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German Pages 430 Year 2015
Sabine Schmitz, Tuba Is¸ik (Hg.) Muslimische Identitäten in Europa
Globaler lokaler Islam
Sabine Schmitz, Tuba IS¸ik (Hg.)
Muslimische Identitäten in Europa Dispositive im gesellschaftlichen Wandel
Gefördert von der VolkswagenStiftung
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Inhalt Einleitung
Sabine Schmitz/Tuba Isik | 7
1. Ausbildung des Dispositivs Muslimsein in Verhandlung mit dem Staat und anderen Religionen Muslimische Grundhaltungen zum säkularen Rechtsstaat – eine deutsche und europäische Perspektive
Mathias Rohe | 19 Dispositiv Muslim in Deutschland – ein nie endendes Unterfangen
Tuba Isik | 43 Muslimische Zugehörigkeitskonstruktionen, Institutionen und kritische Kompetenz
Nikola Tietze | 65 Muslims in Spain: Visions of the Past and Present Experiences
Gema Martín Muñoz | 81
2. Ausbildung von Identitäten
innerhalb muslimischer Gemeinschaften Personale Identität und religiöser Glaube im Zeitalter der Kontingenz
Jürgen Straub | 99 Die Bildungsarbeit islamischer Organisationen und die Identitätsentwicklung junger Muslime in Deutschland
Ursula Boos-Nünning | 159 Muslim Social Media – an Alternative Online Public Sphere: Nuri Şenay and his internet Video-Platform muslime.tv
Asmaa Soliman | 179 Verhandlungsprozesse bosnischer Identitäten – eine Innenansicht
Samir Camic | 209
Muslimische Performanzen in Nachkriegsbosnien zwischen Konfession, Nation und Staatlichkeit
Malte Frye | 215 Autobiographische Innenansichten und fiktionale Rekonstruktionen sozialer und religiöser Marginalisierung. Annäherungen an den ›Fall Khaled Kelkal‹ und seine literarischen und medialen Darstellungsformen
Hans-Jürgen Lüsebrink | 247
3. Formungen von Strukturen und Inhalten des Dispositivs Muslimsein in Westeuropa Islam und Muslime im europäischen Kontext. Reden eines medienwirksamen Menschen (1993-2013): Tariq Ram adan Dominique Avon | 267
Criticism of Islam. Responses of Dutch Religious and Humanist Organizations Analyzed
Sipco J. Vellenga | 299 Muslime und Nicht-Muslime in Brüssel: Reflexion sforen und das Foucaultsche Konzept des »Dispositivs«
Brigitte Maréchal | 319 Zur Bedeutung von Ordnungsparadigmen und Raumkonstruktionen für Formungen der Institutionalisierung und Repräsentation des Dispositivs Muslimsein in Belgien, Frankreich und Spanien
Sabine Schmitz | 345 Identität und Zugehörigkeit – Muslime in Deutschland und England im Vergleich
Shazia Saleem | 397 Autorinnen und Autoren | 423
Einleitung S ABINE S CHMITZ /T UBA I SIK
Dem Entschluss im Jahr 2012 an der Universität Paderborn ein internationales Symposium zum Thema »Dispositive des Muslimseins in Europa« zu organisieren und damit die Grundlage für die in dem vorliegenden Band zusammengeführten Schriften zu schaffen, war die Feststellung vorausgegangen, dass es an der Zeit ist, Muslimsein in Europa als einen wichtigen Ausschnitt der komplexen Struktur des Selbst- und Weltverhältnisses Einzelner aber auch von Gruppen zu erfassen. Hierbei wurde deutlich, dass das Bewusstsein der Kontingenz des eigenen Glaubens das Selbst- und Fremdbild von Muslimen in Europa, wo sie in sehr unterschiedlichen westeuropäischen Ländern ihren Lebensmittelpunkt haben und an deren Ausgestaltung sie vielfach durch aktive politische und kulturelle Teilhabe mitwirken, stärker prägt als in muslimischen Ländern, da die Muslime hier innerhalb ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft lebend weniger intensiv mit dieser Themenstellung konfrontiert sind. Der foucaultsche Begriff des Dispositivs erwies sich im Verlauf des Symposiums als sinnvoller Ausgangspunkt zur Betrachtung und Systematisierung des vielschichtigen Gefüges Muslimsein in verschiedenen Ländern Westeuropas, um die im Spannungsfeld von Fremd-, aber auch Eigenzuschreibung vor allem religiös konnotierte Identitätszuweisung an die Muslime Europas in ihrer verallgemeinernden Bedeutung zurücktreten zu lassen. Zugleich erlaubt dieser theoretische Zugang sowohl die Polyvalenz muslimischer Identitäten in Europa in einer diachronen und synchronen Perspektive freizulegen, als auch nach der damit verbundenen Möglichkeit alternativer Festlegungen gesellschaftlicher Zugehörigkeiten zu fragen. Denn Foucault siedelt sein Konzept des Dispositivs nicht primär auf einer epistemologischen, sondern auf einer sozio-politischen Ebene an, wenn er es als ein aus zahlreichen Fäden bestehendes Netz beschreibt, bzw. als ein »entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale [sic] Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische
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oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst«.1 Eine Untersuchung des heterogenen Ensembles bzw. Dispositivs Muslimsein in unterschiedlichen europäischen Ländern erlaubt folglich, Strukturen des Selbstverhältnisses der Muslime im gesellschaftlichen Wandel verschiedener Länder Europas in ihrer Zeitlichkeit zu erfassen, um sich somit auch der vielfach stereotypen, auf ein gemutmaßtes Religiöses ausgerichtete Wahrnehmung der Muslime in Europa zu widersetzen.2 Das Dispositiv Muslimsein erweist sich demgemäß als ein fruchtbarer Forschungsansatz, da es neben der religiösen auch eine – gleichberechtigte – kulturelle Zugehörigkeit der Muslime zu ihrer Religion bzw. Kultur in den Blick rückt. Denn eine Abgrenzung von Kultur und Religion als klar unterscheidbare Teile der Netzstrukturen des Dispositivs Muslimsein erwies sich im Verlauf der Tagung immer wieder als systematisch nicht haltbar. Vor diesem Hintergrund wurde Muslimsein als Teil der komplexen Struktur des Selbst- und Weltverhältnisses des Einzelnen, aber auch von Gruppen begriffen, deren ständiger Wandel nur in einer diachronen und synchronen Perspektive erfasst werden kann. Zudem besteht die Notwendigkeit, muslimische Identitätsentwürfe – als Teil des zu betrachtenden Dispositivs – vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozesse Westeuropas zu erforschen, weil die Muslime bereits seit mehreren Jahrzehnten in Europa Fuß gefasst haben und sich daher vielfach als Staatsbürger des europäischen Landes, in dem sie leben, und als Teil der jeweiligen Gesellschaft sehen. Dennoch ist ihr Alltag immer wieder von Krisenerfahrungen geprägt, die ihr Verhältnis zu den Gesellschaften bestimmen, in denen sie aufgenommen wurden. Diese Identitätskrisen sind einerseits Konflikten hinsichtlich Lebensführung und Glaubensentwürfen und deren Anerkennung in der eigenen Glaubensgemeinschaft geschuldet, andererseits aber auch der Tatsache, dass für viele Europäer der Islam, trotz seiner historisch weit zurückgreifenden Verwurzelung in Europa, negativ konnotiert ist. Auf den ersten Blick scheint diese identitäre Problematik auf alle in Europa lebenden Muslime gleichermaßen zuzutreffen und daher weitgehend verallgemeinerbar zu sein. So stehen heute neben einzelstaatlich ausgerichteten soziologischen und politologischen Studien zum Selbstbild der Muslime immer wieder Forschungen, die nach einer spezifischen europäischen Identität der Muslime fragen. Denn die unterschiedlichen Ursachen sowie Gemeinsamkeiten jener Schwierigkeiten von Identitätsfindung, Fremd- und Selbstwahrnehmung und 1
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978, hier S. 119-120.
2
Vgl. hierzu Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München: Beck, 2009.
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Zugehörigkeit sind nicht nur national geprägt, sondern zum Teil übernational sichtbar. Diese Einsicht ist besonders deutlich für die Generation der jungen Muslime formuliert worden, denn durch die vielfältige Vernetzung und Nutzung von Medien ist gerade in dieser Generation zu beobachten, dass sich ein deutliches Interesse an anderen Kulturen und vor allem kulturell unterschiedlich geprägten Formungen des Muslimseins findet. Hieraus ergibt sich vielfach ein Konflikt zwischen dem Anspruch auf Andersheit und dem Willen des Dazugehörens. Die in dem vorliegenden Band zusammengeführten Analysen von Dispositiven des Muslimseins kennzeichnen nicht nur eine breite internationale und interdisziplinäre Perspektive, sondern auch die Einbettung in eine theoretische Reflexion über Identitätsmodelle auf verschiedenen Ebenen der Identitätsprozesse sowie eine Systematisierung aktueller Inhalte des Dispositivs Muslimsein. Untersuchungen zu Identitätsprozessen innerhalb der muslimischen Gemeinschaften erklären derzeit in einer augenfälligen Dichte bevorzugt junge Muslime zu ihrem Untersuchungsgegenstand; in einigen Beiträgen dieses Bandes wird auf dieses Thema Bezug genommen. Dieses besondere Forschungsinteresse ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass sich diese Generation mit einer komplexen Vielfalt an Identitätsangeboten und -verhandlungen auseinandersetzen muss, andererseits ist diese explizite Fokussierung auf eine Generation dem Sachverhalt geschuldet, dass sie als Garant für eine intensive Teilhabe der Muslime an europäischen Gesellschaften gehandelt wird. Gleichzeitig ist das Interesse an Untersuchungen von Identitätskonstruktionen junger Muslime in Europa von dem Ziel motiviert, die dieser Generation zugeschriebene Radikalisierung und die damit einhergehende Gewaltbereitschaft zu erklären, zu unterlaufen oder zu extrapolieren. Während die Ausprägung muslimischer Identitäten in Europa, und insbesondere die aktive Teilhabe der jungen Muslime am gesellschaftlichen Leben, vielfach im Spannungsfeld ›hybrider‹ Identitäten und Mehrfachzugehörigkeiten verortet wird, wird die Radikalisierung vereinzelter muslimischer Gruppen und Menschen immer wieder als eine vor dem Hintergrund individueller Lebenserfahrungen erfolgte dezidierte Positionierung jenseits dieses Spannungsfeldes interpretiert. In zahlreichen Beiträgen wird deutlich, dass die hier aufgezeigten Kausalitäten ebenso zu diskutieren sind, wie das Konzept ›hybrider Identitäten‹, da die ihm zugeschriebenen Semantiken den Blick auf konkrete Implikationen des Muslimseins vielfach verstellen. In dem vorliegenden Band steht gleichwohl nicht eine explizite Fokussierung auf die Generation der jungen Muslime im Vordergrund, sondern das Anliegen, das Muslimsein in einer diachronen Perspektive zu erfassen, da nur dann eine
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hinreichende Rückbindung an seine historischen Voraussetzungen stattfinden kann. Denn erst in dieser Perspektive wird deutlich, dass Dispositive des Muslimseins in den verschiedenen europäischen Ländern einerseits durch Optionen geprägt sind, die darauf zielen‚ muslimische ›Identität‹ zu (re-)konstruieren, andererseits aber auch durch Implikationen des Muslimseins innerhalb muslimischer Gemeinschaften. Trotz der in vielen Beiträgen skizzierten Gemeinsamkeiten in Hinblick auf Identitätsformungen und Selbst- sowie Fremdwahrnehmungen ist es somit wichtig, für die in verschiedenen Ländern Europas mit unterschiedlicher Herkunft lebenden Muslime nicht einen einheitlichen ›Identitätsabdruck‹ zu konstruieren, da nicht nur die Muslime, sondern auch jedes Land seine eigenen kulturellen und politischen Besonderheiten aufweist, die in ihrer Summe einen wichtigen Bestandteil des zu untersuchenden heterogenen Ensembles eines jeden Dispositivs ausmachen. Die Erforschung der somit oftmals nebeneinander stehenden vielfältigen Entwürfe des Muslimseins muss daher in Zukunft verstärkt in einer länderspezifischen, aber eben auch vergleichenden und europäischen Perspektive geschehen, um die Vielfalt und enge Verzahnung der Koordinaten verschiedener Dispositive des Muslimseins in Europa in ihren Zusammenhängen und Andersheiten zu erfassen. Der sich somit eröffnende komplexe Fragehorizont nach Dispositiven des Muslimseins in Europa sowie deren – zum Teil eng verknüpften – Elemente wird im vorliegenden Band auf drei Ebenen aufgefächert: Die erste Frageebene setzte sich mit unterschiedlichen Perspektiven der Ausbildung des Dispositivs Muslimsein in Verhandlung mit dem Staat und anderen Religionen auseinander. Im ersten Beitrag unterscheidet Mathias Rohe zunächst drei unterschiedliche Modelle eines säkularen Rechtsstaates in Europa, um die hieraus resultierenden Differenzen und grundlegenden Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die rechtliche und gesellschaftliche Position bzw. Rolle der Muslime vorzustellen. Er zeichnet hierzu den juristischen Rahmen, der jeweils das Muslimsein mit all seinen Konsequenzen ermöglicht und zugleich begrenzt. Im Anschluss stellt er eine Typologie unterschiedlicher Grundhaltungen von Musliminnen und Muslimen zum säkularen Rechtsstaat vor. Tuba Isik entwirft einen diachron ansetzenden diskursanalytischen Abriss muslimischer Identitätsentwürfe in Deutschland, dessen Prozesshaftigkeit sie durch die Einteilung in verschiedene Phasen der Fremdund Selbstzuweisung verdeutlicht. Abschließend nimmt sie aktuelle Entwürfe eines deutschen Verständnisses von Muslimsein in den Blick. Nikola Tietze verweist in einer auf Deutschland und Frankreich ausgerichteten Studie auf ein weiteres wichtiges Element des Dispositivs Muslimsein, das der europäischen Religionskategorie. Sie erläutert, dass in beiden Ländern sowohl Staats- als auch Verwaltungspolitik in Hinblick auf eine gegenüber den Muslimen zu entwerfen-
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den Religionspolitik – deren Folie deutlich die christlichen Religionen bilden –, sich auf diese europäische Religionskategorie beziehen, die wiederum von nachhaltiger Bedeutung sowohl für die Gemeinschaftsimagination der Muslime im öffentlichen Raum wie auch für ihre Kompetenz zur kritischen Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Entwicklungen ist. Gema Martín Muñoz verdeutlicht in dem letzten Beitrag zu diesem Themenschwerpunkt, dass der Islam in Spanien zwar eine seit Jahrzehnten vom Staat anerkannte Religion ist, die Wahrnehmung der Muslime hier jedoch bis in die Gegenwart von der Interpretation der historischen Präsenz der Muslime auf der iberischen Halbinsel geprägt ist. Sie stellt detailliert dar, dass erst mit der Akzeptanz des Begriffs al-Andalus die Zeit der muslimischen Präsenz auf der iberischen Halbinsel vom 8. bis 15. Jahrhundert nicht mehr als negative Bezugsfolie für die nationalen Identitätsdiskurse eines katholischen Spaniens dient, sondern eine positive Umwertung erfährt. Die Frage nach der Ausbildung von Dispositiven des Muslimseins in verschiedenen Ländern in Verhandlung mit dem Staat, ein Prozess, in dem vielfach der Stellenwert anderer Religionen und die sich hieraus ableitenden Bedingungen für religiösen Pluralismus eine maßgebliche Rolle spielen, zeigt sich somit als Schlüsselelement für die Untersuchung der Grundhaltung muslimischer Bürger gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben. Zudem wurde deutlich, dass die Religiosität der Muslime in den betrachteten Ländern Europas nicht nur orthopraktisch geprägt, sondern maßgeblich auch von einer sozial-ethischen sowie rechtlichen Dimension bestimmt ist. Diese im ersten Themenschwerpunkt aufgezeigten Zusammenhänge bilden den bisher nicht hinreichend beachteten Hintergrund für das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Perspektiven einerseits auf das Muslimsein und andererseits aus dem Muslimsein heraus, das maßgeblich für das Identitätschaos verantwortlich ist, welchem viele Muslime nicht nur im Zuge der Migrationsdebatte ausgesetzt sind. Um die sich hier abzeichnenden komplexen Wechselwirkungen in den Blick zunehmen, wurde in dem zweiten Themenschwerpunkt des Bandes in verschiedenen Kontexten nach der Relevanz einzelner Elemente des Dispositivs Muslimsein für die Ausbildung von Identitäten innerhalb muslimischer Gemeinschaften gefragt. Übereinstimmend thematisieren alle Beiträge die Notwendigkeit, sich über die grundlegende Inbeziehungsetzung von Identität und religiösen Glauben zu verständigen. Diese Notwendigkeit diskutiert einleitend der Beitrag von Jürgen Straub, denn er setzt, losgelöst von einer Bezugnahme auf spezifische Glaubensinhalte, die historische und konzeptuelle Problematik des Identitätsbegriffs in der westlichen Welt und die hieraus erwachsenden Konsequenzen für religiösen Glauben
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zueinander in Beziehung. Unter Bezugnahme unter anderem auf Charles Taylor und Hans Joas kennzeichnet er bestimmte Formen des religiösen Glaubens in der westlichen Gegenwartskultur als Artikulationen von Selbsttranszendenz, die eng mit dem Erleben und Bewusstsein von Kontingenz verbunden sind. In welchem Sinn der religiöse Glaube zu einem modernen Verständnis personaler Identität passt – also keineswegs ein anachronistisches Relikt vormoderner Zeiten für ›zurückgebliebene‹ Menschen darstellt –, wird ebenso erörtert wie die damit verwobene Frage, was die (theoretisch und terminologisch spezifizierte) Identität religiös oder säkular orientierter Menschen mit dem Wert der Anerkennung von anderen, mit Toleranz und anderen Aspekten eines möglichst gewaltarmen Lebens zu tun hat. Hierbei wird deutlich, dass eine für die aktuelle Gegenwartsdiagnostik überaus wichtige Trennlinie hinsichtlich wesentlicher Aspekte des Selbstund Weltverhältnisses moderner Subjekte und ihrer ethisch-ästhetischen Lebensführung häufig mitten durch die jeweils heterogenen Gruppen religiöser bzw. nicht-religiöser Menschen hindurch geht. Ursula Boos-Nünning nimmt in ihrem Beitrag die konkrete Ausbildung von Identitäten muslimischer Gemeinschaften in den Blick. Sie analysiert die breit aufgestellte Bildungs- und Jugendarbeit der islamischen Religionsgemeinschaft Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) und beleuchtet die Identitätsentwürfe ihrer jungen Anhänger. Im Ergebnis werden ethnische Selbstverortungs- und Akkulturationsprozesse sowie ihre Konsequenzen für die Identitätsbildung junger Muslime deutlich, in denen Aushandlungsprozesse ethnischer Zugehörigkeiten und die Überwindung ethnischer Zuschreibungen eine wichtige Rolle spielen. Asmaa Solimans Studie hat mit Nuri Şenay den Gründer der bekannten Internetplattform muslime.tv zum Gegenstand. Sie charakterisiert Şenay als Vertreter einer neuen Generation, die das Muslimsein in Deutschland und den Diskurs hierüber durch eigene mediale Präsentationen mitgestalten will, da sie sich in den Mehrheitsmedien nicht oder falsch repräsentiert fühlt. Samir Camic, der bosnische Groß-Imam der Stadt Bijeljina, skizziert in seinem Beitrag das aktuelle Bewusstsein junger muslimischer Bosnierinnen und Bosnier. Dies verdeutlicht er durch die Hervorhebung historischer Eckdaten, die das bosnische Bewusstsein der hier lebenden Muslime geprägt und die identitären Aushandlungen über das Muslimsein in Bosnien lebendig gehalten haben, aber auch zur Abgrenzung dienen, da sich die Konstruktion einer bosnische Identität großen Herausforderungen stellen muss. Malte Fryes diachron ansetzende Studie über muslimische Performanzen in Nachkriegsbosnien führt diese Ausführungen thematisch fort. Denn er schlüsselt verschiedene Phasen der Wechselbeziehung zwischen der Wir-Identität der bosnischen Muslime und Konstruktionen nationaler Identitäten auf. Die von ihm in der Aktualität konstatierte Engführung von nationaler und religiöser Identität zur Konstruktion
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eines kulturellen bosnischen Gedächtnisses belegen die Ergebnisse einer von ihm in Bosnien durchgeführten Feldstudie einer Pilgerfahrt zu einem muslimischen Heiligenschrein. Eine Perspektivierung des Muslimseins auf der Ebene des Einzelnen nimmt Hans-Jürgen Lüsebrink in seiner Untersuchung der umfangreichen plurimedialen Formungen des ›Falls Kahled Kelkal‹ vor. Indem er in seine Analyse neben den filmischen und literarischen Bearbeitungen der Lebensgeschichte des jungen Attentäters auch das Interview einbezieht, das der junge Franzose einem Soziologen Jahre vor den Anschlägen gab, werden nicht nur die sehr unterschiedlichen inhaltlichen Setzungen in den einzelnen Medien deutlich, sondern das ihnen jeweils eigene Potential, einen muslimischen Identitätsentwurf unter Berücksichtigung der Innensicht des jungen Muslimen zu konstruieren. Die Beiträge dieses Themenschwerpunkts zeigen somit übereinstimmend, dass Kategorisierungen, die stereotypische Kennzeichnungen von Glaubensformen der Muslime in Europa anstreben, weniger als je zuvor geeignet sind, das individuelle Spannungsverhältnis von personaler Identität und Glauben, sowie das Selbst- und Wertverhältnis einer kollektiven Glaubensgemeinschaft zu erfassen. Dass gleichwohl Formungen von Strukturen und Inhalten des Dispositivs Muslimsein auf europäischer und länderspezifischer Ebene in Westeuropa in unterschiedlichem Maße vorgenommen werden, wird im dritten Themenblock des Bandes deutlich. Am Beginn steht hier ein Beitrag über Tariq Ramadan, ein Intellektueller, der den Anspruch stellt, dass die Etablierung eines spezifischen europäischen Muslimseins eine Option für die Zukunft sei. Im Anschluss daran richtet sich dann das Interesse auf verschiedene Elemente des Dispositivs Muslimsein in Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Spanien und Großbritannien, somit auf Länder, in denen sich die Einwanderung von Muslimen quantitativ und qualitativ – und damit auch die Migrationsdebatte – in unterschiedlichen Phasen befindet. Zudem bestimmen in diesen Ländern trotz vieler Gemeinsamkeiten national geprägte Strukturen in Form von kollektiven Erinnerungsmustern, Geschichtsentwürfen, dem Stellenwert historisch etablierter Religionen sowie den Beziehungen zur arabischen Welt in Form von z.B. Kolonisierung durch Glaubensanhänger des Islam (Spanien) und Kolonisation von muslimischen Staaten (Frankreich, Großbritannien) oder aber eine von historischen Vorerfahrungen nicht geprägte Präsenz der Muslime im Land (Belgien, Deutschland, Niederlande) wichtige Netzfäden des Dispositivs Muslimsein. Der Beitrag von Dominique Avon macht deutlich, dass sich zunächst eine Annäherung an diese Zusammenhänge aus einer supranationalen Perspektive anbietet. Denn in seiner Studie analysiert er differenziert die mediale Präsenz von Tariq Ramadan in Europa in der Zeit zwischen 1993 und 2013 und fragt
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nach deren Konsequenz für das Verhältnis von Islam und Muslimen im europäischen Kontext. Hierzu beleuchtet er Entwicklungsstränge und Verschiebungen im Diskurs des medienversierten Intellektuellen sowohl in Bezug auf seine Verhältnisbestimmungen des Islam zu Europa als auch auf die Verortung seiner eigenen Positionen im Diskursfeld muslimischer Intellektueller und Philosophen der arabischen Welt. Sipco Vellenga hebt die Frage nach Formungen des Muslimseins mit seiner Studie auf die konkrete nationalstaatliche Ebene, wenn er untersucht, wie die Vertreter offizieller muslimischer Organisationen sowie nichtmuslimischer Organisationen, d.h. christliche, jüdische, buddhistische, in den Niederlanden auf ausgewählte islamkritische Äußerungen, wie z.B. den Film Finta (2008) oder die dänischen Mohammedkarikaturen, reagieren. Auf der Grundlage einer bereiten Materialbasis erfolgt, basierend auf Goffmans Rahmenanalyse, eine systematische Analyse der verschiedenen Faktoren, die die Reaktionen der Organisationen in den Niederlanden maßgeblich bestimmen. Brigitte Maréchal nimmt in ihrem Artikel das Muslimsein im Nachbarland Belgien in den Blick, wenn sie die unter ihrer Leitung erfolgte Etablierung von Diskussionsgruppen, so genannte Reflexionsforen, zwischen Muslimen und NichtMuslimen in Brüssel vorstellt. Sie dienen dem strukturierten Austausch ausgesuchter Mitglieder dieser beiden Gruppen, um Beziehungsformen, Diskurse und Ängste zwischen Muslimen und der nicht-muslimischen Bevölkerung Brüssels empirisch zu untersuchen. Die theoretischen Voraussetzungen dieser Studien sowie das gewonnene Datenmaterial werden im Anschluss zum Dispositiv Muslimsein in Beziehung gesetzt. Der Beitrag von Sabine Schmitz richtet sich neben Belgien auch auf Frankreich und Spanien. Sie analysiert in einer vergleichenden Studie die staatlich eingeforderte Etablierung von Strukturen zur Institutionalisierung des Islam in den drei Ländern sowie die von staatlicher Seite erfolgte Zuweisung oder Verweigerung zentraler Räumen der Muslime, um im Anschluss nach der Funktionalität der eingeforderten Institutionalisierungsstrukturen und den offiziell zugeeigneten bzw. verwehrten physischen Räumen für das Dispositiv Muslimsein in den verschiedenen Ländern zu fragen. Mit Shazia Saleems Studie komplettiert sich der Blick auf verschiedene, länderspezifisch geprägte Formen des Muslimseins in Europa, denn sie untersucht auf der Grundlage von narrativen Interviews zweier junger muslimischer Frauen die Selbstbilder von Musliminnen in Deutschland und England. Sie legt, angelehnt an die empirische Studie ihrer (noch unveröffentlichten) Dissertation, dar, dass sich die Selbst- und Fremdwahrnehmung von muslimischen Frauen vor dem Hintergrund ihrer Bezugnahme auf die in beiden Ländern unterschiedlichen Mehrheitsdiskurse deutlich voneinander unterscheidet und stellt die hierfür maßgeblichen Faktoren vor.
