 

C. Lombroso, L‘uomo delinquente. W. Janzarik, »Forschungsrichtungen und Lehrmeinungen in der Psychiatrie«. Siehe H.- L. Kröber, »Forensische Psychiatrie«.

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–– Schwachsinn: Angeborener Intelligenzmangel (in etwa IQ unter 70). –– Schwere andere seelische Abartigkeit: Schwere Persönlichkeitsstörungen, suchtbedingte Persönlichkeitsveränderungen, sexuelle Deviationen, intensive längerdauernde Anpassungsstörungen. Stets unstreitig war für Psychiater folgendes: Psychische Krankheit, die zu einer Aufhebung der Fähigkeit zur Realitätswahrnehmung und Realitätsprüfung oder der basalen Denkfunktionen führt, hebt die Selbstbestimmung oder die freie Willensbestimmung auf. Demenz, Wahn und Paranoia, Manie und melancholische Depression stellen den Täter einer rechtswidrigen Tat schuldlos. Dies galt offenkundig schon vor der Etablierung der Psychiatrie als wissenschaftlicher Disziplin und als klinischer Institution im 19. Jahrhundert. Andere Störungen hingegen, insbesondere Intelligenzschwächen, Persönlichkeitsmängel, heftige Affekte, können die Schuldfähigkeit eventuell beeinträchtigen und die Schuld mindern, nicht aber aufheben.

3.  Psychiatrische Konzepte zur Schuldfähigkeit Die Psychiatrie hat in ihren Überlegungen zur Schuldfähigkeit nicht nur auf gesetzliche Vorgaben reagiert. Psychiater haben aus ihren Erfahrungen mit psychisch Kranken eigene Vorstellungen zur Willensfreiheit entwickelt. Sie haben nicht erst neuerdings versucht, sowohl den Gesetzgeber als auch die Strafrechtspraxis in ihrem Sinne zu beeinflussen. Begründer der Forensischen Psychiatrie war Paolo Zacchia (1584–1659), Leibarzt zweier Päpste und Konsulent am obersten Gerichtshof des Kirchenstaats. In seinen »Quaestiones medico-legales« (1621) vertrat Zacchia die Zuständigkeit der Ärzte mit dem Argument, daß »dementia« und ähnliche Krankheiten allein den Ärzten vertraut seien. Skeptisch gegenüber der Leistungsfähigkeit der Mediziner hingegen war Kant. In seiner Anthropologie (1798, § 51, 213 f.) erklärt er, nur das Irrereden im fieberhaften Zustand sei eine körperliche Krankheit. Der Irreredende ohne erkennbare körperliche Krankheitszeichen sei als Verrückter bzw. Gestörter bei einer Straftat nicht an die medizinische, sondern an die philosophische Fakultät zu verweisen. In ihren Erörterungen der Schuldfähigkeit bezogen sich die Psychiater zwar nicht unbedingt auf den jeweiligen Stand der Gesetzgebung, wohl aber auf die rechtsphilosophisch entwickelten Begriffe. Diese waren in Deutschland wesentlich von Kant (1781) und dann Hegel (1821) bestimmt. Und auch Schopenhauer, der in seiner Preisschrift (1840) keinen Raum für die Willensfreiheit fand, schrieb mit deutlichen Worten: Eine »Tatsache des Bewußtseins« (ist) »das völlig deutliche und sichere Gefühl der Verantwortlichkeit für das, was wir tun, der Zurechnungsfähigkeit für unsere Handlungen, beruhend auf der unerschütterlichen Gewißheit, daß wir selbst die Täter unserer Taten sind. Vermöge dieses Bewußtseins kommt es keinem, auch dem nicht, der von der im bisherigen dargelegten Notwendigkeit, mit welcher unsere Handlungen eintreten, völlig überzeugt ist, jemals in den Sinn, sich für ein

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Vergehen durch diese Notwendigkeit zu entschuldigen und die Schuld von sich auf die Motive zu wälzen, da ja bei deren Eintritt die Tat unausbleiblich war.« Die Psychiater waren der Überzeugung, daß sie sich über Freiheit bzw. Unfreiheit des Individuums zu äußern haben:17 »Ist oder war das Individuum im Besitze der psychischen Freiheit, oder war es imstande, sich nach den Vernunftgründen psychisch selbst bestimmen zu können?«18. Dies war eine unmittelbare Bezugnahme auf Kant. Für manche Psychiater war aber auch psychische Krankheit nicht frei von individueller Verantwortung. So schrieb J. C. A. Heinroth, Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Psychiatrie in Leipzig und im Jahr 1821 kritischer Supervisor der Gutachten über den Eifersuchtsmörders Johann Christian Woyzeck, in seinen Lehrbüchern der »Criminal-Psychologie«: »Der Mensch hat es sich jederzeit selbst zuzuschreiben, wenn er melancholisch, verrückt, wahnsinnig usw. wird«. Durch eigene Schuld habe der Straftäter die Diathesis zur Seelenstörung erworben. »Und wiederum durch seine Schuld hat er das Prinzip der Seelenstörung, die Vernunftberaubtheit, und mit ihr die Unfreiheit herbeigerufen. (…) Er sollte entschuldiget, er sollte freigesprochen werden, weil er in Verstandesverwirrung und Willensgebundenheit gehandelt? Nein! Beide, diese Verwirrung und diese Gebundenheit, sind sein Werk, seine Schöpfung, die Frucht seiner Thaten, seines Lebens, die Krone seiner Schuld. Und so möge er sich immerhin straf-unfähig gemacht haben, aber straflos ist er nicht«.19 Ein veränderter Bezug findet sich bei Wilhelm Griesinger20, der erklärte, die Lehre von der Zurechnungsfähigkeit solle besser vom Begriff der Besonnenheit als dem der Freiheit ausgehen. Er plädierte dafür, die Ärzte sollten sich dazu äußern, ob ein Krankheitszustand vorgelegen hat. Sie sollen dann sagen, ob dieser das Seelenleben überhaupt gestört hat und ob er speziell die Freiheit des Handelns aufgehoben oder beschränkt hat oder beschränken konnte. Manche späteren Psychiater vertraten noch stärker den Rückzug auf rein medizinische Aussagen. So erklärte Krafft-Ebing 21: »Nicht Zurechnungsfähigkeit noch Willensfreiheit, sondern die Feststellung der Geistesgesundheit oder Krankheit« sei die eigentliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen. Es gibt natürlich eine erhebliche Konkordanz zwischen forensisch-psychiatrischer und strafrechtlicher Anschauung des Problems. Der bedeutende und einflußreiche Strafrechtslehrer Franz von Liszt 22 hatte die oft wiederholte Formel gefunden, das Nachweis der Zitate in H.- L. Kröber, »Die psychiatrische Diskussion um die verminderte Zurechnungs- und Schuldfähigkeit«. 18  J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie. 19  J. C. A. Heinroth, Grundzüge der Criminal-Psychologie. 20  W. Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. 21  R. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. 22  F. von Liszt, »Die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit«. 17 

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Wesen der Zurechnungsfähigkeit liege in der »normalen Bestimmbarkeit durch Motive«. Der einflußreiche Strafrechtler Mezger23 erklärte, die Möglichkeit, normgemäß zu handeln, liege in der Vernunftanlage des Menschen, in dessen Fähigkeit, sein Handeln nicht durch augenblickliche Reize bestimmen zu lassen. »Wo diese Fähigkeit vernünftiger Bestimmung des eigenen Willens im allgemeinen gegeben ist, ist der Mensch zurechnungsfähig; wo sie fehlt, müssen wir ihn als unzurechnungsfähig ansehen«.

4.  Strafrechtliche Positionen zu Willensfreiheit Nach dem Wortlaut des § 51 des deutschen Reichs-Strafgesetzbuchs (RStGB) von 1870 war nach der Abklärung der psychiatrischen Eingangsvoraussetzungen (primär einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit) in einem zweiten Schritt des Feststellungsverfahrens zu prüfen, ob der Zustand des Täters zum Tatzeitpunkt geeignet war, einen Ausschluß der »freien Willensbestimmung« zu bewirken. Bei der Strafrechtsreform 1933, die noch durch die Diskussion der Weimarer Zeit geprägt war, erfolgte eine Neufassung des § 51 RStGB, der nun als fakultativen Strafmilderungsgrund eine Regelung zur verminderten Zurechnungsfähigkeit enthielt. Zugleich war dies mit dem eher begrüßten als bedauerten Abschied vom Begriff der »freien Willensbestimmung« verbunden, denn es war nun zu prüfen, wie es mit der Fähigkeit stand, »das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln«. Lammel 24 führte dazu aus, daß immer schon, auch zum Zeitpunkt der Schaffung der ersten Fassung des § 51 RStGB klar war, daß man sich in foro nicht am philosophischen Begriff der Willensfreiheit erproben sollte, sondern ein Begriffsverständnis zu entwickeln war, welches die praktische Anwendbarkeit des Begriffes erlaubte. Auch die »eingeschworensten Deterministen« hatten nie daran gedacht, die Verantwortlichkeit eines Menschen für sein Handeln zu leugnen. Haddenbrock 25 erklärte, daß »freie Willensbestimmung« (oder Steuerungsfähigkeit) gleichzusetzen sei mit menschlicher Willensfreiheit, schon 1870 bei Verabschiedung des Strafgesetzbuchs expressis verbis ausgeschlossen worden, indem im Kommentar darauf hingewiesen wurde, daß mit dem Rechtsbegriff der »freien Willensbestimmung« nicht die Freiheit des Willens im philosophischen Sinne gemeint sei, sondern der »Zustand geistiger Gesundheit ... dem die Rechtsanschauung des Volkes die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit tatsächlich zuschreibt«. Mit der Änderung der Begrifflichkeit sollte dem auch sprachlich Rechnung getragen werden. Lammel fährt fort, dies habe aber nicht bedeutet, daß damit einer Verquickung von Freiheitsmetaphysik und Strafrecht entgangen werden konnte. Die Freiheitsfrage sei aus der wissenschafts­theoretischen Diskussion grundsätzlich nicht auszuklammern. Verwiesen wird auf die einschlägige, gegen alle totalitären Konzepte des Strafrechts E. Mezger, Die Klippe des Zurechnungsproblems. M. Lammel, »Die erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit«. 25  S. Haddenbrock, »Strafrechtliche Handlungsfähigkeit und »Schuldfähigkeit«; ders., »Geistesfreiheit und Geisteskrankheit«. 23  24 

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gerichtete Entscheidung des BGH (BGHSt 2, 194), daß der Mensch auf freie, verantwortliche und sittliche Selbstbestimmung angelegt und zur Verantwortungsübernahme für sein Tun befähigt ist. Gleichwohl wurde die philosophische Grundfrage von vielen Strafrechtlern, so auch Schreiber, jahrzehntelang letztlich ausgeklammert. Schreiber26 nannte die Argumente, die gegen ein vom ethischen Indeterminismus geprägtes Verständnis der Schuld sprechen, das die Willensfreiheit des Menschen zur Voraussetzung hat, und plädierte für die Verwendung eines pragmatisch-sozialen Schuldbegriffes, der mit Schuld das Prinzip subjektiver Zurechnung normabweichenden (in Form des rechtswidrigen) Verhaltens meint. Danach sei im Strafrecht nur ein pragmatisches, sozial-vergleichendes Schuldurteil möglich, und zwar in dem Sinne, daß die Rede vom Anders-handeln-Können nicht vor dem Hintergrund eines indeterministischen Freiheitsbegriffes geführt wird, sondern damit gemeint ist, »daß ein durchschnittlich anderer in einer solchen äußeren und inneren Situation generell anders, d. h. normgemäß hätte handeln können, daß ihm nach unserer Erfahrung Handlungsspielräume zur Verfügung standen«27. Der Sachverständige, der zur Beurteilung der Fähigkeit zur Schuld herangezogen wird, muß dieses Verständnis strafrechtlicher Schuld akzeptieren, unabhängig von der Frage, ob er sich als Determinist (hier nun Kompatibilist oder Inkompatibilist) oder Indeterminist bekennt und ob er überhaupt eine explizite persönliche Auffassung zur Willensfreiheit hat.

5.  Psychiatrie als Wissenschaft vom subjektiven Erfahrungsraum So sehr Krankheit, auch psychische Krankheit – wie auch das gesunde Leben des Menschen – im somatischen Grund verwurzelt ist, so sehr ist psychische Krankheit und ihre Symptomatik ganz überwiegend nur subjektiv erfahrbar. In einer führenden wissenschaftlichen Zeitschrift der amerikanischen Psychiatrie, dem American Journal of Psychiatry, erklärte Kendler28: »Psychiatry is irrevocably grounded in mental, first-person experiences«. Psychiatrie als medizinische Disziplin habe das Ziel, das subjektive Leiden ihrer Patienten zu lindern. Bei diesem Leiden handele es sich um dysfunktionale Veränderungen in verschiedenen Gebieten der subjektiven (Erste-Person-) Wahrnehmung, wie Stimmung, Wahrnehmen, Denken. Die Krankheitslehre der Psychiatrie sei weitgehend bestimmt durch Beschreibungen aus der Erste-Person-Perspektive (z. B. niedergeschlagene Stimmung, Halluzinationen, oder irrationale Ängste). Viele Zielsymptome kann die Psychiatrie nur behandeln, indem sie die Patienten nach ihrem subjektiven Befinden befragt. Kendler wirbt für einen mind / brainMonismus, bei dem es aber sowohl eine Kausalität von psychischen und sozialen Einflüssen auf die Hirnfunktion gibt als auch eine Kausalität in entgegengesetzter Richtung. Er verweist auf eine ganze Reihe von Erlebnissen, die fatale psychische Auswirkungen haben können und nur aus der »subjektiven« Perspektive erfaßt werden können: so zum Beispiel 26  27  28 

H.- L. Schreiber, »Rechtliche Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung«. A. a. O., 5. K. S. Kendler, »Toward a philosophical structure for psychiatry«.

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Erlebnisse der Demütigung, der sozialen Ohnmacht oder des Verlusts. Wer nur noch Phänomene gelten lasse, die mit physikalischen Methoden registrierbar seien, negiere nahezu alles, was Aufgabe und Existenzberechtigung der Psychiatrie ausmache. Zugleich verleugne der Biologist ein weites Feld von empirisch gut gesicherten Risikofaktoren für psychisches Erkranken, die nicht auf der Ebene somatischer Einflüsse liegen, wie soziale Umgebung, Integration, psychische Belastungen und kulturelle Erfahrungen. Angemessen sei ein Erklärungs-Pluralismus hinsichtlich der multifaktoriellen Genese. Kendler wandte sich entschieden gegen den biologistischen Reduktionismus, der irrig glaubt, die jeweils »physikalischere« Ebene sei elementarer und wahrer – als könnte man beispielsweise Hormonstörungen zwar pathophysiologisch ganz gut beschreiben, »eigentlich« aber am besten auf der Ebene der Teilchenphysik verstehen und beeinflussen, weil diese die elementarere Ebene sei. Dies bedeutet natürlich auch, daß sich psychische Phänomene am besten mit einer psychopathologischen Begrifflichkeit beschreiben und verstehen lassen, während die Reduktion auf neuronale Potentialschwankungen einen massiven Informationsverlust beinhalten würde, der unter Forschungsaspekten natürlich sinnvoll sein kann, um einen umschriebenen Informationsgewinn über die elektrophysiologischen Funktionsmuster bestimmter neuronaler Netze zu erreichen. Man wird aber die Psychopathologie deswegen nicht für entbehrlich halten. Mit ganz ähnlichen Argumenten wandten sich die Herausgeber des »Nervenarzt« in einem Editorial gegen den eliminativen Materialismus einiger Hirnforscher, die alle Phänomene, die nicht mit physikalischen Meßmethoden zu beschreiben sind, als subjektive »Illusionen« und »eigentlich nicht existent« zurückweisen. Hier hieß es:29 »Psychische Erkrankungen spielen sich vor allem in der ›Innenperspektive‹ der Patienten ab. Sie leiden unter krankheitsbedingten Veränderungen im Selbsterleben, in Gefühlen, Emotionen und Hoffnungen, Erwartungen, Vorstellungen, in Selbsteinschätzung und Einschätzung anderer, also unter Abwandlungen von Subjektivität und Interpersonalität. Diese korrelieren zwar mit Hirnprozessen, sie haben aber auch eine darüber hinausgehende und gleichwohl natürliche Eigenständigkeit.« Korrelate begründen aber noch keine Kausalität, zudem sei die Richtung einer möglichen Kausalität offen. Zugleich zweifelte das Editorial nicht an der Fähigkeit zu freien Willensentscheidung. Diese sei zumindest beim gesunden Menschen, von Extremsituationen abgesehen, »vorhanden und erlebbar; bei seelischen Krankheiten kann sie dagegen eingeschränkt sein. So fühlen sich Patienten mit Wahn- oder Zwangskrankheiten genötigt, bestimmte Handlungen vorzunehmen oder bestimmte Gedanken zu denken, ohne das aufgrund eigener Willensbestimmung zu wollen. Die Wiederherstellung subjektiv erlebter Handlungsautonomie und Entscheidungsautonomie ist das therapeutische Ziel, das durch pharmakotherapeutische und psychotherapeutische Interventionen in Hirnprozessen erreicht wird. Es ist wenig plausibel anzunehmen, daß es sich dabei nur um die Wiederherstellung der ›gesunden‹ Illusion der Willensfreiheit geht.«30. Von der Annahme menschlicher Freiheit bei der Willensbildung, beim Treffen der Entscheidung und beim Steuern der Handlung gehe die Psychiatrie (wie der Bundesgerichtshof) auch bei der Beurteilung von Straftätern aus. 29  30 

Maier et al., »Hirnforschung und Menschenbild im 21. Jahrhundert«, 543. Maier et al., »Hirnforschung und Menschenbild im 21. Jahrhundert«, 544.

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6.  Roth und Singer zum Strafrecht Kommen wir zu den neurobiologischen Strafrechtsreformatoren. Beim Zoologen Roth heißt es, da Willensfreiheit nicht mehr sei als ein illusionäres Gefühl, könne es auch kein Verschulden geben. Schon 1994 äußerte Roth seinen subjektiven Glauben, daß das »Ich« nicht mehr sei als ein Konstrukt (»nicht mehr als« ist eine Lieblingswendung aller Reduktionisten). Und zwar ein Konstrukt des Gehirns. Er läßt »DAS GEHIRN« sozusagen als unkontrollierbaren, autonomen Gottvater wirken, ausdeutbar nur durch Fachleute, durch Hirnforscher eben. Statt nun korrigierend zu bedenken, daß das Gehirn zwar Vorstellungen und Selbstwahrnehmungen hervorbringen mag, daß aber »Konstrukte« immer an einen sozialen Diskurs von Personen gebunden sind und keinen anderen Ort der Existenz haben als im Diskurs, ist Roth schon weiter und in der sozialen Anwendung seiner Idee: »Es muß sehr sorgfältig diskutiert werden, ob und inwieweit es sowohl bei der Strafe als Sühne wie auch bei Strafe als Erziehung zum Besseren einen großen Unterschied macht, ob man das Ich als Konstrukt bestraft (wenn dies überhaupt möglich ist) oder das Gehirn und seinen Organismus als autonomes System«31. Wie auch immer man diesen Satz dreht und wendet: er ist hochgradig verdächtig darauf, den gehobenen Blödsinn zu enthalten, der entsteht, wenn man dem Gehirn die subjektiven Eigenschaften von Personen verleiht, die man der Person soeben abgesprochen hat, z. B. Bewußtsein, Verantwortlichkeit und Schuld. Schuld ist an Person, Bewußtsein und Subjekthaftigkeit gebunden, ein Organ des Körpers wie das Gehirn kann man vielleicht mißhandeln, aber man kann es schlechterdings nicht bestrafen, nicht als Konstrukt und nicht als Fleischklumpen. Im Jahre 2001 ist Roth sich dann sicher: »Nach all den Befunden, die in diesem Buch präsentiert wurden, müssen wir von Folgendem ausgehen: Menschen können im Sinne eines persönlichen Verschuldens nichts für das, was sie wollen und wie sie sich entscheiden, und das gilt unabhängig davon, ob ihnen die einwirkenden Faktoren bewußt sind oder nicht, ob sie sich schnell entscheiden oder lange hin und her überlegen.«32 . Nicht die Schuld, sondern die Sozialgefährlichkeit und die Besserung sollten im Mittelpunkt des Strafvollzugs stehen – als wäre dies nicht der seit 30 Jahren gesetzlich festgelegte Zweck des Strafvollzugs. Neurowissenschaftler sollten an der Beurteilung der Besserungsfähigkeit von Straftätern beteiligt werden, als gebe es keine forensische Psychiatrie. Aber statt der unzuverlässigen Geisteswissenschaftler sollen halt strenge, infolge Empathiemangels unbestechliche Naturwissenschaftler ans Ruder. Wenn das Gehirn der König ist, ist der Hirnforscher der Oberkönig, der allein weiß, wie man Kö-

31  32 

G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, 330. G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, 541.

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nige dazu bringt, das zu tun, was Hirnforscher wollen. Das ganze läuft auf ein Konzept der naturwissenschaftlichen Expertenherrschaft hinaus. Trotz Determiniertheit sei Besserung möglich: durch Erziehung. Wie soll das angehen? Man kann im Glaubensbekenntnis von Roth offenkundig nicht die Person erziehen, sondern nur dem Gehirn zusätzliche determinierende Einflüsse vermitteln. Aber wie tritt man in Kontakt mit dem Gehirn? Vermutlich mit Drogen, elektrischem Strom, transkranieller Magnetstimulation, chirurgischer oder chemischer Kastration? Roth jedenfalls schreibt, die Gesellschaft habe »ihren Mitgliedern das Gefühl der Verantwortung für das eigene Tun einzupflanzen, und zwar nicht auf Grund freier Willensentscheidung, sondern aus der durch Versuch und Irrtum herbeigeführten Einsicht heraus, daß ohne ein solches Gefühl (…) das gesellschaftliche Zusammenleben nachhaltig gestört ist.«33. Also die Gesellschaft wird es jetzt richten. Aber wie? Ist oder hat die Gesellschaft ein Gehirn, oder ist sie ein Konstrukt, und wie pflanzt die Gesellschaft Einsichten in Gehirne? Liegt man richtig, wenn man beim Einpflanzen an Mikrochips denkt? Und wenn der Betreffende selbst sein Verhalten und Entscheiden nicht beeinflussen kann, wie können es dann andere beeinflussen – oder ist das womöglich eine Illusion? Gerhard Roth arbeitet gern mit der Gegenüberstellung von »bewußt« und »unbewußt« und verweist darauf, daß sehr viele Hirnprozesse unbewußt seien. Das soll den Gedanken befördern, daß darauf basierende Entscheidungen dann wohl nicht bewußt, willentlich und frei sein können. So lautet der Titel einer neueren Veröffentlichung von Roth34: »Das Zusammenwirken bewußt und unbewußt arbeitender Hirngebiete bei der Steuerung von Willenshandlungen« (Hervorhebung durch den Verf.). Der Titel verdeutlicht den bei Roth konstitutiven Kategorienfehler, das Schwimmen zwischen objektiv-beschreibenden und interpretierenden, deutenden Termini in einer eigentlich metaphorischen Sprache. Denn nicht ein einziges Hirngebiet arbeitet »bewußt«, kein einziges Hirngebiet hat »Bewußtsein«, schon gar nicht ein Bewußtsein seines Arbeitens. Niemand hat je introspektiv gewußt, welches Hirngebiet gerade arbeitet, selbst wenn er sich im höchsten Maße darauf konzentrierte. Auch aus der Außenperspektive des objektiven Naturforschers kann niemand erkennen, daß ein Hirngebiet »bewußt« arbeitet. Dieser Verlust sinnhaften Sprechens findet sich auch, wenn ein anderer Buchtitel Roths heißt »Aus der Sicht des Gehirns«. Wingert35 wies darauf hin, daß nur Personen Standpunkte einnehmen können – also trete der Autor auf hinter der Maske des Gehirns (was das Gehirn zur persona machen würde), und wenn er dann dem Gehirn personenspezifische Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreibe, werde die Grenze sinnvollen Redens überschritten. Das neueste Buch Roths heißt »Das Gehirn und seine Freiheit«; doch mag man gar nicht schauen was passiert, wenn man Gehirne aus dem 33  34  35 

A. a. O., 544. G. Roth. Das Gehirn und seine Freiheit. L. Wingert, »Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung«, 240.

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Gefängnis der Person in Freiheit entläßt. Fuchs36 hat darauf hingewiesen, daß Roth einerseits das Ziel verfolgt, Bewußtsein und Subjektivität zu »naturalisieren«, also rein neurobiologisch zu erklären, und Subjektivität zu einem Epiphänomen von Hirnvorgängen zu machen. Das »Ich« werde als Konstrukt entlarvt, als Selbsttäuschung des Gehirns. Die solcherart dekonstruierte Subjektivität werde aber durch die Hintertür wieder eingeführt, indem Roth das Gehirn personalisiert und ihm menschliche Tätigkeiten attestiere. So heiße es: Es »nimmt wahr«, so heißt es dann, es »weiß« oder »erkennt«, es »stellt sich vor, was im Gehirn anderer Personen vorgeht.« Fuchs dazu: »Der Kategorienfehler fällt kaum noch auf – das Gehirn ist zum Nachfolger des Subjekts geworden«37. Es ist dies eine charakteristische Volte des Naturalismus, Stellvertreter (homunculi) der Person, des einmaligen Menschen mit seiner einmaligen subjektiven Perspektive einführen zu müssen. Medizinhistoriker wie Olaf Breidbach38 haben dargestellt, daß es in der ganzen mehrhundertjährigen Geschichte der Hirnforschung nie so war, daß aus empirischen Befunden eine Theorie über die Funktionsweise höherer Hirnfunktionen abgeleitet wurde. Stets gab es den entgegengesetzten Weg: vorbestehende Konzepte über den psychischen Apparat, wie zum Beispiel Bewußtsein / Unbewußtsein, Willen, Motivation, Urteilskraft, wurden in einem zweiten Schritt empirisch unterfüttert mit eben den morphologischen oder funktionellen Hirnbefunden, die zu diesen Modellen passen. Freuds Vorstellungen von der Hirntätigkeit mit Trieb, Druck, Verschiebung, Verdrängung lehnte sich an ein Vokabular der industriellen Mechanik jener Zeit an. Es ist kein Zufall, daß viele Studenten sich heute das Gehirn kaum anders als einen besonders guten Computer vorstellen können. Gerne wird auch von »neuronalen Netzen« gesprochen, bei denen es sich aber ebenfalls um mathematische Programme handelt. Michael Hagner39 hat entsprechend die Wissenschaftsgeschichte der Hirnforschung primär als eine Ideengeschichte gefaßt. Gleichwohl hält sich bei manchen Autoren die Anschauung, als wären unsere Deutungen der Gehirntätigkeit gänzlich deduktiv aus »objektiven« Befunden abgeleitet und nicht Interpretationen, die sich zu Voten aus 2400 Jahren Ideengeschichte verhalten, mit der jeder schon aufgewachsen ist und anhand derer er seine individuellen kognitiven Muster entwickelt hat, auf denen auch seine – subjektiven – Deutungen naturwissenschaftlicher Sachverhalte beruhen. Auch Wolf Singer hat sich offensiv zum Strafrecht geäußert. Er ist bekennender Determinist, der alles Seelische und Geistige nur für Epiphänomene einer selbstgenügsamen Neuronenaktivität hält. Er gehört zu jenen, die »Steuerungsfähigkeit« und »Willensfreiheit« als »Illusion« abtun. In einer auf gutgläubige Laien abzielenden Argumentation hält er bereits die Tatsache, daß es im Gehirn keine zentrale Kontroll- oder Steuerungseinheit gibt, für einen hinlänglichen Beweis, daß das subjektive Gefühl der

36  T. Fuchs, »Ökologie des Gehirns. Eine systemische Sichtweise für Psychiatrie und Psychotherapie«. 37  A.a.O, 1. 38  O. Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. 39  M. Hagner, Geniale Gehirne.

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bewußten Verhaltenssteuerung eine reine Täuschung sein müsse. (Tatsächlich kann am Phänomen der bewußten Verhaltenssteuerung kein Zweifel sein, und man nimmt an, daß diese Leistung von vernetzten neuronalen Expertensystemen erbracht wird)40. In einer oberflächlichen Adaptation philosophischer Termini wird der Glauben kundgetan, nur diejenigen Phänomene seien wirklich existent, die sich in einer »Dritte-Person-Perspektive« mit physikalischen Verfahren abbilden lassen; eine »Illusion«, ja in Wirklichkeit gar nicht existent seien all je Phänomene, die nur der einzelne subjektiv in der »Erste-Person-Perspektive« erleben kann: Liebe, Sorge, Schönheit, Kunst, Glauben, Zukunft, Freiheit. In einem Interview mit Spektrum der Wissenschaft wurde er 2001 zur sozialen Nutzanwendung seines Glaubensbekenntnisses gefragt:41 Frage: Was würde sich ändern, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, daß der »freie Wille« nur in der Erste-Person-Perspektive real, aus Sicht der Naturwissenschaft jedoch nicht existent ist? Singer: Wir würden vermutlich ein wenig toleranter werden, nachsichtiger, verständnisvoller. Wir würden nicht so schnell aburteilen. Was sollte uns da nachsichtiger machen? Singer: Die gleiche Überlegung, die uns gegenüber Epileptikern und Schizophrenen nachsichtig gemacht hat. (…) Wir gehen wegen der Einsicht in die Bedingtheit ihres Verhaltens nun wesentlich humaner mit ihnen um. Wir haben sie als Opfer verstanden, die für ihre Handlungen nichts können. Ähnlich könnte ich mir vorstellen, daß unser Umgang mit Menschen, die wir heute als »Kriminelle« bezeichnen, verständnisvoller werden könnte – ohne daß sich allerdings unser Strafvollzug grundlegend änderte. Soweit präsentiert Singer sich also als besonders nachsichtig und verständnisvoll. Dies ist aber durchaus kompatibel mit der Maxime des Rechtsanwalts Gerhard Schröder, die da lautete »Wegsperren, und zwar für immer«. Das Interview geht nämlich so weiter: Wie meinen Sie das? Nehmen wir einmal an, es gebe jemanden, der eine sehr niedrige Tötungsschwelle hat, aus welchen Gründen auch immer. (…) Die fragliche Person ist für die Gesellschaft extrem gefährlich, weil sie ihre Tat bei jedem vergleichbaren Anlaß immer wieder begehen könnte. Also muß man sich vor ihr schützen. (…) Ich muß daran arbeiten, diejenigen Attraktoren in seinem Gehirn zu stärken, die die fragliche Tötungsschwelle höher setzen würden. Wir würden Straftäter also wegsperren und bestimmten Erziehungsprogrammen unterwerfen, die durchaus auch Sanktionen einschließen würden. Wir wissen doch, 40  Siehe T. Goschke, »Volition und kognitive Kontrolle«; H.- L. Kröber, »Forensische Psychiatrie«. 41  W. Singer, Ein neues Menschenbild?

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daß Erziehung sowohl der Belohnung als auch der Sanktion bedarf. Mit anderen Worten: wir würden hübsch das Gleiche tun wie jetzt auch schon. Allein die Betrachtungsweise hat sich geändert.«42 Wenn sich die Betrachtungsweise ändert, ändert sich auch das Personal. Statt Juristen und einem Spruchkörper sollen künftig Naturforscher nach einem Blick auf den Bildschirm entscheiden, ob einer rein muß oder raus darf. Eine Perspektive, so attraktiv wie weiland das Naturforscher-Produkt namens Frankenstein. Das Ärgernis mit Roth und Singer liegt darin, daß Sie Wechsel auf zukünftige wissenschaftliche Erkenntnisse ausstellen, die sie nie werden einlösen können. Sie suggerieren eine Genauigkeit so zu gewinnender Erkenntnisse, die extrem weit entfernt ist von den tatsächlich vorhandenen naturwissenschaftlichen Möglichkeiten – und weit entfernt von (nur subjektiv beurteilbarer) Gerechtigkeit. Jedes Gespräch mit einem Menschen ist bislang und in absehbarer Zukunft ungleich aussagekräftiger als das Abbild seines gesunden Gehirns.

7.  Das »Manifest« der Hirnforscher Unlängst veröffentlichten 11 sogenannte »führende Neurowissenschaftler« ein »Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung«.43 Unter den Autoren finden sich auch Roth und Singer, die aber offenbar von ihren Kollegen weit zurückgepfiffen wurden. So ist das Manifest relativ bescheiden und solide im Wahrheitsgehalt der Aussagen geworden. Darin heißt es: Was wir in zehn Jahren über den genaueren Zusammenhang von Gehirn und Geist wissen werden, hängt vor allem von der Entwicklung neuer Untersuchungsmethoden ab. Das »wo« im Gehirn, über das uns heute die funktionelle Kernspintomografie Auskunft gibt, sagt uns noch nicht, »wie« kognitive Leistungen durch neuronale Mechanismen zu beschreiben sind. Für einen echten Fortschritt in diesem Bereich benötigen wir ein Verfahren, das eine Registrierung beider Aspekte in einem ermöglicht. Wie entstehen Bewußtsein und Ich-Erleben, wie werden rationales und emotionales Handeln miteinander verknüpft, was hat es mit der Vorstellung des »freien Willens« auf sich? Die großen Fragen der Neurowissenschaften zu stellen ist heute schon erlaubt – daß sie sich bereits in den nächsten zehn Jahren beantworten lassen, allerdings eher unrealistisch. Selbst ob wir sie bis dahin auch nur sinnvoll angehen können, bleibt fraglich. Dazu müßten wir über die Funktionsweise des Gehirns noch wesentlich mehr wissen. Da wissen elf Hirnforscher also wesentlich weniger als einer allein. Weiter heißt es zutreffend:

42  43 

A. a. O., 33–34. C. Elger et al., »Das Manifest«.

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Die Beschreibung von Aktivitätszentren mit PET oder fMRT und die Zuordnung dieser Areale zu bestimmten Funktionen oder Tätigkeiten hilft hier kaum weiter. Daß sich alles im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt, stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar. Denn »wie« das funktioniert, darüber sagen diese Methoden nichts, schließlich messen sie nur sehr indirekt, wo in Haufen von Hunderttausenden von Neuronen etwas mehr Energiebedarf besteht. Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch mißt, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet. Das ist doch nun mal erfrischend ehrlich, und man könnte noch einiges weiteres zur sogenannten »Blobologie« sagen, der aktuellen Neuauflage der Phrenologie, die das Gehirn neu kartiert mit vom Computer orange angefärbten, vermeintlichen oder tatsächlichen Aktivierungszonen, den sogenannten Blobs. Die Auflösung ist ähnlich hoch wie die eines Globus im Wohnzimmer, auf dem man nur mühsam den Freistaat Sachsen zu erkennen vermag, geschweige denn Stadtteile von Leipzig. Die bunten Bilder, die so gerne vorgezeigt werden, obwohl sie von Laien und Journalisten schwerlich in ihrer Aussagekraft eingeschätzt werden können, haben im Umgang mit der Öffentlichkeit die Funktion von Reliquien: sie sollen einschüchtern und zugleich den Glauben stärken wie das Leichtentuch von Turin. In Wirklichkeit ist es ein weiter Weg von den Bildern in funktionellen MRT zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.44 Gehring45 hat die naive Bildgläubigkeit der naturalistischen Hirnforscher und ihres Laienpublikums aus philosophischer Perspektive beleuchtet. Und dann kommt eine zentrale Aussage im Manifest: »Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, daß unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als ›seine‹ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant – all dies verstehen wir noch nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.«

8.  Der Täter als Bürger oder der Täter als Kranker Wenn man genau hinschaut, positionieren sich Roth und Singer, aber natürlich auch der Verfasser in einem alten strafrechtspolitischen Streit. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gibt es den Kampf der zwei Strafrechtsschulen, deren Positionen sich in etwa so skizzieren lassen:46

44  H.- L. Kröber, »Die Hirnforschung bleibt hinter dem Begriff strafrechtlicher Verantwortlichkeit zurück« 45  P. Gehring, »Es blinkt, es denkt«. 46  H.- L. Kröber, »Täter, Tod und Deuter«; ders., »Die psychiatrische Diskussion um die verminderte Zurechnungs- und Schuldfähigkeit«.

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»Klassische« Strafrechtsschule – Strafrecht ist bescheiden (1) auf die rechtswidrige Tat fokussiert (2) Es sieht Bestrafung als Kompensation des Rechtsbruchs. (3) Es zielt darauf ab, das verletzte Recht punktuell (nie dauerhaft) wiederherzustellen. (4) Es hat wenig Interesse an der Person des Angeklagten (außer im Fall von Unzurechnungsfähigkeit). (5) Die Schwere der Strafe entspricht der Schwere der Schuld und damit im wesentlichen der Schwere der Tat. (6) Wer seine schuldangemessene Strafe verbüßt hat, wird wieder frei, also ein Bürger mit allen Freiheitsrechten und -pflichten. »Moderne« Strafrechtsschule – Strafrecht als Weg zur idealen, straftatfreien Gesellschaft (1) Modernes Strafrecht fokussiert auf den Täter. (2) Es sieht Bestrafung als moralische Behandlung des Täters. (3) Es folgt einer Strategie von »social defense«, Prävention, Auslöschung des Verbrechens (→ Big Brother, Totalitarismus). (4) Es ist primär an der Gefährlichkeit einer Person interessiert. (5) Es erklärt das Begehen von Straftaten zur »Natur« (»Gehirn«) eines Menschen. Er ist von seinem Gehirn gezwungen, Straftaten zu begehen, daher muß er dauer­haft weggesperrt werden, solange man sein Gehirn nicht verändern kann. Die Vertreter der »klassischen« Strafrechtsschule beharrten auf der Willensfreiheit und einem tatbezogenen (statt täterbezogenen) Strafrecht. Sie erwarteten nicht mehr, als punktuell (nie überdauernd) das verletzte Recht wiederherstellen zu können. Sie standen jedoch auf verlorenem Posten gegenüber dem optimistischen Anspruch der Fortschrittler, Körper, Mensch und Gesellschaft rational gestalten zu können. Sie beanspruchten, sie könnten bald fehlerhafte durch fehlerfreie Programme ersetzen. Auf die Einlösung dieser Versprechen warten wir immer noch. Dabei war es damals wie heute: Die Befunde über neuronale Netzwerke, regionale Aktivierungen und Zytoarchitektonik des Gehirns können nur dann deterministisch gedeutet werden, wenn man von ebensolchem Standpunkte ausgeht, indeterministisch oder kompatibilistisch hingegen, wenn man von einem Konzept der Kreativität oder auch der Emergenz ausgeht. Unverkennbar aber sind die sozialen Konsequenzen: Wer nicht frei ist, kann auch keine Verantwortung übernehmen, kann kein Bürger sein. Dagegen setzte Hegel sein befreiendes Wort, in der Strafe werde der Verbrecher als Vernünftiges geehrt – als ein Bürger, der gegen sein eigenes Recht verstoßen hat.47 Dies ist auch ein durchaus nicht selten anzutreffender psychologischer Sachverhalt: daß ein Angeklagter sich (trotz möglicher Nachteile beim Strafmaß) vehement dagegen wehrt, daß man ihm die Fähigkeit zu seiner Tat und seine Verantwortung abspricht zugunsten irgendeiner G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §  100; siehe auch M. Pawlik. Person, Subjekt, Bürger. 47 

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cerebralen Dysfunktion. Spricht man ihm die Dysfunktion zu, läuft er ganz praktisch Gefahr, auf lange Zeit nicht mehr in Freiheit entlassen zu werden, unabhängig von der Schwere seines Delikts und vom Strafmaß.

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Der Begriff der Willensfreiheit im deutschen Strafrecht1 Marcus Willaschek

1.  Einleitung Der Zusammenhang zwischen Willensfreiheit, Schuld und Strafe ist für das deutsche Strafrecht von fundamentaler Bedeutung. § 46 des StGB besagt, dass sich die Höhe der Strafe an der Schwere der Schuld bemisst, woraus unmittelbar der sogenannte Schuldgrundsatz folgt: keine Strafe ohne Schuld. Unter Schuld versteht das Strafrecht die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat, die darin besteht, dass diese dem Täter selbst zur Last zu legen ist und dieser, wie es heißt, »dafür kann«. Dabei hebt die vorherrschende sogenannte »normative Schuldlehre« insbesondere auf die »Vorwerfbarkeit der Willensbildung« ab.2 Diese liegt jedoch nur dann vor, wenn der Täter seinen Willen auch anders hätte bilden können, nämlich in Übereinstimmung mit dem Recht, wenn er sich also anders hätte entscheiden können, als er es tatsächlich getan hat. Diese Fähigkeit des Anders-Handeln- und Anders-Entscheidenkönnens wird traditionell als das zentrale Merkmal der Willensfreiheit angesehen, die sich damit als notwendige Bedingung von Schuld und somit von Strafe erweist. Keine Strafe ohne Schuld, keine Schuld ohne Willensfreiheit. Dieser Zusammenhang ist keine Erfindung des deutschen Strafrechts, sondern tief im Selbstverständnis des modernen Menschen und in seinen sozialen Praktiken verankert. Auch in alltäglichen Zusammenhängen verdient man nur für dasjenige Tun Vorwürfe und Tadel, für das man verantwortlich ist, und man ist nur dann verantwortlich, wenn man die Möglichkeit hatte, sich gegen die entsprechende Handlung zu entscheiden. Auch hier gilt also, in strenger Analogie zum Strafrecht: Kein Tadel ohne Verantwortung und keine Verantwortung ohne Willensfreiheit. Tatsächlich muss man im strafrechtlichen Begriff der Schuld, dem wegen seiner theologischen Konnotationen für viele Ohren etwas Vormodern-Unaufgeklärtes anhaftet, nicht mehr sehen als den auf die Zwecke des Strafrechts eingeschränkten und reglementierten alltäglichen Begriff der Verantwortung. Dass erwachsene Menschen für das meiste, das sie tun, verantwortlich sind und deshalb für manche ihrer Handlungen Lob oder Tadel verdienen, dass aber Entschuldigungsgründe wie Unabsichtlichkeit, Versehen sowie innerer Die zentrale These dieses Textes geht auf ein gemeinsam mit Klaus Günther gehaltenes Seminar über Willensfreiheit, Verantwortung und Schuld im deutschen Strafrecht zurück. Ich danke Klaus Günther für entscheidende Anregungen und wichtige Hinweise. Für wertvolle Hinweise zu früheren Fassungen dieses Textes danke ich außerdem Claudia Blöser und Michel de Araujo Kurth. 2  Vgl. H.- H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 363; dazu kritisch W. Schild, »Kommentierung von § 20 StGB«, 66. 1 

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und äußerer Zwang diese Verantwortung einschränken oder ausschließen können – all das sind im alltäglichen Umgang der Menschen miteinander unhinterfragte Selbstverständlichkeiten. Auch wenn dieser Zusammenhang zwischen Willensfreiheit und Verantwortung bzw. Schuld in der neueren Strafrechtsliteratur nicht ganz unumstritten ist 3 , werde ich ihn für die Zwecke dieses Vortrags voraussetzen. Die meiner Meinung nach zentrale Frage lautet nicht, ob Willensfreiheit eine Voraussetzung von Schuld ist, sondern in welchem Sinn des vieldeutigen Wortes »Willensfreiheit« dies der Fall ist und welchen Status wir der Annahme, dass Menschen über Willensfreiheit verfügen, zubilligen. Auf diese beiden Fragen gibt die herrschende Meinung in der deutschen Strafrechtswissenschaft die beiden folgenden Antworten: (1) Willensfreiheit ist die Fähigkeit, sich gegen alle entgegenstehenden Motive für das Recht entscheiden zu können und erfordert somit, dass die Tat nicht durch ebendiese Motive oder durch andere kausale Faktoren determiniert ist. Diese Fähigkeit ist weder im Allgemeinen noch im Einzelfall empirisch nachweisbar. (2) Daraus ergibt sich zugleich die Antwort auf die zweite Frage nach dem Status der Willensfreiheitsannahme: Weil Freiheit empirisch weder beweisnoch widerlegbar ist, handelt es sich um eine normative Unterstellung, eine Präsupposition oder ein Postulat. 4 Im Folgenden werde ich diese Auffassung zurückweisen und eine Alternative dazu anbieten, die ohne ein Willensfreiheitspostulat auskommt. Zunächst möchte ich jedoch ganz kurz auf eine Übereinstimmung dieser herrschenden Lehre mit den Thesen jener Hirnforscher und Psychologen hinweisen, die die Existenz von Willensfreiheit für empirisch widerlegt halten. 5 Im Gegensatz zur herrschenden Lehre bestreiten diese Forscher, dass es sich bei der Willensfreiheit um ein nicht-empirisches Phänomen handelt und plädieren für den Verzicht auf den Schuldbegriff und eine radikale Umgestaltung des Strafrechts. Dennoch teilt diese Kritik mit der herrschenden Lehre im Strafrecht eine wichtige Annahme: Der Begriff der Willensfreiheit, so die Annahme, ist ein vorrechtlicher Begriff, dessen Inhalt nicht durch die Rechtspraxis selbst festgelegt wird, sondern von dem man unabhängig von rechtlichen Zusammenhängen fragen kann und fragen muss, ob er ein reales Phänomen erfasst oder nicht. Daher sind die Kriterien, nach denen sich entscheidet, ob jemand über Willensfreiheit verfügt, auch keine innerrechtlichen Kriterien, sondern dem Recht vorgelagert. Den Neurowissenschaftlern zufolge entscheidet sich im Labor und nach empirisch-wissenschaftlichen Kriterien, ob Menschen jemals über einen freien Willen verfügen; vielen Strafrechtswissenschaftlern zufolge handelt es sich dagegen um eine metaphysische Frage, die sich überhaupt Vgl. dazu unten, Fn. 15. Dabei distanziert sich die herrschende Meinung mit guten Gründen von der berühmten Formulierung Kohlrauschs, Willensfreiheit sei eine »staatsnotwendige Fiktion«, denn die Rede von einer Fiktion setzt ja voraus, dass es Willensfreiheit in Wirklichkeit nicht gibt, während die herrschende Meinung gerade darauf besteht, dass wir dies nicht wissen können, und daraus das Recht des Gesetzgebers ableitet, Willensfreiheit normativ zu fordern bzw. vorauszusetzen. 5  Vgl. z. B. W. Singer, »Keiner kann anders, als er ist« und W. Prinz, »Kritik des freien Willens: Bemerkungen über eine soziale Institution«. 3  4 

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nicht entscheiden lässt; Freiheit muss deshalb vorausgesetzt werden. Beide stimmen aber darin überein, dass es keine innerrechtlichen Kriterien gibt, die es uns erlauben, im Rahmen eines Strafverfahrens mit hinreichender Sicherheit festzustellen, dass ein bestimmter Mensch über Willensfreiheit verfügt. Es ist diese Annahme, die ich im Folgenden kritisieren werde und zu der ich eine Alternative anbieten möchte.

2.  Der dreistufige Straftatsbegriff und das Postulat der Willensfreiheit Um die genaue Rolle des Begriffs der Willenfreiheit im deutschen Strafrecht einschätzen zu können, ist es notwendig, kurz auf den sogenannten dreistufigen Verbrechensbegriff einzugehen, mit dessen Hilfe das deutsche Strafrecht die Straftat konzeptualisiert und an dem sich jede Einzelfallentscheidung zu orientieren hat. Danach ist eine Handlung genau dann strafbar, wenn drei Bedingungen erfüllt sind, die als Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld bezeichnet werden. Es ist demnach zunächst zu prüfen, ob die Handlung unter einen der im Strafgesetzbuch genannten Straftatbestände fällt. 6 Ist das der Fall, muss zweitens geprüft werden, ob die Handlung rechtswidrig war. Davon ist bei gegebener Tatbestandsmäßigkeit normalerweise auszugehen. Geprüft werden muss nur, ob ausnahmsweise Bedingungen wie Notwehr oder rechtfertigender Notstand vorliegen, die zur Folge haben, dass die Handlung trotz ihrer Tatbestandsmäßigkeit rechtmäßig war. (Darauf werde ich gleich zurückkommen.) Und drittens schließlich ist zu prüfen, ob der Täter schuldhaft gehandelt hat. Dabei werden verschiedene »Schuldmerkmale« unterschieden, die der Richter prüfen muss: Ist der Täter überhaupt schuldfähig? Verfügt er über Unrechtsbewusstsein? usw. Es ist die Frage nach der Schuldfähigkeit, in deren Zusammenhang Willensfreiheit für das deutschte Strafrecht relevant wird. Wie im Fall der Rechtswidrigkeit ist bezüglich der Schuldfähigkeit kein positiver Nachweis erforderlich, sondern der Richter muss nur feststellen, dass keiner der im StGB genannten Gründe für Schuldunfähigkeit vorliegt, nämlich einerseits Minderjährigkeit unter 14 Jahren (§ 19), andererseits eine schwere seelische Störung (§ 20). Für Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren ist die Schuldfähigkeit im Einzelfall zu prüfen (§ 3 JGG). Liegt keiner dieser Umstände vor, ist der Angeklagte schuldfähig.7 In dieser dreigliedrigen Konzeption der strafwürdigen Tat kommt der Begriff der Willensfreiheit explizit nicht vor. Es ist aber herrschende Lehre, die sich u. a. auf

Dabei wird unterschieden zwischen den sogenannten objektiven Tatbestandsmerkmalen, also der Frage, ob der Angeklagte z. B. tatsächlich das Opfer getötet oder unter Eid eine Falschaussage gemacht hat, und den subjektiven Tatbestandsmerkmalen, insbesondere der Vorsätzlichkeit, also der Frage, ob der Täter den Tatbestand wissentlich und willentlich verwirklicht hat. Während mit Blick auf die objektiven Tatbestandsmerkmale ein positiver Nachweis erforderlich ist, darf die Vorsätzlichkeit normalerweise vorausgesetzt werden, sofern keine Gründe vorliegen, sie zu bezweifeln. 7  Von der Möglichkeit der verminderten Schuldfähigkeit sehe ich hier ab; vgl. dazu M. Willaschek, »DNS – Doch nicht schuldig?«. 6 

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höchstrichterliche Entscheidungen berufen kann, dass Schuldfähigkeit Willensfreiheit voraussetzt, fehlende Willensfreiheit also Schuldfähigkeit ausschließt. So heißt es in einer immer wieder zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1952: »Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden« (BGHSt 2, 200). Dies wird durchgängig als Bekenntnis zu einem indeterministischen Konzept von Willensfreiheit als Grundlage des Schuldbegriffs verstanden: Schuldhaft handelt nur, wer sich gegen alle Motive, die ihn zu rechtswidrigem Handeln motivieren, auch anders, nämlich rechtmäßig, hätte entscheiden können. Eine solche indeterministische Form der Willensfreiheit sah der BGH als gegeben an. Auch die gegenwärtig herrschende Lehre betrachtet indeterministische Willensfreiheit als notwendige Bedingung für Schuld. Sie nimmt jedoch mit Blick auf die Frage, ob Menschen tatsächlich über Freiheit in diesem Sinn verfügen, einen »agnostischen« Standpunkt ein, da diese Frage empirisch nicht entscheidbar sei. Daraus ergibt sich unmittelbar die Notwendigkeit, dass Willensfreiheit vorausgesetzt oder postuliert werden muss, wenn man am Schuldbegriff festhalten will: Willensfreiheit, so zum Beispiel Hans-Heinrich Jescheck im einflussreichen Leipziger Kommentar zum StGB, sei nicht beweisbar, sondern ein »praktisches Postulat«8. Der Agnostizismus hat hier zwei Seiten, die sich gegenseitig stützen: Weil Willensfreiheit nicht beweisbar ist, muss sie postuliert werden, sofern man das Schuldstrafrecht nicht aufgegeben will; aber weil Willensfreiheit auch nicht widerlegbar ist, kann sie postuliert werden, ohne mit den Tatsachen in Konflikt zu geraten. Der Agnostizismus, so scheint es, eröffnet einen unangreifbaren Standpunkt, der es erlaubt, Willensfreiheit als Grundlage des Strafrechts zu akzeptieren, ohne sich auf damit verbundene metaphysische Annahmen festlegen zu müssen.9

H.- H. Jeschek, »Kommentierung von § 20 StGB«, 13. »Die Frage nach der Legitimation eines auf dem Schuldprinzip aufbauenden Strafrechts […] braucht […] nicht deshalb verneint zu werden, weil die Freiheit des Menschen als individueller Person nicht beweisbar […], sondern nur postulierbar ist« (T. Lenckner, »Vorbemerkung §§ 13 ff.«, Rdn. 110). – In diesem wichtigen Punkt unterscheidet sich auch die Position Claus Roxins nicht von der herrschenden Meinung, denn auch Roxin bekennt sich zum Agnostizismus. Im Unterschied zur herrschenden Meinung verzichtet er darauf, Willensfreiheit zu postulieren, und fordert stattdessen die »normative Ansprechbarkeit« des Täters. Deren Vorhandensein sei aber selbst eine »normative Setzung«. Wie sich im Folgenden zeigen soll, ist eine solche normative Ansprechbarkeit jedoch selbst ein zentrales Element in jedem plausiblen Begriff von Willensfreiheit. Außerdem stellt sich die Frage, ob dieselben Gründe, die Roxin völlig zu Recht gegen ein Willensfreiheitspostulat als Grundlage des Schuldstrafrechts anführt, nicht auch gegen die »Forderung« normativer Ansprechbarkeit sprechen. Dass es sich bei den Unterschieden zwischen der herrschenden Meinung und Roxin nur noch um verbale Differenzen handelt, wird nahegelegt durch C. Roxin, Strafrecht, 743. 8  9 

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3.  Willensfreiheit und Normalitätsunterstellung Das Postulat der Willensfreiheit, wie es die herrschende Lehre als Grundlage des Schuldstrafrechts versteht, besagt im Kern, dass erwachsene Menschen normalerweise die Fähigkeit haben, sich für eine rechtmäßige Handlung zu entscheiden und diese Entscheidung umzusetzen, und zwar auch dann, wenn sie de facto rechtswidrig handeln. Aus diesem generellen Postulat allein folgt natürlich noch nichts über den einzelnen Straftäter und seine Tat. Wenn Willensfreiheit eine notwendige Bedingung für Schuldhaftigkeit ist, dann muss nicht nur gelten, dass Menschen normalerweise über Willensfreiheit verfügen, sondern auch, dass dieser Täter bei Begehung seiner Tat über Willensfreiheit verfügte.10 Hier stellen sich nun laut herrschender Lehre ganz analoge Probleme wie bei der generellen Willensfreiheitsannahme. Aufgrund des nicht-empirischen Charakters der Willensfreiheit, des zeitlichen Abstands zwischen Strafverfahren und Tat sowie der prinzipiellen Unsicherheit forensischer Gutachten sei es nämlich unmöglich, mit Sicherheit festzustellen, ob ein Täter zur Tatzeit über Willensfreiheit im Sinne eines Andershandelnkönnens verfügt hat oder nicht. Diese Lücke schließt die herrschende Meinung mit einer, wie Klaus Günther es nennt, »Normalitätsunterstellung«11, die im Kern besagt, dass der Täter tatsächlich über jene Fähigkeit des Andershandelnkönnens verfügt, über die die Menschen dem generellen Freiheitspostulat zufolge normalerweise verfügen.12 Dabei wird angenommen, dass aus der bloßen Tatsache, dass vor Gericht kein Schuldausschlussgrund ersichtlich wurde, nicht folgt, dass der Täter tatsächlich über Willensfreiheit verfügte. Es handelt sich hierbei vielmehr um eine normativ aufgeladene Unterstellung.13 Zusammenfassend können wir festhalten, dass die in der deutschen Strafrechtswissenschaft vorherrschende Lehre zum Verhältnis von Willensfreiheit und Schuld durch vier zentrale Thesen gekennzeichnet ist: (1) Schuld setzt Willensfreiheit im Sinne eines Andershandelnkönnens voraus. (2) Willensfreiheit in diesem Sinn ist empirisch weder beweisbar noch widerlegbar. (3) Das Strafrecht beruht auf dem Postulat, dass Men-

Zur Unterscheidung dieser beiden Ebenen vgl. z. B. H.- H. Jescheck, »Kommentierung von § 20 StGB«; T. Lenckner, »Vorbemerkung §§ 13 ff.«, 192 ff. 11  K. Günther, »Wie Menschen Normen und Wertvorstellungen mit beeinflussen«, 75 ff. 12  »Freiheit und Verantwortung werden [...] normalerweise vorausgesetzt, so dass sich die Schuldfrage für das Strafrecht auf die Frage beschränkt, ob nicht ausnahmsweise aufgrund außergewöhnlicher Situationen oder geistiger oder psychischer Mängel [...] Schuld ausgeschlossen ist« (H.- J. Rudolphi, »Vorbemerkung vor § 19: Schuldlehre«, 118; kursiv M. W.) Es ist wichtig sich klarzumachen, dass es sich hier um eine zusätzliche Annahme handelt, die mit dem generellen Freiheitspostulat noch nicht abgedeckt ist. Das Freiheitspostulat besagt, dass Menschen im Allgemeinen und normalerweise über Willensfreiheit im Sinne des Andershandelnkönnens verfügen. Die Normalitätsannahme hingegen besagt, dass für jeden einzelnen Straftäter angenommen werden darf, dass er über diese Fähigkeit verfügt, sofern keine Schuldauschlussgründe vorliegen. 13  »Im Übrigen beruht das ›Dafür-Können‹, um das es hier geht, zwar auf der Annahme der Möglichkeit freier Selbstbestimmung […], dies wegen der Unbeweisbarkeit menschlicher Willensfreiheit aber iS eines ›normativ gesetzten‹ Andershandelnkönnens […], das deshalb im Normalfall bei einem erwachsenen, geistig gesunden Täter vom Recht ohne weiteres vorausgesetzt wird« (T. Lenckner, »Vorbemerkung §§ 13 ff.«, 196). 10 

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schen normalerweise über Willensfreiheit verfügen. (4) Im Einzelfall greift die Normalitätsunterstellung, wonach Willensfreiheit unterstellt werden darf, sofern keine besonderen Umstände dagegen sprechen.14 – Im Folgenden werde ich zunächst an die auch in der Strafrechtsliteratur diskutierten Gründe erinnern, warum diese vier Thesen, und insbesondere die Normalitätsunterstellung, keine ausreichende Basis für das Schuldstrafrecht darstellen. Im Anschluss werde ich zu zeigen versuchen, dass das deutsche Strafrecht implizit auf einen Begriff von Willensfreiheit festgelegt ist, der Postulate und Normalitätsunterstellungen überflüssig macht, weil er vollständig im Nichtvorliegen von Schuldausschlussgründen aufgeht.

4.  Postulate und Unterstellungen reichen als Grundlage für Strafen nicht aus Zunächst in aller Kürze zu den Gründen, weshalb ein nicht-empirischer Begriff der Willensfreiheit, ein generelles Freiheitspostulat und eine empirisch nicht einholbare Normalitätsunterstellung keine geeignete Basis für das Strafrecht darstellen. Ich möchte zwei Punkte hervorheben. Erstens ist ein nicht-empirischer Begriff der Willensfreiheit mit den Postulaten und Unterstellungen, die er nötig macht, in rechtspraktischer Hinsicht bedeutungslos. Für die strafrechtliche Praxis (etwa für die Feststellung der Schuldfähigkeit oder bei der Strafzumessung) kann er keine Rolle spielen. Die Bedingungen, unter denen Schuldfähigkeit eingeschränkt sein kann oder nicht gegeben ist (nämlich bei Kindern und Jugendlichen einerseits, im Fall von schweren seelischen Störungen andererseits), sind durch das StGB hinreichend genau spezifiziert. Es sind allein diese Bedingungen, deren Vorliegen ein Richter im Strafverfahren zu prüfen hat. Liegen, wie es bei 99 % der Strafverfahren der Fall ist, keine Schuldausschlussgründe vor, dann gilt der Angeklagte im rechtlichen Sinn als schuldfähig – ganz gleich, welche Auffassung über Willensfreiheit der Richter vertreten mag. Da eine positive Prüfung, ob Willensfreiheit vorliegt, weder rechtlich erforderlich noch (bei einem nicht-empirischen Begriff der Willensfreiheit) überhaupt möglich ist, handelt es sich beim generellen Freiheitspostulat und der Normalitätsunterstellung um akademische Lehrstücke, die keinen Einfluss auf das Vorgehen in einem Strafverfahren haben können. Die strafrechtliche Praxis wäre ebenso mit der Annahme vereinbar, dass nicht-empirische Willensfreiheit keine Voraussetzung von Schuld ist und daher auch nicht postuliert werden muss. Zweitens ist die bloße Voraussetzung oder Unterstellung von Willensfreiheit als Grundlage für Strafe moralisch unzureichend, da stets die Möglichkeit besteht, dass Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die strafrechtliche Literatur immer noch mit der Gegenüberstellung von »Determinismus« und »Indeterminismus« arbeitet, wobei unter ersterem der in der Philosophie sog. »harte Determinismus« (Alles ist determiniert; Willensfreiheit erfordert, dass der Wille nicht determiniert ist; also gibt es keine Willensfreiheit), unter letzterem der in der Philosophie sog. »Libertarianismus« (Willensfreiheit erfordert, dass der Wille nicht determiniert ist; es ist nicht alles determiniert; es gibt Willensfreiheit) verstanden wird. Dabei kommt die Möglichkeit einer kompatibilistischen Position erst gar nicht in den Blick. 14 

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die empirisch nicht überprüfbare Unterstellung entweder bereits im Allgemeinen oder aber im konkreten Einzelfall unzutreffend ist. Es ist in der Literatur umstritten, ob sich das Prinzip »In dubio pro reo« über die Anwendung auf die Tatbestandsmerkmale hinaus auch auf die Bedingungen der Schuldfähigkeit erstreckt, wie zum Beispiel Claus Roxin und Reinhard Merkel annehmen.15 Doch selbst wenn man diese rechtliche Frage offen lässt, wird man feststellen müssen, dass es in einem moralischen Sinn eklatant ungerecht wäre, einen Menschen zu bestrafen, wenn wir mit Blick auf eine zentrale Voraussetzung seiner Strafwürdigkeit zugeben müssten, dass sie nach allem, was wir wissen können, ebenso gut erfüllt wie nicht erfüllt sein könnte. Wir können uns dies an einem Gedankenexperiment klarmachen: Ein Arbeitskollege hat mich kaltblütig belogen und sich dadurch einen gravierenden persönlichen Vorteil verschafft. Später gesteht er die Lüge ein, bedauert sie aufrichtig und versichert, er werde das nie wieder tun. Nun betrachten wir zunächst zwei unterschiedliche Szenarien. Im ersten Fall erfahren wir, dass der Kollege kurz zuvor einen Schlaganfall erlitten hat, der zu einem vorübergehenden Ausfall jener Gehirnfunktionen geführt hat, die erforderlich sind, um sich in den Standpunkt anderer Menschen zu versetzen und diesen in die eigenen Entscheidungen mit einzubeziehen. Im zweiten Fall hat er keinen Schlaganfall erlitten. Während es im zweiten Fall verständlich und angemessen wäre, dem Kollegen die Lüge trotz seines nachträglichen Bedauerns übel zu nehmen und vorzuwerfen, wäre das im ersten Fall anders. Die Feststellung, dass der Schlaganfall es dem Kollegen unmöglich gemacht hat, die Falschheit seines Tuns einzusehen, hätte zur Folge, dass wir ihm die Lüge nicht übel nehmen sollten und dies normalerweise auch nicht tun würden. Nun betrachten wir ein drittes Szenario, in dem der Kollege einen Schlaganfall erlitt, bei dem aber mit den heute verfügbaren Untersuchungsmethoden nicht feststellbar ist, ob die fraglichen Funktionen tatsächlich ausgefallen sind oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei ca. 50 %. Wäre es gerecht, dem Kollegen seine Lüge übelzunehmen und sie ihm vorzuwerfen? Ich meine nicht. Der Grund ist, dass wir nicht sicher genug wissen, dass er für diese Lüge tatsächlich verantwortlich war. Es wäre unfair, ihn gleichsam auf Verdacht verantwortlich zu machen. Angesichts der Tatsache, dass er inzwischen seine Tat aufrichtig bereut und, so wollen wir annehmen, sich selbst nicht erklären kann, wie er jemals so handeln konnte, müssen wir ihm zugutehalten, dass es nach allem, was wir wissen, sehr gut möglich war, dass er die moralische Falschheit seines Tuns zum Zeitpunkt des Handels gar nicht erkennen konnte. Auch wenn es uns schwer fiele, dürften wir den Kollegen für die Lüge nicht verantwortlich machen. Alles andere wäre ungerecht. – Die Lehre aus diesem Gedankenexperiment lässt sich unmittelbar auf die Willensfreiheitsproblematik im Strafrecht übertragen: Wenn es unentscheidbar ist, ob ein Täter bei Begehung der Tat das Unrecht seines Tuns einsehen konnte, dann sind wir in moralischer Hinsicht verpflichtet davon auszugehen, dass er dazu nicht in der Lage war und dürfen ihn daher nicht als schuldfähig betrachten. Dass das deutsche Strafrecht tatsächlich nach diesem Prinzip verfährt, zeigt sich an der Behandlung Minderjähriger unter 14 Jahren. Diese gelten nach § 19 StGB ausnahms15 

Vgl. C. Roxin, Strafrecht, 733; R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 115 ff.

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los als schuldunfähig, während für über 14-Jährige eine Prüfung des Einzelfalls erforderlich ist. Nun liegt es auf der Hand, dass manche 12-Jährige bereits über dieselben Fähigkeiten zur Unrechtseinsicht und Selbststeuerung verfügen wie die meisten 14-Jährigen. Der Gesetzgeber hätte prinzipiell die Altersgrenze also (wie noch das Reichsgesetz) auch niedriger ansetzen oder aber ganz auf eine solche Grenze verzichten und stets eine Einzelfallprüfung verlangen können. Angesichts der Tatsache, dass eine solche Prüfung schwierig und fehlbar ist, hat die Vorgabe einer strikten Altersgrenze jedoch eine wichtige Schutzfunktion: Da bei den meisten 12-Jährigen die für die Schuldfähigkeit erforderlichen Fähigkeiten noch nicht vorliegen, hat der Gesetzgeber im Zweifel zu ihren Gunsten bestimmt, dass sie generell nicht als schuldfähig gelten sollen. Diese Überlegungen führen uns zu folgendem Ergebnis: Wenn Willensfreiheit eine Voraussetzung für Schuld ist, wir aber nicht wissen können, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, dann ist es moralisch ebenso wie juristisch unzulässig, Menschen für ihr Tun Schuld zuzuschreiben, insbesondere dann, wenn damit Sanktionen verknüpft sind. Doch das bedeutet, dass die bloße Postulierung und Unterstellung einer empirisch nicht nachweisbaren Willensfreiheit weder rechtlich sinnvoll noch moralisch vertretbar ist. Die herrschende Lehre ist meines Erachtens daher unhaltbar. Tatsächlich ist sie für den unvoreingenommenen Betrachter sofort als instabile Rückzugs- und Ausweichposition erkennbar, die nur dazu dient, trotz der zugestandenen Unnachweisbarkeit von Willensfreiheit an dieser als Voraussetzung von Schuld festhalten zu können. Ich werde dagegen nun für die These argumentieren, dass das deutsche Strafrecht ohne generelles Freiheitspostulat und Normalitätsunterstellung auskommt.

5.  Rechtswidrigkeit als anfechtbarer Rechtsbegriff Betrachten wir zunächst kurz das Verhältnis zwischen Rechtswidrigkeit und Rechtfertigungsgründen. Wie bereits erwähnt, muss Rechtswidrigkeit nicht positiv nachgewiesen werden. Vielmehr ist Rechtswidrigkeit, wie es heißt, »indiziert«, sofern ein Straftatbestand erfüllt ist. Wir haben es also, mit einem Ausdruck H. L. A. Harts, mit einem anfechtbaren Rechtsbegriff zu tun16, d. h. mit einem Begriff, der die folgende logische Struktur hat: (AB) Falls Ausgangsbedingungen A gegeben sind, liegt der rechtliche Status B vor, es sei denn, es ist eine der Ausnahmebedingungen C1–Cn gegeben. Angewendet auf den Begriff der Rechtswidrigkeit ergibt sich daraus: (RW) Falls eine Handlung H einen Straftatbestand verwirklicht [Ausgangsbedingung], ist H rechtswidrig [rechtlicher Status], es sei denn, einer der im deutschen Strafrecht anerkannten Rechtfertigungsgründe liegt vor [Ausnahmebedingung]. 16 

Vgl. H. L. A. Hart, »The Ascription of Responsibility and Rights«.

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Nun wird in der Strafrechtsliteratur auch mit Blick auf die Rechtswidrigkeit häufig davon gesprochen, dass Rechtswidrigkeit unterstellt oder von ihrem Vorliegen ausgegangen werden darf, sofern keine Rechtfertigungsgründe erkennbar sind. Es könnte daher scheinen, als hätten wir es auch hier mit einer Art Normalitätsunterstellung zu tun, wonach Taten, die einen Straftatbestand erfüllen, normalerweise rechtswidrig sind. Doch das ist nicht der Fall. Um das zu sehen, müssen wir zwischen Anfechtbarkeit auf der begrifflichen und der epistemischen Ebene unterscheiden. Während es auf der begrifflichen Ebene darum geht, was es heißt, dass eine Handlung rechtswidrig ist, geht es auf der epistemischen Ebene darum, wann wir gerechtfertigterweise annehmen dürfen, dass eine Handlung rechtswidrig ist. Da bei den allermeisten Straftaten keine Rechtfertigungsgründe vorliegen, muss ihr Vorliegen nur dann näher geprüft werden, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass im vorliegenden Fall solche Gründe gegeben sein könnten. Es gilt daher auf der epistemischen Ebene: (RWe) Falls eine Handlung H einen Straftatbestand verwirklicht, darf von der Rechtswidrigkeit von H ausgegangen werden, sofern keine Anzeichen dafür erkennbar sind, dass einer der im deutschen Strafrecht anerkannten Rechtfertigungsgründe vorliegt. Es handelt sich hier um eine pragmatische Verfahrensregel für Gericht und Staatsanwaltschaft, wonach allen Hinweisen auf das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen nachgegangen werden muss. Das bedeutet jedoch nicht, dass für die Feststellung der Rechtswidrigkeit alle irgendwie denkbaren Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen werden müssen, auch wenn es keine Hinweise auf ihr Vorliegen gibt. Wenn wir jedoch fragen, unter welchen Bedingungen eine Handlung tatsächlich rechtswidrig ist (und nicht, wann von ihrer Rechtswidrigkeit ausgegangen werden darf), dann lautet die Antwort nicht: wenn es keine Hinweise auf Rechtfertigungsgründe gibt, sondern: wenn tatsächlich keine Rechtfertigungsgründe vorliegen. Genau das besagt das Prinzip RW: Der Begriff der Rechtswidrigkeit ist vollständig durch das Vorliegen einer Ausgangsbedingung (hier also der Tatbestandsmäßigkeit) und das Nicht-Vorliegen von Ausnahmebedingungen (hier der Rechtfertigungsgründe) bestimmt. Sofern diese Bedingungen erfüllt sind, bleibt auf der begrifflichen Ebene keine Lücke mehr, die durch ein Postulat oder eine Unterstellung geschlossen werden müsste.

6.  Schuldfähigkeit als anfechtbarer Zuschreibungsbegriff Vergleichen wir dies nun mit dem Begriff der Schuldfähigkeit, so zeigt sich, dass die herrschende Lehre hier zu einem ganz anderen Bild gelangt. Auch für die Schuldfähigkeit gilt, dass sie im Normalfall unterstellt werden darf: (Se)  Ist der Täter über 17 Jahre alt [= Ausgangsbedingung], darf von seiner Schuldfähigkeit ausgegangen werden [rechtlicher Status], sofern keine Anzeichen dafür erkennbar sind, dass ein Schuldauschlussgrund nach § 20 StGB (seelische Störung) gegeben ist [Ausnahmebedingung].

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Auch hier ist es aus pragmatischen Gründen sinnvoll, nicht zu verlangen, dass alle irgendwie denkbaren Schuldausschlussgründe definitiv ausgeschlossen werden, bevor die Schuldfähigkeit festgestellt werden kann. So muss ein Gericht nur dann prüfen, ob der Angeklagte unter einer schweren seelischen Störung litt, wenn es irgendwelche Hinweise darauf gibt, dass dies der Fall gewesen sein könnte. In den allermeisten Fällen liegen keine solchen Hinweise vor, so dass ohne nähere Prüfung von der Schuldfähigkeit ausgegangen werden darf. Doch wie wir mit Blick auf die Rechtswidrigkeit gesehen haben, legen diese pragmatischen Erwägungen nicht fest, unter welchen Bedingungen jemand nun tatsächlich rechtswidrig oder schuldhaft gehandelt hat. Der herrschenden Lehre zufolge gilt dies umso mehr, als zu den zumindest prinzipiell empirisch überprüfbaren Schuldausschlussgründen nach § 20 eine nicht-empirische Bedingung für Schuldfähigkeit tritt, nämlich die (indeterministische) Willensfreiheit, so dass kein direkter Weg vom Nichtvorliegen von Schuldausschlussgründen zum Vorliegen von Schuldfähigkeit führt. Die herrschende Lehre ist daher auf das folgende Prinzip festgelegt: (ShL) Falls der Täter über 17 Jahre alt ist, ist er schuldfähig, sofern er über indeterministische Willensfreiheit verfügt und kein Schuldauschlussgrund nach § 20 vorliegt. Weil die indeterministische Willensfreiheit empirisch weder beweisbar noch widerlegbar ist, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, Willensfreiheit im Allgemeinen zu postulieren und im Einzelfall zu unterstellen  – wie ich angedeutet habe, ist das eine unhaltbare Position. Die Alternative dazu dürfte nun auf der Hand liegen. In strikter Analogie zur Rechtswidrigkeit sollten wir den Begriff der Schuldfähigkeit so verstehen, dass sein Inhalt vollständig durch eine Ausgangsbedingung (hier die Volljährigkeit) und das Nichtvorliegen von Ausnahmebedingungen (hier die Schuldausschlußgründe nach § 20) festgelegt wird: (S) Ist der Täter über 17 Jahre alt, so ist er schuldfähig, sofern kein Schuldauschlussgrund nach § 20 StGB vorliegt. Nur dieser Begriff von Schuldfähigkeit erlaubt es, dass diese in der vor Gericht üblichen Weise, nämlich durch das Ausschließen von Schuldausschlussgründen, festgestellt werden kann. Schuldfähigkeit, so mein Zwischenergebnis, ist ein anfechtbarer Rechtsbegriff im Sinne Harts.17

17  So auch K. Günther, »Wie Menschen Normen und Wertvorstellungen mit beeinflussen«, 75. Hart zufolge ist für anfechtbare Begriffe weiterhin entscheidend, dass die Liste der Ausnahmebedingungen offen ist und der Begriff daher nicht durch die Angabe von notwendigen und gemeinsam hinreichenden Bedingungen definierbar ist. Davon sehe ich hier ab.

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7.  Willensfreiheit als anfechtbarer Rechtsbegriff Wenn das richtig ist, dann stellt sich die Frage, was das für den Begriff der Willensfreiheit im Strafrecht bedeutet. Zwei Optionen tun sich auf: Erstens könnte man die Konsequenz ziehen, dass der Begriff der Willensfreiheit für das Strafrecht bei Lichte betrachtet überhaupt keine Rolle spielt.18 Dagegen spricht jedoch die im Alltag wie im Recht tief verankerte Verbindung zwischen Verantwortung und Willensfreiheit. Wer nicht anders handeln kann, als er es tut, der ist für das Unrecht, das er begeht, auch nicht verantwortlich und trägt keine Schuld.19 Sofern Willensfreiheit in dieser Fähigkeit des Andershandelnkönnens besteht, wird man nur schwer plausibel machen können, dass Willensfreiheit keine Voraussetzung für ein akzeptables Schuldstraftrecht ist. Ich möchte daher die zweite Option prüfen, die darin besteht, dass auch die strafrechtlich relevante Willensfreiheit ein anfechtbarer Rechtsbegriff ist. Genauer gesagt möchte ich dafür plädieren, dass der über seine Ausschlussgründe bestimmte Begriff der Schuldfähigkeit auf einen Begriff von Willensfreiheit verweist, für den gilt, dass er genau dann erfüllt ist, wenn keine Schuldausschlussgründe vorliegen. Betrachten wir zunächst die beiden für den Begriff der Willensfreiheit zentralen Arten von Schuldausschlussgründen, nämlich Minderjährigkeit nach § 19 und seelische Störungen nach § 20. Nach § 19 handelt schuldlos, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist. Und § 20 lautet: »Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.« Auch wenn die Formulierung des § 20 den Schwerpunkt auf die psychopathologischen Ursachen der Schuldunfähigkeit legt, macht sie im letzten Satzteil doch explizit, was für Schuldfähigkeit erforderlich ist, nämlich einerseits die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen – die sogenannte Einsichtsfähigkeit – sowie andererseits die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln  – die sogenannte Steuerungsfähigkeit. Wenn Kinder unter 14 Jahren grundsätzlich von der Schuldfähigkeit ausgenommen sind, so deshalb, weil sie im Regelfall über diese Fähigkeiten noch nicht im ausreichenden Maß verfügen. Meine These lautet nun, dass ein plausibler Begriff von Willensfreiheit nicht mehr, aber auch nicht weniger umfasst als Einsichts- und Steuerungsfähigkeit.

Unter den deutschen Strafrechtslehrern haben diese Position, wenn auch in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichen Begründungen, vor allem Claus Roxin und Günther Jakobs vertreten; vgl. Roxin, Strafrecht, 741; Jacobs, Strafrecht, 484 ff. 19  Harry Frankfurt hat bekanntlich mithilfe eines Gedankenexperiments zu zeigen versucht, dass Verantwortung nicht voraussetzt, dass man anders hätte handeln können (vgl. H. Frankfurt, »Alternate Possibilities and Moral Responsibility«). Die Konsistenz und Aussagekraft dieses Gedankenexperiments ist allerdings bestritten worden; vgl. dazu die Beiträge von Fischer, Ekstrom und Widerker in R. Kane, The Oxford Handbook of Free Will. 18 

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8.  Willensfreiheit als Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Es ist bekanntlich sowohl unter Juristen als auch unter Philosophen umstritten, was genau unter Willensfreiheit zu verstehen ist. In der Philosophie werden häufig zwei Aspekte als zentral betrachtet, die man als Urheberschaft und als Kontrolle bezeichnen kann. 20 Urheberschaft bedeutet, dass die Entscheidung vom Handelnden selbst ausgeht. Das wird häufig in einem indeterministischen Sinn verstanden, wonach die Entscheidung nicht durch vorhergehende Faktoren determiniert ist, so dass es dem Handelnden bis zum Moment der Entscheidung offen steht, sich so oder anders zu entscheiden. Dass ein Handelnder die Kontrolle über die eigenen Handlungen und Entscheidungen hat, wird meist so verstanden, dass es von seinen als richtig eingesehenen Gründen abhängt, wie er sich entscheidet. Versteht man Urheberschaft in einem indeterministischen Sinn, so steht sie in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Aspekt der Kontrolle, denn wenn es von allen vorhergehenden Faktoren unabhängig sein soll, wie man sich entscheidet, dann scheint die Entscheidung auch nicht davon abzuhängen, welche Gründe man als richtig einsieht. Ein konsistenter Begriff der Willensfreiheit, der beide Aspekte vereint, muss daher entweder auf den Indeterminismus verzichten oder den Anspruch auf rationale Kontrolle herabsetzen.21 Verschiedene Philosophen haben zwar versucht, beide Aspekte von Willensfreiheit ungekürzt miteinander zu verbinden 22 , doch ich bin skeptisch, ob dies gelingen kann. An dieser Stelle kommt es mir jedoch nur darauf an, dass es keineswegs abwegig ist, Willensfreiheit als eine Kombination von Fähigkeiten zu verstehen, die hinter der maximalen Verbindung von indeterministischer Urheberschaft und zufallsresistenter Kontrolle zurückbleibt, solange dem Urheber- und dem Kontrollaspekt in nachvollziehbarer Weise Rechnung getragen wird. 23 Genau das scheint mir das strafrechtliche Konzept der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu leisten. Dabei liegt das Primat auf dem Aspekt der rationalen Kontrolle der eigenen Entscheidungen. Jemand, der über die im Strafrecht relevante Einsichtsfähigkeit verfügt, muss das »Unrecht seiner Tat« einsehen können. Dies ist, anders als in der Literatur manchmal behauptet, keine rein kognitiv-theoretische Fähigkeit, da etwas als Unrecht einzusehen normalerweise mit einschließt, im Unrechtscharakter der Handlung einen Grund, wenn auch nicht immer einen hinreichenden Grund zu sehen, die

Vgl. z. B. R. Kane, The Significance of Free Will. Wer Urheberschaft im indeterministischen Sinn versteht, wird zugestehen müssen, dass es kein Verlust, sondern gerade eine Ausübung von Willensfreiheit ist, sich gegen alle als richtig eingesehenen Gründe zu entscheiden. Wer Willensfreiheit hingegen primär als rationale Kontrolle über die eigenen Entscheidungen versteht, wird darauf bestehen müssen, dass der Zusammenhang zwischen Gründen und Entscheidungen nicht dem Zufall anheimfallen darf. Auch die letztgenannte Auffassung muss die Möglichkeit von zufälligen Störungen, die rationale Kontrolle verhindern, nicht bestreiten. Sie wird sie jedoch nicht als Ausübung, sondern gerade als Verlust von Willensfreiheit begreifen. 22  Vgl. z. B. R. Kane, The Significance of Free Will, G. Keil, Willensfreiheit. 23  Zu einer Kritik an zwei klassischen Argumenten für den Inkompatibilismus vgl. Willaschek 2008. 20  21 

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fragliche Handlung zu unterlassen.24 Die Steuerungsfähigkeit besteht dann darin, diesen Grund tatsächlich zu einem hinreichenden Grund machen und dementsprechend handeln zu können. Sie umfasst also selbst wieder zwei Momente: Erstens muss man in der Lage sein, sich aufgrund seiner Einsicht in den Unrechtscharakter der Handlung auch dann gegen die Handlung zu entscheiden, wenn andere starke Motive für sie sprechen; und zweitens muss man diese Entscheidung umsetzen, d. h. ihr entsprechend handeln können. Letzteres wird häufig nicht mehr unter den Begriff der Willensfreiheit, sondern den der Handlungsfreiheit gefasst, doch das können wir hier außer Acht lassen. Wichtig ist, dass die strafrechtlich relevante Einsichts- und Steuerungsfähigkeit jedenfalls das umfasst, was man in der Philosophie unter dem Kontrollaspekt der Willensfreiheit versteht: die Fähigkeit, seine Entscheidungen davon abhängig zu machen, was man als richtig eingesehen hat. Doch wie steht es mit dem Aspekt der Urheberschaft? Wenn, wie ich zeigen möchte, strafrechtlich relevante Willensfreiheit nicht über die Abwesenheit von Schuldausschlussgründen hinausgeht, dann kann es sich offenbar nicht um Urheberschaft in einem Sinne handeln, der einen Indeterminismus voraussetzt. Wir suchen also einen weniger anspruchsvollen, aber dennoch nachvollziehbaren Sinn, in dem erwachsene, geistig gesunde Menschen Urheber ihrer eigenen Entscheidungen sind, während dies für Kinder und seelisch gestörte Menschen nicht gilt. Eine mögliche Antwort erlaubt ein, wie ich es nennen möchte, reflexives Konzept praktischer Identität, wonach Motive, Gründe und Entscheidungen dann in einem emphatischen Sinn meine eigenen sind, wenn ich sie mir in einem Akt der kritischen Reflexion selbst aneignen kann.25 Das bedeutet nicht, dass ich mir jedes meiner Motive in einem solchen Akt explizit aneignen muss, damit es mein eigenes ist; aber es bedeutet doch, dass meine eigenen Motive einer kritischen Reflexion standhalten würden und ich sie nicht als etwas Fremdes, nicht zu mir selbst Gehörendes einschätzen müsste. Urheber meiner eigenen Entscheidungen bin ich demnach dann, wenn ich aus Gründen handle, die ich mir in diesem Sinn selbst aneignen kann, oder, wie wir näher an der Sprache des Gesetzgebers sagen können, aus Gründen, deren Richtigkeit ich einsehen kann. Das ist sicherlich nicht das, was die sogenannten Libertarier in der Willensfreiheitsdebatte sich traditionell unter Urheberschaft vorgestellt haben, aber es ist eine Fähigkeit, deren Vorliegen es erlaubt davon zu sprechen, dass es bei mir liegt, wie ich mich entscheide. Und was ist mit der Fähigkeit des Andershandelnkönnens? Ist sie nicht ebenfalls ein zentraler Aspekt des Begriffs der Willensfreiheit, ein Aspekt zumal, der scheinbar den Indeterminismus voraussetzt? Während ich nicht bestreiten möchte, dass zur Willensfreiheit die Fähigkeit des Andershandelnkönnens gehört, glaube ich nicht, dass diese einen Indeterminismus erfordert. Zweifellos gibt es einen Sinn von Andershandelnkönnen, der mit dem Determinismus unvereinbar ist. Das ist der Sinn, in dem jemand nur dann hätte anders handeln können, wenn er aus exakt denselben Gründen, bei Vgl. G. Mohr, »Welche Willensfreiheit braucht das Strafrecht?«. Vgl. dazu M. Willaschek, »Der eigene Wille«; C. Blöser / A. Schöpf / M. Willaschek, »Autonomy and Experience«. 24 

25 

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derselben Motivlage und denselben Randbedingungen sich auch anders hätte entscheiden können. Nennen wir dies den metaphysischen Sinn von Ausdrücken wie »können« oder »Fähigkeit«. In diesem Sinn hätte man in einer deterministischen Welt niemals anders handeln können als man es tat. Dennoch gilt in einem ganz alltäglichen Sinn, dass jemand, der Gründe einsehen und aus ihnen handeln kann, selbst unter deterministischen Bedingungen anders hätte handeln können. Wenn jemand gelernt hat, Italienisch zu sprechen und dies inzwischen nicht verlernt hat, so gilt, dass diese Person die Fähigkeit hat, Italienisch zu sprechen. Daraus, dass sie es trotz sich bietender Gelegenheit nicht tut, folgt dann keineswegs, dass sie es nicht kann, sondern höchstens, dass sie es nicht will. Sie hätte sehr wohl Italienisch sprechen können. Nennen wir das den praktischen Sinn von Ausdrücken wie »können« und »Fähigkeit«. In demselben Sinn kann man sagen, dass jemand sich gegen die unrechtmäßige Handlung hätte entscheiden können, sofern er über die entsprechende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit verfügte. Diese Fähigkeit erwirbt man normalerweise im Zuge einer gelungenen Sozialisierung; da diese viel Zeit erfordert, verfügen Kinder unter 14 Jahren über diese Fähigkeit normalerweise noch nicht. Hat man diese Fähigkeit jedoch einmal erworben, so gilt wie beim Italienischsprechen, dass daraus, dass man sie trotz sich bietender Gelegenheit nicht ausübt, keineswegs folgt, dass man sie nicht hat. Sofern erwachsene Straftäter diese Fähigkeit haben, hätten sie sich also auch für das Recht entscheiden können – und zwar unabhängig davon, ob die Welt deterministisch oder indeterministisch verfasst ist. Kinder sind in dieser Hinsicht wie Menschen, die bisher nicht Italienisch gelernt haben: Wenn sie das Unrecht ihrer Tat nicht einsehen, dann deshalb, weil sie noch nicht über die nötigen Fähigkeiten verfügen. Seelisch gestörte Erwachsene (im Sinne des § 20) hingegen haben diese Fähigkeit verloren oder erst gar nicht erworben. Sie sind wie Menschen, die das Italienische verlernt haben oder es aus Krankheitsgründen nicht erlernen können. Für alle anderen Menschen aber gilt in einem unproblematischen Sinn, dass sie über die erforderliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit verfügen und daher im Fall einer Straftat auch anders hätten handeln können. 26 Für das Strafrecht, so meine These, kommt es allein auf den praktischen, nicht auf den metaphysischen Sinn von Andershandelnkönnen an. Das Ergebnis dieser Überlegungen lautet, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, die im § 20 als Bedingung für Schuldfähigkeit angeführt wird, einen plausiblen Begriff von strafrechtlich relevanter Willensfreiheit bereitstellt. Danach ist Willensfreiheit die Fähigkeit, sich seine Gründe und Motive reflexiv anzueignen (EinsichtsfähigNatürlich wäre es unter deterministischen Bedingungen determiniert, ob jemand diese Fähigkeit ausübt oder nicht; woraus man für den Fall, dass man die Fähigkeit nicht ausübt, versucht sein könnte zu folgern, dass man diese Fähigkeit auch gar nicht hatte. Doch tatsächlich konfligieren hier nur die beiden Begriffe von Fähigkeiten miteinander, die wir soeben unterschieden haben: Im praktischen Sinn gilt, dass ich mich selbst dann anders hätte entscheiden können, wenn das Ergebnis meiner Entscheidung determiniert war, denn der praktische Sinn erfordert nicht mehr, als dass ich die entsprechende Fähigkeit erworben und nicht zwischenzeitlich verloren habe. Im metaphysischen Sinn ist es hingegen unter Bedingungen des Determinismus nicht möglich, sich anders zu entscheiden. Vgl. zur Unterscheidung dieser beiden Begriffe von Andershandelnkönnen M. Willaschek, »Möglichkeiten und Fähigkeiten«. 26 

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keit) und aus Gründen, die man als richtig eingesehen hat, tatsächlich zu handeln (Steuerungsfähigkeit). Da es sich um eine Fähigkeit handelt, die man auch dann besitzen kann, wenn man sie nicht ausübt, folgt aus ihrem Vorliegen, dass man sich im Fall einer Straftat auch anders hätte entscheiden können.

9.  Willensfreiheit und Schuldfähigkeit Um die unplausiblen Konsequenzen eines strafrechtlichen Willensfreiheitspostulats und der Normalitätsunterstellung zu vermeiden, reicht es aber nicht aus, dass das deutsche Strafrecht implizit auf einen plausiblen Begriff der Willensfreiheit verweist, der sich aus den Schuldausschlussgründen in §§ 19 und 20 herauslesen lässt. Wenn Schuldfähigkeit ein anfechtbarer Rechtsbegriff sein soll, der durch seine Ausgangs- und Anfechtungsbedingungen hinreichend spezifiziert ist, und wenn wir daran festhalten wollen, dass Schuldfähigkeit Willensfreiheit voraussetzt, dann muss auch der strafrechtlich relevante Begriff von Willensfreiheit vollständig durch die Anfechtungsbedingungen des Begriffs der Schuldfähigkeit festgelegt sein. Es muss demnach gelten: (WF) Ist ein Täter über 17 Jahre alt, verfügt er über Willensfreiheit im rechtlich relevanten Sinn (also über Einsichts- und Steuerungsfähigkeit), sofern kein Schuldauschlussgrund nach § 20 StGB vorliegt. Mit anderen Worten: Erwachsene verfügen über Willensfreiheit, es sei denn, sie leiden unter einer der in § 20 genannten Störungen. Dagegen könnte man einwenden, dass es doch denkbar sei, dass Erwachsene aus anderen als den in § 20 genannten Gründen nicht über die erforderliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit und damit auch nicht über Willensfreiheit verfügen. Doch das ist bei genauerer Betrachtung unmöglich: Zwar schließt § 20 Schuldfähigkeit nur dann aus, wenn Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgrund bestimmter psychopathologischer Faktoren nicht vorhanden sind, doch ist vor allem der vierte der genannten Faktoren, die »schwere andere seelische Abartigkeit«, so weit gefasst, dass er alle Fälle aufnimmt, die nicht unter einen der drei vorher genannten Punkte fallen. Es handelt sich hier, wie z. B. Jescheck betont, um einen »Auffangbegriff«27, unter den die Rechtsprechung so heterogene Ursachen wie Alkoholismus, Persönlichkeitsstörungen, Paraphilien und Spielsucht fasst. Der einzige gemeinsame Nenner dieser Faktoren dürfte sein, dass es sich eben um pathologische Einschränkungen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit handelt. Doch auch die übrigen drei Fallgruppen, die der § 20 nennt, betreffen pathologische Abweichungen im weitesten Sinn: (i) eine »krankhafte seelische Störung«, (ii) eine »tiefgreifende Bewusstseinsstörung« oder (iii) »Schwachsinn« (wofür in der Rechtsprechung ein IQ unter 50 als sicheres Anzeichen gilt). Sofern diese vier Fallgruppen alle Fälle umfassen sollen, in denen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht vorliegt, muss gelten, dass alle seelisch

27 

H.- H. Jescheck, »Kommentierung von § 20 StGB«, 30.

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gesunden Erwachsenen über Einsichts- und Steuerungsfähigkeit verfügen, während deren Fehlen stets pathologische Ursachen hat. Das mag zunächst so klingen, als sei es nun einfach eine normative Setzung, dass gesunde erwachsene Menschen über Einsichts- und Steuerungsfähigkeit und damit über Willensfreiheit verfügen.28 Doch das ist nicht der Fall. Etwas vereinfachend kann man sagen, dass die Tatsache, dass gesunde Erwachsene über diese Fähigkeiten verfügen, eine begriffliche Wahrheit ist, denn es gehört zu einem plausiblen Begriff geistiger Gesundheit, den Unrechtscharakter von Straftaten prinzipiell erkennen und sich nach dieser Einsicht richten zu können. An die Stelle des Postulats der angeblich unbeweisbaren Willensfreiheit tritt also die Einsicht, dass Willensfreiheit im strafrechtlich relevanten Sinn ein definitorisches Merkmal geistiger Gesundheit ist. Dagegen ist es keine Frage der Definition (und auch nicht abhängig von einer »normativen Setzung«), ob ein bestimmter Angeklagter über Willensfreiheit verfügt oder nicht. Wie wir gesehen haben, greift die herrschende Lehre hier zu einer Normalitätsunterstellung. Stattdessen möchte ich vorschlagen, dies als eine empirische Frage zu betrachten, die durch Ausräumen möglicher Schuldausschlussgründe nach § 20 beantwortet werden kann. Ob pathologische Störungen im Sinne des § 20 vorliegen oder nicht, ist im Einzelfall natürlich nicht immer leicht festzustellen. Prinzipiell und im Regelfall ist es aber sehr wohl möglich, diese Frage mit hinreichender Sicherheit zu beantworten. Fällt die Antwort dahingehend aus, dass keine solchen pathologischen Störungen vorliegen, dann folgt aufgrund des begrifflichen Zusammenhangs zwischen geistiger Gesundheit und Willensfreiheit, dass der Angeklagte tatsächlich über die strafrechtlich relevante Form von Willensfreiheit verfügte. Diese fällt damit de facto mit Schuldfähigkeit zusammen; allerdings ist Schuldfähigkeit ein rechtlicher Status, während Willensfreiheit im Vorliegen von Fähigkeiten besteht, über die Menschen ganz unabhängig davon verfügen, welcher rechtliche Status an sie geknüpft ist. Es ist daher sinnvoll, Schuldfähigkeit und Willensfreiheit, auch wenn sie de facto zusammenfallen, begrifflich voneinander zu unterscheiden.

10.  Schluss Wie sich gezeigt hat, reicht der strafrechtliche Begriff der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aus, um einen für die Zwecke des Strafrechts geeigneten Begriff von Willensfreiheit zu explizieren. Sicherlich ist das nicht die einzig mögliche, aber doch eine plausible Ausdeutung des Begriffs der Willensfreiheit mit seinen beiden Aspekten der Urheberschaft und Kontrolle, aus der zugleich die Fähigkeit folgt, im abweichenden Fall auch anders, nämlich in Übereinstimmung mit den als richtig eingesehenen Gründen, zu handeln. Das Vorliegen von Willensfreiheit in diesem Sinn ist insofern empirisch feststellbar, als es bei Erwachsenen aus dem Nichtvorliegen jener Psychopathologien folgt, die das Strafge28  Das ist die Position C. Roxins, Strafrecht, § 19, 5: »Die Freiheitsannahme [d. h. die Annahme von »normativer Ansprechbarkeit« und »intakter Steuerungsfähigkeit«] ist insoweit eine ›normative Setzung‹«.

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setzbuch als Schuldausschlussgründe anerkennt. Freiheitspostulate und Normalitätsunterstellungen erübrigen sich damit. Dass die meisten Menschen über Willensfreiheit in diesem Sinn verfügen, ist eine empirische Tatsache, ganz unabhängig davon, ob die Welt und unser Gehirn deterministisch oder indeterministisch verfasst sind. Das alles könnte wie ein wenig überzeugendes Plädoyer für einen kompatibilistischen Begriff der Willensfreiheit aussehen, also einen Begriff, wonach Freiheit und Determinismus kompatibel sind. Wenig überzeugend wäre dieses Plädoyer deshalb, weil es nicht auf die klassischen Einwände gegen den Kompatibilismus eingeht. Doch das würde die Stoßrichtung dieses Beitrags missverstehen. Es war gar nicht meine Absicht, die Überlegenheit des Kompatibilismus gegenüber dem Inkompatibilismus nachzuweisen, sondern zu fragen, auf welchen Begriff von Willensfreiheit uns das deutsche Strafrecht implizit festlegt. Mein Ergebnis lautet, dass es uns auf einen vergleichsweise schwachen Willensfreiheitsbegriff festlegt, der sich in Einsichts- und Steuerungsfähigkeit erschöpft. Wie wir gesehen haben, führt der Versuch, einen stärkeren, indeterministischen Begriff von Willensfreiheit zur Voraussetzung von Schuld zu machen, zur Notwendigkeit von Postulaten und Unterstellungen, die als Basis für Schuldzuschreibungen und Strafen nicht ausreichen. Die hier vertretene These lautet also nicht, dass der Begriff von Willensfreiheit als Einsichts- und Steuerungsfähigkeit schlechthin der bessere oder gar der richtige ist, sondern dass er für die Zwecke des Strafrechts völlig ausreicht, während ein inkompatibilistischer Willensfreiheitsbegriff dafür ungeeignet ist. Dagegen könnte ein Inkompatibilist vielleicht einwenden, dass es beim Begriff der Schuld doch um persönliche Vorwerfbarkeit gehe, und diese sei nun einmal dann nicht gegeben, wenn die Entscheidung durch vorhergehende Umstände determiniert ist. Doch dieser Einwand setzt voraus, was in Frage steht. Es dürfte kaum bestreitbar sein, dass Menschen, die über durchschnittliche Einsicht- und Steuerungsfähigkeit verfügen, in einer Weise für ihr Tun verantwortlich sind, in der dies für einen Menschen ohne diese Fähigkeit – Kinder, geistig Kranke – nicht gilt. Vielleicht ist das nicht der Sinn von Verantwortung und Freiheit, den der Inkompatibilist für relevant hält, aber es ist, wenn die bisherige Argumentation korrekt ist, der Sinn von Verantwortung und Freiheit, auf den es im deutschen Strafrecht ankommt. Es ist die besondere Pointe der hier gewählten Perspektive, dass das Strafrecht selbst den Maßstab dafür abgibt, welcher Begriff von Willensfreiheit der strafrechtlich relevante ist. Anders als die herrschende Lehre unter den Strafrechtslehrern und anders auch als die neurowissenschaftliche Kritik am Schuldstrafrecht wird hier kein vorrechtlicher Begriff der Willensfreiheit vorausgesetzt, von dem dann behauptet wird, seine Existenz sei, je nach Sichtweise, entweder empirisch nicht widerlegbar oder aber empirisch widerlegt. Vielmehr ergibt sich der relevante Begriff der Willensfreiheit aus dem Strafrecht selbst. Wie ich glaube, liegt darin auch eine wichtige Lehre für die philosophische Willensfreiheitsdebatte. Tatsächlich unterscheiden sich die rechtlichen Bedingungen für Schuldfähigkeit ja nicht wesentlich von den alltäglichen Bedingungen dafür, dass jemand als eine Person gilt, die für ihr Tun verantwortlich ist. Hier wie da gilt, dass Erwachsene für ihr tun verantwortlich sind, es sei denn, pathologische Bedingungen unterbinden Einsicht und Selbststeuerung. Ich glaube deshalb, dass sich der alltägliche

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Begriff von Willensfreiheit, wie wir ihn mit jeder Zuschreibung von Verantwortung, mit jedem Lob und jedem Tadel implizit verwenden, auf ganz ähnliche Weise analysieren lässt wie der strafrechtliche Begriff der Willensfreiheit und sich von diesem nicht wesentlich unterscheidet. Aber das wäre Thema einer eigenen Abhandlung.29

Literatur Blöser, Claudia/Schöpf, Aron / Willaschek, Marcus (im Erscheinen): »Autonomy and Experience. Towards a Future-Sensitive Conception of Autonomy«, erscheint in: Ethical Theory and Moral Practice. Frankfurt, Harry: »Alternate Possibilities and Moral Responsibility«, in: Journal of Philosophy 66 (1969), 828–39. Günther, Klaus: »Wie Menschen Normen und Wertvorstellungen mit beeinflussen: der etwas andere Blick auf dynamische Prozesse bei der Herausbildung normativer Ordnungen«, in: Forschung Frankfurt 25 (2007), 78–82. Hart, H. L. A. (1948): »The Ascription of Responsibility and Rights«, in: Proceedings of the Aristotelian Society (1948), 171–194. Jacobs, Günther: Strafrecht. Allgemeiner Teil, Berlin 1991, 2. Aufl. Jescheck, Hans-Heinrich: Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin 1988, 4. Aufl. Jescheck, Hans-Heinrich: »Kommentierung von § 20 StGB«, in: Laufhütte, Heinrich Wilhelm (Hg.): Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 2007. Kane, Robert: The Significance of Free Will, Oxford 1996. Kane, Robert (Hg.): The Oxford Handbook of Free Will, Oxford 2002. Keil, Geert: Willensfreiheit, Berlin 2007. Lenckner, Theodor: »Vorbemerkung §§ 13 ff.«, in: Schönke, Adolf / Schröder, Horst: Strafgesetzbuch: Kommentar, München 2001, 26. Aufl. Merkel, Reinhard: Willensfreiheit und rechtliche Schuld, Baden-Baden 2008. Mohr, Georg: »Welche Willensfreiheit braucht das Strafrecht?«, in: Pauen, Michael / Roth, Gerhard: Freiheit, Schuld und Verantwortung: Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt a. M. 2008. Prinz, Wolfgang: »Kritik des freien Willens: Bemerkungen über eine soziale Institution«, in: Psychologische Rundschau 55 (2004), 198–206. Roxin, Claus: Strafrecht. Allgemeiner Teil, München 1997. Rudolphi, Hans-Joachim: »Vorbemerkung vor § 19: Schuldlehre«, in Rudolphi, H.- J. / Horn, E. / Samson, E. (Hgg.), Systematischer Kommentar zum StGB, Bd. 1, Allgemeiner Teil, Neuwied 1993, 6. Aufl. Singer, Wolf: »Keiner kann anders, als er ist«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2004. Schild, Wolfgang: »Kommentierung von § 20 StGB«, in: Nomos-Kommentar zum StGB, Baden-Baden (2001). 29 

Vgl. dazu M. Willaschek, »Non-Relativist Contextualism about Free Will«.

Der Begriff der Willensfreiheit im deutschen Strafrecht

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Willaschek, Marcus: »DNS – Doch nicht schuldig? Zum Zusammenhang zwischen genetischer Disposition und persönlicher Verantwortung«, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7 (2002), 243–257. Willaschek, Marcus: »Möglichkeiten und Fähigkeiten«, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 141–148. Willaschek, Marcus: »Der eigene Wille«, in Jan-Christoph Heilinger / Colin G. King / Héctor Wittwer (Hgg.): Individualität und Selbstbestimmung, Berlin 2009, 91–111. Willaschek, Marcus: »Non-Relativist Contextualism about Free Will«, erscheint in: European Journal of Philosophy 18 (2010).

Kolloquium 23 Umweltethik – Philosophie der Landnutzung

Konrad Ott Einführung Ulrich Hampicke Naturschutz als Problem der Gerechtigkeit unter Zeitgenossen Kristian Köchy Vielfalt als Wert? Zur aktuellen Debatte um die Biodiversität Thomas Potthast Landwirtschaft und Lebenswelt – Philosophische Perspektiven

Einführung Konrad Ott

1.  Anekdote und Einleitung Vor Jahren ging ich am Rande einer Tagung in einer westdeutschen Großstadt gemeinsam mit einer Kollegin in ein Lebensmittelgeschäft. Es war Januar. Die Kollegin kaufte für ihre Tochter zu hohem Preis ein Schälchen mit Himbeeren. Ich fragte, woher diese jetzt, im Januar, wohl stammen mögen. Die Kollegin blickte mich verdutzt an und meinte, über Fragen dieser Art habe sie sich nie Gedanken gemacht. Sie sei zumeist mit philosophischen Fragen beschäftigt. Auch die Verkäuferin konnte meine (ihr offenbar lästige) Frage, woher die Himbeeren stammten, nicht unmittelbar beantworten. Wir fanden schließlich ein Etikett, aus dem hervorging, dass die Beeren den Weg aus Costa Rica nach Westdeutschland gefunden hatten; ihre bereits sichtbare Verderblichkeit ließ auf Luftfracht schließen. Ich nahm eine; sie schmeckte wässrig. Diese Anekdote soll ein Problem anzeigen: Philosophen interessieren sich in aller Regel nicht wirklich für das Land, dessen Bewirtschaftung und dessen Erzeugnisse (»Land-Wirtschaft«). In der Umwelt der Bibliotheken, PCs, Hörsäle und Seminare sind Fragen der Landnutzung nicht präsent. Dieses Milieu prägt den unter Philosophen verbreiteten naturfernen Habitus. Fragestellungen wie die nach den Verhältnissen von Hirnereignissen und Bewusstseinsqualia werden hieran wenig ändern. Die Umweltethik ist gewiss diejenige Teildisziplin der Philosophie, die diesen naturfernen Habitus nicht nur nicht übernehmen darf, sondern ihm ipso facto entgegen wirken muss. Hierfür hat sie Gründe, die nicht zuletzt in den objektiven Herausforderungen liegen, die mit Fragen der Land-Wirtschaft gegenwärtig verbunden sind. Hierunter verstehe ich hier nicht nur Ackerbau, sondern sämtliche menschliche Aktivitäten, die einen bewirtschaftenden Bezug zu der Landesfläche haben, also auch Siedlung, Verkehr, Naturschutz, Tourismus u. dergl. Mit Ulrich Hampicke rechne ich auch die Ausweisung von Naturschutzgebieten zur Land-Wirtschaft, da naturschützerische Aktivitäten eine von mehreren Nutzungsoptionen sind, die mit Opportunitätskosten verbunden sind. Ich möchte meine einleitenden Bemerkungen zu diesem Kolloquium »Philosophie der Landnutzung-Umweltethik« folgendermaßen gliedern. Zunächst werde ich auf globaler Skala einige wesentliche Herausforderungen der gegenwärtigen Landnutzung benennen. Im zweiten, konzeptionellen Teile greife ich die Idee Aldo Leopolds auf, die sich mit dem Ausdruck »Landethik« titelartig überschreiben lässt. Ich möchte zeigen, dass Leopolds Idee einer Landethik von ökozentrischen Positionen abgelöst und in eine Theorie ›starker‹ Nachhaltigkeit eingebettet werden kann. Generell möchte ich ein neues philosophisches Interesse an Fragen der Land-Wirtschaft

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Kolloquium 23  ·  Konrad Ott

wecken, die dann aus unterschiedlichen Perspektiven in den drei Vorträgen des Kolloquiums näher behandelt werden. Darin sehe ich den Sinn dieses Kolloquiums.

2.  Globale Herausforderungen der Land-Wirtschaft Fruchtbares Land wird knapp. Die Anzahl der Menschen wird bis 2050 auf ca. 9 Mrd. ansteigen. Gleichzeitig verändern sich Lebensstile und erhöhen sich Nutzungsansprüche. Durch veränderte Ernährungsstile in Schwellenländern wird mehr Fläche für die Erzeugung von Viehfutter genutzt. Es ist bekannt, dass die industrielle Tiermast auch hierzulande zu einem großen Teil auf Sojaimporten beruht und der Anbau von Sojabohnen (etwa in Mato Grosso) den Druck auf tropische Ökosysteme erhöht. Die Nutzungskonkurrenz zwischen Viehfutter und Regenwäldern ist unübersehbar. Der weltweite »Biomasseboom« führt dazu, dass immer mehr Flächen für die Erzeugung von Biomasse genutzt werden. Dies können indonesische Palmölplantagen oder indische Jatropha-Kulturen sein. Der Biomasse-Anbau wird mittlerweile in Ländern wie Tansania oder den Philippinen forciert, in denen die Ernährungssicherheit der Bevölkerung nicht gesichert ist. Hier konkurrieren Mobilitätsstile nicht nur mit Naturschutzzielen, sondern mit (lokaler) Ernährungssicherheit. In anderen Gebieten (etwa in Turkmenistan und Westchina) werden landwirtschaftliche Flächen zum Anbau von Baumwolle genutzt, die aufgrund ihres Wasserbedarfs und ihrer Behandlung mit Pestiziden problematisch ist. Hier konkurrieren Bekleidungsstile mit den Zielen einer dauerhaft umweltgerechten Versorgung der lokalen Bevölkerung. Viehfutter, Baumwolle und Biomasse zur Energieerzeugung sind Musterbeispiele dafür, dass viele landwirtschaftliche Flächen für den Anbau von Produkten genutzt werden, deren Erzeugung mit menschlicher Ernährung konkurriert. Ein anderes Problemfeld stellt die Wasserversorgung dar. Etwa 70 % des Süßwassers werden in der Bewässerungslandwirtschaft genutzt. Dies ist immer dann problematisch, wenn hierzu Grundwasserressourcen über ihre Erneuerungsraten genutzt werden und wenn unsachgemäße Bewässerung zur Bodenversalzung führt. Die Suche nach technisch effizienteren Bewässerungssystemen kann das Faktum nicht überdecken, dass Wasserverteilung nicht nur ein ökonomisches Problem der ›optimalen‹ Allokation, sondern auch ein kulturelles und ethisches Problem ist. Konflikte um knappe Wasserressourcen deuten sich in vielen Weltgegenden an. Die Nutzungskonkurrenz hier ist besonders ausgeprägt und reicht von der Bewässerung von Golfplätzen bis hin zur Frage, ob außermenschliche Lebewesen ein Anrecht auf Tränken oder auf einen feuchten Lebensraum haben. Besondere Aufmerksamkeit verdienen gegenwärtig die unsichtbaren Wasserexporte von den südlichen in die nördlichen Länder, die mit bestimmten Anbauformen einhergehen. Der beginnende Klimawandel wird Auswirkungen auf die Nahrungsmittel- und Wasserversorgung vieler Menschen haben. Zwar kann sich eine leichte globale Temperaturerhöhung kurzfristig sogar positiv auf die globalen Ernteerträge auswirken. Daraus kann jedoch nicht auf eine verbesserte oder auch nur gleichbleibende Nah-

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rungsmittelversorgung der ärmeren Bevölkerungsschichten geschlossen werden. Die Vulnerabilität dieser Gruppen ist entsprechend hoch. Neuere Modelle, die auch die Auswirkungen veränderter Niederschläge und kurzer Hitzeperioden auf Ernteerträge modellieren, kommen zu deutlich negativeren Resultaten als Modelle, die nur steigende Durchschnittstemperaturen berücksichtigen.Erhöht man die von der Weltbank definierte Linie absoluter Armut nur ein wenig von 1 US-$ (Kaufkraftparität USA 1993) auf 3–4 US-$ pro Tag, so lebt die Hälfte der Menschheit in absoluter Armut und unter prekären Bedingungen. Diese Gruppen geben etwa 50 % ihres Geldeinkommens für Nahrungsmittel aus und wären von einer dauerhaften Erhöhung dieser Preise entsprechend betroffen, während ein Haushalt in reichen Ländern nur etwa 15 % seines Einkommens für Nahrungsmittel ausgibt. In diesem Sinne sind Fragen der Land-Wirtschaft mit elementaren sozialethischen Fragen verbunden. Es steht weiterhin zu befürchten, dass der Klimawandel große Migrationsströme auslösen wird. Die Zahlen der sog. Klimaflüchtlinge schwanken je nach Berechnungsgrundlage; unbestreitbar ist die Notwendigkeit, den von Migration betroffenen Gruppen neue Siedlungsflächen zu verschaffen. Derartige Umsiedlungen sind, wie man aus Erfahrung weiß, häufig mit politischen Konflikten und unangepassten Landnutzungsformen verbunden. All diese Tendenzen erhöhen den Druck auf natürliche und wenig von Menschen überformte ökologische Systeme massiv. Die Verbindung aus Klimawandel und einer intensiven Landnutzung erhöht für viele Spezies das Risiko des Aussterbens. Dies betrifft nicht nur terrestrische, sondern auch limnische und marine Systeme. Artenreiche und ästhetisch faszinierende Ökosysteme wie Korallenriffe sind von der Erwärmung und Versäuerung der Meere akut bedroht. Mittlerweile wird sogar ein Austrocknen der tropischen Regenwälder Amazoniens für möglich gehalten. Während in den nördlichen Ländern die Waldfläche sogar leicht zunimmt und einige Länder beachtenswerte Erfolge mit Aufforstungen haben (z. B. »community based forestry« in Nepal), schreitet die Deforestation in den Tropen und Subtropen nahezu unvermindert fort. Besonders dramatisch ist die Situation neben Brasilien gegenwärtig in Südostasien. Die Artenspektren der Sekundärwälder und- biotope mögen teilweise größer als erwartet sein; sie erreichen die Vielfalt natürlicher tropischer Ökosysteme nicht. Die fortschreitende Konversion von natürlichen und halbnatürlichen Systemen führt zu einer naturräumlichen Nivellierung, die sog. Generalisten (Ratten, Krähen, Möwen usw.) begünstigt. Ähnliches gilt für die Eutrophierung, für die Bebauung marginaler Böden und für die Umwandlung von fruchtbarem Land zu Zwecken der Industrie- und Siedlungsentwicklung (wie etwa in China). Die Ausweisung von Schutzgebieten wirkt diesen Tendenzen steigenden Naturverbrauchs entgegen, ist aber nicht hinreichend für eine dauernde Sicherung der biologischen Vielfalt. Der Umgang mit knappen Naturgütern ist nicht nur ein Problem der effizienten Allokation knapper Produktionsfaktoren, sondern auch und primär eine kulturelle und eine moralische Herausforderung. So drängt sich gegenwärtig die Frage auf, ob die Fragen, wie Land zukünftig bewirtschaftet werden soll, primär durch einen konzeptionellen Ansatz beantwortet werden darf, der sich an der (steigenden) Nachfrage und

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den global gegebenen Strukturen vorhandener Kaufkräfte, Wertschöpfungsketten und Handelsbeziehungen orientiert. Ein nachfrageorientierter Ansatz ist ethisch nicht selbstevident; eine Landethik stellt eine konzeptionelle umweltethische Alternative dar.

3.  Die Idee einer Landethik Am Ende des zum Kultbuch gewordenen »Sand County Almanach« skizziert Aldo Leopold die Idee einer Landethik. Leopold stand dabei unter dem Eindruck zweier prägender Erfahrungen. Einerseits der Erfahrung der »dust bowls«, die auf eine unangepasste Landwirtschaft zurück gingen und den US-amerikanischen Westen heimsuchten,1 zum zweiten der Erfahrungen, die er auf einer Reise nach Mexiko in die Sierra Madre Occidental machte, während der er glaubte, erstmalig »gesundes Land« zu sehen2. Leopold hat darüber hinaus als Jäger eine deontische Naturerfahrung3 gemacht, als er im toten Auge einer erlegten Wölfin wie in einem Spiegel die Bergwelt der Sierra sah und ihn blitzartig die Einsicht durchfuhr, das die Bejagung der Wölfe mit dem Ziel, sie auszurotten, in einem elementaren Sinne falsch ist. Ethisch war Leopold von Darwin (und damit von Hume) beeinflusst. Leopold übernimmt aus Darwins »Descent of Men« die Idee des moralischen Fortschritts. Dieser Fortschritt besteht für Darwin in der Ausweitung der moralischen Gemeinschaft. Wenn uns nur einmal der Schritt über eine Sippen- und Stammesmoral hinaus vollzogen wurde, können uns gemäß Darwin nur künstliche Grenzen daran hindern, unsere moralischen Gefühle und Sympathien »auf die Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen«.4 Darwin, darin vom Utilitarismus beeinflusst, fasste sogar die Möglichkeit ins Auge, die moralische Gemeinschaft über den Menschen hinaus auf höhere Tiere zu erweitern: Die Tugend der »Menschlichkeit gegen die Tiere« scheint sich für Darwin im Gefolge des moralischen Fortschrittes »nebenher« zu entwickeln, bis Humanität »mit der Ausdehnung (…) auf alle empfindenden Wesen ihren Höhepunkt erreicht«.5 Leopold wollte vor dem Hintergrund seiner Naturerfahrungen und seiner evolutionären Ethik die Moralgemeinschaft noch über Darwins Tierethik bis hin zum gesamten Land (synonym: »biotic community«) erweitern und die Rolle des Menschen von einem »Eroberer« zu einem »Bürger« des Landes transformieren. Die Erweiterung der moralischen Perspektive über empfindungsfähige Einzelorganismen hin zu komplexen ökologischen Gefügen bringt jedoch eine Reihe von ontologischen, epistemischen und ethischen Probleme mit sich, die Leopold nicht lösen konnte und die in seiner Nachfolge zu Fehlentwicklungen in der Umweltethik führten. Dies betrifft vor allem den ethischen

1  Umwelthistorisch s.  hierzu D. Worster, Dust Bowl, Literarisch verarbeitet wurde diese Zeit in John Steinbecks »Grapes of Wrath«. 2  Meine, Words, 22. 3  Zum Konzept von deontic experience« vgl. Birch, Consideration, 322–326. 4  Darwin, Abstammung, 155. 5  A. a. O., S. 156.

Einführung

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Status des von Leopold am Ende seines posthum veröffentlichten Buches niedergelegten, später viel zitierten Satzes: »A thing is right when it tends to preserve the integrity, stability and beauty of the biotic community. It is false when it tends otherwise«. Baird Callicott hat diesen Grundsatz in den Rang des obersten Moralprinzips einer ökozentrischen Naturethik gehoben.6 In dieser Interpretation legt Leopolds Grundsatz den moralischen Wert von menschlichen Handlungen überhaupt fest: »The good of the biotic community ist he ultimate measure of moral value, the rightness and wrongness of actions. (…) In every case the effect upon ecological systems is the decisive factor in the determination in the ethical quality of actions.«7 Aus dieser Deutung ergeben sich Konsequenzen, die unseren üblichen moralischen Überzeugungen zuwider laufen und die als »ökofaschistisch« bezeichnet wurden. Callicott hat, um dem Vorwurf des Ökofaschismus zu entgehen, seinen Ansatz in späteren Aufsätzen revidiert; sein späteres sog. Baumscheiben-Modell moralischer Verpflichtungen lehnt sich an Darwin an.8 Es ist allerdings in keinem vertretbaren Sinne mehr »ökozentrisch«. Der ökozentrische Gedanke von direkten moralischen Verpflichtungen gegenüber »natural wholes« als solchen erweist sich auch in seiner epistemologischen Dimension als abwegig.9 Leopold selbst hat sich nie konsequent vom (unhaltbaren) »Superorganismus« -Konzept gelöst, wie es Clements um 1920 in der jungen Disziplin namens Ökologie vertreten hatte.10 In der heutigen Ökologie ist der ontologische Status von Gebilden, die landläufig als »Ökosysteme« bezeichnet werden, umstritten. Das Spektrum der Auffassungen reicht hier von realistischen bis konstruktivistischen Positionen. Es ist unklar, welche Eigenschaften dieser Gebilde und Gefüge moralisch in dem Sinne sein könnten, dass sie hinreichend für die Zuschreibung eines moralischen Selbstwertes wären. Letztlich bleibt es unklar, ob Leopold selbst ökosystemaren Gefügen einen moralischen Selbstwert zuschreiben wollte oder ob er »nur« für eine acht- und sorgsame Bewirtschaftung des Landes und für einen kulturell bzw. eudaimonistisch begründeten Schutz von Wildnisgebieten eintrat. Curt Meine hat eine Deutung von Leopolds Grundsatz im letztgenannten Sinn vorgelegt.11 Nach gründlichem Studium der Schriften Leopolds aus dessen letzten Lebensjahren kommt Meine zu dem Urteil, dass Leopold diesen Satz als eine konsequentialistische Maxime der Landnutzung, nicht aber als Moralprinzip intendiert und formuliert hatte. Leopolds Grundsatz ist im Kontext der Landnutzung zu verstehen; er ist kein Prinzip für menschliche Handlungen überhaupt.12

Callicott, Triangular Affair, passim. A. a. O., 320. 8  Callicott, Conceptual Foundations, passim. 9  Steverson, Modeling, passim. 10  Golley, »Ecosystem Concept«, 8–34. 11  Meine, Leopold, passim und insbesondere 82. 12  Abwegig sind demgegenüber ›postmoderne‹ und irrationalistische Interpretationen Leopolds. Hierzu s. Maly, »Ecogenic Thinking«, 300. Leopold »pointed beyond ethics to the spontaneous and appropriate action, based on clear vision, watching the phenomenon of natural life cycles watching us«. 6  7 

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Meines Deutung lässt sich mit einer plausiblen Interpretation der Begriffstrias verbinden, die in diesem Grundsatz auftaucht. »Schönheit« mag stellvertretend für all das stehen, was Leopold als »kulturelle Ernte des Landes« bezeichnet und was generell als eudaimonistische Dimension der Natur(erfahrung) interpretiert werden kann.13 Leopolds Begriff der Schönheit bezieht sich nicht nur auf ästhetische Anmutungsqualitäten, sondern ist stärker ontologisch konnotiert. Er entspricht c.g.s. dem, was Whitehead unter der Schönheit und »Güte« des vielfältig Gegliederten versteht. »Stabilität« ist ein zeitgebundener Ausdruck für all das, was Ökologen heute als Resilienz (Elastizität) bezeichnen. Der Ausdruck »Integrität« ist und bleibt mehrdeutig. Er kann einmal als metaphorische Chiffre für die Fähigkeit eines Landes gelesen werden, sich selbst aus sich selbst heraus in seiner Fruchtbarkeit zu erneuern. »Integrität« kann auch als die besondere naturräumliche Qualität verstanden werden, die zivilisatorischen Überformungen eine Widerständigkeit entgegen setzt, die es zu »respektieren« gilt, wobei diese Art des Respekts kategorial scharf von dem moralischen Respekt gegenüber Personen getrennt ist. »Integrität« könne auch die Vernetztheit der einzelnen Komponenten des Landes meinen, also dass, was der Sachverständigenrat für Umweltfragen 1994 als »Retinität« bezeichnet hat.14 Die Trias bezieht sich in diesem Sinne auf eine umfassende Wertschätzung der produktiven (negentropischen, autopoetischen) Eigenschaften von Organismen, die letztlich die Bedingung der Möglichkeit ist, Land-Wirtschaft zu betreiben.

4.  Ausblick Ich schlage daher vor, die Idee einer Landethik von den Problemen eines ethischen Holismus (qua Ökozentrismus) zu befreien und sie im Sinne eines praktischen Holismus zu verstehen,15 der unter dem Ziel, die Naturkapitalien ungeschmälert nachfolgenden Generationen zu hinterlassen, die Bewirtschaftung des Landes »nachhaltig« an dessen Schönheit, Vielfalt, Resilienz und Retinität ausrichtet. So verstanden, kann Leopolds Grundsatz im Lichte der eingangs genannten Herausforderungen auf die vielfältigen Praktiken der Land-Wirtschaft ausgerichteter Grundsatz in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich ausgelegt, angeeignet und mit Traditionen der Landnutzung vermittelt werden. Eine solche Landethik ist keine neue Bereichsethik, sondern eine Spezifikation der Naturethik für die Land-Wirtschaft. Auf einer konzeptionellen Ebene lässt sich diese Maxime einer Theorie ›starker‹ Nachhaltigkeit in Verbindung bringen.16

Leopolds ästhetische Argumente zum Schutz von »wilderness«, in denen er in der Tradition von R. W. Emerson und J. Muir steht, können von heutigen umweltethischen Konzeptionen einer, sagen wir, ›tiefen‹ Anthropozentrik, in der eudaimonistische Argumente eine wichtige Rolle für Naturschutzbegründungen spielen, problemlos aufgegriffen werden. 14  Sachverständigenrat, Dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung, 50–58. 15  Zur Unterscheidung zwischen ethischem und praktischem Holismus s. Varner, Nature's Interests?, 10. 16  Ott, Döring, Nachhaltigkeit, passim. 13 

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Im Kontext einer Nachhaltigkeitstheorie ist die Landethik nicht nur auf Naturschutz bezogen, sondern auch auf die moralisch zu beurteilenden Ansprüche anderer Menschen, der Früchte des Landes teilhaftig werden zu dürfen. Insofern enthält eine Landethik auch eine Dimension distributiver Gerechtigkeit und ist komplementär auf eine politische Ökonomie der Land-Wirtschaft angewiesen. Sub specie der Idee einer Landethik werden zudem die ethischen Grenzziehungen zwischen den moralischen Fragen und den Fragen des guten Lebens an manchen Punkten unscharf. Fragen der Ernährung, der Bekleidung, der Fortbewegung einschließlich des Reisens sind unweigerlich mit Fragen der Landnutzung verbunden. Eine Landethik denkt letztlich nicht von der Nachfrage, sondern von der Erde her. Sie impliziert insofern einen Perspektivenwechsel. Der praktische Holismus fragt nicht, wie es bewerkstelligt werden kann, dass das Land möglichst viele menschlichen Präferenzen (etwa nach billigem Fleisch, billigem Biosprit, billigem Bier, billigem Brot und billigem Urlaub) erfüllen kann, sondern welche Fülle das Land uns schenkt, wenn wir die Spezifika lebendiger Fonds, die Bedingungen von Resilienz und den Eigensinn natürlicher Rhythmen anerkennen. Die Länder des Nordens mit ihren günstigen naturräumlichen und finanziellen Bedingungen und nicht zuletzt auch mit ihren agrar- und forstwissenschaftlichen Traditionen sind in der Verantwortung, einmal ihre eigene »Land-Wirtschaft« dahingehend so zu verändern, dass eine naturgerechte Landnutzung in anderen Ländern des Südens erleichtert wird, und zum zweiten, eine konzeptionelle und praktische Vorreiterrolle hin zu einer nachhaltigen »Land-Wirtschaft« zu übernehmen. Die Philosophie könnte und sollte sich diesem Themenkomplex stärker zuwenden. Hierzu wollen die drei nachfolgenden Vorträge dieses Kolloquiums beitragen.

Literatur Birch, Thomas H.: »Moral Considerability and Universal Consideration«, in: Environmental Ethics 15 (1993), 313–332. Callicott, J. Baird: »Animal Liberation: A Triangular Affair«, in: Environmental Ethics 2 (1980), 311–338. Callicott, J. Baird: »The Conceptual Foundations of the Land Ethic«, in: ders. (Hg.): A Companion to a Sand County Almanach, Madison 1987, 186–220. Darwin, Charles: Die Abstammung des Menschen, Stuttgart 1982. Golley, Frank B.: A History of the Ecosystem Concept in Ecology, Yale 1993. Maly, Kenneth: »A Sand County Almanac: Through Anthropogenic to Ecogenic Thinking«, in: B. Foltz / R. Frodeman (Hgg.): Rethinking Nature. Essays in Environmental Philosophy, Bloomington 2004, 289–301. Meine, Curt: »The Reach of Words«, in: Wild Earth 9 (1999), 22–24. Meine, Curt: »Aldo Leopold über die Werte der Natur«, in: Natur und Kultur 7, Heft 1, 63–87. Ott, K. / Döring, R.: Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit, Marburg 2 2008.

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Robeyns, Ingrid: »Assessing Global Poverty and Inequality: Income, Resources, and Capabilities«, in: Metaphilosophy 36 (2005), 30–49. Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU): Für eine dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung, Umweltgutachten 1994, Stuttgart 1994. Steverson, Bryan: »Ecocentrism and Ecological Modeling«, in: Environmental Ethics 16 (1994), 71–88. Varner, Gary: In Nature’s Interests?, Oxford 1998. Worster, Donald: »›Dust Bowl‹. Dürre und Winderosion im amerikanischen Südwesten«, in: R. P. Sieferle (Hg.): Fortschritte der Naturzerstörung, Frankfurt a. M. 1988, 118–157.

Naturschutz als Problem der Gerechtigkeit unter Zeitgenossen Ulrich Hampicke

1.  Einleitung Ein wichtiges Problem in der Umweltethik ist die Begründung für den Naturschutz. Naturschützer selbst brauchen sie nicht; es geht darum, die anderen zu überzeugen. Selbstverständlich kann mit Kant eine Begründung nicht darin bestehen, dass eine persönliche Macht, wie ein Natur liebender Fürst, etwas aus subjektiven Gründen dekretiert. Begründungen müssen, wie der Kategorische Imperativ, einsehbar sein. Sie müssen so beschaffen sein, dass wer denken kann, sie sich zu eigen machen muss. Tut er es dann nicht, so kann er entweder nicht denken oder will es hier nicht, weil ihm die Konsequenzen unwillkommen sind. Gibt es Gründe für den Naturschutz, die auch Menschen, die sich persönlich nicht für die Natur interessieren, akzeptieren müssen? Kann man solche Menschen zum Naturschutz zwingen, insbesondere ihnen Steuergelder für diesen Zweck abverlangen? Das ist eine keineswegs theoretisch verstiegene, sondern überaus praktische Frage, denn es gibt Naturschutzgesetze, die ein bestimmtes Verhalten verlangen und Zuwiderhandlungen sanktionieren. Sind diese richtig begründet? Im Folgenden wird als erstes ein allgemeines Schema über Naturschutzbegründungen vorgelegt. Dies kann sehr kurz geschehen, da der Argumentationsraum hierüber in der Literatur inzwischen abgeklärt erscheint. Daraufhin werde ich darlegen, dass gesellschaftliche Entscheidungen zum Naturschutz auf anthropozentrischen Argumenten beruhen sollten. Drittens werde ich kurz zusammenstellen, in welcher konkreten Form solche Naturschutzbegründungen bisher meist geltend gemacht werden. Oft wird auf den Wert der Natur im Sinne einer »handfesten« (zuweilen prosaischen) Ressource hingewiesen und werden Pflichten gegenüber künftigen Generationen geltend gemacht. Diese Argumente erscheinen nicht selten künstlich und gezwungen. Daher möchte ich alternativ zu ihnen und hier abschließend die These aufstellen, dass allein gesellschaftliche Fairness gegenüber der großen Minderheit von Naturliebhabern gebieten würde, mit ihrem Anliegen respektvoller unzugehen. Der erste Schritt, den Naturschutz ernst zu nehmen, ist, die Naturschützer ernst zu nehmen. 2.  Begründungen für Naturschutz – Das Inklusionsproblem Wer in der Lage ist, moralisch oder unmoralisch, gut oder böse, richtig oder falsch zu entscheiden, ist ein moralischer Akteur (Moral Agent). Wer darauf Anspruch hat, von einem Moral Agent moralisch, das heißt gut, nicht als Zweck und in egoistischer Ab-

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sicht, sondern (mit Kant) seiner Würde bzw. (in heutiger Sprache) seinem intrinsischen Wert gemäß behandelt zu werden, ist ein moralisches Subjekt (Moral Subject). Für unsere Zwecke einigen wir uns schnell darauf, dass auf Erden nur Menschen Moral Agents sind. Ganz anders und viel schwieriger ist die Frage, wer alles Moral Subject ist und wenn ja, warum. Das ist das Inklusionsproblem in der Umweltethik.1 Für den Anthropozentriker sind nur Menschen Moral Subjects. Wer mit Kant nur den moralischer Behandlung würdig ansieht, der selbst moralisch entscheiden kann, muss den Kreis noch enger auf Personen eingrenzen. Dass nur Personen eine Würde besitzen, alles andere nicht, ist eine sehr starke These. Als erste widersprachen Utilitaristen – jeder kennt Benthams berühmten Ausspruch »The question is not: can they talk, nor: can they reason, but: can they suffer?«. Hierauf beruht die Pathozentrik oder der Sentientismus; alles Leidensfähige besitzt eine Würde. Ein Hund darf nicht gequält werden, nicht weil dies Herrchen oder Frauchen verletzt, sondern ihn selbst. Die Biozentrik weitet dann den Kreis der Moral Subjects um alle Wesen aus, die mit Taylor ein Wohl (Good) besitzen, denen man ansieht, ob es ihnen gut oder schlecht geht. 2 Praktisch sind das alle Lebewesen einschließlich der empfindungslosen. Man kann eine Topfpflanze gut oder schlecht behandeln, aber keinen Stein. Der Holismus oder die Physiozentrik schließlich erklären alles auf der Welt zum Moral Subject. Allem gegenüber haben sich Moral Agents in irgend einer Weise pflichtgemäß zu verhalten. Ein berühmter Vertreter ist Leopold mit seiner Land Ethic;3 eine interessante neue Variante wird von Gorke4 gelehrt. Er macht aus dem Inklusions-ein Exklusionsproblem und sagt, dass ihn kein Grund überzeugt, mit dem bestimmte Wesen oder Klassen von Wesen aus dem Kreis der Moral Subjects ausgeschlossen werden können. Ich kann auf viele interessante Einzelfragen nicht eingehen, einiges hat uns jedoch die über 30-jährige Debatte um das Inklusionsproblem gelehrt: 1. Nicht aus allen Positionen lassen sich Naturschutzargumente direkt ableiten; besondere Probleme bereitet zum Beispiel die Biozentrik, welche mit Schweitzer und Taylor stets individuenbezogen ist. Eine Welt mit wenigen Arten, deren Individuen es gut geht, ist einer Welt mit vielen Arten, deren Individuen es weniger gut geht, vorzuziehen. Von den nicht-anthropozentrischen Positionen fordert nur der Holismus direkt den Schutz der gesamten Natur. 2. Je mehr inkludiert wird, umso wohler ist vielen Menschen ums Herz. Biozentrische und holistische Positionen strömen hohe intuitive Attraktivität aus. 3. Je mehr inkludiert wird, umso unüberwindlicher werden für den schärfer Denkenden aber die Begründungsprobleme (außer wenn man die Sache wie Gorke sieht). Warum muss man Biozentriker oder Holist sein, oder in den Worten eines 1  U. Hampicke, »Naturschutz und Ethik«; A. Krebs, »Naturethik im Überblick«; K. Ott, »Ethik und Naturschutz«. 2  P. W. Taylor, Respect for Nature. 3  A. Leopold, A Sand County Almanac. 4  M. Gorke, Artensterben.

Naturschutz als Problem der Gerechtigkeit unter Zeitgenossen

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Philosophen: »why … should I tear no leaf from a tree?«5 Es ist sehr viel schwerer, hier eine überzeugende Antwort zu geben als auf die Frage »why should I not hurt my fellow-human?«. 3.  Anthropozentrik 3.1  Politische Gültigkeit von Naturschutzbegründungen Es wäre übertrieben zu behaupten, dass alle trans-sentientistischen Positionen diskursiv unvermittelbar oder, banal ausgedrückt, »Glaubenssachen« sind. Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Biozentriker, Taylor, bringt durchaus Argumente für seine Sache. Der springende Punkt ist aber: Man kann nicht fühlende Wesen (wie in der Biozentrik) als Moral Subjects ansehen, aber man muss es nicht. Wie es sich mit abstrakten Entitäten verhält (wie im Holismus), ist noch weniger klar. Man muss aber in der Zivilisation Menschen und andere fühlende Wesen als Moral Subjects ansehen, auf Grund des in allen Kulturen Jahrtausende alten Prinzips der Reziprozität. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Die Goldene Regel: Quäle keinen Hund, denn du willst auch nicht gequält werden. Und natürlich mit Kant: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.6 Das überzeugt den, der denken kann und will. Nach meiner Auffassung ist trans-sentientistischen Positionen mit Respekt zu begegnen, mit Respekt vor ihren menschlichen Trägern, nicht unbedingt vor der Idee selbst. Es gibt aber keine Rechtfertigung für Forderungen, solche Lehren persönlich zu übernehmen. Daher ist der § 1 des Bundes-Naturschutzgesetzes problematisch, in dem es heißt »Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Lebensgrundlage der Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen … zu schützen, zu pflegen«7 usw. Naturschutzverbände sind stolz darauf, diese Formulierung nach jahrelangem Streit errungen zu haben. Es heißt zwar nur vage »eigener Wert« und nicht präzise intrinsischer Wert oder moral subject, dennoch ist hier einen Ansatz zu sehen, Staatsbürger zur Übernahme holistischer Gesinnung zu zwingen, was der Gesetzgeber nicht darf. Nicht einmal einer individuellen Pflanze, sondern Natur und Landschaft einen »eigenen« Wert zuzusprechen, übersteigt, wenn hier der intrinsische Wert gemeint ist, sogar die immer individualistische Biozentrik und ist eindeutiger Holismus. Wird auch im Vorliegenden der Sentientismus als die der heutigen Kulturstufe der Menschheit angemessene Ethik angesehen, so besitzen Fragen der Tierethik für den Naturschutz keine zentrale Rolle. In der Tierethik geht es um das Wohlergehen von Individuen, im Naturschutz um den Erhalt von Arten und Ökosystemen. Daher können

5  6  7 

W. K. Frankena, »Ethics and the Environment«, 11. I. Kant, Grundlegung, 68. BNatSchG.

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Begründungen für den Naturschutz, welche den Trans-Sentientismus ablehnen, als anthropozentrisch bezeichnet werden. Allein diese eröffnen die Möglichkeit, politisch zu handeln, das heißt bei Vorliegen stichhaltiger Begründungen andere Menschen gegebenenfalls zum Naturschutz zu zwingen. Hier bestehen keine Pflichten gegenüber der Natur, sondern Pflichten gegenüber Menschen in Ansehung der Natur. Es ist unmoralisch und gegebenenfalls zu verbieten, die Natur zu schädigen, soweit dies Menschen schädigt. Dass Menschen zu schädigen verboten werden kann und muss, ist nun selbstverständlich, dies beinhalten Recht und Zivilisation auf fundamentale Weise. Die Natur besitzt vielleicht einen Eigenwert, der Mensch besitzt ihn aber ganz sicher. Dies schafft eine Rechtfertigung für die Beschränkung auf die anthropozentrische Naturschutzbegründung – in der politischen Auseinandersetzung wohlgemerkt, im privaten Diskurs mag man großzügiger denken.

3.2  Nützlichkeit Eine zweite Rechtfertigung für die Anthropozentrik ist pragmatischer und gewissermaßen akzessorisch. Man kann zeigen, dass aus Respekt und Pflicht gegenüber anderen Menschen viele Arten und Ökosysteme zu schützen sind  – fast alle, die Ausnahmen muss man suchen. Hier fallen einem schreckliche Giftschlangen in Australien ein, gegen die man sich nicht einmal mit guten Stiefeln schützen kann und deren Biss absolut tödlich ist. Alle Australier sind dafür, sie zumindest in der Landschaft auszurotten, und ich frage mich, wie ich das Problem sehen würde, wenn ich dort Farmer wäre. Das sind aber, wie gesagt, die Ausnahmen. Das anthropozentrische Naturschutzargument ist somit nicht nur gesellschaftsstrukturierend, indem es Pflichten generiert, es ist auch empirisch kräftig.8 Es wäre schwach, wenn nur wenige Menschen und diese nur jeweils geringfügig von der Artenvielfalt profitierten oder umgekehrt von Reduktionen der Artenvielfalt in ihrer Lebensqualität betroffen oder gar verletzt würden. Die empirische Stärke des Argumentes ist in einer Literatur dokumentiert, die etwa vor 20 Jahren ihren Höhepunkt erreichte und den für philosophische Ohren schrecklich deplacierten Titel »utilitaristische Naturschutzgründe« besaß. Man sammelte alle praktischen Nutzenstiftungen der Natur, um Politiker, Wirtschaftsführer usw. vom Naturschutz zu überzeugen.9 Ich wähle nur Stichworte heraus: –– Über 10.000 Pflanzenarten auf der Erde werden irgendwo gegessen, es könnten noch viel mehr sein. –– 50 % der Welt-Nahrungs-und Futtererzeugung kommen aber von nur fünf Gräsern: Weizen, Mais, Gerste, Reis und Hirsen. Das Krankheitsrisiko dieser Pflanzen D. P. Mindell, Humans Need Biodiversity. Unter zahlreichen: P. Ehrlich und A. Ehrlich, Extinction; N. Myers, The Sinking Ark; ders., A Wealth of Wild Species; C. Prescott-Allen / R. Prescott-Allen, The First Resource. 8  9 

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ist trotz aller Chemie immens, und sehr viele Kulturpflanzenverwandte müssen erhalten werden, um gegebenenfalls Resistenzgene zur Einkreuzung bereitzuhalten, so wie es erfolgreich bei der Kartoffel im 19. Jahrhundert geschah, womit Millionen Menschen vor dem Hungertod gerettet wurden. Die Pharmaindustrie schätzt den verborgenen Wert von Pflanzen- und Tierinhaltsstoffen. Seit langem toben weltweit Kontroversen um die Intellectual Property Rights an diesen Ressourcen. Die Natur ist Lehrmeisterin für Ingenieure und Erfinder, Spinnwebfäden werden ebenso wie Facettenaugen bewundert und zu kopieren versucht.10 Nicht nur Arten, auch Ökosysteme sind als Systeme nützlich oder unentbehrlich. Zahlreiche Studien versuchen mehr oder weniger überzeugend, den Wert dieser Systeme in monetären Größen zu erfassen.11 Ohne Moore und alte Bäume als Archive wüssten wir sehr wenig über die nacheiszeitliche Klimageschichte – ein Wissen, das bei der heutigen menschengemachten Klimagefahr unschätzbar ist. Immer wieder gibt es völlig unerwartete Naturnützlichkeiten, wie in einer Tageszeitung berichtet.12 Die afrikanische Riesenhamsterratte lässt sich darauf abrichten, verborgene Landminen, das heißt Sprengstoff zu erschnüffeln und wird bei einem Fund wegen ihres geringen Gewichtes nicht gesprengt. Das Beispiel sollte davor warnen, Arten vorschnell in wahrscheinlich irgendwann einmal nützliche und nie nützliche einzuteilen. Das gilt auch für die Giftschlangen. Die Riesenhamsterratte wäre bei jeder solchen Sortierung schnell der zweiten Gruppe zugeordnet worden.

3.3  Subtile und eudaimonistische Werte Es fällt auf, dass alle Sammlungen dieser »utilitaristischen Naturschutzgründe« einen schlichten Punkt nicht nennen: Dass es geboten sein kann, die Artenvielfalt zu erhalten bzw. wieder zu vermehren, und dafür auch Kosten aufzuwenden, weil sich Menschen an ihr erfreuen. Ganz einfach: weil sich Menschen an ihr erfreuen, so wie sich andere an Kunst erfreuen, weil sie die Welt reicher macht. Das traut sich anscheinend niemand zu fordern, es müssen krebshemmende Mittel in obskuren Pflanzen oder minensuchende Ratten sein. Der Anthropozentrik wurde in der Umweltethik Flachheit vorgeworfen,13 was vielleicht durch die soeben angesprochene Nützlichkeitsdebatte befördert wird, die Vordergründiges zu stark betont. Tatsächlich beinhaltet diese Position keineswegs, dass die Natur nur einen instrumentellen Wert zur Befriedigung manifester Bedürfnisse, schon gar nicht nur einen derben instrumentellen Wert in materieller Hinsicht besitzt.

K.- H. Jeong et al., »Biologically Inspired Compound Eyes«. Methodisch sehr kritikwürdig hier R. Costanza et al., »The Value of the World’s Ecosystem Services«. 12  Berliner Zeitung vom 17.1.2005. 13  A. Naess, »The Shallow and the Deep«. 10  11 

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Es gibt auch sehr subtile instrumentelle Werte. Denken wir an die Rolle der Natur in den Künsten. Dass hier nicht nur elitäre Minderheiten angesprochen werden, bezeugen allein Millionen Kalender mit Monets Coquelicots. Wäre jemals eine Flöte erfunden worden, hätten die Menschen überhaupt ein ästhetisches Empfinden im Bereich der Akustik entwickeln können, wenn nicht die Vögel sängen? Der eudaimonistische Wert ist von gleich großer Bedeutung. Etwas wird geschätzt, auch ohne feststellbaren Nutzen aus ihm zu ziehen. Tiefe Trauer kann folgen, wenn es verloren, gestohlen, beschädigt oder zerstört wird. Das kann ein alter Brief oder ein Andenken an jemand sein oder eben die Blumen am Wegrand. Entscheidend ist: vernichtet jemand die Blumen am Wegrand, so tut er böses nicht den Blumen gegenüber (sie besitzen keinen intrinsischen Wert), sondern dem Wertschätzer gegenüber. Deshalb ist der immanente oder eudaimonistische Wert eine anthropozentrische Kategorie. Nebenbei bemerkt, ist stark zu vermuten, dass viele, die von »Eigenwerten« in der Natur sprechen und sich als Biozentriker oder Holisten gerieren, in Wirklichkeit den immanenten oder eudaimonistischen Wert oder eine vage Vorstellung davon meinen. Der Ethiker muss hier aber streng trennen. Schließlich kommt hinzu, dass der Gegenübertritt des Menschen zur Natur selbstverständlich nicht allein kognitiv, sondern stärkstens emotional erfolgt. Der Mensch hat sich eine Million Jahre lang in der Natur entwickelt, im Kontakt mit Pflanzen und Tieren, von denen viele gefährlich waren. Er hat Angst ausgestanden wie noch Hänsel und Gretel im Wald, aber auch Früchte und Fleisch genossen. Es ist undenkbar, dass das keine tiefen Spuren in seiner Psyche hinterlassen haben sollte. Sie sind im Gegenteil nur fadenscheinig durch die Zivilisation überdeckt. Abscheuliche Horrorfilme, von denen es wimmelt auf DVDs und Spielkonsolen, können als unverarbeitete Naturangst interpretiert werden. Hiermit möchte ich meine Materialsammlung für meinen eigentlichen Problemaufriss schließen. Bevor ich zu ihm komme, noch ein kleiner Umweg – ich muss das Problem der Generationengerechtigkeit zumindest anschneiden.

4.  Gerechtigkeit zwischen Menschen 4.1  Generationengerechtigkeit Wie auch im zitierten § 1 des Bundes – Naturschutzgesetzes, wird das anthropozentrische Naturschutzargument oft im Kontext der Generationengerechtigkeit verwendet. Wir sollen die Artenvielfalt künftigen Generationen erhalten. Das ist natürlich einerseits richtig. Die künftigen Generationen sind die schwächsten Mitspieler auf dem Planeten. Wir können sie schädigen, aber sie können sich nie an uns rächen. Wir setzen ihnen die Welt vor, ohne sie zu fragen, wie sie das finden. Wenn wir die technischen Möglichkeiten besitzen, die Welt zu unserem kurzfristigen Vorteil zu verarmen, speziell Arten auszurotten, dann hält uns davon keine Sanktionsdrohung, sondern allein Selbsteinschränkung, bewusste Rücksichtnahme ab. Man könnte von einer intergenerationellen Verallgemeinerung des Kategorischen Imperativs sprechen: Mit Kant ist nicht der zu loben, der ein

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Fahrrad aus Angst vor der Polizei nicht stiehlt, sondern nur der, der auch dann nicht stiehlt, wenn er genau weiß, nie erwischt zu werden. Nur ein solches Verhalten sichert das Wohl künftiger Generationen. Noch nie ist so viel über künftige Generationen geredet worden, und noch nie war die Welt von einem solchen Verhalten weiter entfernt. Das Gerede über die künftigen Generationen führt auf der anderen Seite in manche Absurdität und lenkt von gegenwärtigen Problemen ab. Wir werden heute durch Schilder belehrt, dass zum Beispiel die bekannten süddeutschen Voralpenmoore, etwa in Oberschwaben das Wurzacher Ried oder das Gründlenried, nicht betreten werden dürfen. Ich war früher jahrelang mit meinen Essener Kollegen auf Exkursionen dort. Es ist heute unmöglich, eine Betretungsgenehmigung für Lehrzwecke zu erhalten, auch wenn beim Betreten die größte Sorgfalt gewährleistet ist. Lehramtsstudentinnen in Biologie dürfen nicht hinein, sehen damit in ihrem Leben nie Carex limosa oder Carex chordorrhiza oder Sonnentau oder andere Moorpflanzen in ihrer natürlichen Umgebung, die sie für ihren Unterricht eigentlich kennen sollten. Kein Wunder, dass sie bei dieser Ausbildung kaum noch Tanne und Fichte unterscheiden können. Nicht nur ärgert uns, dass Beamte der Naturschutzbehörde natürlich ins Moor dürfen und auch die Jäger, soviel sie wollen. Wir werden auch nachdenklich bei der Begründung der Verbote. Wir heben das Gründlenried für künftige Generationen auf. Was müssen aber die künftigen Generationen mit dem Gründlenried tun? Sie müssen es wieder zusperren zugunsten ihrer künftigen Generationen. Das ist eine absurde Situation. Der Ökonom würde sofort sagen, dass es dann besser, nämlich intergenerationell Pareto-superior wäre, wenn wenigstens eine Generation das Moor genießen und zertrampeln dürfte. Dem möchte ich nicht folgen; das Beispiel zeigt vielmehr etwas anderes: Naturschutz, der etwas taugt, erhält die Natur nicht allein für künftige Generationen, sondern richtet sie so wieder her, dass sie nutzbar und wieder in hinreichendem Maße belastbar ist. Dafür ist zugegebenerweise das Moor ein schlechtes Beispiel, weil es sich technisch nicht schnell wieder vermehren lässt. Aber es gibt genügend andere Beispiele. Wer in der Rhön einen Blumenstrauß mit Arnica montana pflückt, rikiert Ärger mit Behörden. Arnika darf nicht gepflückt werden, weil es sie dort so wenig gibt. Dabei haben sie nicht die Pflücker reduziert, sondern landwirtschaftliche Intensivierung, Aufforstung und andere Einflüsse. Bei meinem Chalet in den französischen Alpen kann ich soviel Arnika pflücken, wie ich will. Sie ist massenhaft – wenn ich sie nicht pflücke, fressen sie die Kühe. Der Wunschzustand im Naturschutz ist, symbolisch gesprochen, dass Blumenpflücken wieder erlaubt ist. An dessen Realisierung ist auf vielen Gebieten nicht im Entferntesten zu denken.

4.2  Wandlung der Kulturlandschaft und Betroffenheit Die in diesem Buch – gewiss für alle anderen Beiträge zu Recht – vorgeschriebene Ausdrucksform in Worten erlaubt nur in äußerst unvollkommener Weise, die Probleme der Artenvielfalt in der mitteleuropäischen offenen Kulturlandschaft zu veranschaulichen.

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Allein Illustrationen14 oder noch besser das Erleben der Wirklichkeit auf Exkursionen können dies vor Augen führen. Zahlreichen in Landnutzungs- und Naturschutzfragen weniger erfahrenen Menschen ist kaum bewusst, wie ungeheuer reduziert die Arten- und Biotopvielfalt unserer heutigen mitteleuropäischen Kulturlandschaft im Vergleich zu der Situation noch vor 100 Jahren ist. Diesen Menschen erscheinen »unkrautfreie« Getreidebestände ohne einen Farbtupfer bis zum Horizont als eine Selbstverständlichkeit, als sei die Welt so geschaffen. Das nuancenlose Grellgelb der Rapsfelder ist für sie der ästhetische Gipfel der Kulturlandschaft; Postkarten in Andenkenläden preisen es. Sie wissen einfach nicht, dass dort, wo heute industriell verwertete Maisbestände vorherrschen, früher Heideblumendecken die Landschaft prägten, »aus denen jeder Schritt Schwärme blauer, gelber und milchweißer Schmetterlinge aufstäuben (ließ)«.15 Allerdings ist zu beobachten, dass die so anspruchslos gewordenen oftmals aufleben, wenn sie in eine der wenigen Gegenden versetzt werden, die das Bild der traditionellen vorindustriellen Kulturlandschaft weitgehend bewahrt haben. Unsere Untersuchungen im Biosphärenreservat Südost – Rügen zeigen, dass Touristen, die zum ersten Mal in ihrem Leben Kornblumen sehen, begeistert sind.16 Das weiß im Übrigen auch die Werbung, die (kaum noch vorhandene) Landidylle oft zum Kitsch verklärt. In umfangreichen Bevölkerungskreisen besteht ohne Zweifel eine starke latente Sehnsucht nach vorindustriellen Landschaftsbildern einschließlich deren Artenvielfalt. Man kann hier eine Parallele zur Wertschätzung historischer urbaner Umwelten, also schöner Städte und Dörfer sehen. Es bestehen fließende Übergänge von der latent naturfreundlichen Mehrheit zu den »echten« Naturschützern. Auch diese Gruppe ist heterogen und reicht von bekenntnisstarken, aber wenig sachverständigen Aktivisten bis zu den relativ wenigen Naturschützern mit wissenschaftlichem Hintergrund und fundierten Kenntnissen über Arten und Biotope. Die Entwicklung der Landschaft in den vergangenen 100 Jahren brachte Gewinner und Verlierer hervor. Gewinner der Technisierung und ungeheuren Produktionssteigerung auf Kosten des Landschaftsbildes sind nicht etwa die Landwirte. Die Marktstruktur für landwirtschaftliche Erzeugnisse ist aus mehreren Gründen so beschaffen, dass die Landwirte alle Früchte des technischen Fortschritts in Form von Preissenkungen an Handel und Verbraucher weitergeben müssen.17 Ein aktuelles (2009), die Medien füllendes Beispiel sind Milch-Erzeugerpreise in Mecklenburg-Vorpommern von deutlich unter A  0,20 bei Produktionskosten von über A  0,30. Ein gegenteiliges Extrem ist auch dem Laien schnell begreiflich. Den Bauern ging es immer relativ gut, wenn es allen anderen schlecht bis sehr schlecht ging, das heißt bei starker Verknappung der

14  Die Zuhörer auf dem Kongress in Essen werden sich an die von mir gezeigten Bilder erinnern. Sehr beeindruckend auch A. Ringler, Gefährdete Landschaft. 15  A. v. Droste-Hülshoff, »Bilder aus Westfalen«, 87. 16  K. Karkow, Wertschätzung von Besuchern. 17  U. Hampicke, Werte, Gerechtigkeit und Verantwortung.

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Nahrungsmittel. Dann steigen ihre Preise ins Astronomische; 1947 »hamsterten« die Städter einen Sack Kartoffeln für Perserteppiche oder teures Porzellan. Die Gewinner der Technisierung der Landschaft sind eindeutig die Verbraucher, die im Jahre 2003 weniger als 10 % ihres verfügbaren Einkommens für Nahrungsmittel (ohne alkoholische Getränke und Tabakwaren) ausgeben mussten, gegenüber noch fast 50 % Anfang der 50er Jahre in der damaligen BRD.18 Wer sind die Verlierer? Verlierer sind zum einen die manifesten Naturliebhaber, denen ein gewaltiges Potenzial persönlicher Erlebnisse entzogen wurde. Sie sind sich dessen auch bewusst, kämpfen dagegen an oder resignieren, nicht wenige verlieren sich in misanthropischkulturpessimistisches Denken und besitzen hinsichtlich der Ursachen der Entwicklung und möglicher Abhilfemaßnahmen ein wenig sicheres Urteil. Hier handelt es sich zweifellos um eine Minderheit der Gesellschaft, wenn auch von einigem Umfang. Verlierer sind aber auch die weitaus zahlreicheren Menschen, die nicht als manifeste, wohl aber als latente Naturliebhaber bezeichnet werden können, die eine ästhetisch verarmte Kulturlandschaft zwar nicht täglich beklagen, aber den oben erwähnten Beobachtungen und Interviews zufolge einen erkennbaren Zuwachs an Lebensqualität erfahren würden, wenn die Landschaft artenreicher und schöner wäre. Besonders diese große Gruppe ist natürlich dieselbe, welche die Vorteile niedriger Nahrungsmittelpreise genießt; diese Menschen sind zugleich Gewinner und Verlierer. Es ist gut möglich, dass sie, gefragt, ob sie den Preis einer starken Erhöhung der Nahrungsmittelpreise zahlen würden, um in der Agrarlandschaft mehr Natur zu genießen, zögern oder verneinen würden. Das Problem ist also, wie hoch dieser Preisanstieg oder eine anderweitige Belastung, etwa über Steuern, wäre. Der beschränkte Raum verbietet, hier ins Detail zu gehen; eine deutliche punktuelle und regionale Erhöhung der Artenvielfalt (natürlich nicht die Wiederherstellung der Situation von vor 100 Jahren) bei hohem Grenznutzen für die Naturliebhaber wäre mit gesamtgesellschaftlich bescheidenen Mitteln möglich.19 Der rein ästhetische Genuss und das persönliche Wohlsein ist eine Sache, über tiefere psychologische und kognitive Aspekte ist jedoch auch nachzudenken. Für die Pädagogik ist die fehlende Biodiversität ein schwerer Verlust. Kinder sind neugierig auf Pflanzen und Tiere, freilich auf ambivalente Weise. Früher, als man es ihnen noch nicht verbot, zupften sie Maikäfern die Beine einzeln aus. Kinder sind in jeder Weise ansprechbar für die Natur, bis man es ihnen im höheren Alter austreibt. Jeder Lehrer und jede Lehrerin wird bestätigen: die im normalen kindheitswidrigen Klassenzimmer-Absitzen die schlimmsten Störenfriede sind, werden lammfromm und bienenfleißig, wenn es darum geht, einen Teich zu bauen oder Kartoffeln im Schulgarten auszubuddeln. Es ist oft unmöglich, in ländlichen, landwirtschaftlich produktiven Regionen im normalen Schulbetrieb und in erreichbarer Nähe nicht-triviale Pflanzen- oder Tierarten

Statistisches Bundesamt, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Zusammenfassende Darstellung in U. Hampicke, »Was kostet anspruchsvoller Naturschutz?«. 18 

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oder ihr Zusammenleben in Ökosystemen, etwa in einer bunten Wiese, zum Gegenstand des Unterrichtes zu machen, weil nichts mehr da ist. Zusammenfassend ergibt sich: Einer signifikanten, in sich heterogenen Bevölkerungsgruppe sind in einem sich über Jahrzehnte hinziehenden Landschaftsverarmungsprozess die Möglichkeiten für ästhetische Erfahrungen, für intellektuell anspruchsvolle Studien und für das Erleben tiefer Emotionen genommen worden. Die Menschen einschließlich der Kinder sind ärmer an Erlebnissen geworden, umfangreiche pädagogische Möglichkeiten sind verschlossen.

4.3  Ungerechtigkeit gegenüber denen, die Natur entbehren Man stelle sich vor, in den vergangenen 100 Jahren wären Theater und Konzert abgeschafft worden, Beethoven und Wagner würden nirgends mehr aufgeführt. Alle Museen wären zugunsten von Einkaufszentren und Parkhäusern verschwunden. Der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der wirklich betroffen wäre, wenn Wagner nicht mehr aufgeführt werden würde, ist mit Sicherheit kleiner als der Anteil der Naturliebhaber – aber wie groß wäre die Entrüstung! Die kleine und dabei oft wohlhabende Elite der Opern-, Konzert- und Theaterfreunde hält es für selbstverständlich, dass der Staat (das heißt die Nicht-Operngänger) 84 % des Betriebes finanziert; 16 % werden durch Eintrittsgelder erwirtschaftet. 20 Kunst- und Naturgenuss sind selbstverständlich nicht gegeneinander auszuspielen; der Vergleich erscheint dennoch fair. Die Naturfreunde befinden sich in einer ähnlichen Situation wie die hypothetischen Klassik-Freunde ohne Klassik-Aufführungen. Es gibt aber keine Aufschreie, außer von ein paar großsprecherischen Verbandsfunktionären. Die meisten Betroffenen sind verschüchtert und versuchen zu glauben, was man ihnen erzählt: Dass wir uns Blumenwiesen einfach nicht mehr leisten könnten; dass ihnen im Übrigen nicht nachzutrauern sei, weil sie Nostalgie und Kitsch verkörperten usw. Die Landschaft müsse funktional und heutiger Technik angemessen sein. Nun zur Beurteilung: Dass den Naturfreunden etwas genommen wurde, ist zweifelsfrei. Die Tatsache als solche muss aber noch nicht als Unrecht zu werten sein. Sie ist es nur dann, wenn die Naturfreunde ein Recht (ökonomisch nennen wir es ein Property Right) auf Naturgenuss besitzen und wenn die Gesellschaft in der Lage wäre, diesem Recht Geltung zu verschaffen, ohne an anderer Stelle Unrecht zu tun. Die Behauptung, dass diese Wegnahme im beobachteten Ausmaß unrecht war, wäre nicht aus der Luft gegriffen. Ein zumindest schwaches Property Right, also eines, welches nicht umfassende und sehr teure, aber begrenzte und kostengünstige Maßnahmen zu seiner Gewährung rechtfertigt, ließe sich womöglich allein wegen der pädagogischen Bedeutung des Gegenstandes postulieren. Im Übrigen wird eine Bereicherung der Landschaft über die schon genannte Generalmaxime des Bundes-Naturschutzgesetzes im § 1

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IWD Informationsdienst, 8.

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hinaus im § 3 ausdrücklich gefordert: »Die Länder schaffen ein Netz verbundener Biotope, … das mindestens 10 % der Landesfläche umfassen soll.«21 Auch ist genug Geld da und wird sogar unter Naturschutz-Etikett ausgegeben, versickert aber oft ineffizient. Das Problem sei hier dennoch allgemeiner gestellt: Auch solange in der Öffentlichkeit kein Konsens über Rechte seitens der Naturliebhaber besteht – solange wir dieses Problem als ungeklärt ansehen – und auch, wenn die Öffentlichkeit keine Vorstellung von den Kosten einer partiellen Wiederherstellung der Artenvielfalt besitzt – vielleicht sogar das Vorurteil, sie seien wahrscheinlich sehr hoch – auch dann geschieht den Naturliebhabern Unrecht, wenn ihr unverächtliches Anliegen weitgehend ignoriert und ein Diskurs darüber nicht für erforderlich gehalten wird. Sonntagsreden gibt es mehr als genug im Naturschutz, aber keinen Diskurs, der diesen Ausdruck verdient. Vereinzelt ist der Naturschutz sogar Adressat von Schmähungen  – ein ehemaliger BundesWirtschaftsminister entblödet sich nicht, die hundert Mal kolportierte und ebenso oft mit Fakten widerlegte Legende vom Feldhamster als Investitionsverhinderer zum hundertundersten Male zum Besten zu geben. Es wird nicht einmal die Frage gestellt, ob die Naturliebhaber einen Anspruch auf Artenvielfalt haben könnten – diese Frage wird sogar ohne jede Faktenprüfung implizit und vorweg verneint. Ich stelle zur Diskussion: Der großen gesellschaftlichen Gruppen der manifesten und latenten Naturliebhaber wird ein Unrecht angetan.22 Es besteht nicht darin, dass ihr Anliegen unerfüllt bleibt. Vielleicht würde es sich bei näherer Prüfung als unerfüllbar oder nur als teilweise erfüllbar erweisen. Das Unrecht besteht darin, dass ihr Anliegen, obwohl es eine solche (in moderner Sprache »ergebnisoffene«) Prüfung verdiente, einer solchen im öffentlichen Leben nicht für würdig gehalten wird. Fairness und zivilisierter Umgang miteinander würden gebieten, unverächtliche Anliegen, welcher Art sie auch seien, mit Ernst und Empathie zu prüfen.

Literatur Costanza, Robert / d’Arge, Ralph / de Groot, Rudolf / Farber, Stephen / Grasso, Monica / Hannon, Bruce / Limburg, Karin / Naeem, Shahid / O’Neill, Robert V. / Paruelo, Jose / Raskin, Robert G. / Sutton, Paul / van den Belt, Marjan: »The Value of the World’s Ecosystem Services and Natural Capital«, in: Nature 387, 1997, 253–260. Czybulka, Detlef: »Naturschutz und Verfassungsrecht«, in: Werner Konold / Reinhold Böcker / Ulrich Hampicke (Hgg.): Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege, Landsberg 1999. Droste-Hülshoff, Annette von: »Bilder aus Westfalen«, in: dies.: Gesammelte Schriften, Band 2, Stuttgart o. J. 21  BNatSchG § 3. Zu rechtlichen Aspekten vgl. D. Czybulka, »Naturschutz und Verfassungsrecht«. Dem Autor zufolge ist die Gesetzeslage dem Naturschutz keineswegs abhold, alle Defizite liegen im Vollzug. 22  U. Hampicke, »Zur Ethik in der Umwelt- und Landschaftsplanung«.

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Ehrlich, Paul / Ehrlich, Anne: Extinction, New York 1981. Frankena, Williams K.: »Ethics and the Environment«, in: Kenneth E. Goodpaster / Kenneth M. Sayre (Hgg.): Ethics and Problems of the 21st Century, Notre Dame 1979. Gorke, Martin: Artensterben, Stuttgart 1999. Hampicke, Ulrich: »Naturschutz und Ethik – Rückblick auf eine 20jährige Diskussion, 1973–1993, und politische Folgerungen«, in: Zeitschrift für Ökologie und Naturschutz 2, 1993, 73–86. Hampicke, Ulrich: »Zur Ethik in der Umwelt- und Landschaftsplanung«, in: Weiland, Ulrike (Hg.): Perspektiven der Raum- und Umweltplanung. Festschrift für Karl-Hermann Hübler, Berlin 1999, 47–62. Hampicke, Ulrich: »Was kostet anspruchsvoller Naturschutz?«, in: Fritz Brickwedde / Uwe Fuellhaas / Reinhard Stock / Volker Wachendörfer / Werner Wahmhoff (Hgg.): Landnutzung im Wandel  – Chance oder Risiko für den Naturschutz. 10. Internationale Sommerakademie in St. Marienthal, Berlin 2005, 87–94. Hampicke, Ulrich: Werte, Gerechtigkeit und Verantwortung in der genutzten Landschaft. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Materialien Nr. 7, Berlin 2006. IWD – Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Jg. 31, H. 6 (10. 1. 2006), 8. Jeong, Ki–Hun, Kim, Jaeyoun und Lee, Luke P.: »Biologically Inspired Compound Eyes« in: Science 312, 2006, 557–561. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1961. Karkow, Klemens: Wertschätzung von Besuchern der Erholungslandschaft Groß Zicker auf Rügen für naturschutzgerecht genutzte Ackerstandorte in Deutschland. Diplomarbeit Universität Greifswald 2003. Krebs, Angelika: »Naturethik im Überblick«, in: dies.: Naturethik, Frankfurt a. M. 1997, 337–379. Leopold, Aldo: »The Land Ethic«, in: ders.: A Sand County Almanac, Oxford 1968. Mindell, David P.: »Humans need Biodiversity«, in: Science 323, 2009, 1562–1563. Myers, Norman: The Sinking Ark, Oxford 1979. Myers, Norman: A Wealth of Wild Species, Boulder 1983. Naess, Arne: »The Shallow and the Deep, Long–Range Ecology Movement: a Summary«, in: Inquiry 16, 1973, 95–100. Ott, Konrad: »Ethik und Naturschutz«, in: Werner Konold / Reinhold Böcker / Ulrich Hampicke (Hgg.): Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege, Landsberg 1999. Prescott-Allen, Christine / Prescott-Allen, Robert: The First Resource. Wild Species in the North American Economy, New Haven / London 1986. Ringler, Alfred: Gefährdete Landschaft. Eine Dokumentation in Bildvergleichen, München / Wien / Zürich 1987. Statistisches Bundesamt: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1. Halbjahr 2003, 2004 http: /  / www.destatis.de / presse / deutsch / pk / 2004 / evs_2003i.pdf. Taylor, Paul W.: Respect for Nature, Princeton 1986.

Vielfalt als Wert? Zur aktuellen Debatte um die Biodiversität Kristian Köchy

»Biodiversität« (biodiversity) gehört seit Inkrafttreten der Konvention über die Biologische Vielfalt (CBD) im Jahre 1992 zu den zentralen Schlagworten der globalen Debatte um Umweltpolitik und Umweltschutz. Ähnlich wie bei dem Schlagwort »Nachhaltigkeit« (sustainability) geht allerdings die Prominenz des Begriffes mit einer enormen Unschärfe und einer Vielfalt seiner Verwendungsweisen in je unterschiedlichen Kontexten einher.1 Im Zusammenhang mit ethischen Fragen wird vor allem die Tatsache als problematisch erachtet, dass »Biodiversität« sowohl als empirisch-deskriptiver Begriff der biologischen Fachwissenschaften und der Umweltforschung fungiert als auch als praktischer respektive präskriptiver Begriff in Politik und Umweltschutz.2 Dabei wird nicht nur die Verbindung beider Verwendungsarten wegen der latenten Gefahr einer naturalistic fallacy kritisiert, sondern es wird auch darauf hingewiesen, dass sich für die je einzelnen Verwendungskontexte von Ethik und Wissenschaft ebenfalls verschiedene Begriffsbedeutungen und Verwendungsweisen finden, so dass die Rede von der »Biodiversität« für wissenschaftliche Ansprüche nicht ausreichend präzise erscheint. Gerade weil der Begriff eine so deutliche Prominenz in aktuellen umweltethischen Debatten entfaltet und weil zugleich bisher die Frage nach der adäquaten ethischen Bewertung von Biodiversität ebenso wie die nach der überzeugenden ethischen Begründung einer Verpflichtung zum Erhalt von Biodiversität keinesfalls geklärt sind, werden weitere Grundlagenuntersuchungen erforderlich. Ich werde mich deshalb in meinem Beitrag zunächst mit den verschiedenen Bestimmungen von »Biodiversität« auseinandersetzen, um dann  – darauf aufbauend  – der Frage nachzugehen, ob und warum Biodiversität einen Wert darstellt, welche Gründe also für eine Verpflichtung zum Erhalt von Biodiversität angeführt werden können. Dabei wird keinesfalls der Anspruch erhoben, neue Gründe zu nennen; die angeführten Argumente werden vielmehr im bestehenden Diskurs immer wieder vorgebracht, die offene Frage ist jedoch derzeit, wie und ob die Fülle unterschiedlicher Argumente in eine einheitliche ethische Begründungsstrategie überführt werden kann. Ich werde auf der Basis des Gedankens der Relation und im Rahmen eines kontextualistischen Ansatzes für eine plurale Strategie der Begründung argumentieren, die eine Kombination unterschiedlicher Werttypen in einem einheitlichen Ansatz erlaubt. 3 In diesem ZusamG. T. Prance, »Biodiversity«. D. Takacs, The idea of biodiversity. 3  Vgl. auch die Strategie, die K. Ott, »Zur ethischen Begründung des Schutzes von Biodiversität«, vorstellt. 1  2 

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menhang wird dann auch der im ersten Schritt aufgewiesene Aspekt der Verbindung beider Begriffsverwendungen – der empirisch – deskriptiven und der normativ  – präskriptiven – eine Rolle spielen. Dabei ist vor allem die besondere Stellung des handelnden und bewertenden Menschen in der natürlichen Umwelt zu berücksichtigen, womit sich insbesondere auch die Verbindung zwischen der Biodiversitäts – Debatte und der Frage nach der Landnutzung erklärt. Die Bestimmung der Rolle des Menschen innerhalb der vielfältigen Relationen in Ökosystemen bildet so den vermittelnden zweiten Teil meiner Untersuchung zwischen der Bestimmung von »Biodiversität« (Teil 1) und der Frage nach der Verpflichtung zum Erhalt von Biodiversität (Teil 3).

1.  Was ist Biodiversität? Über präskriptive und deskriptive Verwendungsweisen sowie deren Zusammenhang. Eine Vorbemerkung: Die Unterscheidung von empirisch-deskriptiven und normativpräskriptiven Aussagen macht vor allem vom logischen Standpunkt aus Sinn. Eine solche logische Differenz mit der entsprechenden Warnung, den Übergang von einem Aussagentyp zu einem anderen zu berücksichtigen, um nicht einer naturalistic fallacy zu unterliegen, lässt sich jedoch nur dann bruchlos auf das Verhältnis von naturwissenschaftlichen Aussagen und ethischen Bewertungen übertragen, wenn man unterstellt, naturwissenschaftliche Aussagen seien notwendig und stets rein deskriptive Sachaussagen. Vom kontextualistischen Standpunkt aus allerdings,4 dass heißt mit Blick auf die umfassenden methodologischen, historischen, sozialen und praktischen Milieus naturwissenschaftlicher Forschungsprogramme, wird erkennbar, dass solche logischen Grenzziehungen den tatsächlichen Status der naturwissenschaftlichen Terminologien nur bedingt wiedergeben. Vielmehr kommt es nach den Einsichten zur theoriengeleiteten Beobachtung innerhalb wissenschaftlicher Sprachspiele und Denkstile auf allen Ebenen der Methodologie zu komplexen Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen Sachaussagen und Bewertungen. Da diese implizite Werthaltigkeit naturwissenschaftlicher Konzepte – selbst wenn sie zunächst rein technisch-praktischer Natur ist – auch oder gerade innerhalb ethischer Debatten, also in moralisch-praktischer Hinsicht, bedeutsam wird, ist es zwar einerseits im Sinne einer Begriffskritik und -klärung wichtig, auf implizite Wertungen kritisch hinzuweisen, mit dem Ziel ihrer Berücksichtigung oder Ausklammerung, es wird sich aber dennoch in der Praxis erweisen, dass ein Verständnis sowohl von der innerwissenschaftlichen Funktion als auch von der außerwissenschaftlichen Bedeutung naturwissenschaftlicher Begriffe und Aussagen nicht ohne Berücksichtigung dieses kontextuellen Verweisungssystems möglich ist. Insofern werden auch im Folgenden bei aller Differenzierung der präskriptiven und der deskriptiven Verwendung von »Biodiversität« vor allem diese Rahmenbedingungen berücksichtigt. Vgl. dazu K. Köchy, »Norm und Kontext«; K. Köchy, »Wie beeinflussen naturwissenschaftliche Fakten moralische Vorstellungen?«; K. Köchy, »Kontextualistische Bioethik«. 4 

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Schon David Takacs hat nachgewiesen, dass der Begriff »biodiversity« vor allem unter naturschutzpolitischen Vorgaben entwickelt wurde. Insofern handelt es sich um einen neuen, primär praktisch-politischen Begriff, der im Zusammenhang der Bemühungen um globale Umweltpolitik in den 1990er Jahren entstanden ist.5 Bereits in diesem politischen Kontext sind deutlich unterschiedliche Definitionen des Begriffs einschlägig. So definiert etwa die Konvention über die biologische Vielfalt »Biodiversität« als Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft sowie als Variabilität der ökologischen Komplexe, aus denen diese Organismen stammen. 6 Das UNESCOProgramm Man in the Biosphere hingegen versteht »Biodiversität« unter dem Gesichtspunkt der Diversität auf allen Ebenen als die Eigenschaft von klassifikatorischen Einheiten des Lebens, sich auf verschiedenen hierarchischen Niveaus (Gene, Zellen, Einzeller, Mehrzeller, Populationen, Arten, Lebensgemeinschaften und Ökosysteme) voneinander zu unterscheiden. Jeffrey A. McNeely et al. definieren »Biodiversität« deshalb über die biologischen Bildungen im eigentlichen Sinne hinaus als »umbrella term of the degree of nature’s variety«.7 Unter politischen oder auch wissenschaftssoziologischen8 Vorzeichen kann man diese Weite und Unschärfe der Begriffsbildung als sinnvolle pragmatische Strategie im Sinne von Ilana Löwys boundary concepts verstehen,9 die gerade im inter- und transdisziplinären Feld der Biodiversitätsfrage bedeutsam ist: Die Unbestimmtheit des Begriffes dient in diesem Fall der Erleichterung der Zusammenarbeit zwischen Akteuren, die verschiedenen Denktraditionen und Paradigmen folgen. Insofern ist »Biodiversität« ein typischer Grenzbegriff. So konstatiert auch Konrad Ott, das Biodiversitäts-Konzept übergreife unterschiedliche Leitlinien des Naturschutzes und mache damit eine breite Koalition unter Naturschützern möglich.10 Unter primär ethischen Vorzeichen gilt in diesem Fall allerdings Dieter Birnbachers Einwand gegen ähnliche »Leerformeln« (in Birnbachers Beispiel ist es der Naturbegriff11), dass eine positiv besetzte und in weiten Grenzen deutbare Begriffshülse zwar ein scheinbares Einverständnis zwischen den Akteuren herstellen kann, jedoch letztlich eben als Scheinargumentation zu entlarven ist, bei der die Akteure ihre inhaltlichen Wertprämissen verbergen können, womit dann allerdings eine kritische Überprüfung von Zustimmung oder Ablehnung unmöglich wird. Im Sinne der oben genannten kontextuellen Rahmenbedingen wird sich jedoch erweisen, dass auf solche komplex aufgeladenen Begriffe und Konzepte in naturwissenVgl. D. Lanzerath, »Einführung«. In den »Use of Terms« wird der Begriff nicht definiert (vgl. www.cbd.int / biosafety / protocol.shtml). 1992 lautete die Definition: »[…] the variability among living organisms from all sources […] and the ecological complex of which they are a part; it includes diversity within species, between species and of ecosystems.« (Vgl. http: /  / chm.nature.cz / glossary_keywords / B /  biological_diversity oder http: /  / www.biodiversity.govt.nz / picture / doing / nzbs / glossary.html). 7  J. A. McNeely et al., Conserving the world’s biological diversity, 17. 8  Vgl. zur wissenschaftspolitischen Funktion dieses Konzepts auch U. Eser , »Biodiversität und der Wandel im Wissenschaftsverständnis«. 9  I. Löwy , »Unscharfe Begriffe und föderative Experimentalstrategien«. 10  K. Ott, a. a. O., 90. 11  D. Birnbacher, »›Natur‹ als Maßstab menschlichen Handelns«, 220. 5  6 

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schaftlichen Forschungsprogrammen nicht verzichtet werden kann und dass sie gerade in interdisziplinären Kontexten oder ethischen Debatten neben konkreten Argumenten immer mitverhandelt werden. Insofern wird man sich zunächst, durchaus ebenfalls in kritisch-aufklärerischer Absicht, darauf beschränken müssen, die jeweiligen Rahmenannahmen der Begriffe zur Kenntnis zu nehmen. Fragt man in diesem Sinne nach dem Grund für die positive Besetzung des Terminus »Biodiversität«, dann ist man über die aktuellen Genese- und Verwendungskontexte hinaus in die weitere Begriffs- und Ideengeschichte verwiesen. Es wird dabei deutlich, dass das Konzept trotz seiner scheinbar erst kurzen Verwendung doch in einer langen Tradition eng verwandter Konzepte wurzelt. Diese münden in metaphysische und religiöse Ideen wie etwa das Konzept der Fülle der Natur – man erinnere sich diesbezüglich an Arthur O. Lovejoys klassische Untersuchung The Great Chain of Being.12 Diese alten naturphilosophischen Motive waren immer schon normativ besetzt, so etwa durch die Überlegung, dass sich die Vollkommenheit des Schöpfers auch in der Vielfältigkeit und Fülle seiner Schöpfung zum Ausdruck bringen müsse.13 Dabei ist in dieser Überlegung eine gewisse Ambivalenz unübersehbar: Denn schließlich galt und gilt vor allem die Einheit und Einzelheit des Schöpfers – schon gar unter monotheistischen Vorzeichen – als Ausweis für dessen Vollkommenheit, womit dann allerdings jegliche Vielheit der Schöpfung als defizitär erscheinen müsste und zum Ausweis für deren Endlichkeit würde. Auf der anderen Seite wird jedoch argumentiert, dass Gott um seiner Vollkommenheit willen die Vielheit der Dinge will und liebt, da diese wegen der Teilhabe an seinem Urbilde seine Vollkommenheit steigerten (Thomas von Aquin, Summa contra gentiles I, 75). Dieser naturphilosophische, metaphysische und religiöse Rahmen hat von jeher auch die genuin biologischen Überlegungen geprägt. Gleichzeitig gehört die offenkundige und vor den Augen liegende Vielfalt der lebendigen Bildungen – gewissermaßen als die für uns erste Erfahrung des Bios, die notwendig vor einer möglichen Einsicht in die von Natur aus ersten Gesetzmäßigkeiten durch die Biologie liegt – zu den Grunderfahrungen sowohl des lebensweltlichen Alltags als auch der biowissenschaftlichen Forschung.14 Schon Aristoteles hat in De partibus animalium15 gegen die bestehende

A. O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. In diesem Sinne erklärt sich der Hinweis des Thomas von Aquin auf den intrinsischen Wert der Vielfalt, nachdem ein Universum mit Engeln und Steinen besser ist, als ein solches, das nur Engel enthält. 14  Als Beispiele für viele: Schon L. v. Bertalanffy, Das Gefüge des Lebens, 20, spricht diesbezüglich von drei »Mannigfaltigkeitswundern«. B. Rensch, Biophilosophie auf erkenntnistheoretischer Grundlage, 29, betont die »ungeheure[n] Mannigfaltigkeit« der »Welt der Organismen«. H. Autrum, Biologie, 28: »Die organische Natur tritt uns in unendlicher und – wenigstens zunächst – unüberschaubarer Mannigfaltigkeit von Formen entgegen.« E. Florey, »Was kann Leben?«, 191: »Die Frage ›Was kann Leben‹ lässt sich nun dahin präzisieren, dass wir nach seiner Vielfalt […] fragen […]«. G. Vollmer, Biophilosophie, 16 ff.. P. Sitte, »Ouvertüre«, 7: »Unter den Naturwissenschaften hatte es die Biologie wegen der schier unendlichen Vielfalt und der enormen Komplexität alles Belebten lange Zeit besonders schwer.« 15  Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, 29 ff. (644b22–645a2). 12  13 

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Wissenschaftstradition, die sich vor allem an der Kosmologie ausrichtete, eine Argumentation für die besondere Qualität der biologischen Forschung vorgebracht, die sich auf die Vielfalt der biologischen Bildungen bezieht. Zwar sind demnach Pflanzen und Tiere nicht wie die vollkommenen kosmischen Gegenstände ungeworden und unvergänglich, aber sie bieten dafür dem Erfahrungswissenschaftler vielfältigeres Erkenntnismaterial, was wegen des damit möglichen umfassenderen Wissens wertvoll ist. Insofern ist zwar auch der fachwissenschaftliche Gebrauch von »Biodiversität« erst ca. 20 Jahre jung und setzt nach Thomas Potthast16 etwa zeitgleich mit der Verwendung des Terminus »sustainable development« ein, kann aber auf ein ideengeschichtliches Fundament zurückgeführt werden, das deutlich älter ist. Vor allem implizite Wertungen gehen auf diese alten Wurzeln zurück. Betrachtet man die fachwissenschaftliche Verwendung des Begriffes »Biodiversität«, dann ist man erneut auf ein ganzes Begriffsfeld zur Bezeichnung für die Fülle und Vielfalt des Lebendigen verwiesen: etwa auf die Begriffe »Diversität« (diversity), »Mannifaltigkeit«, »Variabilität« usw.17 Zugleich ergeben sich aus dieser Bestimmung Konsequenzen für die Fachwissenschaften selbst. Sie haben enormes methodologisches Gewicht und sind in dieser Hinsicht wertend. So wird beispielsweise gerade zum Zeitpunkt der Konstituierung der Biologie als eigenständiger Fachwissenschaft und vor ihrer eigentlichen Ausgestaltung als einer analytischen und experimentellen Disziplin im 19. Jahrhundert immer wieder auf die Vielfalt der biologischen Bildungen als Grund für die Eigenständigkeit der Biologie verwiesen. Für Jean-Baptiste Lamarck müssen in den Biowissenschaften künstliche kognitive und instrumentelle Hilfsmittel (wie die der Klassifikation) eingesetzt werden, weil die Fülle der natürlichen Bildungen die Begrenzungen des sinnlichen Fassungsvermögens deutlich übersteigt.18 Auch der deutsche Biologe Carl Friedrich Kielmeyer begründete in seiner berühmte Rede über die Verhältniße der organischen Kräfte (1793) die Besonderheit der »belebten Natur« mit ihrer gesteigerten »Vielheit, Mannigfaltigkeit und Harmonie«.19 So seien nach »einer sehr mäßigen Schäzung gegen sieben Millionen verschiedene Körperformen zusammengestellt, jede derselben nach dem möglichst geringen Anschlag in 10 000 Individuen vervielfacht, jedes Individuum aus einer Menge verschiedener Organe zusammengesezt, von denen Lyonet uns gezeigt hat, daß bei den kleinern und einfachern oft ihre Zahl an die 1000 und 10,000 hinsteigt.«20 Vor diesem historischen und systematischen Hintergrund besteht die immer wieder in Wissenschaftstheorie, Fachwissenschaft und Öffentlichkeit hervorgehobene Rolle T. Potthast, »Inventing biodiversity«. T. Potthast, »Biodiversität, Ökologie, Evolution«, unterscheidet Vielfalt (= synchrone und historische Mannigfaltigkeit von Varietäten, Rassen, Arten, Familien, Ordnungen, Klassen) und Variabilität (= Unterschiede der Generationen als Resultat der Fortpflanzung). U. Eser, a. a. O., 41 ff., nennt als naturwissenschaftlich (ökologisch) gebräuchliche Konzepte Artenreichtum (Abundanz = reine Artenzahl), ß-Diversität (between-area-diversity = Besonderheit von Gebieten, gesteigert durch endemische Arten, verringert durch eingeführte Arten) und funktionelle Diversität (Vielfalt der Interaktionen in Ökosystemen). 18  J. B. Lamarck, Zoologische Philosophie, 66. 19  C. F. Kielmeyer, Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander, 3. 20  Ebd. 3 f. 16  17 

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der Darwinschen Evolutionstheorie21 als der zentralen Theorie der Biologie gerade darin, dass sie eine Erklärung für die Vielfalt der biologischen Bildungen zu liefern verspricht. 22 Zugleich erhält im Kontext der Evolutionstheorie die »diversity« biologischer Bildungen damit einen neuen zentralen theoretischen Stellenwert. Die biologische Evolution ist deshalb nach Ernst Mayr eine Variations-Evolution: »[…] sie beruht auf der Auslese bestimmter Entitäten aus äußerst variablen Populationen einzigartiger Individuen und dem Entstehen neuer Variation in jeder Generation.«23 Kennzeichnend für die belebte Welt ist auch im Kontext der Evolutionsvorstellung die »Vielfalt«. Das in der Evolutionstheorie beschriebene Geschehen basiert auf zunehmender Variation und Diversität von Lebewesen infolge von Abwandlungen und Fehlern im Reproduktionsgeschehen (genetische Vielfalt). Dieses begründet die Verschiedenheit der Individuen einer Population, die sich dann bei bestimmten Selektionsverhältnissen differentiell reproduzieren. Zugleich sind diese Mechanismen Grund für die Artenvielfalt, die Vielfalt der Lebensgemeinschaften sowie die Vielfalt der Interaktionen in ökologischen Prozessen und Systemen. Folgt man dieser heute grundsätzlich akzeptierten Modellvorstellung  – die nach dem Ausgeführten ebenfalls als Wechselbeziehung zwischen deskriptiven und normativen Momenten aufzufassen ist  –, dann verweist die fachwissenschaftliche Verwendung von »Diversität« auf eine Relation zwischen zwei miteinander wechselwirkenden Momenten: Interne Mechanismen (Mutation oder Sexualität) führen zu gesteigerter Vielfalt und externe Mechanismen (als »Selektion« zusammengefasst) »sondern« aus den heterogenen Populationen Bildungen aus und reduzieren so die Vielfalt. Letztlich ist dabei selbst die Trennung und Gegenüberstellung zweier gesonderter Bereiche eine Abstraktion. Neuere Ansätze zur adaptiven Evolution 24 konstatieren ein komplexes Netzwerk von Wechselbeziehungen zwischen den Bedingungen in biologischen Einheiten und deren jeweiliger Umgebung.25 Nimmt man diese grundlegende Struktur als Ausgangspunkt, dann stellt sich biologische Vielfalt als Relation zwischen im Evolutionsprozess diversifizierten Lebewesen und deren Umwelten dar. Insofern verwundert es nicht, wenn eine Reihe heute vorgelegter Definitionen von biologischer Vielfalt die Vielfalt der Interaktionen berücksichtigen. Konrad Ott 26 hat allerdings zu Recht auf die mit diesen Definitionen verbundenen Probleme hingewiesen  – etwa die gesteigerten Schwierigkeiten für eine Quantifizierung der Biodiversität oder eine realistische Prognose über deren Entwicklung in der Zeit- und er hat ebenfalls zu Recht betont, die mögliche ethische Schlussfolgerung, Unterschiede selbst seien es, die es zu schützen gelte, mache die Begründungsfrage noch komplizierter als sie sowieso schon sei. Exemplarisch für viele: K. Bayertz, »Einführung«, 11 f. P. W. Signor, »Evolutionary History of Biodiversity«. 23  E. Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie, 27; vgl. auch R. Levins / R. Lewontin, The dialectical biologist. 24  M. J. West-Eberhard, Developmental Plasticity and Phenotypic Evolution. 25  Vgl. zu den philosophischen Implikationen dieser Überlegungen etwa D. Walsh, »Evolutionary Essentialism«. 26  K. Ott, a. a. O., 91. 21 

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Diesem Urteil ist wie gesagt grundsätzlich zuzustimmen, wobei jedoch bereits die heute gängigen Versuche einer quantitativen Bestimmung von biologischer Vielfalt – etwa auf das Artniveau bezogen – durchaus die relationale Qualität der Biodiversität unterstreichen. Indem man sich auf die Bestimmung von Artendichte, Häufigkeitsverteilungen der Arten, Seltenheit von Arten, phylogenetischer Diversität oder den Anteil bedrohter Arten konzentriert, sucht man nach quantifizierbaren Parametern eben unter relationalen Gesichtspunkten.27 Jenseits solcher empirischen Fragen allerdings  – aber auch jenseits der eigentlichen ethischen Begründungsproblematik  – verweist gerade das genannte fachwissenschaftliche Verständnis von den Mechanismen der Entstehung sowie den Bedingungen des Vorliegens von Biodiversität auf einen zentralen Gesichtspunkt, der im Folgenden als Brückenschlag zur Frage nach den präskriptiven Elementen des Biodiversitätsbegriffs verwendet wird.

2.  Mensch und Biodiversität. Die Besonderheit der Relation zwischen Mensch und Natur. Es bleibt festzuhalten, dass sich biologische Vielfalt nach den gängigen fachwissenschaftlichen Erklärungsmodellen als Relation zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt bestimmen lässt. Fasst man nun den Menschen unter biologischen Vorzeichen als Teil der evolutionären Entwicklung auf, dann ist auch er Glied dieser Relation und unterliegt den genannten Mechanismen zur Herstellung, Erhaltung und Veränderung von Vielfalt. Der Mensch wird in dieser Perspektive zu einem Moment der evolutionären Vielfalt selbst, auch er ist in die Interaktion der vielfältigen biologischen und abiologischen Bildungen eingebunden. Allerdings zeigt sich schon unter rein biologischen Vorzeichen, dass der Mensch als diejenige Spezialbildung der evolutionären Vielfalt anzusehen ist, deren – gerade durch evolutionäre Mechanismen entstandene Möglichkeiten – über die bisherigen Grenzen der biologischen Evolution hinausreichen und in die eigenständige Sphäre der Kultur führen. Zunächst wird allerdings die Verwobenheit von Kultur und Natur und auch von kultureller und biologischer Vielfalt im Zuge der Menschheitsgeschichte deutlich. Jens Mutke und Wilhelm Barthlott haben auf die interessante – schon von Alexander von Humboldt erwähnte – Tatsache verwiesen, dass auch aktuell die kulturelle Vielfalt und die biologische Vielfalt in einigen Fällen eng korrelieren, so etwa ist eine Korrelation zwischen der Verteilung der Pflanzenvielfalt auf der Erde und der Vielfalt der gesprochenen Sprachen festzustellen.28 Diese Bezüge zeigen sich beispielsweise auch darin, dass sich die aus dem dritten Teil meiner Ausführungen ableitenden Maßnahmen zum Erhalt der Biodiversität niemals umsetzen lassen würden, wenn man nicht im Kontext einer nachhaltigen Lösung auch die kulturellen Rahmenbedingungen der jeweils 27  Vgl. J. Mutke / W. Barthlott, »Biodiversität und ihre Veränderung im Rahmen des Globalen Umweltwandels«, 28. 28  Ebd. 52 f.

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betroffenen Gebiete mitberücksichtigte  – sei es im Sinne der existenziellen Nöte der vor Ort lebenden Menschen, sei es im Sinne darüber hinausreichender ökonomischer Interessen.29 So ist es auch das Hauptziel der Rio Konvention, eine nachhaltige Nutzung des verfügbaren Umweltraumes unter den Bedingungen sozialer Gerechtigkeit umzusetzen. Diese grundsätzliche Verwobenheit von Natur und Kultur ist die Basis der Menschwerdung. Es ist die enge Verbindung von kulturellen und biologischen Mechanismen, die das für die Hominisation bestimmende Faktorennetzwerk auszeichnet:30 Die durch den aufrechten Gang freiwerdende Hand, der wegen des opponierbaren Daumens mögliche Präzisionsgriff, die Innovationen des Werkzeuggebrauchs, die neue Lage des Kehlkopfes, die Entwicklung von Sprache und Gehirn, die Erschließung neuer Nahrungsquellen, die gemeinsame Jagd, die Nutzung des Feuers, die Entwicklung spezieller Fähigkeiten in Kommunikation und sozialer Organisation – alles dieses bildete ein umfängliches call system31 für die Entwicklung der menschlichen Kultur. Die kulturelle Basisbefähigung des Menschen, 32 seine Sprachfähigkeit etwa, 33 gilt deshalb auch aus evolutionärer Perspektive als das Charakteristikum für die anthropologische Differenz. Hier trifft sich die Biologie des Menschen mit einigen Bestimmungen der philosophischen Anthropologie, etwa der klassischen Überlegung Helmuth Plessners in seinem anthropologischen Grundgesetz der natürlichen Künstlichkeit. 34 So hat der Mensch, wie es schon Herder formulierte, bereits als Tier Sprache. 35 Auf der anderen Seite ist jedoch gerade mit diesem Spezifikum ein Moment hervorgehoben, das nicht nur den Menschen klassifikatorisch aus der biologischen Vielfalt heraushebt, sondern das darüber hinaus für das Verhältnis des Menschen zur biologischen Vielfalt entscheidend ist. Einen ersten Aspekt dieser qualitativen Neuerung hat Aldo Leopold in seiner land ethics hervorgehoben:36 Für ihn ist die ökologische und evolutionäre Relation durch eine komplexe Dynamik energetischer Beziehungen bestimmt (energy flowing through a circuit). Leopold bestimmt diese Dynamik nicht als geschlossenen Kreislauf – es gibt stets Verluste und Veränderungen. Dennoch handelt es sich um ein natürliches Geschehen, das sich bisher in Grenzen selbst erhalten hat (sustained circuit). Wegen der Komplexität der Relationen kann diese Qualität der Erhaltung jedoch nur dann garantiert sein, wenn Änderungen möglichst langsam erfolgen und ein bestimmtes Maß nicht überschreiten. Eine für Leopold deshalb auch ethisch bedeutsame Tatsache ist es, dass mit dem Auftauchen des Menschen und seiner technischen Möglichkei-

Vgl. etwa schon die Überlegungen von E. O. Wilson, Der Wert der Vielfalt, 393 ff.. Zur Notwendigkeit der Verbindung von Natur- und Sozialwissenschaften in der Frage um die Biodiversität vgl. A. Jentsch / H. Wittmer / K. Jax / I. Ring / K. Henle, »Biodiversity«. 30  C. Wulf, Anthropologie, 33, 39, 41 und öfter. 31  Ebd. 35. 32  A. Gierer, Die Physik, das Leben und die Seele, 210. 33  P. Liebermann, Uniquely Human. 34  H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 383 ff. 35  J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 3. 36  A. Leopold, A Sand County Almanac, 216. 29 

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ten Änderungspotenziale entstehen, die rasanter und umfänglicher sind, als alles rein biologische Geschehen. Zwar lassen sich für diese These der Besonderheit anthropogener Einflüsse auf den Bestand biologischer Vielfalt durchaus empirische Belege anführen. 37 Dennoch ist nicht gesagt, dass Biodiversitätkrisen nicht auch durch rein natürliche Ursachen ausgelöst werden können etwa durch kosmische (Meteoriten-Einschlag), geologische (Vulkanausbruch) oder biologische Prozesse (Krankheitserreger). 38 Gerade wegen der komplexen Relationen sind die jeweiligen Ursachen für Extinktionsperioden der Biodiversität häufig schwer zu identifizieren; komplexe Geschehen wie Änderungen von Nahrungskettenbeziehungen oder Änderungen von Selektionsbedingungen sind zu berücksichtigen. 39 Ethisch entscheidend ist deshalb allein die Tatsache, dass mit der genannten Auszeichnung des Lebewesens Mensch innerhalb der evolutionär entstandenen Biodiversität erstmalig überhaupt eine ethische Qualität entsteht. Die Sprache markiert somit den eigentlichen Umschlagpunkt von der naturwissenschaftlichen zur philosophischen Zuständigkeit. Zwar ist Sprache auch möglicher Gegenstand biologischer Forschung: Über genetische Ausstattung, morphologische Besonderheiten des Sprechapparates 40 oder Entwicklung von Hirnarealen ist naturwissenschaftlich zu forschen.41 Doch sobald man den intersubjektiven Bereich der Kommunikation berücksichtigt, nehmen zwangsläufig sprach-, sozial- und kulturwissenschaftliche Kompetenzen zu.42 Man endet schließlich bei genuin philosophischen Entscheidungen, wie etwa auch der zwischen einem evolutionären oder einem propositionalen Verständnis von Sprache.43 Entscheidend ist jedoch, dass damit auch ein wesentlicher Umschlagpunkt für die ethische Betrachtung der genannten ökologischen Relation benannt ist: der Perspektivenwechsel zur Perspektive der Geltung. Wie es Ernst Cassirer44 formulierte ist nur der Mensch als animal symbolicum 45 – als ein Wesen also, das eben nicht mehr rein durch tierische Reaktionen (reactions), sondern vielmehr durch menschliche Antworten (responses)46 bestimmt ist – auch ein verantwortungsvolles Wesen (responsible being).47 Damit begründet sich die ethische Qualität der Sonderung des Menschen innerhalb der übrigen biologischen Vielfalt. Es ist diese Verknüpfung aus Weltoffenheit48 und Umweltgebundenheit49, die gemeinsam mit der daraus resultierenden Verantwortung

B. Streit, Was ist Biodiversität?, vor allem 27 ff.; vgl. auch E. O. Wilson, a. a. O., 263 ff. oder D. M. Raup, »Krisen der Vielfalt in erdgeschichtlicher Vergangenheit«. 38  Vgl. die Beispiele von B. Streit, a. a. O., 69 ff. 39  Vgl. P. W. Signor, a. a. O., 752 f. 40  B. G. Campbell, Entwicklung zum Menschen. 41  G. Roth, Fühlen, Denken, Handeln. 42  J. Trabant, Artikulationen. 43  D. Perler / M. Wild, »Der Geist der Tiere – eine Einführung«. 44  E. Cassirer, An Essay on Man, 67 f. 45  Ebd. 26. 46  Ebd. 24. 47  Ebd. 6. 48  M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 40. 49  H. Plessner, Conditio humana, 77 ff., insb. 80. 37 

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das Thema »Biodiversität« überhaupt zu einem ethischen Thema macht. »Biodiversität« kann nur deshalb normative Qualitäten entfalten und beispielsweise die Gefährdung der Vielfalt der Lebewesen durch menschliches Handeln zum Ausdruck bringen, weil der Mensch als Teil der übrigen Biodiversität aufzufassen ist und zugleich von der übrigen Vielfalt der Lebewesen grundsätzlich unterschieden ist.

3.  Warum soll Biodiversität erhalten werden? Ein plurales Konzept der Begründung auf der Basis des Relationsgedankens. Mit dieser etwas umfänglichen Analyse des Begriffes »Biodiversität« auf Basis des Relationsgedankens und der damit verbundenen anthropologischen Konsequenzen ist ein theoretischer Rahmen erstellt, der die Frage nach der adäquaten Begründung von menschlichen Handlungen zum Schutz der Biodiversität 50 oder zur Vermeidung ihrer weiteren Schädigung strukturieren kann. Es ist dieser Rahmen, der auch in der Frage nach dem Bezug zwischen Landnutzung und Biodiversität entscheidend ist. Zunächst wurde deutlich, dass sich die Frage nach der Verantwortung überhaupt erst deshalb stellt, weil der Mensch als derjenige Teil der biologischen Vielfalt anzusehen ist, dessen besondere Qualität durch den Übergang zu Kultur und Sprache und damit zur Sphäre der Gründe bestimmt ist. Erst hier ist von der Möglichkeit moralisch handelnder Subjekte auszugehen und moralische Geltungsansprüche können erhoben und überprüft werden. Insofern es stets und notwendig um die Legitimation menschlichen Handelns geht, ist jede Ethik anthropozentrisch. Dabei ist zudem nicht nur »Biodiversität« selbst relational strukturiert, sondern es geht mit Blick auf die menschlichen Handlungen gegenüber der biologischen Vielfalt immer um ein Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Insofern ist die ethische Erörterung zur Biodiversität zwangsläufig anthroporelational. Ob diese Feststellung allerdings zur Bestimmung der moralischen Gemeinschaft und für mögliche Inklusionsfragen bereits ausreicht, macht einen der Hauptstreitpunkte der gesamten Umweltethik aus. So ist auch die Frage nach der Begründung von Handlungen zum Schutz von Biodiversität durch diese Positionsstreitigkeiten zwischen anthropozentrischen, pathozentrischen, biozentrischen, physiozentrischen und holistischen Ansätzen bestimmt. Um eine Zusammenschau und eine Klassifikation der vorgebrachten Argumente in Sachen Biodiversität zu erreichen, unternimmt man deshalb häufig den Versuch, sie den unterschiedlichen theoretischen Positionen und Begründungsstrategien zuzuweisen. Einen Ansatz, dieses Vorhaben nicht eklektisch oder gar rein disjunktiv zu belassen, gewinnt man allerdings, wenn man nochmals am gezeigten Verständnis von Biodiversität ansetzt: Fast trivialer Ausgangspunkt der Überlegung ist dann, dass alle Bestimmungen von Biodiversität eben auf die Vielfalt biologischer Bildungen und deren je unterschied-

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M. L. Oldfield, »Biodiversity«.

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liche Charakteristik verweisen. Umweltethik hat deshalb stets der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es eine Fülle je unterschiedlicher Lebewesen mit ganz unterschiedlichen strukturellen und funktionellen Eigenschaften in ganz unterschiedlichen Umweltkontexten zu berücksichtigen gilt.51 Ähnlich wie in der theoretischen Diskussion um den Status mentaler Fähigkeiten bei Tieren,52 sollte deshalb auch in der praktischen Diskussion um den moralischen Status von Lebewesen und deren Lebensräumen diese Möglichkeit zur Differenzierung gewährleistet sein. Hier gilt es gegenüber dem holistischen Standpunkt einer universalen Berücksichtigung aller Entitäten53 hervorzuheben, dass mit »Biodiversität« eben nicht primär alle unterschiedlichen Lebensformen in allen unterschiedlichen Umweltkontexten gemeint sind, sondern vielmehr alle unterschiedlichen Formen und in allen unterschiedlichen Kontexten. Der hier vertretene auf Diversifizierung ausgerichtete relationale Ansatz ist auch deshalb nicht holistisch, weil mit ihm Abstufungen der Relevanz einzelner Relata und sogar die Ausklammerung bestimmter Relationen oder bestimmter Relata mit Blick auf bestimmte Kontexte ethisch legitimierbar ist.54 Eine Methode zur geforderten Pluralisierung und Differenzierung eröffnet sich zweitens bei nochmaligem Blick auf die obige Bestimmung von »Biodiversität«: Es geht hier vor allem – so sahen wir – um die Vielfalt der je unterschiedlichen Relationen zwischen diesen Relata. Insofern gehen die von Konrad Ott angeführten umfassenden axiologischen Begründungen55 zu Recht von der Annahme aus, dass eine Vielzahl von Argumenten und deren Kombination eine bessere Möglichkeit zur Ausweisung der Schutzwürdigkeit der unterschiedlichen Segmente und deren funktionaler Beziehungen innerhalb eines komplexen Netzwerkes von Relationen erlaubt, als es die Fokussierung auf nur ein Schlüsselargument gewährleisten würde. Bei diesem pluralen und synthetischen Vorgehen können solche Argumente eine Rolle spielen, die eher darauf abzielen, für den Menschen wichtige Aspekte der Relation hervorzuheben, es können aber auch solche vorgebracht werden, die entweder bestimmte Qualitäten, der als schützenswürdig erachteten Lebewesen und Naturbestandteile berücksichtigen oder aber die gar auf die Berücksichtung anderer Relata an sich hinaus laufen. Eine solche Differenzierung ist durchaus mit grundsätzlich anthroporelationalen Vorgaben kompatibel.56 Primär auf den Menschen, und in diesem Sinne zunächst exklusiv – anthroporelational, sind dann offensichtlich vor allem Fragen zur Beziehung zwischen Landnutzung und Biodiversität. Hier scheinen diejenigen Argumente für den Erhalt und den Schutz der Biodiversität im Vordergrund zu stehen, die auf direct use values abzielen.57 Biodi-

F. M. Wuketits, Bioethik, 107. C. Allen / M. Bekoff, Species of Mind. 53  M. Gorke, Artensterben; M. Gorke, »Was spricht für eine holistische Umweltethik«; M. Gorke, »Die ethische Dimension des Artensterbens«. 54  Vgl.  den diesbezüglich vergleichbaren Ansatz von B. Muracas Prozessumweltethik (B. Muraca, Denken im Grenzgebiet, 203 f.). 55  K. Ott, a. a. O., 111 ff. 56  D. v. d. Pfordten, Ökologische Ethik sowie D. v. d. Pfordten, »Eine ökologische Ethik der Berücksichtigung anderer Lebewesen«, 61. 57  Vgl. K. Ott, a. a. O., 111. 51 

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versität wird lediglich unter dem Ressourcenaspekt betrachtet – als Nahrung, Baustoff, Arzneimittel oder nachwachsender Rohstoff. Der ihr zugeschriebene Wert hat instrumentellen Charakter. Dieser Wert, der unter rein ressourcenbezogenen Gesichtspunkten konstatiert wird, kann auch unter den Abstraktionsbedingungen einer ökonomischen Betrachtung58 einigermaßen treffend wiedergegeben werden.59 Auch wenn mit dieser Perspektive scheinbar eine eindeutige Schwerpunktverlagerung innerhalb der Relation zwischen Mensch und Natur verbunden ist, weil die gesamte Argumentation ausschließlich auf den Nutzen der Biodiversität zu menschlichen Zwecken zielt, wird allerdings bei genauerem Hinsehen auf die Dimension dieser Nutzenbeziehungen60 eine Dialektik erkennbar. Vor allem Hans Jonas hat diese Dialektik der Freiheit immer wieder betont.61 Demnach ergibt sich gerade wegen der typischen menschlichen Freiheit zur hochspeziellen Nutzung von Natur auch eine deutliche Abhängigkeit von dieser Nutzung und damit in unserem Fall von der biologischen Vielfalt. Der Grad dieser Abhängigkeit lässt sich etwa an der Tatsache veranschaulichen, dass durch die Konzentration der Welternährung auf nur wenige Kulturpflanzenarten ernorme Bedrohungspotenziale für die menschliche Existenz dann entstehen, wenn die vorrangig genutzten Kultursorten durch Schädlinge gefährdet sind (Fallbeispiel: Gefährdung der gesamten Reis-Ernte in Asien durch den grassy-stunt Virus in den 1970ern). Für diesen Fall bietet nur ein Ausweichen auf die vorhandene Vielfalt von Wildtypen Rettung (Fallbeispiel: Das Screening von 6.273 Reissorten ergab im obigen Fall nur eine einzige resistente Sorte der Art Oryza nivara). Umgekehrt belegt jedoch der Aspekt des Nutzens (unter dem Gesichtspunkt der Relation) die stete und notwendige Einflussnahme des Menschen als Glied in einem komplexen relationalen ökologischen und evolutionären Geschehen. Gerade im Fall der Landnutzung wird deutlich, dass ökologische Entwicklung immer auch Kulturgeschichte ist. 62 Anthropogen gestaltete Landschaften – von der Kulturlandschaft der alpinen Weiden über die norddeutschen Marschlandschaften bis hin zu den Hainbuchenwäldern, um nur Lebensräume unserer Breiten zu nennen  – sind ein essentielles Moment der jeweils zugrunde gelegten Biodiversität und bestimmen eine Fülle heutiger Lebensgemeinschaften mit. Angesichts dieser Tatsache wäre ein grundsätzliches Gebot zum Nicht-Eingreifen (nach einer strikten hands-off Strategie) gerade gegen den Erhalt A. Randall, »Was sagen die Wirtschaftswissenschaftler über den Wert der biologischen Vielfalt?«. 59  S. Baumgärtner / C. Becker, »Ökonomische Aspekte der Biodiversität«. Man berücksichtige dennoch die Unterschiede zwischen einer ökologischen und einer ökonomischen Betrachtung. Wie am Schluss dieses Beitrags noch einmal ausgeführt wird, ist die ökologische Erfassung von Biodiversität eher auf Häufigkeitsverteilungen und Artenvielfalt fokussiert, während die ökonomische Erfassung eher auf die Analyse und Klassifikation von Eigenschaften in Listen ausgerichtet ist. Beide Analyseformen folgen somit einem je verschiedenen Paradigma oder Denkstil. 60  Vgl. die Daten zu genetischen Ressourcen in der Landwirtschaft und der Pharmazie bei J. Mutke / W. Barthlott, a. a. O., 50 ff., zu Nahrungsmitteln, Heilmitteln und Kulturpflanzen vgl. K. Ott, a. a. O., 111. 61  H. Jonas, Organismus und Freiheit, 15. 62  B. Campbell, Ökologie des Menschen, 178 ff. 58 

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biologischer Vielfalt gerichtet. Die Entscheidung zwischen traditioneller Nutzung, nutzungimitierender Pflege oder Verzicht auf jegliche Eingriffe (Zulassen der natürlichen Sukzession) erfordert deshalb die Berücksichtigung ganz unterschiedlicher Gesichtspunkte in einem komplexen Abwägungsprozess.63 Umgekehrt ist damit jedoch Kulturgeschichte immer auch ökologische Geschichte. Dieses hat wieder Aldo Leopold im Rahmen seiner land ethics stark gemacht und als ein zentrales Argument für einen ausgedehnten Begriff von Gemeinschaft (community) ins Spiel gebracht. 64 Auf die aktuelle Debatte bezogen bedeutet dieses, dass gerade unter dem Gesichtspunkt der Landnutzung nicht nur der gestalterische Einfluss des Menschen prominent wird, sondern sich eben auch die Abhängigkeit der gesamten menschlichen Kultur von ökologischen Rahmenbedingungen zeigt. Auch aus diesem Grund stellt sich die Frage, welche Rolle wir im ökologischen Gesamtgeschehen einnehmen wollen: Mit Leopold gesprochen, wollen wir Bürger oder Eroberer der ökologischen Gemeinschaft sein? Es wird deutlich, wie sehr eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Relation in der Lage ist, die Einseitigkeiten einer Nutzenbetrachtung zu relativieren. Kulturellhistorische und biologische Ereignisse stellen sich nun in ihrer Wechselbeziehung dar. Damit wird nicht nur klar, dass eine willkürliche und schrankenlose Nutzungspraxis verfehlt wäre. Es zeigt sich auch, dass Eingriffe nicht allein unter den direct use values zu bewerten sind. Sie stehen vielmehr stets unter dem Einfluss diverser Rückkoppelungsschleifen, in denen die »gestalterische« Rolle der übrigen »Mitglieder« der ökologischen Gemeinschaft deutlich wird. Weniger metaphorisch gesprochen, kommt die Rolle in den Blick, die die Biodiversität für die Stabilität von Ökosystemen hat. Für diesen ecological function value 65 lassen sich allerdings nach dem Obigen nur schwer quantitative Daten angeben, obwohl seine Existenz mehr oder weniger unbestritten ist – wie beispielsweise das Millennium Ecosystem Assessment zeigt. 66 Die Wirkungen dürften allerdings auch in diesem Fall wechselseitig sein: Einerseits sichert eine hohe biologische Vielfalt vermutlich die Stabilität von Ökosystemen, 67 andererseits führen (anthropogene) Eingriffe in diese Ökosysteme zu einer gravierenden Veränderung der Biodiversität. Schon Edward O. Wilson bezieht sich für den Fall der Landnutzung auf eine Berechnung, nach der die Anzahl der Arten um einen Betrag abnimmt, der etwa

Vgl. das Beispiel der Wacholderheide bei U. Eser / T. Potthast, Naturschutzethik, 59 f.. A. Leopold, a. a. O., 205: »Than man is, in fact, only a member of a biotic team is shown by an ecological interpretation of history. Many historical events, hitherto explained solely in terms of human enterprise, were actually biotic interactions between people and land.« 65  Vgl. K. Ott, a. a. O., 110. 66  http: /  / www.millenniumassessment.org / documents / document.356.aspx.pdf. Kritisch zur stabilisierenden Funktion äußern sich etwa L. Trepl, »Die Diversitäts-Stabilitäts-Diskussion in der Ökologie«, und J. H. Lawton / V. K. Brown, »Redundancy in Ecosystems«. Den Einwänden gegen die Diversitäts-Stabilitäts-These stehen allerdings eine Reihe von neuen Studien gegenüber, die eher auf eine Bestätigung der ökosystemaren Bedeutung von Biodiversität hinauslaufen, wie die Studien zur Riffbildung von W. Kiessling, »Long-term relationships«, oder die Arbeiten von C. L. Lehmann / D. Tilman, »Biodiversity, stability, and productivity«, respektive K. S. McCann, »The diversity-stability debate« 67  D. Lanzerath, a. a. O., 21; J. Mutke / W. Barthlott, a. a. O., 47. 63 

64 

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der sechsten bis dritten Wurzel der verloren gegangenen Arealfläche entspricht. 68 Einzelne Beispiele wie der Wandel der Ökosystembedingungen in Amazonien, die Frage nach der ökosystemaren Funktionen von Mangrovenwäldern für den natürlichen Küstenschutz oder die Betrachtung der Ökosystemleistungen von marinen Systemen für diejenigen 60 % der Weltbevölkerung, die in Küstenregionen leben, belegen die Dimension dieses Aspekts der Biodiversitätsfrage. Auch diese Betrachtung steht noch unter rein anthroporelationalen Gesichtspunkten. »Nutzen« ist allerdings nun bereits indirekter Natur69 – es geht weniger um den bestimmten Nutzen eines bestimmten Naturprodukts für einen bestimmten menschlichen Zweck, sondern vielmehr um den indirekten Gesamtnutzen von Ökosystemen, die möglicherweise globale Ausdehnung haben. Insofern wird nicht nur der Wert bestimmter Entitäten bei der Argumentation zum Erhalt von Biodiversität eine Rolle spielen müssen, sondern ebenso die Einbeziehung der notwendigen Rahmenbedingungen, die für die Existenz und den Erhalt dieser Entitäten gegeben sein müssen – man gelangt zu den systemic values von Holmes Rolston. Diese indirekten Rahmenbedingungen globaler Ökosysteme sind nichtsdestotrotz für menschliches Leben wegen dessen Umweltgebundenheit häufig unmittelbar und unabdingbar vorauszusetzen (die Bedeutung von Klima, Trinkwasser, fruchtbarem Boden etc. zeigt dieses). Hier ist die Relation zwischen Mensch und Natur allerdings bereits so komplex und vermittelt, dass ökonomische Betrachtungen allein für die Wertfrage nur bedingt aussagekräftig sind – die in der Debatte genannte Summe von im Durchschnitt 33 Milliarden US $ für die Dienstleistungen der globalen Ökosysteme70 (Klimaregulierung, Wasserversorgung, Erosionsschutz etc.) gibt allerdings auch in diesem Fall einen ersten Eindruck von der Bedeutung systemischer Aspekte. Es wurde deutlich, dass auch unter dem Gesichtspunkt der Landnutzung die Beziehung zwischen Mensch und Biodiversität nie allein auf den praktisch-technischen Anwendungsnutzen einzuschränken ist. Schon unter dem Ressourcengesichtspunkt – etwa im Hinblick auf die Nutzung von Biodiversität zu Heilungszwecken oder zur Ernährung – ist der komplementäre Gesichtspunkt des Wissens nie auszuklammern. In diesem Sinne zielt beispielsweise ein gewichtiges Argument für den Erhalt der Biodiversität in den Urwäldern des Amazonasgebiets auf die mögliche Nutzung von Pflanzen und Tieren als Produzenten von Pharmaka.71 Sowohl für die traditionelle Anwendung von Naturprodukten (57 % der 150 wichtigsten verschreibungspflichtigen Medikamente in den USA) als auch für die modernen synthetischen Herstellungsverfahren der Pharmaindustrie bedeutet dieser Verweis angesichts der vielen unbekannten Arten, die bei neueren systematischen Bestandsaufnahmen gefunden wurden, ein enormes Potenzial an bisher unbekannten und ungenutzten Wirkstoffen.72 Deshalb ist sowohl unter dem 68  69  70  71  72 

E. O. Wilson, a. a. O., 410. Vgl. die »indirect-use values« bei K. J. Gaston / J. I. Spicer, a. a. O., 103 ff. J. Mutke / W. Barthlott, a. a. O., 47; S. Baumgärtner / C. Becker, a. a. O., 80 ff. J. Mutke / W. Barthlott, a. a. O., 51 f.; E. O. Wilson, a. a. O., 390. N. R. Farnsworth, »Die Suche nach neuen Arzneistoffen in der Pflanzenwelt«.