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Die interdisziplinäre und internationale Ausrichtung dieses Bandes hebt somit die Wichtigkeit von historischen und gesellschaftlichen Strukturen des Muslimseins als Voraussetzung für institutionelle Vorgaben, muslimische Identitätskonstruktionen und Inhalte der Migrationsdebatte hervor. Zugleich wurde immer wieder deutlich, dass sich trotz der verschiedenen länderspezifischen Ausprägungen des Muslimseins übernationale Elemente und Voraussetzungen in verschiedenen europäischen Ländern ausgeprägt haben. Ein stärkerer Austausch und die Bereitschaft, voneinander zu lernen, sind folglich nicht nur für die in Europa lebenden Muslime, sondern für alle Bürger Europas bedeutsam. Die Durchführung des internationalen Symposiums sowie die Drucklegung des Bandes wäre ohne die großzügige Unterstützung der VolkswagenStiftung nicht möglich gewesen. Zudem haben wir unverzichtbare Hilfe von der Universitätsgesellschaft Paderborn für das Symposium und die anschließende Publikation der Symposiumssakten erhalten. Für die Ermöglichung unseres Vorhabens sind wir der VolkswagenStiftung und der Universitätsgesellschaft Paderborn zu sehr großem Dank verpflichtet. Ferner konnte die Publikation dieser Symposiumsakten nur aufgrund der engagierten und kompetenten Mithilfe zahlreicher Menschen gelingen. So hat Vanessa Kaden mit Unterstützung von Tanja Bollow und Nikola Tietze die Übersetzung des Beitrags von Brigitte Maréchal aus dem Französischen ins Deutsche erstellt und Tanja Bollow mit unendlicher Geduld und Kompetenz die deutsche Übersetzung des Textes von Dominique Avon maßgeblich überarbeitet. Ferner haben Tanja Bollow, Sandra Lang und Vanessa Kaden die Endredaktion des Bandes durchgeführt, ohne ihre Unterstützung wäre dieser Band niemals zur Druckreife gelangt. Hierfür danken wir ihnen sehr herzlich.
1. Ausbildung des Dispositivs Muslimsein in Verhandlung mit dem Staat und anderen Religionen
Muslimische Grundhaltungen zum säkularen Rechtsstaat – eine deutsche und europäische Perspektive M ATHIAS R OHE
I.
E INFÜHRUNG
Welchen Sinn hat es, sich mit muslimischen Haltungen zum säkularen Rechtsstaat zu befassen? Zwei maßgebliche Gründe lassen sich benennen: Musliminnen und Muslime leben in großer Zahl in vielen europäischen Staaten und sind dort ein integraler Bestandteil der Gesellschaft. Ihre Haltung zu den Rahmenbedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens zählt: für sie selbst und für die Gesellschaft insgesamt. Adäquaten Zugang zu gesellschaftlichem Leben, Anerkennung und grundsätzliche Zufriedenheit erlangt nur, wer im Alltagsleben wahrgenommen wird und partizipieren kann, im Bereich Bildung und Arbeit einen den individuellen Fähigkeiten und Präferenzen entsprechenden Platz findet, und – dies wird hier bedeutsam – wer keine Vorbehalte gegen die grundlegenden Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens (rechtliche Rahmenbedingungen) pflegt. Positive, neutrale oder negative Haltungen können von religiösen Überzeugungen mitbestimmt werden, wenngleich nicht übersehen werden darf, dass regelmäßig ein Konglomerat unterschiedlichster Gründe die Haltungen prägt. Die religiöse Haltung kann also zumindest einen unter mehreren Faktoren darstellen und ist deshalb einer Betrachtung wert, auch wenn sie gerade bei Musliminnen und Muslimen häufig stark überbewertet wird (›Islamisierung der Muslime‹).1 1
Vgl. hier nur den Bericht »Medien verstärken Islamisierung der Integrationsdebatte« über eine einschlägige Studie des Sachverständigenrats für Migration und Integration, migazin vom 13.03.2013, abrufbar unter http://www.migazin.de/2013/03/13/studiemedien-verstarken-islamisierung-der-integrationsdebatte/; zur wissenschaftlichen Er-
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Zudem leben freiheitliche säkulare Staaten von Voraussetzungen, die sie nach dem vielzitierten Diktum Böckenfördes nicht selbst schaffen können.2 Wollen sie fortbestehen, sind sie auf grundsätzliche Unterstützung durch eine breite Bevölkerungsmehrheit angewiesen. Weshalb aber wird weit häufiger nach muslimischen Positionen gefragt als beispielsweise nach christlichen oder humanistisch/atheistischen? Auch hierfür dürften zwei Gründe maßgeblich sein: Zum einen ist muslimische Präsenz in größerer Zahl in vielen Staaten Mittel-, Westund Nordeuropas erst eine vergleichsweise neue Erscheinung seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zum anderen steht der Islam, anders als das weitgehend als ›säkular geläutert‹ verstandene Christentum im Verdacht, sich gegen säkulare Ordnungen zu stellen. Im Folgenden soll unter anderem ausgelotet werden, ob dieser Verdacht wissenschaftlicher Prüfung standhält. Was hat man unter dem säkularen Rechtsstaat zu verstehen? Europa bietet hierfür drei unterschiedliche Modelle an, die sich indes in den wichtigsten Grundlagen treffen.3 Insoweit garantiert der Schutz der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK weitreichende Mindeststandards hinsichtlich aller Religionen und Weltanschauungen. In einzelnen Staaten Skandinaviens oder im Vereinigten Königreich herrscht ein stark modifiziertes Staatskirchensystem, welches diesen Kirchen in einigen Fragen besondere Privilegien einräumt und auch Lasten aufbürdet. Das Gegenmodell hierzu ist dasjenige strikter Laizität, wie es vor allem Frankreich praktiziert. Die einschlägige Gesetzgebung von 1901/1905 ist deutlich vom politischen Willen geprägt, eine als übermächtig und in manchen Aspekten staatsgefährdend angesehene römischfassung muslimischer Minderheiten vgl. hier nur Jeldtoft, Nadia/Nielsen, Jørgen S. (Hg.): Methods and Contexts in the Study of Muslim Minorities, London u.a.: Routledge Chapman & Hall, 2012; Johansen, Birgitte/Spielhaus, Riem: »Counting Deviance: Revisiting a Decade’s Production of Surveys among Muslims in Western Europe«, in: Journal of Muslims in Europe 1 (2012), S. 81-112. 2
So sinngemäß der vormalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976, hier S. 42, 60.
3
Vgl. zur Lage in Europa nur Rohe, Mathias/Elster, Sebastian: »Zur öffentlichrechtlichen Situation von Muslimen in ausgewählten europäischen Ländern«, in: Bundesministerium des Innern Wien/Sicherheitsakademie 2006, Perspektiven und Herausforderungen in der Integration muslimischer MitbürgerInnen, S. 1-51 m.w.N, abrufbar unter http://medienservicestelle.at/migration_bewegt/wp-content/uploads/2011/ 05/Muslime-in-%C3%96sterreich.pdf; Rohe, Mathias: »Islam and the Law in Europe«, in: ORIENT, Heft II (2010), S. 23-36; Ferrari, Silvio/Pastorelli, Sabrina (Hg.): Religion in Public Spaces. A European Perspective, Farnham: Ashgate, 2012.
M USLIMISCHE G RUNDHALTUNGEN
ZUM
R ECHTSSTAAT
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katholische Kirche in erheblichem Maße aus dem öffentlichen Raum zurückzudrängen; dies trifft nun auch alle anderen Religionsgemeinschaften. In solcher Umgebung ist etwa eine konfessionelle religiöse Unterrichtung in öffentlichen Schulen oder die entsprechende Ausbildung von Lehrpersonal an staatlichen Universitäten verpönt. Das Tragen religiös motivierter Kleidung wie das Kopftuch bei Musliminnen ist hier selbst für Schülerinnen verboten, während in anderen Staaten wie dem UK dies selbst für Lehrerinnen möglich ist. Dennoch gelten auch hier jedenfalls die Standards der EMRK. Insofern ist selbst die strengste Form des Laizismus in Europa nicht religionsfeindlich, wie dies in der islamischen Welt oft fälschlich gesehen wird. Dort gilt Säkularität häufig als Synonym für Religionsfeindschaft, weswegen dortige säkulare Bewegungen sich um den Begriff der Zivilgesellschaft (daula madaniya) sammeln, der inhaltlich dem europäischen Säkularitätsverständnis weitgehend entspricht.4 Dieses ist vor allem durch zwei Elemente gekennzeichnet: Staatliche Neutralität gegenüber Religionen und Weltanschauungen bei gleichzeitiger Wahrung individueller und kollektiver Religions- und Weltanschauungsfreiheit, sowie die Gleichbehandlung der Religionen und Weltanschauungen. Deutliche Nuancen sind im Hinblick darauf erkennbar, wie weit Staat und Religionen im öffentlichen Raum kooperieren, und wie weit letztere dort in Erscheinung treten können. Deutschland, Österreich und einige andere Staaten folgen einem Modell, das sich als religionsoffene Säkularität in Abgrenzung vom Laizismus beschreiben lässt, wie es für Deutschland z.B. Artt. 4, 7 Abs. 3 und 140 Grundgesetz wie auch dem Religionsverfassungsrecht insgesamt zu entnehmen ist.5 Religion ist keineswegs aus dem öffentlichen Raum verbannt; sie darf sichtbar werden, sich in die Debatte einmischen, ist wichtiger Bestandteil universitärer Forschung und Lehre und findet Raum auch im bekenntnisorientierten Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen vieler deutscher Länder oder in vielfältigen anderen Kooperationen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Anders als in streng laizistisch orientierten Systemen wird Religion hier nicht grundsätzlich als mögliche Bedrohung des staatlichen Machtanspruchs wahrgenommen, sondern als mögliche positive Ressource für das Zusammenleben und gemeinnützige Sinnstiftung. In diesem Rahmen kann sich auch eine muslimische Theologie öf4
Vgl. etwa Rohe, Mathias: »Verfassungsrechtliche Entwicklungen in der Arabischen Welt: Das Verhältnis von Staat und Religion am Beispiel Ägyptens und Tunesiens«, in: Georges Tamer/Hanna Röbbelen/Peter Lintl (Hg.), Arabischer Aufbruch, BadenBaden: Nomos, 2014, S. 131-166, hier S. 131ff., S. 137ff.
5
Vgl. hierzu nur das Grundlagenwerk von Campenhausen, Axel Freiherr von/Wall, Heinrich de: Staatskirchenrecht, München: Beck, 42006.
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fentlich wahrnehmbar und diskutiert entsprechend den Standards für andere Religionen entwickeln. Nicht zu vergessen ist hier das Alevitentum, das, soweit es sich als muslimisch definiert, erstmals in seiner Geschichte ohne Repression gelehrt und praktiziert werden kann; der erste alevitische Religionsunterricht in öffentlichen Schulen fand in Deutschland statt, nicht im angeblich laizistischen Herkunftsland der meisten Aleviten. Aber auch anderen Richtungen des Islam von Sunna über Schia bis hin zur Ahmadiya stehen entsprechende Entfaltungsmöglichkeiten offen.6 Nicht nur deshalb sind andererseits auch die Religionen aufgefordert, extremistische Potenziale in den eigenen Reihen ernst zu nehmen und ihnen mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten entgegenzutreten. Die Aussage, dass ›das Christentum die gewaltfreie Religion der Liebe‹ sei, oder der Islam ›nichts als Frieden‹ bedeute, ist als Innensicht der jeweiligen Gläubigen höchst begrüßenswert. Die empirischen Erscheinungsformen von intolerantem bis hin zu gewalttätigem Extremismus unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Religion können mit derartigen Formeln jedoch nicht weggewischt werden. Gerade hier ist eine innerreligiöse Debatte und Widerlegung solcher Positionen vonnöten. Solch positive Entwicklungen werden erheblich dadurch überlagert, dass die mittlerweile breite Präsenz des Islam in Deutschland und manchen anderen Staaten Europas auf jüngeren Migrationsentwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg beruht. Anders als in den klassischen Einwanderungsländern wie Kanada, den USA oder Australien wird Migration von vielen immer noch weit mehr als Bedrohung denn als Chance wahrgenommen. Tatsächlich hat die Zuwanderungspolitik vergangener Jahrzehnte in Deutschland vorwiegend wenig ausgebildete Arbeitskräfte für die Verrichtung einfacher und körperlich anstrengender Tätigkeiten ins Land gebracht, deren Arbeitsplätze mittlerweile weitgehend weggefallen sind. Im Gegensatz zu ursprünglich allseitigen Erwartungen ist ein erheblicher Teil dieser Menschen auf Dauer im Land geblieben, ohne dass sogleich die notwendigen institutionellen Reaktionen z.B. im Bildungsbereich erfolgt wären. Dies hat sich erst in den letzten Jahren geändert. Hinzu kommt, dass sich vor allem seit den Terroranschlägen vom 11.9.2001 die öffentliche Wahrnehmung von Migranten geändert hat – ein Umschwung vom ›Ausländer‹ zum ›Muslim‹. Vielfältige Erfahrungen aus öffentlichen Veranstaltungen zeigen, dass oft umstandslos Probleme mangelnder Sprachbeherr6
Nur beispielhaft sei auf den von DITIB und der Ahmadiya-Gemeinde in Hessen seit dem Herbst 2013 in 27 hessischen Schulen angebotenen Religionsunterricht im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG hingewiesen; vgl. Akdeniz, Hilal: »Hessischer Islamunterricht«, in: dtj, abrufbar unter http://dtj-online.de/hessischer-islamunterricht-einzig-religions unterricht-2637, vom 14.07.2013.
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schung und damit verbundener Schwierigkeiten in Bildung und Arbeit, Diskriminierung oder kulturell bedingte Verhaltensweisen (z.B. Ehrverständnis oder Kommunikationskultur) mit der Religion des Islam vermischt werden. Zudem werden Vorkommnisse in der gesamten vom Islam geprägten Welt, z.B. in Saudi-Arabien, Iran oder Pakistan, oft unreflektiert auf hier lebende Musliminnen und Muslime übertragen, obwohl sie keinerlei Beziehung zu den dortigen Verhältnissen haben und auch nicht für sie verantwortlich sind. Umso wichtiger ist es, auch diesen Personenkreis vor allem als Individuen und zudem als Deutsche bzw. Europäer wahrzunehmen, deren Lebensgewohnheiten und Grundhaltungen sich nicht immer, aber sehr häufig deutlich von denen in der ›islamischen Welt‹ unterscheiden; auch der Islam ist alles andere als ein monolithischer Block.7 Die Unterscheidung ist wichtig, weil Muslime gerade in freiheitlichen Rechtsstaaten offen und ohne machtpolitischen Druck über Fragen ihrer Religion debattieren und publizieren können. Andererseits ist es ebenso wahr wie beklagenswert, dass insbesondere in weiten Teilen der arabischen Welt offene Debatten über die hier behandelten Fragen nicht geführt werden können, weil dort besonders die Menschenrechte von Nicht-Muslimen, aber auch von Muslimen mit Füßen getreten werden. Neben vielerlei politischen Ursachen ist das auch bedingt durch eine breite, intolerante Schicht von Religionsgelehrten und religiösen Autodidakten, die durch solche Debatten ihre Macht bedroht sieht oder generell extrem intoleranten und engstirnigen, in Geschlechterfragen geradezu obsessiven Spielarten des Islam folgt, wie z.B. dem in Saudi-Arabien immer noch dominierenden Wahhabismus gegenwärtiger Prägung.
II. M USLIMISCHE G RUNDHALTUNGEN 1. Einführung Soweit muslimische Denker sich daran machen, ihre Religion innerhalb der europäischen Rahmenbedingungen zu definieren, bewegen sie sich meist im jeweils herrschenden rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen. Hier sind trotz einheitlicher Geltung der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK signifikante Unterschiede zu verzeichnen: Die Debatte im laizistischen, extrem gruppenrechts-
7
Ausführlich hierzu Rohe, Mathias: »Islam und demokratischer Rechtsstaat – ein Gegensatz?«, in: Hanns Seidel Stiftung, Politische Studien 413 (2007), S. 52-68 (abrufbar unter http://www.hss.de/uploads/tx_ddceventsbrowser/PolStudien413_Internet. pdf).
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feindlichen Frankreich verläuft deutlich anders als im kommunitaristisch geprägten Vereinigten Königreich. Weitere wesentliche Unterschiede finden sich im Religionsverständnis der Herkunftsregionen bei der großen Zahl von Muslimen mit Migrationshintergrund sowie im sehr unterschiedlichen Bildungsstand.8 Für Deutschland und einige andere europäische Staaten wie Österreich oder die Schweiz ist zunächst festzuhalten, dass neben den vielen schon im Inland geborenen oder hier sozialisierten Muslimen mehrheitlich auch solche vom Balkan oder aus der Türkei in einer rechtskulturellen Umgebung aufgewachsen sind, die sich seit vielen Jahrzehnten an europäischen Staats- und Rechtssystemen orientieren und explizit von islamrechtlich ausgeprägten Systemen abgewandt haben. Aber auch unter Muslimen aus anderen Teilen der vom Islam geprägten Welt finden sich Anhänger des demokratischen Rechtsstaats in großer Zahl; nicht wenige von ihnen sind den dortigen, säkular oder religiös legitimierten Diktaturen entflohen. Vergleichsweise breit angelegte Untersuchungen in Deutschland aus jüngerer Zeit9 belegen, dass die Zustimmung zu den Grundlagen des deutschen Staatsund Rechtssystems ungefähr gleich groß ist wie unter der Gesamtbevölkerung. Teilweise ist das Vertrauen in die deutschen Institutionen unter Muslimen sogar noch stärker ausgeprägt. Ebenso zeigt die Erhebung der Bertelsmann-Stiftung aus 2008, dass 80% der befragten Muslime, aber nur 76% der befragten Ostdeutschen (Überschneidungen beider Gruppen dürften selten sein) die Demokratie für eine gute Regierungsform halten.10 Empirisch hinreichend abgesicherte konkrete Daten über die Haltung zu erheblichen Teilen derjenigen Rechtsvorschriften, die inhaltlich im Gegensatz zum traditionellen islam-rechtlichen Verständnis stehen (insbesondere Gleichberechtigung der Geschlechter und Religionen; säkulare Normengebung bei garantierten Menschenrechten; Körperstrafen), liegen jedoch für Deutschland und die meisten europäischen Staaten nur in Ansätzen vor. Insbesondere finden sich nur wenige empirische Belege dafür, welche Faktoren in welchem Umfang die vor8
Vgl. Rohe, Mathias: »Rahmenbedingungen der Anwendung islamischer Normen in Deutschland und Europa«, in: Wolfgang Bock (Hg.), Islamischer Religionsunterricht?, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, S. 55ff.
9
Z.B. Brettfeld, Katrin/Wetzels, Peter: Muslime in Deutschland, Berlin: Bundesministerium des Innern, 2007, hier S. 24ff., S. 492ff., insbes. S. 495, S. 500; vgl. auch Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja: Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2009.
10 Vgl. Pollack, Detlef/Müller, Olaf: Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung, 2013, hier S. 26.
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handenen – ebenfalls nicht verlässlich quantifizierbaren – Auffassungen begründet haben oder begründen. Zu vermuten ist, dass die religiöse Prägung allenfalls einen unter vielen Faktoren darstellt, wenngleich sicherlich individuell unterschiedlich intensiv. Das ist deshalb zu betonen, weil in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre Menschen muslimischen Glaubens häufig auf ihre Religionszugehörigkeit reduziert wahrgenommen werden, was der Realität keinesfalls gerecht wird.11 Beispielhaft sei aus einer Studie des deutschen Bundesministeriums des Innern zitiert, wonach »ein signifikant höheres Maß an Autoritarismus/Demokratiedistanz junger Muslime im Vergleich zu einheimischen Nichtmuslimen nicht nachzuweisen ist. Einheimische Jugendliche in ähnlicher sozialer Lage erweisen sich als in vergleichbarem Maße autoritaristisch-demokratieresistent, es handelt sich hier also nicht um ein für junge Muslime spezifisches Phänomen«.12 Andererseits ist nicht zu übersehen, dass nach Erkenntnissen derselben Studie die »Risikogruppe« zu einem nicht unerheblichen Teil aus Personen besteht, die der Sprache mächtig, gebildet und von einem intellektuellen Potential sind, das auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung um Werte verweist.13 Theologische Konzepte für das aktive Leben in einer nicht dominierend vom Islam geprägten Gesellschaft wurden von Muslimen in Europa bislang nur in Ansätzen entwickelt, sieht man von speziellen Verhältnissen auf dem Balkan und in Osteuropa ab, die noch wenig erforscht und für die Gegenwart erschlossen sind. Vertreter muslimischer Organisationen verfügen meist nicht über eine entsprechende Vorbildung. Für viele Muslime ist ein theoretisch-theologischer Ansatz auch nicht bedeutsam, z.B. bei den vielen Anhängern von Sufi-Praktiken. Andere wie die Aleviten folgen theologischen Grundlagen, welche eine Eingliederung in die Mehrheitsgesellschaft völlig problemlos ermöglichen. Sehr viele Muslime – in Europa wohl die große Mehrheit – scheinen eine ›untheologische‹ Herangehensweise zu pflegen und sehen Fragen der Staatsorganisation und des Rechtssystems schlicht getrennt von Glaubensdingen. Die theologische Debatte trifft daher nur einen sehr begrenzten Ausschnitt der Realität. Dennoch nehmen gerade mit dem Abschied vom »Gastarbeiter-Status« Anfragen etwa an Imame oder in Internetforen zu, wie man in Europa bei dauerhaftem Aufenthalt ›islamkonform‹ leben könne. Begleitet wird diese Entwicklung hin zu einer dauerhaften Etablierung des Islam in Europa von intensiver Einflussnahme aus verschiedenen islamisch geprägten Staaten wie Saudi-Arabien, 11 K. Brettfeld/P. Wetzels: Muslime in Deutschland, S. 500. So sinngemäß auch ein Fazit dieser Studie. 12 Ebd., S. 495. 13 Ebd., S. 501.
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Iran, Algerien, Marokko und der Türkei. Diese Einflussnahme schwankt inhaltlich zwischen radikal antiwestlichen und anti-christlichen Segregationstendenzen, z.B. in Gutachten der saudischen Muftis Ibn Baz und Uthaymeen14 und vermittelnden Positionen sowie z.T. extrem-nationalistischer Inanspruchnahme. Die im Folgenden vorzustellende, vom Verfasser vor einigen Jahren entwickelte Typologie nimmt nicht für sich in Anspruch, alle religiösen Haltungen von Musliminnen und Muslimen abbilden zu können. Ebenso wenig will sie einzelne Individuen in ihrer Gesamtpersönlichkeit erfassen. Vielmehr geht es darum, muslimische Religiosität unter dem Blickwinkel typisierend zu erfassen, ob sie sich positiv, neutral oder ablehnend zu den Grundlagen demokratischer Rechtsstaatlichkeit positioniert. Dies erscheint aus wissenschaftlicher wie auch aus breiterer gesellschaftspolitischer Sicht nötig, weil der Islam nicht selten unter den Generalverdacht der Gegnerschaft gestellt wird. In vielen Gesprächen mit Musliminnen und Muslimen fand diese Modellierung durchweg Zustimmung. Obgleich letztlich noch keine hinreichend verlässlichen quantitativen Angaben aus Europa vorliegen, die sich spezifisch mit der hier verfolgten Fragestellung befassen, lässt sich doch die Tendenzaussage vertreten, dass die Ablehnung des demokratischen Rechtsstaats nicht signifikant vom europäischen Durchschnitt abweicht, soweit soziale Faktoren bei der Gewichtung hinreichend berücksichtigt werden. 2. Positionen von Musliminnen und Muslimen in Europa a) Alltagspragmatiker Mit aller Vorsicht kann gesagt werden, dass die wohl bei weitem größte Gruppe von Muslimen diejenige der ›Alltagspragmatiker‹ ist, welche sich wie wohl der größte Teil der Bevölkerung überhaupt ohne tiefere Reflexion in das bestehende System einfindet und es in seinen Grundentscheidungen – einschließlich der Menschenrechte – auch bejaht. Der Geltungsanspruch des herrschenden Rechts wird nicht in Frage gestellt, auch wenn es – wie in der Gesamtgesellschaft – Kritik an einzelnen Normen oder auch Verletzungen solcher Normen gibt. Es darf auch nicht vergessen werden, dass ein erheblicher Teil der Muslime anders als die kleine, lautstarke und durchaus gefährliche Zahl von Extremisten mystische oder ›volksislamische‹ Ansätze bevorzugt oder den Islam eher als kulturelles Identitätselement unter vielen anderen versteht und sich für Fragen der Normativität kaum interessiert. Die Scharia wird hier mehr und mehr als ethi-
14 Vgl. Rohe, Mathias: »Islamismus und Schari'a«, in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.), Integration und Islam, Nürnberg, 2006, hier S. 120, S. 149-150.
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sches Leitsystem ohne rechtliche Bedeutung verstanden. Dennoch herrscht gelegentlich Unsicherheit. Es fehlt an inhaltlicher religionsspezifischer Argumentationsfähigkeit gegenüber extremistischen Positionen, die sich auf meist sehr selektiv gewählte und eigenwillig interpretierte Elemente der islamischen Normenlehre beziehen. Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass man in Deutschland nun den Weg geht, eine islamische Theologie nach dem geltenden Religionsverfassungsrechts zu etablieren, die auf hohem wissenschaftlichen Niveau authentische muslimische Selbstdefinition im Rahmen des säkularen, religionsoffenen Rechtsstaats ermöglicht. b) Islamgegner Muss man sich dafür vom Islam schlechthin abwenden, wie es eine kleine, aber lautstarke Zahl ideologisierter Islamkritiker behauptet? Vor allem in jüngerer Zeit haben sich muslimische Einzelpersonen zu Wort gemeldet, die vor dem Hintergrund sehr negativer persönlicher Erfahrungen eine islamfeindliche Grundhaltung pflegen. So wird die niederländische Frauenrechtlerin Ayaan Hirsi Ali mit Sätzen zitiert, der Islam sei »nicht nur ein Glaube, er ist eine Lebensweise, eine gewalttätige Lebensweise«15. Ähnlich unreflektiert-verallgemeinernd und mit wenig Verständnis für das deutsche und europäische System der Menschenrechte argumentiert in Deutschland Necla Kelek.16 Derartige evident ungerechtfertigte Pauschalisierungen und die geradezu jakobinisch anmutende Religionsfeindlichkeit entwerten die Kritik, die in einzelnen wichtigen Aspekten wie der Brandmarkung patriarchaler Strukturen durchaus zu Recht erhoben wird. Islamfeindliche rechtspopulistische Grüppchen nutzen solche Personen mit Vor15 »Und der Islam ist doch das Problem«, Besprechung von Hirsi Ali, Ayaan: Ich bin eine Nomadin. Mein Leben für die Freiheit der Frauen, München: Piper, 2010, abrufbar unter http://www.european-circle.de/thema/buecher/meldung/datum/2010/07/29/undder-islam-ist-doch-das-problem.html, vom 29.07.2010, abgerufen am 07.08.2010. 16 Zu ihr Bahners, Patrick: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam, München: Beck, 2011, hier S. 131-174; Bade, Klaus: Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, ›Islamkritik‹ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach: Wochenschau-Verlag, 2013, hier S. 147ff.; vgl. auch die Auseinandersetzung des Verfassers mit Frau Keleks Ideologie (Kelek, Necla: »Das ist Kulturrelativismus«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 15.02.2011, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/islam-debatte-das-ist-kulturrelativismus-1592162.html) in Rohe, Mathias, »Das ist Rechtskulturrelativismus«, in: FAZ v. 22.02.2011, abrufbar unter http://www .faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/islam-debatte-das-ist-rechtskulturrelativismus1595144.html.