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Anwendungsparadigma der neuzeitlichen Forschung als auch unter dem eingangs genannten klassischen Paradigma eines Wissens um seiner selbst willen (Aristoteles) der scientific value der Biodiversität bedeutsam. Gerade das Fallbeispiel der Tropen zeigt schließlich, dass solchermaßen »Wissenswertes« eben in vielen Hinsichten wertvoll sein kann. Bereits Alexander von Humboldt hat diese Überlegung ins Spiel gebracht:73 Nach ihm übt gerade die fremde und überwältigende Fülle der Lebensformen tropischer Landschaften auf uns einen Reiz aus, der nicht nur naturwissenschaftlicher, sondern vielmehr immer auch ästhetischer und religiöser Natur ist. Dieser Rekurs auf ästhetische (esthetic values) und existenzielle Werte (existence values) wird im Zusammenhang der aktuellen Biodiversitäts-Debatten häufig geltend gemacht und ist nicht auf tropische Regionen beschränkt. Gerade im Diskurs um die Landnutzung in unseren Zonen – etwa bei der Erstellung von Flächennutzungsplänen in der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Nutzungsformen der marktwirtschaftlichen Verwertung und der Erholung – ist er von Bedeutung. Trotz der Gefahren, die mit dem Einzug von Naturschwärmerei für die Aufgabe des Bestandsschutzes von gefährdeten Lebensräumen einhergehen können,74 ist doch einerseits die Bedeutung der Ästhetik in der Erziehung zum Naturschutz und der Ausbildung des allgemeinen Wertebewusstseins unbezweifelt und andererseits ist auch der direkte Bezug dieser Debatte um die Schönheit der Natur zur evolutionären Vielfalt wissenschaftlich aufgearbeitet.75 Auch die ästhetischen und existenziellen Werte bringen eine Relation zwischen Mensch und Umwelt zum Ausdruck. Auch sie sind Teil einer anthroporelationalen Betrachtung, transzendieren jedoch bei näherem Hinsehen die Fokussierung auf den Menschen erneut und diesmal grundsätzlich. Die ästhetische und kognitive Inspiration durch die natürliche Vielfalt kann zwar wieder in die Bahnen des Nutzendenkens gelenkt werden  – etwa im Kontext von bionischen Reflexionen76 –, sie ist aber zunächst und zumeist selbstzweckhaft. Gerade in dieser Hinsicht steht die ästhetische Dimension der Biodiversität77 – folgt man etwa den an Kant ausgerichteten Gedanken Lothar Schäfers78 – unmittelbar mit moralischen Überlegungen in Verbindung. Wie Schäfer formuliert: »Das Naturschöne kann als Symbol der Sittlichkeit, d. h. moralischer Selbstbestimmung, deshalb dienen, weil in der ästhetischen Einstellung gerade Abstand genommen wird von der Beziehung des Objekts auf möglichen Nutzen und es in seiner spezifischen Form anerkannt wird […].«79 So ist das ästhetische Argument zwar immer noch anthroporelational, insofern es auf menschliche Erfahrung und Empfindung des Naturschönen rekurriert, hier wird jedoch nicht nur vom Mittelgebrauch der Natur abstrahiert, sondern letztlich ist jede Fokussierung auf menschliche Zwecke aufgehoben.80 Damit kündigt sich bereits die Bedeutung der immanenten 73  74  75  76  77  78  79  80 

A. v. Humboldt, Kosmos, Bd. 1, 9. Vgl. W. Scherzinger, Naturschutz im Wald, 31 ff. P. Sitte, »Bioästhetik«, 410 ff. J. Mutke / W. Barthlott, a. a. O., 53. Vgl. D. Lanzerath, »Der Wert der Biodiversität«. L. Schäfer, Das Bacon-Projekt, 210 ff. Ebd. 212. Ebd. 222.

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Werte der Biodiversität an. Die Betrachtung verlagert sich weg von der anthropozentrischen Schwerpunktsetzung und hin zu einer eigenständigen Berücksichtigung der anderen Glieder der Relation. So ist gerade in ästhetischer Hinsicht am ehesten von »Anerkennung« der Natur zu sprechen.81 Neben den in der relationalen Betrachtung wichtigen Beziehungen wird das komplementäre Moment der Eigenständigkeit der Relata und damit deren Unverfügbarkeit erkennbar. Darüber hinaus ist mit der ästhetischen Erfahrung von in sich vielfältiger Natur nicht nur ein Moment der Bildung und Kultivierung des Menschen angesprochen, sie verstärkt auch die Einsicht in die Bedingungen menschlicher Natürlichkeit, d. h. Umweltgebundenheit.82 Durch die Erfahrung der Zugehörigkeit des Menschen zur der ihn umgebenden Umwelt, so schon Alexander v. Humboldt,83 ändert sich nicht nur unser Naturverständnis, sondern auch unser Selbstbild und damit unsere Voreinstellung gegenüber genuin moralischen Überlegungen. In diesem Sinne wird etwa von Bryan G. Norton84 ein transformativer Wert (transformative value) ins Spiel gebracht,85 Sahotra Sakar hat den indirekten intellektuellen und kulturellen Wert der Biodiversität betont86 und Edward O. Wilson87 leitet eine Biophilie aus der Erfahrung von Biodiversität ab. Letztlich wird gerade durch die Einsicht, dass es eben nicht allein die Willkür menschlicher Vorgaben ist, die selbst im Kontext der Landnutzung unser Handeln in der Natur bestimmt, sondern dass vor allem in Sachen Biodiversität die komplexen Relationen zwischen den verschiedenen »Mitgliedern« der biosphärischen Lebensgemeinschaften in den Vordergrund treten, das anthropozentrische Moment der eigentlich stets anthroporelationalen Betrachtung aufgehoben. Dieses zeigt sich auch an einer extremen Position wie dem ökozentrischen Ansatz von Arne Naess.88 Naess legt mit seiner »Ökosophie T« ein komplexes Ableitungssystem von Normen im Stil einer individuellen Weltanschauung vor. Deren fundamentale Norm lautet zwar »Selbst-Realisierung!«, liegt aber deutlich jenseits klassischer subjektivistisch-anthropozentrischer Vorstellungen. Konkret bedeutet »Selbst-Realisierung!« für Naess »Selbst-Realisierung für jedes Wesen!« und zielt damit auf »maximale Vielfalt«.89 Vielfalt meint in diesem Ansatz sowohl das »Maximieren der Manifestationen des Lebens« wie auch die positive Wertschätzung von Stilen und Verhaltensweisen und somit kulturelle Vielfalt. Gerade dieses letzte Beispiel zeigt, wie sich bei einem relationalen Ansatz eine Argumentation zugunsten der biologischen Vielfalt entwickeln lässt, die zwar jederzeit insofern anthroporelational bleibt als sie von Menschen für Menschen entworfen ist,

81  82  83 

M. Seel, »Ästhetische und moralische Anerkennung der Natur«, 310. G. Böhme, Ethik leiblicher Existenz. A. v. Humboldt, a. a. O., Bd. 1, 9: »Wir fühlen uns so mit allem Organischen verwandt

[…]«. 84  85  86  87  88  89 

B. Norton, Why Preserve Natural Variety? Vgl. K. Ott, a. a. O., 116 f. S. Sakar, Biodiversity and Environmental Philosophy, 61–85. E. O. Wilson, a. a. O., 428 ff. A. Naess, »Die tiefenökologische Bewegung«, 207 f. Ebd. 208.

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die aber letztlich gerade wegen der relationalen Betrachtung darüber hinausgeht:90 Sowohl die Position der Nutzenbetrachtung (instrumentelle Werte) als auch die Position der Konstatierung von Selbstwerten (intrinsische Werte) sind in der Betrachtung der Relationen (relationale Werte91) aufgehoben.

4.  Möglicher Deutungsrahmen Berücksichtigt man die gängige Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher umweltethischer Standpunkte,92 dann stellt sich der so am Beispiel der Biodiversität eröffnete Rahmen eines vermittelnden relationalen Ansatzes wie folgt dar: Die Ressourcenperspektive auf Biodiversität ist Ausdruck eines liberalen Ansatzes, der mit dem philosophischen Leitbild Hume zu kennzeichnen wäre. In dieser Perspektive wird Vielfalt als Ausdruck von Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Nutzungsformen entsprechend unterschiedlicher subjektiver Präferenzen verstanden. Hier gelten direct use values als die zentralen Gesichtspunkte, unter denen Biodiversität zu bewerten ist. Diese Betrachtung ist nach dem Obigen vor allem durch eine ökonomische Bestandsaufnahme von Biodiversität repräsentiert. Folgt man der Untersuchung von Stefan Baumgärtner, dann erfasst eine solche ökonomische Betrachtung Biodiversität qua Listen von Eigenschaften. Die Eigenwertperspektive hingegen ist Ausdruck eines konservativen Ansatzes, der mit dem philosophischen Leitbild Leibniz zu kennzeichnen wäre. In dieser Perspektive gilt Vielfalt als Ausdruck der Vollkommenheit, Integrität und Stabilität eines Systems. Diesen Aspekten wird entweder ein Selbstwert zugesprochen oder aber sie gelten als indirekte Gebrauchswerte (systemic function value) von Biodiversität. Diese Betrachtung ist vor allem durch eine ökologische Bestandsaufnahme repräsentiert. Nach Baumgärtner erfasst diese ökologische Betrachtung Biodiversität qua Häufigkeitsverteilungen oder Artenvielfalt. Die relationale Perspektive schließlich kann als Vermittlung zwischen diesen beiden Ansätzen aufgefasst werden, die etwa durch das philosophische Leitbild Whitehead zu kennzeichnen wäre (wobei dieser seine Position ebenfalls als Vermittlung der Positionen von Hume und Leibniz entwickelt). Berücksichtigt man die obigen Überlegungen von Arne Naess zur »Selbstrealisierung«, dann ist bei dieser relationalen Perspektive unter »Selbstrealisierung« sowohl die Selbstrealisierung des ökologischen Gesamts als auch die Selbstrealisierung der einzelnen menschlichen Akteure in Form der Umsetzung ihrer jeweiligen subjektiven Präferenzen gemeint. Es wird damit berücksichtigt, dass erst die Erhaltung der ökologischen Systemfunktion die Nutzenfunktion der einzelnen Naturglieder oder des ökologischen Gesamts garantiert. Erst bei Erhaltung des ökologischen Gesamts ist damit

90 

Vgl. auch die Forderung nach einer »inklusiven Position« von U. Eser / T. Potthast, a. a. O.,

63. Vgl. dazu die beeindruckende Untersuchung von B. Muraca, a. a. O., 203 ff. Vgl. dazu die Überlegungen von T. Kirchhoff / L. Trepl, »Vom Wert der Biodiversität« sowie von S. Baumgärtner, »Warum Messung und Bewertung biologischer Vielfalt nicht unabhängig voneinander möglich sind« und S. Baumgärtner / J. Schiller, »Vielfalt und Nachhaltigkeit«. 91 

92 

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auch die Wahlfreiheit der einzelnen menschlichen Akteure gewährleistet. Diese Position berücksichtigt zudem die Tatsache, dass sich ökonomische Einheiten von lebenden Systemen eben darin unterscheiden, dass die jeweiligen (zu nutzenden) Eigenschaften der einzelnen Systeme (etwa Lebewesen) abhängig sind von der Wechselwirkung mit anderen Relata in ökologischen Systemen (etwa im Kontext der Wechselwirkung zwischen Individuen in Populationen). Dieses ist bei ökonomischen Produkten nicht der Fall, so dass bei Maximierung der Nutzung einer Eigenschaft in ökonomischen Modellen keinerlei Auswirkungen auf die anderen Eigenschaften der Wahlliste zu berücksichtigen wären. Unter ökologischen Vorzeichen ist jedoch die Option einer Liste gewünschter Eigenschaften gemäß der Vorgaben subjektiver Präferenzen nur unter dem Vorbehalt und der Berücksichtigung der genannten Wechselbeziehung zwischen eben diesen präferierten Eigenschaften und deren ökosystemaren Rahmenbedingungen einlösbar. Die relationale Position berücksichtigt so auch das vor allem im Ansatz starker Nachhaltigkeit hervorgehobene Faktum, dass unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten eine ökologische Erweiterung ökonomischer Modelle und Theorien erforderlich ist. Schließlich ist die Verbindung der relationalen Perspektive mit dem Leitbild Whitehead auch deshalb bedeutsam, weil gerade in Whiteheads Philosophie mit der Verbindung einzelner akteursartiger Entitäten (actual entities) ein neues Moment der Gemeinschaft (togetherness) entsteht. Die subjektiven Präferenzen werden zu Gliedern in einem wechselwirkenden System. Nach unseren Überlegungen gehören im Fall der Diskussionen um den Erhalt von Biodiversität zu den anderen Relata dieses Systems eben auch die anderen Glieder der ökologischen Gemeinschaft. Literatur Allen, Collin / Bekoff, Marc: Species of Mind, The Philosophy and Biology of Cognition, Cambridge 1997. Aristoteles, Über die Teile der Lebewesen, W. Kullmann (Hg.), Berlin 2007. Autrum, Hansjochem: Biologie, Entdeckung einer Ordnung, München 1970. Baumgärtner, Stefan: »Warum Messung und Bewertung biologischer Vielfalt nicht unabhängig voneinander möglich sind«, in: Joachim Weimann / Andreas Hoffmann / Sönke Hoffmann (Hgg.): Messung und Bewertung von Biodiversität, Mission impossible?, Marburg 2003, 43–66. Baumgärtner, Stefan / Becker, Christian: »Ökonomische Aspekte der Biodiversität«, in: Dirk Lanzerath et al. (Hgg.): Biodiversität, Freiburg 2008, 75–115. Baumgärtner, Stefan / Schiller, Johannes: »Vielfalt und Nachhaltigkeit. Der Einfluss von Beständen und des Zeithorizonts auf zukünftige ökonomische Wahlmöglichkeiten«, in: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung, Sonderheft 13, 2001, 136–147. Bayertz, Kurt: »Einführung: Evolution und Ethik, Größe und Grenzen eines philosophischen Forschungsprogramms«, in: Kurt Bayertz (Hg.): Evolution und Ethik, Stuttgart 1993, 7–36. Bertalanffy, Ludwig von: Das Gefüge des Lebens, Leipzig 1937.

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Landwirtschaft und Lebenswelt – Philosophische Perspektiven Thomas Potthast

1.  Einleitung Landwirtschaft gehört sicherlich zu den einschlägigen Bereichen der Lebenswelt aller Menschen: Jede und jeder verbindet damit Erlebnisse oder zumindest Bilder, die eine prägende Rolle für das eigene Leben spielen. Ferner ist inzwischen allgemein anerkannt, dass mit den aktuellen Praktiken der Landwirtschaft zentrale gesellschaftspolitische Fragen der Ökonomie, der sozialen und der Naturverhältnisse verbunden sind. Insofern erscheint auch die Frage nach einer nachhaltigen bzw. umweltgerechten Landwirtschaft unmittelbar plausibel, so dass die Umweltethik als Bereich der praktischen Philosophie angesprochen ist. Doch auch jenseits der Ethik sollte die Landwirtschaft Thema für eine sich mit der Lebenswelt befassenden Philosophie sein, weil jene stets für sehr viele Bereiche menschlicher Weltverhältnisse relevant war und immer noch ist. Mit diesem Beitrag soll in konzeptioneller und programmatischer Absicht zunächst (2) das mit den Begriffen Landwirtschaft-Lebenswelt-Philosophie aufgespannte Feld skizziert werden; dabei wird ein allgemeines Desiderat aufgewiesen, denn die Philosophie hat sich zumindest seit dem 20. Jahrhundert zu wenig mit der Landwirtschaft befasst. In den folgenden Abschnitten werden einige konkrete Aspekte im Überblick erörtert: (3) Für die Naturästhetik ist zu konstatieren, dass sie sich zwar oft mit »Landschaft«, sehr viel weniger aber mit der diese materiell gestaltenden Landwirtschaft befasst hat. (4) In der Wissenschaftstheorie bilden die Agrarwissenschaften ein klassisches, aber vergleichsweise kaum beachtetes Modell einer anwendungsorientierten Inter- und Transdisziplin. Schließlich ist (5) in der Umweltethik der aktuelle Stand unterschiedlicher Ansätze einer »Agro-Ethik« zu diskutieren. Speziell für die land ethic in der Folge Aldo Leopolds wird deren Signifikanz für Fragen der umweltgerechten Landwirtschaft aufgewiesen  – gegen zuweilen verbreitete Auffassungen, dass die land ethic nur für eine ökozentrisch eng gefasste Naturschutzethik stehe. Und schließlich wird (6) erläutert, dass die politische Ethik mit den »Großthemen« Land, Wirtschaft und Gerechtigkeit wichtige Bausteine für eine philosophische Perspektive umweltgerechter Landwirtschaft zu liefern hat. Letztlich kann die Frage nach einer umweltgerechten Landwirtschaft nur Teil einer umfassenden Theorie nachhaltiger Entwicklung und gerechter Gesellschaften sein.

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2.  Lebenswelt und Landwirtschaft – Warum eine Philosophie der Landwirtschaft? »Unsere« lebensweltliche Erfahrung von Landwirtschaft »heute« – damit sind das westliche Europa und Nordamerika im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert gemeint – könnte schlagwortartig folgendermaßen skizziert werden:1 Aufgrund eines Strukturwandels der Landwirtschaft und zunehmender Urbanisierung und vor allem der Prozesse der Suburbanisierung erleben die meisten Menschen Landwirtschaft zwar täglich, aber nur indirekt; die Wenigsten sind unmittelbar eingebunden in die Arbeitswelten der landwirtschaftlichen Produktion.2 Im Kontext der täglichen Ernährung wird der Bezug zur Landwirtschaft ebenfalls indirekt und oft wenig bewusst vollzogen. Dies erfährt charakteristische Ausnahmen bei der öffentlichen Wahrnehmung von akuten Missständen (»Lebensmittelskandale«), aber auch in der seit Jahrzehnten andauernden gesellschaftspolitischen Kontroverse um die Freisetzung transgener Organismen zur Herstellung von Nahrungsmitteln oder anderen Agrarprodukten. Zugleich wird eine land- und forstwirtschaftlich geprägte Landschafts-Natur vielfach im wörtlichen Sinne täglich »erfahren« – als Kulisse und Rahmen von Mobilität im beruflichen, aber auch im Freizeitbereich. Vertraute medienvermittelte Symbole der Landwirtschaft sind stets aufs Neue die Traktoren, Mähdrescher, Felder sowie von Vieh bestandene Weiden. Die Welten der Kinderbücher sind voller Bilder solcher nicht unbedingt realitätsnaher Idyllen der »Bauernhöfe«, in denen Vater, Mutter, Kinder sowie Hund, Katze, Kuh und Schaf gemeinsam leben. 3 Hier entstehen wichtige Vorstellungen von (nicht nur Kindheits -) Mustern der land(wirt)schaftlichen Heimat und der Mensch-Tier-Interaktion. Mindestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts und dann wieder verstärkt seit den 1970er Jahren gibt es zudem verschiedene anti-oder postmoderne Gegenentwürfe einer Landwirtschaft im Einklang von Mensch und Natur, die durchaus auch als Sozialexperimente einer besseren Welt gemeint sind. Dies reicht von biologisch-dynamischer Wirtschafts- und Lebensweise nach Rudolf Steiner über politische Landkommunen bis hin zu touristischen Infrastrukturmaßnahmen eines »Urlaubs auf dem Bauernhof«, die dem Bilde bestimmter Kinderbücher geradezu nachstreben. Solche lebensweltlich bestehenden Gegenmodelle haben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Denn zugleich wird gerade auch Landwirtschaft als negativer Teil der industriellen Moderne wahrgenommen, in der pestizidbasierte Monokulturen die bio-

Dass die lebensweltliche Bedeutung der Landwirtschaft in den Ländern des globalen Südens, teilweise auch in Osteuropa und Asien – vielleicht noch – eine durchaus andere ist, sei ausdrücklich betont. Gleichwohl betreffen die Ausführungen zu umweltgerechter Landwirtschaft gerade auch diese Lebenswelten, siehe unten. 2  Der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten betrug in europäischen Industriestaaten wie Deutschland 1999 kaum mehr 5 %, in Südeuropa bis zu 10 %, beides mit weiterhin stark sinkender Tendenz; P. A. Barthelemy, Entwicklung. 3  Kinderbücher über Bahnhöfe, Fabriken, Straßenbaustellen oder andere urban-technische Lebenswelten erscheinen dagegen wesentlich weniger lebensweltfern mit Blick auf die aktuelle Situation. 1 

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logische Vielfalt und das Landschaftsbild zerstören, Mastbetriebe und Fleischfabriken fragwürdige Methoden der Behandlung von Tieren zum Zwecke der »Veredelung« zum Nahrungsmittel etabliert haben und es eine globale Gleichzeitigkeit von erheblicher agrarischer Überproduktion und andernorts einer sehr großen Zahl hungernder Menschen gibt. Damit sind zugleich die umwelt-, tier- und politisch-sozialethischen Aspekte formuliert, der sich (auch) die Philosophie annehmen sollte. Landwirtschaft erscheint lediglich als disparater bzw. sektoral verteilter Gegenstand in der Philosophie: Es gibt philosophische Subdisziplinen, die den Künsten (Bildende Kunst, Musik, Theater), den Wissenschaften, der Kultur, der Natur oder der Politik gewidmet sind. Diese Felder der Lebenswelt sind philosophisch offenbar eher satisfaktionsfähig als die Landwirtschaft, bzw. die Landnutzung allgemein.4 Landwirtschaft bildet also kein eigenständiges Feld des Philosophierens, sondern maximal einen Fundus für Beispiele aus der Lebenswelt, anhand derer allgemeine ästhetische, ethische oder politische Themen erörtert werden. Nahe liegt die Subsumtion unter die philosophische Reflexion der Ökonomie. Hier hat die Landwirtschaft einen selbstverständlichen Platz in den meisten Staatsphilosophien als Teil der Überlegungen zu Gesellschaftsstruktur und Wirtschaftsform, also mit Blick auf die großen rechtsphilosophischen Fragen des Bodens, des Eigentums und der landwirtschaftlichen Produktionsmittel. Doch weit über die Perspektive der Ökonomie hinaus hat die Landwirtschaft in allgemeiner Form als entwicklungsgeschichtlicher Schritt in der Geschichte der Menschheit, ja der Formierung der conditio humana selbst, einen zentralen Stellenwert sowohl in der Anthropologie als auch der Geschichtsphilosophie. In der neolithischen Revolution des Übergangs von, grob vereinfachend gesagt, eher mobilen Jäger- und Sammler-zu eher sesshaften Viehzüchter-, und dann schließlich zu Ackerbaugesellschaften änderten sich fast alle Bereiche des Lebensvollzugs.5 Hegel spricht davon, dass erst mit dem Ackerbau die »Vorsorge auf die Zukunft« und insofern »die Vernünftigkeit« in die Welt komme. 6 Ackerbau, und – damit verbunden (!) – Ehe und Privateigentum seien »der eigentliche Anfang und die erste Stiftung der Staaten«. Für den zweiten, den substanziellen Stand (der Ackerbauern) werde »der Verstand das Wichtigste […] und das Naturprodukt nur als Material betrachtet«.7 Mit der Landwirtschaft formiert sich nach Hegels Darstellung der erste – vielleicht wäre heute angemessener zu sagen: ein entscheidender – Schritt der Emanzipation von »der Abhängigkeit des Ertrags von der

Die Forstwirtschaft bildet einen komplementären Fall der lebensweltlich einschlägigen Landnutzung, der zwar teilweise andere Hintergründe, letztlich aber analoge Problemlagen aufweist. Dieser kann hier ebenso wenig wie der Bereich der Gewässer-bzw. Fischereiwirtschaft ausgeführt werden. 5  Der Prozess begann im Vorderen Orient / Mediterranraum etwa 8.000 v. Chr.; für naturwissenschaftliche und umweltgeschichtliche Perspektive vgl. J. Diamond, Guns, 104 ff.; J. Radkau, Natur, 71 ff. 6  G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, 355 f. (§ 203). 7  Ebd. 4 

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veränderlichen Beschaffenheit des Naturprozesses«, dem die Jäger-Sammler-Gesellschaften noch sehr viel mehr ausgeliefert waren. 8 In diesem Sinne Landwirtschaft als erste echte Technik der Überwindung von Unbill der Natur zu verstehen, hat sich in der vor allem durch die agrikulturtechnischen Innovationen seit dem 19. Jahrhundert weithin etabliert. Heidegger kommentiert dazu Mitte des 20. Jahrhunderts: »Inzwischen ist auch die Feldbestellung in den Sog eines anders gearteten Bestellens geraten, das die Natur stellt. Es stellt sie im Sinne der Herausforderung. Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie.«9 Aus ganz unterschiedlicher philosophischer Perspektive kommt Marx bereits fast ein Jahrhundert zuvor zur folgenden Einschätzung: Jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist ist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen des alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.10 Aus wiederum anderer Perspektive erkennt John Stuart Mill zur gleichen Zeit die kommenden Umweltprobleme einer rein wachstumsorientierten Ökonomie mit Argumenten, die die Nachhaltigkeitsdebatte antizipieren.11 Es sei aber darauf hingewiesen, dass die meisten gesellschaftlichen Fortschrittstheorien, seien sie rekonstruktiv oder auch normativ, letztlich die Überwindung der reinen Agrar-durch eine Industriegesellschaft mit dem Primat auf technischen Produkten und heutzutage gar durch eine vermeintlich post-materielle Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft avisieren.12 Insofern haftet der Landwirtschaft gleichsam etwas geschichtsphilosophisch Anachronistisches an, was sicherlich mit daran liegt, dass die gesellschaftspolitische Agrarromantik gerade in Deutschland politisch keinen guten Leumund besitzt.13 Aus dem Blick gerät dabei, dass die agrarische Urproduktion auch in heutigen Informations-, Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaften unverzichtbar bleibt.14

Die von Hegel angesprochene Vorsorge als (erste) Realisierung der Vernunft wird von Heidegger in seinen späten Schriften zur Technik als »sichernder Verstand« gefasst. Ich danke Christoph Hubig für diesen Hinweis. 9  M. Heidegger, Technik, 22. 10  K. Marx: Kapital I, 530. 11  J. S. Mill, Principles, 62 f. 12  Eine gewisse Ironie betrifft hierbei den früheren (ost)deutschen »Arbeiter- und Bauernstaat«: Während der industrielle Sektor nach Wende und Vereinigungsprozess durch die Übernahme kapitalistischer Steuerung komplett zusammenbrach, ließen sich die großflächigen Agrarkombinate vergleichweise problemlos vom Staatsmonopol zu leistungsfähigen privaten Agrarwirtschaftsoligopolen transformieren, auch hier mit einer starken Abnahme der Beschäftigten einhergehend; T. Busse, Melken. 13  Vgl. die viel beachtete politologische Studie von K. Bergmann, Agrarromantik. 14  Vgl. unter vielen anderen H. Daly, Beyond. 8 

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In der philosophischen Ästhetik bekommt Landschaft, und zwar gerade die agrarisch und forstlich geprägte und sich transformierende, in der Zeit der Entstehung der Heimat- und Naturschutzbewegung im 19. Jahrhundert die zu Missverständnissen einladende Kennzeichnung als »Natur«.15 Und schließlich wird die Landwirtschaft – ausgehend von Nordamerika – in den 1970er Jahren erneut Gegenstand der praktischen Philosophie und insbesondere der Umweltethik.16 Beide Aspekte werden in den folgenden Abschnitten auch in programmatischer Absicht ausgeführt, um zukünftige Anknüpfungspunkte einer »Philosophie der Landwirtschaft« zu formulieren.

3.  Naturästhetik: Landschaft versus Landwirtschaft? Es ist kaum zu überschätzen, welche Bedeutung zumindest in Europa, dem Nahen Osten und Ostasien der agrarisch geprägte Raum als »Landschaft« einnimmt. Daher sei hier der römische Epikureer Lukrez aus seinem Werk »Über die Natur der Dinge« ausführlicher zitiert, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert bildhaft ausdrückte, was als »arkadische Landschaft« der gärtnernden und ackerbauenden Menschen geradezu klassisch wurde: Aber als Muster für das Säen und als Ursprung des Pfropfens erwies sich zuerst die Natur, die Schöpferin der Dinge. […] Danach versuchten sie immer neue Arten des Anbaus auf dem geliebten Stück Land und sahen, daß die wilden Früchte veredelt wurden im Boden, wenn man sich seiner annahm und ihn liebevoll pflegte. Allmählich zwang man die Wälder, sich mehr und mehr auf die Berge zurückzuziehen und unten Platz für bebautes Land frei zu machen, um Wiesen und Teiche, Flüsse, Saaten und üppige Weinberge auf Hügeln und Feldern zu besitzen, und ein Streifen blauschimmernder Ölbäume sollte als Grenze dazwischen verlaufen und sich über Hügel, Täler und Felder erstrecken, wie Du jetzt in buntem Glanz geschmückt siehst die ganze Landschaft, die man mitteninne mit üppigen Obstbäumen ziert und rings umgrenzt hält von fruchtbaren Sträuchern.17 Diese Schilderung dürfte heute nicht nur bestimmten touristischen Erwartungen für die Mittelmeerländer entsprechen, sondern ist  – ohne Olivenbäume  – durchaus auch ein prägendes Bild der Landschaft Mitteleuropas außerhalb der Tiefebenen – und wohl zugleich ein normatives Leitbild nachhaltigen Wirtschaftens als einer gelingenden MenschNatur-Interaktion.18 K. Ott et al., Anfänge. Die einzige mir bekanntgewordene jüngere deutschsprachige Ausführung zu »Philosophie und Landwirtschaft« setzt einerseits kurz an den Grundfragen praktischer Philosophie nach Weltorientierung an und führt dann andererseits ausführlich die Debatte um Landwirtschaft, Umwelt und das entsprechende menschliche Handeln; T. Mohrs, Philosophie und Landwirtschaft. 17  Lukrez, »Über die Natur der Dinge«, Ziff. 1360 ff. 18  Vgl. D. Worster, Economy, der sehr idealtypisch zwei Naturzugänge unterscheidet: »arcadian« und »managerial«. 15  16 

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Zeitlich parallel zu den oben skizzierten Prozessen bekam ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die agrarisch geprägte Landschaft unter den Bedingungen ihres Wandels, gar ihres vermeintlichen Verschwindens, aufgrund von urbaner Industrialisierung und eigener Mechanisierung mittels Maschinen sowie Verwissenschaftlichung verstärkt symbolische Bedeutung für ästhetische und sozialphilosophische Bewegungen. Der Volkskundler und Politiker Wilhelm Heinrich Riehl prägte dabei maßgeblich die Interpretation von »Land und Leuten« in einem national-politischen Kontext; und der Begründer des Naturschutzes, der Musikwissenschaftler Wilhelm Rudorff, setzte dies insofern konsequent fort, als die in der Landschaft arbeitenden Bauern immer weiter im wahrsten Sinne naturalisiert wurden, gleichsam als Kulissengestalter ästhetischer Erlebnisse. Die Lebenswirklichkeit der in der Landwirtschaft Arbeitenden wurde dabei, weil idealisiert und ästhetisiert, weitgehend ignoriert.19 Zugespitzt formuliert, löste sich Landwirtschaft in der Landschaft als ästhetischer Kategorie auf. So ist kein Zufall, dass Georg Simmel in seinen Schriften zu zahlreichen »Philosophien« von Dingen der Lebenswelt keine solche der Landwirtschaft, sondern vielmehr eine »Philosophie der Landschaft« skizzierte. Hier wird Landschaft in Verbindung gesetzt mit der »freien Natur«, was alles jenseits von Stadt oder Dorf bedeutet, allerdings einschließlich »Menschenwerke(n), die sich ihr aber einordnen«.20 Ebenso wie Riehl sieht Simmel Landschaft als ästhetisch konstituierte Kategorie: »Landschaft […] entsteht, indem ein auf dem Erdboden ausgebreitetes Nebeneinander natürlicher Erscheinungen zu einer besonderen Einheit zusammengefasst wird, einer anderen als zu der der kausal denkende Gelehrte, der religiös empfindende Naturanbeter, der teleologisch gerichtete Ackerbauer oder Stratege eben dieses Blickfeld umgreift«.21 Daraus lässt sich schließen, dass der Landschaft Erfahrende nicht, zumindest nicht zugleich, andere Perspektiven einnehmen kann – Ackerbau und Landschaft scheinen wahrnehmungsbezogen inkommensurabel. Letzteres hat ganz ähnlich in philosophisch sehr einflussreicher Weise Joachim Ritter formuliert, für den eine Landschaft eine nicht nur ästhetische Kompensationserfahrung zur entzauberten Lebenswelt bietet und die damit zugleich, so scheint mir, systematisch die Lebenswelt derer ausblendet, die materiell den (Kultur-)Landschaftseindruck allererst ermöglichen.22 In der Perspektive der Naturästhetik bedeutet Natur nicht allein das Unbearbeitete im von Aristoteles abgeleiteten Sinne, oder die »Wildnis«, sondern gerade auch das land- oder forstwirtschaftlich Gestaltete. Dies führt zu der hinlänglich bekannten Verwirrung der Natur- und Natürlichkeitsbegriffe, die sich jedoch mit ein wenig Bemühung explizieren lassen.23 Problematischer ist ein zumindest falsch verstandener quasimaterialistischer Konstruktivismus, nach dem Motto: »es gibt gar keine Natur, sondern alles ist Kultur, denn alles ist menschliche Konstruktion«. Hierbei wird die unstrittige materiale Mitgestaltung von Landschaft durch wirtschaftende Menschen mit der ebenfalls unstrittigen ästhetischen oder erkenntnistheoretischen Kategorien-

19  20  21  22  23 

K. Ott et al., Anfänge, S. 4 ff. G. Simmel, Philosophie der Landschaft, 471. Ebd., 478. J. Ritter, Landschaft. Vgl. dazu D. Birnbacher, Natürlichkeit.

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bildung verwechselt- und dann fälschlich eine Art Nichtexistenz wirklicher Natur zu beweisen behauptet. Sehr viel zielführender ist es dagegen, eine systematische Reflexion der spezifischen Produktions-, Veränderungs- und eben auch Zerstörungsprozesse von Landschafts-Naturen in den Blick zu nehmen. Es bleibt das Desiderat festzuhalten, die Perspektiven des symbolischen sowie des materiellen Stoffwechsels zwischen Menschen und (wilder ebenso wie gestalteter) Natur mehr als bislang auf mit dem Land Wirtschaftende und deren Handlungskontexte zu beziehen.24 In diesem Sinne ist der Status der gesellschaftlichen Urproduktion auch für die Naturästhetik neu zu bestimmen. Dabei wird eine Debatte zu führen sein, die bereits seit einigen Jahren besteht: War die Landschaft im 19. und 20. Jahrhundert lange ein Nebenprodukt land- und forstwirtschaftlicher Produktion, so wird die genuin auf Naturschutz-, aber auch Naturerleben bezogene Gestaltung von Landschaft ökonomisch immer bedeutsamer. Dies hat für die Mitglieder des früheren »Nährstandes« erhebliche Konsequenzen für ihr Selbstverständnis, ebenso jedoch für die LiebhaberInnen der Kulturlandschaft, die gewissermaßen dezidiert auch für sie produzierte ästhetische Dienstleistungen genießen – und eben nicht ursprüngliche Kontrasterfahrungen »fremder« ländlicher Lebenswelten.

4.  Wissenschaftstheorie: Agrarwissenschaften als klassisches Modell einer Inter- und Transdisziplin Die Frage nach Lebenswelt und Wissenschaft – als Kernfrage der Erörterung der Lebenswelt beim späten Husserl 25 – hat mit Blick auf die Landwirtschaft eine wissenschaftstheoretische und zugleich praxisorientierte Dimension. Ende des 18. Jahrhunderts entwickelten sich neue fortschrittsorientierte höhere Lehranstalten, gleichsam als Fachhochschulen, im Gegensatz zu den »alten« nicht selten spätscholastisch orientierten Universitäten. Es entstanden zeitgleich unter anderem in Deutschland, Frankreich und in Nordamerika neue wissenschaftliche Institutionen der landwirtschaftlichen Ausbildung, entweder als Hochschulen oder als ministeriumsnahe Akademien. Gerade die sog. Land Grant Colleges in den USA waren zentraler Teil des allgemeinen Professionalisierungsprozesses in der akademischen Ausbildung. Die Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft ging zeitlich in etwa einher mit derjenigen der Medizin – also anwendungsorientierter lebensweltlich orientierter Forschungsfelder. Albrecht Daniel Thaer gründete 1802 in Celle das erste deutsche Landwirtschaftliche Lehrinstitut, nachdem er zuvor ausführlich neuere Entwicklungen in England studiert hatte, die ihm als Modell galten. Seine Arbeiten zur »rationellen Landwirt-

24  Selbst sehr instruktive jüngere naturästhetische und -ethische Studien wie die von G. Böhme, Natürlich Natur, oder A. Kemper, Unverfügbare Natur, lassen diese Perspektive der Landschaft als landwirtschaftlicher Lebenswelt zu weit außen vor. 25  E. Husserl, Krisis, 46 f.

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schaft« gelten als Beginn der Landwirtschaftswissenschaft(en) in Deutschland. 26 Die Kombination der Grundlagenfächer Physik, Geologie, Geographie, Botanik, Zoologie und Mathematik, der »Gewerbslehre« (heute: Agrarökonomie), der »Agronomie« (heute: Bodenkunde, Düngerlehre, Acker- und Pflanzenbau) und der Tierzucht einschließlich Tierernährung und Tierhaltung sowie weiterer Nebenfächer hat seither den Standard der Ausbildung gesetzt. 27 Zugleich wurden durch die Bildungsreformen in den deutschen Staaten 1815 die Universitäten zunehmend konzeptionell aufgewertet. Die Landwirtschaftswissenschaft fand 1826 in Jena erstmals Platz an einer deutschen Universität.28 Neben den von Thaer eingeführten Maßnahmen wie systematischer Fruchtwechsel und verschiedenen Organisationsverbesserungen war es vor allem der Chemiker Justus von Liebig an der Universität Gießen, der die Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft mit seinen biochemischen Theorien zum Bodenertrag und der Entwicklung des synthetischen Superphosphatdüngers forcierte.29 Im Ergebnis kam es zu einer Steigerung der agrarischen Produktion zwischen 1873 und 1913 um 90 %. Trotz aller praktischen Erfolge entstanden hinsichtlich der Verortung der Landwirtschaft als Wissenschaft Schwierigkeiten, die der Historiker und Wissenschaftsforscher Jonathan Harwood in einer Studie zu Landwirtschaft an deutschen Universitäten als Dilemma beschrieben hat: entweder orientierten sich die Wissenschaftler mehr an akademisch-theoretischen Fragstellungen und Karrierewegen, oder sie gingen unmittelbaren Praxisforderungen der Landwirte, der Wirtschaft oder der Administration nach. 30 Harwood konnte nachweisen, dass diese anwendungsorientierte Wissenschaftsdisziplin und ihre Vertreter insgesamt einen dezidiert niedrigen Status innerhalb der Universitäten und der Professorenschaft genossen. 31 Der Befund ist deshalb aufschlussreich, weil er  – in Kontinuität einer Tradierung mit Bezug auf die klassische griechische Philosophie – einen epistemisch – normativen A. D. Thaer, Grundsätze. Er wechselte 1804 in preußische Dienste und eröffnete 1806 die erste deutsche landwirtschaftliche Akademie im Oderbruch (Gut Möglin), die ab 1819 als »Königlich Preußische Akademie des Landbaus« firmierte. 1810–1819 hielt Thaer Vorlesungen zur Landwirtschaft als außerplanmäßiger Professor an der Berliner Universität für Studenten der Kameralistik. 27  Universität Berlin, Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät. 28  Thüringisches Ministerium, 180 Jahre. Es gab auch andere Wege: Die 1818 gegründete landwirtschaftliche Lehr- und Versuchsanstalt Stuttgart-Hohenheim entwickelte sich über den Status einer (Fach)Hochschule schließlich zur Universität. In Berlin wurde 1859 in Verbindung mit der Berliner Universität ein selbständiges landwirtschaftliches Lehrinstitut eingerichtet und schließlich 1881 die Landwirtschaftliche Hochschule Berlin gegründet. Erst Ende 1934 wurden die Landwirtschaftliche und die Tierärztliche Hochschule in Berlin als Landwirtschaftlich-Tierärztliche Fakultät an die Berliner Universität angegliedert. 29  J. v. Liebig, Organische Chemie. Liebig stellte auch explizit wissenschaftstheoretische Überlegungen zur experimentellen Naturwissenschaft an, vgl. J. v. Liebig, Francis Bacon; auf Bacon bezog sich bereits Thaer. 30  J. Harwood, Technology’s Dilemma. 31  Dieser Befund gilt keinesfalls nur mit Bezug auf die Landwirtschaft auch heute noch in vielen Fächern an deutschen Universitäten – mit der charakteristischen Ausnahme der Medizin. 26 

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Primat der theoretischen vor der praktischen Wissenschaft konstatiert. 32 Andererseits scheint ja die heutige Wissenschaft stark unter dem Druck transdisziplinären Anwendungsbezugs zu stehen, was eigentlich Disziplinen wie den Agrarwissenschaften Auftrieb verschaffen sollte. Von der Wissenschaftstheorie ist die Agronomie bislang (zu) wenig untersucht, obwohl sie als trans- und interdisziplinäre Verbindung von Ökonomik, Natur- und Ingenieurswissenschaften durchaus Modellcharakter hat. Ohne in diesem Beitrag näher darauf eingehen zu können, sei die These formuliert, das ein systematischer Vergleich mit der Medizin, die sich in etwa parallel zur Agronomie im 19. Jahrhundert professionalisierte, ausgesprochen ertragreich wäre. Zugleich wären Bezüge zu heutigen so genannten Technosciences wie den Nanowissenschaften, den Lebenswissenschaften (und deren Verhältnis zur Medizin) oder den Umweltwissenschaften herzustellen. Letztere sind daher von Bedeutung, weil sie mit am deutlichsten normativ und in anderer Weise als Landwirtschaftswissenschaften fächerübergreifend und mit Ökonomiebezug arbeiten.33 Angedeutet sei ferner, dass hitzige Debatten der Wissenschaftsforschung um scheinbar ganz neue so genannte »Mode 2« oder »post-normale« Wissenschaftsformen historisch und wissenschaftstheoretisch mit solchen Untersuchungen zu kontextualisieren wären. Die Landwirtschaftswissenschaft kennt schon länger den heute generell für die Wissenschaften formulierten zunehmenden Anwendungsdruck bei zugleich wachsendem Misstrauen in die Objektivitätsgarantien sowie die Forderung nach stärkerer Beteiligung nichtakademischer Kreise im Forschungsprozess.34 Das prekäre Verhältnis zwischen interner Theorieorientierung, praktischen Erfordernissen und  – nur das ist vielleicht neu: – direkter öffentlicher Partizipation in den Wissenschaften wäre geradezu ein Konstituens für Wissenschaften mit Lebensweltbezug. Über die Konsequenzen für wissenschaftstheoretische und wissenschaftsethische Normen wäre dann genauer zu sprechen, ebenso wie über die Erfordernis, Wissenschaft und Technik möglicherweise doch wieder genauer zu unterscheiden.35 Mit der wissenschaftlichen Positionierung ist auch eine Verbindung zur Umweltethik gegeben. Ähnlich wie die Biomedizin kann auch die Landwirtschaftswissen32  Auch hierzu eine deutsch-deutsche Fußnote: Während es in der DDR eine eigene »Akademie der Landwirtschaftswissenschaften« in Halle gab, kannte und kennt die Bundesrepublik nur ministeriumsnahe »Akademien« für Naturschutz. Ferner besteht eine nichtstaatliche »Akademie für Raumplanung und Landespflege« in Hannover. Diese sind völlig anderes aufgebaut und strukturiert als die intellektuell renommierten Akademien der Wissenschaften in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Halle (Leopoldina, jetzt als »Deutsche Akademie«), Heidelberg, Mainz oder München. 33  Vgl. T. Potthast, Umweltforschung. 34  An der Berliner Humboldt Universität brach in den 1990er Jahren ein großer Streit darüber aus, ob die dortige Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät zeitgemäß sei oder ob nicht die Landwirtschaft ganz »zurück« an die Fachhochschulen gehöre; vgl. Universität Berlin, Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät. Neuere Ansätze zur Sicherung solcher anwendungsbezogenen Disziplinen beziehen sich explizit auf die integrative Perspektive (von zentralen Teilen) der Landwirtschaftswissenschaft als natur- und humanwissenschaftliche Lebenswissenschaft mit inter- und transdisziplinären Bezügen, vgl.  M. Langensiepen / R. Herbst, Pflanzenbauwissenschaften. 35  Vgl. hierzu G. Mildenberger, Wissen und Können.

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schaft als in einer Doppelrolle auftretend beschrieben werden. Sie bildet zum einen Ursachen und Anlässe für moralische Fragen, weil sie neue Handlungsspielräume für die landwirtschaftliche Gestaltung jenseits bisheriger Grenzen eröffnen, wie dies  – unter Zugrundelegung naturwissenschaftlicher Theoriemodelle  – durch die Mechanisierung und Kunstdüngung im 19. Jahrhundert und noch einmal durch die Industrialisierung der Produktion und den Pestizideinsatz ab 1950 geschah. Zugleich bieten die empirischen Disziplinen neue Wissensbestände, die zur Lösung der Nahrungs- und Umweltprobleme dringend erforderlich scheinen. Ferner ist gerade auch die Landwirtschaftswissenschaft ein Ort, in dem über die zugrunde liegenden biologisch-ökologisch-ökonomischen Metaphern und Modelle von Selektion, Gleichgewicht und Haushalt nachzudenken ist.

5.  Umweltethik: Agro-Ethik und land ethic Bereits mehrfach erwähnt wurde, dass die zunehmenden Umweltprobleme, die maßgeblich auf die neuen landwirtschaftlichen Produktionsweisen zurückgeführt wurden, die umweltethische Diskussion im Laufe des 20. Jahrhunderts stark angeregt haben. Inzwischen kanonisch geworden ist Rachel Carsons Buch »Der stummer Frühling«, der eindringlich die Folgen des Pestizideinsatzes durch die Landwirtschaft auf die Natur schildert. 36 Das Spannungsfeld in der Wahrnehmung der Landwirtschaft als größter Zerstörerin der biologischen Vielfalt einerseits und der Hüterin des fruchtbaren Bodens sowie der landschaftlichen Vielfalt und Schönheit andererseits besteht dabei seit mindestens 1970 fort. Selbstverständlich ist nicht nur im umweltethischen Kontext »die« eine Landwirtschaft nicht existent: es geht vielmehr um ihre unterschiedlichen konkurrierenden Ansätze und Modelle – es sei hier erlaubt zu sagen, gleichsam »Philosophien« – ihrer Theorie und Praxis. In der Praxis als Inter- und Transdisziplin muss die Agro-Ethik drei Bereiche miteinander verknüpfen: a) empirische Wissensbestände aus Ökologie, Medizin, Ökonomie und weiteren Sozialwissenschaften; b) Normwissenschaftliche Fragen in Recht und Ethik, aber auch der normativen Dimension der Ökonomik, c) das Standesethos und die Traditionen in der Landwirtschaft.

5.1  Agro-Ethik jenseits und diesseits umweltethischer Fragen Überspitzt formuliert ist die Landwirtschaft in der klassischen Umweltethik lediglich als externer Wirkfaktor der Ressourcen- und Mitweltzerstörung- oder ihrer Schonung  – vertreten. Eine Ethik der Landwirtschaft geht über diese Perspektive hinaus.

R. Carson, Stummer Frühling, wurde sofort nach der Erstpublikation aus dem Amerikanischen übersetzt. 36 

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Diese Agrikultur-Ethik wurde als neues Feld vor allem in den USA und den Niederlanden seit etwa 1980 von Agrarwissenschaftlern selbst initiiert: Personal ethical responsibilities have been intrinsic to farming and rural life. But, now, new issues of fairness, conflicts of interests and their resolution, considerations of values, and integrity come into play and the future will likely force broader perception of ethics related to agriculture in aspects of national policy. 37 Es sind offenkundig die vielfältigen Schwierigkeiten, in einer Zeit des sozialen und ökonomischen Umbruchs die Landwirtschaft und ihre Protagonisten neu zu orientieren – ein auch aus anderen Bereichen vertrautes Motiv, nach dem die Ethik dann gerufen ist, wenn gewohnte Gewissheiten und Moralen und (nationale) Ordnungen nicht mehr greifen.38 Die Programmatik im Kontext lautet, schlagwortartig, die »Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für eine effiziente, umwelt- und sozialverträgliche Landwirtschaft« anzunehmen und zu beantworten.«39 Dann aber stellen sich die bekannten umweltethischen »Fachfragen«, was hier nicht polemisch gemeint ist, sondern auf die Notwendigkeit einer philosophisch-ethischen Analyse verweist: Was bedeutet »umweltgerecht«? Geht es um die Sicherung des nutzbaren Naturkapitals (allein) für heutige und zukünftige Menschen als Moralgemeinschaft? Oder soll auch zugleich der Natur gegenüber gerecht gehandelt werden, bestehen also direkte Verpflichtungen der Landbearbeitenden auch gegenüber anderen Naturentitäten (individuelle Organismen, Spezies, ökologische Systeme)? Selbstverständlich besteht für die Agro-Ethik eine anthroporelationale Rahmensetzung: Landwirtschaft als Verpflichtung zur Sicherung einer nachhaltig von Menschen nutzbaren Natur bzw. Agri-Kultur gegenüber heutigen und zukünftigen Menschen ist unzweideutig die zentrale Aufgabe. Ob damit eine anthropozentrische Position zur Frage der Mitglieder der moralischen Gemeinschaft festgelegt ist, scheint mir sehr fraglich. Denn auch physiozentrische Ansätze leugnen nicht die anthroporelationale Fokussierung landwirtschaftlicher Praxis, sie würden nur andere Aspekte sehr viel stärker betonen. Umgekehrt schließt eine anthropozentrische Agro-Ethik die Bedürfnisse nicht-menschlicher Tiere oder die Frage der Erhaltung der Mitwelt keinesfalls aus. Gleichwohl scheint mir ein umweltethisches Modell des Holismus, wie es Martin Gorke vorschlägt, nicht besonders gut auf die lebensweltliche Praxis der Landwirtschaft zu passen. In diesem Ansatz besteht ein prinzipieller Vorrang des Natürlichen im Sinne einer möglichst großen Abwesenheit menschlichen Einflusses auf die Natur. Der Sinn der Landwirtschaft liegt aber nicht darin, die Natur möglichst wenig zu verändern, sondern möglichst angemessen. Nicht die Naturbeeinflussung per se ist also das übergeordnete Kriterium.40

H. O. Kunkel, »Agricultural Ethics«, 20. Der Aufsatz erschien als programmatischer Text in einer neuen Zeitschrift, die sich inzwischen unter dem Namen Journal of Agricultural and Environmental Ethics etabliert hat. 38  So auch der niederländische Landwirtschaftsminister H. Apotheker, »Agriculture«. 39  Thüringisches Ministerium, 180 Jahre. 40  Siehe M. Gorke, »Bewahrung«, und die Gegenposition von K. Ott, »Begründung«, dessen Kritik ich mich hier weitgehend anschließe. 37 

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5.2  Aldo Leopolds »land ethic« und die Landwirtschaft Einen berühmt gewordenen Vorschlag des moralisch angemessenen, ja gelungenen, Zusammenwirkens von Menschen und Land hat der US-Amerikanische Wildbiologe Aldo Leopold die »Land Ethic« in seinem posthum erschienenen Buch A Sand County Almanch, and Sketches here and there, vorgelegt.41 Der lebensweltliche Kontext des Buches ist zu beachten: Es handelt sich um – stilisierte – Tagebuchreflexionen, die Leopold in einer Ferienhütte im ländlichen Wisconsin anfertigte. Leopold wollte dort die seiner Auffassung nach degradierte Landschaft wieder in einen harmonischen Zustand bringen. Der Referenzzustand ist jedoch für ihn keinesfalls eine imaginierte Wildnis oder unberührte Natur, sondern ein spezifisches Kulturlandschaftideal, in der Menschen und Natur (wieder) harmonisch interagieren. Leopold kombiniert diese Landschaftsprosa eigenen Naturerlebens mit Aspekten der Landschaftsgeschichte, Ökologie, Naturschutz und Geschichtsmodellen moralischen Fortschritts. Die menschliche Entfremdung vom Erleben der Natur in jeder technisch – industriellen Zivilisation ist für Leopold Hauptgrund für die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Für Leopolds Konzeption bedeutsam war sein eigenes Erleben und Bewerten »gesunden« von Menschen genutzten Landes in Teilen von Mexico und dem gegenüber »kranken« Landes an vielen Stellen der USA.42 Augenfälligster Anlass und Beleg dafür waren die Jahre der Großen Dürre 1930–36 im Mittleren Westen, wo als Folge einer falschen Form der Landwirtschaft Erosion bislang unvorstellbaren Ausmaßes das Land verwüstete (dust bowl). Eine Ursache dieser Katastrophe war nach Leopold die »unethische«, natürliche Prozesse nicht respektierende Grundhaltung: das Land werde unter rein ökonomischen Ausbeutungsaspekten betrachtet und nicht als Teil eines lebenden interagierenden und interdependenten Gefüges. Doch nicht ein wissenschaftlicher Ökosystembegriff spielt bei Leopold die zentrale Rolle, sondern der praktisch unübersetzbare Begriff des »land«. Er bezeichnet die Einheit(en) von Böden, Gewässern, Pflanzen und Tieren. Der Mensch ist dabei explizit Teil dieser Gemeinschaft. Leopold zielt auf eine Ausweitung dieses Gemeinschaftsgedankens in ethischer Hinsicht: »The land ethic simply enlarges the boundaries of the community to include soils, waters, plants, and animals, or collectively: the land«.43 Entscheidend für die systematische Stellung von Leopolds Ethik ist seine Interpretation der Lebensgemeinschaft (community). Er lehnt die Metapher einer Balance der Natur als wenig hilfreich ab: »this figure of speech fails to describe accurately what

A. Leopold, Sand County; Leopold (1887–1948) war Forstwissenschaftler und Wildbiologe zunächst im Wildlife Service in New-Mexico und dann an der University of Madison-Wisconsin, USA; er wandelte sich von einem praktizierenden Anhänger der Ausrottung des Wolfes in den USA zu einem Verfechter seiner Wiederansiedlung; vgl. C. Meine, Aldo Leopold. 42  Ebd., 368. 43  A. Leopold, Sand County, 204. Meine Darstellung der land ethic folgt einer früheren Ausführung in T. Potthast Evolution, 159 ff., setzt aber andere Akzente: Es scheint mir möglich, Leopold weniger szientivistisch und ökozentrisch zu interpretieren, als er es nahelegt und es etliche Nachfolger auch getan haben; letzteres bleibt weiter sehr kritikbedürftig. 41 

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little we know about the land mechanism«.44 Die Rolle von Menschen wird nicht generell als Störung bezeichnet. Vielmehr wird gefragt, welche Form der anthropogen modifizierenden Nutzung kompatibel mit Energiefluss und Stoffzirkulation ist und welche Veränderungen den land mechanism zerstören. Referenzpunkt für Vergleiche ist allerdings die Wildnis, also vom Menschen nicht beeinflusste Systeme, wobei diese aber nicht das stets anzustrebende Ziel sind. Leopold definiert vielmehr »Conservation is a state of harmony between man and land«.45 A thing is right when it tends to preserve the integrity, stability, and beauty of the biotic community. It is wrong when it tends otherwise.46 Dieses Zitat ist ein locus classicus für die Natur- und Umweltethik geworden. Die ähnlich klingende Begriffstriade »Vielfalt, Eigenheit und Schönheit« aus dem deutschen Naturschutzgesetz stammt allerdings aus einer anderen Tradition. Gegen eine streng physiozentrische Interpretation Leopolds spricht die betonte Beteiligung der Arbeit von Menschen am land mechanism. Nicht die unberührte Natur, sondern die vom Menschen richtig genutzte steht im Vordergrund – ein Eigenrecht der unberührten Natur ist in Leopolds Entwurf gerade nicht vorrangig. Da generell gilt, dass Eigenwerte (in) der Natur und menschliche Nutzung sich nicht ausschließen müssen, sind solche Naturethiken weder streng anthropozentrisch noch physiozentrisch.47 Es bleibt uneindeutig, welche der Verpflichtung gegenüber dem land impliziert ist. Agrarisch oder forstlich genutztes land ist zumindest keinesfalls wertloser als Wildnis, und die physiozentrische Setzung eines intrinsischen (Selbst)Wertes des land könnte funktionalistische Gründe haben. Wäre auch die Qualität menschlichen Lebens besser, wenn alle eine nicht-anthropozentrische Ethik hätten, frei nach dem Motto »physiozentrisch lebt sich’s gesünder«?48 Die Begründung des erweiterten Umfangs der Moralgemeinschaft wird hier also auf die möglichen positiven Folgen gerade auch für Menschen vollzogen. Daraus folgt eine interessante generelle metaethische Frage: Kann eine physiozentrische Position (Selbstwerte der Natur) mit einem metaethischen Kriterium der anthropogenen Nützlichkeit begründet werden?49 Obwohl diese Idee unter Vertretern des Konsequentialismus einige Beachtung gefunden hat, lautet die Antwort eindeutig nein, denn das metaethische Kriterium selbst fungiert hier als quasi übergeordnetes normativ-ethisches Kriterium im Kontext einer konsequentialistischen letztlich utilitaristischen Ethik als Basistheorie. Diese aber ist ausschließlich an den Präferenzen empfindungs-im Sinne von leidensfähiger Wesen orientiert, nicht an allen Lebewesen oder Naturdingen.

A. Leopold, Sand County, 214. Ebd. 207. 46  Ebd., 224 f. 47  Leopold führt eine nicht unbekannte etwas krude geschichtsphilosophische Fortschrittsthese an, nach der aber zumindest der Kreis der unmittelbar moralisch zu Berücksichtigenden sich stets erweitert habe: von den Männer von Stand in der Polis, über Sklaven, Frauen, NichtWeiße, empfindungsfähige Wesen eben nun bis zum land, ebd. 202 f. 48  K. M. Meyer-Abich, »Physiozentrisch«. 49  Frierson, Metastandards. 44  45 

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Eine andere Frage lautet, ob mit Bezug auf Leopold eine Agro-Ethik der möglichst »naturnahen« Land- und Forstwirtschaft begründet werden könnte. Hier ist eher zustimmend zu antworten, selbst wenn bzw. weil »Naturnähe« ein empirisch ausgesprochen problematisches Kriterium ist. Naturnähe wäre hier nämlich sicherlich nicht allein empirisch-naturwissenschaftlich, sondern zugleich historisch und ästhetisch auszuweisen. Dies passt insofern gut zu Leopold, als er den eher naturwissenschaftlichen Terminus des Gleichgewichts zurück weist und dafür den ausgesprochen interpretationsbedürftigen Begriff der Harmonie bemüht. Schließlich, das sei für diesen Kontext besonders betont, diskutiert Leopold in seiner land ethic auch Fragen der Ökonomie und des Eigentums: Der rein ökonomische auf das Eigeninteresse ausgerichtete Blick auf das land sei einer der Gründe für dessen Zerstörung. Für die Eigentumsfrage bleibt Leopold allerdings auf der Ebene eines, etwas hilflos wirkenden, moralischen Appells an die Verantwortung der privaten Landeigentümer,50 was auf die weiter oben aufgeworfenen grundlegenden philosophischen Fragen zurück verweist. Dazu äußerte Karl Marx bereits fast 100 Jahre vor Leopold Expliziteres: »Selbst eine Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen«.51

6.  Politische Philosophie: Land, Wirtschaft, Gerechtigkeit So evident und zugleich vieldeutig der lebensweltliche Bezug von Landwirtschaft ist, so erläuterungsbedürftig dürfte eine andere Formulierung sein, die die derzeitige Debatte stark beeinflusst: Was soll »Umweltgerechtigkeit« bedeuten, und was »umweltgerechte Landwirtschaft«? Im umweltpolitischen Kontext spricht beispielsweise der Staatssekretär des Thüringischen Ministeriums für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt, wie bereits zitiert, von »Herausforderungen des 21. Jahrhunderts für eine »effiziente, umwelt- und sozialverträgliche Landwirtschaft«52 , was einen Bezug auf das verbreitete 3-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit darstellt. 53 In dieser Trias ist Umweltverträglichkeit eines von drei Elementen der Schutzziele einer nachhaltigen Entwicklung, die mit Blick auf heutige und zukünftige Generationen von Menschen fordert, deren Lebensbedingungen in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht nicht zu verschlechtern. 54 Ist »Umweltgerechtigkeit« dann auch

A. Leopold, Sand County, 213 f. K. Marx, Kapital III, 784 52  Thüringisches Ministerium, 180 Jahre. 53  Enquete-Kommission, Konzept Nachhaltigkeit. 54  In jüngster Zeit ist von Kultur als vierter Säule oder Dimension nachhaltiger Entwicklung die Rede; vgl. R. Trattnigg / L. Krainer, Kulturelle Nachhaltigkeit; dabei scheint es vor allem um die gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen für ein Gelingen nachhaltiger Entwicklung zu gehen, nicht um eine bestimmte neue inhaltliche Dimension, also vor allem die vielberufene »Bildung für nachhaltige Entwicklung«. 50  51 

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nur ein Sektor einer Ethik der Landwirtschaft, die ihre Umweltbasis, nicht aber soziale Gerechtigkeit in den Blick nimmt? Wörtlich verstanden ist dies der Fall, so dass Umweltgerechtigkeit stets um soziale und ökonomische Gerechtigkeitsfragen zu erweitern ist, wenn sie nicht tautologisch für das Gesamte des Begriffs der Nachhaltigkeit bzw. der nachhaltigen Entwicklung stehen soll. Selbstverständlich geworden sind die Hinweise darauf, dass die inhaltliche Fassung dessen, was die Bedürfnisse kommender Generationen sein könnten oder und sein sollen, extrem schwierig aufzulisten sind, und dass es noch schwieriger sei, Kriterien für eine komparative Bewertung und Abwägung zu liefern. Auch die schwierigen Interpretationen des Nachhaltigkeitsbegriffs insgesamt sowie des so genannten Drei-SäulenModells sind intensiv diskutiert worden, wobei deutlich wurde, dass eine gegenseitige Verrechnung dieser Aspekte inakzeptabel ist.55 Doch es ist ja gerade das Geschäft der Philosophie, nicht die Schwierigkeit von Begriffen, Konzepten und Implementierungen zu konstatieren und sich dann in den vermeintlichen Elfenbeinturm zurück zu ziehen. Mit den Theorien starker Nachhaltigkeit liegen Versuche vor, methodisch, konzeptionell sowie inhaltlich gehaltvoll zur Begründung und Operationalisierung beizutragen. Geleistet werden konnten die Integration umweltbezogener, sozialer und ökonomischer Gerechtigkeitsfragen, Vorschläge zur methodischen Integration der empirischen Basis und der Szenarien sowie die Integration von Effizienzfragen.56 Was, so lautet bei Anerkennung der Möglichkeit einer normativen Theorie nachhaltiger Entwicklung eine mögliche Anschlussfrage, gehört dann nicht dazu? Wird so der Weg zu einer environmental ethics theory of everything eingeschlagen? Es scheint kein Weg daran vorbei zu gehen, zumindest alle, gerade auch die generellen und umfassenden Dinge zu bedenken. Abschließend seien nur einige genannt: a) Wie stark muss bzw. darf die globale Wirtschaftsordnung hinterfragt werden, was beispielsweise den EU-Agrarmarkt, die WTO-Verhandlungen über den Freihandel, die Fragen globaler geistiger Eigentumsrechte (Patente) angeht?; b) Wie stark muss bzw. darf ein Teil der nationalen Rechtsordnung hinterfragt werden, beispielsweise hinsichtlich der Rolle und des Ausmaßes der Sozialpflichtigkeit des Boden-Eigentums?; c) Wie stark müssen bzw. dürfen Lebensstile – und damit eudaimonistische Werte und Präferenzen – hinterfragt werden, was PhilosophInnen vieler Schulen bislang stets und mit guten Gründen zurückweisen? Nun sprechen auch gute Gründe dafür, private Präferenzen zumindest hinsichtlich der Umweltfolgen für alle im ethischen Diskurs zu verhandeln. Wie sind neben aller modischen Neuartigkeit die LOHAs (Lifestyle of Health and Sustainability) oder LOVOS (Lifestyle of Voluntary Simplicity) in einer systematischen Weise moralphilosophisch – nicht moralistisch – diskutierbar? Landwirtschaft ist dazu in doppelter Weise die Basis: Es ist der physische Boden, den sie bearbeitet, und es sind die Ernährungsweisen der Menschen, die sie (vielleicht nicht) gewährleisten kann. Eine umwelt-

Vgl. K. Ott / R. Döring, Theorie, 38 f. K. Ott / R. Döring, Theorie, enger zu ökonomischen Zweck-Mittel-Relationen vgl. D. Cansier, Umweltgerechtigkeit. 55 

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gerechte Landwirtschaft wird nicht um die Frage einer Ethik des Essens jenseits von Geschmacksfragen herum kommen. 57 Basisannahme und Ausgangspunkt einer Herangehensweise an umweltgerechte Landwirtschaft ist die Frage nach der Landnutzung. Und entsprechende Probleme resultieren nicht aus einem umweltethischen Konflikt zwischen »Mensch oder Natur« bzw. »Nutzung oder Natur«, sondern vielmehr aufgrund von unterschiedlichen Nutzungsansprüchen unterschiedlicher Menschen. Auch seien in Stichworten die Punkte genannt, die die politischen und ethischen Debatten bestimmten und zukünftig noch weiter prägen werden: a) Die Frage des gerechten Vorteilsausgleichs (besser englisch: access and benefit sharing) ist im Zusammenhang mit der UN Konvention über die biologische Vielfalt zu einem wichtigen Thema geworden, in dem es um geistige und materielle Rechte (auch, aber nicht nur Patente) bei der Nutzung gerade auch in der Landwirtschaft geht. 58 b) Sehr konkret stellen sich Fragen der Umnutzung landwirtschaftlicher Flächen der Nahrungsmittelproduktion für andere Zwecke der Biomassenutzung, insbesondere für die energetische Nutzung (»Agro-Treibstoffe«). 59 c) In jüngster Zeit ist der so genannte land grab von zunehmender Bedeutung – der Verkauf oder die Verpachtung von landwirtschaftlichen Flächen beispielsweise in Afrika durch reiche(re) Länder zum Zwecke der gleichsam auswärtigen Produktion landwirtschaftlicher Güter, wobei die Flächen den Einheimischen dann entsprechend nicht mehr zur Verfügung stehen. Hier geht es um eine neuartige Art der Verschärfung des bereits länger bestehenden Problems von cash crops zum Export in Konkurrenz zur lokalen Nahrungsmittelproduktion. d) Schließlich wird je nach Entwicklung der Punkte b) und c), aber auch der Folgen des Klimawandels sich die Frage der relativen und absoluten Grenze für die Menge landwirtschaftlicher Produkte stellen, die in enger Verbindung zur Größe der Weltbevölkerung steht. Aber, dies sei abschließend betont, die angemessene Ernährung von Menschen auf umweltgerechte Weise ist nicht in erster Linie eine der absoluten Grenzen der Urproduktion. Vielmehr handelt es sich um Folgen der Entscheidungen über die Art und Weise, wie Menschen sich global heute ernähren: Dies bezieht sich auf das Ausmaß des Fleischkonsums, die Frage jahreszeitlich und räumlich unbegrenzter Zurverfügungstellung bestimmter Produkte (vor allem Fleisch, aber jahreszeitlich und regional auch Obst, Gemüse) sowie der Art der Produktion selbst. 60 Damit wird die scheinbar rein private eudai-

Siehe dazu H. Lemke, Ethik, 437 f., obwohl er die zentralen (Umwelt)Gerechtigkeitsfragen eher kursorisch abhandelt, dafür jedoch ausgesprochen pointiert. Vgl. auch M. Korthals, Before dinner, T. Potthast / C. Baumgartner / E.- M. Engels, Die richtigen Maße. 58  Vgl. https: /  / www.cbd.int / abs / ir /. Vertrags- und gerechtigkeitstheoretisch nach Rawls ließe sich mit Bezug auf Landwirtschaft fragen, welche Handlungen der globale Zusammenhang zwischen Armut und Menschenrechten impliziert; vgl. T. Pogge, World Poverty. Mit einem anderen Ansatz und mit Blick auf Umweltfragen: T. Hayward, Constitutional environmental rights. 59  T. Kaphengst, »Nachhaltige Biomassenutzung«, N. Wiersbinski e. a., »Vilmer Thesen«. 60  Zur hier nicht weiter erörterten Frage der Gentechnik vgl. beispielsweise die Beiträge in T. Potthast / C. Baumgartner / E.- M. Engels, Die richtigen Maße. 57 

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monistische Moral des Essens zu einer genuin gerechtigkeitsethischen- und damit Teil einer umfassenden Konzeption nachhaltiger Entwicklung. 61 Die Frage nach philosophischen Perspektiven einer umweltgerechten Landwirtschaft bündelt also »große« historische, theoretische und ethische Perspektiven. Die akademische Philosophie hat im 20. Jahrhundert die Landwirtschaft aus dem Blick verloren, weil sie entweder nur als Teil der Landschaftsästhetik oder der Ökonomie oder des Natur- und Umweltschutzes verblieb. Hingegen bietet die Landwirtschaft in ihrer modernisierten und technisierten Form seit dem 19. Jahrhundert ein wenig untersuchtes Modell für eine Inter- und Transdisziplin, auch hinsichtlich zukünftiger Positionierungen der Wissenschaften für lebensweltliche Fragen. In ethischer Hinsicht führt sie von den aktuellen und ausgesprochen bedeutsamen Umweltaspekten weit in das Feld der Auseinandersetzung um gerechte Gesellschaften insgesamt.

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Mit Blick auf die Endlichkeit der Natur auf diesem Planeten erscheint mir eine Theorie starker Nachhaltigkeit als weitaus am besten begründet; vgl. K. Ott / R. Döring, Theorie. 61 

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Kolloquium 23  ·  Thomas Potthast

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Kolloquium 24 Philosophie der Wissenschaften vom Menschen

Oswald Schwemmer Einführung Ugo Perone Emotionalität als anthropologische Komponente

Einführung Oswald Schwemmer

Die Wissenschaften vom Menschen haben sich nach zwei Seiten zu orientieren. Auf der einen Seite gilt es die Naturseite des Menschen in den Blick zu nehmen und die biologischen Forschungen, insbesondere der Evolutions-und Primatentheorie, aber auch der »zwischen den disziplinären Fronten« arbeitenden Neuro, Entwicklungs- und Kognitionspsychologie, aufzunehmen. Auf der anderen Seite ist die Kulturseite des Menschen zu berücksichtigen und dabei die kulturelle Prägung seiner Existenzform- und damit auch die kulturelle Prägung seiner Natur  – wahrzunehmen. Die besondere Aufgabe einer Philosophie der Wissenschaften vom Menschen inmitten der natur- und kulturwissenschaftlichen Forschungen über den Menschen besteht dabei darin, das Zusammenwirken von Natur und Kultur in den verschiedenen phänomenal erschließbaren Dimensionen der menschlichen Existenz – in den Dimensionen der Expressivität und Emotionalität, der Sozialität und Individualität, der praktischen Weltverhältnisse und der symbolischen Formwelten  – zu erfassen und die Vieldimensionalität dieser Existenzform als die spezifische Form der menschlichen Existenz zu erkennen. Der Mensch, das ist ein Organismus in solidarischer Existenz mit und in der natürlichen Welt und das ist zugleich ein geistiges Wesen, das eine symbolische Existenz zwischen den Individuen und in den kulturellen Welten einer Gesellschaft oder auch einer Pluralität von Gesellschaften besitzt. Seine Identität gewinnt er in der Individuation organischer und symbolischer Formen, aber diese Individuation ist eingebunden in seine physischen und symbolischen Umgebungen, in denen und aus denen als einem »lebendigen Material« er sich zu sich selbst gestaltet. Die Freiheit der Individuation und das Eigensein der Umgebungsstrukturen stehen in einem Spannungsverhältnis, dessen beide Pole bewusst und beachtet bleiben müssen, die aber nie voneinander getrennt und nur noch einzeln zur Definition des Menschen gemacht werden dürfen. Und eben dies gilt auch für die Spannung zwischen der organischen und der symbolischen Existenz des Menschen, die sich sozusagen mit der zwischen Individuation und Umgebungsstruktur kreuzt. Für die Wissenschaften vom Menschen folgt daraus, dass sie den Querverbindungen zwischen diesen Spannungspolen und -feldern nachzugehen hat. Man kann diese Wissenschaften insgesamt als eine im doppelten Sinne ökologische Wissenschaft sehen: nämlich im Sinne der natürlichen Ökologie und einer Ökologie des Geistes. In jedem dieser beiden Verständnisse ist sie aber eine Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen der sich aufbauenden organischen und geistigen Identität und den natürlichen und symbolischen Umgebungen dieses Aufbaus. Was ausgespart bleibt und möglicherweise auch bleiben muss, weil es sich der wissenschaftlichen Methodik im Sinne einer theoretisierenden Rationalität entzieht, das ist die letztlich untheoretisierbare Individu-

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Kolloquium 24  ·  Oswald Schwemmer

ation, nämlich jener Akt der Freiheit, der die endgültige Gestaltung zur geistigen, aber auch zur organischen Identität bestimmt. Den drohenden Verlust dieser Möglichkeit zur Individuation und also Identität erkennen und die Möglichkeiten selbst erhalten und schaffen, wo es sie nicht gibt, dies ist auch eine Aufgabe für die Wissenschaften vom Menschen, die sich nicht in borniertem Ressortdenken hinter ihrer Methodik verschanzt, sondern die sich den Blick auf die ganze Existenz des Menschen – also auch dem, der höchstens in der Kunst auftritt und jedenfalls nicht in ihr selbst – frei hält. Wir wissen daher nur zu gut, warum wir die Wissenschaften vom Menschen brauchen. Wir brauchen, so können wir festhalten, Wissenschaften vom Menschen, die die Strukturen der sozialen und kulturellen Aspekte herausarbeiten, die sich mit den natürlichen Anlagen und Verhaltensweisen verknüpfen und in ihrer Verschränkung die menschliche Existenzform charakterisieren. Für dieses Kolloquium werden drei Felder solch verknüpfender Verschränkung thematisiert werden: das Feld der neurobiologischen Definitionsansprüche auf die geistige Existenzform des Menschen (Michael Pauen), das Feld der Diskurse im Raum der Gründe, die die Orientierung des Menschen in seiner Welt gewährleisen sollen (Lutz Wingert), und das Feld der emotionalen Fundierung und Fokussierung der menschlichen Welt- und Selbstverhältnisse (Ugo Perone). Diese Felder sind paradigmatisch für eine Sicht auf den Menschen, die sich nicht mehr vornehmlich und mancherorts sogar ausschließlich seinem Erkenntnisvermögen zuwendet und in eben diesem Vermögen seine Sonderstellung im Reich des Lebendigen auszumachen pflegt, sondern die sich der natürlichen, sozialen und emotionalen Grundlagen seiner geistigen Existenz versichert. Im Sinne einer eigenen Vorbemerkung lassen sich in dieser Sicht drei Struktur-Dimensionen charakterisieren, die die Entwicklung zur und dann in der Kultur in Gang setzen und vorantreiben. 1. Eine erste Dimension wird durch das Herstellen, das technische und jedenfalls werkzeugbenutzende Handeln eröffnet. Wo Werkzeuge benutzt werden und sich Techniken entwickeln, bilden sich gemeinsam verfügbare Handlungsformen aus, die zum Bestand einer Gemeinschaft gehören und die in diesem Sinne jederzeit und im Prinzip von jedermann abrufbar sind. In diesem Sinne besitzen im übrigen auch schon die rituellen Praktiken eine technische Seite, auch wenn hier die Herrschaft über die angezielten Wirkungen des Handelns nicht in der gleichen Weise gegeben ist wie bei dem »profanen« technischen Handeln. 2. Eine zweite Dimension ergibt sich durch die Symbolisierung. Durch Symbole werden Ausdrucksformen befestigt und Sinnverhältnisse erzeugt. Denn Symbole sind dingliche und damit öffentlich verfügbare Verweisungsgegenstände. Unmittelbar sind sie selbst Formen der Artikulation, allgemein identifizierbare und dadurch wiederholbare Ausdrucksformen, die auf bestimmte Situationen  – Konfigurationen des Handelns und Wahrnehmens  – oder Gegenstände verweisen und sie durch diese Verweisung als diese oder jene Situationen oder Gegenstände in ihrer Bestimmtheit befestigen. Eben dadurch entstehen auch Verweisungsgefüge zwischen diesen in ihrer Bestimmtheit symbolisch befestig-

Einführung

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ten Situationen und Gegenständen, entstehen Sinnverhältnisse sowohl innerhalb der symbolischen Welt als auch innerhalb der situativen und gegenständlichen Welten unseres Handelns und Wahrnehmens. Allgemein können wir sagen, dass über die Befestigung unserer Ausdrucks-, Handlungs- und Wahrnehmungsformen Verweisungsverhältnisse gebildet werden. Die symbolische Befestigung dieser Formen befestigt auch die Verweisungsverhältnisse und schafft damit einen gemeinsamen Bestand, macht Sinn zu einer sozialen Tatsache: Denn Sinn ist in seiner Grundform Verweisung, Zusammenhang, Ordnung. Sinn wird durch Form in die Welt gebracht, weil Form Verweisung, Zusammenhang und Ordnung ermöglicht. Sinn überhaupt entsteht in der Formbildung wie wir sie in unserer Wahrnehmen und Handeln und in unserer Artikulation vornehmen. Sozialer Sinn entsteht in der Symbolisierung, durch die wir diese Formbildung sowohl befestigen als auch durch die neuen Formbildungsformen, die damit erzeugt werden, neu gewinnen. 3. Eine dritte Dimension erschließt über die Möglichkeiten des Lernens und der Traditionsbildung, die eine gemeinsame und dauerhafte Aneignung von Formbildungen und damit eine gemeinsame Kultur entstehen lassen. Die besondere Hervorhebung der Traditionsbildung wird vor allem dadurch nahe gelegt, dass im Bereich der evolutionsbiologischen Ethologie1 ein Kulturbegriff favorisiert wird, der ohne jeden Bezug auf Traditionsbildung auszukommen versucht. So wird jedes nicht–genetisch geprägte Lernen bereits als eine Kulturleistung gesehen. Beispiele dafür liefern Affen, die mit Steinen Nüsse zu knacken lernen. Das, was diese Lernleistungen aber nicht erzeugen, ist eine Tradition, d. h. eine Etablierung der gelernten Fähigkeiten als einem ein für allemal erworbenen kollektiven Besitz über das Leben der Individuen hinaus. Es muss vielmehr jedes Individuum dieselben Fähigkeiten neu lernen. 2 Es gibt so keinen Fortschritt, kein neues Lernen, das auf dem bereits erreichten Niveau als einem festen Bestand von gelernten Fähigkeiten aufbaut. Anders gesagt: Es gibt keinen sozial wirksamen Mechanismus der Bewahrung einmal erlernter Fähigkeiten über die immer wieder aktualisierten Lernsituationen hinaus. Es gibt keine Traditionsbildung, keine immer weitere Ausbildung und Ausbreitung der WahrnehmungsÄußerungsformen über das Leben und Lernen der Individuen hinaus. Tradition schafft einen kollektiven Besitz des Gekonnten und nutzt diesen Besitz als Grundlage für dessen Weiterbildung zu einer höheren Stufe des Gekonnten. Es entsteht damit eine Art »Wagenhebereffekt«, 3 der eine immanente Fortentwicklung der Wahrnehmungs-Äußerungsformen zu symbolischen Formen und damit eine kulturelle Entwicklung möglich macht.

F. de Waal, Der Affe und der Sushimeister. Vgl. dazu N. Meuter, Anthropologie des Ausdrucks, 301–322. 3  Vgl. dazu M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 15, 49 f., 54, 69, 234. 1  2 

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Vergleicht man diese drei Dimensionen der Kulturentwicklung, dann sieht man, dass sie aufeinander bezogen und ineinander verschränkt sein müssen, um Kultur entstehen zu lassen. Im Herstellen ergeben sich schon stabile Verweisungsverhältnisse und damit auch symbolische Bezüge.4 Und Symbolisierungen sind angewiesen auf eine ursprüngliche Einbettung in Handlungsformen, in Praktiken und Techniken, um überhaupt Verweisungsverhältnisse begründen zu können. Und schließlich ist die Traditionsbildung nur möglich, wo wir beides – Herstellungs- und Symbolisierungsformen – zur Verfügung haben. Andererseits werden durch die Formbildungen in allen drei Dimensionen in jeder der anderen Dimensionen neue Entwicklungen möglich, die insgesamt und in ihrer Verschränkung dann jene Welt der technischen und symbolischen Formen ausmachen, die in einer Gesellschaft zum gemeinsamen Bestand geworden sind und damit deren Kultur ausmachen. In einem engeren Sinne stellen wir allerdings oft Kultur und Technik einander gegenüber und sehen in einer Kultur das Ensemble der in einer Gesellschaft sedimentierten Ausdrucksformen und Artikulationsmedien – einschließlich der in diesen Formen und Medien realisierten »Werke« als den Paradigmen für die Verwendung dieser Formen und Medien. Diese Eingrenzung des Kulturbegriffs macht insofern Sinn, als technisches Handeln und symbolische Artikulation strukturell deutlich verschieden sind  – auch wenn sie funktional aufeinander bezogen bleiben. 5 Solange man diesen funktionalen Bezug sieht und gleichsam als »Generalklausel« in die Untersuchungen der Struktur symbolischer Artikulation einbezieht – wobei die Untersuchung der »Kulturtechniken« ein besonderer und zentraler Gegenstand dieser Untersuchungen bleiben –, liefert der engere Kulturbegriff eine wohl fundierte Orientierung für die Wissenschaften vom Menschen. Das Hauptthema, das sich in dieser Orientierung herausbildet, ist das Wechselverhältnis von kulturellen Ausdrucksformen und individueller Artikulation. Denn mit der kulturellen Symbolisierung sind uns für unsere Artikulationsmöglichkeiten strukturelle Vorgaben entstanden, die nicht nur äußere Bedingungen unserer Artikulation sind, zu denen wir uns in unbeteiligter Distanz verhalten könnten. Sie gehen vielmehr in die innersten Regungen unseres Bewusstseinslebens und in unsere Artikulationsleistungen ein, prägen uns selbst dort, wo wir uns um die Eigenständigkeit unseres geistigen Lebens bemühen. Denn Sprechen können wir nur in einer Sprache – und diese nicht nur als ein grammatisches System mit einem Lexikon verstanden, sondern auch als die Gegenwart des Gesagten, als die konkrete Welt der Äußerungen, die sie geformt hat und die im Netz ihrer vielfältigen Assoziationsfelder aufbewahrt ist. Und dies gilt für alle anderen Artikulationsmedien auch: Unsere Mimik, Gestik und unsere Körperbewegungen lassen sich in sozusagen sprachförmige Verweisungsfelder einfügen, in denen sie ihre Bedeutung gewinnen.

4  Nicht umsonst sieht Ernst Cassirer daher auch in der Technik eine symbolische Form. Vgl. dazu vor allem seine Studie »Form und Technik«. 5  Vgl. dazu Oswald Schwemmer, Kulturphilosophie, 35 ff.

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Damit gilt, dass wir uns mit jeder Artikulation und jeder Handlung zu einem bereits Geformtem und einem bereits Getanen verhalten. Weniger abstrakt ausgedrückt: In allem, was wir sagen, verhalten wir uns zu dem, was bereits gesagt worden ist. In allem, was wir tun, verhalten wir uns zu dem, was bereits getan worden ist. Dass wir uns in unseren Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Ausdrucksleistungen, dass wir uns in unserer ganzen tätigen Existenz zu dem bereits in eine Ausdrucksform Gebrachten und dem in ihr Erhaltenen verhalten, heißt dann, dass unser ganzes geistigen Leben bis in sein Innerstes hinein von unserer Kultur geprägt ist. Diese Prägung ist kein von außen auferlegter Zwang, sondern ein »Angebot«, in dessen durchaus individueller und höchst unterschiedlicher Annahme wir überhaupt erst zu einer Form unserer Äußerungen, zu einer Artikulation unseres Ausdrucks kommen. Es ist diese Verschränkung von persönlicher Artikulation und kulturellen Ausdrucksformen, die in ihrem wechselseitigen Wirkungsverhältnis zu sehen ist. Ohne die vorgegebenen oder vorgefundenen Formen der Artikulation wären wir weitgehend orientierungslos. Ohne die individuelle Weiterformung und Umformung des Geformten geriete Kultur zu einem starren Gebilde, zu einem »Gehäuse der Hörigkeit6« besonderer Art. Diese individuelle Weiter- und Umformung schafft neue »kulturelle Tatsachen«.7 Schon in dem Augenblick, in dem wir z. B. etwas sagen, beginnt unsere Äußerung ein Eigenleben zu führen. Sie wird zum Teil einer Sprache, in der auch andere und im übrigen auch wir selbst in anderen Situationen ebenfalls etwas sagen oder schreiben. Sie geht dabei vielfältige Verbindungen mit diesem Übrigen in dieser Sprache Gesagten und Geschriebenen ein, Verbindungen, die wir in unserem Reden weder überschaut haben noch überschauen konnten. Wir leben daher in einer stetigen Differenz von einem sich erst bildendem Ausdruckswillen und der von ihm im Medium der symbolischen Formbildungsformen gebildeten Ausdrucksform. Diese Differenz ist nicht zu schließen. Sie gründet im Eigenrecht der symbolisch befestigten Sinnverbindungen, in der – wie Ernst Cassirer sie benennt – »Andersheit der Form«. Sie erzeugt die Differenz der Form zum individuellen Ausdruckswillen. Diese Differenz lässt sich  – in einer Art »metaphysischer Verallgemeinerung« – als eine Spannung oder, wie die Philosophie immer wieder formuliert hat, eine Dialektik zwischen dem Eigenen des Selbstseins und der Andersheit der Form, zwischen Selbstsein und Andersheit überhaupt, ausdeuten. Diese Dialektik von Selbstsein und Andersheit können wir dabei auf drei Ebenen ansiedeln. Es wäre dann von der Andersheit der Medialität, der Andersheit der Anderen und der Andersheit der anderen Kulturen zu reden. Hier mag es genügen, auf die erste Ebene hinzuweisen, die Andersheit der Medialität. Unser Welt- und Selbstverhältnis ist nicht unmittelbar. Wir sahen schon, dass wir uns in unserer Artikulation zu dem bereits Artikulierten verhalten – dem bereits Gesagten, Gezeigten etc. Aber auch für unser Wahrnehmen gilt: Wir sehen durch die Bilder, die wir gesehen haben, hindurch, was wir sehen. Die gemachten Bilder machen uns so sehen, wie wir sehen und wie wir übersehen. Unsere Bildwelten sind daher immer auch 6  7 

M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 835. Vgl. dazu R. Konersmann, Kulturelle Tatsachen.

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geführte Sehwelten, die uns nicht nur Sichten öffnen, sondern auch verdecken oder doch verdunkeln können. Wir hören durch die Werke unserer Tonwelten und übrigens auch unserer Geräusch- und Lautwelten, hindurch, was wir hören. Und so können wir fortfahren und diese Formulierung für alle unsere Sinne in der entsprechenden sinnesspezifischen Variation wiederholen. Über die Welt der Formen dringen die Strukturen dieser Formen in unsere Artikulation, in unsere Wahrnehmung ein. Den Weg dieses Eindringens können wir über die Analyse der Strukturprinzipien, über die Formbildungsformen der Medien, in denen wir uns artikulieren, verfolgen. Die medialen Formbildungsformen können wir in diesem Sinne als eine Art »Tiefengrammatik« unseres Denkens auffassen. Es sind solche Prägungsverhältnisse unseres Denkens, unserer individuellen Artikulation durch kulturelle Artikulationsformen, die in Projekten der Wissenschaften vom Menschen zu untersuchen sind. Zugleich aber sind diese Formen der Artikulation als Ausdrucksformen zu entdecken, in denen auch die natürlichen Wurzeln unserer Emotionalität und Expressivität präsent und zu analysieren sind.

Literatur Cassirer, Ernst: »Form und Technik«, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Birgit Recki. Band 11: Aufsätze und Kleine Schriften (1927–1932), Hamburg 2001, 139–183. Konersmann, Ralf: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M. 2006. Meuter, Norbert: Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006. Schwemmer, Oswald: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005. Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt a. M. 2002. Waal, Frans de: Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere, München 2002. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß einer verstehenden Soziologie, Tübingen 51972.

Emotionalität als anthropologische Komponente Ugo Perone

Dieser Beitrag entspricht dem Vortrag, den ich während des Kongresses gehalten habe. Nach langer Überlegung habe ich mich für die ursprüngliche Fassung entschieden, auch wenn die Abhandlung wegen der Kürze der Zeit von einer gewissen Unzulänglichkeit behaftet war. Für diese thesenhafte und plakative Darstellungsart habe ich damals an die Freundlichkeit eines freien und offenen Zuhörens appelliert. Die schriftliche Form, die die Grenzen der Zeit nicht zu berücksichtigen braucht, hätte wagen können, mein Vorhaben nuancierter und vollständiger darzustellen. Dafür aber wäre nicht nur eine sicherere Beherrschung der deutschen Sprache nötig, sondern auch eine vollkommen neue Bearbeitung des Stoffes. Es bleibt mir so nichts Anderes übrig, als mich wieder an die Freundlichkeit (diesmal des Lesers) zu wenden, in der Hoffnung, dass gerade der synthetische und programmatische Stil meines Beitrags zu dem erwünschten Mitdenken führen kann. Ich kann hier aber nicht versäumen, mich erneut beim Kollegen Oswald Schwemmer, dessen Anregung für die Auswahl des Themas entscheidend gewesen ist und dem ich (sprachlich und inhaltlich) viel schuldig bin, zu bedanken.

1.  Die erste Frage, die man sich stellen kann, ist die, in welcher Beziehung das Emotionale und das Rationale stehen. Es ist offenkundig, dass für uns, in einem ersten und allgemeinen Verständnis, diese Beziehung den Charakter eines Gegensatzes hat. Die Vernunft ist nicht Gefühl, und in ihren Beschreibungen stehen die Züge eines rationalen Handelns im Kontrast zu den Zügen eines emotionalen Fühlens. Man könnte diese verbreitete Meinung als Erbe eines philosophischen Prozesses sehen, der seine Wurzeln schon bei Descartes hat und der durch die Entwicklungen der Philosophie in der Moderne immer wieder seine Bestätigung fand. Seit Descartes wurde der Vernunft die Aufgabe zuteil, die irrationalen Impulse der Emotionalität unter strenger Kontrolle zu halten. Gefühle und Leidenschaften sind nichts Negatives, solange die Vernunft über sie regiert, so wie der Reiter (mal die Zügel lockernd, mal sie anziehend) das Tempo seines Pferdes bestimmt. Gegen diese Beschreibung lässt sich vieles einwenden. Wenn wir von der Gegenwart ausgehen, stellen wir fest, dass sogar die neurobiologischen Studien und das, was man unter dem Namen von cognitive science versteht, diese grobe Opposition längst verworfen haben. Sie haben tatsächlich die vielleicht verborgene und manchmal verworrene Rationalität des Emotionalen anerkannt und sich mit Entschiedenheit gegen

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jeden Dualismus ausgesprochen. Eine philosophy of mind sieht nun in den Gefühlen ein kognitives Potential, das mit dem Verstand kooperiert. Aber auch rückblickend auf die Tradition der Philosophie könnte man noch stärkere Argumente gegen diesen Gegensatz von Gefühl und Vernunft finden. Jeder kennt die überragende Rolle, die von Plato und Aristoteles dem Staunen zugewiesen wurde: Die Philosophie als solche fängt damit an. Es handelt sich dabei nicht um eine rhetorische Formel, sondern um eine – anthropologisch gesehen – entscheidende Bemerkung: Das Wissen fängt mit der Unmittelbarkeit eines Gefühls an und Ziel der vermittelnden Vernunft ist es, dieses anfängliche Staunen so sehr zu erweitern und zu vertiefen, dass es zu einem metaphysischen Konzept führt. Die Vernunft ist dann eine Mittelbarkeit, die die Unmittelbarkeit des Emotionalen bestätigt und erweitert. Wie Platon im Höhlengleichnis zeigt, ist das Staunen nicht nur ein Staunen über die Sache selbst, sondern das Sich  – Wundern über die unerwartete Beziehung zwischen dem Fremden, das in der Sache steckt, und dem Vertrauten, das das Eigene auszeichnet. Nachdem er die Eigenartigkeit der Einwohner der Höhle beschrieben hat, muss Platon aber voll Staunen bemerken, dass diese eigenartigen, fast fremden Figuren uns ähnlich sind. Diese klassische Lösung wurde später, wie wir wissen, am Anfang der Moderne in Frage gestellt. Wie Descartes exemplarisch zeigt, fängt die Philosophie nicht mehr mit dem Staunen an, sondern beim Zweifel, also mit einer vermittelten und vermittelnden Reaktion auf Angst  – und damit schon mit dem Versuch, durch eine Verdoppelung, durch die Schaffung einer Zweiheit im Zweifel, eine gewisse Kontrolle über die Unmittelbarkeit des Emotionalen zu erlangen. Diese Haltung hat zur Folge, dass die ganze Last der philosophischen Arbeit auf die Vernunft übertragen wird: Die Vernunft entscheidet nicht nur über die Wahrheit einer Aussage, sondern bestimmt sogar den ontologischen Gehalt eines Wahrheitsanspruches und bietet sich in einem Horizont an, in dem die Unmittelbarkeit der Tradition als der bis dahin einzig möglichen Vermittlung überlieferter Inhalte unterbrochen ist. Die Gefühle zeichnen sich negativ ab, als Leidenschaften, als Erbe einer vergangenen Ordnung, die nun neu geordnet werden muss. Was ich hier aber betonen möchte, sind nicht so sehr die unterschiedlichen philosophischen Varianten der Beziehung zwischen Gefühl und Vernunft, sondern die enge wechselseitige Verknüpfung, die dadurch zwischen dem dominierenden Gefühl und dem Verständnis, das die Vernunft reflexiv über sich selbst hat, entsteht. Wo das bestimmende Gefühl das Staunen ist, nimmt die Vernunft die Gestalt einer harmonischen und bis zu einem metaphysischen Wissen öffnenden Kraft an. Wo hingegen die Angst bestimmend wirkt, da versteift die Vernunft sich zu einer wachsamen Kontrollkraft. Es steht außer Frage, dass die Varianten dieser Beziehung mehr sind als nur diese zwei, die ich hier typologisch erwähnt habe. Für mich ist es aber entscheidend, aus solchen Überlegungen diesen einfachen Schluss zu ziehen: Unser Vernunftverständnis ist mit unserem Verständnis des Emotionalen verbunden.

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2.  Jetzt möchte ich einen zweiten Aspekt betonen. Er wurde schon implizit erwähnt, soll nun aber explizit behandelt werden. Wir haben das Emotionale mit der Unmittelbarkeit und das Rationale mit der Vermittlung verbunden. Damit wollen wir aber keine zu eng bemessene philosophische Theorie annehmen, sondern die Aufmerksamkeit auf die einfache Tatsache richten, dass Emotionen und Gefühle Ausdruck einer unmittelbaren Kraft sind, während rationale Überlegungen und Gründe ein zweites, reflexives Moment darstellen. Das Gefühl verkörpert etwas, das in mir ist, aber nicht vollkommen in meiner Macht steht: eine Kraft, die sich mit der Unmittelbarkeit ihrer Stärke durchsetzt. Die Vernunft ist ein Ermessen, das diese Unmittelbarkeit bemisst. Die Vernunft ist ein Schritt zurück und ein Schritt vorwärts; sie vermittelt die Unmittelbarkeit, indem sie von ihr Abstand nimmt, um über sie hinaus zu gehen – über das Gefühl hinaus in die Richtung einer Theorie. Die Differenz zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit zwingt also nicht zu dem Schluss, dass Emotionen und Vernunft zueinander in einem Gegensatz stehen. Das metaphysische Gebilde der klassischen Philosophie war im Gegenteil der Beweis eines möglichen Zusammenwirkens dieser zwei unterschiedlichen Aspekte. Das ist, was wir naiv nennen: eine Welt der harmonischen Zusammengehörigkeit der Unterschiede, eine Kulturwelt, in der man ohne Brüche lebte und gleichzeitig die Unterschiede zu einer Einheit zurückführen durfte. Schiller hat diese Welt eindrucksvoll beschrieben. Sein Meisterzug war es aber, gegen die ganze Ästhetik des 18. Jahrhunderts zu erklären, dass die naive Welt vergangen sei. Naiv benennen wir das, was wir waren, aber nicht mehr sind. Diese Brücke zwischen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit ist und bleibt zertrümmert. Gerade daraus entsteht die Haltung der Moderne, eine Haltung, die die Modernität ausgebaut und verschärft hat. Die Unmöglichkeit der Modernität, wieder naiv zu sein, bedeutet eine Spaltung zwischen Gefühl und Vernunft. Der Riss, der entsteht, führt zu einer scharfen Opposition zwischen den beiden und lässt die Differenz zwischen Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit zu einem schroffen Gegensatz erstarren. Die Zeit einer sola ratione (um Luther nachzuahmen) zeichnet sich ab  – und gerade dadurch auch die Zeit einer gleichsam verschärften Gegenwärtigkeit der emotionalen Gegenkraft. Die Moderne, und mehr noch die Modernität, sehnt sich mit Ambivalenz nach einem Verlorenen: Sie liebt die Unmittelbarkeit des Emotionalen, fürchtet sich aber davor. So zersplittert sie die verlorene Einheit des Gefühls in die Vielheit der Emotionen und preist deren Unmittelbarkeit, gibt dabei aber jeglichen Versuch auf, sie zu einem einheitlichen Sinn zu führen. Wir streben nach dem, was wir nicht mehr sind – eine schlechte Unendlichkeit –, gleichzeitig hüten wir uns aber vor dem, was wir waren – eine Vernunft als Kontrollkraft. Die Moderne, das ist Diskontinuität: Ihr Vorhaben ist ein Neues, das aber die Aufgaben des Alten erfüllt. Im Projekt der Moderne mischen sich Stolz, Großzügigkeit und ein Streben, die Zukunft zu gestalten. Entgegen der Behauptung vieler angesehener Interpreten der Moderne kann man m. E. feststellen, dass dieses Projekt durchaus Erfolg hatte (so verwirklichte die französische Revolution politisch immanent die Ziele der Moderne). Damit entsteht allerdings eine unerwartete Lage: die Unmöglichkeit des

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Neuen, neue Inhalte zu erzeugen. Es ist diese Situation, in der sich das herausbildet, was ich Modernität nenne: eben ein Neues, das nicht durch neue Inhalte bestimmt wird, sondern nur durch die unendliche Wiederholung des bloßen Gestus, der Neues schon und allein um des Neuen willen erzeugt. Die Modernität setzt die Moderne zwar fort, tut dies aber erst dort, wo diese ihre Erfüllung schon erreicht hat. Sie wird dadurch zu einem unmöglichen Unternehmen, das nihilistische Keime enthält. Reicht angesichts einer solchen Situation der schon erwähnte Versuch der Neurobiologie, erneut eine Brücke zwischen diesen zwei fundamentalen anthropologischen Aspekten zu schlagen? Meiner Meinung nach nicht. Der prinzipielle Einwand, den ich gegen diesen Versuch richten kann, lautet, dass die neurobiologische Forschung nach einem evolutionären Muster arbeitet, das naturgemäß die Brüche der Geschichte vernachlässigt. In dieser Perspektive wird ein Modell der Einheit des Menschen (vom Elementaren bis zum Komplexen) verwendet, das sicher lobenswert und gut gemeint ist, das aber gegen phänomenologische Befunde verstößt, gegen eben die Tatsache, die wir tagtäglich erleben, nämlich die unüberwundene Spannung zwischen Emotionalem und Rationalem1. Durch eine kulturhistorische Entwicklung hat diese Spannung die Form einer Kluft und einer Zäsur angenommen und wird als ein Widerspruch empfunden. Die vermeintliche oder tatsächliche organische Einheit der zwei Elemente besagt dann nichts Entscheidendes über die Lage, in der wir uns befinden. Nicht anders als die Metaphysik stellt die Neurobiologie eine Theorie dar, die wir nicht nutzen können, um den jetzigen konkreten Menschen und unsere gesellschaftliche Entwicklung zu verstehen.

3.  Die quaestio Gefühl ist in der heutigen Situation mehr als die Eröffnung eines neuen Arbeitsthemas; sie fordert die Philosophie dazu heraus, sich einem Verdrängten zu widmen und gerade dadurch ein all zu sehr Bekanntes (das Rationale) neu zu verstehen. In diesem zweiten Teil meines Referates werde ich zuerst durch eine allgemeine und prinzipielle Darstellung und dann anhand eines spezifischen Falls versuchen, erste Elemente zur Erörterung des Problems zu schildern. Die Verknüpfung zwischen Emotionalem und Rationalem ist, wie gesagt, nach der Zäsur der Moderne in einen Gegensatz umgeschlagen. Diese Zäsur aber kann nicht rückgängig gemacht werden. Der Weg zurück zu einer einfachen Wiedergewinnung der Unmittelbarkeit des Emotionalen bleibt versperrt; aber auch der Weg nach vorne, die Suche nach einer dialektischen Vernunft, die diese Unterbrechung der Tradition, diesen

1  Im Gefühl, und nicht nur in den Emotionen, ist ein subversives Potential enthalten. Das Gefühl ist wohl ein Teil des Lebens, aber es ist auch ein Störfaktor. Zu viel Freude wie zu viel Leiden unterbrechen die Alltäglichkeit des Lebens. Sie haben, in diesem Sinne, bedrohlichen Charakter. Wie M. Nussbaum erkennt, sind sie Upheavals – Umbrüche. Nussbaum, all zu nah an den neurobiologischen Forschungen, spricht aber von Emotionen, die das Denken, und nicht das Leben erschüttern. Vgl. M. Nussbaum, Upheavals of Thought.

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Bruch der Geschichte aufhebt, ist vergeblich. Es bleibt m. E. nichts anderes übrig, als diesen Bruch als eine unüberwindliche Schranke zu verstehen. In meinem persönlichen Wortschatz spielen die Unterschiede zwischen Grenze, Schranke und Schwelle eine wichtige Rolle. Die Grenze enthält subjektive Elemente: Sie weist auf eine Einschränkung hin, die das Subjekt sich zu eigen macht; dagegen zeigt die Schranke objektive Elemente: Man kann sie nicht setzen, man begegnet ihr. Die Grenzen werden eingeführt, gegen die Schranke stößt man (die letzte unüberwindbare Schranke ist der Tod). Es ist illusorisch zu glauben, dass jede Schranke in eine Grenze umgewandelt werden kann. Die Schwelle schließlich ist die Aufnahme der Schranke als einer Einschränkung, die zwar gegeben und nicht gesetzt, gleichwohl aber interpretationsfähig ist: Sie ist symbolisch, Zeichen einer Endlichkeit, die sich in und trotz der gegebenen Einschränkung ausdehnen kann: In diesem errungenen Raum entfaltet sich die Existenz. Diese Konstellation (die die Schranke als Schwelle uminterpretiert) gibt der Vernunft eine neue, unerwartete Aufgabe: Zwar kann sie das Zerschlagene nicht zusammenfügen; sie kann aber die Erinnerung an das Verlorene aufbewahren. In der Philosophie ist der Wunsch immer am Werk, wie Adorno erkannte; dieser Wunsch ist aber kein Entkommen nach vorne, denn er bringt auch eine Not und ein Bedürfnis mit sich. Das Verlorene bleibt verloren, aber die Erinnerung an den Verlust bestimmt die Handlung und zwingt so die Vernunft immer wieder zu diesem Verlust zurück wie zu einer schmerzenden Wunde, mit der man umzugehen zu lernen hat. Die Vernunft setzt weder die verlorene Einheit noch ersetzt sie diese noch enthält sie ein geheimes Prinzip der Einheit. Die Vernunft hält sich nicht in der Extraterritorialität einer heilen und intakten Welt auf. Sie trägt selber Wunden, die nicht heilen. Aber sie kann die Wunde schützen und dadurch in der Form einer gewussten Diskontinuität eine Tradition (im Sinne vom tradere) neu ermöglichen; eine Über- lieferung, die auch eine Über- tragung und eine Über- setzung ist. Eine solche Art der Vernunft sieht die Wahrheit als Schutz an und weniger als Übereinstimmung (wie in der klassischen Philosophie) oder als Enthüllung (wie bei Heidegger). Die ursprüngliche verlorene Einheit schützend kann die philosophische Vernunft ein Neues wagen: ein hermeneutisches Projekt, wo die Wahrheit inventio ist, d. h. eine bewusste Erfindung, die durch ihre Fähigkeit, den Aufgaben der Zeit gerecht zu werden, Bestätigung findet. Dadurch entsteht eine neue Art der Übereinstimmung: nicht als eindeutige Abbildung des Wirklichen, sondern als Entsprechung zur Welt als einem noch nicht in seine Einzelheiten aufgeteilten Ganzen. Indem die Philosophie die Wahrheit aussagt, besagt sie nicht durch Worte »wie es denn eigentlich gewesen ist« (ein Wahrheitsbegriff, der, wie Benjamin sagt, die Wahrheit zu etwas abtut, das »uns nicht davonlaufen [wird]«2), sondern verleiht der gegeben Welt durch die Freiheit einer Interpretation einen möglichen Sinn. Sicher strebt die Interpretation danach, der gegebenen Welt zu entsprechen, doch hat sie die Form einer Entsprechung zwischen dem Totalitätssinn der Interpretation und der Gesamtkette der Befunde der Welt und nicht der einer einfachen, jedes einzelne Element betreffenden Übereinstimmung. Dieses

2 

W. Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, V und VI.

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Interpretationsprinzip überwindet nicht die Zäsur zwischen Worten und Dingen, es sucht keine Übereinstimmung, sondern wagt eine Entsprechung zwei getrennt bleibender Sphären.

4.  Welche Folgen hat das Gesagte für das Thema der Emotionalität? Wenn die Verbindung zwischen der Unmittelbarkeit des Gefühls und dem vermittelnden Vermögen der Vernunft verloren gegangen ist, reicht es nicht aus, noch einmal an die Kraft des Gefühls zu appellieren, um die Vernunft zu erneuern. Wenn die Verbindung unterbrochen ist, nützt auch kein Zurechtrücken des Emotionalen. D. h. es reicht nicht aus, die Defizite der Vernunft mit einer Prise Gefühlsaufmerksamkeit wieder auszugleichen. Man braucht vielmehr eine Umkehrung der Vernunft, eine schützende Umwendung zurück zum verlorenen Ursprung. Dort, wo der Ursprung verloren ist, bleibt noch ein Gefühl für das Verlorene. Es ist nicht zufällig, dass nach Schleiermacher und Kant dem Gefühl eine unendliche Kraft zugeschrieben wird. Liest man die Kritik der Urteilskraft, entdeckt man einen unerwarteten und reichen Wortschatz der Gefühle. In wenigen Paragraphen (23–29) tauchen dann Ausdrücke wie Wohlgefallen3 , Bewunderung4 , Frohsein5, Achtung6 , Erschütterung 7, Furcht 8 , Schrecken9, Gräßlichkeit 10 , Verwunderung, Schreck, Grausen und letztendlich der heilige Schauer 11 auf. Das Erhabene, wovon hier die Rede ist, ist Zeichen einer Unermesslichkeit, der gegenüber die einfache Vernunft, die zwischen Abstoßen und Anziehen12 schwankt, sich als unangemessen entblößt. Das Gefühl wird zu einer Unendlichkeit, da in der Modernität, wie wir festgestellt haben, das continuum, die ineinander verwobene Verbindung zwischen Emotionalem und Rationalem zerrissen wurde. Die Unendlichkeit des Gefühls verlagert den Schwerpunkt des Gefühls  – wie unsere Gesellschaft ständig bestätigt – von der Sache zum Subjekt. Das Gefühl ist nicht mehr ein Staunen über die Unendlichkeit der Sache, es legt für diese Unendlichkeit kein Zeugnis mehr ab, sondern es ist zum Staunen über die eigene unendliche Kraft geworden, über die potenzielle Unendlichkeit des Subjekts, das über die Sache selbst hinausragt. So schafft das Gefühl seine eigene Welt, in der die unterbrochene Kontinuität der Geschichte durch ein eigenes, ein neues continuum ersetzt wird.

3  4  5  6  7  8  9  10  11  12 

I. Kant: KdU, 75. Ebd., 76. Ebd., 103. Ebd., 76. Ebd., 98. Ebd., 102. Ebd., 103. Ebd., 77. Ebd., 117. Ebd., 98.

Emotionalität als anthropologische Komponente

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Nichtsdestoweniger steckt aber in den Verwandlungen des Gefühls eine unausgeschöpfte Kraft. Es tut Not, uns wieder an die erwähnten unterschiedlichen Gefühltypen zu wenden: dies aber ohne jede Illusion, den Lauf der Geschichte umkehren zu können. Eine solche Umkehrung ist unmöglich; möglich ist es aber, die bei der Entstehung jeder neuen Epoche vernachlässigten Elemente wieder ins Auge zu fassen. Wie der vergessene Pelzpuff, von dem Benjamin in Berliner Kindheit erzählt, bringt diese Haltung uns zurück zu den entscheidenden Momenten des Ursprungs, dorthin, wo noch ein Zusammenhang mehrerer Motive wie ein Glückversprechen besteht: Wir finden dort Versprechen, die nicht eingehalten worden, die aber noch zukunftsfähig sind. Diese Versprechen könnten zur Modernität gehören, auch wenn sie nicht Teil ihrer jetzigen Form sind. Sie können auch aus einer fernen Vergangenheit kommen: Das Staunen der klassischen Philosophie z. B. bewahrt auch für uns die objektive Dringlichkeit einer Andersheit, die für das Subjekt ein Außen ist; der moderne Zweifel stellt auch für uns fest, dass die Unmittelbarkeit einer Beziehung zu dieser Andersheit uns versperrt bleibt; die Unendlichkeit des Gefühls in der Modernität beweist auch für uns die Tatsache, dass das Sinnliche und Materielle des Gefühls das Höhere und Erhabene kreuzt und irgendwie sogar beinhaltet. Im Gefühl kündigt sich die Kraft des Objektiven an und nicht, wie man irrtümlicher Weise behauptet, die Kraft des Subjektes: Es ist die Fremdheit der Welt, die sich im Gefühl ankündigt; es ist die Seltsamkeit des Lebens, die sich im Gefühl meldet. Und all dies, was mir fremd ist und als ein Fremdes mich zum Staunen zwingt, ist doch mein Eigenes. Dies sagt uns das Emotionale. In der Moderne ist zwar nicht die Möglichkeit gegeben, uns mit der Andersheit der Welt und des Lebens zu versöhnen, doch die Kraft, uns daran zu erinnern, dass wir nicht weiter denken können, ohne uns behutsam an das zu wenden, was uns als Narbe und Stigma geblieben ist und unsere gründende conditio humana ausmacht. Wir sind Welt und Leben, ohne ihnen zu gehören. Aber was wir eigentlich sind, kann nicht ohne unsere Teilnahme an der Welt und am Leben gesagt werden.

5.  Abschließend untersuche ich wie angekündigt einen prägnanten Fall, in dem Emotionalität und Rationalität sich kreuzen, nämlich den schon bei Heidegger erwähnten Fall, in dem das Emotionale der Gewalt mit dem Rationalen der Wahrheit kollidiert. Heidegger schreibt: Die Freilegung des ursprünglichen Seins des Daseins muß ihm vielmehr im Gegenzug zur verfallenden ontisch – ontologischen Auslegungstendenz abgerungen werden. […] Die Seinsart des Seins fordert daher von einer ontologischen Interpretation, die sich die Ursprünglichkeit der phänomenalen Aufweisung zum Ziel gesetzt hat, daß sie sich das Sein dieses Seienden gegen seine eigene Verdeckungstendenz erobert. Die existenziale Analyse hat daher für die Ansprüche bzw. die Genügsamkeit und beruhigte Selbstverständlichkeit der alltäglichen Auslegung ständig den

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Charakter einer Gewaltsamkeit. Dieser Charakter zeichnet zwar die Ontologie des Daseins besonders aus, er eignet aber jeder Interpretation, weil das in ihr sich ausbildende Verstehen die Struktur des Entwerfens hat.13 Der Heideggersche Text zeigt, wie eine Interpretation, die über die alltägliche Daseinsauslegung hinaus gehen möchte, einen Gegenzug braucht und Gewalt ausübt. Heidegger verflicht Gewalt, Interpretation und Wahrheit ineinander und zeigt in einem für die Philosophie entscheidenden Moment die enge Verknüpfung von Emotionalem und Rationalem. Eine solche Verknüpfung hat durch die hermeneutische Wende, die unter den Bedingungen der Modernität stattgefunden hat, eine brisante Dringlichkeit, da sie schien die Philosophie vor die Alternative zwischen Gewalt und Wahrheit zu stellen. Und in der Tat glaubten viele moderne Philosophien, um Gewalt zu vermeiden, den Begriff der Wahrheit aufgeben zu müssen. M. E. handelt es sich um eine falsche Wahl, eine Alternative, die aber mit den Mitteln einer Philosophie, die sich vom Emotionalen abgewendet hat, nicht zu lösen ist. Der Weg, den wir in diesem Vortrag gegangen sind, versucht die gewaltsamen Elemente nicht zu leugnen, sie auch nicht zu bagatellisieren, um auf den Grund dieser Verwicklung zu kommen. Dabei ist ein Rückgriff auf die Temporalität behilflich. Die Gewalt, die in der Interpretation geschieht, ist ein Zeichen der (in der Moderne bewussten) Dyskrasie zwischen Wahrheit und Subjekt. Die eine kann nicht ohne das andere (ohne die Interpretation des Subjektes) sein, und dieses findet nicht ohne jene statt. Aber dieses gemeinsame Geschick ist ein Verweis und eine Aufgabe, keine natürliche, schon abgesicherte Zugehörigkeit. Gerade hier aber ist die Möglichkeit gegeben, mit der Gewalt zurecht zu kommen. Die Gewalt gehört nicht dem Sein oder der Wahrheit–an–sich an und auch nicht dem Subjekt als solchem. Durch die Zeitlichkeit der Zeit ist dem Subjekt die Möglichkeit gegeben, von der Gewalt Abstand zu nehmen. Die Gewalt dringt in mich ein, aber ich kann mich ihr entäußern (ich werfe sie voraus), indem ich sie als meine Nicht–Identität betrachte. Wie die Zeit ist die Gewalt »a me« (für mich), beide betreffen mich, aber keine von beiden ist meins, meine Identität oder mein Eigentum. Der authentische Alltag ist keine irenische, rein rationelle Zeit, sondern er ist eine Art epoché, eine Art »Einklammerung« der Gewalt, die sie auf Abstand hält und uns ermöglicht, uns im Heute aufzuhalten. Wenn diese Einklammerung – die die eigentliche Aufgabe der Gegenwart als entscheidende Ekstase der Zeit ist  – nicht gelingt, dann ist die Beziehung zu den Anderen der Gewalt überlassen und die Welt wird zu einem reinen Konkurrenzkampf. Die Gegenwart ist eine zweifache (verdoppelte) Zeit. Während die Zeitlichkeit ununterbrochenes Fließen ist, ist die Gegenwart, anders als der Augenblick, bewusste Unterbrechung des Flusses. Aber keine Unterbrechung, die abbricht, sondern eine Unterbrechung, die ein contretemps, einen Gegentakt schafft, mit dem sie den Fluss der Zeitlichkeit anhält und ihn so lange verarbeitet, bis in ihr ein Plan erkennbar wird. In der Gegenwart findet sich ein Beharren gegen den Lauf der Zeit, ein aufmerksames 13 

M. Heidegger, Sein und Zeit, § 63, S. 311.

Emotionalität als anthropologische Komponente

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Warten, das aus der reinen Zeitlichkeit die humane Zeit entstehen lässt. Anders als das Schwert, von dem Kierkegaard erzählt, dass es, sobald es aus der Scheide gezogen wird, jeden Gegner enthauptet, dass aber nie aufhört zu schlagen, bis es zuletzt seinen eigenen Herrn erschlägt, versteht sich die Unterbrechung darauf, sich selbst zu unterbrechen. Sie kennt ihre eigene Kraft, unterliegt ihr aber nicht. Sie kann von ihr Abstand nehmen. Die Gegenwart hält Abstand von der Zeitlichkeit und gibt sie uns dadurch in einer gewandelten Form der Zeit zurück, in einer Zeit, die für mich ist. Wir entdecken hier in einer modernen und damit umgekehrten Form Spuren desselben, das wir in dem Gleichnis der Höhle hervorgehoben haben: Spuren der Zusammengehörigkeit vom Fremden und Vertrauten, vom Anderen und Eigenen. Hier ist es aber nicht mehr das Fremde, das uns ähnlich ist, sondern das Vertraute – die Zeitlichkeit, die uns durchdringt –, das durch die Unterbrechung fremd wird. Auf diese Weise schafft das Subjekt die Voraussetzung dafür, dass es der Zeit einen Sinn geben kann. Die Interpretation ist der umsichtige Versuch, mit Kräften umzugehen, die uns umgeben, die uns betreffen, die wir aber nicht abstoßen können und die wir auch nicht einfach unter Kontrolle halten können. Die Interpretation verlangt ausdauernde Zähigkeit, d. h. den Willen, sich immer wieder auf den richtigen Grund zu stützen, die Fähigkeit, die Ausnahme als Alltag und den Alltag als Ausnahme zu erleben: im Wohnzimmer auf die Mitternachtsschläge zu hören und dabei den Todesengel vorbeiziehen sehen; jeden Augenblick als eine jedem zugängliche Ausnahme erleben. Die Gewalt begleitet dann unsere Tage. Sie wird nicht gezähmt (dazu müsste man sie bagatellisieren), aber sie kann besiegt werden, d. h. wahrgenommen, erlitten und zurückgeworfen werden. Wie die Gespenster bei Descartes darf sie nicht a priori geleugnet oder zum Schweigen gebracht werden; sie muss entblößt und mit freiem Blick betrachtet werden; sie muss – im wahrsten Sinne des Wortes  – vorgestellt und zurückgeworfen werden, dabei wissend, dass wir ihr anders und an anderer Stelle wieder begegnen werden und ihr Antwort geben müssen und uns der Verantwortung dieser Antwort nicht entziehen dürfen. Sogar im Evangelium finden wir Spuren einer solchen Gewalt, nämlich dort, wo von Gewalttätigen die Rede ist, die das Himmelreich an sich reißen (Mt. 11,12). Der Passus ist unklar und geheimnisvoll (aber wie kann man Klarheit schaffen über das Dunkle, das uns begleitet?), aber mir scheint, dass diese Gewalttätigen – gegen die Version der deutschen Übersetzung – nicht Gewalt an das Reich oder an Andere tun, sondern dass sie, gerade weil sie sich mit dem Himmelreich beschäftigen, mit der Gewalt zu tun haben. Da sie gefragt werden, müssen sie sich aussprechen; bei der Aussprache dürfen sie sich rechfertigen; indem sie sich rechfertigen, bringen sie die Ausnahme (ihre Ausnahme) zur Geltung. Dabei wagen sie eine Ausnahme als Möglichkeit für alle und aus diesem Ausnahmezustand schaffen sie eine Zeit für jeden – diese Zwischenzeit des Lebens, wo es um das Selbst, um die Anderen und um die Wahrheit geht. Der Weg, den wir geschildert haben, bestätigt, dass es einen Grund gibt, dem sich die Vernunft widmet, den sie aber weder beseitigen noch beherrschen kann: Es gibt eine Unmittelbarkeit, die das Leben gründet. Wir haben aber das einfache, spontane Verhältnis zu diesem Grund verloren. Die Philosophie bewegt sich nicht im selben Tempo wie das Leben. Sie geht einen Schritt außerhalb des Lebens. Dem muss sie Rechnung

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tragen. Sie kann aber nicht verlangen, das Leben in sich einzugliedern oder es in ihrer Macht zu halten. Im Gegenteil muss sie versuchen, ihm gerecht zu werden. Der beste Weg dazu ist, die Triebe des Lebens und die Emotionalität nicht zu verleugnen oder zu kontrollieren, sondern dafür zu sorgen, dass sie sozusagen voraus geworfen und damit Stützpunkte werden: wie ein Stein, über den man stolpern kann, der aber auch dazu dienen kann, den Fluss zu überqueren.

Literatur Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band I/2 Abhandlungen, Frankfurt a. M. 1991. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Halle 1927. Martha Nussbaum: Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001.

Kolloquium 25 Phänomenologie der Lebenswelt: Dimensionen nichtwissenschaftlicher Erfahrung

Gregor Schiemann Einführung László Tengelyi Die Erfahrung in der Lebenswelt David Carr Vorwissenschaftliche Erfahrung und Geschichte

Einführung Gregor Schiemann

Im Rahmen des Kongreßthemas »Wissenschaft und Lebenswelt« fragt dieses Kolloquium nach der Differenz von Wissenschaft und Lebenswelt. In phänomenologischer Zugangsweise sollen die spezifischen Dimensionen der lebensweltlichen Erfahrung näher beleuchtet werden. Ausgangspunkt bildet ein Lebensweltbegriff, der auf der Ebene von Erfahrungen jenseits der Wissenschaften zu stehen vermag. In der Nachfolge von Edmund Husserl ist die These von der Eigenständigkeit der lebensweltlichen Erfahrung als Voraussetzung für die phänomenologische Begründung der Wissenschaft von Interesse. Dieses Interesse sieht sich allerdings der Gefahr ausgesetzt, den nichtwissenschaftlichen Charakter lebensweltlicher Erfahrung nur unter einem eingeschränkten Blickwinkel, der durch die Vorgaben des auf wissenschaftliche Erkenntnis abzielenden Begründungsvorhabens bestimmt ist, zu untersuchen. Um dieser Engführung zu entgehen, möchte unser Kolloquium die Frage der Wissenschaftsbegründung, soweit es geht, ausklammern. Die Spezifität der lebensweltlichen Erfahrung soll auch in Bestimmungen erfaßt werden, die wissenschaftlicher Erfahrung entgegengerichtet sind. Für die meisten Fassungen des Lebensweltbegriffes ist die Unterscheidung von Lebenswelt und Wissenschaft konstitutiv. Einführend möchte ich eine dieser Varianten vorstellen. Im Anschluß an Alfred Schütz und Thomas Luckmann läßt sich die Lebenswelt idealtypisch als sozial eingrenzbarer Kontext begreifen, der neben anderen gleichrangigen Erfahrungsbereichen – darunter auch die der Wissenschaften – steht. So verstanden bezeichnet Lebenswelt keine kultur- oder naturumfassende Kategorie, sondern referiert auf einen Wirklichkeitsausschnitt. Der mit ihr gemeinte historisch kontingente Handlungsraum definiert sich durch verschiedene notwendige und zusammen hinreichende Kriterien. Zu ihnen gehören eine auf äußere Wahrnehmung ausgerichtete Aufmerksamkeit, eine auf unprofessionelles und direktes Handeln eingestellte Spontaneität, eine durch den Modus der Selbstverständlichkeit charakterisierte Welteinstellung und ein ganzheitlich strukturiertes Hintergrundwissen.1 Besonderes Gewicht kommt der Bedingung der Wahrnehmung zu, die Husserl den »Modus der Selbstgegenwart« eines Erscheinenden nennt und als »Urmodus der Anschauung« von der erinnernden oder antizipierenden Anschauung des aktuell Abwesenden unterscheidet. 2 Diese »originär gebend[e]« Erfahrung richtet sich zunächst »auf bloße Körperlichkeit«. 3 »Durch Sehen, Tasten, Hören usw., in den verschiedenen Weisen 1  2  3 

Vgl. G. Schiemann, Natur, Geist, Technik, 89 ff. E. Husserl, Gesammelte Werke VI, 107. E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 54 f. (im Original hervorgehoben).

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sinnlicher Wahrnehmung sind körperliche Dinge in irgendeiner räumlichen Verteilung für mich einfach da«.4 In diesem Sinn umfaßt die Lebenswelt die im sichtbaren Umkreis eines Subjektes gegenwärtigen und als Zeichen auf Anderes verweisenden Dinge. Im erweiterten Sinn erstreckt sie sich auch auf gerade nicht sichtbare, verdeckte oder abwesende Körper, die aber »bewußtseinsmäßig« in der Erinnerung präsent sind. 5 Als Wahrnehmungswelt von miteinander kommunizierenden und gemeinsam handelnden Subjekten hat die Lebenswelt in sozialphänomenologischer Hinsicht zentrischen Charakter. Die Subjekte finden die Lebenswelt vorwiegend als vertrauten Sozialraum vor, den sie verlassen und wieder betreten können. Man kennt die Objekte und Personen seiner Lebenswelt in ihrem Eigensinn. Sie halten sich als solche in der Erinnerung, wenn man sich selbst außerhalb der Lebenswelt befindet (Traum, Phantasie, Öffentlichkeit, Berufswelten usw.). In abgestuften Graden der Bekanntheit lagern sich andere Erfahrungsräume um die Lebenswelt und überschneiden sich teilweise mit ihr. Aus vergangener Erfahrung stammt das die Wahrnehmungsleistungen mitermöglichende und Handlungen orientierende Hintergrundwissen; in die Zukunft reichen die Wünsche, Erwartungen, Handlungsplanungen.6 Vor dem Hintergrund einer allgemein ansteigenden Verwissenschaftlichung von Erfahrung ist allerdings die Frage berechtigt, in welchem Umfang sich überhaupt noch eine von Wissenschaft unabhängige Erfahrung in der Lebenswelt nachweisen läßt. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden dringen in immer mehr Lebensbereiche ein, so daß auch Wahrnehmungen und Handlungen der unprofessionellen Alltagspraxis davon zunehmend beeinflußt werden. Das unmittelbare Zeugnis der Wahrnehmung hat lebensweltlich längst seine ehemalige Geltung verloren. Eher selten noch läßt sich etwa die Qualität von Nahrungsmitteln, die für den privaten Verbrauch angeboten werden, angemessen mit dem bloßen Einsatz der eigenen Sinnesorgane prüfen. Radioaktive Verseuchungen, gentechnisch bedingte Vergiftungen von Lebensmitteln liegen jenseits der Grenzen lebensweltlicher Sichtbarkeit. Bei der Beurteilung des eigenen Gesundheitszustandes und der Bekämpfung von Krankheiten spielen in wachsendem Ausmaß experimentell erzeugte Erkenntnisse der Medizin eine Rolle, die ohne Fachwissen nur partiell verständlich sind. Erziehung, Berufswahl und andere Fragen der Lebensführung geraten vermehrt zum Gegenstand einer wissenschaftlich basierten und in den Medien allgegenwärtigen Beratungspraxis. Das eigentlich erstaunliche Phänomen der Verwissenschaftlichung scheint mir aber zu sein, daß gesellschaftliche Bereiche wie die Lebenswelt gegenüber diesem Prozeß gleichsam zum Trotz ihre Eigenständigkeit bewahren, so daß Wissenschaft mit nichtwissenschaftlicher Erfahrung konfrontiert bleibt. Ich möchte für diese fortbestehende Differenz drei Gründe nennen: Der wissenschaftlichen Erkenntnis kommen Merkmale zu, die dem lebensweltlichen Weltverständnis weder ähnlich sind noch seiner als Voraussetzung bedürfen. 4  5  6 

E. Husserl, Gesammelte Werke III, 57. A. a. O., 57 f. Vgl. A. Schütz / T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 63 ff.

Einführung

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Beispielhaft hierfür ist das experimentell gewonnene physikalische Laborwissen über subatomare Objekte. Die mit quantenmechanischer Begrifflichkeit vorgenommene Charakterisierung dieser Objekte widerspricht einem auf der anschaulichen Präsenz von Gegenständen gegründeten Weltverständnis, das dementsprechend der physikalischen Objektbeschreibung auch nicht vorangehen kann. In kultureller Hinsicht ist wissenschaftliche Erkenntnis in der Lebenswelt nur bedingt bedeutsam.7 Lebensweltliche Orientierungsmuster sind pluralisiert und werden durch innovative wissenschaftliche Erkenntnisse kaum noch erschüttert. So wird zum Beispiel das Wissen der Schulmedizin als ein Angebot neben alternativen medizinischen Wissensformen verstanden. Berichte über bahnbrechende Erkenntnisfortschritte wie etwa im Bereich der Genetik oder der Hirnforschung haben meist wenig lebensweltlichen Sensationswert. Nicht zuletzt spielt der Blackbox-Charakter von wissenschaftlich-technisch hergestellten Gegenständen in der Lebenswelt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung des Abstandes zur Wissenschaft. Die Geräte der modernen Technik werden mittlerweile fast ausschließlich so konstruiert, daß man über ihre innere Funktionsweise nichts wissen muß, um sie zu bedienen. Zudem ist die Bedienung so organisiert, daß durch eine fehlerhafte Handhabung kein Schaden an der inneren Funktionsweise entstehen kann. Lebensweltlich treten den Menschen nur die Oberflächen der wissenschaftlichtechnisch hergestellten Gegenstände gegenüber. Daß lebensweltliche Erfahrung als eigenständiger Kontext fortexistiert, findet seinen begrifflichen Ausdruck im Vorkommen von Vokabularen, die auf die Lebenswelt zugeschnitten sind und dort in bevorzugter Weise verwendet werden. Aus diesem semantischen Feld möchte ich ein Beispiel für Dimensionen nichtwissenschaftlicher Erfahrung skizzieren. Es betrifft einen Aspekt der Spezifik lebensweltlicher Naturbegrifflichkeit. Traditionelle Naturbegriffe, die in den Wissenschaften ihre Geltung seit langem verloren haben, besitzen in der Lebenswelt immer noch eine bemerkenswerte Aktualität. Unter diesen Begriffen kommt der aristotelischen Entgegensetzung von Natur und Technik besondere Bedeutung zu. Aristoteles definiert am Anfang des zweiten Buches seiner »Physik« die Extension des Naturbegriffes – vereinfacht gesprochen – intensional mit dem Kriterium der Selbstbewegung. Zur Natur gehören die »Tiere und deren Teile, die Pflanzen und die einfachen unter den Körpern, wie Erde, Feuer, Luft und Wasser […] und Ähnliche[s …]. Von diesen hat nämlich ein jedes in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Bestand, teils bezogen auf Raum, teils auf Wachstum und Schwinden, teils auf Eigenschaftsveränderung«.8 Während Selbstbewegung ausschließlich an natürlichen Gegenständen vorkommt, geht jede Veränderung von technischen Gegenständen auf äußere Antriebe zurück. Die Bäume eines Forstes wachsen von selbst; die aus ihrem Holz bestehenden Gebrauchsgegenstände bedürfen hingegen der Herstellung.

7  8 

H. Lübbe, Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, 35 ff. Aristoteles, Physik, Zeile 192 b9 ff.

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Kolloquium 25  ·  Gregor Schiemann

Das auf Aristoteles zurückgehende Klassifikationsschema stützt sich wesentlich auf das Zeugnis einer direkten Wahrnehmung, wie sie heute noch in der Lebenswelt vorkommt. Zwar kennt die Lebenswelt zahlreiche Phänomene ›auf die Aristoteles‹ Schema nicht zutrifft: Technische Gegenstände, die sich bewegen, ohne daß ein äußerer Anstoß sichtbar wäre, natürliche Gegenstände, deren Selbstbewegung durch Fremdbewegung überdeckt ist, usw. Zudem finden in der Lebenswelt Bedeutungen von Natur Verwendung, die nicht der aristotelischen Unterscheidung entsprechen: Teils wird Natur nicht der Technik, sondern der Kultur, dem Geist, dem Übernatürlichen oder der Freiheit gegenübergestellt; teils wird der Gebrauch des Naturbegriffes überhaupt abgelehnt, da man die ganze Wirklichkeit für ein kulturelles Konstrukt hält (alles ist Kultur), oder umgekehrt die Existenz nichtnatürlicher Entitäten bestritten (alles ist Natur). Daß der Entgegensetzung von Natur und Technik in dieser Vielfalt dennoch bevorzugte Relevanz zukommt, geht darauf zurück, daß die Lebenswelt »in gewissem Sinne ›aristotelisch‹ verfaßt« ist, um eine Formulierung von Jürgen Habermas zu verwenden.9 Lebensweltlich werden Gegenstände, die von selbst da sind und sich ohne menschliches Zutun verändern – wie etwa die Gestirne, der Wechsel der Jahreszeiten, vor allem aber Pflanzen, Tiere und die Lebensprozesse des Menschen – problemlos als natürliche identifiziert. Während Habermas dieses alltagspraktische Klassifikationsvermögen auf spezifische Handlungsformen zurückführt, sehe ich seine Grundlage im Charakter der Lebenswelt als Wahrnehmungswelt. Die in der Lebenswelt wirksame, aber nicht mehr mit ontologischem Anspruch versehene aristotelische Entgegensetzung von Natur und Technik ist am Paradigma der sichtbaren Gegenwärtigkeit äußerer Bewegungsursachen orientiert. Die Zuordnung von Objekten zu einer sich selbstbewegenden Natur verknüpft sich in der Lebenswelt mit Werten und Normen. So wird die Eigendynamik der Naturobjekte für bewunderungs- und schützenswert gehalten. Die Beurteilung technischer Naturveränderungen, insbesondere die der menschlichen Natur durch Medizin- und Biotechnik, stützt sich oftmals auf die Anwendung des aristotelischen Kriteriums. Seine Relevanz beginnt ihren Einfluß zu entfalten, wo die Differenz von Natur und Technik dabei ist sich aufzuheben: Bei Irritationen über die täuschende Echtheit von dekorativen Pflanzenimitaten, im Zweifel über die behauptete Natürlichkeit synthetisch hergestellter Nahrungsmittel oder als Reaktion auf die bedrohliche Unbestimmtheit der Wirkungen technischer Eingriffe in die Natur. Eine Alltagswelt, in der Natur und Technik wahrnehmungsmäßig nicht mehr unterschieden wären, ist überhaupt erst in vagen Umrissen vorstellbar. Lebensweltliche Erfahrung gestattet die Erkennbarkeit und handlungsbegründende Wirksamkeit einer Differenz, die in den Wissenschaften einer grundlegenden Kritik unterzogen wurde. Zu den Konstitutionsbedingungen der Entstehung der modernen Naturwissenschaft gehörte die radikale Ablehnung der aristotelischen Unterscheidung. Während für Aristoteles Technik der Natur entgegengerichtet und kein Gegenstand

9 

J. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, 80.

Einführung

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der Wissenschaft war, formuliert die Naturwissenschaft seit der Neuzeit ihre Theorien der Natur vornehmlich gerade umgekehrt in Referenz auf den technischen Kontext experimenteller Untersuchungen. Diese gehen von der Annahme aus, daß Technik denselben Gesetzen wie die gesamte äußere Wirklichkeit unterworfen sei, sich aufgrund ihres Entwurfscharakters aber für die Naturforschung allermeist am besten eigne. Dem einheitlichen Charakter der methodisch ausgerichteten naturwissenschaftlichen Praxis und dem universellen Geltungsanspruch naturwissenschaftlicher Theorie entspricht am ehesten ein naturalistischer Begriff, der die Existenz nichtnatürlicher Entitäten bestreitet oder als natürliches Phänomen für beschreibbar hält. Diese Naturvorstellung leugnet die differenten Objekteigenschaften, auf die sich die aristotelische Entgegensetzung von Natur und Technik bezieht, nicht, räumt ihnen aber terminologisch nur eine untergeordnete Bedeutung ein, die ihrem Rang in der lebensweltlichen Wahrnehmungswelt nicht unmittelbar gerecht wird. Soweit mein einführendes Beispiel für eine Dimension der lebensweltlichen Erfahrung, wie sie sich in phänomenologischer Beschreibung darstellt. Die Vorträge des Kolloquiums suchen unter unterschiedlichen Fragerichtungen eigenständige Bestimmungen der lebensweltlichen Erfahrung herauszuarbeiten. Der erste Vortrag von László Tengelyi führt zunächst in das Feld der theoretischen Philosophie und hat den Begriff der lebensweltlichen Erfahrung in seinen charakteristischen Merkmalen zum Gegenstand. Abschließend wird David Carr die spezifisch lebensweltliche Einstellung im Hinblick auf ihre Beziehung zur Geschichte diskutieren.

Literatur Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt a. M. 2002. Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1948. Husserl, Edmund: Gesammelte Werke. Band VI, Dordrecht u. a. 1950 ff. Husserl, Edmund: Gesammelte Werke. Band III, Dordrecht u. a. 1950 ff. Lübbe, Hermann: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft. Über die moralische Verfassung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, Berlin 1994. Schiemann, Gregor: Natur, Geist, Technik. Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung, Berlin / New York 2005. Schütz, Alfred / Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Bd. I, Frankfurt a. M. 1979.

Die Erfahrung in der Lebenswelt László Tengelyi

1.  Einleitung Husserl kennzeichnet die Erfahrung in der Lebenswelt als »subjektiv« und »relativ«, indem er die Wahrheit, die dieser Erfahrung zukommt, als »alltäglich‑praktische Situationswahrheit« der »wissenschaftlichen Wahrheit« gegenüberstellt.1 Es handelt sich dabei um eine Wahrheit, die zwar auf eine bestimmte Situation zutrifft, sich jedoch von einer Situation auf die andere nicht ohne Weiteres übertragen lässt. Eine situationsübergreifende Wahrheit setzt ja von vornherein eine gewisse Gleichartigkeit verschiedener Erfahrungssituationen voraus. Das Gleichartige als solches hat aber als ein Idealisierungsprodukt zu gelten. Die Idealisierung ist jedoch eine Operation, die über die Grenzen der Lebenswelt hinausführt. Daher steht die lebensweltliche Erfahrung als Dóxa der objektiven Wissenschaft als der Epistéme gegenüber. 2 Die Dóxa bleibt immer situationsbedingt; erst der Epistéme kommt eine durch Situationen nicht mehr bedingte Wahrheit zu. Worin liegt aber der Grund, der Husserl in der spätesten Phase seines Denkens dazu bewegt, die so verstandene Dóxa gegenüber der seit Platon bevorzugten Epistéme philosophisch zu rehabilitieren? Man ist zunächst versucht, diesen Grund in der Einsicht in einen Begründungszusammenhang zwischen Lebenswelt und Wissenschaft zu sehen. Die lebensweltliche Erfahrung wird ja von Husserl als die letzte »Evidenzquelle«– oder auch »Bewährungsquelle«– aller wissenschaftlichen Erkenntnisse bezeichnet. 3 Demnach soll die Epistéme gleichsam aus der Dóxa ihre Beweiskraft schöpfen. Man erinnert sich an das von Husserl selbst angeführte Beispiel von Einstein, der »die Michelsonschen Experimente und ihre Nachprüfungen durch andere Forscher« zur Grundlegung seiner speziellen Relativitätstheorie benützt und damit den Gesamtkontext alltäglicher Wahrnehmungssituationen von vornherein unterstellt.4 Ein derartiger Begründungszusammenhang zwischen Lebenswelt und Wissenschaft ist aber aus zwei Gründen zweifelhaft. Der erste Grund liegt im künstlich festgelegten Charakter wissenschaftlicher Empirie. Zu Recht besteht zwar der Satz, dass »die eine, allgemeinsame Erfahrungswelt, in der auch Einstein und jeder Forscher als Mensch,

1  2  3  4 

E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 135. Ebd., 129. Ebd. Ebd., 128.

Die Erfahrung in der Lebenswelt

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und auch während all seines forschenden Tuns, weiß«, 5 für die Wissenschaft als unbefragte Voraussetzung gilt; gleichwohl sind aber die methodisch streng geregelten Beobachtungen und die manchmal überaus erfinderisch vorbereiteten Experimente, die sich dazu eignen, wissenschaftliche Ergebnisse zu bekräftigen, weit davon entfernt, einfach als lebensweltliche Erfahrungen eingestuft werden zu können; sie setzen ja in den meisten Fällen selbst schon wissenschaftliche Theorien voraus. Der zweite Grund, der gegen einen förmlichen Begründungszusammenhang zwischen Lebenswelt und Wissenschaft spricht, beruht auf der von Husserl selbst formulierten Feststellung, dass die Ergebnisse der Wissenschaften in die alltägliche Lebensumwelt wieder »einströmen«, indem sie diese weitgehend umgestalten. Ebendeshalb kann aber eine »vorwissenschaftliche Welt«, die der Wissenschaft als Grundlage und wahrhafte Evidenzquelle dienen könnte, wie David Carr darauf schon vor dreißig Jahren deutlich hingewiesen hat, schwerlich überhaupt aufgefunden und ausgemacht werden. Der Zusammenhang zwischen Lebenswelt und Wissenschaft lässt sich aber vielleicht auch anders verstehen. Wenn man von Texten wie etwa »Der Ursprung der Geometrie« ausgeht oder sich auch nur den historischen Teil der Krisis-Abhandlung genauer ansieht, so begreift man, dass die lebensweltliche Erfahrung von Husserl eigentlich gar nicht als Begründungsinstanz für die exakten Wissenschaften in Anspruch genommen wird – zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne des Ausdrucks »Begründung wissenschaftlicher Ergebnisse«. Vielmehr wird die lebensweltliche Erfahrung von ihm als die Trägerin einer »lebendigen, produktiv fortschreitenden Sinnbildung«6 betrachtet, die den Boden für die »idealisierende[] Urstiftung«7 ganzer Wissenstraditionen und ihrer Gegenstände bereitet. Dieser Satz trifft nicht nur auf die empirischen Wissenschaften, sondern selbst noch auf die Mathematik zu; ansonsten könnte ja von dem »Ursprung der Geometrie« schwerlich die Rede sein, denn Husserl betrachtet die Geometrie als eine apriorische Wissenschaft. Die Begriffe, die in der Krisis-Abhandlung und den gleichzeitig verfassten Forschungsmanuskripten den Zusammenhang von Lebenswelt und Wissenschaft bestimmen, sind also nicht so sehr Begründung und Bewährung, als vielmehr Sinnbildung und Sinnstiftung. Aus dieser Präzisierung ergeben sich wichtige Konsequenzen, die den Begriff lebensweltlicher Erfahrung betreffen. Es handelt sich vor allen Dingen um eine Erfahrung, die als Ort spontaner Sinnbildung begriffen werden muss.

2.  Die lebensweltliche Erfahrung als Ort spontaner Sinnbildung Unter spontaner Sinnbildung können wir die Entstehung eines Sinngebildes verstehen, das sich nicht restlos auf die Sinngebung durch das intentionale Bewusstsein zurückführen lässt. Man denke nur an den Sinnbildungprozess, der nach Husserl – etwa in der 5  6  7 

Ebd. Ebd., 375. Ebd., 386.

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Kolloquium 25  ·  László Tengelyi

Feldmesskunst – durch Idealisierung und Limesübergang zur Erzeugung geometrischer Figuren führt. Dieser Sinnbildungsprozess geht deutlich über die intentionalen Akte der jeweiligen Feldmesser hinaus, die ja immer nur sinnlich wahrnehmbare Figuren im Auge haben. Gerade deshalb kann dieser Sinnbildungsprozess den Boden für die Urstiftung einer neuen Wissenstradition und ihrer Gegenstände bereiten. Ist die Erfahrung in der Lebenswelt der Ort spontaner Sinnbildung, so lässt sie sich auf kein intentionales Erlebnis reduzieren. Denn sie enthält etwas Nicht-Intendiertes, ein Moment, das sich von keiner Bewusstseinsintentionalität herleiten lässt, mit einem Wort: einen Überschuss gegenüber aller Bewusstseinsintentionalität. Sie ist von einer Sinnbildung durchdrungen, deren Gang durch kein intentionales Bewusstsein vorweggenommen werden kann. Die lebensweltliche Erfahrung ist demnach kein intentionaler Akt, obgleich sie intentionale Akte mit in sich schließt. Als Ganzes ist sie überhaupt kein Akt, sondern vielmehr ein Ereignis. Als Ereignis bringt sie Neues, Unvorhersehbares, unverhofft Aufkommendes mit sich. Nicht selten überrascht sie das intentionale Bewusstsein, indem sie vorgefasste Meinungen und gelegentlich sogar scheinbar begründete, motivierte Vorwegnahmen durchstreicht. Gadamer sagt mit Recht, dass jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, eine Erwartung durchkreuzt.8 Dabei ist die lebensweltliche Erfahrung durch eine deutliche Passivität charakterisiert. Die Passivität lebensweltlicher Erfahrung lässt sich jedoch keineswegs auf eine passive Synthesis im Sinne einer phänomenologisch umgedeuteten Assoziationslehre zurückführen. Husserl hebt hervor, dass wir uns – als »aufmerkende Ich«– bei einer passiven Synthesis »von einem [Bewusstseinsdatum] auf das andere hingewiesen« sehen.9 Er fügt hinzu, dass hier sogar immer gesagt werden kann: »Eins deutet auf das andere – obschon noch nicht ein eigentliches Verhältnis der Anzeige und Bezeichnung vorliegt.«10 Dieser Verweisungszusammenhang, der noch kein Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist, deutet sich uns – als »aufmerkenden Ich[en]«– von sich aus an; er fällt uns plötzlich auf und fällt damit in unser Bewusstsein erstmalig ein. Die Passivität lebensweltlicher Erfahrung teilt diesen Grundzug mit der von Husserl erörterten passiven Synthesis. Aber dieser gemeinsame Grundzug darf uns über einen grundlegenden Unterschied nicht hinwegtäuschen. Der Verweisungszusammenhang, den Husserl an der gerade angeführten Stelle beschreibt, bietet sich von vornherein dazu an, durch eine aktive Intentionalität erfasst zu werden. Sobald er ins Bewusstsein eingefallen ist, entpuppt er sich als vollwertige Intentionalität. Deshalb kann er durch das Bewusstsein ohne Schwierigkeiten in ein Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem umgewandelt zu werden. Anders steht es mit der Tendenz, die sich in einem spontanen Sinnbildungsvorgang geltend macht. Sie ist nicht nur keine Vorform der Bewusstseinsintentionalität, sondern sie lässt sich nicht einmal als ein feststehender Verweisungszusammenhang begreifen. Es handelt sich nämlich um eine Tendenz, der keine eindeutige Zielrichtung zugeschrieben 8  9  10 

H. -G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 338. E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 121. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 121.

Die Erfahrung in der Lebenswelt

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werden kann. Nicht umsonst betont Husserl in seinen späten Texten so sehr die methodische Bedeutung der Rückfrage. Erst von einer bereits etablierten – oder, wie Husserl mit Vorliebe sagt, »sedimentierten« – Urstiftung her eröffnet sich ein Rückweg zu einem ihr zugrunde liegenden Sinnbildungsvorgang. Die Urstiftung ist aber ein kreativer Akt, der durch einen Sprung über den Abgrund hinweg einen neuen Sinn erzeugt. Deshalb zeichnet sich die Tendenz, die den ihr zugrunde liegenden Sinnbildungsvorgang durchdringt, immer nur im Nachhinein eindeutig ab. Diese wesenhafte Nachträglichkeit, die das methodische Verfahren der Rückfrage notwendig macht, verleiht der lebensweltlichen Erfahrung zugleich den Charakter wohlverstandener Geschichtlichkeit. Mit diesem Terminus ist hier allerdings nicht etwa die Zugehörigkeit zur Weltgeschichte gemeint, sondern der Charakter spontanen Sinngeschehens. Gemeint ist damit eine Sinngenese, die sich auf eine Sinngebung durch das intentionale Bewusstsein nicht zurückführen lässt. In seiner Betrachtung über den »Ursprung der Geometrie« sagt Husserl: »Die Geschichte ist von vornherein nichts anderes als die lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung.«11 In diesem Sinne gilt die Geschichte für Husserl, wie Ludwig Landgrebe in Faktizität und Individuation betont, seit dem Anfang der zwanziger Jahre als ein »absolutes Faktum«. Damit sind fünf Grundzüge lebensweltlicher Erfahrung hervorgehoben worden: Sie wurde als Trägerin spontaner Sinnbildung charakterisiert, und es wurde auf ihre Ereignishaftigkeit, ihr Neuigkeitspotential, ihre Passivität und ihre Geschichtlichkeit hingewiesen. In diesen Merkmalen deutet sich eine Umwandlung von Husserls Phänomenologie in ihrer spätesten Entwicklungsphase an. Gewiss wird in der Krisis-Abhandlung nach wie vor die Bedeutung der intentionalen Analyse und des sie leitenden »universalen Korrelationsapriori« betont. Aber das lebendige Verhältnis von Sinnbildung und Sinnstiftung – oder auch Sinnbildung und Sinnsedimentierung – wirft Fragen auf, die durch eine intentionale Korrelationsanalyse nicht beantwortet werden können. Mit dem Verfahren der Rückfrage wird aber eine methodische Vorgehensweise deutlich gemacht, die der neuen Fragedimension entspricht. Diese Umwandlung von Husserls Phänomenologie ist der Grund dafür, dass etwa der kleine Text über den »Ursprung der Geometrie« von so bedeutenden Denkern wie Maurice Merleau-Ponty, Jacques Derrida und Marc Richir zum Gegenstand eingehendster Analysen gemacht wurde. Nicht zufällig wurden auch bereits zwei Ergänzungsbände zur Krisis-Abhandlung in der Husserliana-Reihe veröffentlicht. Allerdings fragt man sich dabei, ob Husserl vor seinem Tod genug Zeit hatte, alle Konsequenzen aus der späten Erneuerung seiner Phänomenologie zu ziehen. Im Folgenden soll auf manche Konsequenzen hingewiesen werden, die im Text der Krisis-Abhandlung eben nur angedeutet, aber nicht mehr voll ausgearbeitet werden. In einem ersten Schritt soll die Weltbezogenheit lebensweltlicher Erfahrung herausgestellt werden. In einem weiteren Schritt kann dann das Problem der eigentümlichen Kategorien lebensweltlicher Erfahrung erörtert werden.

11 

Ebd., 380.

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3.  Die Weltbezogenheit lebensweltlicher Erfahrung Deutlicher als in früheren Schriften macht Husserl in der Krisis-Abhandlung auf einen Unterschied aufmerksam, der durch eine intentionale Korrelationsanalyse nicht voll aufgeklärt werden kann. Es handelt sich um den Unterschied von Ding und Welt. Gewiss bleibt die intentionale Korrelationsanalyse auch in den Betrachtungen über Ding und Welt die tragende Grundlage. Dementsprechend werden in der Krisis-Abhandlung vor allem die Unterschiede zwischen Dingwahrnehmung und Weltbewusstsein aufgewiesen. Der Terminus »Ding« wird dabei weit gefasst; er verweist nicht allein auf dauerhaft bestehende Substanzdinge, sondern ebenso sehr auf deren Eigenschaften und Verhältnisse, ja darüber hinaus sogar auf Begebenheiten, Ereignisse und Prozesse. Die Welt wird dagegen phänomenologisch nicht etwa als das All der so verstandenen Dinge, sondern als der »Universalhorizont« aller Erfahrung bestimmt.12 Husserls Einsicht, dass der Erfahrung eine »ständig strömende Horizonthaftigkeit«13 zukommt, ist ebenfalls intentionalanalytisch angelegt; sie beruht auf der Beobachtung, dass zu jeder Gegenstandsintention ein Umfeld von Horizontintentionalität gehört. Dieser Gedanke wird in den Cartesianischen Meditationen besonders deutlich formuliert. Husserl sagt in diesem Werk: »Intentionale Analyse ist geleitet von der Grunderkenntnis, daß jedes cogito als Bewußtsein zwar im weitesten Sinne Meinung seines Gemeinten ist, aber daß dieses Vermeinte in jedem Momente mehr ist (mit einem Mehr Vermeintes), als was im jeweiligen Moment als explizit Gemeintes vorliegt.«14 Er setzt hinzu: »Dieses in jedem Bewußtsein liegende Über-sich-hinaus-Meinen muß als Wesensmoment desselben betrachtet werden.«15 »Horizontintentionalität« ist nur ein anderer Name für diese »Mehrmeinung«.16 Gleichwohl geht Husserl in seinen Betrachtungen über Ding und Welt deutlich über die intentionale Korrelationsanalyse hinaus. Am leichtesten können wir uns davon überzeugen, wenn wir uns die beiden Unterscheidungsmerkmale ansehen, die bei Husserl die Welt vom Ding grundsätzlich trennen. – a) Das erste dieser beiden Merkmale ist die Vorgegebenheit der Welt.17 In diesem Begriff drückt sich die Beobachtung aus, dass Dinge immer nur auf dem Boden der Welt oder, genauer, als Dinge in der Welt erfahren werden können. Es heißt: »Dinge, Objekte […] sind ›gegeben‹ als für uns jeweils (in irgendwelchen Modis der Seinsgewißheit) geltende, aber prinzipiell nur so, daß sie bewußt sind als Dinge, als Objekte im Welthorizont.«18  – b) Das zweite Unterscheidungsmerkmal, das die Welt vom Ding abhebt, ist die Einzigkeit der Welt. Husserl sagt: »Andererseits ist Welt nicht seiend wie ein Seiendes, wie ein Objekt, sondern seiend in

12  13  14  15  16  17  18 

Ebd., 147. Ebd., 152. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, 48. A. a. O., 49. Ebd. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 112 f. und 145 f. Ebd., 146.

Die Erfahrung in der Lebenswelt

1299

einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist.«19 Hier wird besonders deutlich, dass sich der Unterschied zwischen Ding und Welt keineswegs auf den Unterschied zwischen Dingwahrnehmung und Weltbewusstsein reduzieren lässt. Nicht umsonst betont Husserl, dass die Welt »nicht seiend wie ein Seiendes, ein Objekt […] ist«; nicht vergebens spricht er also von einem Unterschied in der Seinsweise. Er setzt sogar hinzu: »Diese Differenz der Seinsweise eines Objektes in der Welt und der Welt selbst schreibt offenbar beiden die grundverschiedenen korrelativen Bewußtseinsweisen vor.«20 Damit ist eine Dimension von Husserls später Phänomenologie enthüllt, die als eine Richtungnahme auf eine phänomenologische Ontologie aufgefasst werden kann. In der Krisis-Abhandlung selbst wird diese Dimension als »Ontologie der Lebenswelt« bezeichnet. Husserl schwebt dabei eine Wissenschaft vor, die sich zur Aufgabe macht, die Wesenstypik der Lebenswelt zu erfassen. Es ist allerdings fragwürdig, ob damit alle Konsequenzen aus den Vorstößen gezogen sind, die den Betrachtungen über Ding und Welt in der Krisis-Abhandlung ein eigentümliches Gewicht geben. In diesen Betrachtungen wurde nämlich ein Unterschied zwischen Ding und Welt zum Aufweis gebracht, der sich  – dem Grundprinzip der intentionalen Korrelationsanalyse entgegen – nicht aus dem Unterschied der entsprechenden Bewusstseinsweisen ableiten lässt, sondern – gerade umgekehrt – selbst den Unterschied der entsprechenden Bewusstseinsweisen begründet. Damit wird die intentionale Korrelationsanalyse mit einem Verfahren der Rückfrage verbunden, das über sie selbst hinausgeht: Nachdem der Unterschied zwischen Dingwahrnehmung und Weltbewusstsein phänomenologisch herausgestellt wurde, wird auf den ontologischen Unterschied, der ihn bedingt, zurückgegangen oder zurückgegriffen. Damit zeichnen sich vor unseren Augen die Umrisse einer, wie man sagen könnte, regressiven oder, besser noch, rekursiven Ontologie ab. Mit dem Wort »rekursiv« soll hier einzig und allein diejenige Eigentümlichkeit dieser Ontologie bezeichnet werden, dass sie sich aus einer Rückfrage von den korrelativen Bewusstseinsweisen her ergibt. Von einer Rückkehr zur traditionellen Ontologie, die in der zunächst von Duns Scotus und dann von Francisco Suárez stark beeinflussten Schulmetaphysik immer deutlicher zu einer subtilen, dafür aber überaus abstrakten Lehre vom Etwas überhaupt, also – mit einem Wort von Jean‑François Courtine und anderen französischen Philosophiehistorikern – zu einer Tinologie geworden ist, kann in der Krisis-Abhandlung natürlich keine Rede sein. Wieweit Husserls Studium von Heideggers Fundamentalontologie an seiner Rede von einer »Differenz der Seinsweisen« eine Spur hinterlassen hat, ist nicht leicht zu entscheiden. Insofern hat diese Frage aber auch keine große Tragweite, als sich die rekursive Ontologie der Lebenswelt bei Husserl mit einer ihm eigentümlichen Idee einer phänomenologischen Metaphysik verbindet, die mit Heidegger nichts gemeinsam hat. Es handelt sich dabei um eine Metaphysik, die – nach einem langen Reifeprozess, dessen Anfänge auf den Beginn der 1920er Jahre zurückgehen  – besonders in den Cartesianischen Meditationen und in Forschungstexten aus den dreißiger Jahren ent19  20 

Ebd., 146. Ebd.

1300

Kolloquium 25  ·  László Tengelyi

wickelt wird. Die Grundidee dieser Metaphysik erwächst aus der Einsicht, dass alle eidetischen Wesensformen, die durch die transzendentale Phänomenologie ans Licht gebracht werden, gewisse »Urtatsachen« voraussetzen und daher einen »Kern von Urzufälligem« in sich bergen. Husserl sagt in einem Forschungstext aus den dreißiger Jahren: »Wir kommen auf letzte ›Tatsachen‹ – Urtatsachen, auf letzte Notwendigkeiten, die Urnotwendigkeiten.«21 Er setzt hinzu: »Aber ich denke sie, ich frage zurück und komme auf sie schließlich von der Welt her, die ich schon ›habe‹. […]  – Ich bin das Urfaktum in diesem Gang, ich erkenne, dass zu meinem faktischen Vermögen der Wesensvariation etc. in meinem faktischen Rückfragen sich die und die mir eigenen Urbestände ergeben, als Urstrukturen meiner Faktizität. Und dass ich in mir einen Kern von Urzufälligem trage in Wesensformen, in Formen vermöglichen Funktionierens, in denen dann die weltlichen Wesensnotwendigkeiten fundiert sind.«22 Im Gegensatz zur traditionellen Metaphysik, die er wegen ihrer »spekulativen ›Überschwenglichkeiten‹« ablehnt, 23 geht Husserl von diesen letzten Tatsachen aus, ohne sie etwa auf erste Ursachen oder andersartige Anfangsgründe zurückzuführen und auf diese Weise sozusagen wegzuerklären. Als Urtatsache fasst er dabei keineswegs allein das Sein des Ichsubjekts auf, sondern ebenso sehr auch die Gegebenheit der Welt. Auch in den angeführten Zeilen wurde ja auf die »Welthabe«, wie Husserl die Vorgegebenheit der Welt für ein Subjekt nennt, angespielt. Die rekursive Ontologie der Lebenswelt, wie sie in der KrisisAbhandlung und den mit ihr zusammengehörenden Forschungstexten entwickelt wird, ist ein Versuch, der metaphysischen Urtatsache der Welthabe Rechnung zu tragen, ohne sie – nach dem Muster der Spätantike und des Mittelalters – aus einer Emanationslehre oder einer Schöpfungstheorie ableiten zu wollen, aber auch ohne ihr – der klassischen Antike folgend – das Gepräge des Ewigen und Notwendigen aufzudrücken. Die Bestimmung des Unterschieds in der Seinsweise von Ding und Welt ist allerdings eben nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer rekursiven Ontologie der Lebenswelt. Husserl deutet weitere Schritte an, indem er hervorhebt, dass die lebensweltliche Erfahrung ihre eigentümlichen Kategorien hat.

4.  Die Kategorien lebensweltlicher Erfahrung Es handelt sich um Kategorien, in denen sich die allgemeine Struktur der Lebenswelt gliedert. Husserls sagt: »Die Welt als Lebenswelt hat schon vorwissenschaftlich die ›gleichen‹ Strukturen, als welche die objektiven Wissenschaften […] als apriorische Strukturen voraussetzen und systematisch in apriorischen Wissenschaften entfalten […].«24 So ist etwa die Welt vorwissenschaftlich bereits »raumzeitliche Welt«, sie begreift »Körper« in sich

21  22  23  24 

E. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Ebd., 386. Ebd. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 142.

Die Erfahrung in der Lebenswelt

1301

und enthält auch schon Kausalzusammenhänge.25 Ähnlich steht es sogar, wie Husserl darauf eigens hinweist, mit der »raumzeitlichen Unendlichkeit«.26 Es hat also durchaus einen Sinn, Kategorien wie Raum, Zeit, körperliche Substanz, Kausalität und raumzeitliche Unendlichkeit im Rahmen der Lebenswelt zu erforschen. Husserl setzt aber hinzu: »Das Kategoriale der Lebenswelt hat die gleichen Namen, aber kümmert sich sozusagen nicht um die theoretischen Idealisierungen und hypothetischen Substruktionen der Geometer und Physiker.«27 Aus diesem Satz geht hervor, wie die eigentümlichen Kategorien lebensweltlicher Erfahrung zugänglich gemacht werden können. Der Weg, der zu ihnen führt, macht die Einklammerung und Ausschaltung aller Idealisierungsprodukte und der gesamten »theoretisch‑logischen Substruktion« der objektiven Wissenschaften erforderlich. Es gibt durchaus einen Raum in der Lebenswelt, aber in diesem Raum kann, wie Husserl sagt, »von idealen mathematischen Punkten, von ›reinen‹ Geraden, Ebenen, überhaupt von mathematisch infinitesimaler Kontinuität, von der zum Sinn des geometrischen Apriori gehörigen ›Exaktheit‹ keine Rede« sein.28 Das Gleiche gilt für die anderen Kategorien. Die Idee einer rekursiven Ontologie der Lebenswelt verlangt danach, Raum, Zeit, körperliche Substanz, Kausalität, raumzeitliche Unendlichkeit und Ähnliches mehr unter Verzicht auf jegliche Idealisierung und den gesamten theoretisch‑logischen Unterbau wissenschaftlicher Objektivität zu beschreiben und einer rein phänomenologischen Analyse zu unterziehen. Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass eine derartige Kategorialanalyse der Lebenswelt ihre Bedeutsamkeit von der Begründung wissenschaftlicher Ergebnisse herleiten müsste. Husserl fasst zwar das Problem der Lebenswelt zunächst als ein Teilproblem innerhalb des vollen Themas einer Begründung objektiver Wissenschaften auf. 29 Bald merkt er aber, dass »die Frage nach dem eigenen und ständigen Seinssinn dieser Lebenswelt für die in ihr lebenden Menschen« schon für sich selbst »einen guten Sinn hat«30 und sogar dazu berufen sein dürfte, »das ganze Thema objektive Wissenschaft […] zu verschlingen«.31 Ihre Bedeutung ist daher nicht sosehr wissenschaftstheoretisch als vielmehr allgemein philosophisch (in gewissem Sinne sogar metaphysisch). Es wäre aber ebenfalls nur ein Missverständnis zu glauben, dass die allgemein philosophische (oder auch metaphysische) Bedeutung einer Kategorialanalyse der Lebenswelt darin läge, nunmehr das wahre Ansichsein der Dinge zu erfassen. Man darf nicht vergessen, dass die Idee dieses wahren Ansichseins gerade zu derjenigen theoretisch‑logischen Substruktion wissenschaftlicher Objektivität gehört, die es in der phänomenologischen Erörterung lebensweltlicher Erfahrung von vornherein einzuklammern und auszuschalten gilt. Der Rückgang etwa auf den lebensweltlichen Raum begründet sich nicht dadurch, dass an und für sich nur dieser Raum besteht, der geometrische Raum dagegen ein bloßes Ide25  26  27  28  29  30  31 

Ebd. Ebd. Ebd., 142 f. Ebd., 142. Ebd., 125. Ebd. Ebd., 126.

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Kolloquium 25  ·  László Tengelyi

alisierungsprodukt ist. Im Gegenteil, nur eine wissenschaftliche Theorie wie etwa die von Einstein kann überhaupt einen Anspruch darauf erheben, den an sich seienden Raum zu bestimmen. Die stets nur subjektive und relative Erfahrung, die wir mit dem Raum in der Lebenswelt machen, eignet sich dazu ihrer Natur nach überhaupt nicht. Gleichwohl bleibt das Bestehen des lebensweltlich erfahrenen Raumes eine letzte Tatsache – eine Urtatsache in dem Sinne, den Husserl in seinen Ansätzen zu einer phänomenologischen Metaphysik diesem Wort verleiht. Das Schwierige am Verständnis der Krisis-Abhandlung und verwandter Schriften besteht gerade darin, dass die phänomenologische Kategorialanalyse den Leser zwar mit den Urtatsachen lebensweltlicher Erfahrung konfrontiert, damit aber keineswegs etwa den Anspruch erhebt, das wahre Ansichsein der Dinge zu enthüllen. Husserl prägt den Ausdruck »lebensweltliches Apriori«, um diesen paradoxen Tatbestand zu erfassen, und er stellt ihn dem Begriff des »objektiven Apriori« exakter Wissenschaften gegenüber. 32 Diese Gegenüberstellung wirft ein Licht auf das Verhältnis der Phänomenologie zum  – heute geradezu vorherrschend gewordenen – Naturalismus. Die Phänomenologie setzt dem Anspruch des Naturalismus, das wahre Ansichsein der Dinge zu erfassen, nicht etwa eine andere, nicht‑naturalistische Bestimmung dieses Ansichseins entgegen. Deshalb ist es – trotz mancher Ansichten und Neigungen von Husserl, die unleugbar in diese Richtung weisen – letztlich ein Irrtum, die Phänomenologie als einen Idealismus zu verstehen, der dem Naturalismus als ein ebenfalls objektivistischer, aber gegensinniger Standpunkt gegenübergestellt werden könnte. Die Phänomenologie sieht das Bewusstsein nicht etwa als eine geistige Substanz an, die auch ohne Leib und Gehirn für sich bestehen könnte. Sie nimmt keinen objektivistischen Standpunkt ein, sondern sie betrachtet das Bewusstsein als eine Urtatsache der immer nur subjektiven und relativen Erfahrung, die für die Lebenswelt bezeichnend ist. Die Gegenüberstellung von Phänomenologie und Naturalismus ist daher schief. In Wahrheit besteht das Verhältnis beider darin, dass der Naturalismus als eine naive Metaphysik der Naturwissenschaften die Urtatsachen, von denen die Phänomenologie als rekursive Ontologie der Lebenswelt ausgeht, wegzuerklären sucht. Ebendeshalb bekämpft Husserl den naturalistischen Objektivismus nicht so, wie man einen Standpunkt bekämpft, der seinem eigenen Standpunkt entgegengesetzt ist. Vielmehr hinterfragt er ihn, indem er auf die Urtatsachen lebensweltlicher Erfahrung zurückgreift, die der Urstiftung objektiver Wissenschaften unaufhebbar zugrunde liegen. Die rekursive Ontologie der Lebenswelt, die sich auf diese Urtatsachen gründet, bringt eine Umwandlung und Erneuerung der transzendentalen Phänomenologie mit sich, ohne ihren Grundsätzen zu widersprechen. Husserl behauptet zwar ausdrücklich, dass die allgemeine Struktur der Lebenswelt bereits in der natürlichen Einstellung zum Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht werden kann. 33 Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass sich die lebensweltliche Ontologie nicht ebenso wohl – oder viel besser noch – auf dem Boden der phänomenologischen Einstellung bearbeitet werden könnte. Gerade das Gegenteil trifft zu. Husserl behauptet zwar, dass die Lebenswelt in 32  33 

Ebd., 143. Ebd., 176.

Die Erfahrung in der Lebenswelt

1303

der Epoché »in das bloße transzendentale ›Phänomen‹« verwandelt wird, aber er fügt hinzu: »Sie bleibt dabei in ihrem eigenen Wesen, was sie war […].«34 Es heißt weiter im Text: »Innerhalb der Epoché steht es uns frei, konsequent unseren Blick ausschließlich auf diese Lebenswelt bzw. ihre apriorischen Formen zu richten […].«35 Gleichwohl eröffnet die Kategorialanalyse lebensweltlicher Erfahrung eine neue Dimension innerhalb der transzendentalen Phänomenologie. Es handelt sich um eine Dimension, die sich auf die Dimension intentionaler Korrelationsbetrachtung nicht reduzieren lässt. Das wird besonders deutlich, wenn wir bedenken, wie sich die Kategorialanalyse lebensweltlicher Erfahrung zu den objektiven Wissenschaften verhält. Husserl greift auf seine Unterscheidung zwischen lebensweltlichem und objektivem Apriori zurück, um dieses Verhältnis zu bestimmen: »Eine gewisse idealisierende Leistung ist es, welche die höherstufige Sinnbildung und Seinsgeltung des mathematischen und jedes objektiven Apriori zustande bringt, aufgrund des lebensweltlichen Apriori.«36 Damit ist ein konkreter Ansatz zu einer phänomenologischen Auseinandersetzung mit den objektiven Wissenschaften angedeutet. Das Programm dieser Auseinandersetzung sieht drei Phasen der Arbeit vor. Die beiden ersten Phasen sind uns schon bekannt. In der ersten Phase geht es darum, eine idealisierende Leistung als Urstiftung einer Wissens­ tradition und ihrer Gegenstände zu erfassen. In der zweiten Phase wird dann in einem Rückgang auf das lebensweltliche Apriori ein Sinnbildungsprozess enthüllt, der diese Urstiftung überhaupt erst ermöglicht und ihr ständig zugrunde liegt, ohne sie allerdings im wörtlichen Sinne zu »begründen«, das heißt: notwendig zu machen. Husserl deutet aber über diese beiden Phasen hinaus noch eine dritte an, in der auf »die höherstufige Sinnbildung und Seinsgeltung« eines objektiven Apriori eingegangen wird. Es wird damit hervorgehoben, dass eine Urstiftung nicht allein durch einen lebensweltlichen Sinnbildungsprozess bedingt ist, sondern ihrerseits zugleich einer »höherstufigen Sinnbildung« Raum gibt, die innerhalb einer schon bestehenden Wissenstradition zur Stiftung weiterer Gegenstände mit eigener »Seinsgeltung« führt. Im Galilei-Kapitel der Krisis-Abhandlung entsprechen dieser dritten Phase etwa die wiederholten Hinweise auf »die Möglichkeit, alle überhaupt erdenklichen idealen Gestalten in einer apriorischen, allumfangenden systematischen Methode konstruktiv eindeutig zu erzeugen«.37 Husserl sieht deutlich, dass eine bereits durch Urstiftung in Gang gebrachte Wissenstradition ein Eigenleben entwickelt, in dem höherstufige Sinnbildungsvorgänge den Gesamtstil der weiterführenden Ausarbeitung einmal erworbener Ergebnisse bestimmen. Der Phänomenologie weist er daher nicht allein die Aufgabe zu, den lebensweltlichen Sinnbildungsprozess, der einer Urstiftung zugrunde liegt, durch methodische Rückfragen zu erhellen, sondern ebenfalls die ganz anders geartete Aufgabe, den höherstufigen Sinnbildungsvorgängen, die das Eigenleben bereits bestehender Wissenstraditionen ausmachen, nachzugehen – wenn auch nur mit der Absicht, die hö-

34  35  36  37 

Ebd., 177. Ebd. Ebd., 143. Ebd., 24; vgl.  30.

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Kolloquium 25  ·  László Tengelyi

herstufigen Sinnbildungsvorgänge auf die Sinnbildungsprozesse in der Lebenswelt zurückzubeziehen und sie dadurch in dem lebensweltlichen Apriori zu verankern. Damit zeichnen sich vor unseren Augen die Umrisse einer transzendentalen Phänomenologie ab, die sich nicht allein für die sinngebenden Akte des intentionalen Bewusstseins interessiert, sondern auch – oder sogar mehr noch – das Ziel verfolgt, ständig im »Zickzack« vor- und zurückgehend38 »die lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung« zu erfassen. In der phänomenologischen Bewegung wurde dieser Ansatz verschiedentlich weitergeführt. Hier begnüge ich mich mit einem Hinweis auf Maurice Merleau-Ponty und Marc Richir, denen das Verdienst zukommt, deutlich erkannt zu haben, dass sich die vom späten Husserl entdeckte Möglichkeit einer phänomenologischen Auseinandersetzung mit den objektiven Wissenschaften auch auf andere Kulturgebilde übertragen lassen. Besonders bei Marc Richir hat sich die Phänomenologie spontaner Sinnbildung auf diese Weise zu einer kritisch angelegten Philosophie der Kultur entwickelt. Der Kerngedanke von Husserls Spätphilosophie ist aber doch der Gedanke einer rekursiven Ontologie der Lebenswelt. Dieser Gedanke wurde bisher, wie mir scheint, noch niemals auf völlig angemessene Weise erfasst und weiterführend ausgearbeitet. Alles kommt hier darauf an, ihn mit Husserls Idee einer phänomenologischen Metaphysik von Urtatsachen zu verbinden. Erst dadurch wird deutlich, dass die lebensweltliche Ontologie durchaus einen Anspruch darauf erheben kann, als die Grundwissenschaft der transzendentalen Phänomenologie zu gelten. Der Terminus »Ontologie« erhält in der späten Phase von Husserls Denken einen völlig neuen Sinn. Nicht nur deshalb, weil es sich dabei weder um eine »formale Ontologie« im Sinne der Logischen Untersuchungen noch um eine »regionale« Ontologie im Sinne der Ideen handelt. Das entscheidend Neue an dieser Ontologie besteht vielmehr darin, dass sie keineswegs darum bemüht ist, das wahre Ansichsein der Dinge herauszustellen, sondern einzig und allein danach strebt, die Urtatsachen lebensweltlicher Erfahrung festzulegen und zu beleuchten. So ist sie nichts anderes als eine Konkretisierung von Husserls Idee einer phänomenologischen Metaphysik.

Literatur Gadamer, Hans - Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 41975 [1960]. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen (Husserliana I), Den Haag 1950. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana VI), Den Haag 1954 [1936]. Husserl, Edmund: Analysen zur passiven Synthesis (Husserliana XI), Den Haag 1966. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil (Husserliana XV), Den Haag 1963.

38 

Ebd., 59.

Vorwissenschaftliche Erfahrung und Geschichte David Carr

Unser Thema lautet im Untertitel: Dimensionen nichtwissenschaftlicher Erfahrung. In der modernen und neueren Philosophie ist dieses Thema hauptsächlich mit Bezug auf die Naturwissenschaft behandelt worden. Die moderne Naturwissenschaft gibt uns eine theoretische Auffassung der Natur und eine Methode, oder vielleicht eine Vielheit von Methoden, zur Untersuchung der Natur. Wissenschaftler stellen theoretische Fragen und bekommen durch Experimente, oft mit Hilfe von hochentwickelten Instrumenten, Antworten auf diese Fragen. Diese theoretische Haltung, Untersuchung und Interaktion mit der Natur kennen in unseren Tagen nur eine Minderheit unserer Zeitgenossen. Die meisten von uns sind froh, wenn wir von außen die theoretischen Resultate überhaupt verstehen können. Den Zugang zur wissenschaftlich verstandenen Natur haben wir nur in vermittelter Weise, durch die Priesterschaft der Spezialisten. Aber dieser theoretische Zugang zur Natur ist zum Glück nicht der einzige. Es gibt eine Erfahrung der Natur, die wir vorwissenschaftlich, nichtwissenschaftlich oder außerwissenschaftlich nennen können. Der Unterschied zwischen nichtwissenschaftlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Auffassung wurde erst klar, als die theoretische Physik sich immer weiter in Richtung unerfahrbarer, theoretischer Gegenstände bewegte. Husserl war einer der ersten, der diesen Unterschied erkannte und betonte. Zur vorwissenschaftlichen Erfahrung gehört nach Husserl eine eigene Erfahrungswelt, die er Lebenswelt nannte. Husserl hielt es für notwendig, Gegenstände, Gegenstandsbeziehungen, Raum, Zeit und andere Charakteristika der Lebenswelt scharf von den mathematisch konstruierten Gegenständen der modernen Naturwissenschaft zu trennen. Trotzdem glaubte er, durch seine Phänomenologie der Lebenswelt neues Licht auf die Wissenschaft zu werfen und ein tieferes Verständnis ihrer Leistungen zu gewinnen. Im Folgenden möchte ich das Thema der vorwissenschaftlichen Erfahrung weiterentwickeln, nicht im Bezug auf Natur und Naturwissenschaft, sondern mit Bezug auf die Geschichtswissenschaft. Auch diese Wissenschaft hat eine theoretische Haltung zu ihren Gegenständen und verfügt über verschiedene Methoden, zur Erkenntnis dieser Gegenstände zu gelangen. Allerdings ist hier die begriffliche Auffassung der Geschichtsgegenstände – Vorkommnisse, Entwicklungen, Handlungen, und dgl. – nicht so weit entfernt vom Begriffsrepertoire des Nichtwissenschaftlers wie das in der Naturwissenschaft der Fall ist. Trotzdem ist die nichtwissenschaftliche Einstellung zur Geschichte zu unterscheiden von der des Historikers. Gibt es, parallel zur vorwissenschaftlichen Erfahrung der Natur, eine vorwissenschaftliche Erfahrung der Geschichte? Aber hier stoßen wir auf ein Problem: Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist die Vergangenheit. Die Ereignisse, Handlungen, die sie untersucht, sind vergangen. Gibt es so etwas wie eine Erfahrung der Vergangenheit? Offenbar nicht. »Erfahrung«

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Kolloquium 25  ·  David Carr

hat verschiedene Bedeutungen in der Alltagssprache und auch in der Geschichte der Philosophie, aber alle Bedeutungen haben scheinbar wenigstens dies gemeinsam, daß die Erfahrung in der Gegenwart zentriert ist. Selbst situiert in der Gegenwart, ist die Erfahrung auch Erfahrung von der Gegenwart, sie ist eben der angeblich direkte Zugang zu dem, was in der Gegenwart ist und passiert. Nur das, was ist, kann uns in der Erfahrung gegeben werden. Dieser erste, auf John Locke zurückzuführende Sinn von »Erfahrung« (experience), der später auch bei Kant vorkommt, als unmittelbarer Zugang zum Gegenwärtigen, ist auch traditionsgemäß an die sinnliche Empfindung gebunden, auch wenn sie mit ihr nicht identisch ist. Erfahrung in diesem Sinn hat angeblich eine Begründungsfunktion: Ich weiß, daß es regnet, weil ich den Regen sehe, höre und fühle, d. h. direkt erfahre. In diesem Sinn wäre eine Erfahrung von der Vergangenheit ein Unsinn. Der Regen von gestern, ja der Regen vor fünf Minuten, ist nicht mehr erfahrbar. Allerdings gibt es eine zweite, in der Philosophiegeschichte sehr wichtige Bedeutung von Erfahrung, die aus derselben Tradition und demselben Sprachraum stammt. David Hume rezipiert Locke und andere britischen Empiristen, aber sein Begriff von »experience« ist ein anderer. Die »experience«, auf die sich unsere Erkenntnis von Ursache und Wirkung stützt, besteht für Hume nicht aus einem einzigen Empfindungsereignis, sie ist vielmehr die Vertrautheit mit der »constant conjunction«,1 d. h., dem wiederholten Zusammensein zweier Phänomene. Diese Vertrautheit wird zur Gewohnheit, diese Phänomene in gleicher Begleitung miteinander zu erwarten. Diese sich zeitlich erstreckende, sich anhäufende Erfahrung meinen wir, wenn wir von jemandem sagen, er habe von der Erfahrung gelernt, sie sei erfahrene Automechanikerin, usw. Wenn man zum Hume’schen Begriff das negative Element hinzufügt – man lernt von seinen Fehlern – landet man beim Erfahrungsbegriff Hegels, der seine Phänomenologie des Geistes als die »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins« bezeichnet. Die Erfahrung ist in diesem Sinn der Prozess des Lernens, ja der Bildung (in Hegels Sprache), die zum Wissen führt. Alle Erfahrung ist für Hegel also gerade vorwissenschaftliche Erfahrung. Obwohl Erfahrung in diesem zweiten Sinn eine zeitliche Dimension hat, würde man sie doch nicht Erfahrung der Vergangenheit nennen. Gewiss, die Vertrautheit mit Vergangenem, und so die Erinnerung, gehören zu den Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die Erfahrung bleibt aber in der Gegenwart zentriert, und ihre Besonderheit besteht darin, relevante Phänomene aus der Vergangenheit auf den gegenwärtigen Fall anzuwenden, um sie dann  – durch Gewohnheit, laut Hume  – in Erwartung umzuwandeln. (Man denke an die aristotelische Phronesis.) Sie ist nicht Erinnerung, auch wenn sie sich der Erinnerung bedient. So haben wir in der modernen Tradition zwei verschiedene Erfahrungsbegriffe, nämlich die punktuelle, sinnliche Erfahrung von Locke und die zeitlich ausgedehnte Erfahrung von Hume und Hegel. Und wie stehen diese beiden Erfahrungsarten zueinander? Man ist vielleicht geneigt zu sagen, Erfahrung im zweiten Sinn besteht aus einer

1 

D. Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding, 17.

Vorwissenschaftliche Erfahrung und Geschichte

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Vielheit von Erfahrungen im ersten Sinn, wobei diese Vielheit die Form einer zeitlichen Reihe annimmt. Das wäre aber viel zu einfach. Eine zeitliche Reihe von Erfahrungen gleicht nicht der Erfahrung einer zeitlichen Reihe. Anders gesagt: eine Anhäufung von Erfahrungen ist nicht eine Erfahrung der Anhäufung. Ist dann die Erfahrung im zweiten Sinn einfach die Erfahrung im ersten Sinn plus Erinnerung? Die Erinnerung, die das Vergangene zum Gegenstand hat, ist doch von der Erfahrung zu unterscheiden. Wie ist dann eine Erfahrung der zeitlichen Folge zu verstehen? Solche Fragen führten Husserl, in seiner Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, zu dem Ergebnis, dass die einfache Unterscheidung zwischen Erfahrung / Wahrnehmung einerseits und Erinnerung andererseits nicht genügt, um die Komplexität unseres zeitlichen Erlebens zu beschreiben. Er unterschied bekanntlich zwischen primärer und sekundärer Erinnerung, auch Retention bzw. Wiedererinnerung genannt, und fügte hinzu, dass eine primäre Erwartung (Protention genannt) von einer sekundären Erwartung zu unterscheiden ist 2 . Das Hören einer Melodie verlangt, dass die abgelaufenen Töne als soeben - gewesene im Bewußtsein irgendwie erhalten bleiben, wenn der neue Ton erklingt. Ja, das gegenwärtige Klingen ist nur erfahrbar, indem es das soeben gewesene ersetzt, um dann vom kommenden Ton wiederum ersetzt zu werden. Das Bewusstsein eines Zeitgegenstandes wie eine Melodie umfasst Retention (und Protention) zusammen mit dem jeweils Gegenwärtigen. Husserl schreibt: »Eine Objektivität derart wie eine Melodie kann nicht anders als in dieser Form ›wahrgenommen‹, originär selbst gegeben sein. Der konstituierte, aus Jetztbewusstsein und retentionalem Bewusstsein gebaute Akt ist adäquate Wahrnehmung des Zeitobjekts.«3 Retention ist Bewusstsein von Vergangenem (als soeben Gewesenem). Wenn Wahrnehmung Erfahrung ist, und Erfahrung von Zeitgegenständen Retention umfasst, so gibt es doch eine Erfahrung der Vergangenheit. Ja, sie gehört notwendig zur Erfahrung des zeitlichen Geschehens. Wir hören die Melodie, d. h. sie, und nicht nur die einzelnen Töne, ist der Gegenstand der Erfahrung. Teile oder Elemente dieses Gegenstandes sind vergangen, und trotzdem erfahre ich sie. Retention ist aber keine Erfahrung des Vergangenen »für sich«, sozusagen – das wäre vielmehr die Wiedererinnerung –, sondern nur als Hintergrund oder Kontext vom Gegenwärtigen. Die Struktur Retention / Protention, die Husserl hier beschreibt, sorgt für Kontinuität: Kontinuität des Erfahrenen und auch Kontinuität der Erfahrung selbst. Mit Heidegger kann man hier von Zeitlichkeit reden: Zeitlichkeit des Bewusstseins bei Husserl, Zeitlichkeit des Daseins bei Heidegger. Die sogenannte Sorgestruktur Heideggers - Sich - vorweg als Schon - sein - in als Sein - bei4 – entspricht in diesem Sinn der retentional  – protentionalen Struktur des Zeitbewusstseins. Ja, das Dasein, das Bewusstsein, und wir können auch sagen: die Erfahrung, sind nicht bloß ein Fluss, ein Vorgang, ein Ablaufen, sondern ein zeitumspannendes Ereignis, als die stets wiederholte Verwirklichung der Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Heidegger 2  3  4 

E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 39. A. a. O., 38. M. Heidegger, Sein und Zeit, 192 w.

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Kolloquium 25  ·  David Carr

nennt das auch »Erstreckung«. Heidegger spricht von der »spezifischen Bewegtheit des erstreckten Sicherstreckens« und nennt dies »das Geschehen des Daseins.« »Die Freilegung der Geschehensstruktur«, fährt Heidegger fort, »bedeutet die Gewinnung eines ontologischen Verständnisses der Geschichtlichkeit.«5. Wir kommen also auf diese Weise zur Geschichte. Heidegger nennt das Kapitel von Sein und Zeit, wo diese Zeilen zu finden sind, »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit«, und behauptet, »den existentialen Ursprung der Historie« – so nennt er die Geschichtswissenschaft – »aus der Geschichtlichkeit des Daseins« gefunden zu haben.6 Haben wir in seinem Begriff der Geschichtlichkeit die vorwissenschaftliche Erfahrung der Geschichte gefunden, die wir hier suchen? Leider nicht. Denn die Geschichtlichkeit, die Heidegger aus seinem Begriff der Zeitlichkeit entwickelt, hat keine spezifische Beziehung zur Geschichte. Das gleiche gilt für das Zeitbewusstsein Husserls. Diese Zeitlichkeit kennzeichnet das Dasein (bzw. das Bewusstsein) auch in der Erfahrung der Natur. Alle Erfahrung ist zeitlich, und so auch geschichtlich, in diesem Sinn. Wo finden wir die Erfahrung, die spezifisch im Bezug auf Geschichtswissenschaft die Rolle der vorwissenschaftlichen Erfahrung spielt? Die Antwort liegt nicht in der zeitlichen Form der Erfahrung, sondern in ihrer Intentionalität. Erfahrung ist in der Sprache Husserls intentionales Erlebnis. Als solche bezieht sie sich auf etwas, sie hat immer einen Gegenstand im weitesten Sinn des Wortes. Als intentionaler hat dieser Gegenstand immer einen Sinn, d. h. der Gegenstand ist immer irgendwie gemeint, intendiert, in diesem Fall erfahren. Die Intentionalitätsbeziehung ist nicht eine kausale, sondern eine Sinnbeziehung. Der Erfahrungsgegenstand (anders als z. B. der Phantasiegegenstand) ist immer gemeint als existierend (ob er tatsächlich existiert, ist hier irrelevant), und der Sinnzusammenhang, der breiteste Horizont des sinnhaft Existierenden, nennen wir die Welt. Der jeweilige Gegenstand kommt nicht für sich allein vor, sondern immer als eingefügt in den allgemeinen Sinnzusammenhang der Welt. Die Intentionalität ist also nicht nur Gegenstandbezogenheit, sondern auch Weltbezogenheit. Verstehen wir die Vordergrund - Hintergrund - Struktur der Erfahrung, so sehen wir ein, dass jede Erfahrung von etwas gleichzeitig Erfahrung der Welt ist. Wie eingangs gesagt, Husserls Lebenswelt ist die Welt der vor - und außerwissenschaftlichen Erfahrung. Im Hinblick auf die Natur ist es wichtig, die vorwissenschaftliche Erfahrung von einzelnen, materialen Dingen, die Erfahrung von den Ereignissen, in die sie verwickelt sind, und die Erfahrung von ihren räumlichen, zeitlichen und kausalen Beziehungen und Interaktionen zu beschreiben. Solche phänomenologischen Beschreibungen findet man überall bei Husserl, anfangend mit den berühmten Vorlesungen über Ding und Raum. Im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft ist es aber anders. Hier sind die relevanten Gegenstände nicht Dinge, sondern Menschen, ihre Handlungen, einschließlich Sprachhandlungen und andere Äußerungen, ihre Erlebnisse, Gefühle, und Beziehungen (hauptsächlich intentionale Beziehungen) zueinander; ferner Menschengruppen 5  6 

A. a. O., 375. A. a. O., 392.

Vorwissenschaftliche Erfahrung und Geschichte

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verschiedener Art, die aus diesen Beziehungen entstehen, die Ereignisse und Entwicklungen, die diese Gruppen befallen, und die Handlungen, die sie kollektiv unternehmen; menschliche Erzeugnisse, nicht nur materiale sondern auch institutionale und politische. Kurz, es ist die menschliche und soziale Welt, die im Bezug auf Geschichtswissenschaft, und jede andere Human– oder Geisteswissenschaft, den Gegenstandsraum der vor– und außerwissenschaftlichen Erfahrung bilden. Hier wird man mir vielleicht einwenden, dass es in diesem Bereich nicht angebracht ist, von vorwissenschaftlicher Erfahrung zu sprechen. Ist die Erfahrung der menschlichen Welt nicht immer beeinflusst und durchdrungen vom Niederschlag wissenschaftlicher Arbeit, in Form von unbewusst wirkenden Begriffen, ideologischen Annahmen, und dergleichen? Setzt solche Erfahrung nicht immer einen begrifflichen Rahmen voraus, der für den Erfahrenden diese soziale Welt vorformt und gestaltet? Gewiss. Aber das Gleiche kann man von der sinnlichen Erfahrung materialer Dinge sagen. Unbewusste Voraussetzungen können auch diese Erfahrung beeinflussen, leiten und färben. Aber wir versuchen hier nicht, die Erfahrung psychologisch zu erklären, ihren spezifischen Gehalt auf irgendwelche unbewusste Ursprünge zurückzuführen, sondern sie bloß phänomenologisch zu beschreiben. Die Voraussetzung unseres Vorhabens hier ist, dass wir unterscheiden können zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit, theoretischer Arbeit bzw. Forschung einerseits und außerwissenschaftlicher Erfahrung andererseits. Weder die Erklärung noch der Wahrheitsgehalt dieser Erfahrung interessieren uns. Beide sind in der phänomenologischen Methode, wie Husserl sagt, in Klammern gesetzt. Zusammenfassend können wir also sagen, dass die vorwissenschaftliche Erfahrung der Geschichte die Erfahrung der menschlich - sozialen Welt ist, und dass diese Erfahrung anders ist als die vorwissenschaftliche Erfahrung der Natur. Allerdings spielen sich die menschlichen Ereignisse auf dem Boden der Natur ab, und die Natur spielt hier eine wichtige, wenn auch sekundäre Rolle als Schauplatz und Hintergrund menschlicher Ereignisse. In diesem Sinne gehört auch sie zur menschlichen Welt. Diese Natur ist etwas anderes als die vorwissenschaftlich direkt erfahrene Natur, da sie hier einen spezifischen Sinn durch die Handlungen und Erfahrungen von Individuen und sozialen Gruppen erhält. Eine Landschaft kann direkt vorwissenschaftlich erfahren werden, sie kann aber auch als spezifische Umwelt und als Quelle der Ernährung und als Baumaterial für eine soziale Gruppe verstanden werden. Ihre geographischen Züge bestimmen die Entwicklung von Siedlungen und Städtebau. Hier ist die Landschaft sozusagen quer oder indirekt gegeben, nämlich über die Interessen und Auffassungen dieser Gruppe. Nachdem man einen Sinn gewonnen hat für das Spezifische der menschlich  - sozialen Welt, kann man zurückkommen auf die Diskussion der Zeitlichkeit, und hier auch eine spezifisch menschlich - soziale Zeitlichkeit erkennen. Wir können sogar die Melodie wiederaufnehmen, nicht mehr als abstraktes Beispiel eines Zeitobjekts, sondern konkret als Erzeugnis einer menschlichen Handlung. Ich meine hier nicht etwa den Komponisten, sondern den Spieler oder Sänger, der diese Melodie als akustisches Phänomen in die Welt bringt. Singen und Spielen sind Handlungen, die in der Zeit ablaufen und aus einer Reihe von Teilhandlungen und Phasen bestehen. Dieser Ablauf

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hat aber als Handlung einen Sinn nicht nur für den Hörer, der die Melodie erfährt, sondern auch für den Spieler und Sänger, die die Melodie erzeugen. Besonders in Hinblick auf die Zukunft kann dieser Sinn ein anderer sein, da der Inhalt der Protention vom Spieler und Sänger erzielt und produziert, vom Hörer dagegen passiv empfangen wird. Die Aufführung von Musik ist ferner ein sozialer Vorgang, der sich in verschiedenen sozialen Kontexten abspielt, von Straßenmusikern über improvisierte Jazz-Sessions bis in den Konzertsaal. Von der Handlung des Musizierens können wir den Blick auf die Musik als Erzeugnis oder Produkt lenken, wo sie in einem ganz eigenartigen Sinn zum Inventar der kulturellen Umgebung gehört. Die Idee der kulturellen Umgebung muss nun weiter entwickelt werden. Auf der nicht  - materiellen Seite leben wir Zeitgenossen in einer Welt, die neben der Musik auch die Literatur und die Kunst, die Popkultur, aber auch Finanzwesen, Geschäfte, Trends und Bewegungen enthält. Die materielle Umgebung ist aber viel näher und aufdringlicher: die Meisten von uns leben in einer Welt von Häusern und Gebäuden, von Straßen, Verkehr und Verkehrsmitteln. Häuser und Straßen sind, abgesehen vom Abreißen und Neubauen, unbewegliche Gegenstände (wir sagen: Immobilien), aber sie dienen als Schauplatz der Bewegungen und Handlungen ihrer Benutzer und Bewohner. Ferner sind sie implizit bezogen auf ihre Hersteller und die Tätigkeit des Herstellens. Diese menschlich - soziale Welt ist also eine Welt von Vorgängen und Prozessen, von Handlungen und Entwicklungen, von Ereignissen und Geschehen, die wir dank unseres Zeitbewusstseins und der Retention - Protention - Struktur als Kontinuitäten erfahren. Genau wie die Naturwelt ist diese menschliche Welt eine zeitliche Welt, die wir als zeitliche Kontinuität auffassen. Aber die Zeitlichkeit der menschlichen Welt ist, wie wir gesehen haben, eine andere als die Zeitlichkeit der Natur. Von Häusern und Straßen, von Städten und Stadtplänen können wir sagen, dass sie eine Vergangenheit haben, die als Horizont und Hintergrund mitgegeben ist, wenn sie in der Gegenwart erfahren werden. Ja, von unseren Mitmenschen können wir das auch sagen. Dieser zeitliche Vergangenheitshorizont ist in der Retention gegeben und, wie wir vorhin sagten, dank der Retention haben wir tatsächlich eine Art Erfahrung der Vergangenheit – allerdings, wie gesagt, eine Horizont - Erfahrung, die zur Erfahrung der Gegenwart gehört. Im Sinne Husserls ist diese Erfahrung ganz anders als die Wiedererinnerung. Man kann ferner sagen, dass manche dieser Häuser, und manche dieser Menschen, älter sind als wir – d. h. als ich, das jeweilige Einzelsubjekt der Erfahrung. In solchen Fällen reicht die Vergangenheit, die zur Erfahrung der Gegenwart gehört, in die Zeit vor unserer Geburt. So ist die breite und tiefe, ins Unbestimmte hineinreichende Vergangenheit, als Horizont und Hintergrund der Gegenwart, immer mitgegeben in der Erfahrung der menschlich - sozialen Welt. Insofern ist das Erfahrene nicht beschränkt auf die Lebenszeit des Erfahrenden. Eine weitere, wichtige Bemerkung zur Zeitlichkeit der menschlich - sozialen Welt. Claude Lévi - Strauss hat vorgeschlagen, als Einwand gegen die Geschichtsauffassung Jean - Paul Sartres, dass die Ereignisse der menschlichen Welt nicht alle auf der gleichen

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Zeitachse stehen, dass sie sich vielmehr auf verschiedene Zeitebenen verteilen.7 Ihre Bedeutung als Ereignisse kommt zum Teil daher, mit welchen andren Ereignissen sie zusammenhängen. Z.B. könnten wir zuunterst von einer biologischen und meist zyklischen Zeitlichkeit des Körpers sprechen, dann von einer Ebene der persönlichen Lebensgeschichte, wo die Zeit nicht mehr zyklisch sondern narrativ auslegt wird. Manchmal haben aber die Ereignisse, die wir persönlich erfahren, eine Bedeutung, die sich auf einer ganz anderen Ebene befindet, die weit über die Grenzen des eigenen Lebens reicht. Um die extremsten Beispiele zu nennen: Die Öffnung der Berliner Mauer, oder die Angriffe vom 11. September 2001 auf New York und Washington, die viele von uns entweder direkt oder dank des Fernsehens wenigstens simultan erfahren haben, sind Ereignisse, die sich auf der Weltbühne abspielen. Das bedeutet, dass sie nicht nur Ereignisse meines eigenen Lebens sind, so wichtig sie in dieser Hinsicht auch sein mögen. Vielmehr stammt ihre Bedeutung (auch ihre Bedeutung für mich) auch daher, dass sie einen weltgeschichtlichen Stellenwert haben. Die Öffnung der Mauer ist ein Kapitel der Geschichte des Kalten Kriegs und gehört als solche in eine Reihe von Ereignissen, die bis in die 40er Jahre zurückreicht. Die Angriffe von 2001 zielten auf Symbole der amerikanischen Weltmacht – finanzielle und militärische Macht – und gehören zu einer Geschichte terroristischer Angriffe, deren Züge wir vielleicht noch nicht ganz verstehen, aber die auf jeden Fall viel komplexer ist als ein Krieg zwischen Gut und Böse. Beide Ereignisse sind als »Wendepunkte« erfahren, ohne dass wir wissen, wo sie hinführen. Aber sie sind Wendepunkte einer ganz besonderen Art: nicht etwa persönliche oder Familienwendepunkte, die in einer besonderen Geschichte einen Platz haben (obwohl sie auch unter Umständen diese Rolle spielen könnten), sondern eben historische Wendepunkte, die mit anderen historischen Ereignissen zusammenhängen und in eine historische Entwicklung gehört. Diese Beispiele sind natürlich ganz außergewöhnlich, aber sie zeigen, dass unsere Erfahrung offen ist für eine Dimension der menschlich  - sozialen Welt, die insofern geschichtlich ist, als sie über jede persönliche Bedeutung hinausgreift und über die zeitlichen Grenzen des eigenen Lebens hinausreicht. Die Beispiele zeigen auch, durch den Schock des Unerwartetseins, die Wichtigkeit der Protention in der Zeitlichkeit des Erfahrens. Dank der Protention erwarten wir immer etwas, die Erfahrung ist nie »offen für die Zukunft« in dem Sinne, dass das Zukunftsbewusstsein völlig leer und ohne Inhalt wäre. Ja, gerade weil die Protention immer einen Inhalt hat, können wir auch überrascht und schockiert werden durch das, was dann tatsächlich passiert. Die Erfahrung kann immer etwas bringen, was wir nicht erwarten; daher stammen manche unserer Fehler und Misslingen. Weil wir die Fähigkeit haben, dies auch in Kauf zu nehmen, können wir, wie wir sagen, von der Erfahrung lernen. Wir können noch etwas Wichtiges von diesen Beispielen lernen: Wir haben bisher von der vorwissenschaftlichen Erfahrung, von ihrer Zeitlichkeit und ihrer Intentionalität gesprochen. Über die Intentionalität kamen wir auf Erfahrungsgegenstände und

7 

C. Lévi - Strauss, La Pensée sauvage, 342.

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Erfahrungswelt. Auf der Suche nach einer im Bezug auf Geschichtswissenschaft spezifischen vorwissenschaftlichen Erfahrung konzentrierten wir auf die menschlich - sozialen Gegenstände und die menschlich - soziale Welt. Anfangend also mit dem Begriff der Erfahrung, haben wir eine gegenstands- und weltorientierte Analyse unternommen. Jetzt können wir fragen: wie steht es mit dem Subjekt dieser Erfahrung? Wessen Erfahrung beschreiben wir hier? In der üblichen Weise haben wir manchmal »ich«, manchmal »wir« in der Subjektstelle gebraucht. Aber wir müssen anerkennen, dass der Gebrauch der Pronomina differenzierter sein muß, dass »ich« und »wir« spezifische Bedeutungen haben, bezogen auf besondere Erfahrungsformen. Alle Erfahrungen können von der Perspektive der ersten Person beschrieben werden – das ist charakteristisch für die phänomenologische Methode. Die erste Person gibt es aber nicht nur im Singular, sondern auch im Plural. In der Erfahrung des »Historischen«, im Sinne der beiden genannten Beispiele, liegt eine eigenartige Intersubjektivität. Jeder von uns hat die Erfahrung mit anderen geteilt; ihre Gegenstände sind Ereignisse, die nicht nur für mich da sind, sondern für uns, ja im gewissen Sinn für alle. Die Intersubjektivität des geteilten Erfahrens ist anders als die Intersubjektivität der Ich - Du - Beziehung, die für die meisten Philosophen paradigmatisch ist. Hier stehe ich den anderen nicht gegenüber, sondern zur Seite als Mitglied einer Erfahrungsgemeinschaft. Das historische Ereignis erzeugt sozusagen ein historisches Wir - Subjekt. Wir wissen, dass Hegel, in seiner Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins (d. h. der Phänomenologie des Geistes), die Hauptperson seines Bildungsromans so einführt: »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist«, d. h. die Einheit verschiedener für sich seiender Selbstbewußtseine. »Hiermit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden.«8 Durch meine Angehörigkeit zu und Teilnahme an einem Wir - Subjekt, einer Gemeinschaft, stehe ich nicht nur in einer Intersubjektivität der Gegenwart. Ich und meine Zeitgenossen kommen auch dadurch in eine Zeitlichkeit, die weit über die Grenzen unseres eigenen Lebens hinausführt und in die Vergangenheit vor unserer Geburt reicht. Hier ist die Erfahrung eine solche, die nicht bloß uns angehört, sondern schon im Gange war, als wir zu Bewusstsein kamen, eine Erfahrung, die wir aufnehmen und weiterführen. Fassen wir zusammen: Wir haben die Zeitlichkeit, die Intentionalität, und die Intersubjektivität der Erfahrung untersucht, um zu einem Begriff der vor– und außerwissenschaftlichen Erfahrung der Geschichte zu kommen. Die vorwissenschaftliche Erfahrung der Geschichte ist Erfahrung des menschlich - sozialen Geschehens, wobei das Subjekt dieser Erfahrung nicht nur Singular, sondern auch Plural ist, und wo das Subjekt dieser Erfahrung nicht nur Beobachter, sondern auch Teilnehmer ist. Anders gesagt: Die Erfahrung der menschlich - sozialen Welt ist auch Teilnahme an ihr, und als Mitsubjekt einer Gemeinschaft impliziert das menschliche Geschehen auch das erfahrende Subjekt. Individuen und Gruppen sind verwickelt in die Ereignisse der menschlichen Welt, ehe sie sich von diesen Ereignissen distanzieren uns sie von außen beobach-

8 

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 140.

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ten. Das hat Dilthey gemeint in zwei vielzitierten Sätzen: »Die geschichtliche Welt ist immer da, und das Individuum betrachtet sie nicht nur von außen, sondern es ist in sie verwebt.« Und ferner: »Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Betrachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen.«9 Mit der Distanzierung von der Geschichte und der Einnahme des Beobachter - Status beginnt die Geschichtswissenschaft. Die Einstellung des Historikers zur Vergangenheit ist die Einstellung nicht der Retention, sondern der Wiedererinnerung, in der Sprache Husserls, wo das Vergangene für sich zum Thema wird. D. h. die Vergangenheit ist in dieser Sicht nicht mehr Horizont und Hintergrund für die Gegenwart, sondern Gegenstand einer eigenen Intention. Die Einstellung des Historikers bringt hiermit eine kritische Sicht ins Spiel. Im Gegensatz dazu gilt die vorwissenschaftliche Erfahrung als naiv. Die Distanzierung der wissenschaftlichen Geisteshaltung ist zum Teil eine Distanzierung von der Gegenwartsperspektive. Aber diese wissenschaftliche Einstellung zur Vergangenheit setzt eine andere voraus, diejenige, die wir hier zu beschreiben versucht haben, nämlich die einer vorwissenschaftlichen Erfahrung der Geschichte.

Literatur

Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1957. Hume, David: An Enquiry Concerning Human Understanding, Indianapolis 1977. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Haag 1966. Lévi - Strauss, Claude: La Pensée sauvage, Paris 1962.

9 

W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, 346.