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liebe als vermeintlich authentische Kronzeugen für ihre Hasspropaganda. Es sind mittlerweile sogar einzelne Organisationen von »Ex-Muslimen« mit dezidiert anti-religiösem Hintergrund entstanden, die in aller Regel ohne nähere Spezifizierung (und unter Ausblendung der grund- und menschenrechtlich fundierten Religionsfreiheit) die geltenden Rechtsordnungen unterstützen und oft eine völlige laizistische Umformung fordern; ihr Wirkungsgrad scheint allerdings sehr gering zu sein. c) Islamisten Explizite Gegner des säkularen demokratischen Rechtsstaats bilden eine vergleichsweise kleine, aber gefährliche Richtung in Gestalt des Islamismus. Islamistische Haltungen spiegeln sich in einer absolutistischen Orientierung auf die eigene Gruppe und ihre Überzeugungen, verbunden mit einer oft aggressiven Ablehnung der Ansichten anderer Muslime und von Nichtmuslimen (Formulierung politischer Machtansprüche und Herausbildung struktureller ›Gegengesellschaften‹). Andere Teile der Gesellschaft werden essenzialisiert und in einer abwertenden Gegensatzbildung als Feinde des Islam stigmatisiert. Charakteristisch sind die Ablehnung des demokratischen Rechtsstaats, die Propagierung einer extremen, Frauen abwertenden Geschlechtertrennung und die Ausgrenzung/Bekämpfung aller anderen muslimischen Haltungen.17 Einschlägige extremistische Aktivitäten entfalten in Europa z.B. die Gruppierung Hizb al-Tahrir oder Einzelpersonen wie Muhammad Ahmad Rassoul, dessen Werke in zahlreichen islamischen Buchhandlungen und Moscheen in westlichen Staaten vertrieben werden.18 Er wendet sich in seinem Buch mit dem Titel »Das deutsche Kalifat« scharf gegen Demokratie und Christen.19 In vulgärer Weise werden darin reale politische und gesellschaftliche Missstände gegen das Konzept der Demokratie als solcher gewendet; ein einschlägiges Kapitel trägt die bezeichnende Über-
17 Vgl. hierzu etwa M. Rohe: Islamismus und Schari'a, S. 120ff. m.w.N. 18 Nach eigener Kenntnis des Verfassers z.B. im Vereinigten Königreich, in Kanada und in Deutschland. Bemerkenswert ist etwa ein Münchener Unternehmen namens ›AlMadina-Markt‹, das neben solcher Literatur durchaus passend spezielle Frauenkleidung anbietet: »Niqaab Mit Augenschlitz ab 8 Euro, Ganz geschlossen ab 8 Euro, Burqa nach afghanischer Art ab 60 Euro« – eine beträchtliche Handelsspanne, hat doch der Verfasser ein solches Stück in Kabul für umgerechnet 4 Euro erworben). Anzeige abgerufen am 11.10.2006 unter http://www.muslimmarkt.de/al-madinamarkt.htm. 19 Rassoul, Muhammad Ahmad: Das deutsche Kalifat, Köln: Islamische Bibliothek, 1993.
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schrift »Vom Untergang der Demokratie«.20 Stattdessen propagiert der Verfasser die Einrichtung eines deutschen Kalifats. Der Kalif muss danach selbstverständlich unter anderem Muslim männlichen Geschlechts sein.21 Zu nennen sind aber auch diejenigen, die hier lebende Muslime zu scharfer Abgrenzung gegen Christen und Nicht-Muslimen generell anhalten und sie zur Bildung von Parallelstrukturen aufrufen (»unterwerft euch nicht den Entscheidungen der Ungläubigen«), wie es weit verbreiteten Fatwa-Bänden der prominenten saudi-arabischen Gelehrten Ibn Baz und al-Uthaymeen zu entnehmen ist, aber auch der Propaganda von Wanderpredigern der Tablighi Jamaat.22 Nicht zuletzt sind insbesondere unter Jüngeren populäre, charismatische Personen oder salafistische Gruppen zu nennen, die nicht mehr über Herrschaftsmodelle diskutieren, sondern im Wege gesellschaftlicher Fundamentalkritik letztlich einen auch politischen Ausschließlichkeitsanspruch propagieren.23 Besonders bedenklich ist es, dass solche Gruppierungen offensichtlich gezielt Menschen für sich zu gewinnen suchen, die in Umbruchsituationen stehen, wie zum Beispiel neu Zugewanderte oder junge Menschen aus schwierigen familiären oder sozialen Verhältnissen. Insbesondere über das Internet lassen sich oft anonymisiert ideologische Botschaften jeder Couleur transportieren. Innerhalb des Islamismus (neo-salafistischer und anderer Ausprägung) finden sich geringe Zahlen von Menschen, die bereit sind, ihre Ziele auch mit Hilfe von Gewalt durchzusetzen (Dschihadismus und dschihadistischer Salafismus), sowie eine größere Zahl legalistisch-ideologisch operierender Personen und Gruppen (legalistischer Islamismus und politischer Salafismus). Von diesen sind diejenigen abzugrenzen, die sich auf eine pietistische Haltung in ihrer Lebensführung beschränken (Fundamentalismus: pietistischer Salafismus und andere religiös-konservative Gruppierungen). Solche Gruppen mögen nicht dem gesellschaftlichen oder innerreligiösen Mainstream angehören, sind aber nicht als extremistisch einzuschätzen, wenn sie z.B. ihre Kleidung und Lebensgewohnheiten bis hin zur Art der Zahnreinigung (Miswak statt Zahnbürste) an den Usancen Muhammads ausrichten. Der Islamismus ist eine auch im Spektrum des Islam durchaus neue politische Richtung, wenngleich sie sich fälschlich als Vertreter einer Rückbesinnung 20 Ebd., S. 81. 21 Ebd., S. 124. 22 Nachweise bei Rohe, Mathias: Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, München: Beck, 32011, hier S. 243ff., 248ff. 23 Vgl. zu solchen Bewegungen in Deutschland Wiedl, Nina: The Making of a German Salafiyya. The Emergence, Development and Missionary Work of Salafi Movements in Germany, Aarhus: Centre for Studies in Islamism and Radicalisation, 2012.
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auf den ›wahren Islam‹ ausgibt. Das traditionelle islamische Staatsrecht ist seit seiner Frühzeit wie oben ausgeführt ausgesprochen vage und lässt die unterschiedlichsten Herrschaftsmodelle zu. Folgerichtig finden sich in der Neuzeit viele Gelehrte, die die Demokratie als das System des Islam im 20. und 21. Jahrhundert ansehen.24 Hiergegen richten sich Islamisten mit der Parole, alleine Gott könne Gesetzgeber sein, weltliche Mehrheitsentscheidungen ohne Letztorientierung auf den Islam hin seien inakzeptabel und zu bekämpfen. Nicht-Muslimen wird nur eine zwar im Grundsatz geschützte, aber von Gleichberechtigung weit entfernte Position zugewiesen.25 Es geht diesen Ideologen also primär um die Durchsetzung des eigenen Machtanspruchs im religiösen Gewand. d) Traditionalisten Deutlich vom islamistischen Extremismus abgegrenzt agieren Vertreter einer traditionalistischen Haltung. Die Vertreter solcher Ansätze, über deren Repräsentativität kaum verlässliche Aussagen zu machen sind, die aber nach vielen Anzeichen eine Minderheit innerhalb der Muslime in der EU darstellen, verfügen gegenwärtig insgesamt über die bestausgeformte Infrastruktur. Insbesondere in vielen Moscheevereinen dominiert eine ganz deutlich gegen Gewalt und auf Verständigung mit der Mehrheitsgesellschaft hin ausgerichtete, aber in wichtigen Fragen wie insbesondere dem Geschlechterverhältnis ausgeprägt traditionalistische Einstellung. Auch werden hier in Fragen der äußerlich sichtbaren Glaubenspraxis weitgehend traditionelle Positionen beibehalten. Insofern gilt das Konzept möglichster ›Glaubensbewahrung‹ in einer in wichtigen Lebensfragen als ›fremd‹ empfundenen Umgebung. Solche Ansätze zeigen sich häufig in der Form einer weitestgehend kritiklosen Übernahme seit Jahrhunderten eingeführter Werke, während die ebenfalls im Islam bestehende Tradition einer Neuinterpretation der Quellen nach den Umständen von Zeit und Ort oft ungenutzt bleibt. Auch die in vielen westlichen Staaten vertriebene religiöse Literatur entspricht in erheblichem Umfang diesem Grundtenor, teils auch mit Einschlägen in die extremistisch-islamistische Ideologie. Insoweit sind insbesondere hochsubventionierte Schriften aus den Golfstaaten zu nennen. Charakteristisch für die traditionalistische Haltung in Europa ist eine Defensivposition gegenüber der ›eigentlichen muslimischen Existenz‹ in islamischen Mehrheitsgesellschaften. Typisch ist die Begründung von Abweichungen vom Mainstream in der islamischen Welt mit der sogenannten darura (Notwendigkeit) nach dem Motto ›Not kennt kein Gebot‹. Damit wird im Grunde ein permanenter Ausnahmezustand erklärt. Diese Grundhaltung ermöglicht durchaus 24 Vgl. Rohe (Fn. 7). 25 Vgl. Rohe (Fn. 7).
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eine friedliche Koexistenz: Das islamische Recht selbst hat schon seit vielen Jahrhunderten die Grundlagen geschaffen, aus denen sich eine auch rechtlichreligiöse Verpflichtung von Muslimen zur Einhaltung der im ›Ausland‹ geltenden Gesetze ergibt.26 Mit einem neuzeitlichen Begriff werden derartige Konzepte als fiqh al-aqalliyāt, Minority Fiqh u.ä. bezeichnet.27 Soweit aber der rechtlich-gesellschaftliche Grundkonsens über den demokratischen, säkularen, den Menschenrechten verpflichteten Rechtsstaat nicht auch aktiv mitgetragen wird, können sich Probleme etwa bei Übernahme verantwortlicher Ämter oder bei der Einbürgerung ergeben, bei denen eine nur formale, innerlich distanzierte Übernahme der Grundlagen nicht genügen würde. Ebenso problematisch erschiene eine Erziehung kommender Generationen in einem Bewusstsein, das die bestehende Rechtsordnung zwar hinnimmt, diese aber doch prinzipiell als ersetzungsbedürftig sieht. Der ägyptische Vordenker Fathi Osman28 versteht allerdings das aus dem Koran abgeleitete Gebot, die Gesetze des Aufenthaltslandes zu respektieren, so, dass dies eine islamisch begründete Verpflichtung beinhalte, für das Wohl dieses Landes einzustehen. Dies reicht über das bloße Einhalten der Gesetze sicherlich hinaus. Auch andere im europäischen/westlichen Kontext lebende und argumentierende Muslime nehmen die
26 Vgl. Rohe, Mathias: »Islamic Norms in Germany and Europe«, in: Ala Al-Hamarneh/ Jörn Thielmann (Hg.), Islam and Muslims in Germany, Leiden, Boston: E.J. Brill, 2008, hier S. 49, S. 77ff. 27 Vgl. z.B. Caeiro, Alexandre: »Transnational ›Ulama‹, European Fatwas and Islamic Authority: A Case Study of the European Council for Fatwa and Research«, in: Martin van Bruinessen/Stefano Allievi (Hg.), Producing Islamic Knowledge: Transmission and Dissemination in Western Europe, London u.a., 2011, S. 121-141; Albrecht, Sarah: Islamisches Minderheitenrecht: Yūsuf al-Qaradāwīs Konzept des fiqh alaqallīyāt, Würzburg: Ergon Verlag, 2010; Sisler, Vit: Cyber Counselors: Online Fatwas, Arbitration Tribunals, and the Construction of Muslim Identity in the UK, in: Information, Communication and Society 14 (2011), S. 1136-1159 (abrufbar unter http://www.digitalislam.eu/article.do?articleId=7895) sowie die Übersicht und die innermuslimische Kritik bei Saeed, Abdallah: »Reflections on the Development of the Discourse of Fiqh for Minorities and Some of the Challenges it faces«, in: Mauritus Berger (Hg.), Applying Shari'a in the West, Leiden: Leiden University Press, 2013, S. 241-255 m.w.N. 28 Vgl. Osman, Fathi: »Islam and Human Rights«, in: Abdelwahab El-Affendi (Hg.), Rethinking Islam and Modernity – Essays in Honour of Fathi Osman, Markfield u. a.: Islamic Foundation, 2001, hier S. 27, 33.
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traditionellen Ansätze nur als Ausgangspunkt, entwickeln daraus jedoch eine neue ›einheimische‹ Theologie (vgl. sogleich unter e) Einheimische).29 Einzelne nicht repräsentative Befragungen des Verfassers unter vergleichsweise stark religiös gebundenen Muslimen30 in verschiedenen westlichen Staaten, ob beispielsweise die Anwendung traditionellen islamisch geprägten Familienrechts derjenigen des territorial geltenden Rechts vorzuziehen sei, haben eine gewisse Unsicherheit erkennen lassen. In der Regel wurde für die Antworten auf den Imam verwiesen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass manche muslimische Organisationen auf ihren Websites Informationen über das islamische Personenstands-, Familien- und Erbrecht bereithalten, die in der Grundhaltung der traditionellen Rechtssicht entsprechen und damit grundlegenden Wertentscheidungen des geltenden Rechts entgegenstehen. Allerdings erfolgt häufig ein kurzer Hinweis darauf, dass am Aufenthaltsort das staatliche gesetzte Recht zu beachten ist. Den Traditionalisten dürften schließlich auch Migranten zuzurechnen sein, die in vergleichsweise stark abgeschlossenen Verhältnissen leben und die islamisch (mit-) geprägte Rechtskultur ihrer Herkunftsländer pflegen. Teilweise nutzen sie – insoweit grundsätzlich unproblematisch – die vorhandenen Gestaltungsmöglichkeiten des dispositiven Sachrechts.31 In manchen Fällen wird auch familienrechtliche Gestaltung betrieben, die zwar islamrechtlichen Grundsätzen folgt, im Inland aber wegen Verstoßes gegen zwingende abweichende Vorschriften unwirksam ist. Solche Fälle sind zwar in Deutschland weitaus weniger zu vermuten als im Vereinigten Königreich, aber nach Kenntnis des Verfassers doch auch gegeben.32 e) Einheimische Anders als die Traditionalisten sehen die Einheimischen muslimisches Leben hierzulande nicht als strukturellen Ausnahmezustand an, in dem man sich mit Kompromisslösungen zurechtfinden muss, sondern begreifen ihre Lebenssituation als die neue Normalität eines Islam in religionspluralen Gesellschaften und religionsneutralen Staaten, und fühlen sich auch mental-intellektuell ›einhei29 Vgl. hierzu March, Andrew: Islam and Liberal Citizenship. The Search for an Overlapping Consensus, Oxford: Oxford University Press, 2009, hier S. 163ff. m.w.N. 30 Z.B. in islamischen Buchhandlungen und in Moscheen. 31 Vgl. M. Rohe: Das islamische Recht, S. 366ff. 32 Vgl. zum Problem der »Paralleljustiz« Wagner, Joachim: Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat. Berlin: Econ, 2011; Rohe, Mathias: »Paralleljustiz in Deutschland?«, in: Neue Juristische Wochenschrift 37 (2013), S. 1415.
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misch‹. Muslime sollen danach die herrschende Rechtsordnung und die Gesellschaft, in der sie leben, als ihre eigene verstehen und ihren Beitrag zu deren gedeihlicher Weiterentwicklung leisten. ›Einheimisch‹ bezieht sich in diesem Zusammenhang also nicht auf Geburtsort oder Staatsangehörigkeit, sondern auf die innere Zugehörigkeitshaltung. In jüngerer Zeit sind in diesem Spektrum einzelne Wissenschaftler wie Mouhanad Khorchide33 hervorgetreten, die sich teilweise auch der Ausbildung islamischer Religionslehrer und Theologen widmen. Daneben schlägt sich die türkische theologische Reformdebatte insbesondere dort nieder, wo in größerer Zahl Muslime türkischer Herkunft leben; Vergleichbares gilt für Muslime vom Balkan oder mit familiären Wurzeln in anderen Teilen der islamisch geprägten Welt. In diesem Zusammenhang sei etwa die Schrift34 des Penzberger Imams und engagierten muslimischen Vertreters Benjamin Idriz oder das autobiographisch angelegte Buch35 der ebenfalls stark engagierten islamischen Religionslehrerin Lamya Kaddor genannt. In Frankreich wollen z.B. die Theologen Tareq Oubrou36 und Soheib Bencheikh37 eine »Theologie der Minderheit unter anderen Minderheiten« (so Bencheikh aaO) im laizistischen Rahmen unter Geltung der Menschenrechte, der Glaubens- und Gewissensfreiheit entwickelt sehen. Diese Richtung ist im schulischen und akademischen Bereich sowie in NGOs besonders häufig anzutreffen. Dies spricht dafür, dass z.B. der in Deutschland in Etablierung befindliche islamische Religionsunterricht, die entsprechende universitäre Ausbildung der Lehrkräfte und die Etablierung einer is33 Vgl. etwa sein Werk Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg: Herder, 2012, das in traditionalistischen Kreisen teils heftig kritisiert wurde, gerade in der jüngeren Generation einheimischer Muslime jedoch großen Zuspruch findet. 34 Idriz, Benjamin: Grüß Gott Herr Imam!: Eine Religion ist angekommen, München: Diederichs Verlag, 2010, hier insbes. S. 61ff., S. 97ff. S. 14ff. 35 Kaddor, Lamya: Muslimisch, Weiblich, Deutsch. Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam, München: Beck, 2010. 36 Vgl. Oubrou, Tareq: »Introduction théorétique à la chari‛a de minorité«, in: Islam de France 2, 1998, hier S. 27ff.; ebd.: »La charia de minorité: contribution pour une integration légale de l’islam«, abrufbar unter http://www.islamlaicite.org/article24.html, vom 21.02.2003, abgerufen am 10.11.2012; vgl. auch Crone, Manni: »Shari‛a and Secularism in France«, in: Jorgen S. Nielsen/Lisbet Christoffersen (Hg.), Shari‛a as Discourse. Legal Traditions and the Encounter with Europe, Farnham: Ashgate, 2010, hier S. 141, S. 145-148. 37 Vgl. Bencheikh, Soheib: «La théologie de la minorité», in: ders.: Marianne et le Prophète: L’Islam dans la France laïque, Paris: Bernard Grasset, 1998, hier S. 188-190.
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lamischen Theologie an Universitäten den wünschenswerten Prozess muslimischer Selbstreflexion und -bestimmung im Rahmen des säkularen Rechtsstaats deutlich voranbringen werden. Entsprechende universitäre Initiativen finden sich beispielsweise auch in Österreich.38 Vertreter dieser Richtung können sich auf altehrwürdige Instrumente des Islam wie der Frage nach den Gründen für eine Offenbarung (asbāb al-nuzūl) stützen, welche die Grundlage für eine historisch-kritische Quelleninterpretation abgeben kann. Allgemeiner steht die eigenständige Neuinterpretation nach den räumlichen und zeitlichen Umständen (Idschtihad) offen. Eine derart dynamische Interpretation nehmen etwa Vertreterinnen eines islamischen Feminismus vor.39 Plakative Titel wie derjenige des neuen Werks von Katajun Amirpur (»Gender-Dschihad«)40 weisen in diese Richtung. Insgesamt zeigt sich bei den Vertretern dieser Richtung die Tendenz, die islamische Scharia nicht mehr als mit staatlichen Mitteln durchzusetzendes Gesetzeswerk zu deuten, sondern als religiös-ethische Anleitung zur Lebensführung.
III. P ERSPEKTIVEN Der Islam steht nicht im strukturellen Gegensatz zum säkularen demokratischen Rechtsstaat. Positionen muslimischer Extremisten lassen sich nicht verallgemeinern und sind unter Muslimen auch nicht mehrheitsfähig. Die notwendige Bekämpfung des islamischen Extremismus darf sich nicht gegen Muslime insgesamt richten. Sie bilden keineswegs eine ›Gegengruppe‹ zur sonstigen Bevölkerung, sondern sind Teil der deutschen Gesamtgesellschaft oder anderer europäischer Gesellschaften. Als in ihrer übergroßen Mehrheit rechtstreue Bürger haben sie Anspruch auf die gleichen Rechte und unterliegen den gleichen Pflichten wie alle anderen. Nach alledem ist es grundlegend verfehlt, ›den Islam‹ auf eine nur fiktive Essenz festzulegen und daraus dann einen Gegensatz zum säkularen Rechtsstaat zu
38 Vgl. Die Arbeit von Ednan Aslan und anderen an der Universität Wien, u.a.: Aslan, Ednan: The training of imams and teachers for Islamic education in Europe, Frankfurt a.M.: Lang, 2012.; vgl. hierzu auch die Empfehlungen des Dialogforum Islam (Republik Österreich, Bundesministerium für Inneres, Bericht, Wien 2012, hier S. 10ff. (Reiss); S. 27-28. (Rohe). 39 Vgl. M. Rohe: Das islamische Recht, insbes. S. 196ff. m.w.N. 40 Amirpur, Katajun: Den Islam neu denken: Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, München: Beck, 2013.
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konstruieren, wie dies vereinzelte Publizisten, vor allem aber Islamhasserblogs wie ›Politically Incorrect‹ betreiben, in denen zum Teil offen zur Gewalt gegen Muslime aufgerufen wird.41 Auch von Verschwörungstheorien und Weltuntergangsphantasien geplagte Literatur wie die Werke des Hans-Peter Raddatz42 41 Die folgenden schwer erträglichen Äußerungen bedürfen der Dokumentation und sollen deshalb hier wiedergegeben werden. Am 17.06.2010 schreibt ein »sharkspear« anlässlich einer Meldung über die Anteile an Türken unter den Einwohnern deutscher Städte folgendes: »Geniale Arbeit; 1. Wir wissen wo 2. Wir wissen wie viele 3. Bezirke sind ne super sache für uns…Panzer vor, granate rein, und schon stirbt ein muzzleSchwe*n« (Kommentar Nr. 27, abgerufen am 07.08.2010 unter http://www.pinews.net/2010/06/die-tuerkischsten-staedte-deutschlands/#comments); am selben Ort phantasiert Kommentar Nr. 11 (»ruhrgebiet«) vom kommenden Bürgerkrieg, bei dem der Schreiber »nicht auf deren seite« sein werde; am 27.07.2010 schreibt ein »Tobias Schmidt« zum Thema Türkei und EU: »Wir müssen das Pack ja nach der Wende millionenfach aus Europa ausschaffen.« Ein Höhepunkt der Verwahrlosung findet sich in der Zuschrift einer »Ureinwohnerin« im November 2009 (Kommentar Nr. 17 vom 14.11.2009, abgerufen am 16.12.2009 unter http://www.pinews.net/2009/11/aegypterfordern-kopf-des-marwa-moerders/#comments). Im Anschluss an das Dresdner Gerichtsverfahren gegen den Mörder der jungen, schwangeren Muslimin (Kopftuchträgerin) Marwa el-Sherbini, die diesen gebeten hatte, eine Spielplatzschaukel für ihren kleinen Sohn freizugeben, kommentierte sie den Verfahrensausgang mit folgenden Worten (Orthographie- und Grammatikfehler wie im Original): »ausgerechnet dieses Muselgesox regt sich über den Tod einer Ägypterin auf. […] Wenn diese Schleiereule mir mit diesem unerträglichen Überlegenheitsgetue auf dem Spielplatz begenet wäre hätte ich ihr eine Ohrfeige gegeben und ihrem Muselkind in den Hintern getreten. « 42 Vgl. zu ihm Riexinger, Martin: »Hans Peter Raddatz: Islamkritiker und Geistesverwandter des Islamismus«, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden: VS Verlag, 2009, S. 459469. Vgl. auch Troll, Christian: »Islamdialog: Ausverkauf des Christlichen? Anmerkungen zum Buch von Hans Peter Raddatz«, in: Stimmen der Zeit 2 (2002), S. 103116 (zum Buch von Raddatz, Hans-Peter: Von Gott zu Allah? Christentum und Islam in der liberalen Gesellschaft, München: Herbig, 2001), auch abrufbar unter http://www.sankt-georgen.de/leseraum/troll5.html, abgerufen am 04.09.2002. Höbsch, Werner: »Diffamierter Dialog. Hans-Peter Raddatz und das christlich-islamische Gespräch«, in: Die neue Ordnung 6 (2005), abrufbar unter http://www.die-neueordnung.de/Nr62005/WH.htm, abgerufen am 17.3.06. Seine dünne wissenschaftliche Reputation versucht er z.B. dadurch aufzubessern, indem er auf der Basis eines einzigen Stichwortartikels in der Encyclopedia of Islam II zum Thema seiner Dissertation als »Ko-Autor« ausgewiesen wird.
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oder von Christopher Caldwell43 haben eine gewisse Konjunktur in Zeiten verbreiteter Ängste. Wer so vorgeht, unterstützt im Grunde das Geschäft des Islamismus. Mangel an analytischen Fähigkeiten und wissenschaftlicher Redlichkeit zeigt zudem eine gelegentlich anzutreffende Vergleichsperspektive, welche das Deutschland der Gegenwart mit der islamischen Welt der Vergangenheit in Beziehung und Gegensatz zueinander setzt, damit aber auf die gegenwärtig hier lebenden Muslime abzielt. Der neue Volkssport, in Leserbriefen und Internetblogs irgendwelche Koransuren aus ihrem textlichen und interpretativen Kontext zu reißen und daraus ein Bedrohungsszenario zu konstruieren, ist nichts als ein Dokument der Ignoranz. Umso notwendiger erscheint es, sich in sachorientierter Weise damit zu befassen, ob und inwieweit Verständnisse und Lebenshaltungen von Musliminnen und Muslimen in Deutschland und Europa sich mit den hier herrschenden rechtlichen Rahmenbedingungen des Zusammenlebens decken oder aber im Gegensatz hierzu stehen.Die Grundlagen unserer Rechtsordnung müssen immer wieder neu vermittelt werden, durch alle Bevölkerungsgruppen und über die Generationen hinweg. Entsprechende Akzeptanz ist kein Selbstläufer, sondern bedarf gesamtgesellschaftlicher Überzeugungsarbeit in Abwehr und zur Verhinderung jeglicher Form von Extremismus. Jedoch würde der säkulare Rechtsstaat seine international wirkende Überzeugungskraft verlieren, wenn er seine grundlegenden Ansprüche nicht auch und gerade in der Alltagspraxis umsetzen würde.44 Das gilt nicht zuletzt für selbstverständliche Etablierung einer religiösen Infrastruktur im Rahmen des geltenden Rechts. Aus rechtlicher Sicht kann es keine »fremden« Religionen geben, sondern nur der allgemein geltenden Rechtsordnung »fremde« religionsgeleitete Verhaltensweisen, denen durch wirksame Maßnahmen rechtlicher und außerrechtlicher Art zu begegnen ist. Wer aber die
43 Caldwell, Christopher: Reflections on the Revolution in Europe, London: Allen Lane, 2009; vgl. die Besprechung dieses intellektuell sehr schlichten Werks von Blom, Philipp: »Wir werden Maghreb. Christopher Caldwell warnt vor der Islamisierung Europas«, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.07.2010, S.12. 44 Unter rechtsstaatlichen Aspekten in die Nähe der Realsatire gerät dann allerdings eine Petition von Moscheegegnern in München-Sendling, die sich laut einem Pressebericht vom 11.3.07 gegen den Moscheebau unter anderem mit der Begründung wendet, er sei »der bayerischen Kultur gegensätzlich«, für die »der Genuss von Bier und Schweinebraten« stehe; Fischer, Sebastian: »Münchener Moschee-Kampf: Muslime beten bittschön im Möbelhaus«, in: Spiegel Online, abrufbar unter: http://www.spie gel.de/politik/deutschland/muenchener-moschee-kampf-muslime-beten-bittschoen-immoebelhaus-a-470350.html, vom 11.03.2007.