Kolloquium 26 Philosophie der Musik

Georg Mohr Einführung: »Musikphilosophie – Musikästhetik« Jürgen Stolzenberg Über das Hören von Melodien Überlegungen zu einer Phänomenologie des musikalischen Zeitbewusstseins Simone Mahrenholz Musik als Herausforderung für philosophische Erkenntnis-Konzeptionen

Einführung: »Musikphilosophie – Musikästhetik« Georg Mohr

Zum ersten Mal in der Geschichte der Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Philosophie ist die Musikphilosophie als eigene philosophische Disziplin mit einem Kolloquium und einer Sektion vertreten. Das ist erstaunlich, war Musik doch in allen Epochen der Kulturgeschichte auch Gegenstand philosophischer Reflexion. In der deutschsprachigen Philosophie spielte die Musikphilosophie im 19. und 20. Jahrhundert bis in die sechziger Jahre sogar eine herausragende Rolle, man denke nur an Schopenhauer, Nietzsche oder Adorno, in deren Philosophie Musik eine systematische Schlüsselstellung einnimmt. Seit Adornos Tod ist es nun gerade in Deutschland still um die Musikphilosophie geworden. Englischsprachige PhilosophInnen analytischer Provenienz hingegen haben in den letzten dreißig Jahren eine Fülle von Arbeiten publiziert, die diese Disziplin zu neuer Blüte geführt haben. Dabei ergeben sich im Zuge von Untersuchungen zur Musik auch Einsichten, die nicht nur zum philosophischen Verständnis von Musik im engeren Sinne beitragen, sondern auch aufschlussreiche Rückwirkungen auf philosophische Theorien, deren Problemstellungen und Methoden  haben. So ist die klassische Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie referenztheoretisch fixiert auf Begriffsgebrauch und optisch wahrnehmbare Gegenstände, das Verstehen akustischer Wahrnehmungen hingegen wird systematisch ausgeblendet. Hier ist ein Nachholbedarf, der nicht nur die Disziplin der Musikphilosophie betrifft, sondern auch den Horizont philosophischer Zugangsweisen zu Dimensionen menschlichen Erfahrens und Verstehens, die sich nicht auf Sehen und Begriffsgebrauch reduzieren lassen. Es ist an der Zeit, auch hierzulande sich wieder verstärkt der Musikphilosophie zuzuwenden. Vielleicht kann dieser Kongress mit dem Kolloquium und der Sektion Philosophie der Musik / Musikästhetik einen Beitrag dazu leisten. Leider wird diese gute Nachricht von einem traurigen Ereignis überschattet. Für die Planung des Kolloquiums konnte Rainer Cadenbach von der Universität der Künste in Berlin gewonnen werden. Kurz nach dem plötzlichen Auftreten einer schweren Erkrankung ist Rainer Cadenbach am 22. Mai 2008 gestorben. Als promovierter Philosoph und habilitierter Musikwissenschaftler verband er in einer Person Kompetenzen in beiden für die Musikphilosophie einschlägigen Disziplinen. Seine 1978 erschienene Bonner Dissertation ist eine philosophische Untersuchung mit dem Titel Das musikalische Kunstwerk. Nach der Promotion wechselte Rainer Cadenbach ganz in die Musikwissenschaft. Er habilitierte sich 1985 am Bonner Musikwissenschaftlichen Seminar mit einer Arbeit über Max Regers Skizzen und Entwürfe. Seit 1989 war er als Nachfolger von Reinhold Brinkmann ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule (heute: Universität) der Künste in Berlin. Mit dem wenige Monate vorher in dem Sonderband Musikphilosophie der Reihe Musik-

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Konzepte erschienenen Aufsatz »Was ist Musik? oder: Die Mühen des Begriffs. Disparate Antworten auf eine eigentlich philosophische Frage«1 war der Musikwissenschaftler Rainer Cadenbach zur begrifflich-grundlagentheore­tischen Arbeit einer Philosophie der Musik zurückgekehrt. Seine Bereitschaft, an der Organisation des musikphilosophischen Kolloquiums dieses Kongresses mitzuwirken, war, wie er selbst explizit sagte, Ausdruck seines Wunsches, sich in den nächsten Jahren diesem Bereich wieder intensiv zuzuwenden. Dazu kann es nun nicht mehr kommen. Rainer Cadenbach war einer der wenigen, die professionelle Philosophie mit professioneller Musikwissenschaft in einer Person zu verbinden wussten. Sein unzeitgemäßer Tod tut vor allem denen weh, die ihn persönlich kannten, aber er bedeutet auch für die Musikphilosophie, die von ihm noch wichtige Impulse bekommen hätte, einen unersetzbaren schmerzlichen Verlust. Die philosophische Betrachtung von Musik auf einem Kongress unter dem Leitthema »Lebenswelt und Wissenschaft« zum Thema zu machen, ist unmittelbar einleuchtend. In einem noch weitergehenden Sinne als es bei vielen anderen Themenbereichen akademischer Philosophie der Fall ist, ist die Musik sowohl vitaler Teil des menschlichen Alltags als auch Gegenstand hoch spezialisierter Wissenschaft. Die, zumindest in einem traditionellen, scholastischen Verständnis von Philosophie, erste Frage, die sich einer Musikphilosophie stellt, ist die Frage nach ihrem Gegenstand, also nach dem Begriff von Musik. Was ist Musik? Doch wie so oft ist auch hier im Fall der Musik das vermeintlich Selbstverständliche bei genauerem Hinsehen begrifflich schwierig zu analysieren und zu definieren. Die heute im (europäischen) Alltagsverständnis vorherrschende Verwendung des Wortes »Musik« bezieht sich auf komponierte Musik-Werke, auf musikalische Kunstwerke. Musik, das ist Mozarts Kleine Nachtmusik, Beethovens Neunte, Robert Johnsons Crossroads, Keith Jarretts Köln Concert, Michael Jacksons Beat It, aber auch Volkslieder, Kinderlieder und dergleichen. Gelegentlich erweitern wir diese Bedeutung und nennen auch zum Beispiel den Vogelgesang »Musik«, oder wir erklären erfreut, wenn uns eine gute Nachricht erreicht, dass sie uns »wie Musik in den Ohren klingt«. Wir würden aber, wenn wir auf die Verwendung solcher erweiterten Bedeutungen des Wortes ›Musik‹ angesprochen würden, sicher einräumen, dass wir dabei in einem übertragenen, nicht wörtlichen Sinne von Musik sprechen. Wir unterstellen, dass die ›eigentliche‹ oder ›Kern‹-Bedeutung des Wortes ›Musik‹ musikalische Kunstwerke meint und dass andere Verwendungen übertragene Redeweisen sind. Der im Alltagsverständnis zum Ausdruck kommende Grundgedanke ist, dass Musik die »absichtsvolle Organisation von Schallereignissen«2 ist. Für diesen heute vorherrschenden Sinn des Wortes ›Musik‹ hat man im Deutschen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Wort ›Tonkunst‹ verwendet. Es ist eine präzisere Bezeichnung für das, was wir normalerweise mit ›Musik‹ meinen: eben musikalische Kunstwerke. Im Musicalischen Lexicon des Bach-Schülers J. G. Walther (1732) wird »Musica« definiert als »überhaupt die Ton-Kunst, d. i. die Wissenschaft, wohl zu singen, 1  2 

U. Taddey (Hg.), Musik-Konzepte: Musikphilosophie, 183–203. o. A. »Musik«.

Einführung

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zu spielen, und zu komponieren«.3 Dementsprechend war noch bis ins 20. Jahrhundert statt von ›Musikästhetik‹ von ›Ästhetik der Tonkunst‹ die Rede. Noch Ferruccio Busoni veröffentlicht 1907 seine Musikästhetik unter dem Titel Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Weder im Englischen noch im Französischen noch im Italienischen gibt es neben ›music‹, ›musique‹, ›musica‹ ein gebräuchliches Äquivalent für ›Tonkunst‹. Aber die Etymologie von ›Musik‹ zeigt, dass es gute Gründe gab, den Terminus ›Tonkunst‹ eigens einzuführen. Heute kommt man daher gelegentlich wieder auf diesen Terminus zurück (so etwa Rainer Cadenbach); er bietet eine musikwissenschaftlich und musikphilosophisch sinnvolle Differenzierungsmöglichkeit. In Lübeck erscheint seit vorletztem Jahr ein »Magazin für klassische Musik und Musikwissenschaft« mit dem Titel Die Tonkunst4. Das griechische Wort mousiké, abgeleitet von moûsa, Muse, bedeutet so viel wie: ›was in der Zuständigkeit der Muse liegt‹. Der Ausdruck téchne mousiké wird meist mit ›Kunst der Muse‹ übersetzt. Die mousiké umfasst mehr als das Singen und das Spielen von Instrumenten und also mehr als der heute vorherrschende Sinn des Wortes ›Musik‹. Bei Platon wird im dritten Buch der Politeia (III 409 d–412 b) die mousiké der Gymnastik gegenübergestellt. Die Gymnastik ist die Ertüchtigung des Körpers, die mousiké die Ausbildung des Geistes. Dazu gehören »Lesen, Schreiben, Gesang, Lyraspiel und auch alle Disziplinen der später sogenannten Artes liberales. Musiké ist ›Geisteskultur‹«5. Es ist ein Allgemeinbegriff für alle kulturellen Aktivitäten. Andy Hamilton übersetzt ihn im Englischen mit ›humanities‹.6 Da das später dominierende Verständnis von Musik demgegenüber eine erhebliche Bedeutungsverschiebung darstellt, war die Verwendung des Terminus ›Tonkunst‹ eine sachlich sinnvolle Präzisierung. Klammern wir diese sachlich durchaus wichtige begriffliche Differenzierung zwischen Musik und Tonkunst aus pragmatischen Gründen für unsere gegenwärtigen Zwecke aus und sprechen nur von ›Musik‹, so stoßen wir auf einen weiteren Befund einer doppelten Terminologie. Philosophische Betrachtungen über Musik firmieren unter zwei nebeneinander existierenden Bezeichnungen: (a)  ›Musikphilosophie‹ oder auch ›Philosophie der Musik‹, (b)  ›Musikästhetik‹. Die Bezeichnung ›Musikphilosophie‹ oder ›Philosophie der Musik‹ wird seltener in der Musikwissenschaft, überwiegend in der Philosophie und dort meistens synonym mit ›Musikästhetik‹ verwandt. Unter ›Musikästhetik‹ wird in der Philosophie eine Teildisziplin der Philosophischen Ästhetik verstanden, in der Musikwissenschaft eine Teildisziplin der Systematischen Musikwissenschaft (in Abgrenzung zur Historischen Musikwissenschaft). In dem von Siegfried Bimberg 1979 herausgegebenen Handbuch der

J. G. Walther, Musicalisches Lexicon, 430. M. Brösicke, Die Tonkunst. 5  Vgl. G. Scholtz, Artikel »Musik«; F. Zaminer, »Mousiké«; A. Hamilton, Aesthetics and Music, Kap. 1, 10–39. 6  A. Hamilton, Aesthetics and Music, 13 ff. 3  4 

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Musikästhetik finden sich einige in der Literatur der letzten dreißig Jahre entwickelten Begriffsbestimmungen und Aufgabenzuschreibungen von Musikästhetik.7 Diese –– untersucht die Bedeutung von Musik; –– »untersucht den Gegenstand, das Wesen und die Funktion der auditiv-ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit durch den Menschen« (18); –– »untersucht auch die Spezifik der auditiv-ästhetischen Sinneswahrnehmung, die ebenso wie die visuell-ästhetische Wahrnehmung beim Menschen untrennbar mit ideellen und emotionalen Vorgängen (vor allem Wertungen) verbunden ist« (19); –– »erforscht die Stellung der Musik im Ensemble der Künste« (ebd.); –– »untersucht ästhetische Gesetzmäßigkeiten des musikalischen Kunstprozesses in seiner Gesamtheit, d. h. den Zusammenhang und die Wechselbeziehungen von musikalisch-künstlerischer Produktion, Reproduktion bzw. Interpretation, Musikverbreitung und Musikrezeption« (ebd.); –– ist »[…] die Werttheorie der Musik. Der ästhetische Wert als Ausdruck der Bedeutung eines ästhetischen Objekts für das kunstproduzierende,- ausübende oder -  genießende Subjekt [ist ihr Gegenstand] Das Schöne (in seiner Polarität zum Häßlichen) ist zweifellos die zentrale Wertkategorie der Musikästhetik« (20); –– »erforscht die sozialhistorische und musikkulturelle Determiniertheit der Entstehung und Wandlung musikalischer Gattungen und Genres, strukturell-kompositorischer Normen und Gestaltungsmittel« (ebd.); –– ist die »Erforschung der Wirkungsbedingungen und Wirkungsweise der Musik in der Gesellschaft, ihrer sozialen Funktion und ihrer Rolle bei der […] Persönlichkeitsbildung und der Entwicklung der Lebensweise« (21); –– ist die »kritische Sichtung und Aneignung des musikästhetischen Denkens der Vergangenheit« (ebd.). Es gibt keine allgemein anerkannte scharfe terminologische Unterscheidung zwischen den beiden Bezeichnungen ›Musikästhetik‹ und ›Philosophie der Musik‹ (oder ›Musikphilosophie‹) und ihren entsprechend abgegrenzten Gegenstandsbereichen oder Methoden, die den Anspruch einer etablierten Definition erheben könnte. Angesichts dieses Umstands könnte man sich fragen, ob zwei Bezeichnungen überhaupt sinnvoll und notwendig und die definitorische Abgrenzung möglich ist. Carl Dahlhaus etwa identifiziert beide in seinem Artikel »Musikästhetik«: Musikästhetik ist, sofern sie nicht Musikpsychologie ist, Philosophie der Musik, die wiederum nur einen geringen Teil des Denkens über Musik darstellt [.Sie] ist das Resultat eines wechselnd motivierten philosophischen Interesses an Musik8 . Mir scheint es jedoch durchaus sinnvoll, zwischen Musikphilosophie und Musikästhetik zu unterscheiden. Auch wenn eine vollständige allgemeinverbindliche Aufgaben-

7  8 

Vgl. S. Bimberg u. a. (Hgg.), Handbuch der Musikästhetik, 18–21. C. Dahlhaus, »Musikästhetik«, 402 (Hervorhebung G. M.).

Einführung

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verteilung weder sinnvoll noch möglich sein dürfte, so sollte anhand der folgenden Zuordnungen doch der die Unterscheidung leitende Grundgedanke ersichtlich werden:9 • Musikphilosophie Aufgabe der Musikphilosophie sind grundlagentheoretische Untersuchungen zum Musikbegriff sowie zu den Parametern musikalischer Phänomene und ihrer Rezeption: Zeit, Raum, Ton, Klang, Hören, Wahrnehmen, Sinn, Bedeutung, Verstehen, Darstellung, Ausdruck. Die Musikphilosophie reflektiert dabei auch umfassend auf die Stellung und Bedeutung von Musik im Gesamtzusammenhang von Welt und menschlicher Existenz. Ontologische, erkenntnistheoretische, sprach- und bedeutungstheoretische, anthropologische, geschichtsphilosophische und metaphysische Aspekte von Musik sind Untersuchungsgegenstand der Musikphilosophie. Die Stellung der Musik in philosophischen Systemen ist ihrerseits Gegenstand einer musikphilosophisch fokussierten Philosophiegeschichtsschreibung. Schließlich vermag die Musikphilosophie als eine auf einen bestimmten Gegenstandsbereich bezogene Teildisziplin der Philosophie auch der philosophischen Grundlagenforschung (Ontologie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie) Impulse zu geben. Die Berücksichtigung der in der Musikphilosophie thematischen Phänomene kann den Horizont und den Erklärungswert philosophischer Grundlagentheorien erweitern. • Musikästhetik Gegenüber der allgemein-kategorialen und grundlagentheoretischen Ausrichtung der Musikphilosophie befasst sich die Musikästhetik als Disziplin der Musikwissenschaft mit der Analyse der Produktion und Rezeption von Musik, mit bestimmten Formen und Traditionen von Musik, der Klassifizierung von Musikstilen in ihrem kulturgeschichtlichen Kontext, der Interpretation von Bedeutungsdimensionen musikalischer Gattungen und ihrer Wandlungen. Je nach der disziplinären Sprachregelung und Arbeitsteilung, die auch in der Musikwissenschaft nicht einhellig ist, ist diese Liste entsprechend zu erweitern. Wir haben uns für diesen Kongress entschlossen, beide Termini zu verwenden und den einen Terminus dem Kolloquium und den anderen der Sektion zuzuordnen. Allerdings haben wir den Referenten keine Vorgaben für ihre Themenwahl gemacht.

Musikästhetik als Disziplin der Systematischen Musikwissenschaft Die Musikwissenschaft, obwohl ein so genanntes »kleines« Fach – »klein« gemessen an der Zahl der Lehrstühle an deutschen Universitäten –, ist eine differenziert arbeitsteilige Forschungsorganisation. Neben der Historischen Musikwissenschaft und der 9 

Ähnlich in der Grundausrichtung U. Tadday, Musikphilosophie, Vorwort.

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Analyse musikalischer Kompositionen ist der Bereich der Systematischen Musikwissenschaft seinerseits ausdifferenziert in mehrere Teildisziplinen. Musiktheorie, Musikpsychologie, Musiksoziologie, Musikpädagogik und Musikästhetik – so lautet der Disziplinen-Kanon, den Helga de la Motte-Haber im von ihr 1982 mit herausgegebenen Band Systematische Musikwissenschaft 10 vorstellt. Die Musikästhetik hat dort also einen festen Platz. Ein keineswegs nur äußerliches, sondern durchaus beredtes Indiz für die Konsolidierung der Musikästhetik als Disziplin der Musikwissenschaft ist der Umstand, dass aus dem Kapitel »Ästhetik und Musikästhetik« im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft von 198211 zwanzig Jahre später im 2004 erschienenen Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft der komplette erste Band Musikästhetik12 geworden ist. Und auch die von Richard Klein und anderen begründete Zeitschrift Musik & Ästhetik ist allein durch ihre inzwischen zwölfjährige Existenz ein Beleg dafür, dass sich die Lage inzwischen zugunsten der Musikästhetik verbessert hat. Carl Dahlhaus, selbst Autor einer 1967 erschienenen Musikästhetik13 , hatte jedoch noch 1978 in seinem die Diskussion bis heute prägenden Buch Die Idee der absoluten Musik geschrieben: Musikästhetik ist nicht populär. Bei Musikern ist sie dem Verdacht ausgesetzt, abstraktes Gerede zu sein, das an die musikalische Realität nicht heranreicht, beim musikalischen Publikum dem Argwohn, es handle sich um philosophische Reflexionen, die man den Eingeweihten überlassen sollte, statt den eigenen Verstand mit überflüssigen Schwierigkeiten zu plagen.14 Und sogar noch die Herausgeber der 1997 begründeten Zeitschrift Musik & Ästhetik schreiben im Editorial des ersten Heftes: Die Musikfremdheit der philosophischen (soziologischen, psychoanalytischen) Ästhetik hat ihr Pendant in der Ästhetikferne der Musikwissenschaft. Deren Option für empirische Geschichte ist so grundlegend, daß philosophische oder ästhetische Fragestellungen in der Musikwissenschaft geradezu einen ›dark continent‹ darstellen.15 Die zitierten Autoren, Musikwissenschaftler mit philosophischem Hintergrund und Anspruch, haben schließlich wesentlich dazu beigetragen, dass die Musikphilosophie im deutschsprachigen Raum heute in einer Wiederbelebung begriffen ist.

Vgl. etwa H. de la Motte - Haber, »Umfang, Methode und Ziel der Systematischen Musikwissenschaft«, 14–20. 11  C. Dahlhaus, »Ästhetik und Musikästhetik«. 12  H. de la Motte - Haber / E. Tramsen (Hgg.), Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, Bd. 1: Musikästhetik. 13  C. Dahlhaus, Musikästhetik. 14  C. Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, 7. 15  L. Holtheimer / R. Klein / C. S. Mahnkopf, »Editorial«, 7–8. 10 

Einführung

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Philosophie und Musik – ein problematisches Verhältnis? Die Selbstkritik der zitierten Musikwissenschaftler an der musikphilosophischen Unterbelichtung ihres Fachs ist erstaunlich. Für die Philosophen ist sie fast beschämend. Denn, vergleicht man die in der Musikwissenschaft der letzten vierzig Jahre publizierten Arbeiten zur Musikphilosophie mit denen von Philosophen, so stellt man fest, dass es gerade die Musikwissenschaftler sind, die die Musikphilosophie über Wasser gehalten haben. Systematische Abhandlungen sowie Lehrbücher und Textanthologien zur Musikästhetik und Musikphilosophie werden mit viel Engagement und im Übrigen mit viel philosophischer Kompetenz von Musikwissenschaftlern vorgelegt.16 Namen wie Carl Dahlhaus oder Hans Heinrich Eggebrecht, um nur diese zwei international prominentesten Autoren zu nennen, stehen für eine musikphilosophische Produktivität von Musikwissenschaftlern, der die professionelle Philosophie in Deutschland seit langem so gut wie nichts zur Seite gestellt hat. Eine skeptische Haltung, was grundsätzlich das Verhältnis von Philosophie und Musik angeht, scheint vorzuherrschen: Philosophen erklären sich beinahe schon traditionsgemäß für Musik unzuständig, während die musikwissenschaftliche Zunft Philosophie in etwa so scheut wie der Teufel das Weihwasser. In der musikalischen Praxis gelten sowohl Wissenschaft wie Philosophie beinahe von vornherein als Symptome menschlicher Genuss-und Erfahrungsunfähigkeit, während in der akademischen Welt historische und theoretische Forschung über Musik, aber gerade nicht das Produzieren und Reproduzieren von Musik selbst als geistige Tätigkeit akzeptiert ist.17 Musik, so scheint es, ist gegenüber dem Medium des Begriffs so sehr fremd, so sehr ›anders‹, dass jeder Versuch, sich auf solche Andersheit mit allen theoretischen und analytischen Konsequenzen einzulassen, von Aussichtslosigkeit geschlagen zu sein scheint.18 Das Verhältnis der Philosophie zur Musik gilt gemeinhin als spannungsreicher als das zu den anderen Kunstgattungen. Auf seiten der Philosophie zeigen sich vor allem extreme Positionen: einerseits schlichte Ignoranz oder bestenfalls die abwertende Reduktion der Musik auf bloßen sinnlichen Genuß, andererseits ihre faszinierte Erhebung sogar über die Philosophie hinaus. Die beiden negativen Positionen [überwiegen] nach wie vor deutlich.19 Das war nicht immer so. Die Chronologie der Philosophen, die sich in ihrem Werk in relevantem Maße mit Musik, ihrer Begriffsbestimmung, ihrem ontologischen Status,

16  Neben den genannten Handbüchern sei hier noch die kürzlich erschienene Anthologie W. Keil (Hg.), Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie genannt. 17  R. Klein, »Einleitung«, 12. 18  Ebd. 12 f. 19  A. Becker / M. Vogel, »Einleitung«, in: A. Becker / M. Vogel (Hg.), Musikalischer Sinn, 7.

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ihrer ästhetischen Charakterisierung, den Bedingungen ihres Verstehens, ihren affektiven und kognitiven Aspekten befasst haben, ist beträchtlich, von Pythagoras, Platon und Aristoteles, über Boethius, Augustinus und al-Farabi, Descartes, Rousseau und Herder, Kant, Schelling und Hegel, Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard, Plessner, Hönigswald und Ingarden bis zu Bloch, Adorno und Goodman. Und in philosophischen Ästhetiken der letzten 150 Jahre wie in der Friedrich Theodor Vischers20 , Nicolai Hartmanns21 oder Franz von Kutscheras22 finden sich systematisch prominent platzierte und sachlich fundierte musikphilosophische Kapitel. In der deutschen akademischen Philosophie hat die Philosophie der Musik seit Adornos Tod jedoch – bis auf wenige Ausnahmen – so gut wie keine Rolle mehr gespielt. Die Bedeutung der musikästhetischen Schriften Adornos steht in einem merkwürdigen umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem Umstand, dass sie, statt die Musikphilosophie zu einer langfristig blühenden Disziplin zu machen, sie zum Verstummen gebracht haben. Vielleicht ist das auch zu viel gesagt: als ob hier eine Kausalität bestünde. Aber man kann sich kaum gegen diese Vermutung wehren. Denn die deutsche Philosophie ist hier ein singulärer Fall. In Frankreich, Italien, England, den USA hat es keinen vergleichbaren Bruch gegeben. Im Gegenteil. Dort finden wir eine seit Jahrzehnten wachsende Zahl an Buchpublikationen und Fachzeitschriften-Aufsätzen von Philosophinnen und Philosophen zu musikästhetischen Fragen (inklusive solcher, die an Adorno anknüpfen). Es gibt inzwischen deutliche Anzeichen dafür, dass sich die Situation nun auch in der deutschsprachigen Philosophie ändern wird. Rainer Cadenbach, der 1978 seine Dissertation Das musikalische Kunstwerk. Grundbegriffe einer undogmatischen Musiktheorie 23 veröffentlicht hatte, hat 1997 den ersten Band der Reihe »Musikästhetische Schriften nach Kant« herausgegeben. Stephan Nachtsheim, der den Band besorgt hat, hatte 1981 seine Dissertation von 1978, Die musikalische Reproduktion. Ein Beitrag zur Philosophie der Musik, veröffentlicht. 1997 haben Ludwig Holtheimer, Richard Klein und Claus Steffen Mahnkopf das Periodikum Musik & Ästhetik begründet 24 und damit das nach wie vor wichtigste deutschsprachige Forum für Musikästhetik und Musikphilosophie geschaffen. Kurz darauf dokumentierten Klein und Mahnkopf eine Tagung zu Adornos Musikphilosophie in dem Band ›Mit den Ohren denken‹.25 Simone Mahrenholz hat 1998 die auf ihre Dissertation zurückgehende Monographie Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie veröffentlicht. Von Piero Giordanetti ist 2005 das Buch Kant und die Musik erschienen.26 Darüber hinaus sind einige Sammelbände erschienen, die dazu beitragen, die Disziplin F. T. Vischer, Aesthetik. N. Hartmann, Ästhetik, insbes. 7. Kap.: »Vordergrund und Hintergrund in den nichtdarstellenden Künsten«, 113–125, und 14. Kap.: »Schichten des Musikwerkes«, 197–212 et passim. 22  F. von Kutschera, Ästhetik, Kap. VI: »Musik als Ausdruck«, 464–562. 23  R. Cadenbach, Das musikalische Kunstwerk. 24  L. Holtheimer / R. Klein / C. S. Mahnkopf, »Editorial«. 25  R. Klein / C. S. Mahnkopf (Hgg.), Mit den Ohren denken. 26  P. Giordanetti, Kant und die Musik. 20  21 

Einführung

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der Musikphilosophie zu einem sich wieder konsolidierenden Forschungsfeld zu machen: der von Werner Keil und Jürgen Arndt 1999 herausgegebene Band »Was du nicht hören kannst, Musik«. Zum Verhältnis von Musik und Philosophie im 20. Jahrhundert; der von Christoph Asmuth und F.- B. Stammkötter ebenfalls 1999 herausgegebene Band Philosophischer Gedanke und musikalischer Klang; 2003 von Stefan Lorenz Sorgner und Oliver Fürbeth herausgegeben Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung; 2007 der von Alexander Becker und Matthias Vogel herausgegebene Band Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik sowie der Sonderband Musikphilosophie in den Musik – Konzepten, Neue Folge, herausgegeben von Ulrich Tadday. Und nicht zuletzt ist natürlich gegenwärtiger Kongress eine Bekräftigung dieser Entwicklung. Simone Mahrenholz ist außer durch ihre Monographie zu Nelson Goodman durch zahlreiche weitere Publikationen zur Musikphilosophie ausgewiesen. Jürgen Stolzenberg hat im Bereich der Musikphilosophie Untersuchungen zu Schumanns Träumerei und Kants Musikästhetik, zu Paul Natorp als Komponist, zur Nachtsymbolik in der Musik und Philosophie sowie zu expressiver Subjektivität in der Musik von C. Ph. E. Bach bis Schönberg vorgelegt.

Literatur o. A.: »Musik«, in: Meyers Großes Universallexikon, Bd. 9, Mannheim u.a. 1983, 562. Asmuth, Christoph / Stammkötter, Franz-Bernhard (Hgg.): Philosophischer Gedanke und musikalischer Klang, Frankfurt a. M. / New York 1999. Becker, Alexander / Vogel, Matthias (Hgg.): Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 2007. Bimberg, Siegfried u.a. (Hgg.): Handbuch der Musikästhetik, Leipzig 1979. Brösicke, Mathias (Hg.): Die Tonkunst. Magazin für klassische Musik und Musikwissenschaft, Lübeck 2006 ff. Cadenbach, Rainer: Das musikalische Kunstwerk. Grundbegriffe einer undogmatischen Musiktheorie, Regensburg 1978. Cadenbach, Rainer: »Was ist Musik? oder: Die Mühen des Begriffs. Disparate Antworten auf eine eigentlich philosophische Frage«, in: Ulrich Tadday (Hg.): Musikphilosophie, Sonderband der Musik-Konzepte, München 2007, 183–203. Dahlhaus, Carl: Musikästhetik, Köln 1967. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1994. Dahlhaus, Carl: »Musikästhetik«, in: Marc Honegger / Günther Massenkeil (Hgg.): Großes Lexikon der Musik, Freiburg i. Br. u.a. 1992. Dahlhaus, Carl / Motte-Haber, Helga de la (Hgg.): Systematische Musikwissenschaft, Laaber 1982. Giordanetti, Piero: Kant und die Musik, Würzburg 2005. Hamilton, Andy: Aesthetics and Music, London / New York 2007.

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Hartmann, Nicolai: Ästhetik, Berlin 1953. Holtheimer, Ludwig / Klein, Richard / Mahnkopf, Claus Steffen: »Editorial«, in: dies. (Hgg.): Musik & Ästhetik, 1, Stuttgart 1997, 7 f. Keil, Werner (Hg.): Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie, Paderborn, 2007. Keil, Werner / Arndt, Jürgen (Hgg.): ›Was du nicht hören kannst, Musik‹. Zum Verhältnis von Musik und Philosophie im 20. Jahrhundert, Olms 1999. Klein, Richard: »Einleitung«, in: ders. / Claus-Steffen Mahnkopf (Hgg.): Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik, Frankfurt a. M. 1998. Kutschera, Franz von: Ästhetik, Berlin, 1988. Mahrenholz, Simone: Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart / Weimar 1998. Motte-Haber, Helga de la: »Umfang, Methode und Ziel der Systematischen Musikwissenschaft«, in: Carl Dahlhaus (Hg.): Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Laaber 1993 ff. Motte-Haber, Helga de la / Tramsen, Eckhard (Hgg.): Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, Bd. 1: Musikästhetik, Laaber 2004. Scholtz, Gunter: Artikel »Musik«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, 242. Sorgner, Stefan Lorenz / Fürbeth, Oliver (Hgg.): Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung, Stuttgart 2003. Tadday, Ulrich (Hg.): Musik-Konzepte: Musikphilosophie, München 2007. Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Dritter Theil, Zweiter Abschnitt, Viertes Heft: Die Musik, Stuttgart 1857. Walther, Johann Gottfried: Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec, Kassel e.a. 2001 (Orig. 1732). Zaminer, Frieder: »Mousiké. Zur frühen Wort- und Begriffsgeschichte«, in: Albrecht Riethmüller (Hg.): Sprache und Musik, Laaber 1999, 157–163.

Über das Hören von Melodien. Überlegungen zu einer Phänomenologie des musikalischen Zeitbewusstseins1 Jürgen Stolzenberg

Der Untertitel des vorliegenden Beitrags nimmt offenkundig Bezug auf Edmund Husserls Programm einer Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 2 wie Husserl es von 1904 / 05 an bis in seine späte Zeit verfolgt hat. Dass es im Folgenden nicht um eine Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins überhaupt, sondern des musikalischen Zeitbewusstseins gehen soll, ist in einem sehr basalen und eingeschränkten Sinne zu verstehen. Gemeint ist nicht eine phänomenologische Analyse der Wahrnehmung von Zeitstrukturen eines komplexen musikalischen Kunstwerks. Gemeint ist vielmehr eine phänomenologische Analyse der Wahrnehmung einer in der Zeit sich erstreckenden Folge von Tönen, die als Melodie, präziser, als tonale Melodie, und das heißt unter den Bedingungen des tonalen Systems wahrgenommen wird. Das ist, wie sich zeigen wird, komplex genug. Der Bezug auf die Analysen Husserls ist nahe liegend. Vom Hören einer Melodie ist in Husserls Diskussion der Theorien des Zeitbewusstseins von William Stern und Franz Brentano bereits am Beginn seiner frühen Überlegungen zu einer Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins die Rede. 3 Deren Probleme, auf die hier nicht eingegangen werden soll, führten Husserl zur Analyse der Wahrnehmung eines einzelnen Tons in seiner Dauer. Von hier aus erfolgt die Anwendung der Analysen der Wahrnehmung eines einzelnen Tons auf die Wahrnehmung einer Melodie. Hierbei ergeben sich Fragen. Mein Versuch, hier zur Klarheit zu kommen, steht seinerseits unter Einschränkungen. Er hält sich im Rahmen von Husserls Analysen. In diesem Rahmen kann er im Blick auf das Gesamtwerk Husserls, und insbesondere im Blick auf den Umfang der husserlschen Zeitanalysen, nur in Form einer Skizze unternommen werden. Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der sich über drei Jahrzehnte erstreckenden Entwicklung von Husserls Zeitanalysen, die erst seit relativ kurzer Zeit aufgrund der Edition der Nachlasstexte überschaubar geworden ist.4 Auf die Stationen und Probleme dieser Entwicklung kann hier ebenfalls nicht eingegangen werden. Ich möchte mich stattdessen auf die frühen und in Auswahl auf Teile der späteren Analysen konzentrieren, insbesondere auf die im Anschluss an die Ideen zu einer reinen Phänomenologie

1  Der vorliegende Text bietet die nur geringfügig veränderte und mit Nachweisen versehene Vortragsfassung. 2  E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. 3  E. Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 19 f. 4  E. Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein (1917 / 18), und ders., Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte.

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und phänomenologischen Philosophie5 von 1913 eingeführte Konzeption eines reinen Ich und die Beschreibung der Zeitbeziehung dieses reinen Ichs in den sog. Bernauer Manuskripten von 1917 / 18.6 Von hier aus schlage ich  – über das von Husserl Ausgeführte hinaus  – eine Analyse der Bedingungen vor, unter denen die Wahrnehmung einer tonalen Melodie auf einer basalen Ebene verständlich werden kann. Erst auf dieser Grundlage ließen sich ambitioniertere phänomenologische Analysen der Wahrnehmung von Zeitstrukturen eines musikalischen Kunstwerks in Angriff nehmen wie auch die Berücksichtigung seines Ortes im Gang der Musik- und allgemeinen Geistes- und Kulturgeschichte.7 Hier tun sich unüberschaubar weite Felder auf. Auf sie lasse ich mich ebenfalls nicht ein. Der Bezug zum Kongress-Thema »Lebenswelt und Wissenschaft« ist mit der Philosophie Husserls selber gegeben. In vorliegenden Falle heißt das allerdings, dass wir die Musik, die unsere Lebenswelt durchherrscht – besser gesagt: unausweichlich und bis zur Unerträglichkeit an allen möglichen und unmöglichen Orten, Örtlichkeiten und Plätzen durchdröhnt –, als das betrachten, was sie für uns ist, nämlich ein inneres Erlebnis. »Wir schalten jetzt«, um nun zu Edmund Husserls früher Analyse des Zeitbewusstseins überzugehen, »alle transzendente Auffassung und Setzung aus und nehmen den Ton als rein hyletisches Datum«.8 1.  Husserls Analyse des Tons als eines hyletischen Datums gilt der Wahrnehmung eines Tons in seiner Dauer. Als solcher ist er Husserl zufolge ein »Zeitobjekt […] im speziellen Sinn«, das heißt ein Objekt, das nicht nur ein Ereignis in der Zeit ist, sondern »die Zeitextension auch in sich«9 selbst enthält. Auf diese Eigenschaft richtet sich die theoretische Aufmerksamkeit. Hier entwickelt Husserl die bekannte, der Sache nach bereits von Augustinus in seiner Lehre von der distentio animi vorweggenommene Lehre von den Erscheinungsweisen eines immanenten Zeitobjekts in der Form der Urimpression, Retention und Protention. Da diese Lehre als bekannt gelten darf, kann ich sie mit wenigen Worten zusammenfassen. Die Urimpression bezieht sich auf den Beginn, den ersten Zeitpunkt der Dauer eines Tons, auf den man mit dem deiktischen Ausdruck »jetzt« Bezug nehmen kann. Als Retention bezeichnet Husserl das Phänomen, dass die in einem Jetztpunkt begriffene Wahrnehmung sich stets in der Weise abwandelt, dass jedes wahrgenommene ›Jetzt‹ sich kontinuierlich in ein ›Soeben gewesen‹ modifiziert. Dabei ist es entscheidend, dass diese Phasen nicht aus dem Bewusstseinsfeld gleichsam heraustreten, sondern als Phasen des zuvor aktuell wahrgenommenen Tons in »einem Kometenschweif von Retentionen«10, 5 

E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-

phie. 6  7  8  9  10 

E. Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein. Vgl. hierzu: R. Klein / E. Kiem / W. Ette (Hgg.), Musik in der Zeit. Zeit in der Musik. E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 24. A. a. O., 23 (Hervorhebung J.S.). A. a. O., 30.

Über das Hören von Melodien

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wie Husserl sich ausdrückt, festgehalten werden. Dieses Festhalten ist nicht als Erinnerung zu beschreiben, die ein abgeschlossenes Erlebnis reproduziert; vielmehr handelt es sich um die Präsenz der unmittelbar verflossenen Phasen des Tonkontinuums im aktuellen Wahrnehmungsbewusstsein. Die Retention, so muss man daher sagen, hält fest, was im kontinuierlichen Wechsel der Phasen aus dem aktuellen Jetztbewusstsein in das Stadium des ›Nicht-mehr-jetzt‹ bzw. ›Soeben-gewesen‹ gleichsam abgeschoben, aber doch nicht fallen gelassen wird. Dem korreliert die Protention, die Erwartung noch ausstehender Phasen der Dauer des einen Objekts. Auf diese Weise baut sich das Bewusstsein von der Dauer des einen identischen Objekts der Wahrnehmung, wie eines Tons in seiner Dauer, auf. Was dem Ton recht ist, ist der Melodie billig – so ließe sich der folgende Schritt in Husserls Zeitanalysen salopp charakterisieren. Er reagiert auf die folgende Schwierigkeit. Einerseits wird der jeweilige Ton als »›wahrgenommen‹«, der vorübergegangene Ton hingegen als »›nicht wahrgenommen‹«11 angesprochen. Andererseits nennt man doch eine ganze Melodie durchaus ›wahrgenommen‹, wenngleich nur ein Jetztpunkt als aktual wahrgenommen gelten kann. Dieser Irritation sucht Husserl durch die Übertragung der Analyse der Wahrnehmung des einen Tons auf eine Melodie als Ganze zu begegnen. Das retentionale Bewusstsein, so Husserl, hält im Falle der Wahrnehmung einer Melodie auch die abgelaufenen Töne fest und stellt auf diese Weise, in Einheit mit der Protention, die Melodie als einheitliches immanentes Zeitobjekt her.12 Daher lässt sich sagen, dass die ganze Melodie dann als gegenwärtig erscheint, solange noch Töne, die zu ihr gehören, in einem Auffassungszusammenhang erklingen. Tondauer und Melodiedauer erscheinen somit zeitstrukturell homolog und nur hinsichtlich ihrer Extension unterschieden: Sowohl der Ton als auch die ganze Melodie konstituieren sich als immanente Zeitobjekte in einer Kontinuität von Wahrnehmungsdaten, von denen eine Phase jeweils aktual gegenwärtig ist, die anderen retentional festgehalten bzw. protentional erwartet werden. Präziser ließe sich daher mit Bezug auf das Hören einer Melodie von einer Verbindung von zwei strukturgleichen Dimensionen der Wahrnehmung sprechen, da das, was für die Wahrnehmung eines einzelnen Tons gilt, auch für die Wahrnehmung der ganzen Melodie anzunehmen ist: Die urimpressionalen, retentionalen und protentionalen Akte, durch die ein Ton in seiner Dauer wahrgenommen wird, verbinden sich bei der Wahrnehmung einer Folge von Tönen mit den strukturell analogen Akten – reichern sich gleichsam mit ihnen an –, durch die sich die Einheit einer Melodie in der Wahrnehmung der Folge ihrer Töne konstituiert. An dieser Stelle sind Nachfragen angebracht. Husserls phänomenologische Beschreibung der Wahrnehmung der Einheit einer Melodie erscheint ergänzungsbedürftig. Geht man davon aus, dass es sich um eine tonale Melodie handelt – diese Annahme erscheint unproblematisch  –, die als ein einheitliches Gebilde wahrgenommen und verstanden wird, dann ergibt sich das folgende Bedenken: Die Wahrnehmung einer Folge von Tönen, die Teile einer tonalen Melodie sind und als solche verstanden werden, lässt sich nicht, wie 11  12 

A. a. O., 38. Vgl. a. a. O., 37 f.

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Husserl es vorschlägt, allein nach dem Modell der Wahrnehmung der Dauer eines Tons in einem einheitlichen Auffassungszusammenhang erklären, so, dass dieser Zusammenhang aus den auf die Folge der Töne bezogenen Aktphasen des Jetztbewusstseins und den verschiedenen retentionalen Abschattungen aufgebaut ist, denen die Melodie als »Gesamtgebilde«13 entspricht. Was Husserl ausführt, lässt sich allein auf eine zeitlich und numerisch begrenzte Folge von Tönen beziehen, wie etwa eine Reihe einer 12-Ton-Komposition. Die Einheit der Reihe ist durch die Anzahl der (12) Töne, die erklungen sein müssen, gegeben. Von dieser Reihe kann man sagen, dass sie als gegenwärtig erscheint, solange noch zu ihr gehörige, in einem Auffassungszusammenhang gemeinte Töne erklingen.14 Dieser Auffassungszusammenhang ist durch die Anzahl der Töne vorab festgelegt. Nur auf eine solche gleichsam kollektive oder kollektionierte Einheit beziehen sich Husserls Analysen. Auf die nahe liegende Frage, wie viele und wie lange man nacheinander erklingende Töne retentional gleichsam ›schichten‹ und ›sammeln‹ kann und ob nicht auch strukturierende ›Hilfs‹-Mittel wie Gruppenbildungen, Symmetrie-, Umkehrungs-, Krebs-, Krebsumkehrungsverhältnisse etc., wie Anton Webern es bekanntlich praktiziert hat, dabei im Spiele sind, gehe ich hier nicht ein. Von anderen Kriterien als der eben so genannten kollektiven Einheit bzw. Einheitsbildung ist in Husserls Analysen auf jeden Fall nicht die Rede. Genau darin liegt das Defizit seiner Beschreibung: Soll nämlich nicht nur eine zeitlich und numerisch begrenzte Folge von Tönen, sondern eine tonale Melodie als ein einheitliches Gebilde wahrgenommen und als solches verstanden werden, dann ist mehr als die von Husserl vorgesehene retentionale und protentionale Kollektion gefordert. Gefordert ist, die Folge der Töne funktional auf die Regeln des tonalen Systems und die durch sie organisierten Beziehungen der Akkorde untereinander zu beziehen, die dieser Folge von Tönen zugrunde liegen und eben die Einheit einer Melodie bzw. eines ganzen Satzes15 begründen. Von anderen Parametern wie Rhythmus, Lautstärke, Klangfarbe u. a. ist hier abzusehen. Dass mehrere aufeinander folgende Töne als eine einheitliche tonale Melodie wahrgenommen und verstanden werden, bedarf also offensichtlich besonderer mentaler Akte oder Leistungen, die nicht nur nach dem Modell der Wahrnehmung der Dauer eines Tons, angewendet auf die Wahrnehmung einer Folge mehrerer Töne, beschrieben werden können. Die Frage ist, wie sie beschrieben werden können.

2.  Bevor dieser Frage genauer nachgegangen werden kann, ist noch ein anderes Element von Husserls Zeitanalysen zu berücksichtigen. Bereits im Kontext seiner frühen Göttinger Vorlesungen hat Husserl eine für seine weitere theoretische Entwicklung folgenreiche Unterscheidung getroffen. Es ist dies die Unterscheidung zwischen dem Wechsel der Phasen bei der Wahrnehmung eines identischen Objekts in seiner Dauer wie eines 13  14  15 

A. a. O., 21. Vgl. a. a. O., 38 f. Im Folgenden wird aus Gründen der Einfachheit nur von ›Melodie‹ gesprochen.

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dauernden Tons auf der einen Seite, und dem, wie Husserl sich nun ausdrückt, »absoluten zeitkonstituierenden Bewußtseinsfluß«16 auf der anderen Seite. Gemeint ist eine allgemeine Form, ein allgemeines Medium, in dem aller materiale Wechsel stattfindet, und von dem deswegen gilt, dass es nicht nach dem Modell der Veränderung eines identischen Objekts beschrieben werden kann. Hier, so Husserl, »fehlt […] jedes Objekt, das sich verändert«, und so kann auch »von etwas, das dauert, sinnvoll keine Rede sein«.17 Dieses Medium, das nur metaphorisch nach dem in ihm Konstituierten als »Fluß« zu bezeichnen ist und nichts »zeitlich ›Objektives‹« (ebd.) ist, hat Husserl als die Sphäre der »absoluten Subjektivität« bezeichnet.18 Es ist leicht zu sehen, dass Husserl damit dem Phänomen des Kontinuums eine phänomenologisch-subjektivitätstheoretische Interpretation gibt und es zur Grundlage seiner Zeitanalysen macht. Denn ein Kontinuum ist bekanntlich dadurch charakterisiert, dass es unendlich und unbegrenzt teilbar ist. Ferner besteht es selber nicht aus Teilen, sondern lässt sich nur teilen. Im Blick auf diesen Sachverhalt macht Husserl darauf aufmerksam, dass die Rede von einem »Jetzt« oder einem Jetztpunkt nur im Sinne einer »idealen Grenze« gemeint ist, die, so Husserl, »etwas Abstraktes [ist], das nichts für sich sein kann« und dem »ein einziges Kontinuum« zugrunde liegt, »das ständig sich modifiziert«.19 So sind in Husserls Theorie des inneren Zeitbewusstseins, soweit sie bisher vorgestellt worden ist, mehrere Ebenen zu unterscheiden: Zum einen das Kontinuum des universalen zeitkonstituierenden Flusses, die »absolute Subjektivität«, sodann diejenigen Akte, die den Unterschieden der Zeitauffassung in Form der Urimpression, Retention und Protention zugrunde liegen, und schließlich das auf diese Weise wahrgenommene immanente Zeitobjekt – ein Ton in seiner Dauer. Ich übergehe alle weiteren Differenzierungen und Problematisierungen, die sich in Husserls frühen zeittheoretischen Überlegungen finden und wende mich sogleich den späteren Untersuchungen zu. Die Lizenz hierzu liegt in dem soeben vorgestellten Konzept eines ursprünglichen, objektlosen zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses, der »absoluten Subjektivität«. Ihm entspricht der für die späten Ausarbeitungen zum Zeitbewusstsein prominente und zentrale Begriff der »lebendigen Gegenwart«. 20 Vorausgesetzt ist hierbei Husserls Wende zu einer Theorie des reinen Ich seit den Ideen von 1913. Die darauf folgenden zeittheoretischen Untersuchungen sind Untersuchungen zur Zeitkonstitution aus dem Begriff der lebendigen Gegenwart und dem damit aufs engste verbundenen Begriff eines reinen Ich.

E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 73. A. a. O., 74. 18  A. a. O., 75. 19  A. a. O., 40. In dieser Hinsicht ist zugleich die Nähe zur aristotelischen Theorie der Zeit zu konstatieren, deren konzeptuelle Grundlage der Begriff des Kontinuums ist. Anders als Aristoteles hat Husserl ihn mit der Grundverfassung von Subjektivität identifiziert. 20  Vgl. hierzu die Untersuchung von K. Held, Lebendige Gegenwart. 16  17 

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3.  Die Reduktion auf die lebendige Gegenwart ist die radikalste Reduktion auf diejenige Subjektivität, in der alles Mir-Gelten sich ursprünglich vollzieht, in der aller Seinssinn für mich Sinn ist und mir erlebnismäßig als geltend bewusster Sinn. Es ist die Reduktion auf die Sphäre der Urzeitigung, in der der erste und urquellenmäßige Sinn von Zeit auftritt – Zeit eben als lebendig strömende Gegenwart. Alle sonstige Zeitlichkeit, ob nun subjektive oder objektive […] erhält aus ihr ihren Seinssinn und ihre Geltung. 21 Mit dieser Passage, die sich in einem Forschungsmanuskript aus dem Jahre 1930 findet, das neben zahlreichen anderen der Vorbereitung auf ein geplantes, jedoch nicht zu Ende geführtes systematisches Werk diente, ist nicht nur in besonders prägnanter Weise eines der wichtigsten methodologischen Themen des Spätwerks Husserls, die phänomenologische Reduktion, im Sinne der Rückführung aller Geltungsansprüche auf ihren Ursprung in der von Husserl so genannten transzendentalen Subjektivität angesprochen; es ist auch unmittelbar deutlich, dass Husserl das, was er in den frühen Zeitvorlesungen als den absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseinsfluss bzw. als absolute Subjektivität bezeichnet hatte, nun, der Sache nach unverändert, unter dem Begriff der lebendig-strömenden Gegenwart als das schlechthin letzte Fundament seiner Philosophie begreift. Gemeint ist nichts anderes als die erwähnte reine, objektlose Form eines universalen Kontinuums von Bewegung und Veränderung – Husserl nennt es »Strömen«.22 Diese Form, das ist der Gehalt der zitierten Passage, liegt allem, was erlebt wird und auf irgendeine Weise als sinnvoll verstanden wird, zugrunde. Im Folgenden wird deutlich, was der Sache nach ebenfalls in den frühen Vorlesungen angelegt, dort aber nicht näher ausgeführt worden ist, dass es sich um ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen beiden Dimensionen handelt. Dies folgt aus dem Begriff des Kontinuums. Denn ein Kontinuum stellt sich als solches dar und erscheint nur dann, wenn es auf eine spezifische Weise bestimmt bzw., wie oben gesagt wurde, geteilt wird. Genau dies ist in der konkreten Zeitwahrnehmung der Fall: Sie ist – so führt Husserl aus – ein »Außereinander, das Nacheinander heißt, Nacheinander in dem Sinne eines Stellenauseinander in einer eigentlich so zu nennenden Zeit«.23 Diesem Nacheinander im Sinne einer Folge von Stellen im Zeitkontinuum, daran hält Husserl auch in diesem Kontext fest, entspricht phänomenologisch die Form der retentionalen Modifikation. Aufgrund der für sie charakteristischen Form des Strömens und des Nacheinander, für das die Stellendifferenz zur jeweiligen Urimpression definierend ist, verweist sie von sich aus auf jenes Basiskontinuum, das sich im Medium konkreter Zeitwahrnehmung seinerseits erst als Kontinuum darstellt und als solches greifbar wird. Auf die Frage, welchen Status diese Zeitstellen haben, geht Husserl in diesem Zusammenhang nicht näher ein. Sie sind offenbar zunächst nur relativ E. Husserl, Zur Phänomenologischen Reduktion, 187. A. a. O., 185. 23  A. a. O., 187 (Hervorhebung J.S.); Husserl hebt hier die auf diese Weise beschriebene »eigentlich so zu nennende Zeit« von der Kontinuität der »strömend lebendigen Gegenwart« ab. 21 

22 

Über das Hören von Melodien

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durch die Wahrnehmung der verschiedenen oder auch selben, jeweils anhebenden und aufhörenden bzw. in der Wahrnehmung auf- und abtretenden Töne  – und dem dabei kontinuierlich wachsenden ›tonlich – melodischen Komentenschweif‹ – bestimmt. Dass das Phänomen des Taktes und auch des Rhythmus‹ genuine Phänomene des inneren Zeitbewusstseins sind, durch die das, was musikalisch erlebte Zeit ist, unabhängig von der objektiven oder Weltzeit, wie Husserl es bekanntlich ausdrückt, erst konstituiert und strukturiert wird, liegt auf der Hand.24 Für den uns interessierenden Zusammenhang ist nun die Rolle entscheidend, die Husserl dem Konzept des reinen Ich in seinen zeittheoretischen Überlegungen zuweist. Erinnert man sich daran, dass Husserl in den Ideen die Konzeption eines reinen Ich als invariantes Zentrum aller seiner Erlebnisse und intentionalen Bezüge eingeführt hatte,25 dann ist seine Rolle im Kontext der avancierten zeittheoretischen Überlegungen leicht ab- und einsehbar: Als reines Ich und identisches Zentrum seiner Erlebnisse kann es selber nicht Teil des Erlebnisstroms sein. Genau das ist die Position, die Husserl in den Bernauer Manuskripten vertritt. Das »Ich« ist derjenige Aspekt des subjektiven Lebens, so führt Husserl hier aus, den wir »nicht im Erlebnisstrom haben«, sondern »das identische[s] Zentrum, der Pol, auf den der gesamte Gehalt des Erlebnisstroms bezogen ist«.26 Daher ist das Ich, als »Identisches für alle Zeitpunkte«27 selber »›über‹-zeitlich«28 zu nennen. Gleichwohl ist zu sagen, dass sich die Zeit für es konstituiert. Diese scheinbare Paradoxie löst sich auf, wenn das reine Ich mit Blick auf seine intentionalen Bezüge thematisiert wird. Dann nämlich erscheint es als eine Instanz, dem in der aktualen Ausübung seiner Funktionen ein zeitlicher Bestand zuwächst. Aufgrund dieser ihm zuzuschreibenden Funktionen und ihrer Aktualisierung wird es für sich selber allererst als das »identische Funktionszentrum, als das Leistende für alle […] [seine] Leistungen« gegenständlich, »das«, so hebt Husserl mit Nachdruck hervor, »in einer neuen Dimension liegt«.29 Dem entspricht das Selbstbewusstsein eines numerisch identischen Subjekts, das sich Husserl zufolge in dem Satz »›Ich tue etwas‹«, oder »›Ich leide von etwas‹«30 ausdrücken lässt. Mit einer offenkundig an Kants Theorie des transzendentalen Ich erinnernden Wendung fasst Husserl diesen Sachverhalt zusammen: »Das Ich ist ›stehendes und bleibendes‹ Ich; es ist nicht entstehend und vergehend wie ein Erlebnis.«31 Auf dieses stehende und bleibende Ich trifft nun ebenfalls die bekannte Erklärung Kants zu, dass es eine »an Inhalt gänzlich leere

Hier liegt eine weitere, nicht näher zu verfolgende Parallele zur aristotelischen Zeittheorie und der aristotelischen These, dass die menschliche Seele die Jetztpunkte mit Bezug auf das zugrunde liegende Kontinuum setzt. 25  Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 123, 178 ff. u. a. 26  E. Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein, 277. 27  A. a. O., 279. 28  A. a. O., 277. 29  A. a. O., 278. 30  Ebd. 31  A. a. O., 280; vgl. dazu auch E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 123. 24 

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Vorstellung«32 ist. »Das Ich«, so führt Husserl in eben diesem Sinn in demselben Kontext aus, »hat in der Zeit gar keinen Gehalt, nichts Verschiedenes, und nichts Gleiches, nichts ›Anschauliches‹, Wahrnehmbares, Erlebbares. Nur die Affektionen, nur die Akte, die in die Zeit eingetreten sind, haben ihre Gehalte und haben ihre Dauern«.33 Aus dieser Inhaltsleere folgt die weitere, ebenfalls Kant – nahe These, dass dieses Ich für sich selbst nur dann zum Gegenstand werden kann und sich der Identität seiner selbst mit Bezug auf seine Wahrnehmungen nur dann bewusst werden kann, wenn es sich seine Akte und zeitkonstituierenden Funktionen, mit denen es sich auf seine Erlebnisse bezieht, vor Augen hält und sich eben darin als numerisch identisches Ich gewahrt.34 »Das Ich«, so fasst Husserl diesen Punkt zusammen, ist »nur reflektiv und nur nachkommend erfassbar«.35 Da es selber nicht Teil der zeitlich erstreckten Wahrnehmung ist, ist es von ihm selbst »nur als Grenze des im Zeitfluss Verströmenden«36 fassbar. Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins ist damit zu einer transzendental-phänomenologischen Theorie des Selbstbewusstseins geworden. Der Zeit kommt hierbei die Funktion zu, die formale Bedingung der Möglichkeit dafür zu sein, dass das Ich sich selbst gegenständlich wird. Versucht man, diese Konzeption in einem überschaubaren – vereinfachenden, aber nicht verfälschenden – Argument zusammenzufassen, dann ist von der eben skizzierten Prämisse auszugehen, dass das »abstrakt[e]«,37 inhaltlich leere Ich nur in seinem Erleben konkret ist. Da alles Erleben zeitlich ist und die Form der Zeitlichkeit des Erlebens das Resultat der zeitkonstituierenden Leistungen des Ich ist, ist die Zeit die formale Bedingung, unter der das Ich für sich selbst gegenständlich werden kann. Das Ich »ist als sich zeitigend«38 – dieser Satz drückt formelhaft die Einheit von Selbstbewusstsein und Zeitlichkeit aus. Was bedeutet das für das Hören einer Melodie?

4.  Es bedeutet zunächst, dass die Kontinuität, in der eine Melodie wahrgenommen wird und in der ein wahrgenommener Ton eine Phase ist, die sich in der eingangs skizzierten Weise mit anderen Ton – Phasen zu einer retentionalen Auffassungseinheit verbindet, auf das allem zeitlichen Erleben zugrunde liegende Kontinuum der so genannten »strö-

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 346 / B 404. E. Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein, 280. 34  Diese These Kants findet sich bekanntlich in der Widerlegung der Paralogismen der rationalen Psychologie der Kritik der reinen Vernunft. Dort führt Kant unter anderem aus: »ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens« (I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 422, Anm.). 35  E. Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein, 287. 36  Ebd. 37  E. Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution, 53. 38  A. a. O., 49. 32  33 

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menden Gegenwärtigung«39 bezogen ist, die dadurch ihre lebendige und individuelle Konkretion erfährt.40 Es bedeutet ferner den Bezug auf das Ich, und zwar im doppelten Sinn als Bezug auf das reine Ich als identischen Pol seiner Erlebnisse und auf das konkrete erlebende, ›sich zeitigende‹ Ich, das, was Husserl »konkrete Subjektivität« nennt. Im Hören einer Melodie ist das Ich, so ließe sich nun sagen, als sich zeitigend‹. Nach dem, was hierzu bisher ausgeführt wurde, lässt sich nun auch das Folgende sagen: Im Hören, genauer, im hörenden Erleben einer Melodie gewinnt das Ich ein Verhältnis zu sich selbst, in dem es sich gegenständlich wird, und dies geschieht so, dass es in der Einheit der Melodie gleichsam ein konkret-lebendiges Bild seiner eigenen Identität erhält, das durch diejenigen Funktionen und Leistungen vermittelt ist, die der Wahrnehmung der Einheit der Melodie zugrunde liegen. Wie aber wird diese Einheit konstituiert? Welches sind diese Leistungen? Dies war die Frage, die die bisher verfolgten Überlegungen in Gang gebracht hatte. Das Motiv, das ihr zugrunde liegt, bestand in dem explikativen Defizit, dass die Wahrnehmung einer tonalen Melodie als ein einheitliches und als sinnvoll erlebtes Gebilde nicht nur als eine zeitlich und numerisch begrenzte Folge von Tönen verstanden werden kann, wie Husserl es beschreibt, sondern auf Regeln des tonalen Systems und die durch sie bestimmten Akkordverbindungen bezogen werden muss, die eben den Einheitssinn einer tonalen Melodie erzeugen. Davon ist auch in Husserls späten Überlegungen keine Rede. Es lässt sich indessen eine theorieimmanente Erklärung dafür geben, dass davon keine Rede ist. Die Beziehung auf Regeln und der dadurch erzeugte Einheitssinn einer Melodie sind offensichtlich höherstufige Akte, von denen in der phänomenologischen Beschreibung der basalen Bedingungen der Konstitution des immanenten Zeitbewusstseins noch abzusehen ist. Hier ist auf Husserls Programm einer genetischen Phänomenologie bzw. einer genetischen Intentionalanalyse zu verweisen, dessen Ursprünge bemerkenswerterweise in der Zeit der Arbeit an den Bernauer Manuskripten über Zeitbewusstsein liegen.41 Für den vorliegenden Zusammenhang sind Husserls Analysen zur passiven Synthesis von Bedeutung, die Husserl u. a. als ein »Zusammenspiel« von »sich beständig höher entwickelnden Intentionalitäten des passiven Bewußtseins« beschreibt, »in denen sich passiv eine überaus vielgestaltige immanente und transzendente Sinngebung vollzieht und sich organisiert zu umfassenden Sinngestalten und Seinsgestalten«.42 Die Einheit einer Melodie ist eine solche immanente Sinngestalt. Nun kann es hier schon aus Raumgründen nicht darum gehen, in Husserls umfangreiche Analysen zur passiven Synthesis einzutreten. Sie enthalten zwar deutlich weiter ausgeführte Analysen zum Zeitbewusstsein, und auch die Wahrnehmung einer Melodie ist wieder thematisch, doch gehen sie hinsichtlich der Beschreibung der strukturellen Verfassung einer Melodie als einer Folge von Tönen doch nicht über das Bekannte

39  40  41  42 

A. a. O., 59. Vgl. a. a. O., 54 f. E. Husserl, Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein, Einl XLVI. . E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 276.

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hinaus. Im Anschluss und im Rahmen des bisher Ausgeführten soll daher im Folgenden der Versuch unternommen werden zu zeigen, dass der Wahrnehmung der Einheit einer tonalen Melodie eine spezifische Form einer vorbegrifflichen und urteilslosen Synthesis zugrunde liegt, genauer einer Synthesis, in der das reine Ich sich selbst objektiviert und darstellt. Was ist damit gemeint?

5.  Auszugehen ist von dem folgenden allseits bekannten Sachverhalt: Das tonale System ist ein System, das die Beziehung der Töne nach objektiven und nicht bloß subjektivassoziativen Regeln der Akkordverbindungen ordnet. Hierüber gibt bekanntlich die traditionelle Harmonielehre Auskunft.43 Natürlich ist nicht die Tonfolge einer Melodie durch diese Regeln determiniert; determiniert sind allein die syntaktischen Beziehungen bzw. der Bezugsrahmen, in denen und in dem Töne überhaupt zueinander stehen können, um die Einheit einer tonalen Melodie (oder eben eines ganzen Satzes) hervorzubringen. Diese Beziehungen werden im Hören einer Melodie nun trivialerweise nicht abstrakt als Regeln vorgestellt  – das ist das Geschäft des Harmonielehrers oder des reflektierenden, formal-analysierenden Musikologen– , sie werden vielmehr konkret als mehr oder weniger komplexe bzw. unterschiedlich intensive Spannungs- und Entspannungsverhältnisse erlebt, denen musikalisch Konsonanz– und Dissonanzverhältnisse entsprechen. Warum das so ist, muss hier nicht untersucht werden. Entscheidend ist nun der folgende, ebenfalls allseits bekannte und scheinbar triviale Sachverhalt: Das Urverhältnis des tonalen Systems ist das Tonika-Oberdominant-Verhältnis, genauer muss man sagen: das Tonika-Oberdominant-Tonika-Verhältnis. Das ist gleichsam das Grundgesetz der tonalen Ordnung. Die Wahrnehmung dieses Verhältnisses verdankt sich daher einem Akt, der eine Einheit herstellt, die nicht zufällig und bloß subjektivassoziativ ist; innerhalb des tonalen Systems ist sie vielmehr eine invariante und objektive Einheit. Das Erleben des Tonika-Dominant-Tonika-Verhältnisses- und auch aller weiteren systemkonformen harmonischen Modulationen – stellt, so lässt sich nun sagen, eine affektive Synthesis dar, die ihren Grund in einer spezifischen Verhaltungsweise des Selbst hat: Sie erlaubt es ihm, sich im Wechsel seiner musikalischen Erlebnisse als dasselbe darzustellen. Diese affektive Synthesis, der – hier zum Zwecke der Analyse vereinfachend angeführte – Übergang von der Tonika zur Oberdominante und zur Tonika, ist genauer gesagt eine Synthesis, die dadurch hergestellt wird, dass die Ausgangsphase, das Ausgangserlebnis  – das, Tonika-Erlebnis’- nach dem Übergang in die qualitativ differente Erlebnisphase (oder entsprechenden differenten Erlebnisphasen), dem ‚Dominant-Erlebnis’ und seinen weiteren möglichen harmonietechnischen Ausdifferenzierungen, denen gleichsam unterschiedliche affektive ›Spannungsfelder‹ entsprechen, Andere Systeme als das tonale System stehen hier nicht zur Diskussion – dazu am Ende eine Bemerkung. 43 

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wiederholt und dadurch eine Einheit hergestellt wird. Diese Wiederholung wäre aber ganz unangemessen beschrieben, wenn man sie numerisch lediglich als ein nochmaliges Setzen des Ausgangserlebnisses auffassen würde. Diese Wiederholung hat vielmehr einen eigenen Gehalt und einen eigenen Wert: Sie muss als eine nicht- bzw. vorbegriffliche und urteilslose Art von Affirmation bzw. Selbstaffirmation des fungierenden Ich verstanden werden. Dieser Schritt lässt sich wie folgt begründen. Auszugehen ist von dem Umstand, dass der Übergang aus der ersten Phase in die zweite, qualitativ differente Erlebnisphase (bzw.- phasen) innerhalb der von dem Ich gleichsam verwalteten (tonalen) Ordnung stattfindet. Sodann ist zu sagen, dass dieser Übergang von ihm selber den Regeln dieser Ordnung gemäß geleistet wird. Mit der Wiederholung der Ausgangsphase wird nun der Sachverhalt realisiert und zum Ausdruck gebracht, dass das Ich sich über den Übergang und den Eintritt in die Differenz hinaus als dasselbe erhält und auch als solches erlebt. Es wird, anders gesagt, auf diese Weise der Umstand realisiert und in concreto dargestellt, dass es ein und dasselbe Selbst ist, das die Ausgangsphase wie auch den Übergang in die differente Phase erzeugt. Die Begründung hierfür lautet, dass der Übergang in die differente Phase seine spezifische Erlebnisqualität, das Erlebnis nämlich einer gewissen Spannung, nur dadurch erhält, dass die Kontinuität mit der ersten Phase gewahrt bleibt. Ohne diese Beziehung könnte dieser Übergang gar nicht als ›Spannung‹, und ohne sie könnte auch die ›Rückkehr‹ zur ersten Qualität nicht als ›Auflösung der Spannung‹ erlebt werden. Das, was die Kontinuität und Einheit leistet bzw. hervorbringt, ist nun aber gar nichts anderes als das reine fungierende Ich. So ist das reine fungierende Ich, nicht das konkrete, erlebende, in der Zeit erscheinende Ich, der logische Ort dieser Beziehung und ihr Prinzip. Dieses reine fungierende Ich ist, wie Husserl es in einem seiner späten C-Manuskripte genannt hat, der identische »Vollzieher[« und zugleich »das Ich aller Vollzüge«.44 Im Blick auf den Vollzug bzw. die Leistung der Konstitution jener affektiven Synthesis lässt sich daher sagen, dass mit der freilich nur bildlich so zu nennenden ›Rückkehr‹ zur Ausgangsphase diese funktionale Identität des Ich mit Bezug auf die Einheit seiner differenten Erlebnisse gleichsam ihre Erfüllung findet, um einen Ausdruck Husserls zu verwenden.45 Denn auf eben diese Weise stellt es seine Identität als der »identische Vollzieher« über die Differenz, die es selber erzeugt, hinweg in concreto dar. Und so erscheint das harmonische Grundgesetz der Tonalität, das genannte Tonika-Oberdominant-TonikaVerhältnis, als dasjenige musikalische Prinzip, unter dem das Ich sich selbst und d. h. seine Identität zur Darstellung bringt.46

E. Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution, 202. Vgl. E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 336. 46  Es ist naheliegend, mit dem harmonischen Grundgesetz der Tonalität auch die Funktion der Protention in einem tonalen Musikstück als Erwartung der Auflösung einer Dissonanz zu verbinden, deren ›Enttäuschung‹ durch einen Trugschluss oder deren durch weitere Modulationen gleichsam hinausgezögerte bzw. verspätete Erfüllung ein hinreichend bekannter und oft geübter kompositorischer Kunstgriff ist. Als prominentes und formaltechnisch singuläres Beispiel für die Erwartung bzw. vorzeitig realisierte Vorwegnahme der erwarteten Auflösung einer Dissonanz darf der berühmte, gleichsam proleptische Reprisenbeginn im ersten Satz von 44  45 

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Nun kann man noch einen Schritt weiter gehen. War bisher abstraktiv nur von dem reinen tonalen harmonischen Regeltypus die Rede, so ist es leicht zu sehen, dass jede Melodie bzw. jede Phrase eine sinnliche Konkretisierung dieses Typus ist. Daher kann man sagen, dass das reine Ich nicht nur seine Identität im Wechsel seiner Erlebnisse affirmiert; dieses reine Ich manifestiert und konkretisiert sich auch vermittels jener nicht-begrifflichen und urteilslosen Synthesis in Form einer bestimmten einheitlichen Zeitgestalt, die in der Figuration einer Melodie bzw. eines gesamten Musikstücks wahrnehmbar wird. Auf diese Weise gewinnt es eine »symbolische Prägnanz«, um einen Ausdruck Ernst Cassirers zu verwenden. Die Melodie bzw. die Verbindung der Melodiephrasen zu einem Stück, das sind dann gleichsam die Züge oder die Linien, durch die das Ich eine einheitliche musikalisch-konkrete Gestalt gewinnt. Das Grundgesetz des tonalen Systems erscheint damit als Gesetz, unter dem das Ich sein eigenes Formgesetz, nämlich dasselbe in dem von ihm erzeugten Wechsel seiner Erlebnisse zu sein, auf eine vorsprachliche musikalisch-symbolische Weise zur Darstellung bringt. Das tonale System erscheint unter dieser Perspektive damit als ein Inbegriff von systemlogisch begründeten, objektiven Regeln, unter denen das ›Spiel der Empfindungen‹ organisiert ist, in dem das reine Ich, so ließe sich nun sagen, mit sich selbst spielt und darin die Identität seiner selbst zur Darstellung bringt.

6.  Ein Einwand liegt nahe. Er verweist auf alternative Ton-Systeme, und darunter wohl vor allem auf die schon erwähnte, von Arnold Schönberg erfundene Technik des Komponierens ›mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen‹, wie die von Schönberg selber anerkannte Charakterisierung lautet. Der Einwand fragt, ob das eben Gesagte hierfür nicht gelte und daher mit Bezug auf diese Musik gar nicht von einer solchen Selbstdarstellung des Ich die Rede sein könne. Zur Stützung seines Bedenkens wird er auf die hochgradige Expressivität und Konstruktivität der betreffenden Kompositionen Schönbergs und seiner ›Schule‹ verweisen. Und damit mag sich auch der Argwohn verbinden, ein historisch begrenztes, von Bach bis Wagner dominantes Ton– und Harmoniesystem und eine darauf gegründete Kompositionstechnik auf unzuträgliche Weise zu favorisieren. Auf ähnliche Weise könnte der Einwand auf die Kompositionen in den alten Kirchentonarten verweisen. Hierzu ist in der gebotenen Kürze das Folgende zu sagen. Alternative Harmoniesysteme und Modulationstechniken wie die von Debussy, Bartók, Hindemith, Schostakowitsch und anderen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen jene »Erfüllungssynthese«47 gewahrt ist, das heißt, sie halten an einem gewissen Ton-Gravitationszentrum fest, das Beethovens »Eroica« mit dem Horn-Einsatz der ersten beiden Takte des Hauptthemas (T. 394) über den beiden dem Dominantseptakkord der Grundtonart Es-Dur zugehörigen dissonanten Tönen b – as der Streicher gelten. 47  E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 336.

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zwar gleichsam unterwegs immer wieder ausgewechselt werden kann, auf das die harmonischen Prozesse aber immer noch gleichsam teleologisch orientiert sind. Das ist bekanntlich in Wagners »Tristan« im Rahmen des tradierten Systems in einer extremen und von den Zeitgenossen denn auch als krisenhaft erfahrenen Weise der Fall. Ein solches Gravitationszentrum gilt auch für die harmonischen Gänge der Kirchentonarten. Dieses Zentrum, diese Zentren erlaubt bzw. erlauben die wie immer distanzierte, relativierte oder auch raffiniert verschleierte Selbstdarstellung des Ich in den unendlich vielfältigen Valeurs und komplexen internen Beziehungen seiner Erlebnisqualitäten. Die Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen, wie es bezeichnenderweise heißt, kennt ein solches identisches Zentrum nicht. Damit ist das sich in seiner musikalischen Selbstdarstellung organisierende und sich darin als identisch affirmierende Ich gleichsam ortlos geworden. Auf welche andere Weise es seine Darstellung finden kann oder seitdem gefunden hat, ist eine Frage, die an die Entwicklung der Musik des 20. Jahrhunderts bis hin zur Musik der aktuellen Gegenwart weiterzugeben ist.48

Literatur Held, Klaus: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag 1966. Husserl, Edmund: Analysen zur passiven Synthesis (Husserliana XI), Den Haag 1966. Husserl, Edmund: Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewußtsein (1917 / 18) (Husserliana XXXIII), Dordrecht / Boston / London 2001. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, erstes Buch (Husserliana III), Tübingen 1950. Husserl, Edmund: Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskipte (Husserliana Materialien Bd. VIII), New York 2006. Husserl, Edmund: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1911), Hamburg 1985. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917) (Husserliana X), Den Haag 1966. Husserl, Edmund: Zur phänomenologischen Reduktion: Texte aus dem Nachlass (1926– 1935) (Husserliana XXXIV), Dordrecht / Boston / London 2002. Husserl, Edmund: Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Erstdruck in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, hg. v. Martin Heidegger, Bd. IX, 367–498, 1928. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. Klein, Richard / Kiem, Eckehard / Ette, Wolfram (Hgg.): Musik in der Zeit. Zeit in der Musik, Weilerswist 2000. Georg Mohr, Guido Kreis und Sebastian Luft danke ich sehr herzlich für kritische Kommentare. 48 

Musik als Herausforderung für philosophische Erkenntnis-Konzeptionen Simone Mahrenholz Im Musikhören wird eine der höchsten Formen, wenn nicht überhaupt die höchste Form von Geist, Seele, Intellekt empfangen. Daher wäre seine Untersuchung vom physiologischen und neurologischen Standpunkt wahrscheinlich eine gute Methode, Vorgänge vom Typ »logisches Denken«, »schöpferische Imagination« oder »intuitives Verstehen« aus körperlicher Sicht zu begreifen. Vilém Flusser

Musik birgt von allen Künsten vermutlich die größte philosophische Provokation. Stärker als Bildende Kunst, Film, Literatur fordert ihre Art und Weise der Ausübung einer zuweilen höchsten Intelligenz das theoretische Verständnis dessen heraus, wie Denken und Verstehen in der Musik eingesetzt werden und treibt es an seine Grenzen. Die Herausforderung liegt zum Teil darin, daß Musik mit abstrakten Mitteln arbeitet, das heißt, nicht etwa abbildet oder nachahmt.1 Musik ist vielmehr flüchtig, transitorisch und wesentlich gegenstandslos, und gerade in dieser ihrer Abstraktheit ähnelt sie dem philosophischen Begriff – wie sie auch in ihrer temporalen Verlaufslogik dem sprachlichen Argumentieren ähnelt. 2 Die Provokation der Musik liegt ferner daran, daß sie auf unbestimmte Weise mit der Philosophie konkurriert: insofern sie über etwas Existenzielles hinsichtlich Selbst, Welt und Sein Auskunft zu geben scheint. 3 Nicht wenige Philosophen, darunter Nietzsche, Adorno oder Sloterdijk, zeigen denn auch immer wieder eine (unglückliche) Liebe zum Komponieren – wie umgekehrt eine Fülle von Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts das Verfassen quasi-philosophischer Traktate zu ihren professionellen Alltagsneigungen zählt. Die Komplexität der epistemischen Verhältnisse im Musikalischen zeigt sich bereits an der Rede vom »Musik verstehen«. Meint es ein Verstehen von Musik, oder ein Verstehen durch Musik? Sofern ersteres: worin kann dies bestehen? Im korrekten AusbilZu den wenigen Ausnahmen gehören die Sonderfälle der Programmusik, Leitmotivik sowie textbasierte Musik. 2  Immer wieder hat dieses Verhältnis Adorno artikuliert, vgl. etwa: »Die Folge der Laute ist der Logik verwandt: es gibt Richtig und Falsch. Aber das Gesagte läßt von der Musik nicht sich ablösen. Sie bildet kein System aus Zeichen.« Th. W. Adorno, »Musik, Sprache«, 649. – Vgl. auch die kritischen Reflexionen zu beider Verhältnis in E. Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 49 ff. 3  Exemplarisch formulierte dies George Steiner: »In unserer Fähigkeit, in Musik Form und Sinn zu komponieren und darauf zu reagieren, liegt das Mysterium der Conditio humana begriffen. Die Frage ›Was ist Musik?‹ könnte sehr wohl eine Variation der Frage sein: ›Was ist der Mensch?‹« G. Steiner, Von realer Gegenwart, 16. 1 

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den von Erwartungen sowie dem Erkennen nicht nur daß, sondern auch inwiefern die Erwartungen enttäuscht worden sind? Im Empfinden von ästhetischem Genuß, Freude, Offenbarung beim aufmerksamen Hören, also einem begleitenden Empfinden von Schönheit? Im Erwerben von Hör-Kategorien im Verfolgen des Klangverlaufs, also dem Synthetisieren und Abstrahieren von Strukturen? In der damit verbundenen Fähigkeit, eine Melodie oder einen Rhythmus oder allgemeinere Formen korrekt, gegebenenfalls transponiert oder in anderem Tempo wiederzugeben? – Alle diese Charakteristika des Verstehens von Musik sind zutreffend, und die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Doch ist und bedeutet Musik immer mehr als Musik – so wie Sprache immer mehr ist und bedeutet als Sprache. Musik ist immer über etwas, und für Äußerungen dieser Art lassen sich eine Fülle von Autoritäten nennen.4 Musik hat bei aller Selbstbezüglichkeit einen latenten Bezug auf etwas – darüber scheint man sich selbst dann weitgehend einig, wenn die nähere Bestimmung dieses Bezugs oder Gehalts seit Jahrhunderten diskutiert wird. 5 Doch darum soll es im folgenden nicht gehen; betont sei hier allein das Faktum, daß Musik unabhängig von den weltanschaulichen Positionen und bei aller in ihr höchst präsenten Selbst-Referenz immer auch über sich hinausweist; insofern fällt das Verstehen von Musik immer auch zusammen mit dem Verstehen durch Musik, ja, beides läßt sich im konkreten Hör-Erlebnis letztlich nicht trennen. In dieser Hinsicht zumindest ist Musik wie Sprache.6 Eben diese intrinsische Verbindung von Verstehen von Musik und Verstehen durch oder mittels Musik spiegelt sich auch in dem Umstand, auf den der Londoner Philosoph Andrew Bowie kürzlich noch einmal hinwies: die Doppelheit des Sinns von »Philosophie der Musik«, nämlich einmal als – üblicher Fall – genitivus objectivus, Philosophie über Musik und ferner als – vernachlässigter – genitivus subjectivus, als Philosophieren via Musik.7 Inwiefern sich jedoch beides in der konkreten Auseinandersetzung mit Musik schnell nicht trennen läßt, selbst wenn der Diskurs konventionell als einer des genitivus objectivus anhebt, ist nahezu an sämtlichen Musikphilosophen von Relevanz zu beobachten, etwa an Adorno (der, sowie er über Musik zu philosophieren anhebt, bereits über Trans-Musikalisches argumentiert), an Wittgenstein, an Michel Serres, an Peter Sloterdijk, an George Steiner.8 Das philosophische Nachdenken über Musik geht

Der Komponist, Musikwissenschaftler und Musikethnologen Charles Seeger äußert: »As musicians, we know that music communicates something that speech does not. Is not music as much involved with what is not music as is speech with what is not speech?« Ch. Seeger, »Unitary Field Theory«, 107. 5  Vgl. hierzu jüngst beispielsweise Ch. Asmuth: »Was bedeutet Musik?«; vgl. ferner S. Mahrenholz, Musik und Erkenntnis, wo zu dieser Frage, sehr kurz gesagt, vorgeschlagen wird, daß Musik non-verbale Kategorien, non-verbale Äquivalente zu Prädikaten bereitstellt, die wir hörend erfassen und die wie Sprach-Prädikate unsere Welt– und Selbsterfahrung verändert aufschließen und (um-) strukturieren. 6  Vgl. zu den voranstehenden Überlegungen ausführlicher: S. Mahrenholz, Komponisten. 7  Vgl. A. Bowie: »Was heißt ›Philosophie der Musik‹?« 6 f. 8  Vgl. M. Serres: Die fünf Sinne, sowie ders: Hermaphrodit.; P. Sloterdijk: Der ästhetische Imperativ Kap. I.: »Klangwelt«, 8–83; vgl. ders: Weltfremdheit, Kap. VII: »Wo sind wir, wenn wir Musik hören?«, 294–331, vgl. ders: Sphären I, Blasen: Kap. 7: »Das Sirenen-Stadium«, 487– 4 

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quasi zwingend und unintendiert über in Außermusikalisches. Hierzu gehört in vielen Fällen auch ein meta-philosophisches Nachdenken über die Disziplin Philosophie am Beispiel musikalischen ›Bedeutens‹, musikalischen Aufschluß-Gewinnens oder musikalisch artikulierter Selbst-Welt-Relation.9 Häufig wird andererseits auch bereits schlichtes Musik-Hören oder Musik-Produzieren als etwas beschrieben, das in philosophisches Gebiet ragt10, und dies nicht erst im 20. Jahrhundert. Beethovens bekannte Tagebucheintragung von der Musik als ›höherer Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie‹ grundiert bereits diese Tendenz, und Bemerkungen vergleichbarer Art durchzieht tendenziell ein kritisch-konkurrierender Kern den diskursiven Wissenschaften gegenüber: Musik findet sich nicht selten in der Rolle eines quasi-philosophischen Korrektivs. Die fundamentale metaphysische Rolle der Musik etwa bei Schopenhauer ist allgemein bekannt. Bei Wittgenstein firmiert das Beispiel Musik häufig als Therapeutikum für philosophische Verwirrungen.11 Und Adorno diagnostizierte immer wieder Kollisionen zwischen dem Wahren des Diskursiven und dem Wahren der Kunst (insbesondere Musik); er charakterisiert beide als »inkommensurabel«12 und die Musik näher an »der Gestalt des göttlichen Namens«13 – in Beethovens Terminus also ›offenbarend‹. Wenn wir nun diese philosophischen Aussagen zur Musik zu konkretisieren suchen, indem wir an den Sinn von Musik als genitivus subjectivus, als selbst Philosophierende anknüpfen, so stellt sich die Frage: Was philosophiert sie, äußert sie? Im folgenden wird diese Thematik in Form von vier Punkten behandelt. Sie sind nicht vollständig und werden im gegebenen Rahmen notwendigerweise kaum mehr als andeutungsweise behandelt. Die vier Gesichtspunkte sind: I. Die Frage nach den (philosophischen) Inhalten, welche durch Musik zugänglich bzw. erschlossen werden. Welche Arten von Erkenntnis stehen als Kandidaten für das musikalische Erkennnispotential bereit? II. Was am musikalischen Material, der musikalischen Existenzweise oder ihrer Phänomenologie ist für ihre philosophischen Implikate verantwortlich? III. Die physiologische Sonderstellung musikalischen Hörens oder: Die Zahl, das Messen und das Ohr. IV. Konsequenzen: Musik als ›Kritik‹ philosophischer Erkenntnistheorien

531; vgl. George Steiner: Von realer Gegenwart. Wittgensteins gesamtes Oeuvre durchziehen Bemerkungen zur Musik bzw. Illustrationen nicht-musikalischer Sacheverhalte mittels ihrer; vgl. etwa unten. 9  An Beispielen näher dargelegt ist dies in S. Mahrenholz, Komponisten. 10  Dies kann man etwa in sämtlichen Programmheften zum Donaueschinger Festival für Neue Musik finden. 11  Vgl. etwa: »Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 440 f. 12  Vgl. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, 191. 13  Ders., »Musik, Sprache«, 650.

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1.  Welche (philosophischen) Inhalte sind es, die durch Musik zugänglich bzw. erschlossen werden? Die Tradition hat für die Frage, was wir prozessieren in unserem Akt des Musik-Erlebens, des Musik-Erfassens, des musikalischen Erlebnisses von Schönheit und ›Bedeutung‹, grob sechs Gruppen von Antworten gegeben, die in ihrem Auftreten nicht immer klar getrennt voneinander existieren: 1. den Verweis auf Affekte, Emotionen (dies beinhaltet die antike und barocke Affektenlehre), darunter mehr oder weniger konkrete Gefühle, oft auch nur die abstrakte Form eines Gefühls (sodaß selbst Trauer sich »schön« anfühlen kann), 2. die Symbolisation abstrakter Formen generell (von formalistischen Positionen der Hanslick-Nachfolge bis zu postkantisch-präkonstruktivistischen Positionen wie denen Susanne Langers).14 3. Ferner wurde Musik als Abbild und akustische Verkörperung mathematischer oder auch kosmologischer Verhältnisse diskutiert; man denke etwa an Johannes Keplers Bemerkungen zur »Sphärenharmonie«, aber auch, neuer, an Behrendts »Nada Brahma – Die Welt ist Klang«15, 4. Musik als Verkörperung einer quasi-philosophischen Metaphysik. Schopenhauer, Nietzsche, im eingeschränkten Sinne Hegel16 sowie diverse neuere Philosophen (etwa Sloterdijk oder Serres) entwarfen unterschiedliche Spielarten dessen: Musik spiegelt dort Spielarten oder Grundformen des Seins wider: eines Seins vor der Auftrennung in Subjekt und Substanz bzw. Denkendes und Seiendes, eines gewissermaßen Geist-belebten Seins. Dieses ist gleichsam die geisteswissenschaftliche Variante der eher naturwissenschaftlich-empirisch argumentierenden Position zuvor. 5. Zudem wurde Musik eine affirmative wie auch eine kritische Natur zugeschrieben: die Aussage »das ist so«17 wie auch vor allem die künstlerisch-klanglich artikulierte Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen: Musik (auf dem angemessenen »Stand des Materials«) tritt danach in ein Verhältnis der kritisch-richtenden Negativität zu Gesellschaftsstrukturen.18 6. Musik wird gelegentlich ein Modell-oder Zeige-, Verkörperungscharakter für bestimmte Philosophierens-Desiderate zugesprochen. Musik »argumentiert« demnach durch ihre interne Struktur, ihren »Bau«, ihre selbstbezügliche Art und Weise, Sinn und Bedeutung anzunehmen. Momente dieses Gedankens fin-

Vgl. S. K. Langer, Feeling and Form, sowie dies.: Philosophy in a New Key. Vgl. J. E. Behrendt, Nada Brahma. 16  Vgl. etwa G. W. Hegels Ausführungen über den symbolischen Gehalt musikalischer Temporalität (Rhythmus, Metrum etc.) in ders., Ästhetik III, insbes. 159–170. 17  Vgl. Adorno: »Unter ihren [der Musik] Intentionen scheint einer der eindringlichsten ›Das ist so‹; die urteilende, selbst richtende Bestätigung eines dennoch nicht ausdrücklich Gesagten.« In: Th.W. Adorno, Musik, Sprache, 651. 18  Hierfür steht natürlich in erster Linie das musikphilosophische Werk Adornos. 14 

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den sich bereits in den vorgenannten fünf Punkten. Generell hängen alle dieser Aspekte mit einem der anderen zusammen, sie erläutern sich dadurch gegenseitig, bilden gleichsam ein Feld. Im folgenden sei eine These vorgeschlagen, die einen siebenten Attraktor innerhalb dieses Feldes markiert. Sie betrifft das Selbstverhältnis des Hörenden. Ihr zufolge macht Musik, die uns erfaßt, in Resonanz versetzt oder »trifft« – nicht alltägliche Momente, herausgehobener Musikerfahrung uns mit einem Wissen bekannt, von dem wir erst im Moment des Erfassens bemerken, daß wir es bereits besaßen. Musik führt uns so quasi in uns selbst hinein, macht uns mit Seiten unseres eigenen Wissens und eigener Wissensformen bekannt, zu denen wir bislang keinen Zugang hatten. Um eine Art schlagartig erweiterten Selbstkontakt. Falls das Angedeutete zutrifft, sei zunächst phänomenologisch gefragt: Was kann mit diesem erweiterten Selbstkontakt gemeint sein? Der Theaterautor George Tabori hat einmal über Kunst-Erfahrung gesagt, eine gelungene Aufführung lasse uns »durch ein Loch in die eigene Biographie fallen.« Diese Metapher, die zunächst potentiell unverständlich wirkt, gewinnt Plausiblität in der Betrachtung seiner Probenarbeit, wie sie etwa Ende der 90er Jahre in Wien zu beobachten war: Theaterproben, nicht Musikproben. Hier stellte sich das Paradox ein, daß, je persönlicher, intimer und damit zugleich ›regressiver‹ die Probenarbeit mit dem einzelnen Schauspieler wurde (MethodActing-Techniken der Stanislawski und Strasberg-Schule), desto allgemeiner, überpersönlicher sie geriet. Man wurde von der sich schlagartig einstellenden Intimität des eigendyamischen Öffnens oder Offenbarens des Menschen auf der Bühne so drastisch in dessen Prozesse und damit in sich selbst hineinkatapultiert, daß ob des Allgemeinen, Überpersönlichen dessen das Bewußtsein des eigenen Existierens für längere Momente vollkommen suspendiert war. Das Ergebnis war eine Art unantizipierter innerer Selbstbegegnung, die einem gleichsam den Boden (der eigenen Identität) unter den Füßen wegzog. In-sich-Hineinfallen und aus-sich-Herauskatapultiert-werden fielen zusammen. Zugleich entstand ob des auf der Bühne sich Ereignenden so etwas wie ein instantanes Verbot: ›das darfst Du jetzt nicht sehen, das wird bestraft, das ist so intim, so sehr die menschliche Wahrheit, daß in dieses Räderwerk des Seins hineinzustarren die göttliche Rache auf den Plan rufen wird‹. Diese Dynamik, die bei Tabori in der Probenarbeit nahezu zuverlässig einsetzte19 (sofern die Premiere und damit der Druck der Präsentation des Fertigen noch entfernt waren), hatte ebenso etwas Sucht Erzeugendes wie es im höchsten Maße ›uncanny‹ war (in die Hexenküche des eigenen Seins hineinsehen). Die Rede Taboris von der »eigenen Biographie« erklärt sich also darin, daß man mit etwas bekannt gemacht wird, das das Eigenste ist und dennoch meist unzugänglich, obwohl alles, was man hier findet, schlicht schon dagewesen sein muß  – und in das man dennoch unantizipiert wie ›durch ein Loch – fällt‹, unfreiwillig, un-intendierbar. Man steht sozusagen in glücklichen Momenten ästhetischen Erfassens zu sich selbst im

Es ereignete sich paradoxerweise um so intensiver, je professioneller die Darsteller waren: darunter Burgtheater-Schauspieler wie Ignaz Kirchner, Gert Voss oder Ursula Höpfner. 19 

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Zustand des Voyeurismus. Zugleich ein bestürzendes und Sucht-auslösendes Erlebnis, das zu gleichen Teilen Momente von Eros und kosmologische Dimensionen hat. Genau dies – so hier die These – geschieht in abstrakterer, reinerer Form beim Umgang mit Musik: ein Bekanntwerden mit dem eigenen Inneren bzw. mit eigenen Dispositionen existenziellen Fühlens und Erfassens, von deren Existenz wir bislang nicht Kenntnis hatten und die wir doch im Moment des Wahrnehmens als ur-alt in uns identifizieren. 20 Überlegt man, welcher Art und welchen potentiellen Inhalts dieser (paradoxale) epistemisch-wissenden Selbstkontakt mit etwas in einem lange Existentem und gewöhnlich Unzugänglichem ist, so bietet sich selbstverständlich keine Antwort in Form einer sprachlichen Aussage oder Formel. Zudem unterscheiden sich Musik-Formen, mithin Musik-Erfahrungen beträchtlich untereinander. Im folgenden sei also das Musik-Erfassen, um das es hier gehen soll, weniger auf die musikalischen Alltags-Erfahrungen begleitender Ablenkung und Entspannung als auf die herausgehobenen, intensiven Formen des Musikhörens bezogen – welch letztere wiederum natürlich aus einem Entspannungs-Hören hervorgehen können. Inhaltlich wie formal lassen sich drei Komponenten einer solchen Antwort festhalten. Die erste ist in der eben gegebenen Beschreibung bereits enthalten: die Musikerfahrung betrifft das Selbstverhältnis, sie ermöglicht eine Art emotionell-kognitive Selbstwahrnehmung, man fühlt, empfindet seine Weisen zu empfinden, und das begleitende Gefühl von Schönheit verstärkt ein Gewahrsein von Harmonie oder »Passen« zwischen einem selbst als Subjekt und dem (Klang-) Kosmos, innerhalb dessen man sich befindet. 21 Allerdings kann gerade dieses »Passen« schlagartig und unantizipiert, »plötzlich« sich einstellen, 22 der Selbst-Zugang durch eine bestimmte, passende Musik kann in einer noch Sekunden vorher unantizipierbaren Weise zu etwas führen, das man, mit einer Formulierung Ulrich Pothasts, als »gleichgewichtsstürzendes Entblinden« beschreiben kann. 23 Der Effekt ist eine Mischung aus Extase, Lust und Erschütterung, Offenbarung; man fährt in bestimmte Regionen seines Selbst »ein« wie, so könnte man versucht sein zu sagen, John Cusack in die Titelfigur von »Being John Malkovich«. 24 Die zweite inhaltliche Komponente der Musikerfahrung betrifft komplementär das Welt-Verhältnis, genauer: die intime Verschränkung von Selbst und Welt. In dem MoEine eigenwillige und aufschlußreiche Interpretation der Figur dieses Selbst-Kontakts qua Selbst-Verlusts durch Musik liefert Peter Sloterdijk im bereits erwähnten Sphären I, Blasen: Kap. 7: »Das Sirenen-Stadium«, 487–531. 21  In Kants Kritik der Urteilskraft findet sich eine solche Figur; genauer in der Rede von der »Harmonie der Erkenntniskräfte« in der Wahrnehmung eines (darum) als »schön« qualifizierten Gegenstands und dem begleitenden Gefühl der Lust  – einer »Harmonie« und »Stimmung«, die geeignet ist für »Erkenntnis-überhaupt«. Diese Figur artikuliert das Vorliegen eines solchen – genossenen – »Passens« in die Welt. Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, insbes. die §§ 9 und 21. 22  Vgl. zu der Figur der »Plötzlichkeit« in der Ästhetik generell K. H. Bohrer, Plötzlichkeit. 23  Vgl., bezogen auf Kunst generell, die eindringliche und treffende phänomenologische Beschreibung solcher Prozesse seitens U. Pothast, Philosophisches Buch, 434–467, hier 446. 24  Die Rede ist von dem Spielfilm Being John Malkovich, Regie Spike Jonze, Drehbuch Charlie Kaufman, USA 1999. 20 

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ment, wo das Subjekt sich in und durch die emotionell-intellektuelle Musik-Erfahrung verändert seiner selbst bewußt wird, ist auch seine Welt anders aufgeschlossen; beides existiert nie isoliert von einander. 25 Die dritte ebenso existenzielle Komponente in der Musikerfahrung ist die bereits angedeutete, die uns zu einem gewissen Grad aus unserem gewohnten Selbst herauskatapultiert, indem wir durch die Struktur, Form oder Seinsweise des jeweiligen ›MusikKosmos‹ über eine Existenz-Weise des Seins (und unserer selbst) informiert werden. 26 Statt in den Organismus oder die Welt eines Schauspieler-Individuums oder einer Theaterfigur werden wir in die allgemein(gültig)ere interne Organisation eines in sich kohärenten Musikwerks, Musikverlaufs hineingesogen. Mit diesen Komponenten und ihrem Zusammenspiel geht es beim Zuhören, Rezipieren um die Frage: in welcher Weise hängen wir mit dem Ganzen, dessen Teil wir sind, zusammen? Dies ist die Frage schlechthin für menschliche Subjekte: Welche Rolle spielen wir, jedes Individuum anders, in jenem Ganzen von Raum und Zeit, das uns hervorgebracht hat, und das uns damit vor Aufgaben stellt, die wir nicht kennen – unsere Rolle in dem Gesamten  – welche zu verstehen wir in gewisser Weise in jedem Moment, mit jedem bedeutsamem Atemzug bemühen – ? Als Produkte von Gesetzen und Geschichte in einem Raum und einer Zeit, die wir nicht gewählt und nicht gemacht haben, verkörpern wir etwas und sollen dem unser Eigenes hinzufügen: einem Ganzen, dessen Umfang und Regeln, Codizes wir nie hinreichend erfassen und das wir doch kennen müßten, weil jede unserer Zellen, Gefühle und Gedanken eben mit ihnen in Verbindung steht: Gesetzen, die wir ererbt haben und die wir durch unsere Existenz perpetuieren. Mit jeder Stunde, in der wir uns fragen: was tue ich jetzt, schreibe ich jetzt, wähle oder sage ich jetzt, suchen und entscheiden wir etwas, von dem wir nicht exakt wissen, was es ist und bei welchem es doch ums Ganze geht: nämlich um unser Leben in Relation zu Demjenigen, was uns hervorgebracht hat und das uns jetzt vor die Aufgabe stellt, unsererseits etwas hervorzubringen, welches das uns Vorstehende zumindest nicht unterbietet, sich vielmehr in Resonanz, Harmonie und Befruchtung befinden soll zu demjenigen, in dessen Verantwortung wir durch das Faktum der an uns weitergegebenen Existenz stehen. 27

Vgl. S. Mahrenholz, Musik und Erkenntnis, Kap. VI. Dieser Inhalt wird nicht verweisend ausgesagt, vielmehr vorweisend verkörpert, strukturell vorgewiesen. 27  Es sind herausgehobene Phasen, etwa der Jugend, des Übergangs in die Erwachsenenwelt, oder auch der ersten Studienjahre, in denen wir diese Verantwortung für das Ganze – also unserer selbst in Relation zu der Welt – besonders deutlich empfinden: in Form der Frage: was mache ich mit meinem Leben, wie will ich mich in den Kosmos des Ganzen integrieren und dies in einer Weise, die die Geschichte bis zu mir möglichst angemessen weiterführt?‹. Darauf folgen dann etwa 20 Jahre des Kampfes um Platz in einer Arbeits- und Lebenswelt, und dann wiederum, ab 40 oder 50, kommt dieselbe Frage nach dem Selbst-in-der-Welt-Verhältnis, der Selbst-und Ganzes-Relation erneut zurück, wenn man überrascht und wie »zu spät« bemerkt, daß die die Lebenszeit verging »wie ein Seufzer, ohne daß ein Kriegsplan entworfen, Regeln festgesetzt, Wege gefunden worden wären, die uns gelehrt hätten wie diese andern und man selbst zu retten 25  26 

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»Resonanz«, »Harmonie« oder auch Anschlußfähigkeit, reine Relationalität – dies sind musikalische Metaphern oder auch von der Musik stärker als von allen anderen Artikulationsweisen verkörperte Formen der Existenz im Kontinuum der Zeit. – Damit ist eine nähere Betrachtung der speziellen Existenzform der Musik, berührt: die zweite genannte Frage:

2.  Was am »Material« der Musik ist für ihre philosophischen Implikate bzw. Inhalte verantwortlich? Es geht hier in anderen Worten um die physischen Eigenschaften des Mediums Musik und die komplementären sinnesphysiologischen Besonderheiten ihrer Rezeption. Sieht man sich die Tradition des Nachdenkens über diese Fragen an, so stellt man fest, daß die entsprechenden Überlegungen sich vor allem in den letzten hundert Jahren in einem Fadenkreuz zweier Diskurse befanden: der Frage: Was verbindet und unterscheidet Musik und Sprache? sowie ferner zweitens: Was unterscheidet Hören und Sehen? Die erste Thematik wurde in mannigfacher Weise von Adorno umkreist; beinahe sein gesamtes Oeuvre durchzieht Reflexionen, in welcher Form Musik sich von Sprache unterscheidet und andererseits wie Sprache ist. 28 Die zweite Frage nach dem Verhältnis von Hören und Sehen hat vor allem in jüngerer Zeit für das Verstehen der Rolle der Musik im menschlichen Leben an Interesse gewonnen: in einer Zeit, in der einerseits die Sprachphilosophie hin zu Zeichen- und Medienphilosophien erweitert wurde, andererseits die Neurophysiologie als Spielart der Physik an Deutungshoheit gewann, was komplementär drittens, als Ergänzung und Korrektur, eine Renaissance der Phänomenologie auf den Plan rief. 29 Hören und Sehen, also das Phänomen des Klangs und des Lichts haben zunächst gemeinsam, daß es sich in beiden Fällen um Schwingungen, Frequenzen handelt, die für uns die Qualität von Tonhöhe, Tondauer, Klangfarbe – sowie Licht, Farbe, Gestalt haben. Es gibt aber auch charakteristische Unterschiede. Damit wir etwas sehen, muß etwas Licht reflektieren, zurückstrahlen. Damit wir etwas hören, muß etwas in Resonanz geraten, mitschwingen. Töne, Klänge, Geräusche werden ausgelöst, übertragen und wahrgenommen, indem ein Gegenstand durch physische Einwirkung in Schwingungen versetzt und dadurch zur Geräuschquelle wird: diese Bewegungen bringen dann das Medium oder die Medien um sich herum zum Schwingen (wie Luft oder Wasser oder Metall), genauer, zum Mitschwingen, und diese Resonanz-Welle pflanzt sich fort bis an unser Ohr: welches auch nur ›hört‹ unter der Voraussetzung, daß dessen »Materie« dieselbe seien vor der allzu leicht hingenommenen Vergeblichkeit des Daseins.« Thornton Wilder: Die Frau aus Andros, 23. 28  In jüngerer Zeit lieferte genaue Analysen A. Wellmer, Versuch über Musik und Sprache. 29  Mit den psychophysischen Besonderheiten des Hörens im Vergleich zum Sehen haben sich u.a. Peter Sloterdijk, Michel Serres und Vilém Flusser in den oben angegebenen Werken beschäftigt. Vgl. ferner phänomenologische und symboltheoretische Überlegungen in S. Mahrenholz, Musik und Erkenntnis, Kap. III, 101–128.

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Schwingungsfrequenz fortführt. In anderen Worten, wenn wir (Musik) hören, passieren die Klang-übermittelnden Schwingungswellen nicht allein die Luft, sondern auch das Wasserglas auf unserem Schreibtisch, die Membran in unserem Innenohr sowie unsere Organe: Vibrationen, die im Fall tiefer Bässe, etwa durch Kontrabässe oder sehr tiefe Orgelpfeifen, in unseren Eingeweiden physisch spürbar werden. Licht, als Bedingung des Sehens, reflektiert hingegen, strahlt ab, und erfordert nebenbei auch eine gewisse physische Distanz der Augen zu dem, was man ansieht; Klang umgekehrt wird durch Ansteckung übertragen: wir können nur hören, wenn sämtliches Existierende zwischen uns und der Klangquelle gleichsam komplizenhaft mitschwingt, über-trägt, bis hin zu unserem Körper im allgemeinen und Ohr im speziellen. Daß dieses in-Resonanz-Geraten des Hörenden nichts rein Passives ist, sondern sich in ihm auf eine spezielle Art Aktivität und Passivität kreuzen, hat Vilem Flusser artikuliert: Das Musikhören ist eine Körperstellung, d. h. eine innere Spannung […]. Darin ist die Geste des Musikhörens mit der Habachtstellung oder mit der Verteidigungsstellung eines Boxers vergleichbar. Wie der Gardesoldat nicht niesen kann, ohne dabei die richtige Stellung einzubüßen, so kann der Musikhörende nur dann gut zuhören, wenn er sich »konzentriert«, d. h., seine Muskeln und Nerven irgendwie einstellt. Der Unterschied zwischen Gardesoldat und Boxer einerseits, Musikhörendem andererseits besteht darin, daß Gardesoldat und Boxer nicht auf Empfang eingestellt sind, sondern auf Handlung. Das heißt, sie konzentrieren sich von innen nach außen. Der Musikhörende dagegen konzentriert sich eigentlich gar nicht, sondern er konzentriert die ankommenden Schallwellen ins Innere seines Körpers. Das bedeutet: beim Musikhören wird der Körper Musik, und die Musik wird Körper. 30 […] Dieses wissende Erleiden heißt im Griechischen »pathein«. Der Empfang von Musik im Bauch […] ist Pathos, und sein Effekt ist Empathie in die Botschaft. Dieser pathetische Charakter ist buchstäblich nur für akustische Botschaften wahr31, für alle anderen gilt er nur metaphorisch. Beim Hören von Musik wird der Mensch in physischem (nicht in übertragenem) Sinn von der Botschaft »ergriffen« […] Musik ist die Geste, welche die Haut überwindet, indem sie sie aus Grenze in Verbindung verwandelt. 32 Neben dieser Interaktion von Aktivität und Passivität findet sich also jene Interaktion von Grenze und Verbindung, Trennen und Vereinen, welche zugleich ein charakteristischer Zug des Musikhörens ist: Musik stellt eine Einheit her zwischen dem Welthaften einerseits, zwischen Welt und Selbst andererseits, ein Phänomen, das auch zu dem eben im Zusammenhang mit Adorno angesprochenen charakteristischen Effekt des »Bejahens« und zugleich Negierens, Kritisierens beiträgt: des Scheidens und Synthetisierens. Dies hat zum Teil mit den beschriebenen, vom Sehsinn unterschiedenen physiologiW. Flusser, Gesten, 197 f Vgl. zu diesem Aspekt – einer speziellen Autorität des Gehörten – aus hirnphysiologischevolutionstheoretischer Sicht ferner Julian Jaynes, Ursprung des Bewußtseins. 32  A. a. O. 202. 30  31 

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schen Gegebenheiten des Hörens zu tun, allerdings nicht nur. Ein weiterer, zentraler Aspekt kommt in den Blick, wenn wir etwas betrachten, das Flusser gänzlich außer Acht läßt: das Spezifische des Hörens von Musik im Unterschied zum Hören generell. Dies wird im folgenden Abschnitt thematisiert. Als Zwischenstand sei hier festgehalten, daß mit den Beobachtungen zum Verhältnis von Umgebung und eigenem Körper im Hören – dem physischen Ansteckungs-und Resonanzverhältnis  – sich bereits ein Modell für das eben beschriebene Welt- und Selbstverhältnis findet: insofern beide so interagieren, daß das Erfassen der eigenen physischen Schwingungen mit dem Erfassen des Umgebenden frequenzmäßig zusammenfallen.

3.  Die Zahl, das Messen und das Ohr. Die physiologische Sonderstellung musikalischen Hörens Die wesentlichen menschlichen Sinnesqualitäten – darunter Farben, Helligkeit, Tonhöhen, Klangfarben, Lautstärke, Temperaturempfindungen – sind bekanntlich Ergebnis des Zusammenwirkens physikalischer Eigenschaften und menschlicher Sinnesphysiologie. Schon Leibniz legte dar, daß in dem Moment, wo Bewegung »zu gering und zu zahlreich«33 für unsere Wahrnehmungskapazität ist, diese gleichsam umkippt in eine andere Wahrnehmungsmodalität, etwa Temperatur: welche wie eine heuristische Abkürzung dazu dient, das zu erfassen, was jenseits unserer direkten WahrnehmungsReichweite liegt. Hierin unterscheidet sich das Sehen nicht vom Hören, auch dies ist ein sinnesphysiologisch geschehendes Umrechnen von Schwingungsfrequenzen in Ton-Höhen, Amplituden in Lautstärken, Oberton-Mischungen in Klangfarben. Was das Hören jedoch grundlegend vom Sehen unterscheidet ist der Umstand, daß es nicht anders kann als die mathematischen Verhältnisse von Schwingungsfrequenzen zu messen. Was heißt das konkret? Das Phänomen Ton-Höhe ist bekanntlich die physiologische Weise, Frequenz-Geschwindigkeiten wahrzunehmen. D. h., was wir beim Anschlagen einer Stimmgabel hören – Kammerton a' – sind 440 Hz oder Luft-Doppelschwingungen pro Sekunde. Je schneller die Schwingungen, desto höher der Ton. Stellen wir uns vor wie wir mit dem Bleistift regelmässig auf den Tisch klopfen und so einen monotonen Rhythmus erzeugen. Wenn wir diesen gleichmäßig beschleunigen könnten, würde er allmählich in ein Schnarren übergehen und schließlich in einen tiefen Ton, der kontinuierlich höher anstiege, bis hin zu einem Fiepen und schließlich Stille. Die Grenzen unserer Geschwindigkeits-Diskriminierungsleistung (der Schallwellen) werden also gleichsam von der Tonhöhen-Wahrnehmung kompensiert – als ob eine Wahrnehmungs-Staffel an einen anderen »Träger« weitergegeben wird in Form eines anderen »Quale«.

33 

G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen I, XXI.

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So entstehen bekanntlich auch Farb- und Temperaturphänomene; doch was das Hören speziell auszeichnet ist, daß wir bei Zusammenklängen, dem Auftreten von mehr als einem Tonbestandteil gleichzeitig, die mathematischen Frequenzverhältnisse dieser Zusammenklänge messen: in Form einer Harmonie- oder Disharmonie-Empfindung. Das heißt, wir nehmen beim Mehrklang nicht nur zusammen auftretende Tonhöhen wahr, sondern zugleich auch Harmonie-oder Dissonanz-Grade (dies gilt entsprechend auch bei zeitlich aufeinander folgenden Tönen: etwa in Melodien). Stellen wir uns die Darstellung auf der Abbildung 1 als eine schwingende Saite vor, welche, wie alle Resonanzkörper, nie nur als Ganze, sondern immer simultan auch in ihren Teilen schwingt.

Abbildung 134

Hier ist der »Witz«, daß sie ausschließlich in gleichen Teilen schwingt, also zweimal so schnell in ihren Hälften, dreimal so schnell in ihren Dritteln, viermal so schnell in ihren Vierteln etc. Ergibt die Hauptschwingung also beispielsweise den Grundton C, so ist deren Hälftung, d. h. auch Verdoppelung, die Oktave (c), die Drittelung und Verdreifachung der Schwingung die Quinte (g), die Viertelung und Vervierfachung wiederum von der Quinte aus eine Quarte (c'). Die ersten vier Schwingungen (1:2:3:4) ergeben also dreimal ein C plus ein G. Der nächste Oberton (das Fünfteln der Saite) ergibt eine große Terz – vom C aus also das e', der übernächste Oberton (das Sechsteln der Saite und Versechsfachung der Schwingung) ergibt grob eine kleine Terz, vom e' ausgehend also das g'. 35 Das Verhältnis 1:2:3:4:5:6 über einem Grundton führt mithin zu einem Dur-Dreiklang: komponiert aus drei c's, zwei g's, einem e. (Der nächste, nach einem weiteren g sich anschließende Oberton, die 7, ist eine der Blue-Notes des Jazz: von c aus zwischen a und b: eine Art etwas zu tief geratene Septime.) – Die ersten fünf Obertöne über dem Grundton resultieren also in einem Dur-Dreiklang, die ersten sieben Obertöne ergeben mehr oder weniger einen Dominantseptakkord. Gehen wir nun aus Gründen der leichteren mathematisch Darstellbarkeit nicht von c, sondern vom kleinen a aus, mit 220 Hz: Dieses ergibt als ersten Oberton den

34  Graphik entnommen mit freundlicher Genehmigung der Webpage http: / / www.Stimmlabor.de. 35  Musiker (inbesondere jene, die nicht am wohltemperierten Klavier sozialisiert wurden) weisen an diesem Punkt stets auf die Abweichung der diatonischen Tonleiter-Intervalle von der Obertonreihe gibt. Vgl. hierzu etwa die Webpage von Wolfgang Saus: http: / / oberton.org / obertongesang / obertonreihe.html.

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›Stimm(gabel)ton‹: »Kammerton« a', mit der doppelten Frequenz von 440 Hz. Die Quinte über a', das e«, hat die Frequenz 660 Hz, 880 Hz entsprechend das a«. Wenn nun – und an diesem Punkt liegt eine der hier philosophisch anvisierten Pointen – statt eines exakten 1:2:3:4–Verhältnisses, also 220:440:660:880 Hz (zwei Oktaven plus eine Quinte: Klang von maximaler Harmonie), leichte mathematisch-physikalische Abweichungen vorliegen, also beispielsweise die Oktave unter dem a (440 Hz) nicht 220 sondern nur 217 oder 222 Schwingungen Hz beträgt, empfinden wir dies physisch als ›zu tief‹ oder im letzteren Fall als ›zu hoch‹: eben leicht ›verstimmt‹. Dies ist ein Wahrnehmungs-, kein Geschmacks-Faktum. Diese Empfindung ist damit  – und dies wird in ästhetischen Debatten oft außer acht gelassen  – nichts Normatives. Es ist eine physiologische Gegebenheit, die wir nicht loswerden, nicht abtrainieren können, jedoch umgekehrt schulen, perfektionieren. Das Auge verfügt über diese Eigenschaft nicht. 36 Das Ohr ist also gleichsam ein exaktes relationales Meßgerät, es ›mißt‹ SchwingungsVerhältnisse37, und dieses unwillkürliche physiologische Messen erleben wir als Harmonie- oder Dissonanz-Empfinden. Wir empfinden physisch-sinnlich, wenn etwas »verstimmt« ist: zu hoch, zu tief, sich »reibend«. Dieser Sachverhalt, an dem sich Akustik, Psychoakustik, Hör-Physiologie und Physik begegnen und der das Hören fundamental vom Sehen unterscheidet, ist von großer Tragweite, und dies aus u.a. zwei Gründen. Erstens ist die Konstatierung der Tatsache, daß die ersten sechs Obertöne über dem Grundton einen Dur-Dreiklang plus »jazzige« Septime ergeben, eine Quelle nicht enden wollender musikästhetischer und Werk-poietischer Debatten: u.a. zur Rolle des tonalen Hörens und der Tonalität in der Musik. So folgt aus dem Genannten einerseits natürlich nicht, daß der Dur-Dreiklang, generell Konsonanzen und basale Harmonien gleichsam die Wahrheit und das Wertvolle der Musik sind. Mit dieser Ordnung, anders gesagt, ist noch keine ästhetische Wertung verbunden, so wie auch leichtes Verstehen oder Wohlklang einer Aussage noch kein Urteil über Wahrheit, Wert oder Wohlgeformtheit des Satzes beinhalten. Aus der beschriebenen Wahrnehmungs-Tatsache folgt also kein Votum für tonales Komponieren. Vielmehr heißt es zunächst schlicht, daß wir auf quasi-messende Weise hören und auf dieser Basis Ton-Höhen bzw. Tonintervalle gleichsam nach Graden oder Skalierungen von Konsonanzen oder Reibungen ordnen: diese Ordnung konstituiert unseren Empfindungs-Sinn. Diese daher andererseits kompositorisch negieren zu wollen käme dem Wunsch eines Malers gleich, Betrachter wie Farbenblinde wahrnehmen zu lassen. Gerade auf der Hintergrundfolie dieser Fähigkeit bekommen Dissonanzen und alles, was jenseits des tonalen Dreiklang-Schemas liegt, ihren ästhetischen Wert, Reiz, Bedeutung, Aussagekraft. Es folgt also für das Komponieren, daß man bestimmte Hör-Leistungen, u.a. die diskriminatorische Gewichtung harmonischer Verhältnisse, einkalkuliert; dies kann im Grenzfall in einem ästhetisch bedeutsamen Stück rein aus Septimen, Tritoni und Sekunden resultieren. Tendenziell wird jedoch in musiktheoretischen Debatten jeder Hinweis auf Obertöne und deren Übereinstimmung mit tonalen Verhältnissen mit konservativen musikpoietischen 36  37 

Vgl. zu diesen Verhältnissen auch S. Mahrenholz, »Der notationale Fehlschluß«. Es mißt nicht die absoluten Tonhöhen; Ausnahme: das »absolute Gehör«.

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Grundauffassungen identifiziert, was in die Debatte über musikalische »Materialität« potentiell einen blinden Fleck einführt. Zweitens: Mit just dieser beschriebenen Hör-Eigenschaft operiert die Musik nicht nur als kompositorische, sondern auch als interpretatorische Ausdrucksform: Musik beinhaltet die Fähigkeit, Abweichungen in der Tonhöhe, also in der Intonation als Expression, als Ausdruck zu verstehen. In der Musik wird letztlich gerade über den »kalkulierten Fehler«, die kalkulierte Überschreitung von Normen der Intonation (und der Agogik) »Ausdruck« kommuniziert, ja, künstlerisch-interpretatorische Größe überhaupt hergestellt. Große SolistInnen etwa im Fach Gesang oder Violine kommunizieren unter anderem wesentlich mit diesem Mittel des intendiert ›zu hoch‹ oder ›zu tief‹ Singens im Interesse der Expressivität. Gerade in diesen Abweichungen liegt die ästhetische Information, und gerade in dieser Fähigkeit expressiv riskant zu operieren (an der Grenze zum Falschen bzw. Abstoßenden), scheiden sich interpretatorische Welten: gerade sie betreffend liegt das Publikum den Maestri zu Füßen oder eben nicht. (Zu beobachten ist dies etwa in Live-Konzerten Cecilia Bartolis.) Wenn wir diese Fähigkeit des physiologisch unwillkürlichen relationalen Messens von akustischen Schwingungsfrequenzen nicht hätten (dasselbe gilt für die Zeit und die dort anzutreffenden agogischen rubati), wäre die musikalische Kunst keine im eminenten Sinn ästhetische. Gerade diese physiologische Verfaßtheit unserer Hör-Wahrnehmung also erlaubt bzw. begründet erst die Ausbildung eines komplexen (ästhetischen) Kommunikationssystems. Die beschriebene Fähigkeit des relationalen Hörens und des »Spiegelns« der HörWahrnehmung der Obertonreihe via Konsonanz- und Dissonanz-Empfinden gilt für das Hören generell, nicht nur für das Hören von Musik, entsprechend für schwingende Körper generell, nicht nur für Musikinstrumente. Nicht nur Gesangsstimmen, auch Sprechstimmen, nicht allein Violinen oder Kontrabässe, sondern auch Tische, Tonschalen, Gläser, Gräser, Bäume schwingen in ganzzahligen Vielfachen. Dies erklärt möglicherweise die Existenz dieser besonderen menschlichen Fähigkeit, deren Besitz ggf. einen evolutionären Vorteil bietet, über dessen Sinn man nachdenken kann (das verläßliche Dechiffrieren der Stimmung des Gegenübers  – der Mutter, des Chefs  – anhand ihrer Intonation, das Erfassen der Haltbarkeit des Eises, der Brücke, des Stamms, der Intaktheit des Glases, des Funktionierens des Motors …). Derlei Messen mathematischer Schwingungs-Relationen qua Empfinden ist offensichtlich eine Fähigkeit, die man beim Sehen nicht benötigt.38 Wir haben bislang festgestellt, daß das Wahrnehmen von Musik grundsätzlich relationaler Natur ist. Nicht nur zeigt sich dies am beschriebenen mathematisch präzisen Gehör, das beim Hören immer zugleich Klang-Verhältnisse mißt (als Grade der Dissonanz

Was das Sehen wiederum vermag ist die Symmetrie-Wahrnehmung, d. h. man sieht, wenn sich ein Objekt in der Zeit rückwärts bewegt, man hört jedoch nicht, wenn eine Melodie oder ein Rhythmus rückwärts gespielt werden. Letzteres ist offensichtlich deswegen eine unnötige Fähigkeit, weil Zeit nie rückwärts verläuft. In der Musik ist Symmetrie nur als Wiederholung denkbar, sodaß Wiederholung in der Musik bis ins 20. Jahrhundert hinein ein verbreitetes Kompositionsmittel ist (man denke z. B. jenseits der Wiener Klassik an Debussy's L'Isle Joyeuse – ein Stück in dem jede Figur sofort wiederholt wird, ohne daß einem dies überhaupt auffiele!). Ungeachtet andererseits der Unmöglichkeit, diese zu hören, nutzten Komponisten lange vor Bach bis hin zur Zwölftonmusik gerne Rückwärtsfiguren: »Krebse«. 38 

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wie als expressive Intonation). Es zeigt sich auch an dem Umstand, daß Schwingungen als Ton wahrzunehmen immer deutlich mehr als eine Schwingungsperiode erfordert (eben dies unterscheidet den Ton vom Geräusch). Ferner: Musik ist immer mindestens zwei Töne; wir verstehen den expressiven Sinn des ersten immer erst in Relation zum zweiten. »It takes two to know one«.39 Musik »bedeutet« also nicht in der »Währung« von Tönen, sondern in Intervallen, Motiven, Harmonien, Melodien, Clustern, Rhythmen etc. Wir hatten uns ferner vergegenwärtigt, daß Musikhören darauf basiert, daß wir qua Hörende nicht allein psychisch, sondern direkt physisch in Resonanz geraten. Dies gilt für unsere Gehörs-Knöchelchen, Membrane etc. ohnehin; für den Rest der Eingeweide wird es bei großen Baß-Instrumenten physisch spürbar.40 Das heißt, daß die Grenze zwischen uns und Anderem im Hören notwendig transzendiert wird. Musikalische Wahrnehmung verläuft damit nach dem Modell nicht der Grenze, Trennung, sondern der Verbindung: der Grenz-Transzendierung und Resonanz.

4.  Konsequenzen: Musik als ›Kritik‹ philosophischer Erkenntnistheorien Was folgt aus den beschriebenen Besonderheiten des Hörens, wie sie von der Kunstform Musik zu einer eigenen Sprachform ausgebaut wurden, für epistemische Grundfragen in der Philosophie? Hierzu seien drei Thesen vorgestellt, abkürzend bezeichnet mit a) Doppelte Relationalität als epistemische Grundverfaßtheit, b) Meta-kopernikanische Wende und c) Denken als passiver Akt.

4.1  Doppelte Relationalität als epistemische Grundverfaßtheit Das Modell des Musikhörens, Musikerfassens, Musikverstehens exemplifiziert den für jegliche relevante Erkenntnis grundlegenden Umstand, daß uns Tatsachen und Realitäten auf Dauer nie isoliert begegnen. Die basalen Einheiten der Wirklichkeit sind nie Fakten und einzelne Sachverhalte, sondern relationale Gebilde sowie Ziele, die durch komplexe Einheiten und in pluralen Perspektiven definiert sind. Das bedeutet, daß wenn wir in unseren handlungs-praktischen Ausrichtungen einzelne Faktoren isolieren, uns das Gesamtsystem unkontrollierbar entgleisen kann; dies gilt nicht nur für mißglückte Orchesteraufführungen, sondern wesentlich für Finanzmärkte, Ökosysteme und diplomatische Kommunikationsentgleisungen im internationalen Rahmen. Das nach partikularen Zielen in isolierte Faktoren aufgetrennte System schlägt spätestens nach einigen Runden zurück.

Gregory Bateson, zitiert nach S. Nachmanovitch, »Gregory Bateson«, 35 f. Kirchen und Diskotheken nutzen diesen Effekt folgerichtig dazu, die Anwesenden potentiell und kalkuliert in einen psychophysischen Grenzbereich zu führen. 39 

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Natürlich existieren Erkenntnis-Konzeptionen auf dieser Basis bereits, bislang jedoch eher in randständigen Bereichen; zu denken ist etwa an die Rede von der »ecology of mind« Gregory Batesons, eines Stammvaters der Kybernetik, sowie an Formen der aus ihr sich indirekt herleitenden Kommunikations-und Systemtheorie.41 Diese Relationalität betrifft die externe, die Relationalität auf Seiten des Erkannten. – Daß Entsprechendes auch intern, für das erkennende Subjekt gilt, ist Gegenstand der zweiten Form basaler Relationalität, die bereits deutlich wurde. So bilden wir scheinbar vom Gegenüber isolierten Subjekte letztlich mit dem Erkannten ein unauftrennbares System. Jeder Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozeß ist ein Akt des Selbstwahrnehmens. Dies ist die in jegliches epistemische Tun eingelassene zweite Form basaler Relationalität, exemplifiziert am Modell des Hörens. Nichts können wir als etwas erkennen, wenn wir nicht ineins damit einen Teil unseres Selbst als dieses etwas anerkennen – und sei es in Negativform, Abgrenzung. (Dies wird gleich noch näher erläutert.) Man kann zunächst diese beiden Punkte resümieren mit: 1) Einen Sachverhalt alleine gibt es nicht, Sinn-Entitäten sind stets multi-dimensionale Ganzheiten. 2) Abstrahiert man in der Erkenntnis vom Selbst, verliert man das zu Erkennende.

4.2  Meta-kopernikanische Wende Kants epistemische Revolution, seine kritische »kopernikanische Wende« bestand bekanntlich darin, daß nicht wir uns erkennend nach den Dingen richten, also nicht das erkennende Subjekt das An-sich der Dinge passiv abspiegelt, sondern die Dinge in ihrem Wie sich nach unseren (inter-) subjektiven Erkenntnisformen richten. Wir erkennen die Dinge nur als »Erscheinungen«, als ›an-sich-für-uns‹, wie Hegel es faßt. Die Analyse des Erkennens beinhaltet demzufolge wesentlich Aufmerksamkeit für unser eigenes Kategoriensystem – weshalb Erkenntnistheorie in der Kant-Folge ein stark selbstreflexives Moment annahm. Diese Bestandsaufnahme läßt sich nun vor dem Hintergrund des im Umgang mit Musik Konstatierten aufnehmen, neuerlich wenden und darin radikalisieren. Erfassen, Wahrheits- oder Erkenntnis-Gewinnen ist untrennbar mit Selbstwahrnehmung verknüpft; doch gilt dies nicht nur hinsichtlich der theoretischen Reflexion der Konstitutionsleistung des Subjekt über Kategorien- und Zeichensysteme. Es gilt sinnlich-phänomenologisch-praktisch auch beim Selbst-Wahrnehmen. Das heißt, der Erkenntnisakt ist nicht allein formal und transzendental-aktivistisch zu fassen wie noch bei Kant bzw. in symbol- und medientheoretischen Neufassungen seiner. Vielmehr ist die Realitäts-Erfassung zusätzlich als eine Art aktives Registrieren der eigenen Resonanz zu fassen: eine Art Hören auf die eigene sinnlich-körperliche Reaktion. Wir sahen am Modell der Tonhöhenwahrnehmung: das präzise Erfassen der mathematischen Relationen geschieht als sinnliche Empfindung. Mit Nelson Goodman, dessen von der formalen Logik herrührendes Erkenntniskonzept der Esoterik unverdächtig

41 

Vgl. G. Bateson, Ökologie des Geistes.

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ist, werden Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse »felt in our bones and nerves and muscles as well as grasped by our minds … all the sensitivity and responsiveness of the organism« partizipiert an ihnen.42 Dies läßt sich ›meta-kopernikanisch‹ fassen, er impliziert wiederum einen passiven Vorgang: Mit einer gezielten Aufmerksamkeit, attentiveness richten wir uns auf pathische Vorgänge als dasjenige, was uns begegnet.43 Es ist ein aktiv uns selbst Wahrnehmen. Wir suchen gleichsam die Modi des passiven Empfangens. Dies ist eine Inversion und Iteration der ›kopernikanischen Wende‹ auf eine höhere Ebene, auf welcher Aktivität und Passivität, Subjekt und Objekt einander nicht mehr gegenüberstehen. In dieser Neu-Architektur der erkennenden Grundverfaßtheit bedeutet Welt-Erkennen: von der Welt zum Re-Agieren gebracht zu werden und dies maximal aktiv-›reflexiv‹ zu erfassen. Das Bild der Fledermaus ist für diese ›meta-kopernikanische Wende‹ sehr passend: Nicht die Welt prägt sich uns auf, sondern wir enden Signale aus – soweit die erste »Wende«. Aber erst die Art, wie diese Signale auf uns zurück prallen (zweite Wende), gibt uns Aufschluß über das zu Erkennende. Der Akt des Erfassens besteht hier darin, daß wir darauf achten, wie das Begegnende, uns Konfrontierende uns anschlägt, und was für eine Schwingung, für ein Klangmuster entsteht, wenn wir dieses Uns-Anschlagen beobachten. Wer dies für die Architektonik einer privatistischen Innenschau hält, verkennt den Prozeß. Es ist eine Ver-Objektivierung, sie verläuft umgekehrt derart, daß wir uns selbst vom Standpunkt des Anderen, Außer-uns-Seienden erfassen. (In dem Moment, wo die Fledermaus nicht genau darauf achtet, wie der von ihr selbst ausgesandte Schall sie »spielt«, prallt sie gegen die Mauer). Das heißt: das Begegnende hat, nun auf einer Meta-Ebene, formal wieder den Primat, aber nicht mehr als angenommener Gegenstand an sich, sondern als Gegenstand für uns, genauer: als wir-für-den-Gegenstand. Diese »objektivierende« Form der subjektiven Empfindung widersetzt sich der nach dichotomischen Alternativen organisierten Begriffslogik (›objektiv‹ und ›subjektiv‹, ›aktiv‹ und ›passiv‹) und führt unter den historischen Positionen vielleicht noch am ehesten in die Nähe der Phänomenologie Hegels; sie spiegelt sich jedoch vor allem in dem ihr korrespondierenden neuen Konzept des ›Denkens‹. Dieses behandelt der dritte und letzte Punkt.

4.3  Denken als passiver Akt Auch das Denken ist strenggenommen als ein Vernehmen (Passivität), ein Finden zu konzipieren. Ein Symptom dafür ist die Rede vom »ich finde«, mit der wir oft wichtige Einsichten einleiten: gerade jene, die für uns mit besonderer Autorität verbunden sind. Denken ähnelt insofern eher dem Warten als dem Handeln, v. a. dann, wenn wir den Gedanken, den wir als Ergebnis erwarten, vorbereitet haben: indem wir uns die theN. Goodman, Languages of Art, 259. In Reflexionen zum Pathischen ist auf diese Interaktion von Aktivität und Passivität in letzter Zeit verstärkt Aufmerksamkeit gerichtet worden. Vgl. etwa K. Busch, Pathos. 42  43 

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matischen Ingredienzen, Informationen bereitstellten. Denken ist insofern eher ein InAuftrag-Geben und auf das Ergebnis warten. Varianten dessen sind in der Philosophie gelegentlich formuliert worden. Es gibt das bekannte Bonmot von Nietzsche, in der Folge Lichtenbergs, demzufolge »ein Gedanke kommt, wenn ›er‹ will und nicht wenn ›ich‹ will«, sodaß anstelle der Rede vom ›ich denke‹ eher gesprochen werden sollte von »Es denkt«.44 Die Beobachtung der Wahrnehmung des Musikalischen als konzentriertes SelbstEmpfinden, beschreibbar als Ausrichtung auf das »Vom-Begegnenden-angeschlagenwerden«, macht plausibel, daß Denken etwas an sich hat, das wir gerade dann als valide empfinden, wenn wir das Gefühl haben, daß wir es nicht gewählt, entschieden, gelenkt haben, sondern daß der Gedanke »kam«. Natürlich gehen wir in einer trivialen Hinsicht davon aus, daß wir unsere Gedanken steuern: den Geboten der Situation, der gesuchten Problemlösung entsprechend sowie jenen der Folgerichtigkeit und Logik. Doch gerade unter diesen Restriktionen suchen wir ein Moment, das sich diesen Aspekten zwar nicht widersetzt, das aber dennoch ein nicht-antizipiertes Moment aufweist. Man könnte von einer Art Prozeßsteuerung durch Geschehenlassen, einer Selbstrealisierung intelligenter Impulse sprechen. Es gälte danach unser Bild vom erkennenden Denken umzustrukturieren: die eigentlich validen Denk-Akte sind nicht die von uns autonom gesteuert und gewählten, sondern es sind die, in denen sich ein »Denkzwang« artikuliert. Eine verwandte Figur beschrieb aus wissenschaftstheoretischer Sicht der Mikrobiologe Ludwik Fleck, dessen Erkenntnistheorie in enger Auseinandersetzung mit dem Wiener Kreis entstand. In seiner 1935 erschienenen wissenschaftsstheoretischen Abhandlung zur »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« stellt er dar, inwiefern Erkenntnis als Suche nach dem »Denkwiderstand« geschieht. Fleck über die epistemische Ausgangssituation im Labor: Der Forscher tastet: nirgends ein fester Halt. … Er sucht den Widerstand, den Denkzwang, dem gegenüber er sich passiv fühlen könnte. Die Arbeit des Forschers heißt: im verwickelten Gemenge, im Chaos, dem er gegenübersteht, das, was seinem Willen gehorcht, von dem, was sich … dem Willen widersetzt, zu unterscheiden. Dies [letztere45] … ist der feste Boden, den er … sucht, und immer wieder sucht… . Die allgemeine Richtung der Erkenntnisarbeit ist also: größter Denkzwang bei kleinster Denkwillkürlichkeit. So entsteht die Tatsache: zuerst ein Widerstandsaviso.46 F. Nietzsche, »Jenseits« 30 f., vgl. auch ebd. 29 f. Vorbereitend dazu äußerte zuvor bereits Feuerbach, »daß wir nicht zu jeder Zeit denken können, daß uns nicht die Gedanken nach Belieben zu Gebote stehen, daß wir oft mitten in einer geistigen Arbeit trotz der angestrengtesten Willensbestrebungen nicht von der Stelle kommen, bis irgendeine äußere Veränderung, oft nur eine Witterungsveränderung, die Gedanken wieder flottmacht.« L. Feuerbach, Werke 10, 127 f. – John Cage bemerkt in seinem »Vortrag über Nichts«: »Während wir fortfahren, (wer weiß?) kommt vielleicht eine Idee in diesen Vortrag. Ich habe keine Idee ob oder ob nicht. Wenn ja, soll sie.« J. Cage, »Vortrag«, 8. 45  Zusatz v. S.M. 46  L. Fleck, Entstehung, 123. 44 

Musik als Herausforderung für philosophische Erkenntnis-Konzeptionen

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Eben diese aktive Suche in der selbst inszenierten Experimental-Situation des Forschers nach etwas, was er nicht selbst gesetzt hat, sondern ›dem gegenüber er sich passiv fühlt‹, existiert gleichermaßen auf der Ebene der internen Denkprozesse des Menschen überhaupt. Diese Ebene der aktiven Passivität ist eine unter den Charakteristika des Erkennens, die philosophisch nicht Gemeinplatz ist und die das Modell des musikalischen Hörens und Erkennens durch Musik illustriert. An diesem Punkt des Argumentationsstrangs sei in Erinnerung gerufen, daß die Sachverhalte, die hier auszudrücken versucht wurden, sich strenggenommen der diskursiven Darstellung entziehen. Könnte man dasjenige, was Musik für die »conditio humana« und ihr Verstehen leistet, in Worten analysieren, so bedürfte es strenggenommen keiner Musik. Der Umgang mit Musik ist eine Art und Weise des Subjekts, seine Stellung im Ganzen jener Welt, die es mit seiner Existenz perpetuiert, auszudrücken, zu erfassen und damit auch zu modifizieren. Dies ist eine reflexive Tätigkeit, welche mit anderen Mitteln in der Disziplin Philosophie unternommen wird. In der Praxis und Rezeption von Musik spielen Freude, Schönheitsempfinden, Lust, generell Emotivität, sinnliche Reagibilität und Motorik gewöhnlich eine ausgeprägtere Rolle als in der Praxis und Rezeption diskursiven Philosophierens. Das Ziel jedoch des umfassenderen Selbst-Verstehens und des Sich-selbst-in-Beziehung-Setzens zu einem universellen Ganzen ist jeweils in beiden Fällen präsent, und die Gratifikation ist ein Zuwachs von Enthüllung oder Erkenntnis. Aus diesem Grund werden durch die Geschichte der Musik hindurch bis heute von Philosophen wie Komponisten immer wieder in unterschiedlicher Form und Intensität Musik und quasi-philosophisches Reflektieren ineins gesetzt, nicht selten mit dem Motiv, mittels Musik implizit Hinweise für eine Reflexion, Korrektur, Neu-Ausrichtung der gegenwärtigen Formen des Denkens zu gewinnen. Einige Aspekte einer solchen Korrektur suchte der vorliegende Text anzuvisieren.

Literatur Adorno, Theodor W.: »Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 2003, 649–664. Asmuth, Christoph: »Was bedeutet Musik? Eine kritische Untersuchung musikalischer Referenz«, in: Musik-Konzepte, Sonderband »Musikphilosophie« November 2007, 70–86. Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1981. Behrendt, Joachim-Ernst: Nada Brahma. Die Welt ist Klang, Reinbek bei Hamburg 1985. Bohrer, Karl Heinz:  Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1998. Bowie, Andrew: »Was heißt ›Philosophie der Musik‹?«, in: Musik-Konzepte, Sonderband »Musikphilosophie« November 2007, 5–18.

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Cage, John: »Vortrag über Nichts«, in: ders: Silence. Lectures and Writings by John Cage, Frankfurt a. M. 1996, 6–36. Feuerbach, Ludwig: Gesammelte Werke 10, Berlin 1971. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 2006. Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf / Bernsheim 1991. Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Darmstadt 1991. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. III, in: ders: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1970. Jaynes, Julian: Der Ursprung des Bewußtseins, Hamburg 1993. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: ders.: Werke, Bd. 8, Darmstadt 1968. Langer, Susanne K.: Feeling and Form, New York 1953. Langer, Susanne K.: Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art, New York 1942. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I, in: ders.: Philosophische Schriften. Bd. 3.1. und 3.2. Frankfurt a. M. 2000. Mahrenholz, Simone: »Der notationale Fehlschluß – Programmatik als produktive Selbsttäuschung in der Neuen Musik«, in: Paragrana 15 (2) (2006) 197–206. Mahrenholz, Simone: »Komponisten als neue Philosophen?«, in: M. Demuth / J. P. Hiekel (Hgg.): Hören und Denken. Musik und Philosophie heute, Mainz 2009 (im Erscheinen). Mahrenholz, Simone: Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart² 2000. Nachmanovitch, Stephen: »Gregory Bateson: Old Men ought to be Explorers.«, CoEvolution Quarterly, 1982, Fall, 34–44, auch: (ausführlicher): http: / / www.freeplay.com / Writings / GregoryBateson.pdf Nietzsche, Friedrich: »Jenseits von Gut und Böse«, in: ders.: Kritische Studienausgabe (KSA) 5, München 1999, 9–243. Pothast, Ulrich: Philosophisches Buch, Frankfurt a. M. 1988. Serres, Michel: Die fünf Sinne, Frankfurt a. M. 1998. Serres, Michel: Der Hermaphrodit, Frankfurt a. M. 1989. Steiner, George: Von realer Gegenwart, München 1990. Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache, München 2009. Wilder, Thornton: Die Frau aus Andros, Frankfurt a. M. 1961. Wittgenstein, Ludwig: »Philosophische Untersuchungen«, in: ders.: Werkausgabe Bd. I (Werkausgabe in 8 Bänden), Frankfurt a. M. 1984, 225–579.

http: / / www.Stimmlabor.de http: / / oberton.org / obertongesang / obertonreihe.html

Kolloquium 27 Quellen des Wissens

Thomas Spitzley Einführung Christian Nimtz A Priori Wissen als Philosophisches Problem Oliver R. Scholz Das Zeugnis anderer als soziale und kulturelle Erkenntnisquelle

Einführung Thomas Spitzley

Wie so vieles in der Philosophie, wenn nicht das allermeiste, ist sowohl umstritten, ob Wissen überhaupt nützlich ist, als auch, ob der Wissensbegriff eine besondere Relevanz besitzt. So behauptet zum Beispiel in der Antike Sokrates, »[r]ichtige Meinung ist […] nicht weniger nützlich als Wissen«1, denn wenn jemand »nur eine richtige Meinung davon hat, wovon der andere Wissen hat, wird er doch kein schlechterer Führer sein als der Wissende«2 . Und in der Gegenwart hat beispielsweise Ansgar Beckermann vor einigen Jahren die Meinung vertreten, der Wissensbegriff sei irrelevant und darüber hinaus sogar inkohärent, so dass man auf diesen Begriff am besten verzichten sollte. 3 Diese radikale Auffassung wird jedoch nur von wenigen Philosophen geteilt, und so spielt der Begriff des Wissens weiterhin eine zentrale Rolle in der Erkenntnistheorie. Folgt man einer zeitgenössischen Darstellung,4 geht es innerhalb der Erkenntnistheorie im Wesentlichen darum, die folgenden drei Grundfragen zu beantworten: a) »Was ist Wissen?«, b) »Woher erhält man Wissen?«, c) »Worauf kann sich unser Wissen erstrecken, bzw. wie weit kann es reichen?« Die erste Frage betrifft die Natur des Wissens, die dritte den möglichen Umfang und die Grenzen des Wissens und die zweite Frage die Quellen des Wissens. Was sind Quellen des Wissens? Fragen wie diese sind, wie man spätestens seit Platon weiß, zweideutig. Es kann sein, dass der Fragende schlicht Beispiele für Quellen des Wissens präsentiert bekommen möchte, doch es kann auch sein, dass er an einer Definition interessiert ist, also daran was als Quelle des Wissens zählt. Mutmaßliche Beispiele für Quellen des Wissens sind schnell und leicht zu finden; die meistgenannten sind wohl Wahrnehmung, Introspektion, Vernunft, 5 Erinnerung, sowie das Zeugnis anderer, doch keines dieser mutmaßlichen Beispiele wird allgemein als Quelle des Wissens akzeptiert. Dafür, dass der Status einer Quelle des Wissens verweigert wird, wird im Wesentlichen einer der beiden folgenden Gründe geltend gemacht: zum einen, dass es sich im fraglichen Fall nicht um eine Quelle des Wissens handelt, sondern nur um eine des Meinens, und zum anderen, dass es sich nicht um eine genuine Quelle des Wissens handelt, sondern bloß um eine, die sich auf eine andere Quelle zurückführen lässt. Ganz allgemein und sehr verkürzt gesagt behaupten beispielsweise die Rationalisten,

Platon, Menon, 97 c. A. a. O., 97 b. 3  A. Beckermann, »Zur Inkohärenz und Irrelevanz des Wissensbegriffs«, und ders., »Lässt sich der Wissensbegriff retten?«. 4  Cf. E. Craig (Hg.), Routledge Encyclopedia of Philosophy, s. v. »Epistemology«. 5  Einschließlich Sprachkompetenz. 1  2 

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allein die Vernunft sei eine Quelle des Wissens, während die Empiristen behaupten, allein die Sinneswahrnehmung sei eine solche Quelle. Darüber hinaus wird u. a. vertreten, Erinnerung sei keine Quelle von Wissen, sondern setze bereits Wissen voraus, und Introspektion sowie das Zeugnis anderer ließen sich auf Wahrnehmung reduzieren. Wenn es schon keine Einigkeit hinsichtlich der tatsächlichen Quellen des Wissens gibt, so wundert es wenig, dass auch die Definitionsfrage nicht einheitlich beantwortet ist. Im Laufe der Philosophiegeschichte verstand man unter Quellen des Wissens beispielsweise kognitive Seelenvermögen, Haltungen oder auch Fähigkeiten des Subjekts. Eine völlig andere, plausiblere Auffassung vertritt Gottlob Frege. In seinem Artikel »Erkenntnisquellen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften« heißt es direkt zu Beginn: »Eine Erkenntnis kommt dadurch zustande, dass ein Gedanke als wahr anerkannt wird. Dazu muss der Gedanke zunächst gefasst werden. Doch rechne ich das Fassen des Gedankens nicht zur Erkenntnis, sondern erst die Anerkennung der Wahrheit, das eigentliche Urteilen. Als Erkenntnisquelle sehe ich das an, wodurch die Anerkennung der Wahrheit, das Urteil, gerechtfertigt ist.«6 In einer Interpretation passt diese Stelle genau zu der These, die Thomas Grundmann in seinem gerade erschienenen Buch Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie vertritt. Laut Frege sind Quellen des Wissens das, was ein Subjekt in seinen Urteilen rechtfertigt, und bei Grundmann heißt es, Quellen des Wissens »bilden natürliche Arten von Gründen«.7 Wer also die Frage beantworten möchte, welche genuinen Quellen des Wissens es gibt,8 muss demnach untersuchen, welche natürliche Arten von Gründen sich unterscheiden lassen. Die Beantwortung dieser Frage war allerdings nicht Gegenstand des Kolloquiums. Im Mittelpunkt der drei Vorträge standen vielmehr drei Arten von Wissen die auf jeweils einer der mutmaßlichen Quellen des Wissens basierten. Das Kolloquium begann mit einem Vortrag von Christian Nimtz (jetzt Erlangen) über a priori – Wissen; es folgte ein Beitrag von Mike Martin (London) über Wahrnehmungswissen, und das Kolloquium schloss mit einem Vortrag über Testimonialwissen (also über Wissen aufgrund des Zeugnisses anderer) von Oliver Scholz (Münster). Diese drei Arten von Wissen scheinen ontologisch unterschiedlich voraussetzungsreich zu sein: Dafür, dass es a priori-Wissen geben kann, scheint auf den ersten Blick nur ein einziges Wissenssubjekt erforderlich zu sein, und es scheint, als müsste für Wahrnehmungswissen nur noch eine Außenwelt hinzukommen, während für Testimonialwissen darüber hinaus noch weitere Subjekte gegeben sein müssen. In seinem hier abgedruckten Beitrag »A priori-Wissen als Philosophisches Problem« stellt Christian Nimtz in einem ersten Schritt eine Analyse von a priori-Wissen vor und verteidigt sie. In einem zweiten Schritt untersucht er zwei potenzielle Quellen für

6  G. Frege, Nachgelassene Schriften, 286. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich O. Scholz. 7  Th. Grundmann, Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, 454. 8  Zu dieser Frage und auch zum Verständnis der Metapher »Quellen des Willens« vgl. a. a. O., 453–462, und O. Scholz, »Quellen der Erkenntnis – Metapher, Begriff und Sache«, und ders., »Quellen der Erkenntnis – Überlegungen zu Natur, Anzahl und Wechselwirkung«.

Einführung

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a priori-Wissen, nämlich Bedeutungswissen sowie rationale Intuitionen, und plädiert dafür, Bedeutungswissen als eine plausible Quelle für a priori Wissen anzuerkennen. Der Verweis auf rationale Intuitionen sei dagegen wenig plausibel und ausgesprochen problematisch. Weder könne Laurence BonJour mit seinem Argument von der Alternativlosigkeit zeigen, dass rationale Intuitionen für uns eine Quelle von a priori-Wissen sind, noch gelinge dieser Nachweis George Bealer mit seinem Argument vom vollständigen Begriffsbesitz. In seinem im Folgenden nicht abgedruckten Vortrag »Within Our Grasp: Experience as a Reason for Belief« setzte sich Mike Martin mit der von John McDowell vertretenen These auseinander, dass alle Wahrnehmungserfahrungen einen begrifflichen Gehalt haben.9 Mike Martin wollte zeigen, dass die beiden Hauptargumente von McDowell genau genommen nicht die Debatte über den begrifflichen oder nichtbegrifflichen Gehalt von Wahrnehmungserfahrungen betreffen, sondern eher die Frage nach unserem Bewusstsein von unseren Wahrnehmungserfahrungen. Der von Oliver Scholz vorgelegte Text trägt den Titel »Das Zeugnis anderer als soziale und kulturelle Erkenntnisquelle«. Oliver Scholz geht in seinem Beitrag zunächst der übergeordneten Frage nach, was unter einer Erkenntnisquelle zu verstehen ist. Im Anschluss daran untersucht er die Besonderheiten des Zeugnisses anderer als Erkenntnisquelle. Zu diesem Zweck vergleicht er das Zeugnis anderer mit der Erkenntnisquelle der sinnlichen Wahrnehmung und legt dabei besonderen Wert auf die Spezifika menschlicher Kognition. Es zeigt sich, dass es beim Menschen einen hohen Grad von wechselseitiger Durchdringung und Bereicherung der verschiedenen Erkenntnisquellen gibt.10

Literatur Beckermann, Ansgar: »Lässt sich der Wissensbegriff retten? Replik auf die Kritiken von Peter Baumann, Thomas Grundmann und Frank Hofmann«, Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 586–594. Beckermann, Ansgar: »Zur Inkohärenz und Irrelevanz des Wissensbegriffs. Plädoyer für eine neue Agenda in der Erkenntnistheorie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 55 (2001), 571–593. Craig, Edward (Hg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy, London / New York 1998 Frege, Gottlob: Nachgelassene Schriften, hgg. von H. Hermes, F. Kambartel & F. Kaulbach, Hamburg 1969. Grundmann, Thomas: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin / New York 2008. McDowell, John: Mind &World, Cambridge, Mass., 2003. J. McDowell, Mind &World. Ich danke Mike Martin, Christian Nimtz und Oliver Scholz für ihre Beteiligung an dem Kolloquium. Mein besonderer Dank gilt Christian Nimtz und Oliver Scholz für ihre Bereitschaft, ihre Beiträge für die Publikation in diesem Band zur Verfügung zu stellen.   9 

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Platon: Menon, übers. u. hg. von M. Kranz, Stuttgart 1994. Scholz, Oliver: »Quellen der Erkenntnis – Metapher, Begriff und Sache«, in: Th. Rathmann / N. Wegmann (Hgg.): »Quelle« – Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion (Beiheft zu Zeitschrift für Deutsche Philologie), Berlin 2004, 40–65. Scholz, Oliver: »Quellen der Erkenntnis – Überlegungen zu Natur, Anzahl und Wechselwirkung«, unveröffentlichtes Manuskript.

A Priori Wissen als Philosophisches Problem Christian Nimtz

1.  Einleitung: Philosophie und a priori Wissen A priori Wissen ist in zweierlei Hinsicht für philosophische Forschung von Interesse. Auf der einen Seite ist a priori Wissen als eine Variante von Wissen Gegenstand der Erkenntnistheorie. Ebenso wie im Fall von Wahrnehmungswissen oder Selbstwissen ist es Aufgabe des Erkenntnistheoretikers, die Besonderheiten dieser Variante des Wissens zu bestimmen. Ich will die unter dieser Perspektive angestrengten erkenntnistheoretischen Überlegungen unter dem Titel des Klärungsprojekts zusammenfassen.1 Auf der anderen Seite wird Philosophie2 selbst oft als eine a priori Disziplin betrachtet. Diese Ansicht teilen Kant3, logische Empiristen wie Ayer4 und gegenwärtige Rationalisten wie Bealer5. Wer Philosophie als eine a priori Disziplin versteht, behauptet nicht, dass Philosophen allein auf a priori Wissen abzielen oder sich ausschließlich auf a priori Einsichten stützen. Ein Anhänger dieser Idee legt sich lediglich darauf fest, dass auf a priori Wissen abzielende philosophische Untersuchungen eine legitime Weise philosophischen Forschens darstellen. Ob Philosophie tatsächlich eine a priori Disziplin ist, ist umstritten. Gegenwärtig wird insbesondere diskutiert, ob philosophische Gedankenexperimente verlässlich a priori Einsichten liefern oder ob es sich letztlich um wesentlich empirische oder um gar nicht verlässliche Ergebnisse handelt.6 Ich will die unter dieser Perspektive angestrengten meta-philosophischen Überlegungen unter dem Titel des Reflexionsprojekts zusammenfassen.7 Die philosophische Debatte über a priori Wissen zieht einen Gutteil ihrer Brisanz aus dem Reflexionsprojekt.8 Trotzdem steht das Klärungsprojekt zu Recht im Vorder-

1  Für neuere Arbeiten zum Thema siehe A. Casullo, A Priori Justification sowie die Aufsätze in P. Moser, A Priori Knowledge, A. Casullo, A Priori Knowledge, und P. Boghossian / C. Peacocke, New Essays on the A Priori; siehe auch Beiträge in N. Kompa / C. Nimtz / C. Suhm, The A Priori and Its Role in Philosophy. 2  Dies gilt streng genommen nur für den Teil der Philosophie, der auf Welterkenntnis abzielt. 3  I. Kant, KrV, B18. 4  A. Ayer, Language, Truth, and Logic. Kap. 2–3. 5  G. Bealer, »Intuition and the Autonomy of Philosophy« und ders., »Modal Epistemology and the Rationalist Renaissance«. 6  Dieser Frage gehe ich ausführlich in C. Nimtz, A New Rationalism? nach. Meiner Analyse philosophischer Gedankenexperimente zufolge liefern diese verlässlich a priori Wissen. 7  Für eine Übersicht über die hier relevanten Positionen siehe C. Nimtz / N. Kompa / C. Suhm, »Introduction: The A Priori and Its Role in Philosophy«, § 3. 8  Siehe dazu insbesondere T. Williamson, The Philosophy of Philosophy, L. Bonjour, Laurence, In Defence of Pure Reason, F. Jackson, From Metaphysics to Ethics sowie C. Nimtz, A New Rationalism?.

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Kolloquium 27  ·  Christian Nimtz

grund philosophischer Untersuchungen. Wer sich auf eine meta-philosophische Debatte über a priori Wissen als Grundlage und Ziel philosophischer Forschung einlassen will, sollte zunächst einmal über ein solides erkenntnistheoretisches Verständnis von a priori Wissen verfügen. Im Rahmen des Klärungsprojektes lassen sich zwei Kernfragen unterscheiden. Erkenntnistheoretiker stellen zum einen folgende Frage: (1)  Was ist a priori Wissen? Oder genauer: Wann weiß ein Denker a priori, dass p? Ich werde eine Antwort auf diese Was-ist-Frage, eine Analyse von a priori Wissen nennen. Eine solche Analyse  – die traditionell als Analyse des Begriffs des a priori Wissens und gegenwärtig oft als Analyse der Natur von Wissen dieser Art verstanden wird – gibt Bedingungen dafür an, dass ein Denker über a priori Wissen verfügt. Letztlich zielt eine Analyse von a priori Wissen auf eine Einsetzung in die Leerstelle im Schema »S weiß genau dann a priori, dass p, wenn gilt: —«. Die zweite im Kontext des erkenntnistheoretischen Klärungsprojektes diskutierte Kernfrage lautet so: (2)  Wie können wir a priori Wissen erwerben? Oder genauer: Was für Quellen für a priori Wissen gibt es? Ich werde eine Antwort auf diese Frage als Theorie von a priori Wissen bezeichnen. Theorien von a priori Wissen sollen nachweisen, dass wir über a priori Wissen verfügen und erklären, wie wir zu Wissen dieser Art gelangen. Ein solches Unterfangen setzt eine Analyse von a priori Wissen voraus. Die Analyse zeichnet Kriterien für das Vorliegen von a priori Wissen aus. Die Theorie sucht nachzuweisen, dass Wissen aus bestimmten Quellen diesen Kriterien genügt und daher als a priori Wissen zu gelten hat. Ich werde im Folgenden dreierlei tun. Zunächst werde ich eine Analyse von a priori Wissen formulieren und verteidigen (§ 2). Diese Analyse erhebt keinen Anspruch auf kontroverse Originalität. Sie bringt im Gegenteil ein meinem Eindruck nach oft stillschweigend unterstelltes Verständnis von a priori Wissen auf den Punkt. Im Anschluss daran werde ich zwei Theorien diskutieren, die ganz verschiedene Quellen für a priori Wissen ausmachen. Ich werde mich zunächst der Frage annehmen, ob Bedeutungswissen zu a priori Wissen führt (§ 3). Ich werde die Plausibilität dieser Idee in gebotener Kürze gegen zwei zentrale Einwände verteidigen, nur um sogleich einzuräumen, dass Bedeutungswissen lediglich ontologisch anspruchsloses a priori Wissen mit sich bringt. Zur Erklärung unseres a priori Wissens in der Mathematik benötigen wir jedoch wohl eine Quelle für ontologisch anspruchsvolles Wissen a priori. Rigorose Rationalisten wie Bonjour und Bealer denken, eine solche zu kennen. Ihnen zufolge müssen wir rationale Intuitionen als Quelle von a priori Wissen akzeptieren. Ich werde zunächst diese Idee ausbuchstabieren und sie mit einem Einwand konfrontieren (§ 4). Dann werde ich Bonjours indirektes Argument für rationale Intuitionen als Quelle von a priori Wissen besprechen und zurückweisen. Im Anschluss daran wende ich mich Bealers Argument für den rigorosen Rationalismus zu (§ 5). Auch dieses Argument kann, so werde ich

A Priori Wissen als Philosophisches Problem

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zu zeigen suchen, nicht überzeugen. Mein Fazit lautet entsprechend (§ 6): Wer Existenz und Relevanz von a priori Wissen verteidigen will, der kann sich auf Bedeutungswissen berufen. Er sollte sich hingegen nicht auf rationale Intuitionen stützen.

2.  Eine epistemische Analyse von a priori Wissen Unsere Unterscheidungen von Wissensvarianten folgen verschiedenen taxonomischen Prinzipien. So ist Wahrnehmungswissen durch seinen Ätiologie bestimmt: Es handelt sich um Wissen aufgrund von Wahrnehmung. Dagegen ist Selbstwissen über seinen Gegenstand erklärt: Es handelt sich um Wissen von den eigenen mentalen Zuständen. Auch in der philosophischen Debatte um die Analyse von a priori Wissen finden sich zwei unterschiedliche Traditionslinien. Die erste dieser Linien nimmt die Unterscheidung von Wissensarten anhand ihrer Gegenstände auf. Die Grundidee dieser Erklärung ist die folgende: Ob jemand a priori weiß, dass p, hängt vom gewussten Inhalt p ab. Das a priori Wissens einer Person erbt demnach seinen a priori Status vom gewussten Inhalt. Diese Idee führt zur metaphysischen Analyse von a priori Wissen: (3)  S weiß genau dann a priori, dass p, wenn gilt: S weiß, dass p und p ist ein a priori Inhalt. Der metaphysischen Analyse zufolge ist ›a priori‹ primär ein Attribut von Inhalten. Erst in zweiter Linie handelt es sich um ein Attribut von Wissen. Die Idee einer metaphysischen Analyse von a priori Wissen lässt sich zu Hume zurückverfolgen. In der vielzitierten Passage »All the objects of human reason or enquiry may naturally be divided into two kinds, to wit, Relations of Ideas, and Matters of Fact« (EHU § 4.1, 108) entwirft Hume eine Unterscheidung von Inhalten, auf die er dann den Unterschied zwischen dem intuitiv oder demonstrativ sicheren Wissen der Mathematik und dem keineswegs sicheren Wissen der empirischen Naturwissenschaften zurückführt. Ganz im Sinne Humes behandeln viele Philosophen die Erklärung von ›a priori Inhalt‹ als grundlegend und erläutern a priori Wissen als Wissen von a priori Inhalten.9 Oft gehen dabei die Erläuterung von a priori Inhalten und die Analyse von a priori Wissen auf unangenehme Weise ineinander über. So beginnen Boghossian und Peacocke die Einleitung zu ihrer Sammlung neuerer Texte zum a priori wie folgt: »An a priori proposition is one which can be known to be true without any justification from the character of the subject’s experience«10. Anhänger der metaphysischen Analyse (3) sehen sich mit zwei Problemen konfrontiert. Das erste ist das Abgrenzungsproblem. Wer a priori Wissen über a priori Inhalte erklären will, kann nicht a priori Inhalte als potenzielle Inhalte von a priori Wissen er9  Siehe z. B. A. Ayer, Language, Truth, and Logic, 9, 24; S. Kripke, Naming and Necessity, 34, S. Blackburn, Oxford Dictionary of Philosophy, 21, H. Field, »Apriority as an Evaluative Notion«. 10  P. Boghossian / C. Peacocke, »Introduction«, 1.

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läutern. Er muss unabhängige Merkmale von a priori Inhalten anführen. Haltbare Vorschläge für solche Merkmale sind schwer auszumachen. Kants Diktum »Notwendigkeit und strikte Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori« (KrV B4) gibt zwar zwei populäre Kandidaten an die Hand. Aber Cogito-Gedanken wie »Ich denke« scheinen a priori Wissen auszudrücken ohne allgemein zu sein.11 Und Kripkes »Das Urmeter war zum Zeitpunkt t0 einen Meter lang« scheint eine kontingente Wahrheit zu sein, von der die bei der Festlegung des Maßstabes Anwesenden a priori Wissen haben können.12 Das zweite Problem ist das Modusproblem. Wie es scheint, kann man in der Regel von ein- und demselben Inhalt sowohl a priori als auch a posteriori Wissen haben. Wenn Maria weiß, dass Milnors Vermutung wahr ist, weil sie selbst Voevodskys Beweis Schritt für Schritt geprüft hat, dann würden wir ihr Wissen als a priori klassifizieren. Wenn aber Leander schlicht deswegen weiß, dass Milnors Vermutung wahr ist, weil Maria es ihm gesagt hat, würden wir sein Wissen als a posteriori ansehen.13 Der Inhalt dass Milnors Vermutung wahr ist kann demnach sowohl a priori als auch a posteriori gewusst werden. Analoges scheint generell zu gelten. Dann kann es aber keine haltbare metaphysische Analyse von a priori Wissen geben. Der zweiten Traditionslinie liegt die folgende Idee zugrunde: Ob jemand a priori weiß, dass p, hängt von der Art der epistemischen Berechtigung (entitlement) ab, die er hat, p zu glauben. Der zentrale Orientierungspunkt dieser Tradition ist Kants Idee, a priori Erkenntnis finde »schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig statt« (KrV B3). Diese Unabhängigkeit ist epistemisch und nicht generisch zu verstehen. Erfahrung kann zum Erwerb von a priori Wissen notwendig sein (im Sinn einer enabling condition), etwa weil die involvierten Begriffe empirisch erworben werden müssen. Aber Erfahrung muss für die Rechtfertigung des Gewussten unerheblich sein (im Sinn einer evidential condition). Dies motiviert die epistemische Analyse von a priori Wissen: (4)  S weiß genau dann a priori, dass p, wenn gilt: S weiß, dass p, und Ss Berechtigung, p zu glauben, beruht nicht auf Erfahrung. Die epistemische Analyse dreht das oben skizzierte Abhängigkeitsverhältnis zwischen a priori Wissen und a priori Inhalten um. Ihr zufolge ist ein Inhalt p genau dann a priori, wenn p a priori gewusst werden kann. Die epistemische Analyse (4) gibt, so denke ich, eine überzeugende Antwort auf die Frage »Was ist a priori Wissen?«. Die epistemische Analyse erfüllt, erstens, plausible Anforderungen an eine Erklärung von a priori Wissen. Zunächst einmal ist die epistemische Analyse der einleuchtenden Kantischen Idee verpflichtet, Erfahrungsunabhängigkeit sei zentral für a pri­o­ri Wissen. Diese Idee akzeptieren auch die meisten

Vgl. T. Burge »Individualism and Self-Knowledge«. Vgl. S. Kripke, Naming and Necessity, 54 f. 13  Zu Wissen aus dem Zeugnis Anderer vgl. Scholz in diesem Band. – Kann es nicht Wissen aus dem Zeugnis anderer geben, das a priori ist? A.-S. Malmgreen weist dies überzeugend in »Is there A Priori Knowledge by Testimony? « zurück. 11 

12 

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Verfechter metaphysischer Analysen. Dazu harmoniert die epistemische Analyse mit der weithin vertretenen Ansicht, dass, wenn es überhaupt a priori Wissen gibt, dann mathematisches, logisches und vielleicht auch begriffliches Wissen dazugehört. Immerhin scheint Wissen dieser Art dadurch ausgezeichnet zu sein, dass zu seiner Rechtfertigung keine empirischen Untersuchungen nötig sind. Da die epistemische Analyse den Status von Wissen als a priori an der Art der epis­temischen Berechtigung festmacht, lässt sie außerdem zu, dass ein-und derselbe Inhalt a priori und a posteriori gewusst werden kann. Die epistemische Analyse ist, zweitens, in wichtigen Hinsichten vorbildlich neutral. (4) ist sowohl mit internalistischen als auch mit externalistischen Theorien der Rechtfertigung vereinbar. Wer die epistemische Analyse akzeptiert, legt sich nicht schon auf eine kontroverse Rechtfertigungstheorie fest. Dazu lässt die epistemische Analyse offen, ob nur notwendige Wahrheiten a priori gewusst werden können14, oder ob es a priori Wissen von kontingenten Wahrheiten geben kann15. Das scheint mir genau richtig zu sein. Eine solche substantielle Annahme über die Reichweite unseres a priori Wissens sollte nicht schon aus der Analyse von a priori Wissen folgen. Drittens legt die epistemische Analyse ihre Anhänger in zwei umstrittenen Fragen auf plausible Positionen fest. Auf der einen Seite zählt die epistemische Analyse empirische Unwiderlegbarkeit nicht zu den Merkmalen von a priori Wissen. Die Analyse lässt zu, dass a priori Wissen empirisch annullierbar (defeasible) sein kann. Wie Casullo gezeigt hat16, ist dies ganz richtig so. Wissen kann auf zwei verschiedene Weisen annulliert werden. Einerseits kann mein Wissen, dass p, durch überzeugende Gegengründe – d. h., durch überzeugende Gründe für non-p – annulliert werden. Auf diese Weise lässt sich a priori Wissen wohl nicht empirisch annullieren. Welche empirischen Gründe könnten beispielsweise für die Negation von 95=59049 sprechen? Andererseits kann Wissen durch das Fehlen einer subjektiven Vorbedingung annulliert werden. Dies ist im Fall von a priori Wissen möglich. Wenn ich merke, dass ich bei meiner Berechnung von 95 unter Drogeneinfluss gestanden habe, verliere ich die Berechtigung, 95=59049 zu glauben. Damit ist mein a priori Wissen empirisch annulliert. Auf der anderen Seite bietet (4) eine lediglich negative Bestimmung von a priori Wissen: a priori Wissen beruht nicht auf Erfahrung. Theoretikern wie Bonjour17 ist dies zuwenig. Sie verlangen von einer Erklärung von a priori Wissen eine positive Charakterisierung der Grundlage des Wissenserwerbs. Bonjour zufolge muss eine Analyse also immer auch zugleich eine Theorie von a priori Wissen sein. Darauf sollten wir uns nicht einlassen. Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Fragen und Aufgaben zu tun. Die Frage »Was ist a priori Wissen?« verlangt nach der Angabe von Bedingungen dafür, dass jemand a priori weiß, dass p. Es werden mit anderen Worten Kriterien für a priori Wissen gesucht. Die Frage »Was für Quellen für a priori Wissen gibt es?« verlangt

14  15  16  17 

Vgl. L. Bonjour, In Defence of Pure Reason, 8 . Vgl. S. Kripke, Naming and Necessity, 56 f. A. Casullo, »A Priori Knowledge«. L. Bonjour: In Defence of Pure Reason, § 1.2.

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danach, Wissen aus vielversprechend erscheinenden Quellen an den Bedingungen für a priori Wissen zu messen. Es ist zu klären, ob dieses Wissen die erläuterten Kriterien erfüllt. Diese zwei Schritte in einen zusammen zu ziehen, verwischt sachliche Grenzen. Ein Naturalist wie Devitt18, der in Folge Quines rundweg abstreitet, dass wir über a priori Wissen verfügen, kann trotzdem unsere epistemische Analyse akzeptieren – solange er nur darauf beharrt, dass kein Wissen die formulierten Kriterien erfüllt.

3.  Bedeutungswissen als Quelle von a priori Wissen Während Wahrnehmungswissen durch seine Ätiologie bestimmt ist und Selbstwissen über seinen Gegenstand erklärt wird, klassifiziert die epistemische Analyse a priori Wissen anhand der Art der epistemischen Berechtigung: Jemandes Wissen, dass p, ist a priori Wissen, wenn die Berechtigung der Person, p zu glauben, nicht auf Erfahrung beruht. Dies hat eine wichtige Konsequenz. Anders als im Fall der Klassifizierung anhand der Ätiologie ist bei dieser Erklärung keineswegs ausgemacht, dass man eine erfahrungs­unabhängige Berechtigung nur auf eine Weise erwerben kann. Es kann also ganz verschiedene Quellen für a priori Wissen geben. Einer Theorie von a priori Wissen steht es folglich frei, unser a priori Wissen in Logik, Mathematik und Metaphysik (so wir über solches verfügen) auf jeweils verschiedene, nicht in Konkurrenz stehende Quellen zurückzuführen. Traditionell wird Bedeutungswissen als eine Quelle von a priori Wissen angesehen.19 Denn die Kenntnis der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke kann einen Sprecher in die Lage versetzen, so wird argumentiert, ohne empirische Untersuchungen die Wahrheit bestimmter Sätze einzusehen und so a priori Wissen zu erwerben. Lassen Sie mich dies an einem Beispiel erläutern. Die International Astronomical Union hat im Jahr 2006 folgende Festlegung für die Bedeutung des Ausdrucks ›Planet‹ beschlossen: A planet is a celestial body that (a) is in orbit around the Sun, (b) has sufficient mass for its self-gravity to overcome rigid body forces so that it assumes a hydrostatic equilibrium (nearly round) shape, and (c) has cleared the neighbourhood around its orbit. (IAU Resolution B5, 24.8.2006) Nehmen wir an, Maria folge in ihrem Sprachgebrauch überlegt der Definition der IAU. Maria weiß entsprechend, dass ›Planet‹ in ihrem Mund auf genau die Himmelskörper zutrifft, welche die Bedingungen (a)– (c) erfüllen. Dieses Bedeutungswissen versetzt sie in die Lage, so möchte man meinen, ohne empirische Untersuchungen anzustellen, die Wahrheit des Satzes (5)  »Alle Planeten befinden sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne«

M. Devitt, »There Is no A Priori« Siehe z. B. A. Ayer, Language, Truth, and Logic, 9, 24. Vgl. F. Jackson, From Metaphysics to Ethics und C. Nimtz, A New Rationalism? für gegenwärtige Autoren, die Bedeutungswissen als Quelle von a priori Wissen verteidigen. 18 

19 

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einzusehen. Da Maria den Satz (5) versteht, weiß sie, dass er bedeutet, dass alle Planeten sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne befinden. Die Kenntnis der Bedeutung des Ausdrucks ›Planet‹ in ihrem Mund setzt Maria folglich in die Lage, zu wissen, dass alle Planeten sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne befinden. Dies ist a priori Wissen. Marias Wissenserwerb kommt ohne empirische Einsichten zustande. Außerdem würde Maria eine behauptende Äußerung von (5) nicht unter Verweis auf empirische Forschungsergebnisse rechtfertigen, sondern betonen, dass sie das Wort ›Planet‹ eben auf eine ganz bestimmte Weise verwendet. Dieser Gedankengang ist ebenso plausibel wie natürlich. Bedeutungswissen kann also a priori Wissen mit sich bringen, und wir können Bedeutungswissen als eine Quelle von a priori Wissen auffassen. Wenn wir an dieser plausiblen Idee festhalten wollen, müssen wir allerdings zwei prominente Einwände zurückweisen. Auf der einen Seite behandelt mein Gedankengang (5) als einen analytischen, genauer: als einen epistemisch analytischen Satz. Der von Boghossian geprägten Klassifizierung gemäß ist ein Satz epistemisch analytisch »provided that grasp of its meaning alone suffices for justified belief in its truth«20. In der Tradition Quines21 hat Williamson einflussreich 22 dafür argumentiert, dass kein Satz epistemisch analytisch ist. Selbst eine simple Tautologie wie die folgende komme nicht als epistemisch analytisch in Frage: (6)  »Alle Planeten sind Planeten.« Williamson zufolge kann jemand (A) die Ausdrücke in (6) in genau demselben Sinne verstehen wie wir und zugleich (B) der irrigen Annahme anhängen, die korrekte Semantik des Quantors ›alle‹ sei so, dass die Wahrheit eines Satz der Form »Alle F sind G« die Existenz von Fs voraussetzt. Wenn diese Person (aus welchen Gründen auch immer) glaubt, es gebe keine Planeten, wird sie trotz Kenntnis der Bedeutung (6) für falsch halten. Obwohl Williamsons Argument eine ausführliche Diskussion verdient, werde ich mich an dieser Stelle kurz fassen. 23 Letztlich scheitert Williamsons Argument daran, dass die Bedingungen (A) und (B) einander widersprechen. Wer den Ausdruck ›alle‹

20  P. Boghossian, »Analyticity«, 334. Boghossian überarbeitet diese Erklärung in »Epistemic Analyticity: A Defence«, 15. Allerdings buchstabiert Boghossian sowohl im ersten wie im zweiten Anlauf eine überzeugende Idee auf wenig einsichtige Weise aus. Siehe C. Nimtz, »Conceptual Truth Defended«, 144 ff. für eine sachlich angemessenere Erläuterung von ›epistemisch analytisch‹ und ebd., 145, Fn. 13 für eine Analyse und Kritik von Boghossians Erläuterung. 21  Vgl. W. V. O. Quine, »Two Dogmas of Empiricism«. Quines eigene Argumente sind hier nicht einschlägig. Zum einen attackiert Quine ein stärkeres Verständnis von Analytiztät, das Boghossian ›metaphysisch‹ nennt (vgl. P. Boghossian, »Analyticity«, 334). Zum anderen sind Quines Argumente wenig überzeugend. Siehe dazu H. Grice / P. Strawson, »In Defence of a Dogma«, E. Sober, »Quine's Two Dogmas«, H.– J. Glock, Quine and Davidson on Language, ch. 3 sowie C. Nimtz, A New Rationalism?, § 7.1. 22  Vgl. T. Williamson, »Conceptual Truths« und ders. The Philosophy of Philosophy, Kap. 4. Siehe z. B. F. Spicer, »Are There Any Conceptual Truths About Knowledge?«, § 4 für ein Beispiel dieses Einflusses. 23  Eine ausführliche Auseinandersetzung findet sich in C. Nimtz, »Conceptual Truth Defended«, §§ 3–4.

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bewusst und überlegt im Sinne von (B) verwendet, sorgt auf diese Weise dafür, dass der Satz (6) in seinem Mund andere Wahrheitsbedingungen hat als in unserem Gebrauch. Unterschiede in Wahrheitsbedingungen implizieren aber einen Unterschied in der Bedeutung. Wer Williamsons (B) erfüllt, versteht (6) also in einem anderen Sinn, als wir dies tun. Das widerspricht Williamsons Bedingung (A). Dass dieser Satz für eine solche Person nicht epistemisch analytisch ist, sollte nicht überraschen. Zu zeigen war jedoch, dass der Satz (6) für uns nicht epistemisch analytisch ist. Auf der anderen Seite unterstellt mein Gedankengang, dass sich die Bedeutung eines Ausdrucks wie ›Planet‹ im Munde eines Sprechers aus dem überlegten Gebrauch des Sprechers ergeben kann (gegeben, dass dieser den Ausdruck bewusst nicht-deferenziell verwendet 24). Das scheint der populären kausal-historischen Semantik im Sinne Kripkes25 zuwider zu laufen. Diese Semantik klassifiziert Ausdrücke wie ›Planet‹ als natürliche Artbezeichner. Die Bedeutung und der Bezug eines solchen Bezeichners im Munde eines Sprechers werden ihr zufolge nicht durch die vom Sprecher mit dem Ausdruck verknüpften Überzeugungen bestimmt, die sich in seinem überlegten Gebrauch des Ausdrucks niederschlagen. Die Bedeutung und der Bezug des Ausdrucks im Munde eines Sprechers sind vielmehr durch den ursprünglichen Taufakt – oder genauer: durch die Natur des in diesem Taufakt herausgegriffenen Objektes – fixiert, mit dem unsere historische Verwendungskette des Ausdrucks begann. Kripkes kausal-historische Semantik verdient eine ausführliche Diskussion, die ich hier nicht führen will. 26 Einen überzeugenden Einwand gegen meine Überlegung begründet sie in keinem Fall. 27 Das Argument ist dieses: Die IAU kann die Bedeutung des Ausdrucks ›Planet‹ durch einen Beschluss ändern; immerhin hat sie im August 2006 genau das getan. (Ganz ähnlich kann Maria durch ihre Entscheidung, der IAU zu folgen, die Bedeutung des Ausdrucks ›Planet‹ in ihrem Mund festlegen.) Die IAU hat aber keinen Einfluss auf die Natur des in einem ursprünglichen Taufakt herausgegriffenen Objektes. Die IAU kann lediglich dafür sorgen, dass Sprecher bestimmte Überzeugungen mit dem Ausdruck ›Planet‹ verbinden, die sich in ihrem überlegten Gebrauch des Ausdrucks niederschlagen. Also folgt: Die Bedeutung des Ausdrucks ›Planet‹ im Munde von Sprechern kann durch Überzeugungen bestimmt sein, die diese mit ›Planet‹ verbinden und die sich in ihrem überlegten Gebrauch des Ausdrucks niederschlagen. Wie ich zu zeigen versucht habe, lassen sich beide Einwände gegen die plausible Idee, Bedeutungswissen bringe a priori Wissen mit sich, zurückweisen. Wir dürfen an Bedeutungswissen als Quelle für a priori Wissen festhalten. Bei genauerer Betrachtung stellt sich diese Idee allerdings als weniger erklärungsmächtig heraus, als man vielleicht Bei nicht-deferenzieller (non-deferential) Verwendung behält sich der Sprecher das Recht der Bedeutungserklärung des Ausdrucks vor. Bei deferenzieller Verwendung tritt der Sprecher dieses Recht an einschlägige Experten ab. Putnams 1975, 227 f. These der linguistischen Arbeitsteilung zufolge gilt, dass viele Sprecher für Ausdrücke wie ›Ulme‹ ihr Recht delegieren. 25  Vgl. S. Kripke, Naming and Necessity. 26  Ich habe dies an anderer Stelle getan. Vgl. C. Nimtz, A New Rationalism?, Kap. 7–9. 27  Ob dies deswegen so ist, weil Kripkes Semantik falsch ist, oder weil sie letztlich der gemachten Annahme gar nicht widerspricht, kann hier offen bleiben. 24 

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gehofft hat. Der größte Vorteil der Idee, Bedeutungswissen sei eine Quelle von a priori Wissen, ist nämlich zugleich auch ihr größter Nachteil. Ihre Kenntnis der Bedeutung von ›Planet‹ versetzt Maria in die Lage, a priori zu wissen, dass sich alle Planeten auf einer Umlaufbahn um die Sonne befinden. Diese Zuschreibung darf man nicht falsch verstehen. Marias Bedeutungswissen lässt sie nicht a priori wissen, dass sich der Merkur, die Venus, die Erde etc. auf einer Umlaufbahn um die Sonne befinden. Maria hat lediglich a priori Wissen mit folgendem konditionalen Inhalt: (7)  Wenn irgendetwas ein Planet ist, dann befindet es sich auf einer Umlaufbahn um die Sonne. Plausiblerweise bringt Kenntnis der Bedeutung eines Ausdrucks ›F‹ immer nur a priori Wissen der Art »Wenn etwas F ist, dann ist es Φ« mit sich; bestenfalls erfährt man: »Etwas ist F genau dann, wenn es Φ ist«. Wissen dieser Art ist ontologisch anspruchslos. Aus ihm folgt weder Wissen von der Existenz einzelner Dinge, noch folgt Wissen darüber, dass einzelne Sachverhalte bestehen oder nicht bestehen. Diese ontologische Anspruchslosigkeit ist ein Vorteil. Sie erklärt, warum wir Bedeutungswissen als eine unproblematische Quelle für a priori Wissen akzeptieren sollten – immerhin liefert diese Quelle allein ontologisch anspruchsloses Wissen. Zugleich ist sie ein Nachteil. Wer etwas a priori über existierende Dinge oder bestehende Sachverhalte erfahren möchte, scheint mit Bedeutungswissen ausnehmend schlecht bedient zu sein. Dies hat zwei Konsequenzen. Die erste betrifft das Reflexionsprojekt. Wer wie Jackson28 in seiner Meta-Philosophie auf Bedeutungswissen als Quelle von philosophischen a priori Einsichten baut, der muss begreiflich machen, wie ontologisch anspruchsloses Wissen philosophisch relevant sein kann. 29 Die zweite betrifft die Philosophie der Mathematik. Mathematisches Wissen gilt als paradigmatisches a priori Wissen. Unser mathematisches Wissen scheint aber keineswegs ontologisch anspruchslos zu sein – wir wissen beispielsweise, dass es eine Zahl zwischen 5 und 7 gibt oder dass 59049 ohne Rest durch 9 teilbar ist. Der oben getroffenen Feststellung gemäß kann ein Verweis auf Bedeutungswissen derart ontologisch anspruchsvolles a priori Wissen nicht erklären. Wir können entweder versuchen, mathematische Sätze entgegen ihrer Oberflächenstruktur als letztlich doch ontologisch neutral aufzufassen. Oder wir können uns mit der Idee anfreunden, Bedeutungswissen führe im Fall der Mathematik ausnahmsweise zu ontologisch anspruchsvollem a priori Wissen. Keine der Optionen scheint attraktiv.30 Die natürliche Konsequenz besteht darin, anzunehmen, dass es neben Bedeutungswissen noch eine andere Quelle von a priori Wissen geben muss – eine Quelle, die ontologisch anspruchsvolles a priori Wissen ermöglicht.

F. Jackson, From Metaphysics to Ethics. Für eine ausführliche Antwort auf diese Frage vgl. C. Nimtz, A New Rationalism?, Kap. 10 und 11. 30  Wir könnten auch die Ansicht fallen lassen, mathematisches Wissen sei a priori Wissen. T. Wilholt verficht diese Idee in Zahl und Wirklichkeit, allerdings aus anderen als den genannten Gründen. 28 

29 

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4.  Rationale Intuitionen als Quelle von a priori Wissen? Traditionelle Rationalisten hatten jenseits der Kenntnis konventional fixierter sprachlicher Bedeutung eine genuine eigene Quelle von a priori Wissen angenommen. Diese Quelle firmiert traditionell unter dem Titel ›Intuition‹, den Descartes in den Regulae wie folgt erläutert: »Unter Intuition verstehe ich (…) eines reinen und aufmerksamen Geistes unbezweifelbares Begreifen, welches allein dem Licht der Vernunft entspringt und das, weil einfacher, deshalb zuverlässiger ist als selbst die Deduktion (…)«31. Descartes hielt es für ausgemacht, dass wir über einen solchen Quelle direkter Vernunfteinsicht verfügen. Zeitgenössische rigorose Rationalisten wie Bonjour und Bealer vertreten im wesentlichen dieselbe Idee. 32 Bonjour zufolge gilt: »[I]n the most basic cases such [a priori] reasons result from direct or immediate insight into the truth, indeed into the necessary truth, of the relevant claim«33. In seiner Theorie führt Bealer a priori Wissen explizit auf Intuition als Quelle zurück: Intuition is the source of all a priori knowledge – except, of course, for that which is merely stipulative. The use of intuitions as evidence (reasons) is ubiquitous in our standard justificatory practise in the a priori disciplines  – Gettier intuitions, twinearth intuitions, transitivity intuitions, etc. By intuitions here, we mean seemings: for you to have an intuition that A is just for it to seem to you that A. Of course, this kind of seeming is intellectual, not experiential – sensory, introspective, imaginative.34 Bei Bealer steht weniger das Vermögen der Intuition (Singular), sondern vielmehr die daraus resultierenden Intuitionen (Plural) im Mittelpunkt. Bealer begreift Intuitionen als mentale Zustände irreduzibel eigener Art. Ihm zufolge sind Intuitionen intellektuelle Anmutungen (intellectual seemings) – jemand hat genau dann die Intuition, dass p, wenn es ihm intellektuell scheint, dass p – die ganz so wie die perzeptiven Anmutungen (perceptual seemings) sinnlicher Wahrnehmung wesentlich episodisch sind. Die für Philosophen relevante Klasse der ›rational intuitions‹35 zeichnet sich laut Bealer dadurch aus, dass diese ihre Inhalte als notwendig präsentieren.36

»Per intuitionem intellego (…) mentis purae et attentae non dubium conceptum, qui sola rationis luce nascitur, et ipsamet duductione certior est, quia simplicior (…)« (Regulae ad directione ingenii, Regula III, AT X, 368). Die Übersetzung folgt Descartes [Regulae], 17 f. 32  Vgl. L. Bonjour, In Defence of Pure Reason, ders. »In Defense of the A Priori«, ders. »A Rationalist Manifesto«,»Towards a Moderate Rationalism«. Vgl. G. Bealer »A Theory of the A Priori«, ders., »Modal Epistemology and the Rationalist Renaissance«, ders., »A Priori Knowledge and the Scope of Philosophy«, ders., »Analyticity«. 33  L. BonJour, »In Defense of the A Priori«, 99. 34  G. Bealer, »Modal Epistemology and the Rationalist Renaissance«, 73. 35  Ebd., 74. 36  Den besten Überblick zu Bealers Ansichten über Intuitionen gibt G. Bealer, »Analytic«, 204–214. Im Wesentlichen dieselben Ideen finden sich in ders., »The Incoherence of Empiricism«, 101–104, ders. »On the Possibility of Philosophical Knowledge«, 4–8, ders., »A Priori Knowledge and the Scope of Philosophy«, 123 f., ders., »A Theory of the A Priori«, 3 f. und 31 

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An dieser Stelle sind die Unterschiede in den Positionen Bonjours und Bealers unwichtig. Wichtig sind die Gemeinsamkeiten. Unsere rationalen Intuitionen37 vermitteln uns, so glauben Bonjour und Bealer, a priori Wissen von notwendigen Wahrheiten. Dies kann sowohl ontologisch anspruchsloses als auch ontologisch anspruchsvolles a priori Wissen sein. So liegen rationale Intuitionen unserem ontologisch anspruchsvollen mathematischen a priori Wissen ebenso zugrunde wie unseren metaphysischen Einsichten in »the nature or structure of reality«38. Der so umrissene rigorose Rationalismus kombiniert zwei Thesen. Die erste ist eine Existenzthese: (8)  Wir haben rationale Intuitionen. Das sollten wir einräumen. 39 Wir verfügen offenkundig über Zustände, die wir durch Wendungen wie »Es scheint mir offenkundig zu sein, dass p« zum Ausdruck bringen (wobei p ein notwendiger Inhalt ist) und auf die wir uns de facto zur Verteidigung metaphysische Ansichten berufen. Die zweite ist eine Behauptung über die epistemische Kraft rationaler Intuitionen: (9)  Rationale Intuitionen sind für uns eine Quelle von a priori Wissen. Wenn meine Überzeugung, dass p, durch meine rationalen Intuitionen gestützt wird, dann bin ich epistemisch berechtigt, p zu glauben. Pointiert formuliert besagt (9), Stützung40 durch unsere rationalen Intuitionen habe rechtfertigenden Charakter. Dies ist eine weitreichende These. An ihr entscheidet sich, ob der rigorose Rationalismus, wie ihn Bonjour und Bealer verfechten, eine haltbare Position darstellt. Hier sind Zweifel angebracht. Rigorose Rationalisten sehen sich nämlich mit dem Mechanismuseinwand konfrontiert.41 Rigorosen Rationalisten zufolge stützen rationale Intuitionen a priori Überzeugungen über die Struktur der Realität, ganz so, wie sinnliche Wahrnehmungen empirische Überzeugungen über unsere Umgebung stützen. Dazu müssten die Intuitionen zu den notwendigen Aspekten der Realität in einer Beziehung stehen. Aber wie ist diese Beziehung realisiert? Wie sieht der Mechanismus aus, der rationale Intuitionen – also mentale Zustände bestimmter Art – mit notwendigen Aspekten der Struktur der extra-mentalen Realität ins Verhältnis setzt? Im Fall sinnlicher Wahrnehmung war immer ders., »Modal Epistemology and the Rationalist Renaissance«, 73–75. Siehe auch J. Pust, Intuitions as Evidence. 37  Ich folge Bealers Terminologie. J. BonJour, »In Defense of the A Priori«, 99 spricht stattdessen von ›a priori insights‹. 38  L.Bonjour, »A Rationalist Manifesto«, 90. 39  Damit legen wir uns keineswegs auf Bealers Charakterisierung rationaler Intuitionen fest. Im Kap. 2 von C. Nimtz, A New Rationalism? weise ich Bealers Ideen zugunsten der Annahme zurück, Intuitionen seien schlicht eine Art von Überzeugung. 40  Unter ›Stützung‹ verstehe ich durchweg Stützung in einem Maße, dass es rational erscheint, die so gestützte Überzeugung für wahr zu halten. 41  Vgl. z. B. A. Oliver, »A Realistic Rationalism?«, 119. Der Mechanismuseinwand ist Benacerrafs Einwand gegen eine platonistisch verstandene Philosophie der Mathematik ähnlich. Vgl. P. Benacerraf, »What Numbers Could Not Be«

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schon klar, dass ihnen eine durch Sinnesorgane vermittelte Kausalkette zugrunde liegt.42 Im Fall rationaler Intuitionen gibt es keine Klarheiten. Aber wenn wir nicht einmal im Ansatz erklären können, auf welche Weise rationale Intuitionen Einsicht in fundamentale Aspekte der Realität vermitteln, gibt es keinen Grund, der Stützung durch rationale Intuitionen rechtfertigenden Charakter zuzuschreiben – so der Einwand. Rigorose Rationalisten benötigen ein überzeugendes Argument für (9), um angesichts des Mechanismuseinwands ihre Position behaupten zu können. Bonjour und Bealer denken jeweils, über ein solches Argument zu verfügen. Bonjour entwickelt das folgende Argument von der Alternativlosigkeit:43 Wir müssen annehmen, dass Stützung durch rationale Intuitionen rechtfertigenden Charakter hat und dass folglich rationale Intuitionen eine Quelle für a priori Wissen darstellen. Nur unter dieser Annahme können wir an der Überzeugung festhalten, dass unsere empirischen Erkenntnisverfahren zu gerechtfertigten Einsichten führen. Wenn wir der Stützung durch rationale Intuitionen rechtfertigenden Charakter absprechen, müssen wir einräumen, dass unsere empirischen Überzeugungen stets ungerechtfertigt sind. Kurz gesagt, die Negation von (9) kollabiert in einen Skeptizismus. Wie Bonjour zu Recht betont, beruht unsere empirische Theoriebildung über die Welt sowohl auf unmittelbarer Erfahrung als auch auf Standards für die Theoriewahl. Wir entscheiden uns für eine empirische Theorie44, weil diese induktiv besser durch Erfahrung gestützt ist, mehr oder besser erklärt oder einfacher ist, als die ansonsten gleich gut zur unmittelbaren Erfahrung passenden Alternativen. Diese Wahl ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Erfüllen der Standards rechtfertigende Kraft hat, und das gilt nur, wenn das Erfüllen der Standards wahrheitsförderlich ist. Es muss also gelten: (10)  Wenn eine empirische Theorie einfacher ist als die Alternativen, oder besser erklärt, oder induktiv besser durch Beobachtungen gestützt ist etc., dann macht das ihre Wahrheit wahrscheinlicher. In unserer Praxis ziehen wir ganz selbstverständlich besser gestützte und explanatorisch stärkere Theorien vor und betrachten dies als eine gerechtfertigte Wahl. Bonjour konfrontierte diese Praxis mit folgender Frage: What reasons can be offered for thinking that a system of beliefs which is simpler, more conservative, explanatorily more adequate, etc., is thereby more likely to be true, that following such standards is at least somewhat conducive to finding the truth?45 Bonjour zufolge können wir unsere Standards für die Theoriewahl nicht empirisch rechtfertigen. Eine empirische Rechtfertigung für die verwendeten Standards muss sich Rigorose Rationalisten argumentieren gern so: Wir durften uns auf sinnliche Wahrnehmung verlassen, bevor wir wussten, wie sie funktioniert. Also muss Gleiches auch für unsere rationale Intuition gelten. Dieses Argument übersieht, dass wir immer schon über eine rudimentäre kausale Theorie von sinnlicher Wahrnehmung und der Rolle von Sinnesorganen verfügt haben. 43  Siehe dazu L. Bonjour, In Defence of Pure Reason, Kap. 3.7, ders., »A Rationalist Manifesto«, § VI, ders. »In Defense of the A Priori«, 101 f. 44  Ich verwende ›Theorie‹ stets im weiten Sinne von ›Überzeugungssystem‹. 45  L. Bonjour, In Defence of Pure Reason, 91. 42 

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nämlich letztlich wieder auf zumindest einen der Standards stützen und wäre damit (regel-)zirkulär. Da die Standards kaum als analytische Wahrheiten verstanden werden können, kommen als Rechtfertigungsgrundlage für unsere Standards der Theoriewahl nur unsere rationalen Intuitionen in Frage. Wer diesen den rechtfertigenden Charakter abspricht, muss also unsere empirische Theoriebildung als ungerechtfertigt ansehen. Es gibt folglich keine nicht-skeptische Alternative zur Annahme, rationale Intuitionen seien eine genuine Quelle von a priori Wissen. Wie Casullo 46 gezeigt hat, kann Bonjours Argument nicht überzeugen. Das Argument rechtfertigt den rigorosen Rationalismus nur dann, wenn man gegen diese Position nicht einen Einwand genau derselben Art konstruieren kann. Das ist aber möglich. In seinem Gedankengang setzt Bonjour die Wahrheit von (9) voraus. Er unterstellt, dass Stützung durch rationale Intuitionen rechtfertigenden Charakter hat und mithin wahrheitsförderlich ist. Diese Annahme sieht sich der gleichen Herausforderung ausgesetzt wie die Annahme der Wahrheit von (10), nämlich: What reason can be offered for thinking that a belief based on apparent rational insight is thereby more likely to be true?47 Bonjour48 weist dieses Ansinnen als eine petitio principii zurück. Der Kritiker nehme rationale Intuitionen nicht als Rechtfertigungsbasis ernst. Mit der analogen Begründung kann sich jedoch auch der Anhänger von (10) weigern, die formulierten Standards weiter zu begründen. Casullo 49 bietet eine Diagnose für Bonjours Scheitern. Damit unsere empirische Theoriewahl zu gerechtfertigten Ergebnissen führt, müssen die in (10) genannten Standards wahr sein. D. h. induktive Stützung und explanatorische Kraft müssen tatsächlich wahrheitsförderlich sein. Dies ist die Ebene der Rechtfertigung empirischer Theorien. Wenn wir nach Gründen für unsere Überzeugung suchen, dass (10) wahr ist, wechseln wir auf die Ebene der Rechtfertigung unserer Standards, also auf die Ebene der Meta-Rechtfertigung. Bonjour fordert also eine Meta-Rechtfertigung für (10). Dann muss er sich aber auch nach einer Meta-Rechtfertigung von (9) fragen lassen. Den so eingeforderten Nachweis des rechtfertigenden Charakters der Stützung durch rationale Intuitionen hat Bonjour aber nicht vorzuweisen.

5.  Bealers Argument vom vollständigen Begriffsbesitz Bonjour präsentiert ein indirektes Argument für den rigorosen Rationalismus. Er will zeigen, dass die Alternative unhaltbar sei. Casullos Replik unterstreicht, dass ein indirektes Argument nicht genügen kann. Anhänger des rigorosen Rationalismus benöti-

46  47  48  49 

Vgl. A. Casullo, »The Coherence of Empiricism«, ders., A Priori Justification, 117–120. Ders., »A Priori Knowledge«, 119. Vgl. L. Bonjour, In Defence of Pure Reason, 145. Vgl. A. Casullo, »A Priori Knowledge«, 118.

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gen ein direktes Argument für die Wahrheit von (9). Bealer bringt ein solches Argument vor. 50 Seine Überlegung ist die folgende: Wir haben gute Gründe dafür, Stützung durch rationale Intuitionen als wahrheitsförderlich anzusehen. Denn bei Denkern, die vollständig (determinately) über Begriffe wie Notwendigkeit oder Rekursion verfügen, verbürgt ihr Begriffsbesitz die Wahrheit der ihren rationalen Intuitionen entsprechenden Überzeugungen. Dies gilt für ontologisch anspruchslose wie für ontologisch anspruchsvolle Überzeugungen. Bealers Argument lässt sich etwas präziser als eine Überlegung in vier Schritten verstehen.51 Ausgangspunkt ist folgende modale These:52 (11)  Es ist metaphysisch möglich, dass es Denker gibt, die vollständig über die für die a priori Disziplinen Logik, Mathematik und Philosophie zentralen Begriffe verfügen. Zu diesen Begriffen gehören Konjunktion, Notwendigkeit, Rekursion, Menge , Evidenz , Proposition , Bewusstsein, Verursachung etc. Bealers Begründung für (11) ist denkbar einfach. Er schreibt: »It would be quite ad hoc to deny this«53. An dieser Stelle benötigen wir etwas Terminologie. Lassen Sie mich einen vollständig über den Begriff F verfügenden Denker einen F-kompetenten Denker nennen. Lassen Sie mich dazu eine Eigenschaftsidentität 54, die einen Begriff F betrifft, eine FEigenschaftsidentität nennen. Zum Beispiel ist die Eigenschaft, eine Großmutter zu sein = die Eigenschaft, ein weibliches Elternteil eines Elternteils zu sein eine GroSSm� mutter-Eigenschaftsidentität. Dann können wir Bealers zweite Prämisse so fassen: (12)  Aus den rationalen Intuitionen eines F-kompetenten Denkers folgen alle und nur die wahren F-Eigenschaftsidentitäten, und der Denker kann herausfinden, welche dies sind. Bealer verteidigt diese Annahme unter Rückgriff auf seine Theorie vollständigen Begriffsbesitzes. 55 Die Details dieser Theorie sind für uns unerheblich. Wichtig ist allein, dass sich dieser Theorie gemäß der vollständige Besitz eines Begriffs in den rationalen Intuitionen des betreffenden Denkers niederschlägt. Wenn ein Denker S F-kompetent

Siehe G. Bealer, »A Theory of the A Priori«, § 3, insbes. 21 ff. und ders., »A Theory of Concepts and Concept Possession«, 299 f. Vgl. auch E. Sosa, »Ontology, Understanding, and the A Priori«, 179–183. 51  Ich konzentriere mich im Folgenden auf den Kern der Bealerschen Argumentation. 52  Vgl. G. Bealer, »A Theory of the A Priori«, 12, 23. 53  Ebd., 12. 54  Um das umständliche ›Eigenschaftsidentitäts-Proposition‹ zu vermeiden verwende ich ›Eigenschaftsidentität‹ als Bezeichnung für eine Klasse von Inhalten oder Propositionen 55  Vgl. G. Bealer, »A Theory of Concepts and Concept Possession«, ders., »Concept Possession«, ders., »A Theory of the A Priori«, § 3, ders., »Modal Epistemology and the Rationalist Renaissance«, § 3.1. Vgl. E. Orlando, »Some Critical Remarks on an Explanation of Concept Possession« und J. Kim, »Bealer’s Intuitions on Concept Possession«. 50 

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ist, dann gilt Bealers zufolge dreierlei. Erstens gilt: Aus Ss rationalen Intuitionen folgen alle und nur die wahren F-Eigenschaftsidentitäten. Bealer formuliert dies so: x determinately possesses a given concept iff, for associated test property-iden­tities p: x would have intuitions that imply that p is true iff p.56 Dabei ist vorausgesetzt, dass die Eigenschaftsidentitäten für S natürlich verständlich sind. Zweitens gilt: Da S seine rationalen Intuitionen direkt zugänglich sind, kann er erfahrungsunabhängig herausfinden, welche F-Eigenschaftsidentitäten aus seinen Intuitionen folgen. Drittens gilt: Bessere intellektuelle Fähigkeiten ändern nichts an den ersten beiden Punkten. Ein Beispiel sollte dies deutlicher machen. Nehmen wir an, Maria verfüge vollständig über den Begriff Rekursion. Dann folgen erstens aus Marias rationalen Intuitionen alle und nur die wahren Rekursion -Eigenschaftsiden­titäten. So folgen die Eigenschaft, rekursiv zu sein = die Eigenschaft, Turing-berechenbar zu sein und die Eigenschaft, rekursiv zu sein  die Eigenschaft, dreieckig zu sein. Zweitens kann Maria dies ohne empirische Untersuchung erkennen. Sie kann, ohne Erfahrung zu bemühen, herausfinden, dass aus ihren rationalen Intuitionen diese Eigenschaftsidentitäten folgen. Drittens würde sich nichts an den erwähnten Punkten ändern, wenn Maria bessere kognitive Fähigkeiten hätte. Maria hätte dieselben rationalen Intuitionen und könnte nach wie vor Kenntnis dieser Eigenschaftsidentitäten erlangen. Vollständiger Begriffsbesitz führt zu rationalen Intuitionen, die wahre Eigenschaftsidentitäten auszeichnen. Das folgt aus Bealers Theorie des Begriffsbesitzes. Demnach sind die rationalen Intuitionen eines F-kompetenten Denkers wahrheitsanzeigend: (13)  Wenn eine F-Eigenschaftsidentität durch die rationalen Intuitionen eines F-kompetenten Denkers gestützt57 wird, dann ist sie wahrscheinlich wahr. Indem er sich an seine rationalen Intuitionen hält, kann ein F-kompetenter Denker folglich a priori Wissen von F-Eigenschaftsidentitäten gewinnen. Zu den wahren F-Eigenschaftsidentitäten gehören einerseits analytische. So gehört zu den Eigenschaftsidentitäten bezüglich Rekursion z. B. die analytische Identität die Eigenschaft, rekursiv zu sein = die Eigenschaft, rekursiv zu sein. Folglich kann ein F-kompe­tenter Denker ontologisch anspruchsloses a priori Wissen über die Eigenschaft F erwerben. Zu den F-Eigenschaftsidentitäten gehören aber laut Bealer auch synthetische.58 Ihm zufolge ist die Eigenschaft, rekursiv zu sein = die Eigenschaft, Turing-berechenbar zu sein eine synthetische Eigenschaftsidentität. Folglich vermitteln die rationalen Intuitionen eines F-kompetenten Denkers dem Denker auch ontologisch anspruchsvolles a priori Wissen.

G. Bealer, »A Theory of the A Priori«, 15. Siehe die Erläuterung in Fußnote 40. 58  Bealer versteckt diesen wichtigen Schritt in seinen ›Conclusions‹ auf S. 24 von »A Theory of the A Priori«. 56 

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Neben seiner modalen Ausgangsthese kommen in Bealers Argument nur Prämissen vor, die er aus seiner Theorie vollständigen Begriffsbesitzes gewinnt. Zusammen führen diese Prämissen zu dieser Konklusion: (14)  Es ist metaphysisch möglich, dass es Denker gibt, deren rationale Intuitionen deswegen eine Quelle von sowohl ontologisch anspruchslosem als auch ontologisch anspruchsvollem a priori Wissen sind, weil diese Denker vollständig über Begriffe wie Konjunktion, Notwendigkeit, Rekursion, Menge , Evidenz , Proposition , Verursachung etc. verfügen. Bealers direkte Verteidigung rationaler Intuitionen als eine Quelle von a priori Wissen ruht auf einem angenommenen Nexus zwischen Begriffsbesitz und der Kenntnis wahrer Eigenschaftsidentitäten. Diese Idee gewinnt Bealer aus seiner Theorie des Begriffsbesitzes. Nun müssen wir Bealers Theorie nicht genau studieren, um uns eine Meinung über sein Argument zu bilden. Bealers Gedankengang ist auch dann wenig überzeugend, wenn wir ihm seine begriffstheoretischen Prämissen (12) und (13) zugestehen. Bealers Argument scheitert aus zwei Gründen. Der erste betrifft die oben in (11) genauer ausbuchstabierte modale Ausgangsthese: (15)  Es ist metaphysisch möglich, dass Denker vollständig über Begriffe wie Konjunktion, Notwendigkeit, Rekursion etc. verfügen. Laut Bealer wäre eine Zurückweisung dieser These ad hoc. Damit hat er Recht. Wer (15) ablehnt, muss behaupten, es sei metaphysisch unmöglich, dass jemand auch nur über einen der genannten Begriffe vollständig verfügt. Allerdings stützt sich Bealer de facto gar nicht auf (15). Sein Argument beruht vielmehr auf dieser theoretisch aufgeladenen Annahme: (15*)  Es ist metaphysisch möglich, dass Denker im Sinne von Bealers Theorie des Begriffbesitzes vollständig über Begriffe wie Konjunktion, Notwendigkeit, Rekursion etc. verfügen Eine Zurückweisung dieser These muss keineswegs ad hoc sein. Im Gegenteil, solange Bealer nicht positive Gründe für (15*) anführt, haben wir keinen Grund, ihm diese problematische metaphysische Möglichkeit zuzugestehen. Dieser Verpflichtung kommt Bealer jedoch nicht nach. Der zweite und wichtigere Grund betrifft die Konklusion (14). Bealers Argument zielt auf eine direkte Begründung der Kernthese (9) des rigorosen Rationalismus, wonach gilt: Rationale Intuitionen sind für uns eine Quelle von a priori Wissen. Wenn meine Überzeugung, dass p, durch meine rationalen Intuitionen gestützt wird, dann bin ich epistemisch berechtigt, p zu glauben. Diese Kernthese betrifft den epistemischen Charakter unserer rationalen Intuitionen. Aber (14) handelt gar nicht von uns. (14) handelt von irgendwelchen Denkern in irgendeiner metaphysisch möglichen Welt bei denen es sich, wie Bealer zugibt, aller Wahrscheinlichkeit nach um »creatures in cognitive con-

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ditions superior to ours«59 handelt. Aber warum soll die metaphysische Möglichkeit von Wesen mit wahrheitsanzeigenden rationalen Intuitionen etwas für die Frage austragen, ob Stützung durch unsere rationalen Intuitionen wahrheitsförderlich ist? Bealer sieht dieses Problem und zieht sich auf die folgende Analogiebehauptung zurück: [I]f true, the thesis [i.e. 14] would nevertheless help to illuminate our own situation. For to the extent that we approximate the indicated cognitive conditions, we are able to approximate the sort of autonomous a priori knowledge contemplated in the thesis.60 Anspruchslos gelesen ist das sicher richtig. Die Frage, bei der Bealer anlangt, ist damit die folgende: Wie ähnlich ist unsere epistemische Situation der von Wesen, deren rationalen Intuitionen für die Wahrheit der durch diese gestützten Überzeugungen spricht? Unglücklicherweise unterscheidet sich diese Frage bestenfalls im Wortlaut von der Frage nach der Wahrheit von (9), mit der wir begonnen haben. Bealers Argument hat uns im Kreis laufen lassen. Einer Begründung von (9) sind wir nicht näher gekommen.

6.  Ein Fazit Die philosophische Debatte um a priori Wissens zieht ihre Brisanz aus dem meta-philosophischen Reflexionsprojekt. Trotzdem konzentrieren sich Philosophen zu Recht auf das erkenntnistheoretische Klärungsprojekt. Bevor wir die Rolle von a priori Wissen in philosophischer Forschung abschätzen können, müssen wir wissen, was a priori Wissen ausmacht und welche Quellen es hat. Die erste Frage formuliert die Aufgabe einer Analyse von a priori Wissen. Eine Analyse von a priori Wissen buchstabiert Bedingungen dafür aus, dass jemand über a priori Wissen verfügt. Die zweite Frage formuliert die Aufgabe einer Theorie von a priori Wissen. Eine Theorie von a priori Wissen identifiziert potenzielle Quellen von a priori Wissen und misst diese an den durch die Analyse etablierten Bedingungen. Ich habe eine epistemische Analyse von a priori Wissen verteidigt. Einsichtigerweise hängt der Status von Wissen, dass p, als a priori von der Art der epistemischen Berechtigung ab, p glauben. Ein Denker S weiß genau dann a priori, dass p, wenn S weiß, dass p und Ss Berechtigung, p zu glauben, nicht auf Erfahrung beruht. Diese epistemische Analyse erfüllt ebenso plausible wie populäre Forderungen an a priori Wissen. Sie legt uns dazu weder auf kontroverse erkenntnistheoretische Ansätze noch auf unplausibel anspruchsvolle Ideen über die Reichweite unseres a priori Wissens fest. Eine überzeugende Theorie von a priori Wissen ist hingegen nicht so leicht zu finden. Dies gilt trotz des betonten Umstands, dass es unterschiedliche, nicht in Konkurrenz stehen-

59  60 

G. Bealer, »A Theory of the A Priori«, 22. Ebd., 22 f.

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de Quellen für a priori Wissen geben kann und wir annehmen dürfen, unser a priori Wissen in Logik, Mathematik und (vielleicht) Metaphysik stamme aus verschiedenen Quellen. Ich habe dafür argumentiert, dass Bedeutungswissen eine Quelle von a priori Wissen darstellt. Die zentralen Einwände gegen diese Idee verfangen nicht. Weder zeigt Williamson, dass es keine im epistemischen Sinne analytischen Wahrheiten gibt. Noch lassen sich die semantischen Voraussetzungen der Idee, Bedeutungswissen bringe a priori Wissen mit sich, durch Kripkes kausal-historische Semantik erschüttern. Aber Bedeutungswissen bringt allein ontologisch anspruchsloses a priori Wissen mit sich. Zur Erklärung unseres mathematischen a priori Wissens benötigen wir jedoch vermutlich eine Quelle für ontologisch anspruchsvolles Wissen a priori. Rigorose Rationalisten wie Bonjour und Bealer denken, dass wir rationale Intuitionen als Quelle von a priori Wissen akzeptieren sollten. Dies ist ein äußert problematischer Vorschlag. Gegen ihn spricht zunächst einmal der Mechanismuseinwand: Solange vollständig unklar ist, auf welche Weise rationale Intuitionen a priori Wissen vermitteln, gibt es keinen Grund, der Stützung durch rationale Intuitionen rechtfertigenden Charakter zuzuschreiben. Rigorose Rationalisten benötigen schlagende Argumente, um angesichts des Mechanismuseinwands ihre Position behaupten zu können. Letzten Endes bleiben ihre Überlegungen wenig einsichtig. Bonjour argumentiert, der Versuch, den rechtfertigenden Charakter rationaler Intuitionen zu leugnen führe in einen Skeptizismus. Dieses indirekte Argument überzeugt nicht. Denn gegen den rigorosen Rationalismus lässt sich ein Einwand genau derselben Art konstruieren. Bealer bringt zwar ein direktes Argument für rationale Intuitionen als Quelle von a priori Wissen vor. Er sucht, nachzuweisen, dass bei Denkern, die vollständig über Begriffe wie Notwendigkeit oder Rekursion verfügen, ihr Begriffsbesitz die Wahrheit der ihren rationalen Intuitionen entsprechenden Überzeugungen verbürgt. Das mag so sein. Aber es ist ebenso unklar, wie ähnlich wir idealen Denker sind, die in Bealers anspruchsvollem Sinne vollständig über Begriffe verfügen, wie es unklar ist, ob unsere rationalen Intuitionen rechtfertigenden Charakter haben. Einer Begründung der letzteren These kommen wir mit Bealers Argument daher nicht näher. Wer Existenz und Relevanz von a priori Wissen verteidigen will, der darf sich folglich auf Bedeutungswissen berufen. Auf rationale Intuitionen kann er sich hingegen nicht berufen.

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Das Zeugnis anderer als soziale und kulturelle Erkenntnisquelle Oliver R. Scholz

1.  Gegenstand und Ziel1 Der schottische Philosoph Thomas Reid hat eine bemerkenswerte Analogie zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem Zeugnis anderer Personen konstatiert, weshalb er es für angemessen hielt, beide Erkenntnisquellen unter den Oberbegriff »Testimony / Zeugnis« zu subsumieren: »the testimony of Nature given by the senses« und »human testimony given by language«. 2 Vergleichbare Redeweisen finden sich bei anderen Denkern und in anderen Sprachen. 3 Ich möchte im folgenden neben den Analogien auch die Disanalogien4 würdigen und schließlich auf eine zu wenig beachtete Wechselwirkung hinweisen.

2.  Hintergrund der Fragestellung Meine Untersuchungen stelle ich in einen Horizont von meta-erkenntnistheoretischen und anthropologischen Überlegungen. Wie die meisten Menschen neigen Philosophen zum Schwanken zwischen Extremen. Erkenntnistheoretiker bilden keine Ausnahme: (I)  Sie schwanken zum einen (wie andere Menschen auch) zwischen übertriebenem Optimismus und übertriebenem Pessimismus.5 In der Erkenntnistheorie manifestiert sich der überzogene Optimismus in certistischen Konzeptionen, der überzogene Pessimismus in radikalen Formen des Skeptizismus. Obwohl uns der gesunde Menschenverstand sagt, daß wir der Wahrnehmung und dem Zeugnis anderer eine ungeheure Menge von gerechtfertigten Überzeugungen und Wissen verdanken, gelangten viele Philosophen in ihren offiziellen Erkenntnistheorien in bezug auf beide Quellen zu skeptischen Konsequenzen.

Diese Arbeit ist im Rahmen des DFG-Projektes »Eine Fallstudie in angewandter Erkenntnistheorie« (Scho 401 / 4–2) entstanden. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Ihre Unterstützung. 2  Th. Reid, Inquiry and Essays, 90, vgl. 87. 3  Reid übertrieb vermutlich, als er schrieb: »[…] we find, in all languages, the analogical expressions of the testimony of sense, of giving credit to our senses, and the like.« (A. a. O., 203) 4  Auch Reid weist auf eine Disanalogie hin: »[…] there is a real difference between the two, as well as a similitude. In believing upon testimony, we rely upon the authority of a person who testifies, but we have no such authority for believing our senses.« (A. a. O., 203) 5  Vgl. die hellsichtigen Bemerkungen in H. Putnam, »Skepticism«. 1 

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(II)  Zum anderen schwanken Erkenntnistheoretiker, was die menschliche Kognition angeht, zwischen der Gefahr der Überintellektualisierung und der eines Anti-Intellektualismus.6 Die platonische, die aristotelische und die cartesianische Tradition haben die Anforderungen für Wissen und Rechtfertigung sehr hoch gehängt. Insbesondere herrschte eine übertriebene Vorstellung davon, wie gut wir unsere kognitiven Fähigkeiten und Leistungen selbst durchschauen und steuern können. Technisch gesprochen: Die Hauptströmungen der traditionellen Erkenntnistheorie neigten zu einem sehr anspruchsvollen Wissensbegriff und einem damit verbundenen starken Internalismus. Das führte u.a. dazu, daß man die kognitiven Unterschiede zwischen erwachsenen Menschen auf der einen Seite, Kleinkindern und höheren Tieren auf der anderen Seite übertrieben und die kognitiven Gemeinsamkeiten entweder rundweg geleugnet oder jedenfalls stark unterschätzt hat. Die naturalistischen und externalistischen Strömungen in der neueren Erkenntnistheorie waren und sind zweifellos ein heilsames Gegenmittel gegen solche Überintellektualisierung. Die Bewegung droht jedoch bisweilen ins entgegengesetzte Extrem umzuschlagen. Viele versuchen nun, Wissen bzw. Kognition allein unter Rückgriff auf physikalisch und biologisch beschreibbare Indikatorbeziehungen und verläßliche Prozesse zu verstehen. Nicht-reduzierte teleologische Begriffe und normative epistemische Prinzipien gelten in diesen Kreisen als irrelevant und sollen entsprechend vermieden werden. Als paradigmatische Modelle für kognitive Vorgänge müssen nun beispielsweise Vorgänge in Thermometern, Coca-Cola-Automaten oder Schachcomputern herhalten. Dabei drohen jedoch Charakteristika spezifisch menschlicher Kognition aus dem Blick zu geraten. Das zeigt sich gerade dann, wenn man das Zeugnis anderer ernsthaft bei einer Betrachtung der Erkenntnisquellen einbezieht.

3.  Was ist eigentlich eine Erkenntnisquelle? Meine Untersuchungsobjekte – das Zeugnis anderer und die Wahrnehmung – sind beide, wie man sagt, Erkenntnisquellen, genauer gesagt: potentielle Quellen von Rechtfertigung und Wissen.7 In der Erkenntnistheorie spricht man – terminologisch fixiert seit John Locke – von Erkenntnisquellen auf der einen Seite, von Quellen von Vorurteilen und Irrtümern auf der anderen Seite. Die Rede von Erkenntnisquellen, ihrem Umfang und ihren Grenzen, ist in der neuzeitlichen Erkenntnistheorie von zentraler Bedeutung gewesen.