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gemeinsame Hausordnung respektiert, hat das Recht auf vollständige Gleichbehandlung, welche Religion oder Kultur er oder sie auch pflegt.
B IBLIOGRAPHIE Monographien Albrecht, Sarah: Islamisches Minderheitenrecht: Yūsuf al-Qaradāwīs Konzept des fiqh al-aqallīyāt, Würzburg: Ergon Verlag, 2010. Amirpur, Katajun: Den Islam neu denken: Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, München: Beck, 2013. Aslan, Ednan: The training of imams and teachers for Islamic education in Europe, Frankfurt a.M.: Lang, 2012. Bade, Klaus: Kritik und Gewalt: Sarrazin-Debatte, ›Islamkritik‹ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach: Wochenschau-Verlag, 2013. Bahners, Patrick: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam, München: Beck, 2011. Bencheikh, Soheib: «La théologie de la minorité», in: ders.: Marianne et le Prophète: L'Islam dans la France laïque, Paris: Bernard Grasset, 1998, S. 188190. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976. Brettfeld, Katrin/Wetzels, Peter: Muslime in Deutschland, Berlin: Bundesministerium des Innern, 2007. Caldwell, Christopher: Reflections on the Revolution In Europe: Immigration, Islam, and the West, London: Allen Lane, 2009. Campenhausen, Axel Freiherr von/Wall, Heinrich de: Staatskirchenrecht, München: Beck, 42006. Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja: Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2009. Hirsi Ali, Ayaan: Ich bin eine Nomadin. Mein Leben für die Freiheit der Frauen, München: Piper, 2010. Idriz, Benjamin: Grüß Gott, Herr Imam!: Eine Religion ist angekommen, München: Diederichs Verlag, 2010. Kaddor, Lamya: Muslimisch, Weiblich, Deutsch. Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam, München: Beck, 2010. Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg: Herder, 2012.
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Sisler, Vit: »Cyber Counselors: Online Fatwas, Arbitration Tribunals, and the Construction of Muslim Identity in the UK«, in: Information, Communication and Society 14 (2011), S. 1136-1159, abrufbar unter http://www.digital islam.eu/article.do?articleId=7895 Politically Incorrect: Kommentare aus »Ägypter fordern Kopf des MarwaMörders« abrufbar unter http://www.pi-news.net/2009/11/aegypter-fordernkopf-des-marwa-moerders/#comments, vom 14.11.2009, abgerufen am 16.12.2009. Politically Incorrect: Kommentare aus »Die türkischen Städte Deutschlands«, abrufbar unter http://www.pi-news.net/2010/06/die-tuerkischsten-staedtedeutschlands/#comments, abgerufen am 07.08.2010. http://www.muslimmarkt.de/al-madina-markt.htm, abgerufen am 11.10.2006. »Und der Islam ist doch das Problem«, Besprechung von »Ich bin eine Nomadin«, abrufbar unter http://www.european-circle.de/thema/buecher/ meldung/datum/2010/07/29/und-der-islam-ist-doch-das-problem.html, vom 29.07.2010, abgerufen am 07.08.2010. »Medien verstärken Islamisierung der Integrationsdebatte«, in: migazin, abrufbar unter http://www.migazin.de/2013/03/13/studie-medien-verstarken-islamisie rung-der-integrationsdebatte/, vom 13.03.2013.
Dispositiv Muslim in Deutschland – ein nie endendes Unterfangen T UBA I SIK
Die Ausbildung und die Ursachen für das Muslimsein in Deutschland, welches als Dispositiv im foucaultschen Sinne verstanden wird, zu betrachten, ist keine leichte Aufgabe. Nach Foucault kann ein Dispositiv formiert werden aus diskursiven wie auch nicht-diskursiven Praxen, d.h. aus »Diskursen, Institutionen, architekturalen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen oder philanthropischen Lehrsätzen, kurz: Gesagtem wie ebenso Ungesagtem [...]«.1 Aufgrund dieser vielfältigen Elemente läuft die sich an die Erörterung des Muslimseins wagende Autorin stets Gefahr, der Kritik ausgesetzt zu sein, Bezugspunkte, Einflussfaktoren, Diskurse u.Ä. ausgelassen, zu wenig betont oder falsch gesetzt zu haben. Dennoch sei hier ein heuristischer Versuch gewagt, entscheidende diskursive Entstehungsfaktoren zu skizzieren. Wesentlich scheint mir, das Dispositiv Muslimsein aus einer identitätstheoretischen sowie einer gesellschaftspolitischen Perspektive zu betrachten. Diese beiden Perspektiven bedingen sich und sind deshalb nicht scharf voneinander zu trennen. Im Folgenden werden Identitätsdiskurse vor dem Hintergrund der Integrationsdebatten betrachtet und bewertet. Leitbilder, die für die Definition des Muslimsein entsprechende Diskurse geprägt bzw. die zu prägenden Diskursen verschmolzen sind, haben sich mit der Zeit gewandelt. Die Vergesellschaftung von zugewanderten Menschen scheint wohl den prägendsten Einfluss auf die Identitätsbe-
1
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978, hier S. 119.
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stimmung zu haben. Folglich spielen auf politischem Parkett geführte Integrations- und Migrationsdebatten eine wesentliche Rolle.2
1. V OM G ASTARBEITER ZUM AUSLÄNDER In der gegenwärtigen Migrationsforschung, der Politik sowie der Medienberichterstattung halten sich sprachliche Schwierigkeiten darüber, was die Beschreibung gewisser Phänomene und den Status quo von eingewanderten Menschen und ihren Nachkommen in Deutschland anbelangt.3 Mittlerweile hat das Wort »Ausländer« in migrationspolitischen Debatten einen diskriminierenden Klang. Nachdem nun sehr viele Ausländer eingebürgert und ihre Kinder in Deutschland geboren wurden, häufen sich Schwierigkeiten in wissenschaftlichen Fachkreisen, Menschen der Folgegenerationen adäquat zu benennen.4 Wie lässt sich dieser offenbar dringende Wunsch, Menschen einordnen zu wollen, begründen? Jegliche Begriffserfindungen und -neuerungen waren und sind Behelfe, Phänomene der gesellschaftlichen Realität zu identifizieren, erklärbar und verständlich zu machen. Die Wahl der Bezeichnungen ist sicherlich nicht willkürlich, da sie letztendlich eo ipso einen Sachverhalt beschreiben sollen. So muss betont werden, dass Sprache etwas bzw. ein Phänomen behauptet oder erfasst, aber im gleichen Moment auch Ausgrenzung produziert und etwas unausgesprochen lässt, was selbst wiederum eine Aussage ist.5 So liegt es in der Semantik der Worte Migrant, eingebürgerter Zuwanderer, Deutschtürke/in, Deutsche(r) mit Migrationshintergrund, türkischstämmige(r) Deutsche(r), aus sich heraus eine binäre Logik
2
In diesem Text wird der Einfachheit halber nur die männliche Form verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.
3
Es lässt sich nicht vermeiden, von sprachlichen Konstrukten auszugehen, die im Rahmen dieses Artikels nicht noch einmal expliziert werden können.
4
Anders ist die Beobachtung in den Debatten in der Rechtswissenschaft im Rahmen des Ausländerrechts, vgl. Gusy, Christoph: »Integration durch Staatsangehörigkeit«, in: Ulrike Davy (Hg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, Baden-Baden: Nomos, 1999, S. 262-271; vgl. Eichenhofer, Johannes: Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, Schriften zum Migrationsrecht, Band 11, Baden-Baden: Nomos, 2013.
5
Vgl. Kapitanova, Janeta: Regeln in sozialen Systemen, Wiesbaden: Springer, 2013, hier S. 97ff.
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zu produzieren, die oft eine Bewertung in sich trägt.6 Diese Bezeichnungen beschreiben also Menschen als Eingewanderte und halten gleichzeitig die Tatsache fest, dass diese Menschen keine autochthonen Deutsche sind. Die den Wörtern impliziten Bedeutungen drücken zeitgleich noch aus, dass der nicht-autochthon deutsche Mensch kein genuin zugehöriger Teil der deutschen »Urgemeinschaft«, der Aufnahmegesellschaft ist. Damit bergen diese Bezeichnungen stets ein ausschließendes Moment, eine politische Attitüde, die gegenwärtig in Deutschland in der »Mitte der Gesellschaft« angekommen und salonfähig ist. Die Orientierung am Prinzip der Vererbung der deutschen Staatsangehörigkeit, dem ius sanguinis, scheint auch heute noch fest im deutschen Bewusstsein verankert. Das erschwert die Akzeptanz von eingebürgerten Fremden als Deutsche und die Affirmation von eingebürgerten Fremden, sich als Deutsche zu verstehen. Nach Deutschland kamen seit den 1950er Jahren Gastarbeiter aus Italien, Griechenland, und Spanien. Ab 1961 folgten die ersten Gastarbeiter aus islamisch geprägten Ländern.7 Staat und Gesellschaft interessierten sich anfangs wenig dafür; schon allein der Begriff »Gastarbeiter« lud zu dieser Haltung ein und formulierte zeitgleich die Erwartung: Diese Arbeiter waren vorübergehend im Land und würden bald wieder gehen. Die mehrheitsgesellschaftliche sowie politische Zuschreibung »Ausländer« war mit der eigenen Positionszuschreibung der Gastarbeiter zunächst identisch und wurde von keiner Seite als Diskriminierung wahrgenommen. Die Anwerbung von ausländischen Fachkräften ab 1955 und ihre Folgen dürfte für Deutschland neben dem Wiederaufbau des Landes eine der größten Herausforderungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen sein. Erst viele Jahre später, in der Hoffnung, die nationalsozialistische Rassenideologie des Dritten Reiches überwunden zu haben, war das deutsche Volk nun mit der Situation konfrontiert, Deutschsein in Anbetracht der Anwesenheit von angeworbenen Ausländern in ihrem Land aufs Neue zu konstruieren. Auch für die Deutschen hieß es, sich in der Begegnung mit dem kulturell Fremden vor dem Hintergrund der Erinnerung an das Dritte Reich neu zu definieren. Nach der in der Politik als »Phase der Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung« bezeichneten Zeit, in der sich mehr und mehr Ausländer entschieden, hier zu bleiben und ihre Familien nach Deutschland zu holen, trat sukzessive die
6
Im Falle des Migrationshintergrundes ist es ein Ordnungskriterium der deutschen amtlichen Statistik, Menschen zu erfassen, die seit 1949 nach Deutschland einwandern.
7
Anwerbeverträge für Arbeitskräfte wurden zunächst mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (1960) und später auch mit der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968) geschlossen.
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Paradoxie des Wortes »Ausländer« zu Tage.8 Dennoch blieb man sowohl in den juristischen sowie in gesellschaftssoziologischen Diskursen zunächst bei dieser Formulierung.
2. V OM AUSLÄNDER
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Das Ansässig-Werden brachte es mit sich, dass die Mehrheitsgesellschaft und die »Ausländer« sich nun bewusster mit ihrem Umfeld auseinandersetzten. Die Mehrheitsbevölkerung lehnte die Ausländer zunächst ab.9 Eine strukturelle Exklusion war bspw. in Großstädten wie Köln, Duisburg oder Berlin zu beobachten; eine ganz bewusst durchgeführte Stadtpolitik erlaubte es gewissen Ausländergruppen, nur in bestimmten Stadtteilen zu wohnen, wodurch die gesellschaftliche Segregation ver- bzw. bestärkt wurde. Die nun überwiegend in sukzessiv heruntergekommenen, ghettoähnlichen Stadtbezirken wohnenden Ausländer wurden als ein kulturelles Kollektiv wahrgenommen, dessen Traditionsverbundenheit stark befremdlich und rückwärtsgewandt wirkte. Die Reaktion der Ausländer auf die mehrheitliche Ablehnung, Deklassierung und Entwertung der mitgebrachten Kultur war der Rückzug und die Besinnung auf Werte und Symbole der altbekannten Tradition. So suchten sie verstärkt und bewusst ihresgleichen und zogen aus eigenem Antrieb in die mehrheitlich ausländisch bevölkerten Stadtteile, um sich in der Fremde ein vertrautes Umfeld zu schaffen, das ihnen sichere Verhältnisse und das Gefühl von Geborgenheit gewährleisten sollte – eine migrationssoziologisch betrachtet logische Konsequenz.10 Diese Rückzugstendenzen zeigten sich umso intensiver, je häufiger sich Familien in ihrer Exis-
8
Vgl. Bommes, Michael: »Einleitung. Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland zwischen institutioneller Anpassung und Abwehr«, in: Michael Bommes/Werner Schiffauer (Hg.), Migrationsreport 2006. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a.M.: Campus Verlag, 2006, S. 31-63, hier S. 27.
9
Vgl. Tiesler, Nina Clara: Muslime in Europa. Religion und Identitätspolitiken unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, Berlin: LIT, 2006, hier S. 20. Türkische oder syrische Aramäer sowie andere ethnische Gruppierungen berichten von ähnlichen Erfahrungen, sodass nicht von einer unmittelbaren Diskriminierung der Muslime und des Islam als Religion auszugehen ist.
10 Vgl. Uslucan, Haci-Halil: Religiöse Werteerziehung in islamischen Familien, Bundesamt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2008, hier S. 5.
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tenz in der Fremde bedroht fühlten.11 So wurde in der Begegnung mit dem kulturell und religiös Anderen primär verstärkt die eigene (Heimat-)Kultur und sekundär die Religion bewusster erlebt.12 Eigenkulturelle Elemente, die womöglich im Heimatland schon überholt waren, wurden umso stärker nach außen getragen, um kenntlich zu machen, wer man war und wer man nicht sein wollte. Aufgrund dessen war eine stärkere emotionale wie auch kulturelle Bindung an die Ursprungsländer zu verzeichnen als an Deutschland. Gesellschaftstheoretische Konzepte wie der Multikulturalismus, der politisch anfangs forciert wurde, schienen ein harmonisches Miteinander zu versprechen. Multikulturalismus sollte als theoretischer Unterbau für die versäumte Einwanderungspolitik dienen und als verbindendes Element in einer zunehmend von Einwanderung geprägten Gesellschaft fungieren. Während Multikulturalismus in Kanada, wo dieses gesellschaftliche Konzept seinen Ursprung hatte, als Weg zur Integration und zu gegenseitiger Wertschätzung verstanden wurde, diente es in Deutschland als Grundlage einer Identitätsbestimmung durch negative Abgrenzung vom Anderen auf beiden Seiten.13 In der Retrospektive betrachtet, war diese Bereitschaft der deutschen Politik, sich dem Ansatz des Multikulturalismus zu öffnen, ein kleiner, aber wichtiger und notwendiger Schritt in die Richtung, Vielfalt ernst nehmen und würdigen zu wollen. Zunächst wurde jedoch vom ethnisch und religiös Anderen erwartet, dass er sich entweder vollständig assimilierte und »Deutscher« wurde, oder er sollte in seinen religiösen und kulturellen Eigenarten bestehen dürfen, bliebe so jedoch sozial abgestuft. Ein kulturelles Nebeneinander wurde bestenfalls toleriert. Der Ausländer konnte in einem gewissen Rahmen aber auch wertgeschätzt werden. Ausländisches Essen galt als Bereicherung und erinnerte an den eigenen Urlaub, und die Musik lud zum Bauchtanz ein. Im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche Ende der 1960er, 1970er und 1980er Jahre war eine neue, überdehnte Offenheit angesagt, die sich in einer neuen Veranstaltungsform, den »Ausländerfesten«, niederschlug. Das Ergebnis war, dass die kulturelle Alterität noch stärker akzentuiert 11 Vgl. H.-H. Uslucan: Religiöse Werteerziehung, S. 29. Näheres über die Konsequenzen von Akkulturationsstress bei Zick, Andreas: Psychologie der Akkulturation. Neufassung eines Forschungsbereiches, Wiesbaden: VS-Verlag, 2010. 12 Vgl. Özkan, Ibrahim/Hüther, Gerald: »Migration. Traum oder Trauma?«, in: Ibrahim Özkan/Ulrich Sachse/Annette Streeck-Fischer (Hg.), Zeit heilt nicht alle Wunden. Kompendium zur Psychotraumatologie, Göttingen: Vandenhoek&Ruprecht, 2012, S. 173-186, hier S. 174-175. 13 Vgl. »Multikulti ist gescheitert – von wegen!«, http://www.tagesspiegel.de/meinung/ kommentare/deutschland-multikulti-ist-gescheitert-von-wegen/1134622.html vom 04.01.2014.
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wurde und die Zuwanderer gerade dadurch weiterhin auf ihre Identität als Türke oder Marokkaner festgelegt wurden. Der Andere wechselte zwar von der Kategorie »befremdlich« in die Abteilung »interessant« oder auch »exotisch«, doch blieb es der Gegenentwurf zum »Deutschsein«. Zugleich begannen sehr viele Ausländer verstärkt, um nicht »verschluckt« bzw. assimiliert zu werden, das Eigene zu konservieren und standen damit einer neuen Identitätsbestimmung selbst im Weg. »Wenn ich das Gefühl habe, dass meine Sprache verachtet, meine Religion verspottet, meine Kultur herabgewürdigt wird, dann reagiere ich damit, dass ich die Attribute meiner Andersheit demonstrativ zur Schau trage«, konstatiert Amin Maalouf in Mörderische Identitäten treffend.14 Der deutsche Andere musste in seiner Lebensweise und seiner kulturellen Andersheit dämonisiert (oder später interessant) werden, um das Eigene zu würdigen und zur Geltung zu bringen. Religiös orientierte Menschen unter den Ausländern hingegen führten vielfach als alternative Lebensform »den Islam« ins Feld.15 In der im Wesentlichen traditionalistischen Identitätskonstruktion kam nun allmählich das Religiöse als Referenzpunkt zum Vorschein. Ende der 1990er Jahre verschob sich die Begrifflichkeit für die Ausländer. Es folgte die Ergänzung des Staatsangehörigkeitsgesetzes um das Territorialprinzip für den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt im Land, das sog. ius soli. Die neue, insbesondere von Ursula Boos-Nünning geprägte und eingeführte Bezeichnung Migrant spiegelte die Benennungsschwierigkeiten wider, die Deutsche angesichts der sich zunehmend einbürgernden »Ausländer« in Deutschland hatten, wenn sie sich juristisch sowie politisch korrekt ausdrücken wollten.16 Absurd erscheint diese Bezeichnung in Bezug auf die Folgegenerationen der ersten Gastarbeiter, die nun in Deutschland geboren und aufgewachsen waren. »Von den 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund können im wissenschaftlichen Wortsinn nur 10,6 Millionen Menschen als Migranten bezeichnet werden, die selbst aktiv nach Deutschland zugewandert sind. Die verbleibenden 5,24 Millionen besitzen keine eigene Migrationserfahrung mehr und
14 Maalouf, Amin: Mörderische Identitäten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000, hier S. 4243. 15 Für türkische Ausländer war diese Haltung noch aus ihrem Heimatland angesichts der Ausschreitungen zwischen den linksorientierten und rechtskonservativen Milieus bekannt, deren Kampf mit einem militärischen Putsch um 1980 beendet wurde. 16 Vgl. Müller-Jacquier, Bern: »Konstruktionen von Fremdheit in Erfahrungsberichten«, in: Torsten Kühlmann/Bernd Müller-Jacquier (Hg.), Deutsche in der Fremde. Assimilation – Abgrenzung – Integration, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2007, S. 1719, hier S. 18-19.
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sind bereits in Deutschland geboren, sie gelten in der öffentlichen Meinung dennoch häufig als Migranten«17.
3. V OM M IGRANT
ZUM
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Mittlerweile sprechen wir von der vierten, einer postmigrantischen Generation. Es ist weiterhin zu beobachten, dass die Selbstidentifikationen dieser vierten Generation individuell sehr unterschiedlich ausfallen, und die Forschung sie, um sie weiterhin als eigenständiges Untersuchungsphänomen zu bewahren, mit Nachdruck mit Bezeichnungen wie »Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte«, »Deutsch-Marokkaner« oder auch mit lokalen Selbstpositionierungen wie »marrokanischstämmiger Berliner« oder »schwäbischer Türke« zu markieren versucht.18 Fraglich ist, ob sich diese Generation tatsächlich, wie Martin Engelbrecht für türkischstämmige muslimische Jugendlichen anführt, in ihrer Identitätskonstruktion in Deutschland mehrheitlich nicht genuin religiöse Bezugspunkte setzt, sondern vielmehr traditionalistische, universalistische und nationalistische.19 Festgehalten werden muss, dass Bezeichnungen wie »Hybride-Identität«, die maßgeblich von Naika Foroutan in diesem Kontext geprägt wurde, oder »multiple Identitäten« wohl die Schwierigkeiten oder eben die Herausforderungen, denen sich diese Jugendlichen gegenüber sehen, am treffendsten beschreiben.20 Fraglich bleibt umgekehrt, ob die Bezeichnung Hybrid nicht einen ganz-
17 Foroutan, Naika: Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2012., hier S. 23. 18 Vgl. Foroutan, Naika/Schäfer, Isabel: »Hybride Identitäten – muslimische Migrantinnen in Deutschland und Europa«, http://www.bpb.de/apuz/32223/hybride-identitaetenmuslimische-migrantinnen-und-migranten-in-deutschland-und-europa?p=all vom 03. 08.2014. 19 Vgl. Engelbrecht, Martin: »Islamische Identitätskonstruktion zwischen individueller Biographie und kollektiver Ideenpolitik«, in: Harun Harry Behr/Christoph Bochinger/Mathias Rohe/Hansjörg Schmid (Hg.), Was soll ich hier? Lebensweltorientierung muslimischer Schülerinnen und Schüler als Herausforderung für den islamischen Religionsunterricht, Berlin: LIT, 2010, S. 117-132, hier S. 118ff. 20 N. Foroutan/I. Schäfer: »Hybride Identitäten«, http://www.bpb.de/apuz/32223/hybri de-identitaeten-muslimische-migrantinnen-und-migranten-in-deutschland-undeuropa?p=all vom 03.08.2014.
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heitlichen Blick auf die Person und seine Akzeptanz verstellt und bezogen auf die beschriebenen muslimischen Jugendlichen unzutreffend bleibt. Im englischen Sprachraum beispielsweise begegnen wir im Rahmen von empirischen Untersuchungen zu Gruppen eingebürgerter Migranten der Bezeichnung »naturalized immigrants«.21 Auch wenn »naturalized« im Sinne von »eingebürgert« verstanden wird und damit das spätere »Hinzukommen« in eine Gesellschaft markiert, beinhaltet das Wort naturalize auch die Bedeutung ›naturalisieren‹. Ein Zuwanderer, der »naturalisiert« wird, bringt folglich eine (fremde) Natur mit sich, die in eine andere verwurzelt werden soll. Dies hat m.E. einen rassistischen Beigeschmack. Einerseits blieb ein positiv konnotierter Entwurf einer gemeinsamen nationalen Identität trotz geändertem Staatsangehörigkeitsrecht aus: »Deutsch« konnte man nicht werden, »Deutsch« konnte man nur sein, und andererseits hatte die Migrationssituation die Selbstwahrnehmung schon so stark geprägt, dass die Identifikation als Deutscher für die Mehrheit der Migranten keine wirkliche Option war. Insgesamt war es kaum zu gesamtgesellschaftlichen Solidaritätserfahrungen gekommen, weder bildete man eine Schicksalsgemeinschaft, noch teilte man eine gemeinsame Geschichte, und der Wertekanon schien – wenn man der medialen Berichterstattung trauen darf – stark voneinander abzuweichen. Während der Integrationsdebatten hatte man keinen Anlass, die Religion dieser Minderheitengruppen der Marokkaner, Türken, Tunesier usw. als Forschungsgegenstand zu betrachten, da diese Menschen zunächst mit ihren kulturellen Eigenarten im Fokus standen. Sie wurden nicht primär als Muslime wahrgenommen. Dies änderte sich Ende der 1990er Jahre und fand seinen Höhepunkt nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001. In der Retrospektive wird der 9/11-Diskurs in diesem Kontext als der Ursprungsdiskurs bezeichnet.22 Das Böse und damit verbunden der Islam rückten in den Mittelpunkt der Debatten. Die mitgebrachte Kultur der Migranten geriet aus dem Fokus bzw. sie wurde als rückständig und gewaltaffin definiert, soziale Probleme wurden islamisiert und der Islam als Ursache unterschiedlichster Phänomene definiert. Bekannte Stichworte sind Zwangsverheiratung und Ehrenmorde. In den Diskursen über Integration wurde der Migrationskontext zunehmend mit der religiösen Überzeugung
21 Vgl. Maehle, Débora B.: Akkulturation und Identifikation bei eingebürgerten Migranten in Deutschland, Münster: Waxmann, 2012, hier S. 21. 22 Vgl. Behloul, Samuel-Martin: »Islam-Diskurs nach 9/11. Die Mutter aller Diskurse? Zur Interdependenz von Religionsdiskurs und Religionsverständnis«, in: Wolfgang W. Müller (Hg.), Christentum und Islam. Plädoyer für den Dialog, Zürich: Theologischer Verlag, 2009, S. 229-268.
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verknüpft.23 Die Zugehörigkeit wurde nun nicht mehr an explizit kulturellen Wertvorstellungen festgemacht, sondern das gesamte Tun und Sprechen des Migranten wurde als islamisch motiviert definiert. Die religiöse Dimension des Migranten trat in den Vordergrund. Die politischen und gesellschaftlichen Diskurse über Integration und über den Islam verschränkten sich, indem die islamische Religion zunehmend als maßgeblicher Einflussfaktor für wahrgenommene integrationspolitische Probleme definiert wurde.24 Man würde es sich zu einfach machen, die zunehmende Religiosität unter den Migranten als eine Reaktion auf Diskriminierung und Reduzierung einer Weltreligion zur Migrantenreligion zu begreifen, allerdings dürfen in diesem Zusammenhang weitere Aspekte wie die Zunahme von Islamfeindlichkeit im politischen linken Milieu und die bereits bestehende hohe Ablehnung der Migranten im rechten Milieu nicht verharmlost werden.25 Denn selbstverständlich kann Religiosität nicht allein aus soziologischen Faktoren erklärt werden. Zudem spielen hier auch andere gesellschaftliche sowie biographische Entwicklungen eine Rolle, wie etwa religiöse Selbstfindungen, kulturelle Abnabelungen oder schlichtweg das trotzige Verhalten spezifischer Teilgruppen (z.B. Teenager).26 Bei aller Vielfalt dieser Gründe definierte die staatlich forcierte Politik mit Blick auf ihre Zuwanderer bzw. die Nachfolgegenerationen den Rahmen, innerhalb dessen sich das Dispositiv Muslimsein gezwungenermaßen herausbildete. Ein starker Katalysator in diesem Diskurs war sicherlich auch die Deutsche Islam Konferenz, die der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble 2006 einberief. Die integrationspolitische Debatte wurde nun nicht mehr über die Herkunftskulturen geführt, sondern religionspolitisch über die als homogen konstruierte Gruppe »der Muslime«, »die pauschal andere Referenzsysteme aufweise als die nichtmuslimische Gesellschaft«27. So ist der Homepage der Deutschen Islam Konferenz selbst die folgende Zielsetzung dieser Dialogplattform zu entnehmen: »Ziel der Konferenz ist eine verbesserte gesellschaftliche und religionsrechtliche In23 Vgl. N. Foroutan: Muslimbilder in Deutschland, S. 25. 24 Mehr dazu bei Halm, Dirk: Der Islam als Diskursfeld. Bilder des Islams in Deutschland, Wiesbaden: Springer, 22008. 25 Heitmeyer, Wilhelm: »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt«, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 10. Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 15-41, hier S. 20; vgl. Schulbuchforschung des Georg Eckert Instituts von 2011. 26 Vgl. Deutsche Islam Konferenz, Geschlechterbilder zwischen Tradition und Moderne. Materialien der Deutschen Islam Konferenz zu Rollenbildern und aktuellen rollenbezogenen Fragestellungen, 2013. 27 N. Foroutan: Muslimbilder in Deutschland, S. 26.
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tegration der muslimischen Bevölkerung in Deutschland«.28 Die Integrationsdiskurse, die überwiegend die (muslimischen) Migranten thematisierten, sind spätestens ab diesem Zeitpunkt als Islamdiskurse, die im Sinne einer Bevölkerungspolitik zu einer breiten Auseinandersetzung mit dem Islam und den in Deutschland lebenden Muslimen einlud, zu verzeichnen.29 Kulturelle Integration wurde nun an der Vereinbarkeit religiöser Lebenspraxis und dem deutschen Lebensumfeld gemessen. Und obwohl die Deutsche Islam Konferenz Integration als einen wechselseitigen Veränderungsprozess artikulierte, schien es in ihrer Außenwirkung vielmehr wie ein tibetisches Mantra, das weniger die »Aufnahmegesellschaft« zu mehr Respekt und Offenheit einlud, denn Muslime zu mehr Zugeständnissen.30 Die Frage nach einer überwiegend religiös definierten Selbstpositionierung schien in der Öffentlichkeit anfangs nur ein Randthema zu sein, da der Islam als Migrantenreligion wahrgenommen wurde, die mit Klischees, Ressentiments und Bildern wie der Iranischen Revolution, Osama bin Laden oder Hinterhofmoscheen, die von rückständigen konservativen Gläubigen besucht wurden, verknüpft war. Für die Migranten hingegen spielte ihr Glaube im Alltag eine wichtige Rolle, denn sie hätten wenigsten zu diesem Zeitpunkt auf die Frage, wer sie seien, womit sie sich identifizieren würden, geantwortet: »Ich bin Muslim«. Der iranisch-deutsche Schriftsteller Navid Kermani erklärt zu Recht 2009 in seinem Buch Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime: »Ich sage von mir: ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit widersprechen können«31. Der Buchtitel Wer bin ich und wenn ja, wie viele? des Philosophen Richard David Precht (2007) weist auf genau diese Verkürzung einer IchIdentifikation hin. Migranten empfanden sich nicht vollständig repräsentiert in einer Aussage wie »Ich bin Türke«, »Ich bin Deutscher«, »Ich bin Muslim«. Diese von außen konstruierten Zuschreibungen, denen die Selbstbestimmung ständig ausgesetzt war, konnte nicht mit einer Aussage alles umfassen, wer man selbst zu sein glaubte. Ein Ausländer, Migrant, Türke und jetzt der Muslim, da28 Deutsche Islamkonferenz, »Fragen und Antworten zur DIK in der zweiten Phase«, http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/Downloads/ Sonstiges/faq-dokument.pdf?__blob=publicationFile vom 03.08.2014. 29 Tezcan, Levent: Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz, Konstanz: Konstanz University Press, 2012, hier S. 40. 30 Vgl. Deutsche Islamkonferenz (Hg.), Drei Jahre Deutsche Islam Konferenz (DIK) 2006-2009. Muslime in Deutschland – deutsche Muslime, Berlin, 2009, hier S. 36-37. 31 Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München: C.H. Beck, 2009, hier S. 16.
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mit war man immer wieder aufs Neue einer doppelten Infragestellung ausgesetzt: »der Infragestellung des Selbst und der Infragestellung des ›Anderen‹. Da ihm nie die Möglichkeit gewährt wird aufzuhören«32, eine dieser Zuschreibungen zu sein, ist der muslimische Migrant gezwungen, seine Identität in Bezugnahme auf diese Zuschreibungen zu formulieren. »Daher ist er von Anbeginn mit dem Diskurs des ›Anderen‹ konfrontiert«.33 Mit der Islamkonferenz wurde letztlich der Diskurs um einen konservativen Islam initiiert. Die Themenfelder auf der Agenda sowohl in der ersten Phase wie auch in der zweiten Phase verleiteten mich als Teilnehmerin der zweiten Phase oft zu dem Gedanken, dass der Staat sich ein Bild des deutschen Muslims geformt hatte, von dessen Richtigkeit er versuchte, die islamischen Religionsgemeinschaften zu überzeugen und über das er mit ihnen verhandeln wollte. Tezcan spricht an dieser Stelle von einem »berechenbaren Muslim«, den sich der deutsche Staat wünschte.34 Vor dem Hintergrund der Islamkonferenz wurde das Dispositiv Muslimsein, so wie es in seiner Sozialform in Deutschland anzutreffen ist und wie es selbst durch den Islam als Lebensform hervorgebracht wird, zur Disposition gestellt. Für Tezcan war dies der konservative Islam der Religionsgemeinschaften, den es innerhalb der Koordinaten der religionsrechtlichen Integration sowie der kulturellen Kompatibilität der Muslime zu zähmen galt.35 Die Beschränkung des Seins auf einen bestimmten Aspekt und die zunehmende Wahrnehmung des Islam und der Muslime als monolithischer religiöser Block, nahm und nimmt eine neue Generation zum Anlass, selbstbewusst und selbstbestimmt, sich zu definieren und auf die innermuslimische Heterogenität aufmerksam zu machen.
4. E RSTE S PROSSEN EINES NEUEN S ELBSTVERSTÄNDNISSES Tatsache ist, dass inzwischen das Muslimsein im Mittelpunkt der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Muslime in Deutschland steht. Tatsache ist auch, dass die aktuellen Referenzpunkte von jungen Muslimen unterschiedlich gesetzt werden. Was die dritte Generation allerdings gemeinsam hat, und dadurch unterscheidet sie sich sehr deutlich von der ersten und zweiten Generation – ist, dass
32 http://www.hpk-info.de/musik/jued_musik/2002_01_25-01.htm vom 06.11.2014. 33 Ebd. 34 Vgl. L. Tezcan: Das muslimische Subjekt, S. 53. 35 Vgl. Ebd., S. 44.
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sie in einer kulturell sowie innerislamisch heterogenen Gesellschaft sozialisiert wird. Der türkischstämmige Muslim in dritter Generation lebt nicht mehr neben seinem marokkanischstämmigen muslimischen Nachbarn, sondern mittlerweile besuchen sie sich, heiraten untereinander, gründen gemeinsam Unternehmen, stehen in engerem Kontakt als zuvor. Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen, die diese dritte Generation ebenfalls macht, sowie die Suche nach einem übergeordneten Sinn ihres Daseins, nach religiöser Orientierung und einige weitere Gesichtspunkte können zu Rückzugs- oder auch Radikalisierungstendenzen führen, und ihr Sein sowie ihre Verbundenheit mit Deutschland immer wieder zur Disposition stellen, wie es beispielsweise die Sarrazin-Debatte zeigte und die Diskussion um die »Heimkehrer« aus dem Syrien- und Irak-Krieg es gegenwärtig wieder tut.36 Dennoch suchen Mitglieder dieser Generation wie auch nicht-muslimische Jugendliche in Spiritualität und/oder Religion Halt und Sicherheit für ihr Leben und definieren damit Religion als einen positiven Identitätsanker für sich.37 An dieser Stelle soll jedoch kein gegenwärtiges Generationenporträt gezeichnet werden, wie das, an das sich Eren Güvercin mit seinem Buch NeoMoslems 2012 wagte, sondern es sollen lediglich zwei Tendenzen benannt werden, die m. E. für diese Generation charakteristisch zu sein scheinen, denn auch die dritte Generation stellt in ihrer Eigenart mit ihren Deutungsmustern und Verhaltensformen ein Identifikationsangebot für andere Muslime bereit.38 Wie Heinz Bude 1997 formulierte, muss ein »Wir«-Gefühl zwar nicht konsequenterweise zu einem »Wir«-Handeln führen, allerdings zeichnet genau dieses verbindende Gefühl diese neue Generation unter Muslimen in Deutschland aus.39 36 Vgl. N. Foroutan: Muslimbilder in Deutschland, S. 52; auf den Arbeitsmarkt bezogen: In Deutschland würden zwölf von neunzehn entscheidungsbefugte Personalvertreter keine Frauen mit Kopftuch einstellen, vgl. Peucker, Mario: Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben – Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen. Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung und Handlungsempfehlungen, Europäisches Forum für Migrationsstudien, Institut an der Universität Bamberg, 2010. Online unter: http://www.antidiskriminie rungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/sozialwissenschaftlich_ expertise.pdf?__blob=publicationFile, hier S. 45. 37 Vgl. Frindte, Wolfgang et al.: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, Deutsche Islam Konferenz, 22012, hier S. 648. 38 Vgl. Güvercin, Eren: Neo- Moslems. Potrait einer neuen Generation, Freiburg: Herder, 2012. 39 Vgl. Bude, Heinz: »Die ›Wir-Schicht‹ der Generation«, in: Berliner Journal für Soziologie 2 (1997), S. 197-204.
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Seit einigen Jahren erheben sich verstärkt junge muslimische Stimmen gegen die Islamisierung gesellschaftlicher Probleme und stellen sich gegen dieses vorgegebene Muslimsein und die damit verbundenen negativen Zuschreibungen. Diese jungen Muslime sind in Deutschland geboren und sozialisiert. Sie bekennen sich nicht nur zur deutschen Zivilgesellschaft, sie bilden diese mit ab, sie partizipieren an dieser Gesellschaft, gestalten sie mit, sehen ganz deutlich ihre Verantwortung in dieser und für diese Gesellschaft, definieren sie als ihre Gesellschaft. Sie begreifen Deutschland als ein reiches Mosaik unterschiedlicher Farben, die zusammen ein Ganzes bilden.40 Diese jungen Muslime weisen unterschiedliche Identitätsmuster auf und lassen sich nicht auf eine einheitliche Formulierung eines Musters weder von staatlicher noch von religionsgemeinschaftlicher Seite festlegen. Es ist zu beobachten, dass viele in dieser Generation sich mit dem Identifikationsvordruck, Identifikation nicht über Kultur, sondern über Religion zu konstruieren, anfreunden konnten und daraus dennoch keine Wir-Die-Dichotomie konstruieren. Warum? Eine wesentliche Ursache liegt wohl darin, dass geborene Muslime, die in einem religiösen Kollektiv sozialisiert wurden, durch eine aktive und reflektierte Auseinandersetzung mit ihrer Religion ein neues (religiöses) Erwachen erleben.41 So wehren sich beispielsweise junge Kopftuchträgerinnen laut gegen die gesellschaftlich weit verbreitete Definition, das Kopftuch sei ein Symbol der Unterdrückung, oder stellen sich gegen vermeintlich wohlmeinende Bevormundungen von Frauengruppen wie der femen (bspw. die Aktion »Muslima Pride Day«) und machen ihre eigenen Standpunkte deutlich.42 Diese Generation stellt sich mehr in den öffentlichen Raum und macht sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar.43 Sie erfuhren und erfahren, dass ein tieferes Wissen über die Religion zur Emanzipation von ihren Eltern und ihrem kulturell geprägten, gewohnheitsmäßigen Islamverständnissen führen und damit einhergehend die Loslösung von eingeschränkten Handlungsfähigkeiten sowie die Öffnung für 40 http://www.junge-islamkonferenz.de/; in Bezug auf die soziale Integration vgl. Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja: Muslimisches Leben in Deutschland, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Forschungsbericht, Nürnberg, 2009, hier S. 96. 41 Mehr dazu Göle, Nilüfer/Ammann, Ludwig (Hg.): Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld: transcript, 2004. 42 Vgl. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/integrationsdebatte-wir-werden-diereligion-nicht-los-a-725641.html vom 01.08.2014; vgl. Jessen, Frank/WilamowitzMoellendorff, Ulrich von: Das Kopftuch – Entschleierung eines Symbols?, KonradAdenauer-Stiftung, Sankt Augustin/Berlin, September 2006, http://www.kas.de/wf/de/ 33.9095/ vom 03.08.2014. 43 Beispielsweise Zahnräder, iSlma, Muslime.tv, Junge Islamkonferenz usw.
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neue kulturelle Prägungen bedeuten kann.44 Religion scheint für sie etwas Befreiendes zu haben, das sie als Inspirationsquelle u.a. auch für ihr zivilgesellschaftliches Engagement nutzen – seien dies muslimische Arbeitskreise bei politischen Parteien, ein Engagement für gehörlose Muslime oder für Umweltschutz, »Seelsorge«-Angebote und vieles mehr. Zum anderen sieht diese Generation keine Schwierigkeit darin, den Islam mit ihren aktuellen Lebenskontexten zu synthetisieren. Kultur scheint für sie mehr einen opportunen Charakter eingenommen zu haben. Auf Kultur wird zurückgegriffen, wenn sie zwischenmenschlichen Umgang vereinfacht, strukturiert und wenn sie hilft. Wo kulturelle Eigenheiten eher störend und anstrengend empfunden oder als »unislamisch« abgewertet werden, stellen sie keine Orientierungskoordinate mehr dar. Wie Güvercin treffend formuliert: Diese Generation von jungen Muslimen versteht den Islam als eine Lebenspraxis, die mit verschiedenen kulturellen Kontexten vereinbar ist.45 Damit sind sie keinem homogenen Selbstbild des Mulimseins ausgesetzt bzw. sie setzen sich diesem nicht aus, sondern würdigen die innerislamische sowie nicht-islamische Vielfalt der Lebenswirklichkeiten. Ferner wachsen sie mit zunehmender Selbstverständlichkeit mit Christen, Juden, Bahai, Hindus, Atheisten oder religiös indifferenten Menschen auf. Allerdings besteht die Gefahr, dass auch Mitglieder dieser Generation aufgrund von Ausgrenzungs- und Abweisungserfahrungen auf eine konstruierte ethnische Identität und Selbstethnisierung zurückgreifen. Levent Tezcan spricht in diesem Kontext von einem »Muslim« als ethnische Kategorie46 »Es wird eine als ethnisch oder religiös stabilisierend empfundene, muslimische Community als Rückzugsraum gesucht, was nach gängigen Migrationstheorien bei ausbleibenden Integrationssignalen aus der Mehrheitsgesellschaft einem Schutzmechanismus gleichkommt.«47 Der 44 »Religionen [sind] keine von Raum und Zeit unabhängigen Entitäten, sondern geschichtlichen und sozialen Wandlungsprozessen unterworfen. Religionen, ihre sozialen und kulturellen Ausdrucksformen, der Grad und die Umsetzung von Religiosität, sowie das Verständnis und die Perspektive ihrer Anhänger unterscheiden und verändern sich je nach gesellschaftlichem Kontext und jeweiligen Lebensbedingungen. Wechselnde Bedeutungen und die sich verändernde Gestalt von Religion und Religiosität reflektieren Alltagserfahrungen der sie gestaltenden Subjekte und kommen zum Beispiel in Neuverhandlungen und -definitionen von Dogmen und Praktiken, im Selbstverständnis und der rituellen Praxis ihrer Anhänger, oder auch in der Vorstellung, praktischen Gestaltung und sozialen Konstruktion religiöser Gemeinschaften und Räume zum Ausdruck.« N. C. Tiesler: Muslime in Europa, S. 27. 45 Vgl. E. Güvercin: Neo-Moslems, S. 110, 128. 46 Vgl. L. Tezcan: Das muslimische Subjekt, S. 42. 47 N. Foroutan: Muslimbilder in Deutschland, S. 35.
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Höhepunkt dieser Selbst-Marginalisierung ist im Kontext der SalafismusDebatten zu beobachten. Daher ist die politische Frage, ob nicht wohl möglichst grundlegende Veränderungen im Erziehungs- und Ausbildungswesen auch salafitisch orientierte junge Menschen abfangen können, sehr aktuell. Jeder Versuch einer messerscharfen Typologisierung würde die Möglichkeit verstellen, diese jungen Menschen in ihrem facettenreichen Dasein zu beschreiben. Der Umstand, dass kein Korsett passt und Andersheit als Bereicherung erfahren wird, gibt Hoffnung auf einen neuen Diskurs um die Identitätspolitik in Deutschland. Diese Generation schafft den Spagat zwischen Individualisierung und Veränderung als Anpassung an die gegebene Lebenswirklichkeit.48 Ob in Zukunft aus dieser Entwicklung notwendigerweise ein europäisches Muslimsein erwächst, das – wie es von Tariq Ramadan prognostiziert wird – als ein erfolgreicher Lösungsansatz für das Identitäts-Wirrwarr innerhalb der europäischen Länder gelten kann, sei allerdings dahingestellt.
5. I N DER B EGEGNUNG
MIT DEM RELIGIÖS
ANDEREN
Fraglich und eine Untersuchung wert ist sicherlich, ob deutsche Muslime ihre religiöse Identität angesichts des Christentums in Deutschland ausgeprägter oder bewusster zu leben begannen. Oder waren eher die symptomatische Migrationssituation, das kulturelle Umfeld, die spezifischen Bedingungen, die politischen Diskurse in Deutschland sowie auch die Essentialisierung des Islam hauptsächlich ausschlaggebend dafür, was dieses Muslimsein affizierte? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der interreligiöse Dialog zwischen den abrahamitischen Religionen ein wichtiger Ort der Begegnung in Deutschland wurde. Diese Bestrebungen hatten nach außen hin eine starke Signalwirkung dahingehend, den gemeinsamen Ursprung im Glauben zu betonen und so die Grundlage für ein friedliches und harmonisches Miteinander zu festigen. Nach dem 11. September trat der theologische Austausch allerdings eher in den Hintergrund. Viele dieser Veranstaltungen nahmen den Charakter einer Rechtfertigungsplattform für Muslime an, auf denen sie sich von den terroristischen Bestrebungen weltweit distanzieren konnten bzw. sollten und kontinuierlich be48 Eine zwar sehr kleine Gruppe, die aufgrund hoher medialer Aufmerksamkeit oft überproportional sichtbar geworden ist, sei vollständigkeitshalber noch erwähnt, und zwar diejenige Gruppe, die sich einer salafitischen Lebensweise verbunden fühlt und die Spannung zwischen Religion und areligiös empfundener Mehrheitsgesellschaft nicht positiv für sich bestimmt, sondern in einer negativen Identitätsbestimmung verharrt und ihre Religiosität als Gegenentwurf präsentiert.
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kundeten, dass sie selbst friedvolle Menschen seien. Es schien fast so, als ob man durch den Dialog einen gemeinsamen (religiösen) Nenner identitätsstiftend fruchtbar machen wollte. Die häufigen Begegnungen und der Austausch auf mikrologischer Ebene haben sicherlich dazu beigetragen, dass Menschen Vorurteile abbauten und sich nachbarschaftlich näher kamen, auch gegenwärtig, trotz Ausschreitungen im Irak, Syrien und im Gazastreifen und ZeitschriftenTitelblättern, die die Frage stellen: »Ist der Islam böse?«, die jahrelangen Aufklärungsgespräche mit einem Wisch für nichtig zu erklären scheinen.49 Trotz politischer Spannungen existieren wohl mehr interreligiöse Initiativen als je zuvor in der deutschen Geschichte. Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, ob die Besinnung auf dieselben Wurzeln lediglich die Empathiebereitschaft gegenüber dem Fremden erhöht(e). Geht es in diesen Gesprächen tatsächlich um das Ringen um Wahrheit, bei dem man sich durch die theologische Haltung des Anderen herausgefordert fühlt und sich durch diese berühren lässt, um sich damit auf einen echten Dialog einzulassen? Für die vergangenen Jahre wäre dies zu verneinen, denn viele dieser Veranstaltungen blieben an der Oberfläche und drangen thematisch nicht in die Tiefe. Das würde bedeuten, dass der Andere, kulturell wie auch religiös, vielmehr essentialisiert wird. Denn um sich zum religiös Anderen verhalten zu können, hätte es einer Haltung bedurft, die sich dem Anderen nähert, um ihn verstehen zu können. Dafür scheint die eigens zurechtgebastelte (theologische) Vorstellung vom Anderen als Bezugspunkt nicht ausreichend, da sie allzu oft gepaart mit einem eurozentristischen Kolonialgehabe eben zu diesen hierarchisch gestaffelten Rechtfertigungsebenen führte. Für einen gleichberechtigten Austausch auf Augenhöhe, der kein Lippenbekenntnis bleibt, wäre es erforderlich, den religiös Anderen in seiner Alterität, wie er selbst sie hier und jetzt versteht, ernst- und wahrzunehmen und ihn nicht zu essentialisieren.50 Erst dann kann der zweite Schritt, nämlich sich dem Anderen in seiner Andersheit auszusetzen und ihn darin zu würdigen, um sich dann selbst zu positionieren und das Eigene zu profilieren, folgen. Die Bestrebungen, sich auf theologischer Ebene miteinander auch kritisch auseinanderzusetzen, Differenzen und Parallelen zu berücksichtigen, um damit sich selbst und den Anderen besser zu verstehen, sind noch relativ jung und werden daher bisher lediglich an sehr wenigen Orten in
49 Vgl. Cicero. Magazin für Politische Kultur, Ausgabe Nr. 8, August 2014. 50 Klaus von Stosch führt diesen Gedanken im Rahmen seines methodischen Zugangs der Komparativen Theologie als erster Philosoph und Theologe in Deutschland weitestgehend aus; vgl. Stosch, Klaus von: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2012.
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Deutschland umgesetzt.51 Bis dieser theologische Diskurs den politischen prägen wird, braucht es mehr in der komparativen Grammatik denkende Menschen wie auch unvoreingenommene und religionssensible Politiker.
6. AUSBLICK Eine etwas polemische Frage sei erlaubt, ob nicht unsere Rechtsordnung als Grundlage für das friedliche Zusammenleben und eine gemeinsame Identität im Sinne einer Orientierungskonstante ausreicht und wir uns die Diskussionen um v.a. kulturelle Identitäten sparen könnten. Aufgegriffen und von mir etwas überspitzt formuliert sei ein Gedanke von Mathias Rohe in seinem Aufsatz in diesem Band: Wer sich an die Spielregeln der freiheitlich demokratischen Grundordnung hält, darf auch an das Spaghetti-Monster glauben und sich identitär bestimmen, wie er möchte.52 Allerdings bliebe die Frage weiterhin unbeantwortet, was denn dann die formgebende und verbindende Kraft für eine Gesellschaft sein kann, insbesondere in einer Zeit der Individualisierung, eine Tendenz, die bei jungen Muslimen ebenfalls zu beobachten ist.53 Ihre Sozialisationslinien verlaufen unterschiedlich, sie sind räumlich durch Studium, Arbeit, Heirat etc. von ihren Familien getrennt, mittlerweile studieren mehr Frauen und werden erwerbstätig, was zu unterschiedlichen Rollenbildern und der Auflösung klassischer Familienstrukturen führt. Ihre Biographien ähneln stark ihren nichtmuslimischen und autochthon deutschen Altersgenossen. Infolgedessen verstehen auch sie sich als selbständig handelnde und verantwortliche Individuen. Das bedeutet – religionssoziologisch betrachtet –, dass auch der Islam als Religion von diesen Individualisierungsprozessen betroffen ist. Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass der Islam für die Gläubigen an Bedeutung verliert, sondern 51 Beispielsweise das Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn. 52 »Wer aber die gemeinsame Hausordnung respektiert, hat das Recht auf vollständige Gleichbehandlung, welche Religion oder Kultur er oder sie auch pflegt«. 53 Vgl. Rüb, Friedrich W.: »Religionsfreiheit und säkularisierte Politik im liberaldemokratischen Verfassungsstaat. Konturen eines spannungsreichen Verhältnisses«, in: Wolfram Weiße/Hans-Martin Gutmann, Religiöse Differenz als Chance? Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Münster: Waxmann, 2010, S. 47-66, hier S. 53 und vgl. Gökariksel, Banu/Mitchell, Katharyne: »Veiling, secularism, and the neoliberal subject: national narratives and supranational desires in Turkey and France«, in: Global Networks 5 (2005), S. 147-165.
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in neuen Formen lebbar wird. Es wird sich zeigen, ob in diesen Individualisierungsprozessen die religiöse Gemeinschaft weiterhin als eine Orientierungsgröße verstanden wird, in der das Kollektiv noch eine Rolle spielt, oder ob sich die Individualisierungsprozesse dahingehend entwickeln, dass letztlich nichts Normatives vom Islam als Religion bleibt. Die Beiträge in diesem Band zeigen sehr deutlich, dass die Identifikation von Migranten und ihren Kindern in anderen europäischen Ländern nicht unbedingt über die Religion verläuft. Warum sollte dies in Deutschland so bestehen bleiben? Doch zu Recht fragt auch Amin Maalouf weiter, wohin diese religiöse Zugehörigkeit denn überwunden werden soll.54 Werden wir in Deutschland wieder eine Retro-Phase der kulturellen Identität erleben, in der kulturelle Eigenheiten des (groß)elterlichen Herkunftslandes en vogue sein werden? Doch was habe ich als dritte Generation eigentlich noch mit meiner verstorbenen Großmutter aus der Schwarzmeerküstenstadt gemeinsam außer den grünen Augen und dass wir beide Türkisch sprechen? Oder werden die Individualisierungsprozesse dazu führen, dass sich Muslime zunehmend als »Kulturmuslime« verstehen?55 Oder wird sich aufgrund der Stigmatisierungen von muslimischen Männern in unserer deutschen Gesellschaft gegenwärtig (Stichworte Islamische Kämpfer, Salafiten) eine deutsche nationale bzw. kulturelle Identität und Subjektivität herausbilden? Der Weg der vierten Generation, ihre personale Identität von der kollektiven Identität mit einem positiven Bezug auf die Religion sowie die Herkunftskultur überwiegend abgekoppelt zu definieren, eröffnet ihnen die Flexibilität, diesen leeren kulturellen Rahmen mit entsprechenden Eigenheiten zu füllen, die sie aktiv für sich bestimmen. Ein positiver Verlauf dieses Prozesses hängt allerdings von vielen Faktoren ab wie bspw. der Dispensation von einer »Verräteridentität« (oder »-rolle«)56 sowie gleichermaßen des In-Ruhe-gelassen-Werdens von staat54 Vgl. Ewing, Katherine Pratt: »Stigmatisierte Männlichkeit: Muslimische Geschlechterbeziehungen und kulturelle Staatsbürgerschaft in Europa«. in: Lydia Potts/Jan Kühnemund (Hg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam, Bielefeld: transcript-Verlag, 2008, S. 19-37, hier S. 21. Vgl. A. Maalouf: Mörderische Identität, S. 84ff. 55 Im türkischen Sprachraum werden jene Menschen als »kültür müslümanı«, bezeichnet, die kaum bis gar nicht den Islam praktizieren sowie sich an die wenigen Verbote und Gebote halten, sondern die Religion aus den Erzählungen ihrer Familien kennen und sich mit dem Islam nur dann identifizieren, wenn man sie nach ihrer Religion fragt. 56 Vgl. Schiffauer, Werner: »Schlachtfeld Frau. Die ›Ehrenmorde‹ haben wenig mit Islam zu tun – und viel mit Selbstausgrenzung«, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.02.2005, hier S. 15.