Dies betonen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen T. Burge, »Perceptual Entitlement«, 503 f. und R. Brandom, Articulating Reasons, 2 f. 7  Über die Metapher der Quelle liest man heutzutage leicht hinweg, da sie inzwischen idiomatisiert ist. Sie ist aber noch nicht ganz tot und, wenn man sie zu ernstnimmt, keineswegs harmlos. Dazu ausführlich O. R. Scholz, »Quellen der Erkenntnis – Metapher, Begriff und Sache« und O. R. Scholz, »Quellen der Erkenntnis – Überlegungen zu Natur, Anzahl und Wechselwirkung«. 6 

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(I)  Erstens war und ist sie zentral für die Kennzeichnung des erkenntnistheoretischen Projekts selbst. So nahm sich Locke in seinem Essay concerning Human Understanding vor: »[…] to enquire into the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge […].«8 Statt von »Original«, Ursprung, spricht Locke dort auch von »Fountains of Knowledge«9 sowie von den Quellen (»Sources«) unserer Vorstellungen.10 Ein Blick in Nachschlagewerke bestätigt die anhaltende Bedeutung des Begriffs der Erkenntnisquellen: So wird Erkenntnistheorie in Rudolf Eislers Wörterbuch der philosophischen Begriffe definiert als «[…] die Wissenschaft vom Wesen und den Prinzipien der Erkenntnis, vom Ursprung, den Quellen, Bedingungen und Voraussetzungen, vom Umfang, von den Grenzen der Erkenntnis«.11 (II)  Zweitens war die Unterscheidung von Erkenntnisquellen zentral für ein überaus einflussreiches philosophiehistorisches Schema: die Unterscheidung zwischen Rationalismus und Empirismus.12 Als Einteilungsgesichtspunkt dient hierbei die Rangfolge der Erkenntnisquellen. Dem Rationalismus zufolge ist die Vernunft die vornehmste Quelle von Wissen; der Empirismus favorisiert die Erfahrung in Form von Sinneswahrnehmungen, methodisch angeleiteten Beobachtungen und Experimenten. Angesichts dieser großen Bedeutung für das Selbstverständnis der Erkenntnistheorie muß es überraschen, wie wenig über Begriff und Metapher der Erkenntnisquelle nachgedacht worden ist. Wie sieht es heute aus? Wo von Erkenntnisquellen die Rede ist, geschieht dies typischerweise beiläufig und unreflektiert. So findet sich in vielen Monographien und Anthologien zwar ein Abschnitt »Sources of Knowledge«; kaum ein Autor verweilt aber bei der Quellen-Metaphorik, um sie zu klären oder gar zu problematisieren.13 Typischerweise begnügt man sich mit Aufzählungen. Dabei fällt auf, daß die Listen in der Terminologie, ja sogar in der Sache voneinander abweichen. Lesen wir die ersten Sätze aus der Einleitung zu dem Abschnitt »Sources of Knowledge« in der Anthologie Knowledge. Readings in Contemporary Epistemology (2000):

J. Locke, Essay I, i, 2; zitiert nach der Ausgabe 1975, 43. A. a. O., 104. 10  A. a. O., 105 u. ö. Kant interessierte sich im Rahmen der allgemeinen Frage »Was kann ich wissen?« speziell für die erfahrungsunabhängige Erkenntnis, an der sich für ihn das Schicksal der Metaphysik entscheidet. Entsprechend schränkte er die Frage des berühmten Locke für seine Zwecke ein: Die Kritik der reinen Vernunft ist demnach »die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen« der erfahrungsunabhängigen Erkenntnis. (I. Kant, KrV A XII; vgl. A 11 / B 25.) 11  R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 389. Ganz ähnlich heißt es in der Routledge Encyclopedia of Philosophy: »Epistemology is one of the core areas of philosophy. It is concerned with the nature, sources and limits of knowledge […].« (P. Klein, »Epistemology«, 362) 12  Vgl. dazu die umfassende kritische Untersuchung von H.– J. Engfer, Empirismus versus Rationalismus? 13  Eine Ausnahme ist R. Audi, »The Sources of Knowledge«; sowie ders. The Architecture of Reason, 13–31. 8  9 

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»Knowledge can be subdivided according to the sources from which it arises. The basic sources of knowledge and justification are perception […], introspection, testimony, memory, reason and inference.«14 Die Autoren, Sven Bernecker und Fred Dretske, halten sich nicht bei der Frage »Was ist eine Erkenntnisquelle?« auf, sondern zählen die einzelnen Quellen auf, die in den traditionellen und gegenwärtigen Einteilungen genannt werden: Wahrnehmung, Introspektion, das Zeugnis anderer, Erinnerung, Verstand und Schließen. Nach der Aufzählung dieser generischen Erkenntnisquellen fahren die Herausgeber fort: »This classification is a little arbitrary.«15 Im folgenden erfährt der alarmierte Leser, daß mit Ausnahme der Wahrnehmung jede der aufgezählten Erkenntnisquellen in ihrem Status umstritten war oder ist: »Some epistemologists regard introspection not as an independent source of knowledge but as a form of perception. Memory is sometimes considered not as a source of knowledge but merely as a retention of knowledge already obtained in some other way. Inference is obviously not an independent source of knowledge since the premisses or facts from which one infers a conclusion must come from elsewhere. And some philosophers would dispute the power of reason as a source of a priori knowledge.«16 Trotz dieser Bedenken lasse sich die Verwendung der üblichen Einteilung der Erkenntnisquellen pragmatisch rechtfertigen: »Despite these faults, though, we have chosen to classify the readings in this part according to these more or less standard categories.«17 So mag man verfahren, insbesondere wenn es um die pragmatische Entscheidung über die Gliederung einer Anthologie geht. Aber kann man in der Sache nicht noch ein bißchen mehr sagen? Muß man nicht mehr sagen, wenn Erkenntnistheorie wesentlich die Untersuchung der Erkenntnisquellen sein soll? Ich meine: Ja! Zu diesem Zwecke möchte ich zunächst eine Reihe von Fragen festhalten, die in einer positiven Erkenntnistheorie18 hinsichtlich der Quellen von Rechtfertigung und Wissen19 zu klären und zu beantworten sind: (1) Was ist unter einer epistemischen Quelle zu verstehen? (2) Wie identifiziert und individuiert man epistemische Quellen? (3) Wie viele generische epistemische Quellen gibt es eigentlich? (4) Gibt es epistemische natürliche Arten? (4.a) Bilden die epistemische Quellen zusammen eine natürliche Art? (4.b) Bildet jede einzelne epistemische Quelle (im generischen Sinn) eine natürliche Art? (5) Welche epistemischen Quellen sind basal?20 S. Bernecker / F. Dretske, Knowledge, 431. A. a. O. 16  A. a. O. 17  A. a. O. 18  Die positive Erkenntnistheorie nenne ich so, um sie von negativen Projekten wie der Widerlegung bzw. Zurückweisung des Skeptizismus abzugrenzen. (Vgl. C. A. J. Coady, Testimony, 3 f.) 19  Als Oberbegriff zu Quellen des Wissens und Quellen der Rechtfertigung verwende ich den Terminus »epistemische Quelle«. 20  Hierbei ist zu klären, was mit »basal« gemeint ist. 14 

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(6) In welchen Hinsichten ist die Quellen-Metapher erhellend, in welchen Hin sichten ist sie irreführend? (7) Was fließt eigentlich aus einer epistemischen Quelle?21 (8) Wodurch unterscheiden sich die menschlichen epistemischen Quellen von den kognitiven Ressourcen von Tieren? Natürlich kann ich im Rahmen dieses Vortrags nicht auf alle Fragen und auf alle in Frage kommenden epistemischen Quellen eingehen. Ich konzentriere mich auf (1) und (8).

4.  Ein Vorschlag Zunächst also zu Frage (1): Was ist unter einer epistemischen Quelle (»Erkenntnisquelle«) zu verstehen? Ich möchte ein intuitives Verfahren vorschlagen, wie Erkenntnisquellen zu identifizieren und individuieren sind. Ich entnehme es der alltäglichen Praxis, der epistemischen Urszene, wie man sagen könnte. Betrachten wir Situationen, in denen wir im Alltag fragen oder gefragt werden: »Woher weißt Du das?« oder »Warum glaubst Du das?« Am Anfang steht eine Person A, die zu verstehen gibt, dass sie etwas weiß – oder zumindest, dass sie glaubt, sie wisse etwas. Beispielsweise mag A etwas mit dem Brustton der Überzeugung äußern. Nehmen wir also an, A macht eine Behauptung über einen Sachverhalt p, dessen Bestehen oder Nichtbestehen nicht offenkundig, jedenfalls nicht allgemein geteiltes Wissen ist. Darauf kann eine zweite Person B in unterschiedlichen Weisen reagieren. Sie mag das einfach hinnehmen, indem sie etwa »Hm«, »Ach so« oder »Hochinteressant« sagt und zur Tagesordnung schreitet. Sie kann aber natürlich auch zurückfragen: »Woher weißt Du das?« Diese Rückfrage kann wiederum verschiedene Gründe haben. Vielleicht zweifelt B daran, dass p der Fall ist, oder dass A ein verlässlicher Informant ist. Vielleicht hält B es sogar für ganz unmöglich, dass A weiß, dass p. (»Woher willst Du das wissen?«) Vielleicht ist B aber auch nur neugierig darauf, mehr zu erfahren, etwa ob A selbst beobachtet hat, dass p, oder ob es ihr jemand gesagt hat o.ä. Manchmal fragt man mit besagter Frage also nach der Quelle, aus der jemand, der etwas zu wissen beansprucht, es weiß. Mögliche Antworten auf eine solche Frage nach der Quelle wären etwa: »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen« oder »So steht es in der ›Encyclopedia Britannica‹«. Dies also ist der lebensweltliche Ort, an dem die Frage nach den Erkenntnisquellen zuhause ist. Freilich ist es von solchen alltäglichen Situationen, in denen nach der konkreten Quelle eines einzelnen Wissensstücks gefragt wird, zu der Frage nach Erkenntnisquellen im generischen Sinne ein großer und keineswegs unproblematischer Schritt.22

21  Als Kandidaten kommen u.a. Vorstellungen, subdoxastische informationstragende Zustände, Meinungen, Rechtfertigung und Wissen in Frage. 22  Darauf haben besonders K. R. Popper, »On the Sources of Knowledge«, 3 f. und M. Williams, Problems of Knowledge, 168 f. hingewiesen.

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Wie sind die Fragen »Woher weißt Du das?« bzw. »Warum glaubst Du das?« zu verstehen? Die Frage »woher?« scheint schlicht und einfach nach der Herkunft zu fragen. Es ist aber wichtig, sich klarzumachen, dass nicht jede Herkunftsangabe eine adäquate Antwort abgeben würde. Weder die Antwort » … aus meinem Gehirn«, noch die » … aus meinem reichen Wissensfundus« wäre akzeptabel, obwohl beide Antworten Angaben über die Herkunft machen. Sie sind – obwohl womöglich zutreffend – Antworten vom falschen Typ. Sie sind nicht relevant für mögliche Rechtfertigungen des Wissensanspruchs. 23 Nehmen wir noch die Frage-Variante »Warum glaubst Du das?« hinzu. Hier könnte man glauben, es müsse nach einer Ursache gefragt sein. Auch dies wäre ein Irrtum. Antworten wie »… weil ich unter Drogen stehe?« oder »… weil ich ein Hirn habe?« wären keine adäquaten Antworten auf die Frage im hier einschlägigen Sinne. Sie mögen zwar Ursachen oder Teilursachen der jeweiligen Überzeugungen angeben, aber sie benennen keine rechtfertigungsrelevanten Gründe. Die bzw. eine Ursache davon anzugeben, dass jemand überzeugt ist oder weiß, dass p, ist nicht dasselbe wie: die Quelle der Überzeugung bzw. des Wissens anzugeben. 24 Der Begriff einer Erkenntnisquelle ist kein rein kausaler Begriff. Die Warum-Frage fragt nach einer Erklärung: »Wie erklärt es sich, dass Du das glaubst?«, »Wie ist es möglich, dass Du das glaubst?« Zu beachten ist dabei, dass nach rechtfertigungsrelevanten Angaben gefragt ist; »Wie erklärt es sich …? und »Wie ist es möglich …?« sind in einem deontischen Sinne zu verstehen. Eine Formulierung, die expliziter zum Ausdruck bringt, was mit den Fragen »Woher weißt Du das?« bzw. »Warum glaubst Du das?« gemeint ist, wäre etwa: »Auf welcher rechtfertigungsrelevanten Grundlage25 glaubst Du das?« »Welche Grundlage erklärt und rechtfertigt Deine Überzeugung?« Mithilfe dieser Klärung können wir jetzt das intuitive Verfahren beschreiben: Sammle akzeptable Antworten auf die Fragen »Woher weißt Du das?« bzw. »Warum glaubst Du das?« verstanden als »Auf welcher rechtfertigungsrelevanten Grundlage glaubst Du das?« Versuche die Antworten in möglichst homogene Gruppen zu ordnen. Jede solche Gruppe deutet auf eine (generische) Erkenntnisquelle hin.

Vgl. Gottlob Freges Kennzeichnung von Erkenntnisquellen als Rechtfertigungsquellen; in einer nachgelassenen Schrift heißt es: »Eine Erkenntnis kommt dadurch zustande, dass ein Gedanke als wahr anerkannt wird. Dazu muss der Gedanke zunächst gefasst werden. Doch rechne ich das Fassen des Gedankens nicht zur Erkenntnis, sondern erst die Anerkennung der Wahrheit, das eigentliche Urteilen. Als Erkenntnisquelle sehe ich das an, wodurch die Anerkennung der Wahrheit, das Urteil, gerechtfertigt ist.« (G. Frege, Nachgelassene Schriften, 286; meine Hervorhebung, O. R. S.). 24  Dies betont auch R. Audi, »The Sources of Knowledge«, 79 und 82. 25  Die Formulierung ist mit Bedacht gewählt: Sie soll keine Vorentscheidung darüber implizieren, ob epistemische Rechtfertigung internalistisch oder externalistisch zu deuten ist oder ob in der Rechtfertigungsbedingung von Wissensanalysen internalistische und externalistische Bedingungen kombiniert werden müssen. 23 

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Aus diesen Überlegungen ergibt sich der folgende Explikationsvorschlag: (EQ) Epistemische Quellen im generischen Sinne sind die positiven Bedingungen, die man in adäquaten Typen von Antworten auf die Frage »Auf welcher rechtfertigungsrelevanten Grundlage glaubst Du das?« anführen kann. Betrachten wir, um dies weiter zu klären, relevante Frage-Antwort-Paare: (Q) Woher weißt Du das? Warum glaubst Du das?  / /  bzw. in der 3. Person: Woher weiß er / sie das? Warum glaubt er / sie das? (R.1) … weil ich es gesehen habe / /  … weil er / sie es gesehen hat. (Wahrnehmung) (R.2) … weil es mir bewußt ist / /  … weil es ihm / ihr bewußt ist. (Selbstwissen) (R.3) … weil ich mich daran erinnere / /  … weil er / sie sich daran erinnert. (Erinnerung) (R.4) … weil es aus … folgt. (Deduktives Schließen) (R.5) … weil es gewöhnlich so geschieht. (Induktives Schließen) (R.6) … weil ich es unmittelbar einsehe / /  … weil er / sie es unmittelbar einsieht. (Rationale Einsicht; Verstand) Wenn man diese Antworttypen zuläßt, gibt es keinen Grund mehr, das Zeugnis anderer als Quelle auszuschließen. (R.7) … weil S es mir mitgeteilt hat / / … weil S es ihm / ihr mitgeteilt hat. (Zeugnis anderer) Aus meiner Explikation von »epistemische Quelle« ergibt sich übrigens, daß auch Kohärenz eine prima facie-Erkenntnisquelle ist. Denn auch die Antwort (R.8) … weil es so gut zu dem paßt, was ich sonst glaube / /  … weil es so gut zu dem paßt, was er / sie sonst glaubt. (Kohärenz) ist manchmal eine adäquate Antwort auf unsere Fragen »Woher weißt Du das?« bzw. »Warum glaubst Du das?« Ich akzeptiere diese Konsequenz, auch wenn sie die Menge der Erkenntnisquellen noch einmal heterogener macht. Zusammenfassend halte ich fest: (EQ+) Epistemische Quellen im generischen Sinne sind die teils individuellen, teils sozialen, teils strukturellen positiven Bedingungen, die man in adäquaten Typen von Antworten auf die Frage »Auf welcher rechtfertigungsrelevanten Grundlage glaubst Du das?« anführen kann. Diese Explikation könnte sicher weiter elaboriert und präzisiert werden; aber zur Orientierung in den folgenden Untersuchungen mag sie genügen.

5.  Wahrnehmung und das Zeugnis anderer Vor diesem Hintergrund möchte ich nun das Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle betrachten. Zum Vergleich werde ich die Wahrnehmung, vereinzelt auch die Erinnerung heranziehen. Da es mir nicht primär darum geht, eine bestimmte Wahrnehmungsthe-

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orie zu verteidigen, sondern darum, verschiedene Erkenntnisquellen fair miteinander zu vergleichen, werde ich mich im folgenden nur auf relativ unstrittige Eigenschaften dieser Quelle stützen. 26 (W1) Sowohl niedere Tiere (d. h. solche ohne propositionale Einstellungen) als auch höhere Tiere und Menschen (solche mit propositionalen Einstellungen) besitzen perzeptuelle Systeme.27 (W2) In höheren Tieren mit perzeptuellen Systemen werden Wahrnehmungsüberzeugungen gebildet, die, wenn weitere Bedingungen erfüllt sind, Wissen darstellen können. (W3) Wahrnehmung ist eine basale Quelle von Repräsentationen, von Überzeugungen, von Rechtfertigung und von Wissen. Sie kann Wissen liefern, ohne von dem Wirken einer anderen Quelle des Wissens oder der Rechtfertigung abzuhängen. (W4) Wahrnehmung ist eine fehlbare epistemische Quelle: Sie bringt gelegentlich Fehlrepräsentationen und falsche Überzeugungen hervor. (W5) Wahrnehmung besitzt wesentlich eine kausale Komponente. Wenn ein Subjekt einen Gegenstand, ein Ereignis oder eine Szene wahrnimmt, wird es von Eigenschaften des Gegenstandes, des Ereignisses oder der Szene affiziert. (W6) Perzeptuelle Systeme besitzen biologische Funktionen. Sie tragen dazu bei, daß sich Lebewesen in ihrer Umwelt zurechtfinden, und erhöhen damit deren Chancen auf Überleben und Reproduktion. (W7) Perzeptuelle Systeme haben genuin sinnesphysiologische und psychologische Funktionen, insbesondere: (i) die Unterscheidung von Stimuli; (ii) die Integration von Erregungsmustern im Zentralnervensystem; (iii) die Repräsentation von einzelnen Gegenständen und Ereignissen, sowie von Instanziierungen von Eigenschaften (Gestalt; Farbe etc.) und Relationen (Entfernung; Bewegung etc.) der Außenwelt; (iv) das Wiedererkennen von einzelnen Gegenständen und Ereignissen sowie von Instanziierungen von Eigenschaften und Relationen der Außenwelt und (v) die Verhaltenssteuerung, insbesondere die Navigation durch die Umwelt. 28 (W8) Perzeptuelle Erfahrungen besitzen Empfindungsqualitäten. (W9) Perzeptuelle Systeme sind in mehreren Hinsichten komplexer als bloße sensorische Detektorsysteme: (W9.1) Die durch die Wahrnehmung erzeugten (bzw. reaktivierten) Repräsentationen tragen zu den Funktionen des gesamten Lebewesens bei.

26  Zur gegenwärtigen Diskussion vgl. T. Crane (Hg.), The Contents of Experience und R. Schantz (Hg.), Wahrnehmung und Wirklichkeit. 27  Vgl. T. Burge, »Perceptual Entitlement«, 505 und die dort in Anmerkung 3 genannte Literatur. 28  Zur Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie vgl. N. Birbaumer / R. F. Schmidt, Biologische Psychologie, Kap. III.

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(W9.2) Perzeptuelle Erfahrungen besitzen Intentionalität, d. h. (i) sie sind auf Gegenstände gerichtet, und (ii) mit ihnen ist eine bestimmte Aspektgestalt verbunden.29 (W9.3) In perzeptuellen Systemen werden Rechenoperationen über Repräsentationen durchgeführt. (W9.4) Perzeptuelle Systeme ermöglichen verschiedene Formen von Wahrnehmungskonstanz (z. B. Größen-, Form-, Helligkeits-, Farbkonstanz). 30 Soviel rekapitulierend zur Wahrnehmung. Zum Zeugnis anderer muß ich etwas ausholen. Klar sollte sein, daß in unserem erkenntnistheoretischen Zusammenhang nicht primär an Zeugenaussagen vor Gericht31 gedacht ist. Häufiger und der Sache nach grundlegender als solche formellen Zeugnisse sind die zahllosen informellen Zeugnisse, die wir tagtäglich geben und empfangen. 32 Sinnvoll dürfte es sein, sich an einem typischen und vollblütigen Fall als Paradigma zu orientieren und dann Ausweitungen dieses Kernbegriffs zu betrachten. Als paradigmatisch kann eine kommunikative Handlung gelten, bei der sich folgende Relata unterscheiden lassen: Ein Zeugnisgeber S vollzieht in mündlicher oder schriftlicher Form einen assertorischen Sprechakt mit dem Inhalt, dass p, der dazu dienen soll oder zumindest dazu geeignet erscheint, einen Adressaten, den Zeugnisempfänger H, über einen in Frage stehenden Sachverhalt p zu informieren. Von zentraler Bedeutung ist die Funktion des Zeugnisses zu belegen bzw. wahrscheinlich zu machen. 33 Zeugnisse treten von Seiten des Zeugnisgebers mit dem Geltungsanspruch der Wahrheit auf. Zur Geschichte der Behandlung des Zeugnisses anderer habe ich bei anderen Gelegenheiten Hinweise gegeben.34 Hier möchte ich einige systematische Thesen – manche unstrittig, manche strittig – erläutern und verteidigen: (Z1) Das Zeugnis anderer ist eine dem Menschen eigentümliche epistemische Quelle. (Z2) Menschen bilden aufgrund des Zeugnisses anderer Personen Überzeugungen, die, wenn weitere Bedingungen erfüllt sind, Wissen darstellen können. (Z3) Das Zeugnis anderer ist eine epistemisch wesentliche Quelle. Vgl. J. R. Searle, Intentionality. Vgl. V. Walsh / J. Kulikowsky (Hgg.), Perceptual Constancy und T. Burge, »Perceptual Entitlement«, 514 ff. 31  Ein Zeugnis im formellen rechtlichen Sinne ist die mündliche oder schriftliche Aussage eines Zeugen über selbstwahrgenommene rechtserhebliche Tatsachen zum Zwecke des rechtlichen Beweises. Dem Zeugen wird dabei, indem er formal als solcher eingesetzt wird, ein besonderer Status zuerkannt – in der Erwartung, daß er über die Autorität, Kompetenz und Aufrichtigkeit verfügt, Aussagen zu machen, die für die Entscheidung einer offenen oder strittigen Frage von Belang sind. 32  Weniger klar ist, wo genau die Grenze zu ziehen ist. Wenn man etwa jede sprachliche Äußerung zuließe, ist dies einerseits viel zu weit, weil bei weitem nicht alle Äußerungen Zeugnisakte sind; andererseits aber auch zu eng, weil viele nicht-sprachliche Zeichenhandlungen als Zeugnisse dienen können. 33  Diese evidentielle Funktion ist häufig intendiert, braucht dies aber nicht zu sein; so werten etwa Historiker mündliche und schriftliche Quellen als Zeugnisse für historische Tatsachen aus, die nicht in dieser Funktion beabsichtigt waren. 34  Vgl. die Bibliographie. 29  30 

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Das, was wir summarisch »unser Wissen« nennen, wäre völlig anders, wenn uns diese Quelle nicht zur Verfügung stünde. Wir sind auf das Zeugnis anderer angewiesen, denn so betont schon Hermann Conring: »omnia experiri non possumus ipsimet nos«35, oder Kant: »weil wir nicht alles selbst erfahren können«. 36 Nicht allein im »gemeinen Leben«, auch in den Wissenschaften sind wir auf das Zeugnis anderer angewiesen: »z. E. die Geographie, die Physic, die Historie, und andere Wissenschaften setzen allemahl die Erfahrungen anderer voraus.«37 Wie sehr wir von dieser Quelle abhängen, macht man sich am einfachsten durch die Gegenprobe klar. Man überlege sich, wie wir ohne sie dastünden: »[…] wir würden keine größere Erkenntnisse haben, als höchstens des Orts, wo wir leben, und der Zeit, in der wir leben«. 38 (Z4) Das Zeugnis anderer ist eine soziale Erkenntnisquelle. Sie impliziert zum einen die Beteiligung mehrerer Personen; und sie ermöglicht zum anderen die Bildung großer epistemischer Gemeinschaften, in denen räumliche und zeitliche Grenzen überschritten werden. (Z5) Das Zeugnis anderer ist eine kulturelle Erkenntnisquelle. Dies ebenfalls in zweierlei Hinsicht: Diese Quelle beruht wesentlich auf kulturellen Institutionen wie dem Gebrauch von Sprachen und anderen konventionalen Zeichensystemen; und sie ermöglicht kulturelle Prozesse wie Lehren und Lernen, Tradition und Geschichtsschreibung. (Z6) Das Zeugnis anderer ist eine fehlbare epistemische Quelle. Schon Leonard Euler (1707–1783), der neben der eigenen Erfahrung und den Vernunftschlüssen »den Bericht eines andern« als gleichberechtigte dritte Erkenntnisquelle anerkannte, bemerkte: Da jede der drei »Quellen unserer Erkenntnisse« irrtumsanfällig sei, könne dies »also kein Vorwurf« sein, »den man der dritten Quelle mehr, als den beyden übrigen machen dürfte.«39 Es folgen Thesen zum Verhältnis zwischen dem Zeugnis anderer und der Wahrnehmung: (Z7) Das Zeugnis anderer hängt insofern operational von der Wahrnehmung ab, als der Zeugnisempfänger über ein perzeptuelles System (typischerweise: akustische oder visuelle Wahrnehmung) verfügen muß. (Z8) Das Zeugnis anderer ist phylogenetisch und ontogenetisch später als die Wahrnehmung.

35  Hermann Conring in einem Brief an Johann Eisenhart, zitiert nach M. Völkel, »Pyrrhonismus historicus« und »fides historica«, 346, vgl. 110. 36  I. Kant, Logik-Vorlesung, 601. 37  I. Kant, AA XXIV.1, 245. 38  I. Kant, AA XXIV.1, 245 f. 39  L. Euler, Briefe an eine deutsche Prinzessin, 134.

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Tiere und Androiden hatten die Fähigkeit zur Wahrnehmung, bevor sie die Fähigkeiten entwickelt haben, Zeugnisse zu geben und zu empfangen. Kinder können bereits kurz nach der Geburt (ja zum Teil schon vor der Geburt) etwas wahrnehmen; Zeugnisse geben und empfangen können sie erst, wenn sie eine Sprache (oder zumindest ein konventionales Zeichensystem) erworben haben, in dem das Zeugnis ausgedrückt werden kann. Andererseits gilt aber auch: (Z9) Ein großer Teil der menschlichen Wahrnehmungen ist zeugnisbeladen. Blicken wir noch einmal auf eine der Kennzeichnungen von Wahrnehmung zurück: (W3) Wahrnehmung ist eine basale Quelle von Repräsentationen, von Überzeugungen, von Rechtfertigung und von Wissen. Sie kann Wissen liefern, ohne von dem Wirken einer anderen Quelle des Wissens oder der Rechtfertigung abzuhängen. Zwar trifft es zu, dass Wahrnehmung ohne Begriffe, ohne Erinnerung und ohne das Zeugnis anderer möglich ist. Schließlich verfügen auch viele Tiere über komplexe perzeptuelle Systeme. Aber für die menschliche Wahrnehmung ist es kennzeichnend, dass sie begrifflich strukturiert und von Erinnerungen und dem Zeugnis anderer imprägniert ist. Wie wir im folgenden noch deutlicher sehen werden, beleben sich die Erkenntnisquellen in der menschlichen Kognition wechselseitig. (Z10) Durch das Zeugnis anderer kann Wissen nicht nur weitergegeben, sondern auch ermöglicht werden. Damit meine ich folgendes: Ein Zeugnisempfänger H kann Wissen, dass p, erwerben, auch wenn der Zeugnisgeber S, der ihm mitgeteilt hat, dass p, selbst nicht im strengen Sinne Wissen, dass p, besaß. Ein solches Szenario ist auf verschiedene Weisen möglich; etwa so, (i) dass S die Überzeugungsbedingung nicht erfüllt, oder auch so, (ii) dass S die Rechtfertigungsbedingung nicht erfüllt. (i)  S mag nicht in dem für Wissen erforderlichen Maße von p überzeugt sein. Jennifer Lackey bringt das Beispiel einer kreationistischen Lehrerin, die ihren Schülern Unterricht in darwinistischer Evolutionstheorie erteilt.40 Sie selbst glaubt an den Kreationismus; nichtsdestoweniger kann sie eine verläßliche Zeugnisgeberin bezüglich der biologischen Evolution sein. Die Überzeugungsbedingung ist nicht erfüllt; die Lehrerin weiß a fortiori nicht, dass die darwinistische Evolutionstheorie wahr ist. Gleichwohl können ihre Schüler in ihrem Unterricht Wissen über die darwinistische Evolutionstheorie erwerben. (ii)  S verfügt zwar über gewisse Gründe, welche die Überzeugung, dass p, rechtfertigen, aber diese Gründe sind zu schwach, um die Schwelle für Wissen zu erreichen. H mag über sehr gute Gründe für die Überzeugung, dass p, verfügen; aber er hat nie an diese Proposition gedacht; erst die Äußerung von S,

J. Lackey, »Testimonial Knowledge and Transmission«, 477 f. und Learning from Words, 48–53. 40 

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dass p, ermöglicht beides, die Proposition, dass p, und die rechtfertigenden Gründe in geeigneter Weise zu einer wahren und gerechtfertigten Überzeugung, dass p, zusammenzubringen. (Z11)  Das Zeugnis anderer ist eine epistemische Quelle, die sich nicht auf die individuellen Quellen (Wahrnehmung, Selbstbewußtsein, Erinnerung, Verstand etc.) reduzieren läßt. Die Argumentationen, die zeigen, dass der Reduktionismus bezüglich der Erkenntnisquelle des Zeugnisses anderer in seinen verschiedenen Spielarten unhaltbar ist, weil er nicht nur praktisch undurchführbar, sondern sogar inkohärent ist, habe ich bei anderer Gelegenheit rekonstruiert und verteidigt.41

6.  Das Zeugnis anderer und die übrigen Erkenntnisquellen: Analogien und Wechselwirkungen Im Rahmen des vorliegenden Beitrages konzentriere ich mich auf die Argumente, die mit dem Vergleich zwischen dem Zeugnis anderer und den anderen Quellen, insbesondere der Wahrnehmung, zu tun haben.

(1) Argumente aus der Analogie unserer epistemischen Quellen Ein Strang von Argumenten schlachtet die tiefgehenden Analogien aus, die zwischen der Erkenntnis aus dem Zeugnis anderer und den traditionell akzeptierteren epistemischen Quellen bestehen. Auf solche Analogien hatte schon Thomas Reid hingewiesen. Wie erwähnt, kann die vermeintliche epistemische Inferiorität des Zeugnisses anderer nicht der unleugbaren Tatsache geschuldet sein, daß diese Quelle fallibel ist. Denn schließlich ist jede der epistemischen Quellen (sogar der Verstand) fehlbar und korrigierbar. In dieser Hinsicht sitzt die Testimonialerkenntnis also im selben Boot wie die anderen Quellen. Sehen wir uns also nach aussichtsreicheren Versionen des Inferioritätsverdachts um. Betrachten wir als nächstes diesen Vorschlag: Wenn es zu einem Konflikt zwischen dem Zeugnis anderer und der Wahrnehmung kommt, muß stets der Wahrnehmung der Vorzug gegeben werden. Dazu ist folgendes zu sagen: Freilich ist es richtig, daß uns eine Wahrnehmung in vielen Fällen dazu bringen wird, das eine oder andere Zeugnis zurückzuweisen. Diese wichtige Einsicht muß jedoch um Betrachtungen ergänzt werden, die das Bild ausbalancieren: In manchen Fällen werden wir dem, was andere Beobachter uns sagen, (mit Recht) mehr Gewicht beimessen, als dem, was wir selbst zu sehen glaubten – besonders dann, wenn die anderen Beobachter in einer besseren

Vgl. besonders O. R. Scholz, »Das Zeugnis anderer – Prolegomena zu einer sozialen Erkenntnistheorie«. 41 

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Position waren, um die fraglichen Vorgänge zu beobachten; mit anderen Worten: nicht selten akzeptieren wir bereitwillig die Korrektur unserer (Fehl-)Wahrnehmungen durch die Berichte anderer. Zwischen dem Rückgriff auf Zeugnisse anderer und dem Rückgriff auf Erinnerungen bestehen noch engere Parallelen.42 Wenn wir aufgrund einer Erinnerung eine Überzeugung bilden, gelangen wir im Regelfall nicht auf dem Wege eines Schlusses aus Annahmen über die gegenwärtige oder durchschnittliche Verläßlichkeit dieser epistemischen Quelle zu dieser Überzeugung. Sicherlich gibt es auch hier Ausnahmen; aber sie können nicht die Regel sein. Wenn ich den Eindruck habe, mich auf ein Geschehnis zu besinnen, aber außerdem glaube, daß mein Gedächtnis nicht verläßlich ist, dann mag ich zwar über die Wahrscheinlichkeit nachdenken, daß mein Gedächtnis mir einen Streich gespielt hat. Komme ich zu der Einschätzung, daß dies im gegenwärtigen Falle eher unwahrscheinlich ist, werde ich schließen, daß die Erinnerung nicht getrogen und somit das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Hier war ein Schluß vonnöten, um einen Zweifel zu zerstreuen. Aber im Normalfall taucht gar kein solcher Zweifel auf. Im Regelfall ist meine Erinnerung an ein Ereignis einfach die Reaktivierung der Überzeugung, daß das Ereignis stattgefunden hat.43 Etwas ähnliches gilt offenbar in dem Fall, in dem ich aufgrund des Zeugnisses anderer zu einer Überzeugung oder zu einem Wissen gelange. Im Regelfall kommt dies nicht durch einen Schlußvorgang zustande – zumindest nicht durch einen Schluß aus empirisch untermauerten Annahmen über die Glaubwürdigkeit des Sprechers. Natürlich kann es in besonderen Fällen so ablaufen. Wenn ich aus Erfahrung weiß, daß auf einen bestimmten Informanten – in bezug auf ein gegebenes Thema – wenig Verlaß ist, könnte ich im Falle einer entsprechenden Auskunft aufwendige Wahrscheinlichkeitserwägungen darüber anstellen, ob er sich vielleicht irrt, ob er unaufrichtig ist oder sich einfach einen Spaß erlaubt, und am Ende zu einer Einschätzung gelangen. Aber solche Raisonnements stellen die seltene Ausnahme dar.

(2) Argumente aus der wechselseitigen Abhängigkeit unserer epistemischen Quellen Abschließend möchte ich hervorheben, daß jede These einer generellen epistemischen Inferiorität der Testimonialerkenntnis aus fundamentalen Gründen zum Scheitern verurteilt ist. Wie bereitwillig eingeräumt wurde, können wir zwar nicht in den Genuß der Zeugnisse anderer Personen kommen, wenn wir sie nicht erst einmal wahrgenommen und verstanden haben (vgl. oben Z 7). Nichtsdestoweniger impliziert diese Art von Abhängigkeit keine generelle epistemische Inferiorität des Zeugnisses anderer, und zwar schon deshalb, weil sie die Möglichkeit offen lässt, dass sich die Verhältnisse – jedenfalls bei der vollentwickelten menschlichen Kognition – als Beziehungen der wechselseitigen Abhängigkeit entpuppen. 42  Ausführliche Vergleiche zwischen dem Zeugnis anderer und der Erinnerung stellen T. Burge, »Content Preservation« und M. Dummett, »Testimony and Memory« an. 43  Vgl. M. Dummett, »Testimony and Memory«, 260.

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Der Reduktionist setzt voraus, daß das Zeugnis anderer von der individuellen Wahrnehmung, der Erinnerung und dem Schließen in hinreichender Weise zu trennen ist, so daß es einer unabhängigen Beurteilung fähig wird. Diese unterstellte Trennbarkeit entpuppt sich im Falle der menschlichen Erkenntnis als Illusion. Es gibt tatsächlich einen hohen Grad von individueller und sozialer wechselseitiger Durchdringung und Bereicherung der Erkenntnisquellen. Die folgenden Überlegungen stellen die Annahme der Separierbarkeit in Frage und verdeutlichen im Gegenzug die tiefgehende wechselseitige Abhängigkeit der epistemischen Quellen beim Menschen. Ein beträchtlicher Teil unseres Wahrnehmens, Wiedererkennens und Klassifizierens ist dadurch geprägt, daß wir soziale sprachverwendende Geschöpfe sind und uns die Beobachtungen, Erinnerungen und Theorien unserer Mitmenschen zunutze machen.44 Diese Überlegungen liefern den Hintergrund für ein Argument, das die Abhängigkeit der Wahrnehmung von dem, was wir von anderen gehört haben, oder besser gesagt: die wechselseitige Verknüpfung beider Quellen akzentuiert: (ARG) Der größte Teil der menschlichen Wahrnehmung ist Wahrnehmung-als, genauer: Wahrnehmung von etwas (x) als etwas (F). Anders gesagt: Die meisten menschlichen Wahrnehmungen schließen die Anwendung von Begriffen ein. Der Besitz eines Begriffs geht mit dem Besitz eines Stereotyps45, d. h.: einer rudimentären Alltagstheorie, über die Dinge einher, die unter den Begriff fallen. In aller Regel war das Zeugnis anderer wesentlich am Erwerb dieser Theorie und damit am Erwerb des entsprechenden Begriffs beteiligt. Was landläufig als »Wahrnehmungsmeinungen« bezeichnet wird, sind also in den meisten Fällen gemeinsame Errungenschaften der Sinnlichkeit, der Erinnerung und des Zeugnisses anderer.

7.  Menschliche Erkenntnis Zum Abschluss können wir eine allgemeine Lehre aus meinen Betrachtungen ziehen. Sie betrifft das Spezifische der menschlichen Kognition. Der Effekt davon – neben den Fähigkeiten zum Wahrnehmen, Erinnern und Schließen –, von anderen Personen lernen zu können, ist nicht einfach additiver Art. Was wir dem Zeugnis anderer entnehmen, vermehrt unseren Schatz gerechtfertigter Meinungen nicht nur in quantitativer Hinsicht, es beeinflußt, bereichert und differenziert auch die anderen Quellen. Dies wird besonders deutlich, wenn man ein Tier, das über keine Sprachfähigkeit verfügt, mit einem menschlichen Kind und erst recht mit einem Erwachsenen vergleicht. Der deutliche qualitative Sprung zwischen den kognitiven und epistemischen Fähigkeiten von Tieren, die ja auch über Sinne, Erinnerung und sogar über einfache Formen des Schließens verfügen, und uns Menschen erklärt sich wesentlich daraus, daß uns die sozialen Institutionen der Sprache und des Zeugnisgebens und -annehmens zu Gebote stehen. Darauf beruht die Möglichkeit von Kultur, Tradition und Geschichte. 44  Dies betonen u.a. C. A. J. Coady, Testimony, 168–176 und P. F. Strawson, »Knowing from Words«, 25–27. 45  Vgl. H. Putnam, »The Meaning of ›Meaning‹«, 247.

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Das Zeugnis anderer als soziale und kulturelle Erkenntnisquelle

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Kolloquium 27  ·  Oliver R. Scholz

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Kolloquium 29 Hochschuldidaktik der Philosophie

Johannes Rohbeck Einführung Volker Steenblock Philosophische Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaft Johannes Rohbeck Didaktische Transformation philosophischer Methoden Thomas Rentsch Der Status der Philosophie in hochschuldidaktischer Perspektive

Einführung Johannes Rohbeck

Bis vor einigen Jahren beschränkte sich die Didaktik der Philosophie auf den Unterricht an allgemein bildenden Schulen und auf das Philosophieren mit Kindern. Zu diesem Bereich fanden früher Sektionen auf den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (damals noch der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie) statt, an denen vor allem Lehrerinnen und Lehrer aus der Region teilnahmen. Aus Anlass dieses Kongresses hatte ich die Gelegenheit, die Ergebnisse eines Kolloquiums zu präsentieren, das sich in der Mehrzahl an Dozenten aus Hochschulen und Universitäten wendete. Daher hielte ich es für sinnvoll, diesmal die Hochschuldidaktik der Philosophie zum Thema zu wählen, mit dem die Philosophiedidaktik ein neues Forschungsfeld eröffnete.1 Nun könnte man einwenden, die akademische Lehre der Philosophie sei bisher ohne didaktische Unterweisung ausgekommen. Doch in jüngster Zeit hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Gegenwärtig steht das Studium vor einem Umbruch, der mit den Universitätsreformen der siebziger Jahre vergleichbar ist. Bundesweit geplant und teilweise schon realisiert sind konsekutive Studiengänge, in denen auf ein Grundlagenstudium (Bachelor) ein vertiefendes und spezialisierendes Aufbaustudium (Master) folgt. Diese Strukturveränderung ist gar nicht vermeidbar, weil davon die internationale Anschlussfähigkeit deutscher Universitäten und Hochschulen abhängt. Wohl aber ist darüber nachzudenken, wie diese Reform auch als Chance genutzt werden kann, das Philosophiestudium zu verbessern. Die Einführung der neuen Bachelor-Studiengänge hat zum Ziel, das Studium zu straffen, zu gliedern und auf Wesentliches zu konzentrieren. Außerdem ist das Studium praxisnäher zu gestalten, um die Studierenden auf spätere Berufe vorzubereiten. Dazu sollen nicht bloß Inhalte vermittelt, sondern bestimmte Kompetenzen erworben werden. Kritiker sehen darin die Gefahr einer Pädagogisierung und Didaktisierung des Studiums. Wie auch immer man zu dem Versuch stehen mag, das Studium insgesamt zu verschulen, so stellt sich gleichwohl die Aufgabe, neue Konzepte des Lehrens und Lernens zu entwickeln. Darin besteht die Aktualität der Hochschuldidaktik, der sich auch das Fach Philosophie nicht verschließen kann. Zur Einführung in dieses Thema möchte ich zwei Grundsätze hervorheben: Der erste besteht darin, die Didaktik nicht als ein äußeres oder technisches Instrument zu betrachten, sondern aus dem eigenen Fach zu entwickeln. In unserem Fall stellt sich die Frage nach den didaktischen Potenzialen der Philosophie, die sich in bestimmte Me-

1 

Siehe auch J. Rohbeck, Hochschuldidaktik Philosophie.

1406

Kolloquium 29  ·  Johannes Rohbeck

thoden des akademischen Unterrichts transformieren lassen. 2 Ganz allgemein gehören dazu die Forderung Kants, die Lernenden zum »Selber Denken« anzuleiten, die kritische Ergänzung Hegels, mit Hilfe von Texten die »Gedanken der Klassiker nachzudenken«, Kierkegaards Forderung nach einer wachsenden »Selbsterkenntnis beim Philosophiestudium«, um die Philosophie als »Weltweisheit und Lebensform« zu vermitteln. Der zweite Grundsatz hängt mit der Umstellung auf die Bachelor-und Masterstudiengängen zusammen. Diese Reform versteht sich ja nicht nur als eine Umgruppierung des Stoffs, sondern enthält den didaktischen Kerngedanken, das bloße Kennen-Lernen von Inhalten durch den Erwerb von Kompetenzen zu ersetzen. 3 Mit dem Begriff Kompetenz ist die Fähigkeit und Fertigkeit gemeint, mit erworbenem Wissen flexibel und selbstständig umzugehen. Die Studierenden sollen in die Lage versetzt werden, ihr Wissen auf gewandelte Kontexte zu übertragen, sei es auf andere wissenschaftliche Disziplinen, sei es auf konkret praktische Situationen. Ziel ist also das wirkliche Tun und das geübte Können. Zu diesen Kompetenzen gehören vor allem: Lesekompetenz bei der Lektüre philosophischer Texte; Schreibkompetenz beim Verfassen eigener Texte; soziale Kompetenz im Dialog als einem wesentlichen Merkmal lebendigen Philosophierens; interkulturelle Kompetenz, indem die Studierenden lernen, kulturelle Phänomene zu interpretieren, grundlegende Deutungsmuster und religiöse Weltbilder zu reflektieren; Urteilskompetenz, indem man sich im Philo­sophiestudium methodisches Wissen aneignet, mit dessen Hilfe ethische Probleme lösbar oder zumindest klarer erkennbar sind; Orientierungskompetenz, um Wissen gemessen an eigenen Zielvorstellungen be­werten zu können; interdisziplinäre Methodenkompetenz, um das Lernen selbst erlernbar zu machen und methodisch zu reflektieren. Die folgenden Beiträge stellen erste Versuche auf dem neuen Feld einer Hochschuldidaktik der Philosophie dar. Volker Steenblock beschreibt in seinem Beitrag »Philosophische Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaft« den institutionellen Ort der Philosophiedidaktik innerhalb der vorhandenen Strukturen unseres Bildungssystems.4 Dabei unterscheidet er zwischen den Ebenen der Philosophie als Wissenschaft und Kulturfaktor, der Philosophiedidaktik als einer Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft sowie der professionalisierten Pädagogik, die sowohl bestimmte Bildungsideen formuliert als auch empirische Unterrichtsforschung betreibt. Steenblock plädiert für eine verbesserte Kommunikation zwischen diesen häufig getrennten Bereichen, um die Philosophie als autonome Wissenschaft mit der Lebenswelt der Studierenden besser zu vermitteln. Um dieses Anliegen zu befördern, schlägt er eine »Verbindungsachse« aller Bildungsorte vor, die den notwendigen Zusammenhang einer Bildung insgesamt ver-

2  J. Rohbeck, »Vermittlung und Transformation«, 10 ff. 75 ff. im Folgenden zitiere ich P. Thomas, »Was und wie lernen? Gedanken über den Sinn einer Hochschuldidaktik Philosophie«. 3  J. Rohbeck, »Philosophische Kompetenzen«; erinnert sei an die »Bonner Erklärung« der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland vom 25. September 2002. 4  Vgl. V. Steenblock: »Eule über’m Campus. Kontexte und Konzepte für ein Philosophiestudium / Lehramtstudium Philosophie / Praktische Philosophie an der Ruhr – Universität Bochum«.

Einführung

1407

sinnbildlicht. Der spezifische Beitrag der Philosophie soll darin bestehen, Orientierung und Reflexion methodisch klarer zu gestalten. Eine solche Vermittlung von Philosophie und Lebenswelt streben auch Thomas Rentsch und Johannes Rohbeck an, die am Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden gemeinsam Seminare durchgeführt haben. Aus dieser seltenen Kooperation zwischen Philosophie und ihrer Didaktik ist das Projekt »Denkrichtungen der Philosophie in didaktischer Perspektive« hervorgegangen, 5 in dem die Studierenden die Kompetenz erwerben, die spezifischen Methoden der Philosophie produktiv anzuwenden. Dieses Projekt wird in den ersten beiden Beiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln vorgestellt. In »Didaktische Transformation philosophischer Methoden« begründet Johannes Rohbeck die didaktische Leitidee, die darin besteht, die Denkrichtungen der Philosophie in philosophische Methoden des Unterrichts zu transformieren. Trans­formation bedeutet die Übertragung und Umformung der Philosophie in philosophische Prakti­ ken, die von den Studierenden erlernt und selbstständig durchgeführt werden können. Das erfor­dert eine Auswahl, Modifizierung und Ergänzung derjenigen Möglichkeiten, die sich im didaktischen Kontext besonders gut realisieren lassen. Ziel ist es, die Lehre auf diese Weise vielfältiger zu gestalten und eine spezifisch philosophische Methodenkompetenz zu vermitteln. Komplementär dazu reflektiert Thomas Rentsch in »Der Status der Philosophie in didaktischer Perspektive« die Fundierung der philosophischen Denkrichtungen in der Lebenswelt. Er zeigt, wie durch konkrete Schreibübungen die philosophische Metasprache aus ihrer abgehobenen, theoretischen und wohl auch abschreckenden Isolation befreit und in Praxis übersetzt werden kann. Dabei hält er sie sogar für entbehrlich, wenn die mit ihr ja nur formal und strukturell angezeigten Sachverhalte der Konstitution der Lebenswelt im lebendigen Vollzug an einem jeweils konkreten, wirklich einschlägigen Musterbeispiel veranschaulicht werden können. Auf diese Weise wird zum Beispiel die methodische Intention der Phänomenologie wieder neu zugänglich, indem die Studierenden verborgene und verdeckte Schichten der alltäglichen Erfahrung freilegen und bewusst machen.

Literatur Rentsch, Thomas / Rohbeck, Johannes: »Essays schreiben – aber mit Methode«, in: J. Rohbeck (Hg.): Hochschuldidaktik Philosophie, Dresden 2007, 75–81 Rohbeck, Johannes (Hg.): Denkrichtungen der Philosophie, Dresden 2001 Rohbeck, Johannes (Hg.): Denkstile der Philosophie, Dresden 2002 5  Siehe die von Johannes Rohbeck herausgegebenen Bände 2, 3 und 4 des Jahrbuchs für Didaktik der Philosophie und Ethik: Denkrichtungen der Philosophie, Denkstile der Philosophie, Didaktische Transformationen; T. Rentsch /  J. Rohbeck, »Essays schreiben  – aber mit Methode«.

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Kolloquium 29  ·  Johannes Rohbeck

Rohbeck, Johannes (Hg.): Didaktische Transformationen, Dresden 2003 Rohbeck, Johannes (Hg.): Hochschuldidaktik Philosophie, Dresden 2007 Rohbeck, Johannes: »Vermittlung und Transformation«, in: ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik, Dresden 2008 Rohbeck, Johannes: »Philosophische Kompetenzen«, in: ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik, Dresden 2008, 91–104 Steenblock, Volker: »Eule über’m Campus. Kontexte und Konzepte für ein Philosophiestudium / Lehramtstudium Philosophie / Praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum«, in: J. Rohbeck (Hg.): Hochschuldidaktik Philosophie, Dresden 2007, 82–105 Thomas, Philipp: »Was und wie lernen? Gedanken über den Sinn einer Hochschuldidaktik Philosophie«, in: J. Rohbeck (Hg.): Hochschuldidaktik Philosophie, Dresden 2007, 15–31

Philosophische Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaft Volker Steenblock »Sehen Sie, im 24. Jahrhundert gibt es kein Geld. Der Erwerb von Reichtum ist nicht mehr die treibende Kraft in unserem Leben. Wir arbeiten, um uns selbst zu verbessern – und den Rest der Menschheit.« »Jean-Luc Picard«

Selbst die unter Profitaspekten hervorgebrachten Produkte der Massen- bzw. Populärkultur wie »Star Trek« scheinen paradoxerweise davon zu träumen, dass der Mensch reflektierter und »besser« leben könnte, als lediglich, wie gegenwärtig weithin, Akteur und Opfer wirtschaftlicher Entwicklungen zu sein. Und sei es nur, um sich ihren kommerziellen Erfolg durch Rekurs auf eben diesem Menschen ureigene Erwartungen und Wünsche zu sichern, jonglieren manche Utopien die »humanistische Philosophie« eines zivilisatorisch nachhaltig transformierten Menschenlebens. Für eine solche noch aus überraschenden alltagsweltlichen Kontexten (und in zweifellos diffuser Begriffsverwendung) anvisierte »Verbesserung«1 werden, wo sie jenseits der Welt der Fiktion Wirklichkeit werden soll, in der täglichen Arbeit des gesellschaftlichen Handelns im Allgemeinen Bildungsprozesse angesetzt. »Die Bildung« freilich, nun ernsthaft als ein ebenso traditionsreiches wie hochaktuelles philosophisch-pädagogisches Projekt betrachtet, gibt es ihrerseits nur als Vision und Ideal. Zwar können wir hoffen, fortschreitenden Bemühungen möge es gelingen, dass sie ihren Begriff als ein schlechthin menschliches Anliegen, als Inbegriff einer humanen Zielperspektive (und damit in gewisser Weise auch als ein zusammenhängendes Ganzes) nachhaltiger erfüllen werde. In der kulturellen Wirklichkeit freilich sehen wir einzelne »Soziotope« unseres real existierenden Bildungssystems eher von einander getrennt agieren. An verschiedenen Schnittstellen begegnen sich zwar diese »Milieus« der Bildung, sie interagieren selbstverständlich auch vielfältig, leider freilich in nicht immer wirklich fruchtbarer Weise. Die Rationalitätsformen und Denkgehalte der Philosophie – und wir können ihnen doch sicherlich eine durchaus signifikante Rolle bei einer womöglichen »Verbesserung« zuschreiben – müssen sich jedoch über die vorhandenen Strukturen des Bildungssystems in die Lebenswelt übersetzen. Auch wenn es andere (potentielle) Vermittlungsformen wie den Buchmarkt – im 18. Jahrhundert anerkanntermaßen vorzügliches Vehikel der Aufklärung –, die Medien, die zwischenmenschliche und gesellschaftliche Kommunikation etc. gibt, bleiben diese Strukturen sicherlich die bestorganisierten und wirkungsvollsten

1  Mit diesem Anspruch ließen sich fast der Steigerungsstatus der seit dem 15. Jahrhundert betriebenen studia humaniora sowie von dort aus die Bezeichnung Humaniora für die Kulturwissenschaften assoziieren.

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Kolloquium 29  ·  Volker Steenblock

Zugriffsmöglichkeiten philosophischer Bildung; ihre Funktionsweise kann also niemandem gleichgültig sein. Ein Blick auf diese Strukturen ist auch deshalb erforderlich, weil andernfalls die Gefahr besteht, lediglich auf einer Ebene abstrakter Großakteure zu verbleiben: »Die Philosophie« oder einzelne Intellektuelle vom Range eines Jürgen Habermas beraten und »orientieren« dann (wenn denn) »die Gesellschaft«. Ich möchte im Folgenden in einem ersten Schritt einige der Akteure, Ebenen bzw. Einzelsysteme unserer Bildungslandschaft, wie ich sie wahrnehme, aus dem Blickwinkel eines Interesses an philosophischer Bildung heraus beschreiben – insbesondere natürlich die immer wieder einmal nach ihrer gesellschaftlichen Rolle befragte Philosophie und ihre Tochter, die Pädagogik, die ihr in dieser Frage vielleicht behilflich sein kann (1). In einem zweiten Schritt werde ich anhand zweier Beispiele darauf eingehen, in welchen Formen diese Bildungsorte bzw. -ebenen miteinander umgehen (2). Das Ergebnis wird Schwierigkeiten in dieser Kommunikation benennen, die, wenn ich richtig sehe, nicht nur aus bestimmten Eigenarten der bestehenden Philosophie resultieren, sondern auch aus gewissen Innovationen in der zu Hilfe gerufenen Erziehungswissenschaft. Als Konsequenz und abschließend will ich deshalb eine Hinsicht skizzieren, derzufolge die Interaktion der Bildungsebenen verbessert werden müsste (3). Der Blick auf nutzenswerte Vernetzungschancen von Lebenswelt und Wissenschaft erlaubt es zugleich, einige grundlegende Konsequenzen für ein gegenwärtiges Selbstverständnis der Philosophiedidaktik anzusprechen, das aus dem Engagement der traditionsreichen Bildung – jenes gemeinsamen Projektes von Philosophie und Pädagogik – lebt, statt sich von ihr zu verabschieden. 1.  Der Klagenfurter Philosoph Peter Heintel hat – vor allem im Blick auf die Antike – den in dieser Epoche so eindrucksvoll vollzogenen ersten Auftritt der Philosophie als »Kulturbewegung« angesprochen, die »in Fühlung und Kontakt zu ihrer Zeit und Umgebung blieb, weil sie mit vielen sprach, viele zur Reflexion verführte, wirksam wurde vor allem bei Nicht  – Philosophen, gefährlich für die Macht, die das Bestehende repräsentierte«. 2 Vielleicht hatte das Auftreten der Philosophie ja tatsächlich einmal solche Züge der Kritik, Aufklärung, Skepsis, Mahnung, Lebenskunst in der Mitte der Gesellschaft, als konstitutives Element kultureller Praxis überhaupt. Vielleicht mag aber auch diese Reprojektion – wie man einwenden könnte – eine ursprünglich in der Antike realisierte gesellschaftliche Existenz der Philosophie recht stark herausstellen: dass die Philosophie durchaus immer wieder kulturell wirksam geworden ist, demonstrieren die geschichtlich ja gar nicht so seltenen Versuche, sie abzuschaffen oder im Dienste vorherrschender Religionen und Weltanschauungen gleichsam zu »zähmen«.

2 

W. Berger / P. Heintel, Die Organisation der Philosophen, 14 ff.

Philosophische Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaft

1411

1.1  Philosophie als Wissenschaft und als Kulturfaktor. Einen solchen womöglich alltagsweltlich wirksamen, zugleich riskierten Status hat die Philosophie freilich nie lange durchgehalten, sondern sich in Schulen und Institutionen für sich organisiert und sich damit zugleich auch in sich zurückgezogen. Es lassen sich gewisse, paradigmatische Auftrittsweisen ihrer Vertreter bereits in der Antike aufzeigen: als Akteure »öffentlicher Bildung« erscheinen sie wohl auch auf der Agorá, alsdann sitzen sie – schwankend zwischen öffentlichem Anspruch und gemeindeähnlicher Praxis – als Meister und Schüler der Lebenskunst im Kepos, also im Garten des Epikur, am Ende arbeiten sie – durchaus weniger öffentlich – als Wissenschaftler in Akademie, Museion und schließlich Universität. 3 Gerade Letzteres kann bis heute als Tribut der Philosophie an die Ausdifferenzierungsprozesse der Teilsektoren in sich entwickelnden Kulturen erscheinen, in denen die direkte Selbstverständigung kleinerer gesellschaftlicher Einheiten zugleich abgelöst wird durch Organisationsformen mit anonymen, indirekten Kommunikationswegen. Zwar sollte man gerade unter solchen neuen Bedingungen erwarten können, dass das Bedürfnis einer breiteren »Öffentlichkeit« nach jeweiliger individueller philosophischer Orientierung, nach Selbst- und Weltreflexion eher größer als kleiner würde. Aber mit ihren institutionellen Ausprägungen, so will es fast scheinen, hat die professionalisierte Disziplin Philosophiewissenschaft zwischenzeitlich ein Zwangsgewand angelegt, das ihre ursprüngliche Gestalt umgeprägt und verformt hat. Obwohl sie sich dem eigenen Anspruch nach mit den grundlegenden Fragen des Menschendaseins überhaupt beschäftigt, ja: sich gar nicht so selten zu Formen der Weltverbesserung aufgerufen fühlt, enttäuscht sie weithin in deren szientifischer Behandlung und wirkt im Allgemeinen nicht eben intensiv und häufig auf die in Gesellschaft und Kultur sich ausbildenden Überzeugungen zurück, aus denen sie doch hervorgegangen ist. Sie scheitert im Grunde an der (Neu-)Organisation ihrer lebensweltlichen Rolle und verletzt nun in ihrer akademischen Spezialisierung beständig, »was Philosophie ursprünglich doch sein wollte. Sie lässt weder Staunen noch unbefangenes Fragen zu«.4 Das oft vorgebrachte Argument, dass nicht alle Menschen zur professionalisierten Gestalt der Philosophie geneigt und geeignet erscheinen, bedeutet nämlich noch lange nicht, dass sie nicht philosophieren wollten, sich nicht als Menschen mit Vernunftgründen in Sinnfragen, wie sie zuletzt z. B. Terry Eagleton und Christian Thies angesprochen haben, orientieren könnten und müssten. Mit Recht hat man nun bemerkt, dass die Rolle der Philosophie in der antiken Polis, in der großen religiösen Epoche der abendländischen Geschichte, in den muslimischen Herrschaften Spaniens bzw. Nordafrikas im 12. Jahrhundert, im Absolutismus und im bürgerlichen Zeitalter Europas nur eine je spezifisch kultur-bzw. zivilisationsab-

Vgl. V. Steenblock, »Philosophische Bildung im Prozess der Kultur«, 74 ff. W. Berger / P. Heintel, Die Organisation der Philosophen, ebd. – Auch die Institution Universität als vornehmlicher »Ort« der Fachphilosophie allerdings erreicht heute deutlich mehr Absolventen als zu Zeiten eines Wilhelm von Humboldt oder auch als z. B. noch in den 1950 er Jahren. 3  4 

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Kolloquium 29  ·  Volker Steenblock

hängige gewesen sein kann, geprägt auch von den weltgeschichtlichen Bewegungen wie Rückschlägen der großen Kulturfaktoren wie Religion und Wissenschaft. In diesen Zusammenhängen hat sie seit jenem fulminanten griechischen Auftakt selbstbestimmter Vernunft bedeutsame Wirkungen entfaltet, so schon in der geistigen Entwicklung des Christentums, vor allem aber als Aufklärung, als politische Theorie bei der Herausbildung des modernen Rechtsstaates, auf dem Wege zur Kodifizierung der Menschrechte usw. Die Philosophie hat schließlich, wenn wir bei dieser generalisierenden Beschreibung für einen Moment verharren dürfen, als Kulturfaktor ohne Zweifel jene Grundrechte und Denkniveaus mit erstritten, die heute als Standards avancierter Gesellschaften und ihrer Reproduktion in Bildungssystemen angesprochen werden können. Sie hat sich dabei in vielfacher Weise in die Entwicklungen der kulturellen Großsysteme verwoben: der Politik, der sie von Platon über Locke bis Marx Begründungsmuster zu geben versucht hat, der Religion im Abendland in einer komplexen KoEvolution, der Naturwissenschaften, deren neuzeitliche Emanzipation sie begleitet hat, und schließlich auch des Marktes, für dessen gegenwärtige Omnipräsenz Adam Smith das Programm geliefert hat. Sie ist in Sonderheit beteiligt an der Freisetzung jener neuzeitlichen szientifisch-technisch-ökonomischen Rationalitätsformen, die die globale Zivilisationsentwicklung entscheidend mitbestimmen, aber auch soziale, ökologische und in der Folge wiederum kulturelle Interferenzen provozieren. Ohne solche Wirkungen an dieser Stelle im Einzelnen nachweisen zu können, möchte ich schließlich auch behaupten: Nicht zuletzt als Folge von Prozessen, an denen die Philosophie sehr wohl beteiligt war, stellt sich die Frage nach den lebensweltlichen Kontexten philosophischer Bildung nunmehr an das systematisch aufgebaute und ausdifferenzierte Bildungssystem einer modernen, hochkomplexen, in vielen Hinsichten spannungsreichen Gesellschaft, in der eine grundsätzliche Bildung immer mehr Menschen zur Verfügung steht. Trotz alledem jedoch bleibt es bei dem Eindruck, gerade in unserer Gegenwart kehre die Fachwissenschaft Philosophie der Gesellschaft den Rücken und werde an den Rand der Kultur gedrängt – in deren »Mitte« aber tummelten sich wirtschaftliche Notwendigkeiten, die heute allfällige Populärkultur und vielleicht noch eine in der »postsäkularen Gesellschaft« wiedererstarkende Religion. Dies betrifft die Philosophie, insofern ihr Status vor allem der einer Wissenschaft ist. Einschlägige sozialphilosophische und soziologische Einschätzungen sehen die modernisierungsbedingt immer komplexer ausdifferenzierten, professionalisierten und institutionalisierten, jedoch zugleich innergesellschaftlich zunehmend »abgekapselten« akademischen Expertenkulturen tendenziell von unseren alltagskulturell üblichen und nötigen lebensweltlichen Verständigungsprozessen mehr und mehr sich ablösen. 5 Dieser Zusammenhang bewirkt alltagsweltlich, dass dieselben Zeitgenossen meistenteils in Karrierestreben, »Konsumismus und Besitzindividualismus«, »Hedonismus« und kulturellen »Verödungssysmptomen« befangen sind, die doch eigentlich von den Orientierungsforen und Sinnangeboten, wie sie etwa die Geisteswissenschaften einzurichten und zu pflegen hätten, profitieren sollten. Der

5 

J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. II, 190.

Philosophische Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaft

1413

Philosophie und den Kulturwissenschaften gelingt es offenkundig nicht hinreichend, den Lebenswert solcher kultureller Bildung überhaupt für eine nennenswerte Zahl von Menschen durchgreifend zu vertreten und zu präsentieren, geschweige denn auf gesamtgesellschaftliche und politische Ziele einen wie auch immer näher anzusetzenden Einfluss auszuüben. Gerade gegenwärtig scheinen vielmehr ein »Verwissenschaftlichungsschub« und »Szientifizierungsprozess« in der akademischen Philosophie unübersehbar, nicht nur hinsichtlich eines bestimmten verbreiteten Gestus ihrer Selbstauffassung und Selbstdarstellung, sondern auch, indem immer mehr, wie man jedenfalls festgestellt hat, über alltagsweltlich immer weniger anschlussfähige und immer speziellere Thematiken geforscht wird. Die Philosophie prozediert in diesem Expertendasein an Instituten und Universitäten, deren Mitgliedern ihr besonderer Status nicht eben beständig zum Problem wird.6 Zwar fragen in gewissen Abständen – insbesondere zum jährlichen »UNESCO -Tag der Philosophie« in jüngerer Zeit wieder  – Tagungen, Vorträge und Zeitschriftenkontroversen in Deutschland: »Warum (noch) Philosophie?« oder »Brauchen moderne Gesellschaften Orientierung und kann die Philosophie sie geben?« Aber nur, wenn denn einmal einer die Menschen zu erreichen scheint, dann fällt ihm auf, wie sehr doch die universitäre Philosophie in einem Soziotop von parallelgesellschaftlicher Beschaffenheit lebe, in einer Universitätslandschaft mit philosophischen und anderen kulturwissenschaftlichen Akteuren, die zu einer breiteren Öffentlichkeit in praktisch kaum einer Beziehung stehen.7 Die Fachphilosophie ist geprägt von einem historisch-systematischen Forschungsprofil; sie umfasst in Deutschland neben zahlreichen weiteren Stellen immerhin über 300 Professuren, dokumentiert sich in Publikationen, Fachzeitschriften, Jahrbüchern, folgt einem »Exzellenz« -Bemühen, wird gesteuert von Kriterien wie Drittmittelakquirierung, richtet »Zentren für …«, Graduiertenkollegs, Forschungsstellen usw. ein und unterliegt mit alldem einer keineswegs zurückzunehmenden organisatorischen Verwissenschaftlichung in dem Sinne, in dem das Soziokonstrukt »Wissenschaft« in den Zeiten des »New Public Management« eben auftritt; Richard Münch hat hierüber geschrieben. Nun gilt zweifelsohne trotz der vorbenannten Beschwerden, dass die Philosophie als professionalisierte Institution gemäß der Logik ihrer Forschung agieren muss, um jene Analysen und Deutungen überhaupt erst hervorbringen bzw. pflegen zu können, deren gesellschaftlich unverzichtbare Orientierungsfunktionen hier in Rede stehen. Ihr Erkenntnisgewinn in Wissenschaftsform zielt darauf ab, Traditionsbestände zu sichern und zu wahren, aber auch ihre Reflexion als Innovation für eine jeweilige Gegenwart immer neu kulturell zu mobilisieren. Je weiter ein solches professionelles Prozedieren

Außer Acht gelassen sind dabei noch ihre sozusagen »internen« Enttäuschungen, gipfelnd in Vorwürfen etwa der Gestalt, dass es der Philosophie nicht gelungen sei, in zweifelsfreier und konsensfähiger Weise Letztbegründungen zu leisten oder gar jene Prinzipien zu formulieren, aus denen heraus eine bessere Gesellschaft sich organisieren ließe. 7  »Wer so eine Ausbildung absolviert hat, der ist zumeist verloren. Er für die Gesellschaft und die Gesellschaft für ihn«. So jedenfalls Richard David Precht, »Sie wollen nur spielen. Warum uns neue öffentliche Denker fehlen«, in: Der Spiegel 45 (2008), 170 f. 6 

1414

Kolloquium 29  ·  Volker Steenblock

der Fachphilosophie aber voranschreitet, um so dringlicher wird es, zugleich nach den unterschiedlichen Formen der Vermittlung des Philosophierens mit gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten zu fragen. Aufgrund der Verwissenschaftlichung der Philosophie bleibt nämlich eben diese Frage offen: Wie steht es nun mit der Verankerung der Philosophie in der Lebenswelt? Was kann sie den Menschen bedeuten?

1.2  Die Philosophie ist mit Recht Wissenschaft, sehen wir, aber es schmerzt sie doch oft genug, sich damit von der »Lebenswelt« eher entfernt zu sehen, diesem eigenartigen Mischgebilde von Alltagskultur und normativen Implikationen.8 Hier lässt sich nun die Philosophiedidaktik ins Spiel bringen, versteht diese sich doch als die Selbstbesinnung der Philosophie auf ihre gesellschaftlichen und kulturellen Wurzeln und Aufgaben. In der Reflexion philosophischer Bildungsprozesse vertritt sie das grundsätzliche Kulturanliegen menschlicher Selbst-und Weltdeutung und sucht nach Wegen, die hierfür nötigen Voraussetzungen unter Gegenwartsbedingungen zu befördern.9 Zu diesem Zweck blickt sie naheliegenderweise vor allem auf die Orte, an denen das Philosophieren stattfindet, auf Universität und Schule, auf das »Philosophieren mit Kindern« und auf Initiativen in der Erwachsenenbildung bzw. die gar nicht so seltenen Diskussionszirkel »vor Ort«; sie tritt mit nicht weniger elementarem Anspruch als die »Kulturtechniken« Lesen, Schreiben und Rechnen an, den Anteil argumentativ-rationaler weltanschaulicher und praktischer Orientierung am »uneingelösten Versprechen« der Bildung für Individuum und Gesellschaft präsent zu halten.

1.3  Die Philosophiedidaktik nimmt mit alledem teil am Geschäft der Pädagogik, die sich mit den Organisationsformen und Funktionsbedingungen eben jenes Bildungssystems beschäftigt, auf das auch eine philosophische Bildung angewiesen ist. Diese Anteilnahme ist notwendig, will man nicht das eingangs dem Populärgenre entnommene Phantasma beschwören,10 dass es das Wesen des Menschen gleichsam immer schon von selbst verlange, in einem diffus normativen Sinne »mehr« aus sich zu machen, sich zu »verbessern«

Ich unterlasse es, die spezifische Karriere der »Lebenswelt« von Husserl bis Habermas usw. einzubeziehen, sondern gebrauche diesen Begriff analog zur »Alltagswelt« als den Ort der uns prägenden Herkünfte, sozialen Beziehungen, jeweiliger kultureller Sinndeutungen sowie insbesondere unseres Bemühens um ein humanes Selbstverständnis.   9  Ein didaktisch angemessener Komplementärbegriff zur Philosophie als Wissenschaft lautet entsprechend durchaus nicht »Lebensberatung« o.ä., wie gelegentlich behauptet. 10  In den angesprochenen Sciencefiction – Szenarien ist es übrigens ein besonderer Innovationsschub der Technik, der die in Rede stehenden gesellschaftlichen Verbesserungen möglich macht: auch dies bekanntlich ein im Populärgenre angekommener alter Traum der Philosophie selbst.   8 

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und »zur Vernunft« sich durchzuringen. Mit der nötigen Teilhabe an den Aufgaben der Pädagogik handelt sich die Philosophiedidaktik allerdings auch eine aktuelle Problemlage ebendieser Pädagogik ein, die sie für sich klären muss, weil es um ein Entscheidendes und Grundsätzliches geht: nämlich um das Verständnis von Bildung überhaupt, speziell um die Frage nach dem Status einer philosophischen Bildung. Dies sei etwas näher beleuchtet. Die Ursprünge der Pädagogik liegen bekanntlich nicht zuletzt in der Philosophie wiederum selbst, nämlich in der Bildungsidee und in der sie im Allgemeinen begleitenden Überzeugung, dass die Hermeneutik, dieses ebenso umstrittene wie unüberwundene Grundparadigma aller Geisteswissenschaften, den Schlüssel zu einer Beschreibung und Beförderung von Bildungsprozessen als kulturellen Verstehens- wie Innovations- und Kreativitätsprozessen liefert. Traditionell ist eine Allgemeine Didaktik den Varianten dieser philosophischen Bildungstheorie zuzuordnen (Wolfgang Klafki), auch wo sie teils kritisch variierte Positionen vertrat (Wolfgang Schulz, Herwig Blankertz). In der universitären Pädagogik gerät die Allgemeine Didaktik als eine Haupt-Theorie-und Forschungsdisziplin gegenwärtig jedoch erkennbar gegenüber einer »empirischen Bildungsforschung« unter Druck. Am prominentesten sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen von OECD-PISA geworden, die stark auf grundlegende Funktionskompetenzen der Einzelnen in modernen Gesellschaften achten. Autoren am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wie Jürgen Baumert reformulieren den Bildungsbegriff im Sinne mathematischer und naturwissenschaftlicher Grundkompetenzen (Mathematical bzw. Scientific Literacy) bzw. einer Lesefähigkeit (Reading Literacy) nach anglo-amerikanischem Modell und suchen per Fragebögen »Basiskompetenzen zu erfassen«, die »in modernen Gesellschaften in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind«: Texten Informationen entnehmen können, für Beruf und Wirtschaft tüchtig und verwendbar sein usw. In der Konsequenz stehen »Output«orientierung, Standardisierung und Abprüfung als funktionelle Zuordnung der Bildung zu Systemerfordernissen derzeit im pädagogischen Wissenschaftsbetrieb wie in der Schulpolitik offensiv fortschreitend auf der Agenda:11 auf die empirische Schulforschung folgt empirische Hochschulforschung, empirische Lehramtsausbildungsforschung usw. Wenn eine philosophische Bildung als Verbindung von Lebenswelt und Wissenschaft sich über das existierende Bildungssystem vermitteln können will, muss sie sich mit diesem Trend auseinander setzen, der in eben diesem eine gegenwärtig nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Sie wird dazu auf die innerpädagogische Kritik dieser Umorientierung (»Frankfurter Einspruch«) ebenso blicken wie auf die fortlaufend kontroverse Diskussion, etwa bei Lutz Koch, Ludwig Pongratz, Roland Reichenbach, Jörg Ruhloff und anderen. Unbehagen bereitet der Gestus einer vornehmlichen Ausrichtung auf die Produktion von Humankapital, indem »Grundkompetenzen« gegen den Eigensinn früherer Bildung ausgespielt wer-

11  Der Kompetenz – Begriff impliziert in diesem Zusammenhang nicht nur seinem Ursprung nach einen agonalen Zug der Konkurrenz, sondern auch ein tendenziell funktionalistisches Verständnis von Lernprozessen: »Kompetent sein« heißt allzumal, das in jeweiligen Situationen Erforderliche tun zu können – über die Herkunft und Legitimität solcher Situationen aber urteilt auf anderer Ebene ein (Bildungs-)Subjekt.

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den. Dies erzeugt einen Sog der Reduktion auf ein bloßes Nutzendenken von jener Art, der gegenüber einst Friedrich Immanuel Niethammer den Begriff des »Humanismus« etabliert hat, um die Selbstzweckhaftigkeit der Bildung für den Menschen festzuhalten. Unbehagen bereitet auch, wie ein entstehender systemischer Zusammenhang von Unterrichtsführung, Testung und Aufgabenkultur allenthalben die Lernprozesse neu zu formatieren sucht, indem das, was nun für »Bildung« erklärt wird, als ein Zusammenhang quantitativ fassbarer Größen sich definieren lassen soll. Unbehagen bereitet schließlich der Eindruck, all dies demotiviere Lehrerinnen und Lehrer, indem es ihrer Arbeit die eigentlich pädagogische Qualität nehme und das Anliegen komplexerer literarischer, künstlerischer und musischer Bildung – und eben auch das des Philosophieunterrichts – bereits im Ansatz verfehle. In Fragen des Selbst – und Weltverhältnisses von Menschen können wir vermutlich nur schwer ein »Endverhalten« (Jargon!) als »Output« »standardisierbar« messen. Ein Blick auf die Test-Texte und Items der gängigen Leistungsmessungen zeigt vielmehr recht schnell, wie weit diese nicht nur von ausweisbaren Zielvorgaben einer philosophischen, literarischen, ästhetischen usw. Bildung in einem elaborierteren Sinne, sondern schon von einer bisherigen Praxis des Philosophie- und Deutsch- (vor allem: Literatur-) Unterrichts entfernt sind. Sicherlich sind bestimmte Ergebnisse der Leistungsstudien gleichwohl aufschlussreich, vor allem im Blick auf ein unteres Leistungsspektrum. Ob jemand Sachtexten einfache Inhalte entnehmen kann, das kann man offenbar gut feststellen, und es ist auch wichtig, dies nachzuhalten und zu fördern, wie es etwa in der Lesedidaktik geschieht. Je anspruchsvoller der Bildungsprozess, so scheint es allerdings, desto weniger gibt´s anzukreuzen und um so mehr ist zu verstehen.

2.  Ich bin damit beim zweiten Punkt – nämlich dem der nicht unproblematischen Aspekte in der Interaktion zwischen den Bildungsebenen – angelangt. Die vorbenannten Entwicklungen stellen erkennbar, wenn auch mutatis mutandis, eine neue Professionalisierungsform im Sinne des bereits für die Philosophie Entwickelten dar; sie etablieren eine weitere Spielart von Expertenkultur, dies auch vorher der Pädagogik selbstverständlich nicht fremd, jetzt aber zeitgemäß in empirisch-sozialwissenschaftlichem Gestus betrieben.12 Eine solche Vorgehensweise stellt freilich – fürchte ich – von der Art ihres Zugriffs her (»Top-Down-Dirigismus«) kaum ein Verhältnis zur Lebenswelt in dem Sinne wieder her, um den es, wie im Vorigen entwickelt, der Philosophiedidaktik eigentlich Diese Feststellung bedeutet nicht, dass ein solches Expertenwissen zur Verbesserung von Bildungsprozessen nicht in einem gewissen Umfang notwendig und hilfreich sein könnte. Auch die quantitative Methodik dieser Wissensproduktion in Sozialwissenschaften, Psychologie usw. steht nicht als solche in Frage, wenn man zugleich auf die Grenzen ihrer Sichtweise hinweist. Und schließlich bestreitet es drittens die Bedeutung der Naturwissenschaften in der kulturellen Selbstthematisierung des Menschen nicht, wenn man an dieser Stelle doch etwas von dem alten Konflikt zwischen ihnen und den Geisteswissenschaften vermutet, in deren Diskussionskontexten ein als verkürzend wahrgenommener, objektivierender Gestus abgelehnt wird. 12 

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ging, als sie ihr besonderes familiäres Verhältnis zu Philosophie und Pädagogik reklamierte. Fast mag es scheinen, als habe das Problem sich nunmehr verdoppelt und dem Kontakt z. B. mit den »Bürgerinitiativen philosophischer Bildung« vor Ort13 stünden nun womöglich gleich zwei Bezugsinstanzen in ihrer unverzichtbaren Wissensproduktion nicht so nahe, wie dies wünschenswert wäre. Um mögliche lebensweltliche Chancen professionalisierter Wissenschaften auszuloten, ist es von hierher vielleicht hilfreich, auf Interaktionen zwischen den Instanzen bzw. Ebenen der Bildung zu achten.

2.1  Betrachten wir als erstes die Interaktion von empirischer Unterrichtsforschung einerseits, Bildungsverwaltung / Bildungspolitik andererseits. Diese Interaktion bringt derzeit das hervor, was ich Bildungssysteminnovation nennen möchte:14 eine Art Doppelpass-Spiel zwischen Leistungsstudien und Bildungspolitik. Die Leistungsstudien treten mit dem Anspruch auf, Bildung messen zu können. Ihr Einfluss verbreitet sich über fußballtabellenähnliche Ranglisten im Spiegel der Gazetten, welche die Politik unter Druck setzen (»schlechter als Finnland«). Diese freilich lässt sich auf das Spiel ein – offenbar, weil sie die Chance sieht, eine nach einigen Änderungen erfolgreiche Bildungspolitik der Öffentlichkeit gegenüber mittels dieses Instrumentariums in objektiver Art nachweisen zu können. Für ein ganzes Spektrum von »Studien« ist das der bis in die täglichen Nachrichten der Medien zu verfolgende Stand der Dinge.

2.2  Dies führt uns zu einem zweiten Blick, nun auf die Interaktion von empirischer Unterrichtsforschung einerseits, Betroffenen der Bildungsorte und der Schulpraxis andererseits. Diese Interaktion ist offenkundig nicht in der Art und Weise, wie es erforderlich und angemessen wäre, die eines tatsächlichen Austausches zur Optimierung von Bildungsprozessen. Die Vertreter der Bildungsforschung haben nur in seltenen Fällen relevante praktische Erfahrungen an den untersuchten Lernorten selbst gesammelt. Mittlerweile wird bereits ein »empirisch forschender« Nachwuchs ausgebildet, der selbst niemals – noch nicht einmal in Absolvierung des Referendariats – vor einer Klasse gestanden hat. Die »Schulpraxis« sucht man durch abgeordnete Lehrer zu gewinnen, die aus der Schulwirklichkeit gleichsam »herausgezogen« werden. Dies führt dazu, dass viele universitäre Akteure und Autoren bzw. Nutzer von »Studien« – von der Hochschullehre abgesehen  – zu wenig von jener Binnenperspektive erleben und erfahren, mit der Lehrende und Lernende aller Bildungsorte von der Erwachsenenbil-

13  14 

Vgl. F.- J. Albers / R. Simon-Schaefer (Hgg), Philosophie konkret, 143 f. Vgl. meine Übersicht: »Bildungstradition und Bildungssysteminnovation.«, 17 ff.

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dung bis zur Schule tagtäglich in ihren Unterricht gehen. Ihre Fragebögen und Messverfahren werden mit Hilfe der Bildungspolitik und Bildungsverwaltung im Allgemeinen »von außen« an die Kollegien herangetragen. Nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer an den verschiedensten Bildungsorten beklagen darum einen »positivistischen« Untersuchungsgestus und die geringe Passung der Testungen auf konkrete Unterrichtsprozesse; manche gewinnen den Eindruck, dass das mit allem Recht dienende Instrument der Evaluation dem pädagogischen Engagement der Bildung gleichsam auf der Nase herumzutanzen beginne.15 Eine bessere Verständigung der Akteure schiene nötig.

3.  Aus einer verbesserten Kommunikation der Bildungsorte bzw. -ebenen bieten sich für eine philosophische Bildung neue Perspektiven in ihrer Bezugnahme auf Philosophie und Pädagogik. Drei von diesen Perspektiven möchte ich im Folgenden abschließend in knappen Thesen skizzieren.

3.1  Eine intensivere Begegnung von Vertretern der Bildungsorte könnte als »Schwungrad« dazu dienen, die Selbstzweckhaftigkeit der Bildung – damit aber zugleich eine Perspektive zukunftsfähiger Subjekte – wieder in ein angemessenes Licht zu rücken. Standards und Kompetenzen und der Versuch ihrer Überprüfung in bestimmten Messverfahren mögen nötige Bedingungsfaktoren bildungspolitischen Handelns darstellen. Der isolierende Blick auf Funktionsfähigkeiten droht jedoch eine wichtige, ja die eigentlich konstitutive Perspektive philosophischer Bildung auszublenden, an die zu erinnern ist und die zugleich eine Perspektive der Unterrichtspraxis darstellt: nämlich das Bemühen um jeweilige menschliche Orientierung als Selbstzweck und damit den Blick auf das autonom entscheidungs- und handlungsfähige Individuum. Gerade um gesellschaftlich und kulturell agierender Subjekte willen, die nicht einfach »Kompetenzenbündel« sind, muss es Ziel philosophischer Bildung sein, einen Status zu befördern, der ein bewusstes Selbstverhältnis und ein verantwortetes Verhältnis zu anderen zukunftsfähig aufbauen kann. Alle höheren Qualifikationsanforderungen erfordern ein Subjekt als Akteur. In der globalisierten Gegenwart steigen zweifelsohne die ökonomisch-beruflichen Anforderungen und die Zwänge sozialer »Flexibilität« stark an. Dennoch ist es nicht die funktionalistische Befähigung zur Anpassung an beliebige neue Lagen und Situationen, die in letzter Konsequenz der Situation in einer Moderne Rechnung trägt, deren Lebensmuster immer weniger vorgegeben erscheinen, sondern von einem jeden 15  Diese Bemerkungen behaupten weder, dass die bisherige Bildungsphilosophie bzw.- pädagogik sich immer besonders praxisnah um Unterricht gekümmert hätte, noch plädieren sie für ein bloßes Räsonnement aus der Praxis, wie gelegentlich auf dem Buchmarkt verbreitet.

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selbst mit festzulegen und zu bestimmen sind. Religiös-kulturelle Grundorientierungen und weltanschauliche Sinnangebote stehen den Einzelnen in avancierten Gesellschaften mit nie gekannter Gleichzeitigkeit vor Augen, während sie zugleich den Chancen wie Risiken von Panökonomisierung und Populärkultur unterliegen. Diese rasant gesteigerte Pluralität entspricht dem, was sich die Moderne als Freiheit und Demokratie zugute schreibt. Sie stellt für viele ein massives Plus an Optionen und Handlungsmöglichkeiten dar,16 löst sie jedoch – vielfach konstatiert – zugleich aus den Kontexten geschlossener Überzeugungsgruppen und unbefragt gelebter Sitten und Verhaltensroutinen auch heraus. Entsprechend nachhaltiger muss der Einzelne in verantworteter Art und Weise die Grundkoordinaten seiner Orientierung aus eigener Vernunft bestimmen und leben: Weder das eigene Leben noch eine Partnerschaft, weder Familie noch Gemeinschaft, weder Gesellschaft noch Staat können ihm gelingen, wenn er nicht in reflektierter Weise einen Sinn in dem sieht bzw. hervorzubringen weiß, wonach er in Lebenskontexten handelt.17 Es ist das Vermögen zu solcher Selbst – und Sinnbestimmung, das die deutsche Sprachtradition Bildung nennt. Innerhalb dieser verkörpert die Philosophie gleichsam die reflexive Spitze der kulturellen Orientierung: das argumentativ – methodisch geleitete Welt- und Selbstbewusstsein des Menschen.18 Indem die Philosophiedidaktik historisch wie sachlich Anwältin des philosophischen Bildungsbegriffs ist, muss gerade sie auf den Gehalten einer solchen humanen Zielperspektive bestehen. An dieser Perspektive als einem zugleich bildungspraxiskonstitutiven Stachel festzuhalten, ist keine rein theoretische Frage. So wichtig und hilfreich Standardkataloge positiven Wissens und von Einzelkompetenzen sein mögen, so entscheidend bleibt die Art und Weise, in der Subjekte in die Lage versetzt werden, unter Bezugnahme auf dieses Wissen und auf diese Grundkompetenzen kulturell urteilen und verantwortlich Entscheidungen treffen können. Es ist dieses Anliegen, das nicht nur Lehrpläne, sondern viele Philosophielehrer und- lehrerinnen selbst in letzter Perspektive zur Absicht ihres Unterrichtens erklären. Entgegen mancher gegenüber »Bologna« und »PISA« geäußerten lediglich retrospektiven Kritik wird ein genaueres Nachhalten von Bildungsschritten und -erfolgen bis ins Hochschulstudium hinein durchaus hilfreich sein. Berechtigt ist diese Kritik jedoch insofern, als die Einzelschritte bildungssystemischen Vorgehens von jener Sinnperspektive der Bildung nicht abgekoppelt werden dürfen, die im Eigenwert humaner Selbstkultivierung und einer erst von hierher ermöglichten verantworteten Handlungsfähigkeit liegt. Sie müssen sozusagen an dieser Perspektive partizipieren können und

Zugegebenermaßen findet das Feld der Bildung mannigfaltige legitime Berührung mit dem gesellschaftlichen Teilsystem der Wirtschaft. Bildungsökonomie muss aber vielleicht nicht ausschließlich heißen zu überlegen, wie nützlich die Ethik für Gesundheitsberufe oder die Ästhetik für das Industriedesign ist. 17  In eine solche Richtung argumentieren im Blick auf ihren Ansatz ethischer Bildung V. Ladenthin / J. Rekus, Werterziehung als Qualitätsdimension von Schule und Unterricht, 12 f. 18  Dies gilt, auch wenn die Vernunft sich ihrer historischen Selbstaufklärung nach ihrerseits noch als das Produkt kultureller Arbeit erweist. Vgl. H. Schnädelbach, Philosophie in der modernen Kultur, 34 ff. 16 

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brauchen sich durchaus nicht von der bis auf Aristoteles zurückgehenden Einsicht zu verabschieden, dass der Mensch ein Wesen ist, welches es nach Erkenntnis verlangt und das sich in der Bildung erfüllt. Dies freilich (und das weist auf den dritten und letzten Punkt) gelänge wohl nur, wenn die Gehalte kultureller Bildung wie der »Geist« und die Autoren ihrer Hervorbringung ihnen auch auf gleichsam halbem Wege entkommen und auf diese Weise ihrerseits einen systematischen Rückbezug auf die Kontexte der sozialen Praxis gewinnen können. Aus der Zusammenarbeit mit Vertretern der Bildungsorte dürfte dann nicht nur für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern, sondern ebenso für die angehenden Lehrer jene Perspektive gestärkt hervorgehen, die auch nur eigentliches Ziel der Hochschuldidaktik sein kann: zukünftige LehrerInnen, die eine Schlüsselstellung für die Vermittlung von Lebenswelt und Wissenschaft einnehmen, nicht nur als kompetente Bildungssystemakteure, sondern auch als pädagogische Persönlichkeiten zu gewinnen, als engagierte und glaubwürdige Anwälte der Bildung, die Freude am Lernen anderer haben, weil sie selbst gern lesen, lernen und philosophieren.

3.2  Eine verbesserte Kommunikation der Bildungsorte kann – zweitens – ein angemessenes Selbstverständnis philosophischer Bildung und eine dementsprechende Methodik stützen. Als Fachdidaktik bündelt die Philosophiedidaktik die Hinsichten ihrer Vertreter aus allen Bildungsorten und agiert zugleich nach den in ihrer internen disziplinären Struktur ausgeprägten Kriterien. Sie ist dabei – so verstehe ich Ekkehard Martens, Johannes Rohbeck und auch meine eigenen Überlegungen – in ihren Sinn- und Zielperspektiven ihrerseits in einem Modus philosophisch-pädagogischer Reflexion verankert. Dies bedeutet nicht, dass nicht im Sinne der vorerwähnten Verfahren standardisiert und überprüft werden sollte, was sinnvoll auf diese Weise zu erfassen ist, auch z. B. hinsichtlich der Lehrerbildung an den Hochschulen.19 Auch wenn Studien und Lernstandserhebungen in ihrer Diagnosetätigkeit derzeit vor allem die Fächer Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen und Naturwissenschaften betreffen, so liegen doch in der Philosophiedidaktik gleichfalls bereits Ansätze vor, die genannten Instrumentarien empirischer Forschung auf ihr Metier zu beziehen. Mit Recht, denke ich, kann man annehmen, dass auf einer »zweiten Ebene« des Messbaren 20 ein gewisses Stück weit hilf-

19  Vgl. die Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung gemäß Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. Oktober 2008, welche die Grundlage zur Akkreditierung und Evaluation

lehramtsbezogener Studiengänge bilden. 20  Vgl. die Beiträge von Donat Schmidt (»Reading literacy mit philosophischen Texten«) und Markus Tiedemann (»Ein Pionierversuch aus dem Bereich der Effizienzmessung«) sowie meinen Beitrag: »Textkonstruktion und philosophisch-ethische Reflexivität« in J. Rohbeck / U. Thurnherr / V. Steenblock, Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik.

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reiche Ergebnisse zu erzielen sind. Problematisch wird es allerdings, wenn diese zweite Ebene auf Kosten der ersten die Definitionsgewalt darüber an sich zu reißen droht, was »Bildung« heißen soll. So sinnvoll es in einem bestimmten Maße ist, Grundfertigkeiten und Funktionsfähigkeiten für Bildungssubjekte sicherzustellen, so gibt es doch jenen ganz prinzipiellen Punkt, an dem dieses Unterfangen ins genaue Gegenteil umschlagen kann. Es gilt darum, bestimmte Grenzen des quantifizierenden Zugangs am Beispiel des Philosophieunterrichts zu markieren und einer möglichen empiristischen Reduktion der Bildung 21 vorzubeugen, um in Theorie und Praxis ihrem Begriff sein umfassendes Spektrum und seine Komplexität zu erhalten. Gemäß dem qualitativ sinnbildenden Charakter kultureller Prozesse – sozusagen dem Bildungscharakter der Kultur wie dem Kulturcharakter der Bildung – scheint es von hierher naheliegend, dass neben quantitativen (messenden, zählenden, Fragebogenauswertungs-) Methoden (und ich bin nicht einmal sicher, ob anders als im Rahmen einer Fachdidaktik beispielsweise aus dem Bereich der Naturwissenschaften 22) zur Erforschung von Sinnbildungsprozessen und ihrer Beförderung vor allem qualitative, interpretativ-hermeneutische Methoden anzusetzen sind, um den Menschen in seinen sinnhaft-kulturellen Bezügen zur Welt, etwa in der Tradition Wilhelm Diltheys, bzw. in seinem biographischen Gewordensein zu verstehen und in seiner Eigenentwicklung zu fördern. Auch diese sind im Sinne einer Dokumentation von Bildungsprozessen als empirische Erforschung der Modi zu verstehen, in denen Menschen unter den Bedingungen einer Pluralisierung der Bedingungsverhältnisse wie Sinnangebote in der Moderne Selbst- und Weltreferenz aufbauen.

3.3  Eine Perspektive auf mehr Vernetzungen der Bildungsebenen – schließlich und drittens – ist sicherlich keine erschöpfende Antwort auf den eingangs beschriebenen eigenprozedierenden Wissenschaftscharakter der Philosophie, aber vielleicht doch der immer wieder mögliche Anfang ihrer verbesserten Vermittlung mit der Lebenswelt. Man kann sich, um diesem Anliegen näher zu treten, eine »Verbindungsachse« aller Bildungsorte vorstellen, die den notwendigen Zusammenhang einer Bildung insgesamt versinnbildlicht, die ihren Begriff erfüllen will. Eine solche Achse plädiert sozusagen

Nicht ohne Grund fühlt man sich auch an den Gegensatz von philosophischer Bildung und Sophistik erinnert, siehe R. Rehn / C. Schües, Bildungsphilosophie, 34. 22  Die universitären Fachdidaktiken haben aus ihren jeweiligen disziplinären Traditionen und Profilen heraus spezifische Problemstellungen und Aufgaben, die sie gemäß ihrer eigenen Forschungslogik bestimmen müssen. Am Beispiel der Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD), des Dachverbandes primär natur-, aber auch geisteswissenschaftlicher Fachdidaktiken, aber auch einzelner FD-Verbände zeigt sich gleichwohl, wie sehr sie im Zeichen der gegenwärtigen Standardisierungs- und Kompetenzdebatten stehen. Ein besonders guter Organisationsstand zeichnet die Verbände der Physik-, Chemie- und Biologiedidaktik aus; der GFD gehören ferner das Symposion Deutschdidaktik, die Konferenz für Geschichtsdidaktik sowie die religionsdidaktischen Verbände AKRK und AR an. 21 

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für mehr Austausch zwischen den Bildungsebenen und ihren Akteuren im Geiste einer wirklichen Zusammenarbeit. Zwar besteht traditionell die Lehrerbildung als etabliertes Multiplikationssystem, das zugleich die Aufstellung der geisteswissenschaftlichen Fächer – namentlich der Trias von Germanistik, Philosophie und Geschichte – an den Universitäten stärkt (ohne die Lehrerausbildung schrumpften die einschlägigen Fachbereiche vermutlich erheblich). Doch ließe sich dieser Status quo ganz ohne Zweifel in Richtung auf das Qualitätsprädikat einer nachhaltigen Bildungsvernetzung entschieden verbessern und befördern sowie ein ganzes Spektrum von Wegen sich auflisten, bewerten und erweitern, welches regelmäßige und fest eingerichtete Verbindungen zwischen Fachlehrerinnen und Fachlehrern, Fachleitern an Studienseminaren, Bildungsverwaltung, Fachphilosophen und Philosophiedidaktikern erzeugte und zugleich der Schul  – und Bildungspraxis im gegenwärtigen Bildungsdiskurs die ihr gebührende Stimme gäbe. Auf diese Vermittlungen kommt viel an, sollen die Geisteswissenschaften sich unter Gegenwartsbedingungen zu Lehrern der Menschen entwickeln können: Wer nur in seinem Diskussionszirkel vor Ort sitzt, braucht sozusagen »Input« aus der Fachwissenschaft, wer nur im Elfenbeinturm sitzt, eine gleichsam lebensweltliche Rückkopplung. 23 Um der sich etablierenden Bildungssysteminnovation den Ansatz zu einer solchen Struktur an die Seite zu stellen, die zugleich als Anwältin philosophisch zu reflektierender Bildungsintentionen gelten kann, ist es unabdingbar, die Möglichkeiten der Kulturwissenschaften als Bildungswissenschaften unter Ausweis nötiger Arbeits- und Organisationsformen weiter zu entwickeln. 24 Ein unmittelbar gesellschaftlich erwachsendes Philosophieren – wenn es dies denn in der Antike gab – mag nicht (zurück) zu gewinnen sein. Das Expertentum der Philosophie wie der Geisteswissenschaften verkümmert aber zur bloßen Wissensakkumulation, wenn Bildung als »Sinnkompetenz in der kulturellen Orientierung der menschlichen Lebenspraxis«25 nicht zur inneren Logik ihres Denkens gehört und eine wirkliche und systematische Vermittlung in die Erziehungs  – und Bildungssysteme zur Verschränkung von Wissenschaft und Lebenswelt nicht konstitutiver Teil ihrer disziplinären Identität wird. Hierzu kann die Philosophie ohne Zweifel thematisch »offensiver«, 26 als es gegenwärtig geschieht, zeigen, inwiefern sie an Fragen arbeitet, die alle Menschen als orientierungsinteressierte wie -bedürftige Wesen betreffen. Eine Wissenschaft, die dies verweigert, wird ihrerseits im Alltag nicht vorkommen. Indem philosophische Bildungsprozesse antreten, das Sich-Orientieren und Denken methodisch klarer zu gestalten, ihm die Sinngehalte der Philosophie zu vermitteln und auf Interesse, auf kritisches Prüfen und Weiterfragen

Vgl. W. v. Humboldt, Werke, IV, 189. Zu einer überzeugenden Darlegung ihrer lebensweltlichen Aufgaben vgl. G. Scholtz, Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, 32 ff. 25  Siehe hierzu Jörn Rüsen, dem ich für vielfache Hinweise danke: Kultur macht Sinn, 164; vgl. 176 f. 26  Dies gilt für die Kulturwissenschaften insgesamt, von denen man gesagt hat, dass sie sich auf die »Mühen der Ebene« nicht ein- und »die Welt der Börsenspekulanten und der Supermarktkassiererinnen, der young urban professionals und der Billigjobber (…) gänzlich unberührt« lassen. J. Früchtl, »The Times are Changing«, 90 ff. 23  24 

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hinzuwirken, können sie die Gehalte der »Kantischen Fragen« nach Wissen, Handeln und Hoffen auf ein weiteres Publikum beziehen. Die Lebenswelt findet sich dann dort, wo wir uns nachdenkend zu uns selbst wenden, sie ist »Ort« des Menschen, sofern er sein Menschsein bewusst zu reflektieren, zu verstehen und zu leben unternimmt. Es gilt aber auch organisatorisch, dass die Philosophie die Türen ihrer Institutionen hinter sich nicht zu schließen braucht, um sich doch an vielen Gelenkstellen und Ansatzpunkten im Sinne einer gewissen »kulturellen Bringschuld« bewusster und deutlicher für die Lebenswelt entscheiden zu können, als dies derzeit der Fall ist, so etwa über eine ernst genommene Lehre hinaus in einer Intensivierung und Erweiterung der Formen und Formate, in denen sie ihr zu gewinnendes Publikum anspricht. Es gibt sehr wohl Beispiele für eine Präsenz von Philosophie und Philosophen: in Schulen wie in privaten Initiativen der Erwachsenenbildung, in Fortbildungsveranstaltungen mit Lehrenden aller Bildungsorte als Multiplikatoren wie in Printmedien, Rundfunkprogrammen und auf dem Bildschirm. Thematisch wie organisatorisch bedarf es in diesen Bereichen einer Verstetigung und Systematisierung dessen, was bereits besteht und mehr Innovation und Engagement zu dem, was benennbar noch in Gang gesetzt werden könnte. Ob die Vision einer vernunftorientierten, humanen Selbstvergewisserung für immer mehr Menschen an Wirklichkeit gewinnen kann, hängt von komplexen und zweifellos schwerlich berechenbaren kulturellen Faktoren ab. Alle Projektion in diese Richtung mag – wie mit dem eingangs zitierten populärkulturellen Motto angedeutet – eine mehr als hinterfragbare Utopie bleiben, verbunden mit der höchst spekulativen Frage, ob im Menschen vielleicht noch andere Möglichkeiten liegen, als er kulturell bisher demonstriert. Die Frage allerdings, ob die Auftrittsweisen der Philosophie sich nicht wesentlich nachhaltiger und demokratischer darstellen könnten, ist auch ohne dies zu beantworten. Die Zeit einer lebensweltlich konstitutiven kulturellen Bildung mag vielleicht erst noch kommen, aber es wäre schon etwas gewonnen, wenn die zu diesem Zweck im Bildungssystem bisher entwickelten Organe besser zusammenarbeiten könnten.

Literatur Albers, Franz-Josef / Simon-Schaefer, Roland (Hgg.): Philosophie konkret, Münster 2009 Baumert, Jürgen: »Deutschland im internationalen Bildungsvergleich«, in: N. Kilius / J. Kluge / L. Reisch (Hgg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt 2002, 100– 150 Berger, Wilhelm / Heintel, Peter: Die Organisation der Philosophen, Frankfurt 1998 Eagleton, Terry: Der Sinn des Lebens (»The Meaning of Life«), Berlin 2008 Flacke, Michael / Steenblock, Volker: »Eule über´m Campus. Kontexte und Konzepte für ein Philosophiestudium / Lehramtsstudium Philosophie / Praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum«, in: E. Martens / C. Gefert / V. Steenblock (Hgg.): Philosophie und Bildung, Münster 2005, 147–164 [überarbeitet

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auch in: J. Rohbeck (Hg.), Hochschuldidaktik Philosophie (Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik), Dresden 2007, 82–105] Fritsch, Matthias / Lindwedel, Martin / Schärtl, Thomas: Wo nie ein Mensch zuvor gewesen ist. Science – Fiction – Filme: Angewandte Philosophie und Theologie, Regensburg 2003 Früchtl, Josef: »The Times are Changing. Thesen für eine offensive Kulturwissenschaft«, in: L. Heidbrink / H. Welzer (Hgg.): Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften, München 2007 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., Frankfurt 1981 Hügli, Anton / Thurnherr, Urs (Hgg.): Ethik und Bildung, Frankfurt 2006 Humboldt, Wilhelm v.: Werke hrsgg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1960, IV Koch, Lutz: »Standardisierter Philosophieunterricht?«, in: Fachverband Philosophie. Mitteilungen 46 (2006), 19–28 Ladenthin, Volker / Rekus, Jürgen (Hgg.): Werterziehung als Qualitätsdimension von Schule und Unterricht, Münster 2008 Meyer-Drawe, Käte: Diskurse des Lernens, München 2008 Münch, Richard: Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz, Frankfurt 2007 Münch, Richard: Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey und Co., Frankfurt 2009 Pongratz, Ludwig / Reichenbach, Roland / Wimmer, Michael (Hgg.): Bildung – Wissen – Kompetenz, Bielefeld 2007 Rehn, Rudolf / Schües, Christina (Hgg.): Bildungsphilosophie, Freiburg 2008 Rohbeck, Johannes / Thurnherr, Ulf / Steenblock, Volker (Hgg.): Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik (Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik), Dresden 2008. Ruhloff, Jörg: »Einmaligkeit« oder Kritik einer wissenschaftspolitischen Machterschleichung, in: Pädagogische Korrespondenz 37 (2007), 5–17 Rüsen, Jörn: Kultur macht Sinn, Köln 2006 Schnädelbach, Herbert: Philosophie in der modernen Kultur, Frankfurt 2000 Scholtz, Gunter: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt 1991 Schweidler, Walter (Hg.): Postsäkulare Gesellschaft, Freiburg 2008 Steenblock, Volker: »Bildungstradition und Bildungssysteminnovation. Skizzen zu einer gegenwärtigen Problemlage philosophischer Bildung«, in: J. Rohbeck / V. Steenblock (Hgg.): Ethisch-Philosophische Bildung und Ausbildung (Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik), Dresden 2006, 11–42 [sowie ebenfalls in den Studia philosophica 65 (2006), 41–67] Steenblock, Volker: »Philosophische Bildung im Prozess der Kultur«, in: R. Konersmann (Hg.): Das Leben denken, Freiburg 2007, 69–96

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Steenblock, Volker (Hg.): Zeitdiagnose (Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 3), Stuttgart 2008 Stegmaier, Werner (Hg.): Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt 2005 Terhart, Ewald: Didaktik. Eine Einführung, Stuttgart 2009 Thies, Christian: Der Sinn der Sinnfrage, Freiburg 2009

Didaktische Transformation philosophischer Methoden Johannes Rohbeck

Wer sich mit Philosophie in Lehre und Forschung professionell befasst, weiß aus eigener Erfahrung: Die Philosophie gibt es nicht, ebenso wenig wie das Philosophieren oder den Philosophen. Vielmehr bestehen Philosophie und Philosophieren aus einer Vielzahl von Denkrichtungen oder Strömungen, die sich voneinander unterscheiden und sich teilweise auch widersprechen. In den Wissenschaften ist das zwar nichts Ungewöhnliches, aber in der Philoso­phie spielt die Verschiedenheit der Richtungen inso­ fern eine besondere Rolle, weil diese Disziplin in größerem Maße von lebensweltlichen, religiösen und weltanschaulichen Orientierungen abhängt. Seit der Antike bis in unsere Gegenwart lebt das Philosophieren vom Streit zwischen gegensätzlichen Denkern und Schu­len; nur in schlechten Philosophiegeschichten stellt es sich als lineare und harmonische Abfolge dar. Vor allem im 20. Jahrhundert sind die verschiedenen »Schulen« der Philosophie kultiviert und institu­tionalisiert worden.1 Das mag man bedauern und einer scheinbar verloren gegangenen Einigkeit nachtrauern. Doch heute haben wir allen Grund dazu, diese Vielfalt als Bereicherung zu begreifen. Nun gehört es an den Universitäten und Hochschulen zur selbstverständlichen Praxis, mit der Pluralität philosophischer Richtungen reflektiert umzugehen. Von jeder Dozentin und von jedem Dozenten ist ja bekannt, aus welchem »Stall« sie kommen und welche theoretischen Präferenzen sie pflegen. Dieser Aspekt zeigt sich in der Wahl der behandelten Auto­ren wie auch in den bevorzugten philosophischen Methoden. Und die Studierenden spüren, wie sie von solchen Denkstilen  – manchmal auch unmerklich  – geprägt werden. Diese sind das Salz und die besondere Gewürzmischung in der Philosophensuppe. Typologisch gesprochen, gehören zu diesen Strömungen der Gegenwartsphilosophie: analytische Philosophie, Konstruktivismus, Phänomenologie, Dialektik, Hermeneutik und Dekonstruktion. Im günstigen Fall verteilt sich diese methodische Vielfalt auf viele Lehrenden eines philosophischen Instituts, so dass die Studierenden im Laufe ihres Studiums mehrere Methoden kennen lernen, adaptieren oder habitualisieren. Bei kleinen Instituten plädiere ich dafür, dass jeder Dozent nicht nur »seine« Richtung, sondern möglichst viele philosophische Methoden vermittelt. Mein hochschuldidaktischer Ansatz besteht in zwei Vorschlägen, in denen die Methoden des Philosophierens auf prinzipiell unterschiedlichen Ebenen behandelt werden.

W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilo­sophie; K. Wuchterl, Methoden der Gegenwartsphilosophie; F. Fellmann, Orientierung Philosophie, 81 ff. 1 

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Erstens schlage ich vor, die verschiedenen Methoden des Philosophierens in speziellen Seminaren zu thematisieren, d. h. diese Methoden zu explizieren, sie miteinander zu vergleichen und zu reflektieren. Das Thema eines solchen Seminars könnte »Methoden des Philosophierens« lauten. Dabei lassen sich zentrale Texte von Hegel, Carnap oder Husserl lesen, wobei Beispiele der Anwendung von besonderem Interesse sind. Der Husserl  – Schüler Adolf Reinach hat einmal einen Vortrag »Über Phänomenologie« mit der Ankündigung begonnen: »Ich habe mir nicht zur Aufgabe gestellt, Ihnen zu sagen, was Phänomenologie ist; sondern ich möchte versuchen, mit Ihnen phänomenologisch zu denken.«2 Wer also die Phänomenologie als Gegenstand behandelt, mag lange über »Horizont«, »prä­reflexive Sinnsedimente«, »Intentionalität« usw. reden. Doch wer stattdessen phänomenologische Übungen durchführt, wird versuchen, diese theoretischen Begriffe in praktikable Verfahren zu übertragen. Ziel ist eine erweiterte und reflektierte Methodenkompetenz. Damit verbinde ich meinen zweiten Vorschlag: Die Studierenden sollen diese Methoden nicht nur kennen lernen, sondern selbstständig anwenden können. Für sie stellt sich die entscheidende Alternative, ob sie bloß über philosophische Denkrichtungen sprechen oder ob sie deren Methoden praktizieren. Die hochschuldidaktische Aufgabe besteht darin, die methodischen Potenziale der philosophischen Denkrichtungen in den Kontext des akademischen Unterrichts zu übertragen und entsprechend zu modifizieren. Das bedeutet keine »Abbildung« des Faches, sondern die didaktische Transformation dieser Richtungen in philosophische Praktiken. 3 Leitend für die Auswahl, Modifizierung und Ergänzung sind die philosophischen Kompetenzen, die den Lernenden dabei vermittelt werden sollen.

1.  Philosophische Methoden im Kontext So wie es nicht die Philosophie gibt, so existieren selbstverständlich auch nicht die philosophischen Richtungen. Vielmehr haben Dialektik, Herme­neutik und Phänomenologie jeweils eine lange Ge­schichte mit zahlreichen Varianten. Auch jüngere Ansätze wie analytische Philosophie, Konstruktivis­mus und Dekonstruktion sind mittlerweile so ausdifferenziert, dass eigene Schulen entstanden sind. Auf der anderen Seite kann ich mich der gegenwärtigen Tendenz anschließen, indem ich mit Überschneidungen, Vermischungen und Kombinationen operiere. Denn nicht nur einzelne Philosophen praktizieren jeweils unterschiedliche Methoden, auch ganze philosophische Denkrichtungen enthalten mehrere Methoden gleichzeitig. Philosophiegeschichtlich gesehen, ist jede Denkrichtung aus mehreren Strömungen hervorgegangen und insofern selbst schon eine Hybridenbildung. So stehen zum Beispiel Dialektik und A. Reinach, Gesammelte Schriften, 379. J. Rohbeck: »Methoden des Philosophie- und Ethikunterrichts«; ders., »Transformationen – Zum Problem der Vermittlung in der Philosophiedidaktik«; ders., Didaktik der Philosophie und Ethik, 10 ff. 75 ff. vgl. E. Martens, Methodik des Philosophie- und Ethikunterrichts. 2  3 

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Hermeneutik in einem genetischen Zusammenhang; die Dekonstruktion kann als eine Radikalisierung der Hermeneutik verstanden werden, so wie der Konstruktivismus an die analytische Philosophie anknüpft; ebenso haben Hermeneutik und Phänomenologie viele Gemeinsamkeiten. Daher lassen sich die zu transformierenden Methoden in verschiedenen Denkrichtungen finden, wobei die konkreten Ausprägungen variieren können. In einigen Fällen überwiegen die Abgrenzungen, in anderen Fällen die Grenzüberschreitungen. Häufig ergeben sich wechselseitige Korrekturen. In diesem Zusammenhang lässt sich beobachten, dass einzelne Philosophen ganz unterschiedliche Methoden in ihrem Denken zu vereinigen suchen. Beispielsweise gilt Hegel zwar als Vertreter der Dialektik, aber er hat auch eine »Phänomenologie des Geistes« geschrieben, die mit der »sinnlichen Gewissheit« einsetzt; und seine »Logik« bezieht sich recht präzise auf die Analysis, die er radikal kritisiert; wenn er ferner als erster den Begriff »Geschichtlichkeit« prägt, hat er ein genuin hermeneutisches Prinzip ausgesprochen. Auf ähnliche Weise verfahren wohl die meisten Philosophen bis in die Gegenwart. Dabei sind die genannten Methoden keineswegs nur formal oder technisch zu verstehen, verbinden sich doch mit den erwähnten Strömungen ganz bestimm­te Inhalte und Grundeinstellungen des Philosophierens. Der Konstruktivismus, der sich an der Logik, an den exakten Wissenschaften und damit an der analytischen Philosophie orientiert, bezweckt ausdrücklich, den Sprachgebrauch und die Argumentationsweise zu reflektieren, um in das Denken, Sprechen und Kommunizieren möglichst viel Klarheit zu bringen. Dahinter steht ein aufklärerischer Impuls, weil mit einer undeutlichen Sprache auch Herrschaft ausgeübt werden kann und weil ein rationaler Diskurs ein Bestandteil der Demokratie ist. Die Phänomenologie wiederum, welche sich gegen die Dominanz der Naturwissenschaften und gegen eine technisch beherrschte Welt wendet, eröffnet zugleich den alternativen Themenbereich der Lebenswelt. Sie verfolgt die Absicht, die je eigene Wahrnehmung und subjektive Erfahrung freizulegen. Der methodisch geregelte Versuch, von theoretischen Vorverständnissen erst einmal abzusehen, hat von vornherein eine emanzipatorische und kritische Stoßrichtung. Derartige methodische Kompetenzen hängen also mit bestimmten Inhalten und Zielen zusammen. Im Grunde handelt es sich um elementare Kompetenzen, die längst zur lebensweltlichen und einzelwissenschaftlichen Praxis gehören: beobachten und verstehen, analysieren und reflektieren, widersprechen und kritisieren, experimentieren und modifizieren.4 In dieser elementaren Form sind die philosophischen Methoden immer schon praktiziert worden. Sie lassen sich auf geläufige Verfahren zurückführen  – also auf Methoden, die auch den Studierenden aus dem Alltag und aus den früheren Schulfächern bekannt sind. Daran kann der akademische Unterricht anknüpfen, indem er das gewöhnliche Wahrnehmen, Denken und Handeln thematisiert.

T. Rentsch: »Der Status der Philosophie«, insb. 222 ff.; siehe auch den folgenden Beitrag in diesem Band. 4 

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In philosophischen Texten ist studierbar, wie die elementaren Methoden verallgemeinert, systematisiert und reflektiert worden sind. Dort wurden diese Methoden noch einmal in einer Weise ausgearbeitet, die sowohl über das alltägliche als auch über das allgemein-philosophische Verständnis hinausgeht. Die Methoden der Analyse, Interpretation oder Kritik erstarren in den philosophischen Systemen zu »Letztbegründungen«, indem sie zur jeweils konstituierenden Basis erklärt werden. Sie werden so in einer häufig abgehobenen und abschreckenden Metasprache zu Konstitutionstheorien stilisiert. Die Philosophiegeschichte ist der Ort, an dem solche Geltungsansprüche erhoben und gegenseitig streitig gemacht werden. Es gehört zur Ironie dieser Geschichte, dass viele Philosophen nicht einmal ihre eigenen methodischen Potenziale ausgeschöpft haben. Von Hegel ist bekannt, wie er seinen Schülern der »Mittel- und Oberklasse« das eigene philosophische System in die Hefte diktierte, obwohl seine Philosophie vielfältige Ansätze für selbstständige Reflexionen bietet. 5 Und Kants Motto »aude sapere« darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er das »Selberdenken« vom Katheder herab doziert hat. Auch in Husserls Phänomenologie finden sich meist fundamentalphilosophische Ausführungen, während das phänomenologische Verfahren selten an Beispielen demonstriert wird. Wenn mit dem Übergang von der gelehrten »Philosophie« zum »Philosophieren« Lernen ernst gemacht werden soll, bedarf es didaktischer Anstrengungen, die über die Theorie und Praxis der Vorbilder hinausgehen. Dadurch ist es möglich, den lebendigen Vollzug eines methodisch geleiteten Philosophierens herauszulösen und in vermittelbare Kompetenzen zu überführen. Die Transformation philosophischer Methoden in Methodenkompetenz der Studierenden kann auf unterschiedliche Weise praktiziert werden: im Dialog oder Gespräch, bei der Lektüre philosophischer Texte und beim Schreiben von Essays. Im Folgenden möchte ich mein Konzept am Beispiel der Textlektüre und des Essay-Schreibens erläutern.

2.  Lektüre philosophischer Texte Texte verstehen sich nicht von selbst. Zum Textverständnis gehört vielmehr ein aktiver Leser, der sich fremdes Wissen selbstständig aneignet. Die minimale Anforderung besteht darin, die Gedanken eines Autors nachzuvollziehen, was jedoch ohne eigenes Denken gar nicht möglich wäre. Die maximale Erwartung an den Leser besteht darin, sich den Sinn eines Textes nicht vorgeben zu lassen, sondern ihn selbst zu erzeugen. Dazwischen gibt es eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, die Eines gemeinsam haben: Sie erfordern jeweils bestimmte Methoden der Interpretation. Nun befinden sich die Philosophie und deren Didaktik in der komfortablen Lage, über eine eigene Theorie des Verstehens zu verfügen: über die Hermeneutik mit ihren verschiedenen Varianten, die je spezifische didaktische Potenziale enthalten. Die

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J. Rohbeck, »Dialektisches Philosophieren nach Hegel«.

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Lehrenden der Philosophie sind gut beraten, diese hausgemachten Ressourcen für die Lektüre zu nutzen. Außer der Hermeneutik gibt es bekanntlich noch die erwähnten weiteren Methoden. Es wäre absurd, diesen Richtungen das Verständnis philosophischer Texte absprechen zu wollen. Im Gegenteil, jede Strömung verfügt über ihre eigenen Deutungstheorien. Zwar bildet die Hermeneutik in puncto Interpretation das methodische Zentrum, aber selbstverständlich werden auch an der Peripherie Texte interpretiert. Nur geschieht dies eben auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Ziel ist es, möglichst viele Methoden bei der Textlektüre zur Geltung zu bringen.6 Die Studierenden sollen befähigt werden, diese Methoden zur Interpretation philosophischer Texte zu verwenden. Wie lässt sich diese methodische Kompetenz vermitteln? Dazu eignen sich präzise gestellte Aufgaben. Natürlich steht es den Lehrenden frei, die methodischen Hintergründe zu erläutern. Doch die didaktische Kunst besteht darin, dass es auch ohne Exkurse geht. Die Aufgaben sind so zu formulieren, dass jeweils eine bestimmte methodische Ausrichtung erkennbar und praktizierbar wird. Hermeneutik als »objektive« Interpretation: Die Annahme, ein Text enthalte einen bestimmten Sinn, stellt sozusagen die natürliche Einstellung des Lesers zu seinem Gegenstand dar.7 Die provokative Bezeichnung »objektiv« meint zweierlei: Zum einen bezieht sie sich auf einen vorgegebenen Inhalt, der zu entdecken ist; zum andern bedeutet »objektiv« die intersubjektive Verständigung auf eine konsensfähige Interpretation. Um einen so betrachteten Text zu interpretieren, haben sich einige methodische Schritte bewährt: das behandelte Problem erkennen, die verwendeten Begriffe klären, die Argumentation rekonstruieren, Kritik üben und eigenes Urteil bilden. Man mag diese Methode für antiquiert halten – sogar für autoritär, weil ja im Zweifelsfall der Dozent bestimmt, was im Text steht. Er fungiert wie ein allwissender Erzähler oder als Sachwalter eines tradierten Bildungsgutes. Doch hat das Verfahren auch seine Berechtigung. Denn es ist handwerklich solide und seit Generationen erprobt. Außerdem haben die Studierenden ein Anrecht darauf, einen gewissen Standard der Interpretation kennen zu lernen. Die entsprechende Aufgabe lautet: Geben Sie den Inhalt des Textes wieder. Intentionalistische Hermeneutik: In dieser Methode wird nach der Intention des Autors gefragt. Dabei setzt man voraus, dass der Autor seinen Text in der Absicht geschrieben hat, eigene Gedanken anderen mitzuteilen, und dass der Leser grundsätzlich imstande ist, diese Schreibabsicht zu erschließen.8 Zwar ähneln die methodischen Schritte denjenigen der »objektiven« Interpretation, aber sie zielen jetzt mehr auf die Strategie und beabsichtigte Wirkung der Argumentation. Didaktisch wichtig ist diese Variante, weil sie es erlaubt, sich in die Situation eines Autors zu versetzen. Das eröffnet die Suche nach alternativen Denkmöglichkeiten. Die Aufgabe lautet: Erschließen Sie die Schreibabsicht des Autors.

6  Am Beispiel des Anfangs der Nikomachischen Ethik von Aristoteles siehe J. Rohbeck, »Zehn Arten, einen Text zu lesen«; vgl. ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik, 163 ff. 7  R. Brandt, Die Interpretation philosophischer Werke. 8  A. Bühler, »Hermeneutischer Intentionalismus und die Interpretation philosophischer Texte«, 1 ff.

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Philosophische Hermeneutik: Hans  – Georg Gadamer betont die Fremdheit und Differenz, die das Verstehen überhaupt zum Problem werden lassen,9 sowie die aktive und produktive Rolle des Lesers. Demnach verfügt jeder Leser über ein bestimmtes Vorverständnis, das die Lektüre maßgebend prägt und das sich im Laufe der Textarbeit verändert. Ein vertieftes Verständnis entsteht, wenn die beiden Sinnhorizonte miteinander verschmelzen. Die »Horizontverschmelzung« lässt sich in eine spezielle Methode übertragen, indem das Vorverständnis der Lernenden und das später erarbeitete Textverständnis explizit gemacht und miteinander konfrontiert werden. Dabei handelt sich um die Methode des verzögernden Le­sens, die aus zwei Schritten besteht: Zuerst wird der Anfang eines Textes gelesen mit der Aufgabe, darüber nachzudenken, wie der Text weitergehen oder enden könnte; dazu eignen sich auch Titel, Überschriften oder Schlüsselbegriffe, die einen bestimmten Erwartungshorizont eröffnen. Sodann werden die folgenden Textpassagen gelesen mit der Aufgabe, den jetzt bekannten Textinhalt mit der anfänglichen Erwartung zu vergleichen. Dieses Verfahren ist didaktisch hilfreich, weil die Studierenden als autonome Leser ernst genommen werden. Die Schreibaufgabe lautet: Formulieren Sie vor der Lektüre Ihre Erwartungen an den Text und konfrontieren Sie dieses Vorverständnis mit Ihrem Verständnis des Textes nach der Lektüre. Dekonstruktion: Aus dem heutigen Abstand betrachtet, sind Hermeneutik und Dekon­struktion weder identisch, noch schließen sie sich gegenseitig aus, wohl aber handelt es sich um eine wichtige Akzentverschiebung. In der dekonstruktivistischen Methode radikalisiert sich die Hermeneutik.10 Da die Herstellung eines gemeinsamen Horizonts von Autor und Leser prinzipiell in Frage gestellt wird, gibt es keinen eindeutigen Textsinn mehr. Viele Deutungen sind möglich, sicher sind allein die endlosen Verweisungen der Texte aufeinander. Der Autor war bereits Leser, der Leser wird zum Autor. Die Studierenden werden dazu aufgefordert, ins­besondere nach Brüchen, Lücken und Rändern, also nach verborgenen Aussagen zu suchen. Dekonstruktion bedeutet hier im wörtlichen Sinn: etwas im Text Unsichtbares sichtbar machen oder ein Randphänomen ins Zentrum rücken. Die Aufgabe lautet etwa: Formulieren Sie, was der Text verbirgt oder nicht im Text steht. Schreiben Sie den Text aus einer anderen Perspektive um. Entwerfen Sie eine alternative Lösung. Phänomenologie: Diese Denkrichtung passt hier nicht so recht, weil in ihr weniger Texte als unmittelbare Wahrnehmungen im Vordergrund stehen. Gleichwohl können auch bei der Textlektüre Methoden der Phänomenologie zum Zuge kommen. Dazu dient die phänomenologische Leseforschung, in der ebenfalls Bewusstseinszustände zum Thema gemacht werden.11 Auf diese Weise setzt man Ansätze der philosophi-

H.- G. Gadamer, Wahrheit und Methode; J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik; H. Ineichen, Philosophische Hermeneutik; V. Steenblock, »Hermes und die Eule der Minerva. 10  P. V. Zima, Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik; J. Culler, Dekonstruktion. 11  Im Anschluss an die Rezeptionsästhetik R. Ingarden: Das literarische Kunstwerk; W. Iser, Der Akt des Lesens – Theorie ästhetischer Wirkung; vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. III, 270 ff. 9 

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schen Hermeneutik und der Rezeptionsästhetik fort. Wurden dort die persönlichen Lese – Erwartungen thematisiert, wird jetzt die individuelle Lese – Erfahrung reflektiert. Die Aufgabe lautet: Beschreiben Sie Ihre eigenen Gedanken und Empfindungen bei der Lektüre des Textes. Dies könnte etwa in Form eines fiktiven Briefes geschehen, der sich für die Mitteilung subjektiver Befindlichkeiten besonders gut eignet. Mögliche Leitfragen sind: Welchen Eindruck übt der Text auf Sie aus? Welche Verständnisschwierigkeiten fallen auf? Analytische Philosophie: In kaum einer Denkrichtung kommt der methodische Aspekt so zum Vorschein wie in der analytischen Philosophie, stellt sie doch verhältnismäßig klare Regeln der Begriffsdefinition und Argumentation auf.12 Damit verlagert sich das Interesse vom historischen Kontext zur systematischen Geltungsfrage. Zunächst können mit Hilfe dieser Methode philosophische Begriffe geklärt werden.13 Darüber hinaus bedarf es einer Analyse der Argumentation,14 weil diese Begriffe ja keine Tätigkeiten empirisch abbilden, sondern ihre Bedeutung allein aus dem gedanklichen Kontext erlangen. Am Beispiel des Anfangs der Nikomachischen Ethik von Aristoteles lautet die Aufgabe: Bestimmen Sie die Begriffe Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis). Analysieren Sie die Argumentation, indem Sie ein entsprechendes Handlungsschema entwerfen. Dialektik: Analytik und Dialektik werden heute längst nicht mehr als einander ausschließende Richtungen behandelt, wie dies noch vor einem Jahrzehnt üblich gewesen ist.15 Die Dialektik ergibt sich aus einer konsequenten Analyse, die bis an die Grenze getrieben wird. Die Argumente verwickeln sich in Widersprüche und setzen sich einer grundsätzlichen Kritik aus. Die Geltungsfrage spitzt sich zu. Das eröffnet die Perspektive für alternative Problemlösungen. Für die Studierenden bieten sich dabei zusätzliche Möglichkeiten, ihr kritisches Urteilsvermögen zu schärfen und nach eigenen Lösungen zu suchen. Die dafür angemessenen Aufgaben am Bespiel der aristotelischen Handlungstheorie lauten: Überprüfen Sie die Unterscheidung zwischen Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis) mit Hilfe aristotelischer und eigener Beispiele. Formulieren Sie eine Kritik, indem sie diese Unterscheidung im Sinne von Handlungsklassen ad absurdum führen. Entwickeln Sie daraus eine eigene Problemlösung. Konstruktivismus: Diese Richtung knüpft zwar an die analytische Philosophie an, indem ebenfalls der Sprachgebrauch reflektiert wird, aber sie wendet sich zugleich gegen die Hermetik der logischen Argumentation. Stattdessen verweist man auf alltägliche und wissenschaftliche Praxis, aus der die formalen Strukturen hervorgegangen sind.

H.- U. Hoche / W. Strube: Analytische Philosophie; E. Runggaldier, Analytische Sprachphilosophie; T. Blume / C. Demmerling, Grundprobleme der analytischen Sprachphilosophie. 13  J. Wilson, Be­g riffsanalyse. 14  H. Schnädelbach, »Philosophische Argumentation«, 683 ff. J. Kopperschmidt, Argumentationstheorie zur Einführung; H. Tetens, Philosophisches Argumentieren. 15  Ausführlich dazu J. Rohbeck: »Verkehrte Welt – Dialektik als Methode«; ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik, 119 ff. 12 

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Ähnlich wie von Proto-Physik lässt sich hier von Proto-Philosophie sprechen.16 In einem solchen genetischen Sinn besteht der Konstruktivismus in der Rekonstruktion philo­ sophischer Begriffe, Aussagen und Theorien. Diese Methode hat für den Unterricht weit reichende Konsequenzen: Es werden nicht nur fertige Regeln gelernt, die auf Fallbeispiele anzuwen­den sind; vielmehr sollen die Regeln selbst aus der Reflexion auf die alltägliche Lebenspraxis gewonnen werden. Das berührt sich mit der Phänomenologie, die hier noch einmal auf andere Weise zum Einsatz kommen könnte. Die didaktische Pointe liegt darin, dass an die Alltagserfahrung der Studentinnen und Studenten angeknüpft wird. Wenn zum Beispiel die Strukturen der Handlungstypen poiesis und praxis rekonstruiert sind, ergibt sich bei der folgenden Lektüre des Textes von Aristoteles ein WiedererkennungsEffekt. Das Textverständnis wird auf diese Weise vorbereitet und erleichtert. In diesem Fall lautet die Aufgabe: Rekonstruieren Sie das Handlungsschema des technischen Herstellens und des selbstzweckhaften Handelns aus Ihrer alltäglichen Erfahrung.

3.  Essays schreiben nach philosophischen Methoden Schließlich schlage ich vor, die Methoden der philosophischen Denkrichtungen in Schreibaufgaben zu transformieren.17 Dazu wird den Studierenden zuerst eine bestimmte Methode vermittelt, die sie dann bei der Produktion eigener Texte umsetzen sollen. Auch in diesem Fall ergeben sich innerhalb eines methodischen Rahmens kreative Gestaltungsmöglichkei­ten. Dank der Orientierung an philosophischen Denkrichtungen erhält das »kreative Schreiben« eine fachspezifische Färbung. Ausdrücklich verweise ich darauf, dass in diesem Schreibverfahren die Vermittlung philosophischer Methoden unverzichtbar ist, damit tatsächlich eine neuartige Methodenkompetenz erworben werden kann. Ohne explizite Einführungen bleiben die Chancen dieser Art methodischen Lernens ungenutzt. Dabei bilden die Denkrichtungen nicht etwa den Gegenstand des Unterrichts. Die didaktische Kunst besteht hingegen darin, praktikable Verfahren des Philosophierens an Beispielen zu erläutern. Daraus resultieren dann möglichst genaue Aufgaben für die Produktion eigener Essays. Wie beim »kreativen Schreiben« gilt auch hier: Spontaneität und Fantasie entstehen erst unter methodischen Vorgaben. Eine derartige Vermittlung kann je nach Lerngruppe und Situation unterschiedlich aufwändig ausfallen. Im Folgenden werde ich exemplarisch andeuten, wie eine Einführung in philosophische Methoden durchgeführt werden

P. Janich: Das Maß der Dinge; E. Jelden, Prototheorien-Praxis und Erkenntnis; T. Rentsch, »Einführung in den Konstruktivismus«; J. Rohbeck, »Proto-Philosophie  – didaktisch gewendet«; ders., Didaktik der Philosophie und Ethik, 105 ff. 17  J. Rohbeck, »Didaktische Potenziale philosophischer Denkrichtungen«; siehe auch die von mir herausgegebenen Bände 2, 3 und 4 des Jahrbuchs für Didaktik der Philosophie und Ethik; T. Rentsch / J. Rohbeck: »Essays schreiben  – aber mit Methode«; J. Rohbeck, Didaktik der Philosophie und Ethik, 175 ff. 16 

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kann und welche Ergebnisse dabei zu erwarten sind. Dazu wähle ich die Phänomenologie aus, die sich zum kreativen Schreiben besonders gut eignet. Diese Denkrichtung hat den Vorteil, dass sie es in besonderer Weise erlaubt, an die Erfahrungen der Studierenden anzuknüpfen. Doch sollte man nicht die Illusion hegen, diese Erfahrungen seien unmittelbar zugänglich. Es bedarf einer methodischen Anleitung, um die Wahrnehmungen zum Thema einer phänomenologischen Reflexion zu machen.18 Für eine entsprechende Einführung gebe ich hier nur folgende Stichworte: Die Phänomenologie ist eine philosophische Methode, durch die alltägliche »Phänomene« unserer Lebenswelt in den Vordergrund rücken. Dabei kommt es darauf an, das Nicht – Selbstverständliche oder das Verborgene hinter dem offen zutage Liegenden bewusst zu machen. Thema der Phänomenologie sind daher Bewusstseinsinhalte, Strömungen von Gedanken und Gefühlen, die sich bei der Wahrnehmung und beim Erleben unwillkürlich einstellen. Dazu eignen sich mehrere spezielle Verfahren wie die Methode der sowohl kognitiven als auch emotionalen Ent-Täuschung, mit deren Hilfe das Selbstverständliche alltäglicher Erlebnisse zum Vorschein gebracht werden kann. Eine weitere Methode ist die Verlangsamung oder Dehnung eines Ereignisses, das in kurzer Zeit stattgefunden hat und im Essay ausführlich beschrieben wird. Ebenso ertragreich ist die Beschreibung einer Wahrnehmung bei gleichzeitiger Bewegung des eigenen Leibs. Überhaupt spielt der Wechsel der Perspektiven eine Rolle: Ich versetze mich in die Lage eines anderen Wesens. Die entsprechende Schreibaufgabe lautet: Schreiben Sie ein Essay nach der phänomenologischen Methode über einen Gegenstand oder über ein Erlebnis; wenden Sie dabei die Methoden der Enttäuschung, der Verlangsamung oder des Perspektivwechsels an; oder schreiben Sie ein Essay über die Selbstwahrnehmung Ihres Leibes. Um ein konkretes Bild solcher Schreibübungen zu vermitteln, folgt der Anfang eines Essays, den eine Studentin mit Hilfe der Methode der Selbstwahrnehmung geschrieben hat.

Sand Aufgrund eines Tanztheaterworkshops liege ich am Boden – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Augen geschlossen haltend lausche ich auf die Stimme der Leiterin und horche nach der Stimme meines Körpers. »Stellt euch vor, ihr läget im Sand. Wie sieht euer Körperabdruck aus, wie fühlt er sich an?« Zwei Sätze, die eine ganze Kette von Gedanken in mir auslösen und mich neu begreifen lassen. Ich liege doch auf dem Boden und nicht im Sand. Warum soll ich mir mich im Sand vorstellen? Bei Sand muss ich immer an Strand und Sandkasten denken. Da ich aber nicht Burgen bauen, sondern liegen soll, denke ich an Badetücher und feinste

H. Schmitz, Neue Phänomenologie; B. Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie; T. Rentsch: »Phänomenologie als methodische Praxis«. 18 

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Sandkörnchen im Haar und auf der Haut. Der Sand ist weich und gibt nach, empfängt meine Körperformen und bildet diese als mein Negativ ab. Wenn ich jetzt den Boden unter mir spüre, so kann ich mir vorstellen, wie der Boden Sand ist. Ich muss aber wenigstens einmal die Erfahrung gemacht haben, wie Sand sich anfühlt und wie er auf das Körpergewicht reagiert. Der Boden, auf dem ich jetzt liege, ist aus Holz mit einem schwarzen Tanzteppich überzogen, demnach alles andere als weicher Sand. Und doch lässt er mich meinen Körper spüren. Er ist ein Widerstand zu meinem Körper, und trotzdem habe ich ein Gefühl von Weichheit, da dieser Boden mich ebenfalls aufnimmt. Er fängt mich auf, lässt mich nicht ins Bodenlose gleiten, ich kann mich von ihm abdrücken, um empor zu schnellen. Er ist Körper, der meinen Körper berührt. Mit dem Bild des Sandes vor meinen geschlossenen Augen spüre ich meinem Körper nach. Nicht alle Körperteile liegen auf dem Boden auf; die Vorderseite selbstverständlich nicht, doch auch nicht Nacken, mittlerer Rücken, da ich Hohlkreuz habe, nicht meine Kniekehlen sowie Achillessehnen und beide Fußsohlen. Würde ich mir jetzt nur meinen Abdruck vorstellen, so sähe ich mehr oder weniger runde und unterschiedlich tiefe Druckstellen im Sand, die teilweise unverbunden in einem abgegrenzten Areal liegen würden. Müsste ich jetzt nur anhand dieser Abdrücke Rückschlüsse auf meinen Körper ziehen, so würde ich aus schwebenden Fleischklumpen bestehen, da eine Verbindung der einzelnen Körperteile nicht als Abdruck existiert. Da mir aber die Tanzleiterin sicherlich nicht weismachen wollte, dass mein Hals eine Illusion ist, muss sie auf eine Fähigkeit von mir gebaut haben, die über die bloße Vorstellung von Abdrücken im Sand hinausgeht. […] Sibylle Slavik, Studentin Um eine derartige Methodenkompetenz zu vermitteln, sind bestimmte Übungen erforderlich. Folgende Schritte haben sich in der Praxis bewährt: Nachdem die Methode einer philosophischen Denkrichtung erläutert worden ist, erhalten die Studierenden die Aufgabe, das kennen gelernte Verfahren anzuwenden, indem sie nach dieser Vorlage eigene Essays schreiben. Daraufhin werden die selbst verfassten Texte im Seminar gelesen und kommentiert. Bei der Beurteilung und Leistungsbewertung leitet das Kriterium der methodischen Stringenz. Zwar spielen Originalität und Kreativität eine große Rolle, aber eben auch die handwerkliche Präzision bei der Anwendung bestimmter Methoden. Auf diese Weise wird das Methodenlernen zu einem integralen Bestandteil des akademischen Unterrichts. 4.  Konsequenzen für die Fachdidaktik Philosophie Das Modell der Transformation hat für die Fachdidaktik im Rahmen der Lehrerausbildung in den Fächern Philosophie und Ethik weit reichende Folgen. Weil dieses Modell im Kern auf die Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Disziplin und Unterrichtspra-

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xis zielt, betrifft es auch das Curriculum der entsprechenden Studiengänge, insbesondere den Umfang und die interne Beziehung der fachlichen und didaktischen Anteile. Wenn man vom traditionellen Schema der didaktischen »Reduktion« oder »Elementarisierung« ausgeht, kommt es im Studium letztlich nur auf solche »elementaren« Fachkenntnisse an, die im Unterricht tatsächlich behandelt werden. Polemisch formuliert: Ob die Studierenden ihr reiches Wissen »reduzieren« oder ob sie es nie besessen haben, läuft auf dasselbe hinaus. Viel wichtiger scheint es unter dieser Voraussetzung zu sein, das vermeintlich »Elementare« für die Unterrichtspraxis umzusetzen. Um sich darauf zu konzentrieren, gilt das praktisch nicht verwertbare und daher »überflüssige« Wissen als eher störend. Aufgrund der bisherigen Diskussionen fürchte ich, dass die Reaktionen auf die PISA-Studie in diese Richtung einer falschen Pädagogisierung und Didaktisierung gehen könnten. Diese Tendenz hat nicht zuletzt auch Folgen für das Profil der Fachdidaktiker an Universitäten und Hochschulen. Hier wiederholt sich vielfach das curriculare Dilemma, wenn die Aufgabe der Fachdidaktik darauf beschränkt wird, den »elementaren« Wissensstoff unterrichtsmethodisch aufzubereiten. So ist es an den meisten Instituten für Philosophie üblich, die ministeriell vorgeschriebene »Didaktik der Philosophie und Ethik« kostengünstig als Lehrauftrag an einen »Praktiker« zu delegieren. Nun soll deren Engagement und Leistung hier nicht geschmälert werden. Doch wirksamer wäre die Einrichtung von mehr Planstellen für Fachdidaktik. Denn ein solcher institutioneller Rahmen böte die Gewähr dafür, dass mehr »Vermittler« zwischen wissenschaftlicher Disziplin und schulischem Unterricht lehrend und auch forschend tätig würden. Das wissenschaftliche Profil einer so verstandenen Fachdidaktik besteht darin, aus didaktischer Perspektive die akademische Philosophie nach unterrichtspraktischen Potentialen zu durchforsten. Wie ein Jäger und Sammler sucht der (die) Fachdidaktiker(in) im historischen und systematischen Bestand der Philosophie nach solchen Praktiken, die sich an gewünschte Lernziele und zu vermittelnde Kompetenzen anbinden lassen. Als Jäger formt er die »großen« Theorien in didaktische Konzepte um, als Sammler findet er am Rande ausgetretener Pfade unbekannte Texte, methodische Einfälle, schlagende Beispiele, graphische Darstellungen usw., die neue Impulse für die Unterrichtspraxis geben können. Insbesondere sollte sich der sowohl fachlich als auch didaktisch ausgewiesene Spezialist für Vermittlung um eine Synthese von Philosophie und ihrer Didaktik bemühen. Denn den angehenden Lehrern fehlt nicht etwa nur die Fähigkeit, ihre Fachkenntnisse zu vermitteln, sondern häufig fehlt ihnen auch das schulrelevante Wissen. Im Bereich der Weiterbildung ist dies ein Dauerthema. Und mit den konsekutiven Studiengängen wird sich diese Tendenz vermutlich noch verschärfen. Zwar helfen wissenschaftliche Kenntnisse wenig, wenn man sie nicht an den Schüler zu bringen vermag. Doch umgekehrt ist die beste Didaktik wirkungslos, wenn die fachlichen Voraussetzungen fehlen. Es bedarf eines neuen Seminartyps, in dem fachliches Wissen und Unterrichtspraxis integrativ vermittelt werden. Auf diesem Feld ergeben sich neue Aufgaben für die Fachdidaktik Philosophie und Ethik.

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Rohbeck, Johannes: »Proto-Philosophie – didaktisch gewendet«, J. Rohbeck (Hg.): Didaktische Transformationen, Dresden 2003, 150–166. Rohbeck, Johannes: »Transformationen  – Zum Problem der Vermittlung in der Philosophiedidaktik«, in: D. Birnbacher / J. Siebert / V. Steenblock (Hgg.): Philosophie und ihre Vermittlung, Hannover 2003, 71–82. Rohbeck, Johannes: Didaktik der Philosophie und Ethik, Dresden 2008. Rohbeck, Johannes: »Dialektisches Philosophieren nach Hegel«, in: ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik, Dresden 2008, 145–160. Runggaldier, Edmund: Analytische Sprachphilosophie, Stuttgart, Berlin, Köln 1990. Schmitz, Herrmann: Neue Phänomenologie, Bonn 1980. Schnädelbach, Herbert: »Philosophische Argumentation«, in: Philosophie. Ein Grundkurs, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1985. Steenblock, Volker: »Hermes und die Eule der Minerva. Zur Rolle der Hermeneutik in philosophischen Bildungsprozessen«, in: J. Rohbeck (Hg.): Philosophische Denkrichtungen, Dresden 2001, 81–115. Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilo­sophie, Stuttgart 1987– 1989, 4 Bde. Tetens, Holm: Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung, München 2004. Waldenfels, Bernhard: Einführung in die Phänomenologie, München 1992. Wilson, John: Be­griffsanalyse, Stuttgart 1984. Wuchterl, Kurt: Methoden der Gegenwartsphilosophie, Bern / Stuttgart / Wien 1999. Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen, Basel 1994.

Der Status der Philosophie in hochschuldidaktischer Perspektive Thomas Rentsch

1.  Die initiale Bedeutung der Philosophiedidaktik Ich beginne mit einer sowohl fachlichen wie persönlichen Bemerkung. In den Jahren der Kooperation mit Johannes Rohbeck an der TU Dresden ergaben sich Schwerpunkte im Bereich der Ausbildung der Ethiklehrerinnen und Ethiklehrer, die auch zu einer besonderen Akzentuierung der Didaktik der Ethik und der Philosophie führten. In einer Reihe von gemeinsamen Seminaren verdichtete sich diese Schwerpunktbildung noch einmal, indem spezifische Formen didaktischer Vermittlung philosophischer Kerngehalte erfunden und erprobt wurden. Diese Fokussierung auf didaktische Fragen war meinem eigenen philosophischen Werdegang und meinem Philosophieverständnis zunächst – so schien es mir jedenfalls – fern und fremd. Ich hatte mich seit längerem mit speziellen Untersuchungen zur Negativität bei Hegel und Adorno beschäftigt, angesichts derer mir Fragen didaktischer Vermittlung auf den ersten Blick als etwas Äußerliches erschienen. Wie veränderte sich jedoch diese Sichtweise innerhalb weniger Monate! Mir wurde deutlich, dass die Vermittlungsfrage keineswegs dem Philosophieren und dem genuin philosophischen Denken äußerlich ist, sondern im Gegenteil: dass diese Frage, recht verstanden, den systematischen Kern des Philosophieverständnisses, den Status der Philosophie selbst betrifft. Wesentlicher Auslöser dieser Änderung der Sichtweise war die von Johannes Rohbeck eingesetzte Praxis des Schreibens philosophischer Texte seitens der Studierenden. In den außergewöhnlich lebendigen und anregenden Seminaren, in denen wir diese Schreibpraxis erprobten, zeigte sich, dass viele Studierende in der Lage waren, im Medium literarischer Schreibpraxis philosophische Denk- und Vorgehensweisen, d. h.: philosophische Methoden, selbständig zu entwickeln und auf oft durchaus originelle Art einzusetzen. Sie redeten nicht mehr über Platon und Aristoteles, über Kant und Hegel, über Sokratische Dialoge, die Struktur der Dialektik oder das Wesen phänomenlogischer Beschreibungen, sondern sie praktizierten diese Methoden selbst im Medium literarischer Darstellungsformen. Dabei fiel besonders auf, dass die behandelten Themen und Inhalte der literarischen Texte allesamt aus der alltäglichen Lebenserfahrung und Lebenspraxis stammten, ob es dabei um eigentümliche Erfahrungen wie das Eisbaden, um Träume, Fehlleistungen, Erinnerungen an die Kindheit oder um die eingehende Beschreibung von Räumen oder Situationen ging. Es ergab sich bei näherer Betrachtung eine dreidimensionale Beziehung zwischen genuin philosophischer Methode,

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eigenständiger Schreibpraxis und dem Bezug auf die lebensweltliche Alltagserfahrung mitsamt der jedermann zugänglichen Alltagssprache.1 Diese dreidimensionale Beziehung wirft nun ein Licht auf den Status der Philosophie. Durch die schreibpraktische Improvisation der philosophischen Methoden seitens der Studierenden beeindruckt, wurde mir klar, wie genau ihre Leistungen systematischen Reflexionen von Ludwig Wittgenstein, aber auch Thesen der Erlangen-Konstanzer Schule entsprachen – Traditionen, die mein eigenes Denken stark beeinflussten. Diese Entsprechung lässt sich mit einer These zum Status der Philosophie bzw. zur Methode der Philosophie zuspitzen: Alle philosophischen Methoden lassen sich als kunstvolle Hochstilisierungen alltagssprachlicher Praktiken begreifen. Diese Genese aus der alltäglichen Sprachpraxis hat weitreichende Konsequenzen für das Philosophieverständnis. Es handelt sich bei der Einsicht in diese Genese um eine Anwendung des ordinary language approach auf die Philosophie selbst. Ebenso lässt sich diese Einsicht mit den Alltagsanalysen Heideggers in Sein und Zeit (»Analyse der durchschnittlichen Alltäglichkeit«) sowie mit dem Ansatz der Lebensweltanalyse des späten Husserl (Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Aufgabe der transzendentalen Phänomenologie) verbinden. Mehr noch: Wenn wir diese eigentliche Basis, die Lebensbasis der philosophischen Methoden und des philosophischen Denkens wirklich erfassen und ernstnehmen, dann gelangen wir auch zur Rekonstruktion zentraler kritischer Thesen und Einsichten von Marx, Nietzsche und Freud. Und ein weiterer Punkt wird deutlich: Entgegen der schulmäßigen Vereinseitigung und Verselbständigung philosophischer Methoden: etwa in den Formen der Phänomenologie, der Analytischen Philosophie, der Hermeneutik, der Dialektik, der Ideologiekritik, des Konstruktivismus und der Dekonstruktion, entgegen einer solchen Vereinseitigung entspräche eine Philosophie der mehrdimensionalen Komplexität der Alltagssprache und der Alltagspraxis, aus der sie in Wirklichkeit hervorgeht, wenn sie alle Methoden zum Einsatz bringt – je nach den Erfordernissen der Reflexion.

2.  Das alltagssprachliche Fundament der philosophischen Methoden Betrachten wir auf diesem Hintergrund das alltagssprachliche Fundament der philosophischen Methoden genauer. 1. Der Ansatz der Phänomenologie gründet in der alltagssprachlich eröffneten Möglichkeit der zutreffenden, genauen Beschreibung von Phänomenen  – sich zeigenden Gegenständen welcher Art auch immer.2 Bereits in Alltagssituationen sind wir darauf an-

1  Vgl. dazu die Bände: J. Rohbeck, Philosophische Denkrichtungen; ders., Denkstile der Philosophie; ders., Didaktische Transformationen, sowie ders., Anschauliches Denken. 2  Vgl. zur Phänomenologie: Th. Rentsch, »Phänomenologie als methodische Praxis«.

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gewiesen, sprachlich Situationen und Gegenstände, Erfahrungen und Sinneseindrücke zu vergegenwärtigen, die für uns selbst oder für andere nicht gegenwärtig sind. So z. B., wenn wir einem Suchenden einen Weg beschreiben, den er fahren oder gehen kann, oder, wenn wir gemeinsam einen Eindruck zu erfassen und zu beschreiben versuchen, den wir noch nicht einordnen, noch nicht deuten, noch nicht verstehen können. Ein Geräusch, ein Lichteindruck in der Nacht – sie werden auf die Frage: Was war das? gemeinsam zu beschreiben versucht, um ihr Wesen zu erfassen. Dabei tritt bereits in der Alltagserfahrung ein Variantenreichtum in den Blick, der die Abwandlungsmöglichkeiten lebensweltlicher Phänomene zeigt. Wenn die Phänomenologie später in elaborierter Form von eidetischer Variation spricht, so ist diese Wandlungsfähigkeit in der Alltagserfahrung zunächst rätselhafter Phänomene von vornherein angelegt. Ebenso ist die Abständigkeit der Epoché bzw. Reduktion dort angelegt, wenn wir zunächst nicht wissen, was das Geräusch bzw. der Lichteindruck eigentlich war. Das phänomenologische Bemühen schließlich um rein sachliche, wesensbezogene Beschreibung beruht im Fall der Alltagsbeispiele auf dem schlichten pragmatischen Interesse an Orientierung in der Alltagspraxis der Lebenswirklichkeit. Für die phänomenologische Methode in elaborierter Gestalt ist es besonders kennzeichnend, dass sie in der Lage sein muss, Täuschungen und Verdeckungen freizulegen und wegzuarbeiten. Aber auch diese kritische Dimension ist in der alltäglichen Beschreibungspraxis ganz grundsätzlich und selbstverständlich angelegt. Ist das nicht Frau X, die dort hinten am Tor vorbeigeht? Nein, Frau X ist doch größer. Ist das eine Zeichnung des kleinen Moritz? Oder ist es eine zufällige Kombination von Farbklecksen? Kannst du erkennen, was für ein Gebäude dort auf dem Berg steht? Ist das eine Burg oder eine alte Werksanlage? An diesen Beispielen wird deutlich: das genaue Beschreiben von Phänomenen unter Einschluss der pragmatischen Reflexion auf die ganze Brandbreite von Variationsmöglichkeiten sowie auf Täuschungen und Verdeckungen ist eine fundamentale, zentrale und unverzichtbare Möglichkeit der Alltagssprache. Die Nutzung der Alltagssprache und der ständige Rekurs auf sie und die mit ihr artikulierten Erfahrungen bleibt für die entwickelte phänomenologische Methode stets grundlegend. Alle höherstufige Terminologie lebt von diesem semantisch-pragmatischen Fundament und seiner spezifischen Grammatik. Das gilt auch für die Neue Phänomenologie und ihre besondere Akzentuierung der leiblichen Erfahrungsbasis. Unser Leib ist die Mitte unserer Lebenswelt schlechthin, bei Tag und bei Nacht, im Wachsein und im Schlaf. Wir haben keinen anderen Zugang zu dieser Mitte als die alltägliche Erfahrung und die mit ihr fest verwobene Alltagssprache. 3 2. Auch die Analytische (Sprach-)Philosophie mit ihren vielen Spielarten steht auf der (unüberschaubar komplexen) Basis der Alltagssprache, welche Formalisierungen sie auch auf dieser Basis vornimmt. Nahezu alle erwachsenen Menschen auf der Welt sind in der Lage, ganze Sätze in ganzen (holistisch begriffenen) Lebenssituationen verständlich zu formulieren und auch zu verstehen. Dies ist die prädikativ-propositionale Basis der menschlichen Weltorientierung. Die meisten Menschen verfügen über diese Basis, ohne

Vgl. dazu: H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand; dazu: Th. Rentsch, »Zur Unerschöpflichkeit des Gegenstandes bei Hermann Schmitz«. 3 

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grammatische, semantische oder logische Analysen explizit durchführen zu können. Das pragmatische Können, das in die Lebenspraxis eingebettet ist, dort gelernt, weiterentwickelt und ein Leben lang tragfähig gehalten wird und werden muss, dieses pragmatische Können enthält bei näherer Betrachtung implizit, als »Tiefenstruktur«, die grammatischen, semantischen und logischen Strukturen. In Wirklichkeit, so könnte man überspitzt sagen, »gibt es« die separat explizit freigelegten, z. B. logischen Strukturen nicht »an sich« – ebensowenig wie die Syntax oder die Grammatik in der Form einer »Universalgrammatik«. Vielmehr gelingt die Rekonstruktion dieser Strukturen nur auf der Basis des grundlegenden gewöhnlichen Sprachgebrauchs. In ihm gründen auch analytische Rückfragen nach der intendierten Bedeutung (»Was meinst du, wenn du sagst…«) und Rückfragen nach Begründungen (»Warum bist du so sicher, dass sich die Sache so abgespielt hat?«; »Warum glaubst du, dass x diese Absichten hat?«) sowie nach Rechtfertigungen (»Wieso hast du dich in dieser Angelegenheit so entschieden?«): Welche formalisierbare und präzisierbare Sprachmöglichkeit wir auch betrachten mögen, ob Prädikatorenregeln, Definitionen oder auch die Quantoren  – in der Umgangssprache ist diese Möglichkeit jeweils bereits implizit enthalten und eröffnet, ebenso die Möglichkeit der Kategorienverwechslung wie auch ihrer Beseitigung und Richtigstellung.4 Der Zweig der modernen Sprachphilosophie, der sich konsequent der Alltagssprache zuwendet, die ordinary language philosophy im Anschluss an den späten Wittgenstein, folgt bereits wesentlich den hier vorgestellten Thesen. Aber auch die formalen und idealsprachlichen Ansätze sind bleibend auf die umgangssprachliche Rückbindung angewiesen.5 Eine der weitreichendsten systematischen Leistungen der Sprachphilosophie des 20.  Jahrhunderts war sicher ihr Klärungsbeitrag hinsichtlich der Eigentümlichkeit des Bereichs des Mentalen, des Bewusstseins, des Psychischen. Wittgenstein, Ryle, aber auf ihre Weise auch Quine und Davidson haben versucht, die fragwürdige Ontologie dieses Bereichs als eines »innen« vorgestellten Raums zu klären bzw. diese Ontologie als metaphorisch zu erweisen und zu eliminieren. In diesem Kontext, der die Kritik und Destruktion des bewusstseinsphilosophischen Paradigmas zumindest von Descartes bis zum Deutschen Idealismus betrifft, lässt sich unabhängig von schulspezifischen Ausrichtungen der Analyse für unsere Thematik festhalten, dass unabhängig von konkreten Sprachgebrauchssituationen mit klar erkennbaren äußeren Kriterien sich keine mentalen Ausdrücke einführen, verwenden und verstehen lassen. Im alltäglichen Sprachgebrauch (»Was geht in dir vor?«; »Was denkst du gerade?«; »Heute nacht habe ich geträumt, dass …«; »Erinnert ihr euch noch, wie wir damals …«;« »Spürst du auch, dass hier eine eigentümliche Stimmung herrscht?«) ist ohne metasprachliche und theoretische Reflexion evident, dass die psychologische und bewusstseinsbezogene, auf unser »Inneres« bezogene Rede der explikativen Erläuterung und der pragmatischen Kontextualisierung und Einbettung in konkrete, verstehbare Lebenssituationen bedarf, um überhaupt verstehbar zu sein.

Vgl. dazu: R. B. Brandom, Begründen und Begreifen. Vgl. dazu: W. Lübbe / Th. Rentsch, »Ordinary language philosophy« sowie G. Gabriel / F. Kambartel / Th. Rentsch, »Analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie«. 4  5 

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3. Nicht nur Phänomenologie und Analytische Philosophie, auch die Hermeneutik hat eine ihr entsprechende alltagssprachliche Basis. Es ist in der Alltagspraxis, wo wir verstehen wollen und verstehen müssen: »Was meinst du, wenn du dies so formulierst?«; »Verstehe ich dich richtig, wenn ich dich so wiedergebe …«; »Könnte das, was er gesagt hat, nicht auch so gemeint gewesen sein?« Das Sprach- wie das Textverstehen und das Wissen um die Bandbreite von möglichen Verständnissen und Missverständnissen, die Angewiesenheit auf Interpretationen, auf Deutungen, prägt unser praktisches Alltagsleben von Beginn an und durchgehend, insbesondere auf der interpersonalen Ebene der Kommunikation und Interaktion. Das Textverstehen im engeren Sinne ist nur ein abkünftiger Modus der primär existentiell-praktischen Ebene des Verstehens von Droh- und Mahnworten, Sprachen der Achtung und Anerkennung, des Vertrauens und der Offenheit, der Vorsicht und Zurückhaltung. Rhetorische, literarische, komische und tragische, witzige, humorvolle, zynische, sarkastische, heuchelnde, schleimige oder aufrichtige, authentische Formen der Sprachverwendung sind primär im Alltagsleben vertraut bzw. müssen dort kennen gelernt werden. Erst, wenn wir sie in der Praxis mehr oder weniger sicher identifizieren können, ist uns auch ein textliches, inszeniertes, fiktionales Vergegenwärtigen solcher Sprachgebräuche überhaupt zugänglich und verständlich. Das Auslegen, Deuten und Interpretieren hat seinen klaren und eindeutigen primären Sitz im Kontext von alltäglichen Lebensformen: »Oma, warum guckst du so traurig?: »Herr X ist von sich sehr eingenommen, und so verlautbart er sich auch.«; »Frau X redet hinter ihrem Rücken anders.«; »Ich habe von ihm noch nie etwas Unsachliches gehört.«; »Kann ich mich auf diese Zusage auch wirklich verlassen?«; »Wie soll ich sie nur verstehen?!« Die Kontextualität, die Situationsbezogenheit, die Perspektivität allen Verstehens und aller »Hermeneutik« ist in der alltäglichen, z. B. familiären, kollegialen und öffentlichen Interaktion ebenso bewusst wie die damit oft verbundene Schwierigkeit, Offenheit und Unbestimmtheit unserer Deutungs- und Auslegungspraxis (»Ich glaube, manchmal versteht er sich selber nicht.«; »Weißt du, was du da gesagt hast?«; »Weißt du, was das bedeutet?«). In der hermeneutischen Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts wurde die Zeitlichkeit des Verstehens besonders stark akzentuiert (Heidegger, Gadamer). Auch dieses hermeneutische Urphänomen ist alltäglich vertraut und sinnkon­stitutiv: »Als ich das damals sagte, war das jugendlicher Überschwang.«; »In der letzten Zeit bin ich mit solchen Urteilen sehr vorsichtig geworden.«; »Seit ich sie persönlich kennen gelernt habe, kann ich ganz anders reden.«; »Man muss einmal seine früheren Sprüche mit dem vergleichen, was er jetzt sagt.« Tiefgreifender Bedeutungswandel, Veränderungen im Sprachgebrauch, Missverständnisse, Interpretationshindernisse, die Notwendigkeit, auf die jeweiligen »Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens« explizit zu reflektieren  – all dies ist in der Alltagssprachpraxis der verstehenden und interpretierenden Interaktion enthalten und entwickelt. Allerdings ist auch hier  – wie bei den schon thematisierten Bereichen  – die Alltagssprache ihre eigene Metasprache. D. h., es werden zum Zweck der Beschreibung, der analytischen Klärung wie auch des Verstehens keine fachsprachlich-metasprachlichen terminologischen Mittel eigens erfunden.

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4. Auch Grundformen der Dialektik, des Widersprechens und des Gegensatzes sind in der alltäglichen Sprachpraxis tief verwurzelt.6 Die Sokratischen Dialoge zeigen eine Gesprächsform, die bereits im alltäglichen Umgang mit zu klärenden, strittigen Fragen, Problemen und Meinungen angewandt wird. Welche Verhaltensweise ist besser, angemessener? Wie sollen wir Person x beurteilen? Ist sie glaubwürdig? Ist diese politische Entscheidung richtig? Bin ich verpflichtet, diese Aufgabe zu übernehmen? Lässt sich dieser Entwicklung ein vernünftiger Sinn abgewinnen? Im alltäglichen Umgang mit dem Für und Wider, dem pro und contra wird bereits klar, dass die spätere methodologische Stilisierung der Dialektik als hochkomplexer Denkform ihre Basis in gelebten Praxisformen hat. Scheler hat den Menschen als Neinsagenkönner definiert; mit dieser Definition sind bereits die Dimensionen der Freiheit und der Selbstbestimmung im Blick, ebenso die Differenzen von Schein und Sein, von Erscheinung und Wesen. Denn nur in den Modi der Negation und der Negation der Negation gelangen wir zu fundamentalen Differenzierungen im Wirklichkeitsverständnis, die empirisch wie begrifflich verschiedene und sich widersprechende Perspektiven als jeweils nachvollziehbar begreiflich machen. Bereits im alltäglichen Diskurs über die Belange der Lebenspraxis ist die negativ-kritische Dimension der Dialektik insofern angelegt, als die Freilegung von Lüge, von täuschendem Schein und von mannigfachen Formen von Unglaubwürdigkeit und unwahren Aussagen für diesen Diskurs konstitutiv und notwendig ist. Es ließe sich ausführlich zeigen, dass Formen der negativen Dialektik und der Ideologiekritik ebenfalls in der lebensweltlichen Praxis angelegt sind. Elementare sprachlich artikulierbare Orientierungsformen der Wahrheit wie Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit, Vertrauen, Offenheit und Ehrlichkeit leben in ihrem Gebrauch bereits davon, verfehlt und ausgenutzt, missbraucht und verkehrt werden zu können. Ohne diese praktische Basis wäre keine weitergehende methodologische Ausformung der Dialektik möglich. 5. Der philosophische Konstruktivismus insbesondere in der Ausprägung der Erlangen-Konstanzer Schule geht bereits von elementaren Lehr- und Lernsituationen aus, von dialogischen Gesprächssituationen, in denen die »großen Worte« der Philosophie im Kontext der basalen Alltagssprache und -praxis methodisch schrittweise und nachvollziehbar rekonstruiert werden sollen.7 Am Paradigma einer Proto-Ethik habe ich einen solchen Aufbau mit folgenden Stufen entwickelt: 1. Stufe: die elementare Einführungssituation, in der wir es auch mit der Leibbasis, den Gefühlen, der sozialen Basis unserer Praxis zu tun haben; 2. Stufe: die Stufe bereits nonverbaler Reziprozitäten (durch Zeichensprache, Körpersprache); 3. Stufe: die Stufe expliziter Bedürfnisartikulation, auf der wir unsere Bewertungen zunächst äußern; 6  Vgl. dazu: J. Rohbeck, »Verkehrte Welt – Dialektik als Methode der Kritik«; zur Vorgeschichte der Dialektik vgl. auch: Th. Rentsch, »Die Kultur der quaestio. Zur literarischen Formgeschichte der Philosophie im Mittelalter«. 7  Vgl. dazu die ausführliche Analyse in: Th. Rentsch, »Einführung in den Konstruktivismus – Proto-Ethik und didaktische Transformation«.

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4. Stufe: die Stufe der dialogischen Kommunikationssituation mit argumentativen Mitteln auf der interpersonalen Ebene; 5. Stufe: die Stufe der expliziten Negation – hier ist der Ort des expliziten Bestreitens und Negierens, des Zurückweisens von Ansprüchen und vor allem von konkreten Handlungen, der Ort auch der alltäglichen Eröffnung der Dimensionen von Verantwortung, Selbstbestimmung und praktischer Freiheit; 6. Stufe: die erste Stufe der Transsubjektivität, partiale moralische Universalität; 7. Stufe: die zweite Stufe der Transsubjektivität, die uneingeschränkte Universalität. Entscheidend für diese modellhafte Konstruktion der moralischen Universalität ist die grundsätzliche Einsicht, dass die bedeutungsverleihende lebensweltliche, schon nonverbale Basis (Stufe 1 und 2) der leiblichen und sozialen Interaktion und Reziprozität immer erhalten bleibt, auf welcher Vermittlungsstufe auch immer – auch die Gefühls­ebene. Das heißt: In Wirklichkeit bleiben alle Stufen der Rekonstruktion kopräsent und müssen immer wieder neu aufeinander bezogen und vermittelt werden. Kopräsent bleiben auf diese Weise auch die vielen Verhinderungs- und Einschränkungsfaktoren, die der Konkretisierung vernünftiger Praxis im Wege stehen. Eine Stufe 8 wäre die der praktischen Klugheit (phronesis), auf der genau diese Einsicht in die extreme Begrenztheit und Gefährdetheit vernünftiger Orientierungen sozial und kommunikativ gegenwärtig gehalten werden müsste. An dieser Stelle könnten auch sinnvoll rekonstruierbare Aspekte der Dekonstruktion im Kontext der lebensweltlichen Praxis und Sprachverwendung verständlich gemacht werden: Erstens die fundamentalen interexistentiellen und existentiellen Modi der Differenz, der zwischenmenschlichen Ferne bei aller Nähe, aber auch der Ferne zu mir selbst in früheren Zeiten meines Lebens und auch jetzt; zweitens die damit verbundenen kontextuell bedingten Bedeutungsdifferenzen, die wir nie gänzlich einholen und aufheben können; drittens, damit verbunden, auch ein reflexives Bewusstsein der Kontextualität, Ferne und Fremdheit uns scheinbar naher Bedeutungen, Texte und Wahrheitsansprüche. Allerdings führen solche Anknüpfungen an bestimmte Analysen und Thesen der Dekonstruktion nicht zum Bedeutungsskeptizismus oder gar -nihilismus, nicht zur bloß negativistischen Dekonstruktion und nicht zu einer quasi-metaphysischen Ontologisierung von Differenz und zirkulären Aufschub-Iterationen. Vielmehr weisen diese negativ-kritischen Aspekte vorwärts in die Richtung eines sinnkriterialen hermeneutischen Holismus und in die Richtung einer zu entwickelnden kritischen Hermeneutik. Im abschließenden Teil meines Beitrags werde ich daher Schlussfolgerungen aus den vorgestellten Analysen ziehen, die ein künftiges Philosophieverständnis betreffen.

3.  Das Partialsprachenargument und die Perspektive einer kritischen Hermeneutik Mit drei ausblickhaften Thesen will ich meine Überlegungen abrunden. Die bisherigen Erläuterungen des alltagssprachlichen Fundaments der (aller) philosophischen Methoden machen zunächst deutlich, was in vielen Gegenwartsdiskussionen immer wieder vergessen wird: Philosophie ist keine Fach- oder Einzelwissenschaft. Sie ist weder eine Natur- noch

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eine Geistes- oder Kulturwissenschaft. Vielmehr untersucht und klärt sie die begrifflichen und damit auch die normativen Grundlagen unserer Verständnisse sowohl des Natürlichen wie auch der kulturellen Phänomene. Insbesondere die Naturwissenschaften sind selbst kulturelle Phänomene unserer sozialen und kommunikativen Praxis. Auf diesem Hintergrund lautet meine erste These: Die Methode der Philosophie kann mit Sokrates und Platon grundsätzlich als Erinnerung an das Selbstverständliche, aber Vergessene und Verdrängte bestimmt werden, als Anamnesis. Näherhin, und das zeigten die vorangegangenen Ausführungen, lässt sich diese Anamnesis und die damit verbundene Hebammenkunst als Erinnerung an den Sprachgebrauch in der alltäglichen Lebenspraxis präzisieren. Mit dieser Bestimmung können wir sowohl an Sokrates als auch an den späten Wittgenstein anschließen.8 Die Bestimmung umspannt – und trägt nach meiner Auffassung – also die gesamte bisherige Geschichte der Philosophie. Im Blick auf Wittgenstein sei in diesem Zusammenhang nur auf die Bedeutung seiner sechsjährigen Tätigkeit als Volksschullehrer hingewiesen. Diese Tätigkeit bildet mitsamt der Abfassung des Wörterbuchs für Volksschulen die eigentliche Zäsur zwischen der Früh- und der Spätphilosophie, zwischen Tractatus und Philosophischen Untersuchungen, zwischen formalem Idealsprachenprogramm und Alltagssprachanalyse. Dass hierbei Elemente der pädagogischen Erfahrung und der Didaktik zentrale Anregungen gegeben haben, steht außer Zweifel und bestätigt noch einmal die viel zu oft verkannte Tragweite der initialen Funktion von Didaktik für die Klärung philosophisch- methodologischer Grundfragen.9 Viele Beispiele und Sprachspielmodelle in den Philosophischen Untersuchungen entstammen elementaren Lehr- und Lernsituationen. Die möglichen Antworten auf die Frage danach, wie wir einen Wortgebrauch lernen (die Rede von unseren Empfindungen und Gefühlen, die Rede von den Farben, die Rede von Gott), diese Antworten sind für Wittgenstein eines der tragfähigsten Mittel, um die verborgene Grammatik unserer Sprache tiefenhermeneutisch freizulegen. Meine zweite These lautet: Angesichts der sinnkonstitutiven Genesis der philosophischen Methoden aus der Alltagssprachpraxis muss das philosophische Denken sich aller Methodenelemente bewusst bedienen und darf die Methodenelemente nicht gegeneinander vereinseitigen und voneinander abspalten. Erst so wird eine holistische kritische Hermeneutik möglich, nicht jedoch, wenn wir einseitig beschreibende, zerlegende, auslegende, gegensatzorientiert-negierende, nur ideologiekritische, bloß konstruierende oder bloß dekonstruktive Verfahren isoliert anwenden. Wittgenstein schärft deswegen ein, für das Philosophieren sei einseitige Kost besonders schädlich. Ein Methodenisolationismus unterliefe, so können wir sagen, bereits die inhä8  Instruktiv ist der Beitrag: W. Kienzler, »Was ist Philosophie?«; dazu W. Kienzler, Wittgensteins Wende zu seiner Spätphilosophie 1930–1932. 9  Dazu: K. Wünsche, Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein.

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renten, unendlich komplex ausdifferenzierten Vernunftpotentiale der Alltagssprache mit all ihren Varianten, Verzweigungen und internen Nuancen und Subtilitäten.10 Das wirft im Übrigen auch ein Licht auf die Bedeutung von Rhetorik, Literatur und Dichtung für das philosophische Denken, die immer noch viel zu wenig berücksichtigt wird.11 Ein Missverständnis dieser zweiten These muss unbedingt vermieden werden; als handle es sich bei der kritischen Hermeneutik um das Projekt eines »Methodenpluralismus« (oder gar -relativismus), in dem die verschiedenen soeben thematisierten Methoden in ihrer jeweiligen schulmäßig elaborierten Form nebeneinander, ohne Verbindung miteinander, eingesetzt werden. Wir müssen die Methoden vielmehr in ihren produktiven Ergänzungs- und Vermittlungspotentialen begreifen und anwenden. Die phänomenologischen, analytischen, hermeneutischen, dialektischen, ideologiekritischen, kon­ struktivistischen und dekonstruierenden Methodenelemente qualifizieren, verifizieren, falsifizieren und kritisieren sich wechselseitig. Gegen einen schulmäßigen Methodenmonismus lässt sich somit in Analogie zum Privatsprachenargument Wittgensteins ein Partialsprachenargument entwickeln, das ich hier nur ganz kurz skizziere. Wie wäre es, wenn wir zu unserer Weltorientierung nur ein Sprachspiel, wenn auch komplex ausdifferenziert und subtil vertieft, verwenden würden? Wenn wir nur beschreiben, oder nur analysieren, nur auslegen, oder nur streiten würden? Ersichtlich wäre eine gravierende Einschränkung der Weltorientierung die Folge, ein reduktionistisches Lebens- und Praxisverständnis. Unsere Weltorientierung lebt demgegenüber gerade von dem komplexen Zusammenspiel aller unserer grundsätzlichen Sprachspielmöglichkeiten. Nur auf diese perspektivische Weise ist die Dimension einer kritischen Hermeneutik methodisch erreichbar, die die unüberschaubar komplexe, theoretisch weder ableitbare noch aus partialen Strukturen oder formalen Prinzipien deduzierbare Vielfalt der natürlichen Sprache und der mit ihr verwobenen Lebensformen wirklich unreduziert erschließt und in ihren Vernunftpotentialen zu begreifen sucht. Meine dritte These lautet: Gerade der reflexive, sinnkriteriale Rückgang auf Alltagssprache und Lebenspraxis macht eine kritische Abarbeitung von Verdeckungstendenzen und scheinhaften Oberflächenphänomenen unverzichtbar. Kritische Hermeneutik ist Tiefenhermeneutik in aufklärender Absicht. Für dieses Vorgehen paradigmatische Autoren sind in der klassischen Moderne Marx, Nietzsche und Freud. Marx zeigt, dass die alltäglichen Wahrnehmungen und Beurteilungen der politischen Ökonomie wie auch ihre Grundbegriffe, z. B. Arbeit, Wert und Ware, Geld und Tausch von tiefgreifenden Täuschungen, Verzerrungen und Irrtümern geprägt sind, die sich auch bis in die Theoriebildung und die Ideologie hinein fortsetzen. Nietzsche zeigt, dass gerade im Kernbereich der Moralität Selbsttäuschungen, Illusionen 10  Vgl. dazu: N. Rescher, Der Streit der Systeme, sowie H. Nowotny / P. Scott / M. Gibbons, Wissenschaft neu denken. 11  Vgl. dazu: G. Gabriel / Ch. Schildknecht, Literarische Formen der Philosophie; G. Gabriel, Zwischen Logik und Literatur; ders., Logik und Rhetorik der Erkenntnis; J. Rohbeck, Rhetorik.

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und Ressentiments leitend sind, die schwer aufzuklären sind, da sie die abendländische Kultur bis tief in die alltäglichen Lebensverständnisse beherrschen. Freud zeigt, dass Verdrängungen, Verschiebungen und Verdeckungen ein authentisches Verhältnis der Menschen zu ihrer Triebnatur und zu der unbewussten Seite ihrer leiblichen Existenz, zu Traum, Angst und Tod verstellen.12 Die Fortsetzung solcher klassischen Ansätze einer kritischen Tiefenhermeneutik kann exemplarisch in Analysen Heideggers zur durchschnittlichen Alltäglichkeit in Sein und Zeit, in Analysen Wittgensteins zur Tiefengrammatik der Alltagssprache in den Philosophischen Untersuchungen, aber auch in den exemplarischen Analysen Adornos zu alltäglichen Verdinglichungs- und Entfremdungsphänomenen z. B. in den Minima Moralia gesehen werden.13 Auch Analysen von Stanley Cavell gehören in der Gegenwartsphilosophie zu den Ansätzen, die das Alltägliche – the ordinary – zum Ausgangspunkt einer sinnkritischen Hermeneutik des komplexen Verhältnisses von naturaler Faktizität und sozialer Normativität nehmen.14 Mit diesen drei Thesen zur Anamnesis, zum Holismus und zur Aufklärungsperspektive lässt sich der Status der Philosophie als anamnetische, holistische Tiefenhermeneutik in kritischer Absicht durch reflexiven Rückgang in die Alltagssprache und -praxis bestimmen. In konstruktiver Perspektive sollte sie auf diesem Hintergrund fortfahren, praktisches, und d. h. politisches Reden und Argumentieren lehrbar zu machen. Dabei kommen Gesichtpunkten der Erziehungstheorie und der rationalen Rhetorik eine viel größere Bedeutung zu, als gemeinhin angenommen wird.15

Literatur Brandom, Robert B.: Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt a. M. 2001. Cavell, Stanley: The Claim of Reason. Wittgenstein, skepticism, morality, and tragedy, Oxford 1979. Gabriel, Gottfried / Kambartel, Friedrich / Rentsch, Thomas: »Analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie«, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 7., Basel 1989, 786–792. Gabriel, Gottfried / Schildknecht, Christiane (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990. Gabriel, Gottfried: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991. Gabriel, Gottfried: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Paderborn 1997.

Vgl. dazu: Th. Rentsch, »Aufhebung der Ethik«; ders., Die Konstitution der Moralität. Vgl. dazu: Th. Rentsch, Heidegger und Wittgenstein; ders., Negativität und praktische Vernunft. 14  S. Cavell, The Claim of Reason. 15  Vgl. dazu: P. Lorenzen, »Das Begründungsproblem politischen Wissens«; J. Rohbeck, »Rhetorik und Philosophiedidaktik«. 12  13 

Der Status der Philosophie in hochschuldidaktischer Perspektive

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Kienzler, Wolfgang: Wittgensteins Wende zu seiner Spätphilosophie 1930–1932. Frankfurt a. M. 1997. Kienzler, Wolfgang: »Was ist Philosophie?«, in: Th. Rentsch (Hg.), Einheit der Vernunft? Normativität zwischen Theorie und Praxis, Paderborn 2005, 13–24. Lorenzen, Paul: »Das Begründungsproblem politischen Wissens«, in: ders., Theorie der technischen und politischen Vernunft, Stuttgart 1978. Lübbe, Weyma / Rentsch, Thomas: »Ordinary language philosophy«, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 6, Basel 1984, 1246–1248. Nowotny, Helga / Scott, Peter / Gibbons, Michael: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewissheit, Weilerswist 2004. Rentsch, Thomas: »Die Kultur der quaestio. Zur literarischen Formgeschichte der Philosophie im Mittelalter«, in: G. Gabriel / Ch. Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, 73–91. Rentsch, Thomas: »Zur Unerschöpflichkeit des Gegenstandes bei Hermann Schmitz«, in: Philosophische Rundschau Heft 1–7(1993), 121–128. Rentsch, Thomas: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 21999. Rentsch, Thomas: »Aufhebung der Ethik«, in: ders., Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt a. M. 2000, 46–80. Rentsch, Thomas: »Phänomenologie als methodische Praxis. Didaktische Potentiale der phänomenologischen Methode«, in: J. Rohbeck (Hg.): Denkstile der Philosophie, a. a. O., 11–28. Rentsch, Thomas: Heidegger und Wittgenstein. Stuttgart2 2003. Rentsch, Thomas: Negativität und praktische Vernunft, a. a. O., 252–291. Rentsch, Thomas: »Einführung in den Konstruktivismus – Proto-Ethik und didaktische Transformation«, in: J. Rohbeck (Hg.): Didaktische Transformationen, a. a. O., 139– 149. Rescher, Nicholas: Der Streit der Systeme. Ein Essay über die Gründe und Implikationen philosophischer Vielfalt, Würzburg 1997. Rohbeck, Johannes (Hg.): Philosophische Denkrichtungen. Dresden 2001. Rohbeck, Johannes (Hg.): Denkstile der Philosophie. Dresden 2002. Rohbeck, Johannes: »Verkehrte Welt – Dialektik als Methode der Kritik«, in: ders. (Hg.): Denkstile der Philosophie, a. a. O., 29–62. Rohbeck, Johannes (Hg.): Didaktische Transformationen. Dresden 2003. Rohbeck, Johannes (Hg.): Anschauliches Denken. Dresden 2005. Rohbeck, Johannes (Hg.): Rhetorik, Zeitschrift f. Didaktik der Philosophie und Ethik Heft 2 (2005). Rohbeck, Johannes: »Rhetorik und Philosophiedidaktik«, in: ders. (Hg.): Rhetorik, a. a. O., 98–106. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990. Wünsche, Konrad: Der Volksschullehrer Ludwig Wittgenstein. Frankfurt a. M. 1985.

AUTORINNEN UND AUTOREN

Abel, Günter: geb. 1947, Professor Dr., TU Berlin, Institut für Philosophie, Innovationszentrum Wissensforschung (IZW)/Berlin Center for Knowledge Research. Arbeitsschwerpunkte: Sprachund Zeichenphilosophie, Philosophie des Geistes, Epistemologie. Letzte Veröffentlichungen: Epistemische Objekte – was sind sie und was macht sie so wertvoll? Programmatische Thesen im Blick auf eine zeitgemäße Epistemologie, Die Transformation der Wissensordnungen und die Herausforderungen der Philosophie, Forms of Knowledge: Problems, Projects, Perspectives. Anjum, Rani Lill: geb. 1974, Norwegian University of Life Sciences and University of Nottingham. Arbeitsschwerpunkte: Kausalitätstheorie, Theorie der Dispositionen. Letzte Veröffentlich­ ungen: Double prevention and powers (mit S. Mumford), Spoils to the Vector (mit S. Mumford), Getting Causes from Powers (mit S. Mumford). Asmuth, Christoph: geb. 1962, apl. Professor Dr., Technische Universität Berlin, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Transzendentalphilosophie, Deutscher Idealismus, Philosophie der Antike und des Mittelalters. Letzte Veröffentlichungen: Kant und Fichte – Fichte und Kant, Der Eine oder der Andere. Gott in der Philosophie des Deutschen Idealismus und im Denken der Gegenwart (mit K. Drilo), Theorie der Bildlichkeit. Wahrnehmung – Zeichen – Begriff. Bartels, Andreas: geb. 1953, Professor Dr., Universität Bonn, Philosophisches Institut. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Physik, Wissenschaftstheorie der Kognitionswissenschaften. Letzte Veröffentlichungen: Animal Minds and the Possession of Concepts (mit A. Newen), Functional role theories of representation and content explanation: with a case study from spatial cognition (mit M. May), Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch (mit M. Stöckler). Beisbart, Claus: geb. 1970, Dr., Dr., Technische Universität Dortmund, Institut für Philosophie und Politikwissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Ethik und Metaethik, Wissenschaftsphilosophie, Social und Public Choice Theory, Kant. Letzte Veröffentlichungen: Kant‘s Characterization of Natural Ends, Groups Can Make a Difference: Voting Power Measures Extended, Can we Justifiably Assume the Cosmological Principle in order to Break Model Underdetermination in Cosmology? Bertram, Georg W.: geb. 1967, Professor Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Ästhetik. Letzte Veröffentlichungen: Sprachphilosophie zur Einführung, In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus (mit M. Seel u.a.), Socialité et reconnaissance (mit R. Celikates u.a.). Bickmann, Claudia: Prof. Dr., Universität zu Köln, Philosophisches Seminar; Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ontologie, Religionsphilosophie, Philosophie der Antike, Kants und des Deutschen Idealismus, Interkulturelle Philosophie. Letzte Veröffentlichungen:

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Autorinnen und Autoren

Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein, (Hg.), Religion und Philosophie im Widerstreit?, Kants Weltphilosophie, »Hegels Annäherung an das Verhältnis von Glauben und Wissen«, »The in-itself-contradicting Nature of the Dao interpreted within the Horizon of Plato and Kant«. Binkelmann, Christoph: geb. 1974, Dr., Technische Universität Berlin, Philosophisches Institut. Arbeitsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Anthropologie. Letzte Veröffentlichungen: Selfpreservation and self-consciousness. Hegel’s critique of a Spinozian concept, Hegel in der Tradition des politischen Denkens, Die Hand in der Geschichte zwischen Kant und Fichte. Borsche, Tilman: geb. 1947, Professor Dr., Universität Hildesheim, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Zeichenphilosophie, Kulturphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Meditative Variation oder dialektischer Fortschritt. Wege der Selbstreflexion des Denkens bei Cusanus und Hegel, Sprachen der Philosophie. Argumente für die aktuelle Dringlichkeit eines Blicks über die Grenzen europäischer Sprachen hinaus, Die Sprache als Medium der Medien (des menschlichen In-der-Welt-Seins). Brendel, Elke: geb. 1962, Professor Dr., Lehrstuhl für Logik und Grundlagenforschung, Institut für Philosophie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: analytische Erkenntnis- und Sprachphilosophie, philosophische Logik und Argumentationstheorie. Letzte Veröffentlichungen: Contextualism, Relativism, and Factivity, Epistemischer Zufall und das Menon Problem, Understanding Quotation (mit J. Meibauer, M. Steinbach). Brink, Alexander: geb. 1970, Professor Dr. Dr. rer. pol., Universität Bayreuth und Private Universität Witten / Herdecke. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftsethik, Unternehmensethik, Bioethik. Letzte Veröffentlichungen: Leadership in sozialen Organisationen, The Agency Problem and Medical Acting: An Example of Applying Economic Theory to Medical Ethics, Hirschman’s Rhetoric of Reaction: U.S. and German Insights in Business Ethics. Brugger, Winfried: geb. 1950, Professor Dr., LL.  M., Universität Heidelberg, Institut für Staatsrecht, Verfassungslehre und Rechtsphilosophie. Arbeitsschwerpunkte: Öffentliches Recht, Staatslehre, Rechtsphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Freiheit und Sicherheit. Eine staatstheoretische Skizze mit praktischen Beispielen, Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert. Carr, David: geb. 1940, Professor, Emory University Atlanta, Department of Philosophy. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologie, Husserl, Geschichtsphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Time, Narrative and History, Interpreting Husserl, The Paradox of Subjectivity. Carrier, Martin: geb. 1955, Professor Dr., Universität Bielefeld, Abteilung Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Wissenschaftstheorie: Zur Einführung, Raum-Zeit.

Autorinnen und Autoren

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Conant, James: geb. 1958, Professor PhD, University of Chicago, Fachbereich Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Ästhetik. Letzte Veröffentlichungen: Hilary Putnam: Pragmatism and Realism, Analytic Kantianism, Philosophical Topics, The Road Since Structure: Philosophical Essays, 1970–1993 (mit J. Haugeland). Dupré, John: geb. 1952, Professor Dr., University of Exeter, Department of Sociology & Philosophy, ESRC Centre for Genomics in Society (Egenis), Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Philosophie der Biologie. Letzte Veröffentlichungen: Genomes and What to Make of Them (mit Barry Barnes), The Constituents of Life, Darwin‘s Legacy: What Evolution Means Today. Enskat, Rainer: geb. 1943, Professor Dr., Martin-Luther-Universität-Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie. Letzte drei Veröffentlichungen: Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Religion trotz Aufklärung? Esfeld, Michael: geb. 1966, Professor Dr., Universität Lausanne, Philosophisches Institut. Arbeitsschwerpunkte Naturphilosophie, Philosophie der Physik, Philosophie des Geistes. Letzte Ver­ öffentlichungen: Philosophie des Geistes. Eine Einführung, Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Kausale Strukturen. Eine Theorie der Einheit der Natur und der Naturwissenschaften (mit C. Sachse). Føllesdal, Dagfinn: geb. 1932, C. I.  Lewis Professor of Philosophy, Stanford University. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Philosophie der Mathematik, Phänomenologie. Letzte Veröffentlichungen: Referential Opacity and Modal Logic, Low Dose Exposures in the Environment: Dose-Effect Relations and Risk Evaluation, W. V. Quine, Confessions of a Confirmed Extensionalist and Other Essays. Fuchs, Thomas: geb. 1958, Professor Dr. Dr., Universitätsklinikum Heidelberg, Klinik für Allgemeine Psychiatrie. Arbeitsschwerpunkte: Phänomenologische Anthropologie und Psychopathologie, Theorie der Psychiatrie und Neurobiologie. Letzte Veröffentlichungen: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Leib und Lebenswelt. Gabriel, Gottfried: geb. 1943, Professor Dr., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Philosophisches Institut. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Logik, Ästhetik. Letzte Veröffentlichungen: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung, Ästhetik und Rhetorik des Geldes, Einführung in die Logik. Gabriel, Markus: geb. 1980, Professor Dr., Universität Bonn, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Metaphysik, Deutscher Idealismus. Letzte Veröffentlichungen: Skeptizismus und Idealismus in der Antike, An den Grenzen der Erkenntnistheorie, Der Mensch im Mythos.

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Autorinnen und Autoren

Gethmann, Carl Friedrich: geb. 1944, Professor Dr. Dr. h.c., Universität Duisburg-Essen, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Phänomenologie, Angewandte Ethik. Letzte Veröffentlichungen: Logik und Topik, Langzeitverantwortung. Ethik – Technik – Ökologie (mit J. Mittelstraß), Vom Bewußtsein zum Handeln. Grunwald, Armin: geb. 1960, Professor Dr., Universität Karlsruhe (TU), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS). Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Methodik der Technikfolgenabschätzung, Technikphilosophie, Technikethik, nachhaltige Entwicklung. Letzte Veröffentlichungen: Technik und Kultur. Bedingungsund Beeinflussungsverhältnisse (mit G. Banse), Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft. Philosophisch-ethische Fragen, Technik und Politikberatung. Gunnarsson, Logi: geb. 1963, Professor Dr., Universität Dortmund, Institut für Philosophie und Politikwissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Philosophie des Geistes, Metaphysik. Letzte Veröffentlichungen: Philosophy of Personal Identity and Multiple Personality, Making Moral Sense: Beyond Habermas and Gauthier, Wittgensteins Leiter: Betrachtungen zum Tractatus. Guo, Yi: geb. 1962, Professor PhD, Chinese Academy of Social Sciences, Institute of Philosophy. Arbeitsschwerpunkte: Confucianism, Daoism, Chinese Classics. Letzte Veröffentlichungen: The Guodian Bamboo Texts and the Learning and Thought in Pre-Qin Period (Guodian Zhujian Yu Xianqin Xueshu Sixiang), Confucius, Additional and Corrected Version of the Completed Analects of Confucius (Kongzi Jiyu Jiaobu). Gutmann, Mathias: geb. 1966, Professor Dr. Dr., Philipps-Universität Marburg, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Technikphilosophie, Anthropologie, Wissenschaftstheorie. Letzte Veröffentlichungen: Transformationen des Humanen, Sprache und Sprechen als Formen kultureller Interaktion – Über ein aktuelles Begründungsprogramm (mit W. Warnecke), Konstruktion oder Evolution der Zeit? Gutmann, Thomas: geb. 1964, Professor Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät. Arbeitsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Grundfragen des Medizinrechts, der medizinischen Ethik und der Biopolitik, Theorie und Philosophie des Privat­ rechts. Letzte Veröffentlichungen: ›Gattungsethik‹ als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst?, Paternalismus – eine Tradition deutschen Rechtsdenkens?, Ethik und Recht der Präimplantationsdiagnostik. Habermas, Jürgen: geb. 1929, Professor Dr. Dr. h.c. mult., Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Diskurstheorie, Theorie des Kommunikativen Handelns, Religionsphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Zwischen Naturalismus und Religion, Ach, Europa, Philosophische Texte.

Autorinnen und Autoren

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Hampicke, Ulrich: geb. 1944, Professor Dr., Universität Greifswald, Rechts- und Staats­ wissenschaftliche Fakultät. Arbeitsschwerpunkte: Ökonomie des Naturschutzes und der Kulturlandschaft, Fragen im Grenzgebiet von Ökonomie und Ethik. Letzte Veröffentlichungen: Der schwierige Umgang mit Kollektivgütern, Der Markt löst nicht alle Probleme – mikroökonomische Analyse und ein Beispiel, Intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit. Hartmann, Dirk: geb. 1964, Professor Dr., Universität Duisburg-Essen, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Logik. Letzte Veröffentlichungen: Intervening in the Brain. Changing Psyche and Society, Posttraditionalität und Ethik, Eine gebrauchstheoretische Semantik formal relevanten Schlussfolgerns. Hartmann, Stephan: geb. 1968, Professor Dr., Tilburg University, Niederlande, Tilburg Center for Logic and Philosophy of Science. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Wissenschaftsphilosophie, Philosophie der Physik, Bayesianische Erkenntnistheorie, Soziale Erkenntnistheorie und Sozialwahltheorie. Letzte Veröffentlichungen: Consensual Decision-Making Among Epistemic Peers (mit C. Martini, J. Sprenger), Bayesian Epistemology (mit A. Hájek), Walter the Banker: The Conjunction Fallacy Revisited (mit W. Meijs). Hilgendorf, Eric: geb. 1960, Professor Dr. Dr., Universität Würzburg, Juristische Fakultät. Arbeitsschwerpunkte: juristische Grundlagenforschung, Medizin- und Internetstrafrecht, Rechtsvergleich. Letzte Veröffentlichungen: Die deutschsprachige Strafrechtsrechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Biomedizinische Forschung in Europa (mit S. Beck), Ostasiatisches Strafrecht. Hoffmann, Thomas Sören: geb. 1961, Professor Dr., Fern-Universität Hagen, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Praktische Philosophie, Bioethik. Letzte Veröffentlichungen: Integrative Bioethik. Beiträge des 1. Südosteuropäischen Bioethik-Forums, Mali Lošinj 2005, Hegel als Schlüsseldenker der modernen Welt. Beiträge zur Deutung der ›Phänomenologie des Geistes‹ aus Anlaß ihres 200-Jahr-Jubiläums, Wirtschaftsphilosophie. Ansätze und Perspektiven von der Antike bis heute. Hogrebe, Wolfram: geb. 1945, Professor Dr., Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie. Letzte Veröffentlichungen: Echo des Nichtwissens, Wirklichkeit des Denkens, Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Hoyningen-Huene, Paul: geb. 1946, Professor Dr., Leibniz Universität Hannover, Zentrale Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik (ZEWW). Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Wissenschaftsentwicklung in historischer und systematischer Perspektive, Philosophie der Physik, der Biologie und der Psychologie, Reduktion und Emergenz. Letzte Veröffentlichungen: Der universale Leibniz: Denker, Forscher und Erfinder (mit T. Reydon, H. Heit), Reference, ontological replacement, and Neo-Kantianism: a reply to Sankey (mit E. Oberheim),

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Autorinnen und Autoren

Rethinking Scientific Change and Theory Comparison: Stabilities, Ruptures, Incommensurabilities (mit L. Soler, H. Sankey). Hubig, Christoph: geb. 1952, Professor Dr., Universität Stuttgart, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Technik- und Kulturphilosophie, Anwendungsbezogene Ethik, Sozialphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Bildung und Kompetenz, Die Kunst des Möglichen, Bd. 2: Ethik der Technik als provisorische Moral, Die Kunst des Möglichen, Bd. 1: Technikphilosophie als Reflexion der Medialität. Hüttemann, Andreas: geb. 1964, Professor Dr., Universität zu Köln, Philosophisches Seminar. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Frühe Neuzeit. Letzte Veröffentlichungen: What’s wrong with Microphysicalism?, Zur Deutungsmacht der Biowissenschaften, Time, Chance and Reduction (mit G. Ernst). Janich, Peter: geb. 1942, Professor Dr., Philipps Universität Marburg, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie von Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Handlungstheorie, Sprachphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Was ist Information? Kritik einer Legende, Kultur und Methode. Philosophie in einer wissenschaftlich geprägten Welt. Jestaedt, Matthias: geb. 1961, Professor Dr., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Fachbereich Rechtswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Gemeinschaftsrecht, Rechtstheorie und Rechtswissenschaftstheorie. Letzte Veröffentlichungen: Das mag in der Theorie richtig sein… Vom Nutzen der Rechtstheorie für die Rechtspraxis, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, Hans Kelsen Werke (bislang 3 Bde.). Kienpointner, Manfred: geb. 1955, Professor Dr., Universität Innsbruck, Institut für Sprachen und Literaturen. Arbeitsschwerpunkte: Rhetorik und Argumentation, kontrastive Linguistik, strukturelle Semantik. Letzte Veröffentlichungen: Argumentationstheorie, The Case for Core Meaning, Plausible and Fallacious Strategies of Silencing one’s Opponent. Koch, Gertrud: geb. 1949, Professor Dr., Freie Universität Berlin, Seminar für Filmwissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Filmtheorie, Ästhetische Theorie. Letzte Veröffentlichungen: Einfühlung, Es ist als ob. Fiktion in Philosophie, Literatur und Medien (mit C. Voss), Inszenierungen der Politik (mit P. Diehl). Köchy, Kristian: geb. 1961, Professor Dr. Dr., Universität Kassel, Institut für Philosophie, Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie, Naturphilosophie, angewandte Ethik. Letzte Veröffentlichungen: Natur im Labor (mit G. Schiemann), Biophilosophie zur Einführung, Nanobiotechnologien. Philosophische, anthropologische und ethische Fragen. Kock, Christian: geb. 1946, Professor Dr., Universität Kopenhagen, Humanistische Fakultät. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Rhetorik, Argumentation, politische Rhetorik.

Autorinnen und Autoren

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Letzte Veröffentlichungen: Norms of Legitimate Dissensus, Dialectical Obligations in Political Debate, Choice Is Not True Or False: The Domain of Rhetorical Argumentation. Koslowski, Peter: geb. 1952, Professor Dr. Dr. h.c., Freie Universität Amsterdam, Fakultät für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Wirtschaftsethik, Metaphysik. Letzte Veröffentlichungen: Ethik des Kapitalismus, Ethik der Banken. Folgerungen aus der Finanzkrise, Philosophien der Offenbarung. Kreis, Guido: geb. 1970, Dr., Universität Bonn, Institut für Philosophie. Arbeitsschwer­punkte: Theorien der Rationalität und der Erkenntnis, Transzendentalphilosophie, Klassische deutsche Philosophie. Letzte Veröffentlichungen: Cassirer und die Formen des Geistes, Gottesbeweise von Anselm bis Gödel (mit J. Bromand), Was sich nicht sagen läßt (mit J. Bromand). Lembeck, Karl-Heinz: geb. 1955, Professor Dr., Julius Maximilians Universität Würzburg, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie, Geschichtsphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Theorie, Neukantianismus, Phänomenologie und Hermeneutik, Paul Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. Lüthe, Rudolf: geb. 1948, Professor Dr., Universität Koblenz-Landau, Institut für Kulturwissenschaft: Seminar Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Neuzeit, Kulturphilosophie, Geschichtsphilosophie, Theorie der Geisteswissenschaften. Letzte Veröffentlichungen: David Hume. Historiker und Philosoph, Grundprobleme einer Theorie der historischen Erfahrung, Der Ernst der Ironie. Mahrenholz, Simone: Professor Dr., Berliner Technische Kunsthochschule. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Medienphilosophie, Philosophie des Geistes. Letzte Veröffentlichungen: Kreativität – Eine philosophische Analyse, Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Musik und Erkenntnis. Maitland, Ian: geb. 1944, Professor, University of Minnesota. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Wirtschaft. Letzte Veröffentlichungen: Distributive justice in firms: Do the rules of corporate governance matter?, The great non-debate over international sweatshops, Community lost? McKenzie Alexander, Jason: geb. 1972, Dr., London School of Economics and Political Science, Department of Philosophy, Logic and Scientific Method. Arbeitsschwerpunkte: Evolutionary game theory, philosophy of social science, philosophy of science. Letzte Veröffentlichungen: Robustness, Optimality, and the Handicap Principle, Local Interactions and the Dynamics of Rational Deliberation, Social Deliberation: Nash, Bayes and the Partial Vindication of Gabriele Tarde. Merker, Barbara: Professor Dr., Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Dt. Idealismus (Kant, Hegel), Phänomenologie (Husserl, Heidegger), Praktische Philosophie. Letzte Veröffentlichungen: Verstehen nach  Heidegger und  Brandom, Leben

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Autorinnen und Autoren

mit Gefühlen. Emotionen, Werte und ihre Kritik, Jenseits des Hirns. Zu Hegels Philosophie des subjektiven Geistes.  Mertens, Karl: geb. 1958, Professor Dr., Julius Maximilians Universität Würzburg, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkt: Handlungstheorie, Sozialphilosophie, Erkenntnistheorie. Letzte Veröffentlichungen: Möglichkeiten und Grenzen einer phänomenologischen Theorie des Handelns: Überlegungen zu Davidson und Husserl, Die Kontextualität des Verstehens in Heideggers Daseinshermeneutik und Brandoms inferentialistischer Heidegger-Interpretation, Verstrickt in den Kompatibilismus. Bemerkungen zur gegenwärtigen Freiheitsdebatte. Mohr, Georg: geb. 1956, Professor Dr., Universität Bremen, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Musikphilosophie, Rechtsphilosophie, Philosophie des Geistes. Letzte Veröffentlichungen: Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant, Kants Grundlegung der kritischen Philosophie, Die Realität der Zeit (mit J. Kreuzer). Mumford, Stephen: geb. 1965, Professor, University of Nottingham, Department of Philosophy. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik, Russell, Philosophie des Sports. Letzte Veröffentlichungen: Dispositions, Laws in Nature, David Armstrong. Nagl, Ludwig: geb. 1944, Professor Dr., Universität Wien, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Gegenwartsphilosophie (Pragmatismus / Neopragmatismus, Dekonstruktion), Film­ästhetik und Medienphilosophie, Religionsphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Viele Religionen – eine Vernunft? Ein Disput zu Hegel (mit H. Nagl-Docekal, W.  Kaltenbacher), Systematische Medienphilosophie (mit M. Sandbothe), Film / Denken – Thinking Film (mit E. Waniek, B. Mayr). Nida-Rümelin, Julian: geb. 1954, Professor Dr., Staatsminister a. D., Ludwig-Maximilians Universität München, Philosophisches Seminar. Arbeitsschwerpunkte: Rationalitätstheorie, Ethik, politische Philosophie. Letzte Veröffentlichungen: Über menschliche Freiheit, Demokratie und Wahrheit, Philosophie und Lebensform. Niebergall, Karl-Georg: geb. 1961, Professor Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Logik und Sprachphilosophie, Ontologie, Wissenschaftstheorie. Letzte Veröffentlichungen: On About: Definitions and principles, Calculi of individuals and some extensions: an overview, On 2nd order calculi of individuals. Nimtz, Christian: geb. 1968, Professor Dr., Friedrich-Alexander Universität Erlangen Nürnberg, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Meta-Philosophie. Letzte Veröffentlichungen: The A Priori and Its Role in Philosophy (mit N. Kompa, C. Suhm), Lexikon Philosophie. Hundert Grundbegriffe (mit S. Jordan), Conceptual Truth Defended.

Autorinnen und Autoren

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Nordmann, Alfred: geb. 1956, Professor Dr., Technische Universität Darmstadt, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Technowissenschaften. Letzte Veröffentlichungen: Technikphilosophie zur Einführung. Ott, Konrad: geb. 1959, Professor Dr., Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Umweltethik, Diskursethik, Theorie nachhaltiger Entwicklung. Letzte Veröffentlichungen: Moralbegründungen zur Einführung, Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit (mit R. Döring), Umweltethik zur Einführung. Patzek, Barbara: geb. 1948, apl. Professor Dr., Universität Duisburg-Essen, Historisches Institut. Arbeitsschwerpunkte: Alter Orient und griechische Antike, Homer und die griechische Geschichtsschreibung. Letzte Veröffentlichungen: Götter und Helden im Alten Orient und in den homerischen Epen: Homers Ilias und das Gilgamesch-Epos, Homer and the Near East: The case of Assyrian historical epic and prose narrative, Die Deiokes-Erzählung im Rahmen der Persergeschichten Herodots: Eine konsequente Reihe historisch-erzählerischer Sinngebungen. Perone, Ugo: geb. 1945, Professor Dr., Università del Piemonte Orientale, Philosophisches Institut. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Subjekts, Hermeneutik, Theorie der Moderne. Letzte Veröffentlichungen: Il presente possibile, La verità del sentimento, Kunst als Erfindung der Wahrheit. Potthast, Thomas: geb. 1963, Dr., Eberhard Karls Universität Tübingen, Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Geschichte und Theorie der Wissenschaften, Interdisziplinäre Forschungsansätze. Letzte Veröffentlichungen: Bioethik als inter- und transdisziplinäre Unternehmung, Biodiversität – Schlüsselbegriff des Naturschutzes im 21. Jahrhundert?, Wem gehört der menschliche Körper? Ethische, rechtliche und soziale Aspekte der Kommerziali­sierung des menschlichen Körpers und seiner Teile (mit B. Herrmann und U. Müller). Priddat, Birger E.: geb. 1950, Professor Dr., Universität Witten / Herdecke, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät. Arbeitsschwerpunkte: Institutionentheorie, Theoriegeschichte der Ökonomie und Politik, Modernisierungstheorien. Letzte Veröffentlichungen: Karl Marx, Politische Ökonomie, Non-Profit-Wirtschaft. Quante, Michael: geb. 1962, Professor Dr., Westfälische Wilhelms-Universität, Philosophisches Seminar. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Philosophie des Geistes (vor allem Philosophie der Person), Ethik. Letzte Veröffentlichungen: Einführung in die Allgemeine Ethik, Person, Enabling Social Europe. Rapp, Christof: geb. 1964, Professor Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Antike und ihr Verhältnis zu modernen Debatten in Ontologie, Ethik, Handlungstheorie und Philosophie des Geistes. Letzte Veröffentlichungen: Aristoteles, Topik (mit T. Wagner), Beiträge zur Aristotelischen Handlungstheorie (mit K. Corcilius), Epikur, Ausgewählte Fragmente.

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Autorinnen und Autoren

Rentsch, Thomas: geb. 1954, Professor Dr., Technische Universität Dresden, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Ethik, Philosophische Anthropologie, Sprachphilosophie und Hermeneutik, Religionsphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Transzendenz und Negativität, Zur Gegenwart der Philosophie, Gott, Negativität und praktische Vernunft. Roetz, Heiner: geb. 1950, Professor Dr., Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Ostasien­ wissenschaften Sektion Geschichte & Philosophie Chinas. Arbeitsschwerpunkte: Klassische chinesische Philosophie, Ethik, Interkulturelle Philosophie. Letzte Veröffentlichungen: Klassische chinesische Philosophie (mit H. Schleichert), The Book of Mencius and ist Reception in China and beyond, Kritik im alten und modernen China (mit G. Paul, C. Huang). Rohbeck, Johannes: geb. 1947, Professor Dr., Technische Universität Dresden, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der europäischen Aufklärung, Philosophie der Geschichte, Didaktik der Philosophie und Ethik. Letzte Veröffentlichungen: Didaktik der Philosophie und Ethik, Empirische Unterrichtsforschung und Philosophiedidaktik (mit U. Thurnherr, V. Steenblock), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts, Band 2 (mit H. Holzhey). Schiemann, Gregor: geb. 1954, Professor Dr., Bergische Universität Wuppertal, Philosophisches Seminar. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie, Geschichte der Wissenschaften und der Philosophie, Naturphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: Natur, Technik, Geist. Kontexte der Natur nach Aristoteles und Descartes in lebensweltlicher und subjektiver Erfahrung, Werner Heisenberg, The Significance of the Hypothetical in the Natural Sciences (mit M. Heidelberger). Schmidt-Biggemann, Wilhelm: geb. 1946, Professor Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie, Philosophieund Philologiegeschichte besonders in der Frühen Neuzeit. Letzte Veröffentlichungen: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit, Philosophia Perennis. Historical Outlines of Western Spirituality in Ancient, Medieval and Early Modern Thought, Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint Martin De Maistre Kleuker Baader. Schneider, Hans Julius: geb. 1944, Professor Dr., Universität Potsdam, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Allgemeine Wissenschaftstheorie, Philosophie der Geisteswissenschaften. Letzte Buch-Veröffentlichungen: Metapher, Kognition, Künstliche Intelligenz, Mit Sprache spielen: Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein (mit M. Kroß), Religion. Scholz, Oliver R.: geb. 1960, Professor Dr., Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Philosophisches Seminar. Arbeitsschwerpunkte: Theoretische Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart. Letzte Veröffentlichungen: Bild, Darstellung, Zeichen, Verstehen und Rationalität, Wittgenstein über die Seele (mit E. von Savigny).

Autorinnen und Autoren

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Schroeder-Heister, Peter: geb. 1953, Professor Dr., Universität Tübingen, Wilhelm-SchickardInstitut für Informatik. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie und Geschichte der Logik, Philosophische Semantik, Grundlagen der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Letzte Veröffentlichungen: Definitional Reasoning in Proof-Theoretic Semantics and the Square of Opposition, Lorenzen’s Operative Justification of Intuitionistic Logic, Proof-Theoretic versus Model-Theoretic Consequence. Schwemmer, Oswald: geb. 1941, Professor Dr., Humboldt-Universität zu Berlin, Philoso­ phisches Institut. Arbeitsschwerpunkte: Anthropologie, Kulturphilosophie, Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften. Letzte Veröffentlichungen: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Die kulturelle Existenz des Menschen, Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung. Spitzley, Thomas: geb. 1957, Professor Dr., Universität Duisburg-Essen, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Geistes, Theorien der Rationalität, Handlungs- und Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: First Person Authority (mit Th. Grundmann, R. Stoecker), Self-Knowledge and Rationality, Weak-Willed Animals? Steenblock, Volker: geb. 1958, Professor Dr., Ruhr-Universität Bochum, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Bildung, Kulturphilosophie, Didaktik der Philosophie und Ethik. Letzte Veröffentlichungen: Philosophische Bildung, Mensch und Kultur (mit H. -U. Lessing), Kolleg Praktische Philosophie (mit F. J. Wetz). Stekeler-Weithofer, Pirmin: geb. 1952, Professor Dr., Universität Leipzig, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Sprache, Handlungstheorie, Philosophie der Logik. Letzte Veröffentlichungen: Sprachphilosophie. Probleme und Methoden (mit F. Kambartel), Philosophiegeschichte, Formen der Anschauung. Eine Philosophie der Mathematik. Stolzenberg, Jürgen: geb. 1948, Professor Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Seminar für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Theorie der Subjektivität, Philosophie der Musik. Letzte Veröffentlichungen: Geschichten des Selbstbewußtseins, Fichte – Schelling – Hegel, Über die Seele (mit K. Crone, R. Schnepf), Kant-Lexikon (mit M. Willaschek, G. Mohr). Tengelyi, László: geb. 1954, Professor Dr., Bergische Universität Wuppertal, Philosophisches Seminar. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik, Transzendentalphilosophie, Phänomenologie. Letzte Veröffentlichungen: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, L’expérience retrouvée, Erfahrung und Ausdruck. Tetens, Holm: geb. 1948, Professor Dr., Freie Universität Berlin, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Logik und Argumentationstheorie, Metaphysik und Metaphysikkritik. Letzte Veröffentlichungen: Philosophisches Argumentieren, Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹. Ein systematischer Kommentar, Wittgensteins ›Tractatus‹.

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Autorinnen und Autoren

Wansing, Heinrich: geb. 1963, Professor Dr., Technische Universität Dresden, Institut für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: philosophische Logik, analytische Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie. Letzte Veröffentlichungen: The Power of Belnap: Sequent systems for SIXTEEN_3, Proofs, disproofs, and their duals, Generalized truth values. A reply to Dubois. Zimmerli, Walther Ch.: geb. 1945, Professor Dr. Dr. h.c., beurlaubter Philosophieprofessor der Philipps Universität Marburg, seit dem 15.05.2007 Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts- und Technikphilosophie, Angewandte Ethik, Ästhetik und Philosophiegeschichte. Letzte Veröffentlichungen: Erinnerung. Philosophische Positionen und Perspektiven (mit C. Lotz, T. R. Wolf), Technologie als Kultur, Erinnerungsmanagement. Systemtransformation und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich (mit J. Landkammer, T. Noetzel), Die Zukunft denkt anders. Wege aus dem Bildungsnotstand, Hans Jonas. Organismus und Freiheit. Philosophie des Lebens und Ethik der Lebenswissenschaften (Band I) (mit D. Böhler, M. Bongardt, H. Burckhart, C. Wiese). Zöller, Günter: geb. 1954, Professor Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München, Philosophisches Seminar. Arbeitsschwerpunkte: Kant, Deutscher Idealismus, Philosophie des Geistes. Letzte Veröffentlichungen: Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft, Autokratie. Die Psycho-Politik der Selbstherrschaft bei Platon und Kant, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Deutschen. Nietzsches Antikenprojekt.