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lichen Unterstellungen (bspw. Islamisierung von sozialen Problemen). So bedarf es m.E. nicht nur einer juristischen Gleichstellung und mehr Entspannung innerhalb der Islamdiskurse, sondern auch einer Wiederbelebung der Erinnerung an die frühzeitliche Religionsentstehung, die durchdrungen war von vorislamischen kulturellen (und religiös-rituellen) Übernahmen, die konstitutiv für die Ausprägung einer »Religionskultur« war. Sie scheint wie eine Wiederbelebung einer verstaubten Respektkultur zu sein und die Absage an die Betonung irgendwelcher religiöser Labelings sowie ethnischer Zugehörigkeiten. Eine Synthese von Kultur und Religion war und ist in der Ausprägung der islamischen Lebensweise genuin gegeben.
B IBLIOGRAPHIE Behloul, Samuel-Martin: »Islam-Diskurs nach 9/11. Die Mutter aller Diskurse? Zur Interdependenz von Religionsdiskurs und Religionsverständnis«, in: Wolfgang W. Müller (Hg.), Christentum und Islam. Plädoyer für den Dialog, Zürich: Theologischer Verlag, 2009, S. 229-268. Bude, Heinz: »Die ›Wir-Schicht‹ der Generation«, in: Berliner Journal für Soziologie 2 (1997), S. 197-204. Bommes, Michael: »Einleitung. Migrations- und Integrationspolitik in Deutschland zwischen institutioneller Anpassung und Abwehr«, in: Michael Bommes/Werner Schiffauer (Hg.), Migrationsreport 2006. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag, 2006, S. 31-63. Cicero. Magazin für Politische Kultur, Ausgabe Nr. 8, Berlin, August 2014. Deutsche Islam Konferenz: Geschlechterbilder zwischen Tradition und Moderne. Materialien der Deutschen Islam Konferenz zu Rollenbildern und aktuellen rollenbezogenen Fragestellungen, 2013. Deutsche Islamkonferenz (Hg.): Drei Jahre Deutsche Islam Konferenz (DIK) 2006-2009. Muslime in Deutschland – deutsche Muslime, Berlin, 2009. Eichenhofer, Johannes: Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, Schriften zum Migrationsrecht, Band 11, Baden-Baden: Nomos, 2013. Engelbrecht, Martin: »Islamische Identitätskonstruktion zwischen individueller Biographie und kollektiver Ideenpolitik«, in: Harun Harry Behr/Christoph Bochinger/Mathias Rohe/Hansjörg Schmid (Hg.), Was soll ich hier? Lebensweltorientierung muslimischer Schülerinnen und Schüler als Herausforderung für den islamischen Religionsunterricht, Berlin: LIT, 2010, S. 117132.
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Ewing, Katherine Pratt: »Stigmatisierte Männlichkeit. Muslimische Geschlechterbeziehungen und kulturelle Staatsbürgerschaft in Europa«, in: Lydia Potts/Jan Kühnemund (Hg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld: transcript, 2008, S. 1937. Foroutan, Naika: Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in der Integrationsdebatte. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn: FriedrichEbert-Stiftung, 2012. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978. Frindte, Wolfgang et al.: Lebenswelten junger Muslime in Deutschland, Deutsche Islam Konferenz, 22012. Gökariksel, Banu/Mitchell, Katharyne: »Veiling, secularism, and the neoliberal subject: national narratives and supranational desires in Turkey and France«, in: Global Networks 5 (2005), S. 147-165. Göle, Nilüfer/Ammann, Ludwig (Hg.): Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld: transcript, 2004. Gusy, Christoph: »Integration durch Staatsangehörigkeit«, in: Ulrike Davy (Hg.), Politische Integration der ausländischen Wohnbevölkerung, BadenBaden: Nomos, 1999, S. 262-271. Güvercin, Eren: Neo- Moslems. Potrait einer neuen Generation, Freiburg: Herder, 2012. Halm, Dirk: Der Islam als Diskursfeld. Bilder des Islams in Deutschland, Wiesbaden: Springer, 22008. Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja: Muslimisches Leben in Deutschland, 2009. Heitmeyer, Wilhelm: »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt«, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin: Suhrkamp, 2012, S. 15-41. Kapitanova, Janeta: Regeln in sozialen Systemen, Wiesbaden: Springer, 2013. Kermani, Navid: Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime, München: C.H. Beck, 2009. Maalouf, Amin: Mörderische Identitäten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2000. Maehle, Débora B.: Akkulturation und Identifikation bei eingebürgerten Migranten in Deutschland, Münster: Waxmann, 2012. Müller-Jacquier, Bern: »Konstruktionen von Fremdheit in Erfahrungsberichten«, in: Torsten Kühlmann/Bernd Müller-Jacquier (Hg.), Deutsche in der Fremde.
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O NLINE -D OKUMENTE http://www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/deutschland-multikulti-istgescheitert-von-wegen/1134622.html vom 04.01.2014. http://www.bpb.de/apuz/32223/hybride-identitaeten-muslimische-migrantinnenund-migranten-in-deutschland-und-europa?p=all vom 03.08.2014. http://www.bpb.de/apuz/32223/hybride-identitaeten-muslimische-migrantinnenund-migranten-in-deutschland-und-europa?p=all vom 03.08.2014. http://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DIK/DE/ Downloads/Sonstiges/faq-dokument.pdf?__blob=publicationFile vom 03.08.2014.
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http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikatio nen/sozialwissenschaftlich_expertise.pdf?__blob=publicationFile vom 03.08.2014. http://www.junge-islamkonferenz.de/ vom 03.08.3014. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/integrationsdebatte-wir-werden-diereligion-nicht-los-a-725641.html vom 01.08.2014. http://www.kas.de/wf/de/33.9095/ vom 03.08.2014. http://www.hpk-info.de/musik/jued_musik/2002_01_25-01.htm vom 06.11.2014.
Muslimische Zugehörigkeitskonstruktionen, Institutionen und kritische Kompetenz N IKOLA T IETZE
Fragt man nach den muslimischen Identitätsentwürfen in Westeuropa, muss man das Verhältnis dieser Identitätsentwürfe zu den staatlichen Institutionen in den westeuropäischen Ländern in den Blick nehmen. Es gilt infolgedessen zu untersuchen, wie Muslime eine Zugehörigkeit zu imaginierten islamischen Gemeinschaften konstruieren und wie sie sich dabei auf die Ordnungen der gesellschaftlichen Beziehungen in den westeuropäischen Staaten beziehen. Eine solche Untersuchung wird im Folgenden exemplarisch an muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen in Deutschland und Frankreich nachgezeichnet. Die These ist, dass sich die Muslime im Rekurs auf allgemeingesellschaftlich gültige säkulare Ordnungskategorien eine kritische Kompetenz erarbeiten. Indem sie ihre Gemeinschaftsimaginationen in eine Beziehung zu rechtsstaatlichen und religionspolitischen Institutionen in Deutschland und Frankreich setzen, vermitteln die Muslime ihren Zugehörigkeitskonstruktionen ein kritisches Potenzial.1 Die folgenden Überlegungen über den Zusammenhang zwischen muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen, Institutionen und kritischer Kompetenz beruhen auf einer zwischen 2003 und 2007 durchgeführten Fallstudie. Im Rahmen dieser Fallstudie hat die Autorin Personen, die sich selbst als Muslime verstehen, mithilfe narrativer Interviews aufgefordert, die Gemeinschaft, der sie sich zuordnen, zu beschreiben und zu erklären. Aus dem Interviewmaterial sind die Gemeinschafts- und Alteritätserzählungen der Befragten herausgearbeitet und dann im Hinblick auf die jeweilig deutlich werdenden Zugehörigkeitskonstruktionen wie auch auf die jeweilig zu beobachtenden institutionellen Bezüge analysiert worden. Ausgangspunkte der Fallstudie waren Orte in Hamburg, Lyon und Paris, 1
Vgl. Tietze, Nikola: Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Hamburger Edition, 2012.
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die nahelegen, Personen mit einem muslimischen Selbstverständnis zu treffen: Moscheevereine, Bildungseinrichtungen oder auch gesellschaftspolitische Initiativen. Alle Befragten waren Kinder oder Enkelkinder aus einer aus der Türkei, aus Algerien, Marokko oder Tunesien eingewanderten Familie. Im Unterschied zu ihren Eltern besaßen sie einen Gymnasialabschluss, besuchten eine Universität oder eine universitätsähnliche Einrichtung oder hatten eine Berufsausbildung mit einem abgeschlossenen Hochschulstudium absolviert. Zudem waren sie deutsche oder französische Staatsbürger oder aber besaßen zum Zeitpunkt der Untersuchung einen Aufenthaltsstatus, der sie bis auf die politischen Rechte mit den Staatsbürgern in Deutschland und Frankreich gleichstellte. Die Untersuchung des Zusammenhangs, der zwischen muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen, staatlichen Institutionen und kritischer Kompetenz der Muslime besteht, wirft zunächst die Frage danach auf, wie muslimische Zugehörigkeiten konstruiert werden (I.). Der pragmatisch-soziologisch geleitete Blick auf die Modalitäten von Zugehörigkeitskonstruktionen führt die zentrale Rolle allgemeingesellschaftlich institutionalisierter Ordnungskategorien für die untersuchten muslimischen Gemeinschaftsimaginationen vor Augen. Eine dieser Ordnungskategorien ist die europäische Religionskategorie. Deren Semantiken, die mithilfe einer synchronen Textanalyse aus Europarats- und EU-Dokumenten herausgearbeitet wurden, spiegeln sich in der deutschen wie auch französischen Staats- und Verwaltungspolitik wider und leiten in beiden Ländern die Religionspolitik gegenüber den Muslimen an (II.). Anhand der Religionssemantiken rechtfertigen auch die Befragten ihre Gemeinschaftsimaginationen im öffentlichen Raum. Zugleich grenzen sie so ihre Zugehörigkeitskonstruktionen von anderen – zum Beispiel kulturellen, nationalen, familiären oder auch politischen – Zugehörigkeitskonstruktionen ab. Darüber hinaus erlaubt ihnen die Arbeit mit den Religionssemantiken die gesellschaftlichen ebenso wie die politischen Verhältnisse in Deutschland und Frankreich zu kritisieren (III.).
I. M USLIMISCHE Z UGEHÖRIGKEITSKONSTRUKTIONEN : PRAGMATISCH - SOZIOLOGISCHES V ERSTÄNDNIS
EIN
Unabhängig von ihren inhaltlichen Begründungen resultiert eine Zugehörigkeitskonstruktion aus der Tätigkeit, an Gemeinsamkeiten zu glauben. Diese Tätigkeit – gleich auf welchen Handlungsbereich (Religion, Mathematik, Werbung oder auch Politik) sie sich bezieht – kommt in einem affirmativen Engagement zum Ausdruck. Dieses verknüpft ein »Sagen« mit einem »Machen«, wie Michel
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de Certeau erläutert.2 Die Tätigkeit-zu-glauben stellt infolgedessen einen spezifischen Handlungsmodus dar, den de Certeau als eine Doppelbewegung charakterisiert. Einerseits ordnen Personen in ihrer Tätigkeit-zu-glauben Objekte und andere Personen ein und stellen insofern eine Ordnung her. Andererseits entwickeln sie in ihrer Tätigkeit-zu-glauben Alternativen zu etablierten Ordnungen. Insgesamt betrachtet, bekräftigen gemeinschaftsbezogene Glaubenseinstellungen wie diejenigen, die den muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen zugrunde liegen, bestimmte Ordnungen und hinterfragen zugleich Selbstverständlichkeiten wie auch institutionalisierte Verbindlichkeiten. Die bekräftigenden und zugleich hinterfragenden Doppelbewegungen der gemeinsamkeitsbezogenen Glaubenseinstellungen sind – so das Ergebnis der Fallstudie über muslimische Zugehörigkeiten – abhängig davon, wie eine Person eine Handlungssituation interpretiert, welche Zusammenhänge sie in einer Interaktion herstellt, oder auch davon, auf welche Ideen und Interessen sie in einer Interaktionssituation rekurriert. In dieser Hinsicht gehen die Glaubenseinstellungen, die Gemeinsamkeiten fokussieren, aus einer situationsgebundenen Tätigkeit-zu-glauben hervor. Sie folgen keiner Dogmatik oder Systematik, wie das Substantiv »der Glaube« suggeriert. Ihre pragmatische und situative Natur vermittelt den Glaubenseinstellungen eine Beweglichkeit und Offenheit, die ein systematisierter und dogmatisch kontrollierter Glaube nicht besitzt. Dies führt nicht zuletzt die Tatsache vor Augen, dass Personen je nach Interpretation eines Handlungszusammenhangs ihre Zugehörigkeitskonstruktion verändern und insofern andere Ideen in den Mittelpunkt stellen können. Um die beweglichen Glaubenseinstellungen, auf die die eigene Zugehörigkeitskonstruktion aufbaut, gegenüber Dritten plausibel machen zu können, bezieht eine Person ihre Tätigkeit-zu-glauben auf Institutionen, mit Rainer M. Lepsius gesprochen, auf veralltäglichte Ideen, allgemein akzeptierte Rationalitätskriterien und auf entsprechende Interessen.3 Im Hinblick auf muslimische Zugehörigkeitskonstruktionen heißt dies, dass die Muslime anhand von islamischen Gemeinschaftsinstitutionen – wie etwa mithilfe der Umma (dem theologischen Begriff für Gemeinschaft), den fünf Säulen des Islam, der Sunna (den überlieferten Regeln zur islamischen Lebensweise), Hadithen (überlieferten Aussprüchen des Propheten) oder Hinweisen auf Rechtsgelehrte – ihre Glaubenseinstellungen ein- und zuordnen. Indem sie ihre Glaubenseinstellungen mit islamischen Ge2
Vgl. Certeau, Michel de: »Le croyable. Préliminaires à une anthropologie des croyances«, in: Herman Parret/Hans-Georg Ruprecht (Hg.), Exigences et perspectives de la sémiotique, Amsterdam/Philadelphia: J. Benjamins Pub., 1985, S. 689-707.
3
Vgl. Lepsius, Rainer M.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990.
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meinschaftsinstitutionen rechtfertigen, vereinheitlichen und verallgemeinern sie ihre Glaubenseinstellungen nach innen. Nach außen wiederum grenzen sie ihre Glaubenseinstellungen mithilfe allgemeiner politischer Institutionen ab. So beziehen sie sich zum Beispiel auf die Religionskategorie in Europa oder den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland oder die sogenannte Loi de 1905, dem französischen Gesetz zur Trennung zwischen Staat und Religion, um ihre Glaubenseinstellungen im öffentlichen Raum begreifbar und einsichtig zu machen. Insgesamt betrachtet, versachlichen die Muslime durch ihren Bezug auf Gemeinschaftsinstitutionen und auf allgemeine politische Institutionen ihre Tätigkeit-zu-glauben. Diese Versachlichung ermöglicht ihnen, ihre subjektiven Glaubenseinstellungen in Ideen und Interessen zu übersetzen, die sich auf die Regelungen und Ordnung sowohl der gemeinschaftlichen als auch der gesellschaftlichen Beziehungen beziehen. Gemeinschaftsinstitutionen und allgemeine politische Institutionen gewährleisten also in jeweils spezifischer Art und Weise, dass Personen ihre subjektive Glaubenseinstellungen in öffentlich thematisierbare Zugehörigkeitskonstruktionen transformieren können. Darüber hinaus überführen sie in jeweils spezifischer Art und Weise den Handlungsmodus »glauben« in eine Gruppenräson, wie Certeau in Anlehnung an den Begriff der Staatsräson sagt. Die Tätigkeit-Gemeinsamkeiten-zu-glauben wandelt sich also in einen Gemeinsamkeitsglauben, der nach Max Weber politische Vergemeinschaftung ermöglicht,4 weil sie bestimmten Gemeinschaftsinstitutionen und bestimmten allgemeingesellschaftlich institutionalisierten Ordnungskategorien zugeordnet wird. Übertragen in eine foucaultsche Begrifflichkeit stehen Gemeinschaftsinstitutionen und allgemeine politische Institutionen für Dispositive der Macht, auf die die Muslime im Zuge ihrer Zugehörigkeitskonstruktionen in Deutschland und Frankreich zurückgreifen. In Bezug auf diese Dispositive der Macht teilen die Muslime ihre subjektiven Glaubenseinstellungen innergemeinschaftlich wie auch im allgemeinen öffentlichen Raum mit und handeln als Mitglied der imaginierten muslimischen Gemeinschaft in Deutschland oder Frankreich. Gleichzeitig werden sie in Bezug auf diese Dispositive der Macht in Interaktionssituationen als Muslime eingeordnet. Doch bilden die Institutionen als Dispositive der Macht »ein entschieden heterogenes Ensemble« aus.5 Die verschiedenen Seman-
4
Vgl. Weber, Max: »Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen«, in: Wirtschaft und Gesellschaft (1921), Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebick), 1972, S. 234-244.
5
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978, hier S. 119.
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tiken, die der europäischen Religionskategorie zugeordnet werden können, geben einen Einblick in diese institutionelle Heterogenität.
II. D IE
EUROPÄISCHEN R ELIGIONSSEMANTIKEN IN DER DEUTSCHEN BEZIEHUNGSWEISE FRANZÖSISCHEN R ELIGIONSPOLITIK GEGENÜBER DEN M USLIMEN
Im Rahmen des Grundrechts auf Religionsfreiheit wird Religion als eine Grundhaltung gegenüber der Welt und dem Leben verstanden. Nach Artikel 9 der europäischen Konvention zum Schutz der Menschrechte und Grundfreiheiten (EMRK) macht eine Person ihre religiöse Grundhaltung gegenüber der Welt und dem Leben durch ein Bekenntnis sichtbar: Sie bekennt sich zu dieser Grundhaltung durch Gottesdienst, Religionsunterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten.6 Unter bekenntnissemantischen Gesichtspunkten ist Religion weder angeboren noch eine rein innerliche Angelegenheit, sondern beruht auf einer persönlichen Entscheidung, die in der Privatsphäre und Öffentlichkeit durch individuelle sowie kollektive Religionspraxis und durch korporative Organisationen zum Ausdruck gebracht werden kann. Das bekenntnissemantische Verständnis der Religionskategorie macht Religion zu etwas Besonderem – zu einer spezifischen, mit anderen unvergleichbaren Alterität, die der Staat zu schützen hat. In Deutschland haben vor allem Verwaltungs- und Arbeitsrichter das bekenntnissemantische Verständnis der Religionskategorie bekräftigt, indem sie Staat und Verwaltung aufgefordert haben, entweder Ausnahmeregelungen für die islamische Religionsausübung zu finden – etwa für den Sportunterricht von Mädchen, die ein islamisches Kopftuch tragen – oder aber die Praxis der Muslime mit der anderer Gläubiger gleichzustellen – etwa im Hinblick auf das Schächten oder den schulischen Religionsunterricht.7 In Frankreich haben eben6
Mit Artikel 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRCh) hat die Europäische Union Artikel 9 EMRK ohne die in Absatz 2 formulierten Schrankenvorbehalte übernommen.
7
Vgl. in oben zitierter Reihenfolge Bundesverwaltungsgericht: 6 C 8.91, Befreiung einer Schülerin islamischen Glaubens vom koedukativen Sportunterricht, Urteil vom 25.08.1993; Bundesverfassungsgericht: 1 BvR 1783/99, Schächterlaubnis für muslimischen Metzger, Urteil vom 15.01.2002; Bundesverwaltungsgericht: 6 C 2.04, Religionsgemeinschaften und ihr Rechtsanspruch auf einen ihren Glaubensinhalten entsprechenden Religionsunterricht an staatlichen Schulen, Dachverband und Religionsgemeinschaftsstatus, Urteil vom 23.02.2005.
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falls Verwaltungsjuristen – insbesondere Vertreter des Conseil d’État, der höchsten französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit – ein bekenntnissemantisches Verständnis der Religionskategorie stark gemacht. Zum Beispiel ist dem öffentlichen Bericht des Conseil d’État zum hundertjährigen Bestehen der Loi de 1905 zu entnehmen, dass die staatliche Anwendung des Laizitätsgrundsatzes zwischen individueller Bekenntnisfreiheit und gesellschaftlichem Pluralismus einen Ausgleich herzustellen habe. Insofern sei es dem Staat nicht möglich, religiöse Kleidung – insbesondere islamische Kopftücher und Ganzkörperschleier – im öffentlichen Raum zu untersagen. Der Laizitätsgrundsatz verbiete lediglich, dass Personen – insbesondere Schüler oder Vertreter des Staats – mit ihrer religiösen Kleidung die Meinungs- und Bekenntnisfreiheit Dritter beeinträchtige.8 In den politischen Kontroversen über die Inklusion der Muslime in die deutsche beziehungsweise französische religionspolitische Ordnung konkurrieren die bekenntnissemantischen Zuordnungen der Religionskategorie mehr oder weniger erfolgreich mit den Identitätssemantiken der europäischen Religionskategorie. Das identitätssemantische Verständnis der Religionskategorie nimmt seinen Ausgang im Gleichbehandlungsgebot, das sowohl der Europarat als auch die Europäische Union aufstellen.9 Das Gleichbehandlungsgebot ergänzt die Religionsfreiheit. Doch statuiert es einen anderen Religionsbegriff. Ihm zufolge darf eine Person aufgrund ihres religiösen Bekenntnisses nicht diskriminiert werden, genauso wie sie nicht aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihres Vermögens diskriminiert werden darf. In diesem Kontext wird die Religionskategorie zu einem »among many markers of difference«, wie ein EUDokument erklärt.10 Sie bezeichnet also nichts Besonderes, etwa den Bedarf nach Sonderregelungen. Vielmehr verweist sie das religiöse Bekenntnis auf eine Alterität, die mit anderen Alteritäten vergleichbar und auf derselben Rangstufe wie diese steht. Als ein möglicher »Differenz-Marker« steht die Religionskategorie für ein Identitätsmerkmal, das erlaubt, Personen in soziale Gruppen einzuteilen beziehungsweise sozialen Gruppen zuzuordnen. In der deutschen Staats- und Verwaltungspolitik führen zum Beispiel Konzeption und Zielsetzungen der Deutschen Islam Konferenz ein identitätssemantisches Verständnis der Religionskategorie vor Augen. Das Bundesinnenministerium erklärte die Verbesserung der »religions- und gesellschaftspolitische[n] Integration der muslimischen Bevölkerung« zum Ziel der im September 2006 ein8
Vgl. Conseil d’État: Rapport public 2004. Jurisprudence et avis de 2003. Un siècle de laïcité, Paris: La Documentation française, 2004.
9
Vgl. Artikel 14 EMRK und Artikel 21 EUGRCh.
10 European Commission/EUMC: The Fight against Anti-Semitism and Islamophobia. Bringing Communities Together, Brüssel: EUMC, 2003, hier S. 103.
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berufenen Deutschen Islam Konferenz.11 Mit dieser Zielsetzung stellte es die Diskussion über die Regelungen muslimischer Religionspraxis in einen Zusammenhang mit der Sicherheit vor terroristischen Vereinigungen und mit sozialpolitischen Fragen, wie etwa mit »wachsenden Defizite[n] muslimischer Zuwanderer im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt«.12 Indem die staatlichen Vertreter diesen Zusammenhang herstellten, dehnten sie die religionspolitische Differenz der islamischen Religionspraxis gegenüber der christlichen oder jüdischen Religionspraxis in Deutschland auf eine Differenz aus, die ›die Muslime‹ von ›den Deutschen‹ unterscheidet. Sie machten, mit anderen Worten, die islamische Religionspraxis zum Identitätsmerkmal einer sozialen Gruppe. In Frankreich gibt der Bericht der sogenannten Commission Stasi, einer vom ehemaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac 2003 eingesetzten Beratungskommission, ein Beispiel für die Anwendung einer identitätssemantisch verstandenen Religionskategorie. In dem Bericht wird Religionspraxis wechselnd als kulturell, identitaire (die Identität betreffend), spirituell, religiös oder communautaire (gemeinschaftsbezogen) bezeichnet.13 Mit diesen wechselnden Bezeichnungen nimmt die Commission Stasi dem religiösen Bekenntnis seinen besonderen Charakter, den es unter religionsfreiheitlichen Gesichtspunkten besitzt. Die changierenden semantischen Zuordnungen erlauben des Weiteren, sozialstrukturelle Inklusionsprobleme von Einwanderungsfamilien auf der gleichen Ebene wie religionspolitische Fragen hinsichtlich der Inklusion islamischer Religionspraxis zu behandeln. Dadurch erscheinen die im Bericht der Commission Stasi genannten religions- insbesondere islampolitischen Aspekte als das Herkunfts- und Sozialisationsproblem einer sozialen Gruppe – nämlich von Kindern und Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien, die sich durch ein niedriges Bildungsniveau, Arbeitslosigkeit und das Wohnen in segregierten Sozialwohnungssiedlungen auszeichnen. Bekenntnis- und Identitätssemantiken bezeichnen Alteritäten, die Staat und Verwaltung in Deutschland wie auch in Frankreich dazu veranlassen, Probleme in der Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen zu bezeichnen und entsprechende Politiken zur Lösung dieser Probleme zu entwickeln. Solche Problembezeichnungen und politischen Lösungsversuche verschwinden dann aus dem staatlichen Diskurs, wenn die Religionskategorie mit Kultursemantiken verbun11 Bundesministerium des Innern, Deutsche Islamkonferenz (DIK): http://www. bmi.bund.de/nn_1018358/Internet/Content/Nachrichten/Pressemitteilungen/2006/Ein zelseiten/Islamkonferenz__Kurzinfo.html vom 28. 02. 2008. 12 Ebd. 13 Vgl. Rapport Stasi: Rapport au Président de la République. Laïcité et République. Commission présidée par Bernard Stasi, Paris: La Documentation française, 2004.
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den wird. Die Autoren der untersuchten europäischen Dokumente rekurrieren auf die Kultursemantiken der Religionskategorie, wenn sie in der Religion einen Teil der Geschichte Europas und eine Quelle europäischer Normen erkennen. In solchen Zusammenhängen wird Religion zu etwas, das Europa zu Eigen ist. Sie wird geradezu als ein öffentliches Gut betrachtet. So heißt es nach der Ratifizierung des Lissabon-Vertrags in der Einleitung des Vertrags über die Europäische Union: »SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben, […]«.14 Darüber hinaus wird die Religionskategorie in den Geschichtserzählungen über Europa kulturalisiert. Dabei nehmen die Autoren europäischer Dokumente nicht nur die Kulturleistungen von Religionsgemeinschaften in den Blick, sondern auch die Gewalt, die Angehörige von Religionsgemeinschaften in europäischen Staaten erfahren haben. Insofern ist die Religionskategorie ein Bestandteil der europäischen Erinnerungskultur, die dazu bestimmt ist, die Gewalt von Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus zu überwinden – zumal dann, wenn, wie eine Kommissarin der EU betont hat, die Europäische Union aus der »Asche des Holocaust« hervorgegangen ist.15 Zudem tragen die Kultursemantiken der Religionskategorie dazu bei, Europa nach außen abzugrenzen. In Deutschland dominieren die kultursemantischen Einordnungen der Religionskategorie. Sie stellen ein weitgehend akzeptiertes politisches Mittel dar, um die gesellschaftlichen Beziehungen und den gesellschaftlichen Pluralismus zu einer nationalen Kulturgemeinschaft zu integrieren. In dieser Hinsicht verweisen Staats- und Verwaltungsvertreter wie auch Juristen die Legitimation ihrer Politik oder ihrer juristischen Entscheidungen auf christlich-abendländische Kulturwerte, zum Beispiel in den Gesetzesnovellen zum Verbot des islamischen Kopftuchs für das Lehrpersonal.16 Sie etablieren dadurch für die deutsche Staats- und Ver-
14 Amtsblatt der Europäischen Union: Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, C 306, 17.12.2007, S. 1-231, hier S. 10. 15 European Commission/EUMC: The Fight against Anti-Semitism and Islamophobia, S. 99. 16 Vgl. etwa Bayerischer Landtag: Drucksache 15/368, Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, 18.02.2004.
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waltungspolitik einen »christlichen Kulturvorbehalt«, dem die islamische Religionspraxis untergeordnet wird.17 In der französischen Staats- und Verwaltungspolitik ist ein solcher »christlicher Kulturvorbehalt« aufgrund des Laizitätsprinzips illegitim, was nicht heißt, dass er nicht existiert. Wenn französische Staats- und Verwaltungsvertreter die Religionspraxis der Muslime adressieren, kulturalisieren sie nicht die Religionskategorie. Sie ordnen vielmehr dem Laizitätsprinzip Kulturbedeutungen zu und machen dieses Trennungsprinzip zwischen Staat und Religion zur Legitimationsquelle nationaler Integration. In Europarats- und EU-Dokumenten steht die Religionskategorie auch für etwas, das Gesellschaft menschlicher macht und ethische sowie moralische Werte in die Gesellschaft diffundiert. In dieser Hinsicht werden Religion und demokratische Politik als »Partner« betrachtet, die ein gewaltfreies Miteinander in der pluralistischen Gesellschaft gewährleisten müssen.18 Dieses ethiksemantische Verständnis der Religionskategorie beherrscht die deutsche Staats- und Verwaltungspolitik in verschiedener Hinsicht und begründet nicht zuletzt, dass der Staat religiöse Korporationen des öffentlichen Rechts, den christlichen Kirchen oder den jüdischen Gemeinden, als Partner in der Bewältigung gesellschaftlicher Probleme ansieht.19 Auch französische Staats- und Verwaltungsvertreter greifen auf ein ethiksemantisches Verständnis zurück, wenn sie Religionsvertreter in Ethikkommissionen berufen oder als Konfliktvermittler anerkennen. In beiden Ländern spielen solche ethiksemantischen Zuordnungen gleichwohl eine nur untergeordnete Rolle in der Religionspolitik gegenüber den Muslimen.
17 Heinig, Michael/Morlock, Martin: »Von Schafen und Kopftüchern. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Deutschland vor den Herausforderungen religiöser Pluralisierung«, in: Juristenzeitung 58 (2003), S. 777-785, hier S. 784. 18 Parlamentarische Versammlung: Rec. 1396 (1999), Recommendation, Religion und Democracy, Europarat, 27.01.1999. 19 Vgl. z.B. Rau, Johannes: »Religionsfreiheit heute – zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland«, 22.01.2004, http://www.bundespraesident.de/Die-deutschenBundespraesident/Johannes-Rau/Reden-,11070.94041/Religionsfreiheit-heute-zumVe.htm vom 11.7.2009.
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III. M USLIMISCHE Z UGEHÖRIGKEITSKONSTRUKTIONEN UND KRITISCHE K OMPETENZ Die Ergebnisse der durchgeführten Fallstudie zeigen, dass auch Muslime in Deutschland und Frankreich auf Bekenntnis-, Identitäts-, Kultur- wie auch Ethiksemantiken der europäischen Religionskategorie in den öffentlichen Thematisierungen ihrer Zugehörigkeitskonstruktionen rekurrieren. Sie arbeiten mit diesen semantischen Zuordnungen, um ihre Imaginationen der islamischen Gemeinschaft gegenüber nicht zur Gemeinschaft gehörigen Dritten plausibel zu machen. Im Rahmen seiner Gemeinschaftserzählung erklärte der Pressesprecher eines französischen Vereins gegen Islamophobie: »Der Islam, der eine der wesentlichen Religionen der Welt ist, wird [in Frankreich] als Sekte behandelt.« Mein Gesprächspartner rekurriert hier auf die Kultursemantiken der europäischen Religionskategorie, um den Rang des Islam als Weltreligion zu rechtfertigen und zu bekräftigen. Er spricht im Zusammenhang des gegebenen Zitats vom Islam als »einer brillanten Zivilisation«, die im Andalusien des frühen Mittelalters herausragende architektonische und wissenschaftliche Leistungen hervorgebracht habe. Bewusst oder unbewusst gibt er mit seiner kultursemantischen Einordnung des Islam geradezu wortgetreu eine Erklärung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats über den Beitrag islamischer Zivilisation zur europäischen Kultur wieder.20 Doch erhält seine kultursemantische Einordnung des Islam eine andere Bedeutung als die kultursemantischen Einordnungen in der Erklärung der Parlamentarischen Versammlung. Denn der zitierte Pressesprecher versucht, mithilfe der Kultursemantiken die imaginierte Gemeinschaft der Muslime zu integrieren. Zugleich stellt er mit seiner kultursemantischen Einordnung des Islam die Legitimität der französischen Religionspolitik gegenüber den Muslimen infrage: Ist der Islam eine Weltreligion wie das Christentum oder Judentum und hat er einen vergleichbaren Beitrag wie diese zur europäischen Kultur geleistet, ist es, in den Augen des Pressesprechers, illegitim, den Muslimen weniger religionsfreiheitliche Rechte und mehr religionsfreiheitliche Beschränkungen als den Christen und Juden in Frankreich einzuräumen. Die semantische Arbeit, die der hier paraphrasierten Gemeinschafts- und Alteritätserzählung zugrunde liegt, vermittelt dem zitierten Pressesprecher eine kritische Kompetenz und seiner muslimischen Zugehörigkeitskonstruktion ein kritisches Potenzial. Die kritische Kompetenz der Befragten und das kritische Potenzial der muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen werden im Sinne von Luc Boltanski, Ève
20 Vgl. Parlamentarische Versammlung: Rec. 1162 (1991), Recommendation on the Contribution of the Islamic Civilisation to European Culture, Europarat, 19.09.1991.
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Chiapello und Laurent Thévenot als Fähigkeit sowie Leistung verstanden, bestehende kategoriale Einordnungen zu überprüfen und etablierte Kategorisierungen durch Sinn- oder Kontextverschiebungen infrage zu stellen.21 In der paraphrasierten Gemeinschafts- und Alteritätserzählung des Pressesprechers erhalten kritische Kompetenz und kritisches Potenzial eine spezifische Gestalt dadurch, dass der zitierte Pressesprecher in bestimmten Zusammenhängen seiner Gemeinschafts- und Alteritätserzählung den kultursemantischen Verwendungen der Religionskategorie ideologische und utopische Funktionen zuordnet. Nach Paul Ricœur hat die Ideologie drei Funktionen: erstens diejenige, Ambivalenzen zu verschleiern, zweitens diejenige, die Autoritäten eines Kollektivs zu legitimieren, und drittens diejenige, ein Kollektiv zu integrieren. 22 Die Utopie wiederum stellt nach Ricœur ein Verfahren dar, erstens Glaubwürdigkeitslücken in der Herrschaftslegitimation zu thematisieren, zweitens Macht wie auch die Defizite von Herrschaft, Autoritäten und Hierarchisierungen aufzudecken und drittens in einer Logik des Alles-oder-Nichts die gesellschaftliche Ordnung zu verwerfen.23 Die kultursemantischen Verwendungen der Religionskategorie in der Gemeinschafts- und Alteritätserzählung des Pressesprechers können mit Ricœur insofern als ideologisch bezeichnet werden, als sie dazu dienen, das Kollektiv, das der Islam begründen soll, zu integrieren und mit einer Identität zu versehen. In wieder anderen Zusammenhängen seiner Erzählung haben die kultursemantischen Verwendungen nach Ricœur die utopische Funktion, die Glaubwürdigkeitslücken in der Legitimation der Herrschaftsverhältnisse zu thematisieren. Dreh- und Angelpunkt der kritischen Kompetenz, die sich die Befragten mit ihren muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen in Deutschland und Frankreich erarbeiten, sind dem empirischen Material zufolge nicht die Kultursemantiken, sondern die Bekenntnissemantiken der europäischen Religionskategorie. Im Allgemeinen gehen die Befragten von den Bekenntnisbedeutungen aus und ordnen vor einem bekenntnissemantischen Hintergrund die Religionskategorie kultur-, identitäts- oder ethiksemantisch ein. Ihnen geht es um »das rein Religiöse«, wie es die Journalistin einer muslimischen online-Zeitung formuliert. Ein solcher Bezug der Zugehörigkeitskonstruktionen auf das »rein Religiöse« nimmt in einigen Gemeinschafts- und Alteritätserzählungen die ideologische Funktion 21 Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg: Hamburger Edition, 2007; Boltanski, L./Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK, 2003. 22 Vgl. Ricœur, Paul: Lectures on Ideology and Utopia, New York: Columbia University Press, 1986. 23 Vgl. ebd.
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ein, »den Prozess des realen Lebens, die Praxis, […] zu verfälschen«, wie Ricœur sagt.24 In diesem Fall verschleiert die Betonung des »rein Religiösen« die innergemeinschaftlichen Konflikte über die Auslegung der Gemeinschaftsinstitutionen und unterstützt mithilfe der ideologischen Verschleierung die Integration des Kollektivs. In einem bekenntnissemantischen Sinn die imaginierte muslimische Gemeinschaft auf »das rein Religiöse« zu beziehen, kann aber auch utopische Funktionen in einer Gemeinschafts- und Alteritätserzählung besitzen. »Während der Krawalle [im Herbst 2005 in französischen Städten] […] wurde der Islam beschuldigt. […] Dabei gehen […] die meisten, die an den Krawallen beteiligt waren, nicht in Moscheen. Sie sind nur durch ihre Vornamen Muslime. […] Mir hat man nicht beigebracht, Molotowcocktails zu werfen, […] dabei bin ich religiös. Theoretisch, wenn man in der Religion davon spräche, müsste ich es wissen, denn ich bete«. Der Autor dieser Sätze, ein Biologiestudent, definiert die muslimische Gemeinschaft anhand einer Bekenntnispraxis – des Betens – und anhand von Gemeinschaftswissen – »mir hat man beigebracht«. In ideologischer Manier integriert er das Kollektiv der imaginierten muslimischen Gemeinschaft. Zugleich hinterfragt er in den zitierten Sätzen die Stigmatisierung der Muslime in Frankreich. Diese Stigmatisierung zu hinterfragen, heißt, Glaubwürdigkeitslücken in den in Frankreich vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Hierarchisierungen zu thematisieren, was nach Ricœur ein für die Utopie charakteristisches Verfahren ist. In den Gemeinschafts- und Alteritätserzählungen der Befragten lassen sich neben der Thematisierung von Glaubwürdigkeitslücken in der Legitimation der Herrschaftsverhältnisse mit Ricœur zwei weitere utopische Verfahren beziehungsweise Funktionen beobachten. Zum einen setzen die Befragten die Bekenntnissemantiken der europäischen Religionskategorie dazu ein, in einer Logik des Alles-oder-Nichts eine fundamental andere Art und Weise zu leben und zu denken zu begründen. Zum anderen formulieren sie mithilfe ihrer bekenntnissemantischen Zuordnungen Rechtsansprüche, die die in ihren Augen bestehenden Defizite der staatlichen Ordnung aufdecken und zugleich beseitigen sollen. Ein bekenntnissemantisches Verständnis der Religionskategorie kann also zu vollkommen gegensätzlichen kritischen Haltungen gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen führen: Es kann einerseits den Rückzug aus den gesellschaftlichen Beziehungen rechtfertigen oder aber im Gegenteil die Notwendigkeit bekräftigen, dass die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse geändert werden können und müssen. 24 Ricœur, Paul: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris: Éditions du Seuil, 1986, hier S. 420.
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In Frankreich leiten die befragten Muslime aus der bekenntnissemantisch verstandenen Religionskategorie mitunter eine individuelle Moral ab. So beobachtet ein Gesprächspartner, dass die Muslime darauf »achten, was sie konsumieren. An der Basis […] guckt man danach, dass es kein E 472 gibt, dass es halal ist. In – in Anführungsstrichen – etwas weiter entwickelten Milieus achtet man auch darauf, dass hinter [dem Produkt] keine Ausbeutung steckt. Es gibt also diejenigen, die nur fair trade konsumieren. […] Darüber hinaus werden Projekte nach islamischen Finanzregeln entwickelt, das heißt Projekte […], die eher auf Zusammenarbeit als auf Ausbeutung basieren«. In Deutschland kombinieren die Befragten hingegen häufig ihr bekenntnissemantisches Verständnis der Religionskategorie mit Ethiksemantiken. Sie unterstreichen dadurch die in ihren Augen positiven moralischen Wirkungen, die das bekenntnissemantisch integrierte Kollektiv der Muslime auf die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse ausüben kann. Zugleich hinterfragen sie damit die Privilegien, die Staats- und Verwaltungsvertreter den christlichen Kirchen gewähren, den organisierten muslimischen Gemeinschaften aber vorenthalten. Ihre ideologisch-utopischen Funktionalisierungen der Bekenntnis- sowie Ethiksemantiken bekräftigen also Rechtsansprüche, die die Befragten im Hinblick auf die Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften in Deutschland stellen. Einen Rechtsanspruch auf Gleichbehandlung geltend zu machen, kann die Befragten ebenfalls dazu veranlassen, das bekenntnissemantische Verständnis der Religionskategorie in den Hintergrund zu stellen und stattdessen ihre Gemeinschafts- und Alteritätserzählungen auf die Identitätssemantiken der Religionskategorie zu fokussieren. Zum Beispiel schränkt der schon zitierte Pressesprecher eines französischen Vereins gegen Islamophobie an einem bestimmten Punkt seiner Gemeinschafts- und Alteritätserzählung die Bedeutung der europäischen Religionskategorie auf deren Identitätssemantiken ein, um die Rechte der imaginierten muslimischen Gemeinschaft in Frankreich mit den Rechten der Homosexuellen in Frankreich vergleichen zu können. Den Homosexuellen würden spezifische Rechte mit dem Ziel zugestanden, ihre Gleichberechtigung zu fördern. Den Muslimen hingegen würde eine gleichberechtigte Ausübung ihrer Meinungsfreiheit verweigert, zum Beispiel durch das Verbot des islamischen Kopftuchs in der Schule.25 Die kritische Kompetenz, die sich Muslime in Deutschland und Frankreich durch ihre Zugehörigkeitskonstruktionen erarbeiten, zeigt, dass Institutionen anders verstanden und angewendet werden können, als sie in Deutschland und in Frankreich verstanden und angewandt werden. In dieser Hinsicht ist festzuhal25 Vgl. Loi 2004-228, 15.03.2004, Loi relative à l’application du principe de laïcité dans les écoles, collèges et lycées publics.
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ten, dass Institutionen nicht nur Dispositive der Herrschenden sind, die ihre Macht durchsetzen, sondern auch Dispositive der Beherrschten, die die Machtverhältnisse infrage stellen. Die semantische Offenheit und Widersprüchlichkeit der Institutionen stellen gewissermaßen das Einfallstor der Beherrschten dar, um die Machtverhältnisse zu kritisieren. Die Herrschenden dagegen versuchen, diese Offenheit und Widersprüchlichkeit (zum Beispiel durch staatliche Religionspolitik gegenüber Muslimen) zu schließen beziehungsweise aufzulösen. Die Muslime wiederum machen mit ihrer kritischen Kompetenz sowie mit ihrem affirmativen Einstehen für andere mögliche Verständnisse der Institutionen ihre Zugehörigkeitskonstruktionen als »ein entschieden heterogenes Ensemble« sichtbar.26 In dieser Hinsicht gilt es, auch die muslimischen Identitätsentwürfe in Westeuropa als ein semantisch offenes und widersprüchliches Muslimsein anzuerkennen.
B IBLIOGRAPHIE Amtsblatt der Europäischen Union: Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, C 306, 17.12.2007, S. 1-231. Bayerischer Landtag: Drucksache 15/368, Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Änderung des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen, 18.02.2004. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK, 2003. Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg: Hamburger Edition, 2007. Bundesministerium des Innern, Deutsche Islamkonferenz (DIK): http://www.bmi.bund.de/nn_1018358/Internet/Content/Nachrichten/Pressemi tteilungen/2006/Einzelseiten/Islamkonferenz__Kurzinfo.html vom 28. 02. 2008. Bundesverfassungsgericht: 1 BvR 1783/99, Schächterlaubnis für muslimischen Metzger, Urteil vom 15.01.2002. Bundesverwaltungsgericht: 6 C 2.04, Religionsgemeinschaften und ihr Rechtsanspruch auf einen ihren Glaubensinhalten entsprechenden Religionsunterricht an staatlichen Schulen, Dachverband und Religionsgemeinschaftsstatus, Urteil vom 23.02.2005.
26 Foucault, M.: Dispositive der Macht, S. 119.
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Bundesverwaltungsgericht: 6 C 8.91, Befreiung einer Schülerin islamischen Glaubens vom koedukativen Sportunterricht, Urteil vom 25.08.1993. Certeau, Michel de: »Le croyable. Préliminaires à une anthropologie des croyances«, in: Herman Parret/Hans-Georg Ruprecht (Hg.), Exigences et perspectives de la sémiotique, Amsterdam/Philadelphia: J. Benjamins Pub., 1985, S. 689-707. Conseil d’État: Rapport public 2004. Jurisprudence et avis de 2003. Un siècle de laïcité, Paris: La Documentation française, 2004. European Commission/EUMC: The Fight against Anti-Semitism and Islamophobia. Bringing Communities Together, Brüssel: EUMC, 2003. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978. Heinig, Michael/Morlock, Martin: »Von Schafen und Kopftüchern. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Deutschland vor den Herausforderungen religiöser Pluralisierung«, in: Juristenzeitung 58 (2003), S. 777-785. Lepsius, Rainer M.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990. Loi 2004-228, 15.03.2004: Loi relative à l’application du principe de laïcité dans les écoles, collèges et lycées publics. Parlamentarische Versammlung: Rec. 1162 (1991), Recommendation on the Contribution of the Islamic Civilisation to European Culture, Europarat, 19.09.1991. Parlamentarische Versammlung: Rec. 1396 (1999), Recommendation, Religion und Democracy, Europarat, 27.01.1999. Rapport Stasi: Rapport au Président de la République. Laïcité et République. Commission présidée par Bernard Stasi, Paris: La Documentation française, 2004. Rau, Johannes: »Religionsfreiheit heute – zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland«, 22.01.2004, http://www.bundespraesident.de/Diedeutschen-Bundespraesident/Johannes-Rau/Reden,11070.94041/Religionsfreiheit-heute-zum-Ve.htm vom 11.7.2009. Ricœur, Paul: Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris: Éditions du Seuil, 1986. Ricœur, Paul: Lectures on Ideology and Utopia, New York: Columbia University Press, 1986. Tietze, Nikola: Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft, Hamburg: Hamburger Edition, 2012. Weber, Max: »Ethnische Gemeinschaftsbeziehungen«, in: Wirtschaft und Gesellschaft (1921), Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebick), 1972, S. 234-244.
Muslims in Spain: Visions of the Past and Present Experiences G EMA M ARTÍN M UÑOZ
Spain’s democratic Constitution of 1978 established a non-denominational state that nevertheless was compelled to confront a historical context in which Catholicism had played a significant role in defining Spain’s official national identity; an identity that resulted from a long historical process that took off under the reign of Isabel and Ferdinand, the so-called Catholic Kings.1 On the one hand, mainstream historiography established the idea that Spain was the result of the Christian victory over al-Andalus and of the expulsion of Muslims and Jews from the peninsula. On the other hand, the term hispanidad or hispanity, coined in the early 20th century, was used intensively under the Franco regime as one of the pillars of a shared identity based upon three unities (one language, one religion, one race). As a consequence, few historical periods have been more controversial than al-Andalus. Few demonstrate more clearly how the past can be made to serve current ideologies. Al-Andalus and its significance have been the objects of multiple polemics and contradictory historiographical visions, and a fount of myths that have frequently obstructed balanced and contextualized study. Most approaches to al-Andalus have suffered from an excess of grand emotions and a priori assumptions. As a result, the non-denominational state of Spain endorsed a preferential agreement with the Holy See that warrants significant economic privileges and awards the hierarchy of the Catholic Church a predominant presence in Spanish 1 Martín Muñoz, Gema: »Perceptions de l’Islam en Espagne«, in: Confluences Méditerranée 19 (1996), p. 183-196; Martín Corrales, Eloy: La imagen del magrebí en España. Una perspectiva histórica, siglos XVI-XX, Barcelona: Bellaterra, 2002; Alcantud, Jose Antonio/Zabbal, François (Hg.): Histoire de L’Andalousie. Mémoire et Enjeux, París: L’Archange Minotaure, 2003.
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society. These privileges include the option given to Spanish taxpayers to destine a percentage of their taxes to the Catholic Church; as well as the presence of religion in the state-run or public school system (under Socialist –PSOE- governments as a subject outside the core curriculum and under right-wing Popular Party governments as part of the curriculum). Meanwhile, and with this privileged relationship with the Church in mind, the Spanish state decided that in democratic terms it also had to arrive at agreements with other religions with deep historical roots in Spain, with the aim of supporting them and ensuring their right of worship. Protestantism, Judaism and Islam were the subjects of these accords. In 1992 Spain signed one of the most liberal agreements between the state and Islam in Europe. The Cooperation Agreement between the Spanish State and Spain’s Islamic Commission (contained in law 26/92 of November 10) became the first directive to award legal status to Islam in the country since 1492. This agreement recognises the statute of Islamic religious leaders and Imams, warrants the legal protection of mosques as places of worship and accepts Muslim unions as common law marriages (although it does not recognise discriminatory practices against women contained in the institution of Muslim marriage such as polygamy and repudiation). It also makes way for religious assistance in public centres, Islamic education in staterun schools, the celebration of Muslim feasts and the state’s collaboration with Spain’s Islamic commission for the preservation and upkeep of Islam’s historical and artistic heritage in Spain. A section of the text also contains a very significant historical testimony when it asserts that the Muslim religion »has a secular tradition in our country, with a significant relevance in the shaping of Spanish identity«. This agreement, however, was put into effect only scantly and, more importantly, was conceived for Spanish converts to Islam and for Muslims who had already attained Spanish nationality. It expressed the political will to make amends for the unfair treatment Muslims in al-Andalus had been subject to and was signed when that new Muslim presence had not yet consolidated in Spain through immigration. Serious immigration flows took off in the late 1980s and did not become religious and social phenomena until the mid-1990s. As a result, the representatives of the Islamic Commission (two federations formed by converts and nationalised Muslims) are quite foreign to the realities of Muslim immigrants, and the latter hardly identify with or feel represented by them. In addition, social and political resistance to implement the terms of the agreement grew considerably as people’s awareness of the development of a more extensive and
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significant Muslim reality in our country through immigration consolidated, virtually leaving the pact devoid of meaning.2 On the contrary, once the arrival of new immigrants inevitably started transforming »Spanish uniformity« – especially considering that Muslims (Moroccans in particular) represent the largest percentage of newcomers – ,the collective ›Moorophobic‹ memory built up since the expulsion of the Moors transformed into an ›Islamophobic‹ sentiment. As such Muslim immigration has become the most prominent »other«, a concept that has entered the public discourse of politicians, intellectuals and columnists, who increasingly argue for a reorientation of our demand for immigrant labour toward Latin American and Eastern European communities, because their condition as Christians is considered a fundamental factor to ease integration. At the same time, the Catholic hierarchy has often raised its voice to point out the threat that the expansion of other religions could pose to Catholicism in our country. As a matter of fact, the concept that there are »desirable immigrants« and »intruding immigrants«, with the latter represented by the Muslim, has gained strength.3 What was the ideological construct that prevailed over the definition of the Hispanic personality and led to the vision of the Muslims as »intruders« into our national culture whereas the longest civilizational period in the history of what we now call Spain has been the al-Andalus period?
AL -ANDALUS SEEN AS AN INTRUSION INTO S PANISH HISTORY Ideological positioning has marked the interpretation of Andalus history. The ›Catholic Kings’ paradigm‹ was based on the unity of Spain and the negation (and persecution) of religious diversity. Christianity was the major constructor of an ideology which stubbornly excluded the eight Islamic centuries from the Spanish historical memory. ›Hispania‹ (from which ›Spain‹ is derived) was im-
2
Moreras, Jordi: »Limits and contradictions in the legal recognition of Muslims in Spain«, in: Shahid, W./Von Koningsveld, P.S. (Hg.): Religious Freedom and the Neutrality of the State: The position of Islam in the European Union. Leiden: Peeters, 2003.
3
SOS Racismo: »¿Sospechosos habituales? La estigmatización de la figura de los musulmanes en España«, in: Informe anual 2002 sobre el racismo en el Estado Español, p. 244-252.; de Lucas, Javier: Inmigrantes ¿cómo los tenemos?, Madrid: Talasa Ediciones, 2002.
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posed on al-Andalus in both name and meaning. The Romans named the Iberian Peninsula Hispania when it was integrated into their empire. But this conquest never provoked the historiographical controversy of the subsequent Islamic conquest. The Greco-Roman heritage was presented as the essential source of European being and thought, definitively excluding any oriental contribution. The Romans, succeeded by the Visigoths of the Kingdom of Toledo and then the Christian kingdoms of the north after the formation of al-Andalus, were presented as part of the line that culminated in the Catholic Kings, guaranteeing continuity with Hispania and, as a consequence, with the essence of Spain (›Spain as a historical unity‹ was Spanish historian Claudio Sánchez Albornoz’s central idea). Al-Andalus, due to its Arab and Islamic identity, was excluded, interpreted as a historical anomaly, a foreign experience lying beyond the true Spanish personality of Christian and Latin roots. This historical construction nourished official interpretations until the eighteenth century when, for a brief period, Enlightenment thought brought a new approach. During the eighteenth century, Enlightenment thought caused a rupture with the negationist interpretation of al-Andalus, approaching the reality instead from an assimilationist perspective. According to Maria Antonia Martínez Núñez: Enlightenment thinkers conceived of history around the rationalist paradigm of modernity, viewing the past as an uninterrupted progression until the triumph of reason (in fact, of the bourgeoisie and its values). Renowned Enlightenment thinkers wanted to reclaim alAndalus as part of that history of progress seen as a worthy alternative to feudalism.4
The new interest in al-Andalus brought such advances as the founding of the first Chair in Arabic at El Escorial at the behest of Charles III in 1786 (suggesting a surprising degree of interest in learning the Arabic language), the publication of ›Arab Antiquities‹ by San Fernando’s Royal Academy of Fine Arts in 1770, the beginning of Andalusi numismatics studies and, more generally, research into alAndalus and its archaeological remains which had until that point been rejected and abandoned where they had not been destroyed. Nevertheless, this Enlightenment effort had little reach, and the nineteenth century saw the birth of other visions of al-Andalus which, for all they were new, were no more objective. Medievalism and exoticism would be the two major ingredients of the Romantic vision, and Romantic travellers of the eighteenth century, such as Francis Carter, Washington Irving and Cavanah Mourphy, encountered in Spain an inexhaustible source of attraction in the material traces of 4
Martínez Núñez, Mª Antonia: »¿Por qué llegaron los árabes a la Península Ibérica?«, in: AWRAQ 3, nueva época, (2011), p. 28-29.
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al-Andalus, divulging in their writing an orientalist fascination for all Andalusi things. This in turn developed an orientalism to accompany the European colonial venture: a world view in the minds of imperial officials and academics who developed a purportedly scientific knowledge that would dominate narratives concerning the East and which would justify colonialism. Orientalism is one of the ways by which Europe sought to define itself in opposition to an Orient recreated to fit European fantasies and interests and Europe’s need to feel superior. Romanticism and Orientalism fashioned their own version of a stereotypical al-Andalus to present an orientalised Spain as a relevant marker for the West. Spanish nationalism reacted to this by demonstrating its univocal Christian and Latin character. Historiographical schools of the nationalist type would develop during the course of the nineteenth and twentieth centuries, and would define the prevailing interpretations and significations of al-Andalus until our time. According to this vision, 711 is identified as the date of the ›loss of Hispania/Spain‹, and the Battle of Covadonga in 722 as the beginning of the ›Reconquista‹. Covadonga, situated in Asturias in the north of Spain, was where the local political and military leader, D. Pelayo, defeated the troops of al-Andalus and prevented further conquests in the northern part of the Iberian Peninsula5. The term and concept of ›Re-conquista‹, which has dominated the teaching of medieval Spanish history, is what has allowed to establish the guiding ideology of the ›real Spain‹ which, invaded and occupied by the Arab-Muslims, finally managed to recover its territories and expel the invaders. The Reconquista concept’s transcendental intention is to link Spain with Western Christianity and to avoid sharing her destiny with Muslims. In this interpretation there is a desire to establish a continuity of national essence, defined by rules of religion, language and race (Christianity, Latinate, Hispanic), positing a direct link between the Visigothic heritage and the Catholic Kings. Al-Andalus is thereby converted into a mere hiatus of almost a millennium. Among the modern historians who countered the liberal school and the more open spirit illustrated by the General History of Spain (Historia General de España) of Modesto Lafuente (1806-1866) was the ultraconservative historiographical school represented by Marcelino Menéndez Pelayo (1856-1912), which took up the Spanish nationalist spirit and added to it a sectarian Catholic sentiment. This school was to inspire a good part of the historical interpretation of Spanish education in the twentieth century. Ramón Menéndez Pidal (18695
For this reason, Spanish nationalism transformed the independent Asturian Kingdom into the foundational origin of what would later become the construction of Spain (Sánchez-Albornoz, Claudio: The Kingdom of Asturias. Origins of the Spanish Nation, Gijón: Biblioteca Histórica Asturiana, 1988).
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1968), director of the Center for Historical Studies, though unquestionably much more restrained and balanced, also stressed this idea. Disregarding the liberal school, Menéndez Pelayo not only extolled the ancestral values of an inherited European civilization of Greco-Latin and Christian tradition, but also negated any Arab contribution whatsoever: What is designated under the name of Arab civilization is far from being a spontaneous emanation or the work of Semitic genius; it is from any perspective foreign and contradictory. This is proven by the fact that there has never flourished any genre of philosophy or science among either Arabs or Africans, but only among Islamic peoples in which the Indo-European element predominates, such as in Persia or in Spain where the vast majority of renegades (those converted to Islam) far superseded the pure Arab, Syrian and Berber element.6
That is to say, Arabs were a people foreign to creative genius, and their scientific culture was limited to that which was taken from other civilized people of predominately Indo-European type. Menéndez Pelayo later adds that the transmission of ›Arab-Spanish‹ science to Europe was accomplished by Christian Spaniards. These ideas, contrary to expectations, far from being outmoded, have been revitalized by Sylvain Gougenheim in his highly publicized book Aristotle in Mont Saint-Michel, published by the prestigious French house Seuil in 2008. The book is a veritable exercise in academic imposture that nonetheless inexplicably received the prize of the Academy of Moral and Political Sciences in France. All this speaks of the important link between these negative historical interpretations and the growing wave of Islamophobia in Europe. During the course of the twentieth century, Sánchez Albornoz came to stress the idea of the ›Europeaness‹ of Spain based on the Gothic and Germanic heritage, pitting a foreign Islam against the Western Christian civilization. Sánchez Albornoz uses D. Pelayo and the Asturian Kingdom as the founding moment of the Spanish nation: ›Because on an imprecise day of the 8th century (D. Pelayo), in whom the ancestral virtues of the race were incarnated, rose in rebellion against the Muslims who lorded it over Hispania. This started the multi-secular battle between Islam and Christianity that was decisive in the forging of Spain and all that is Spanish.‹ The legendary and moving polemics between Albornoz and Américo Castro, for whom Spanish civilization was the fruit of mixing be6
Cited by de Madariaga, Mª Rosa: »La imagen de Marruecos y la interpretación de la Historia en el sistema educativo español«, in: Martín Muñoz, Gema (dir.): Aprender a conocerse. Percepciones sociales y culturales entre España y Marruecos, Madrid: Fundación Repsol, 2001, p. 133.
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tween Muslims, Jews and Christians,7 did not prevent Albornoz’s version of history from becoming the most widely accepted, although that of Castro, assimilationist of Islam and the Arabic language as it was, was still accommodated within Spanish nationalist parameters. Spanish school books from the curriculum of 1938 until the General Education Law of 1970 used the theses of Sánchez Albornoz and Menéndez Pelayo. They have improved significantly since 1970 with regard to the teaching of alAndalus, even if they follow the vision of the traditional school of Arabists which still tries to contort history in order to ›nationalise‹ al-Andalus, as we will see below. Since the new education law of 1990 the Eurocentric and Occidentalist vision of history predominates in such a manner that the problem lies not in transmitting the most objective interpretation but rather in the manifest lack of interest in anything that does not have a clear link to Europe and the West.8
T HE ›N ATIONALIZATION ‹
OF AL -ANDALUS
The school of Spanish Arabists at the beginning of the twentieth century (Francisco Codera, Julián Ribera, Miguel Asín Palacios, and later Emilio García Gómez), besides wishing to legitimize its object of study, had to resolve something as basic as making sense of the Islamic experience in the Iberian Peninsula, because the simple ideological negation of the other could not ignore such a considerable part of the national past. They found the answer in a new interpretation of al-Andalus that would meet the requirements of ›Hispanisation‹ to allow it to be accepted as part of ›our‹ history. Accepting al-Andalus required the establishment of a fundamental divide between ›ours‹ – the ›Spanish‹ – and the ›exogenous‹ – belonging to the Arabic and Islamic Maghreb and Mashreq. These scholars created a ›Muslim Spain‹ and a ›Spanish Islam‹, isolating it as more as possible from its global Arabic and Islamic context. Their historical reimagining was based on an explanatory context whereby the cultural and demographic superiority of the (Hispanic) natives rapidly absorbed the supposedly small Arab and Berber military contingent that arrived on the Peninsula in 711. In other words, native Hispanics, with a superior majority culture, Hispanized the dominant minority. The result was the development of a specifically Spanish
7
Castro, Américo: Spain in History. Christians, Moors and Jews, Barcelona: Grijalbo Mondadori, 1983.
8
M. R. de Madariaga: La imagen de Marruecos y la interpretación de la Historia, p. 131-149.
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Islam that was alien to the rest of the Islamic Empire. To accommodate this ideological change, terminology was also changed: the Andalusi was converted to a ›Hispano-Arab‹ or ›Hispano-Muslim‹. So if al-Andalus could be integrated into a few chapters of the national history, even if they were secondary chapters, it was included for its ›Hispanic‹ aspect, according to the interpretation of Spanish Arabism that dominated the major part of the 20th century. This school of Spanish orientalists, together with other European specialists such as R. Dozy (History of the Muslims of Spain) and Henri Terrasse (AraboHispanic Art: From its Origins to the 13th Century), were concerned with highlighting the specificity of al-Andalus. To this end they established a set of special qualities of ›Hispano-Arab‹ exquisiteness – artistic splendour, refinement, tolerance, convivencia (coexistence) – and converted them into myths serving to demonstrate the superiority of ›Spanish Islam‹ over the other Islamic lands. AlAndalus was torn from its orient and made out to be a uniquely specific splendour, in spite of the various proofs that proved the opposite: the links and exchanges between al-Andalus, the Maghreb, and the Islamic Orient never ceased, and the grand civilizational development also occurred in the same manner in Baghdad, Cairo, Fez and Marrakech, each of course with its own particularities according to local context and circumstance. As the historian Eduardo Manzano noted with deserved severity: the intention to make of ›Muslim Spain‹ a historical period whose Hispanic character is clearly differentiated from contemporary North African or Oriental societies lacks all foundation. The Andalusi Muslims were no more or less tolerant than their coreligionists in other latitudes. The Arab and Islamic traces on Andalusi society cannot be denied simply for the sake of arguing that the conquest had a negligible impact.9
The number of Muslim conquerors, although larger than traditionally supposed, is not as important as is claimed. But in any case, as Manzano continues, even a relatively small number of conquerors are able to produce great social and cultural transformations, as is well attested by the Roman conquests or those of the Spanish in America. Neither Romanization nor Spanish colonization were the result of a massive immigration of Romans or Spaniards, but of the imposition and acceptance by the conquered of the newcomers’ social and cultural norms. This is what happened in al-Andalus, where the politically dominant position of the conquerors made their assimilation by the natives unthinkable from the start, even if the indigenous population was numerically 9
Manzano, Eduardo: »Épocas Medievales«, in: Josep Fontana/Ramón Villares (Hg.), Historia de España (vol. 2), Madrid: Crítica/Marcial Pons, 2010, p. 127.
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greater. As soldiers and administrators of an Empire, it was they who imposed the rules, not the populations that ended submitting to them.10
It is interesting to note that these scholars of Spanish Arabism – children of the colonial thought of which they are contemporaries – continue the idea that the civilizing impulse has but one direction – from north to south – and apply the idea to al-Andalus. This meant that Spain radiated its cultural excellence towards ›primitive‹ North Africa. Such historical voluntarism is encountered with particular insistence on the Almoravid and Almohad periods. Far from allowing alAndalus to stand out as an independent emirate or caliphate to establish its particular and superior Spanish specificity, the Almoravid and then Almohad periods unambiguously link al-Andalus to the Maghreb. Moreover, al-Andalus became a dependent province of these North African Empires; hence the insistence on establishing the idea that the best Maghrebi art during those periods of undoubted splendor was produced by ›Hispano-Arab‹ artisans and artists in Marrakech, Fes, and Meknes. In any case, these Almoravid and Almohad periods which trace such an indelible link between al-Andalus and the Maghreb, moving from south to north, are regarded with indifference, and are consequently rarely studied unless cloaked by the unjust popular myth which reduces the periods to a fanatical government that destroyed the refined and tolerant ›Hispano-Arab‹ society. Their undisguised lack of interest in anything other than their vision of an Andalusi ivory tower left these scholars on the margins of research in the north of Morocco during the protectorate established there by Spain between 1912 and 1956. In contrast to French and British Orientalists in their respective protectorates and mandates, the specialists of Spanish Arab studies were not concerned with the contemporary Arab world. That Orientalist knowledge of anthropological and sociological studies was developed instead by the well-known school of Africanists, staffed primarily by military personnel and professionals who lived in northern Morocco during the protectorate. While new studies and rigorous scientific works have revised and delegitimized the diverse interpretations that we have discussed (those of Eduardo Manzano, Pierre Guichard, Manuela Marín, Mª Antonia Martínez Núñez, Alejandro García Sanjuán, and various other distinguished academics), and have established that it is most correct and objective to speak of ›al-Andalus‹ rather than of ›Muslim Spain‹, they have not extended their reach beyond the academy. The old ideas therefore continue to flourish in popular books, in schools, in media discourse, and in political visions related to Islamophobia and the concept of the ›clash of civilizations‹. 10 E. Manzano, Épocas medievales, p. 128.
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T HREE R ELIGIONS
AND
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The clichés of the refined splendour, tolerance and superiority of Spanish Islam have ended up producing the very popular myth of the ›three cultures‹: that is, the exaltation of ›convivencia‹ and tolerance between Jews, Christians and Muslims that supposedly occurred primarily during the tenth and eleventh centuries. The myth posits this time as something unique and exceptional. Objectively, the presumptions on which this definition is based are very debatable indeed. The concepts of religion and culture are confused, and this introduces a serious distortion, and the modern concepts of tolerance and convivencia are attributed to a medieval epoch in which these ideas did not exist. Reality was much more mundane. In al-Andalus as in the rest of the Islamic Empire, Christians and Jews were permitted to maintain their faiths because they belonged to the same monotheistic tradition as the Muslims (Ahl al-Kitab), but this did not signify an idyllic equality. They paid a special tax and limitations were imposed on their social integration. The Christian Kingdoms initially treated the Muslims in their territories (Mudéjares) in the same way, until they succumbed to a progressive persecution that finally resulted in the Inquisition. But attempting to turn the three creeds into distinct and self-contained cultural realities is the weakest and most ideological part of this project. The Jews and Christians of al-Andalus were Arabized and partook of the Andalusi cultural construction which was, more or less, the common culture. This is what permitted cohesion and a reasonably satisfactory interchange between the three religions. So a more precise approximation would be the existence of three religions within one culture, or at least within a shared cultural dynamic that was Andalusi, and speaking the same language: Arabic. To move from here to discussing cross-breeding, as Américo Castro wanted, is much more questionable. Each religious community was basically very protective of its confessional identity. When the intolerance of the Catholic Kings led to expulsion, Andalusi Jews as well as Muslims logically chose the Islamic Empire as the principal place to settle, not only because they were afforded the acceptance there that Christian Europe denied them, but also because they shared Arab-Islamic cultural elements and language. As such, the convivencia in al-Andalus was neither exceptional nor miraculous. The widespread reach of the idea of al-Andalus and its ›three cultures‹ in recent times can be explained (besides it is an appealing advertisement for political agendas concerning multiculturalism and the Arab World) by the fact that it fits ideologically with a conceptual structure spread by the theory of the ›clash of civilizations‹. The presentation of the cultures, with a special focus on the Islam-
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ic one, as closed and antagonistic separate entities mirrors Huntington’s peculiar theory; the ›miracle‹ of convivencia seems to presuppose, as Huntington suggests, that convivencia is almost impossible. The proclaimed success of the convivencia is at first sight a positive thing, but it hides this pernicious concept, implicitly stressing the incompatibility and antinomy between Islam, Christianity and Judaism - except for one surprising and never repeated moment. Probably no other period in history has been as interpreted, manipulated and struggled against as al-Andalus, this period which still has not achieved the ›historical normalcy‹ it has demanded for more than six centuries; that is, to assume its legitimate existence and to be recognized as an important part of both Islamic and European history without amputating its undoubtedly Arab and Islamic characteristics or adorning it with extemporaneous qualities to portray it as something exceptional. Far from achieving that normality, it remains subject to ideological manipulation. The irrelevant but noxious theory of the clash of civilizations, the 9/11 attacks and the growing Islamophobia that has been unleashed since, have ensured that al-Andalus remains an object for barter at the service of ultra-Catholic, nationalist and Islamophobic ideologies. While enlightened intellectuals continue their endeavours to inscribe al-Andalus in historical normality, their work does not enjoy the wide dissemination in media and society of the dominant theories which connect better with voguish anti-Islamic perceptions.
T HE
NEW STATUS OF I SLAM IN
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The Muslim religion in to-day’s Spain, related to the terms spelled out in the Agreement mentioned above, has developed under very precarious, even clandestine conditions, in order to retain limited visibility. In most cases, whenever that visibility has emerged as a result of the social integration of Muslims in Spain (through the attempt to build a mosque for instance) it has been met by a negative and conflictive response from the Spanish people. The source of tension and conflict is not the mosque in itself, but the perception local residents have of that Muslim visibility. Instead of interpreting this visibility as the result of new social interaction, it is felt as a threat to local identity and culture.11 Even if the September 11 attacks heightened suspicion toward Muslims, who were increasingly perceived as Ben Laden’s »potential hidden weapons«, it was the 2004, March 11 attacks that triggered a strong perception of threat from and 11 Martín Muñoz, Gema (dir.): Marroquíes en España. Estudio sobre su integración social, Madrid: Fundación Repsol, 2003, p. 119-127.
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suspicion toward immigrants of Muslim origin and, particularly, toward their symbols of worship (prayer rooms, mosques and imams). It is important to note, however, that the social response immediately after the attacks was serene, without xenophobic reactions, unlike what happened in the United States after 9/11. And yet, rather than banking on this peaceful sentiment, the media and prominent spokespeople of allegedly secular organisations of Moroccan immigrants, soon set alarm bells ringing about the religious radicalisation of Muslim communities in Spain. These opinions have played a crucial role in transforming social opinion into a preventive defensive stance toward Muslim presence in Spain. As such an opinion poll by Real Instituto Elcano of June 2004 illustrates the extent to which Spanish society identifies terrorism with immigration. When asked what measures should be adopted to combat international terrorism, 34.1 percent of respondents replied that »it is necessary to enforce tighter controls on Muslim immigrants and mosques«. As a result the view that more controls and security are needed is gaining grounds against the view that defends the integration of the religious practices of Muslims within the framework of Spain’s non-denominational state. Mosques and imams are globally exposed to suspicion and opinion prevails over analysis on this matter.12 At the same time the need for control as a principle prevailed over the need to integrate religious practices. At the heart of the matter lies the fact that the element that has motivated the decision to normalise and give a legal status to religious Muslim practices has been the feeling that religious spaces and their actors (imams) must be controlled, out of fear of radicalisation and extremism. Political authorities have found themselves suddenly encumbered by the problem of how to control mosques and imams after Muslim practice had been subjected to a clandestine existence for years in order to keep Muslim communities in a state of social invisibility. Also, authorities face a social atmosphere that opposes more than ever the acceptance of the visibility of Muslim places of worships and of the rights of Muslims under the principle of equality before the law, which would require the normalisation of Muslim worship in our country. Examples are very illustrative. The decision of Andalucía’s regional government to make 6,000 square meters of land available for the building of a mosque sparked a real ›social revolution‹ among the area’s residents. This was so even though the project formed part of a wider plan through which the government gave representatives of four different religious denominations the right to build on public land as a means to 12 Moreras, Jordi: »Predicar en tierra ajena: los roles asumidos por los imames en contexto migratorio«, Communication in the 4th Congreso sobre la Inmigración en España. Girona, 2005.
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put into effect the principle of religious non-discrimination. Nobody complained when the government made land available to the Philadelphia Evangelical Church, to the Church of Jesucristo de los Santos Últimos Días de España and to Seville’s bishopric. The arguments voiced against the building of a mosque in Seville, where 5,000 to 7,000 Muslims live and where there are no mosques, are worth noting. In a non-denominational state, public land cannot be made available for the building of a temple, they argued. This defence of secularism, however, only seems to emerge when we speak of Islam and not of other Christian denominations. The area’s residents, moreover, keep press clippings on ›Islamic terrorism‹ and its links with mosques and imams to support their argument that mosques are recruiting centres for potential terrorists.13 Similarly, the decision of the Justice Ministry through the general secretariat for religious affairs to enforce the law by allowing for Islamic education in school (only when over 10 of the centre’s students are Muslim) sparked a very negative social reaction. The issue, moreover, has become ›Islamicized‹ even when the real debate lies on whether religion should be present in the public education system or not. In this regards, Spaniards are deeply divided. In any case, as long as religious education exists in schools the principle of equality contained in Spanish law should be enforced. This discriminatory situation that rejects Islam and embraces Catholicism must not prevail. It is also worth noting the Spanish approach toward the use of the headscarf (hijab) in state-run schools. The controversy first emerged in February 2002, when a Moroccan girl in a Madrid school insisted on wearing a headscarf in class. Her case triggered a huge social debate on the matter, especially when compared to the meagre debate that resulted from the violent racist attacks against Moroccan workers in El Ejido in February 2000. Mainstream views presented the issue of the headscarf as a ›threat to our modern cultural values‹, following the main argumentative lines used in other European countries. What is more interesting was the reaction of educational authorities. When Fatima, a Moroccan girl, was expelled from a Catholic school for wearing the headscarf, educational authorities forced a state-run school to admit the student to ensure her education continued. Fortunately in this case the state did not ignore its obligation to give all children an education, as has been the case in France. Also worth noting, however, is that the state did not force the Catholic school – partly funded by the state and as such a public entity obliged to admit the children of immigrants – to readmit the girl. And that was the school Fatima was naturally entitled to attend according to her place of residence. Very significantly then, the Catholic school fulfilled its aim of getting rid of the immigrant, Muslim girl – 13 El País, Andalucía, vom 5.12.2004.
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two identities it obviously didn’t want present in the centre – without consequences. The debate of the headscarf has remained at bay in Spain since then, partly because jointly funded religious schools skirt the law and use various strategies to prevent the children of immigrants from joining their centres. Also, the integration in state-run schools of Muslim girls who wear a headscarf is going well, especially considering the hijab obviously does not affect their learning process nor their relationship with other students and teachers. Most significantly, however, it is the still existing religious slant of Spain’s public education that has kept the country from succumbing to a process similar to that underway in France. To conclude, secularism in Spain stems from a national identity with strong links to the Catholic religion. As such, the current model of non-denominational state makes significant room for religious expression in the public space. A large part of the Spanish people contest this situation, but for the time being no consensus to transform the existing situation has been arrived at. The maximum expression of social secularism, meanwhile, emerges first and foremost as an antiIslamic instrument, opening up the question of discrimination within the law of democratic Spain.
B IBLIOGRAPHY Alcantud, Jose Antonio/Zabbal, François (Hg.): Histoire de L’Andalousie. Mémoire et Enjeux, París: L’Archange Minotaure, 2003. Castro, Américo: Spain in History. Christians, Moors and Jews, Barcelona: Grijalbo Mondadori, 1983. De Lucas, Javier: Inmigrantes ¿cómo los tenemos?, Madrid: Talasa Ediciones, 2002. De Madariaga, Mª Rosa: »La imagen de Marruecos y la interpretación de la Historia en el sistema educativo español«, in: Martín Muñoz, Gema (dir.): Aprender a conocerse. Percepciones sociales y culturales entre España y Marruecos. Madrid: Fundación Repsol, 2001. Manzano, Eduardo: »Épocas Medievales«, in: Josep Fontana/Ramón Villares (Hg.), Historia de España (vol. 2), Madrid: Crítica/Marcial Pons, 2010. Martín Corrales, Eloy: La imagen del magrebí en España. Una perspectiva histórica, siglos XVI-XX, Barcelona: Bellaterra, 2002. Martín Muñoz, Gema: »Perceptions de l’Islam en Espagne«, in: Confluences Méditerranée 19 (1996).
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Martín Muñoz, Gema (dir.): Marroquíes en España. Estudio sobre su integración social, Madrid: Fundación Repsol, 2003. Martínez Núñez, Mª Antonia: »¿Por qué llegaron los árabes a la Península Ibérica?«, in: AWRAQ 3, nueva época, (2011). Moreras, Jordi: »Limits and contradictions in the legal recognition of Muslims in Spain«, in: Shahid, W./Von Koningsveld, P.S. (Hg.): Religious Freedom and the Neutrality of the State: The position of Islam in the European Union. Leiden: Peeters, 2003. Moreras, Jordi: »Predicar en tierra ajena: los roles asumidos por los imames en contexto migratorio«, Communication in the 4th Congreso sobre la Inmigración en España. Girona, 2005. Sánchez-Albornoz, Claudio: The Kingdom of Asturias. Origins of the Spanish Nation, Gijón: Biblioteca Histórica Asturiana, 1988. SOS Racismo: »¿Sospechosos habituales? La estigmatización de la figura de los musulmanes en España«, in: Informe anual 2002 sobre el racismo en el Estado Español.
2. Ausbildung von Identitäten innerhalb muslimischer Gemeinschaften
Personale Identität und religiöser Glaube im Zeitalter der Kontingenz J ÜRGEN S TRAUB
»Die Anhänger bestimmter Weltbilder, etwa der großen historischen Monotheismen, der östlichen Religionen, des spirituellen Eklektizismus, der autochthonen Spiritualitäten, des militanten Atheismus, des Agnostizismus etc., müssen lernen, zusammenzuleben und, zumindest idealiter, Bande der Solidarität zu knüpfen«.1 »Die eifernden Monotheismen (wie zu späterer Zeit die eifernde Aufklärung und der eifernde Szientismus) ziehen ihren Elan aus der phantastischen Vorstellung, es könne gelingen, gegen alle Irrungen und Wirrungen der kontrovers versprachlichten und multipel verbildlichten Wirklichkeit die einwertige Ursprache ›wiederherzustellen‹. Sie möchten den Monolog der Dinge, wie sie an sich sind, hörbar machen und die unverhüllten Tatsachen, die ersten Strukturen, die reinsten Weisungen des Seins wiedergeben, ohne daß auf die Mittelwelt der Sprachen, der Bilder und der Projektionen in ihrer Eigengesetzlichkeit eingegangen werden müßte. Bei den Anhängern der Offenbarungsreligionen will man sogar den Monolog Gottes in einem menschlichen Ohr widerhallen lassen, wobei der hörige Mensch bloßer Empfänger sein soll, ohne daß sein Ich ins Spiel kommt – und ohne daß er einen eigenen Anteil an den Autorenrechten erwirbt«.2
1
Maclure, John/Taylor, Charles: Laizität und Gewissensfreiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011, hier S. 146 (franz. Original 2010).
2
Sloterdijk, Peter: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt a.M./Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2007, hier S. 137-138.
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R ELIGIÖSER G LAUBE , DAS ABGEPUFFERTE S ELBST UND DAS F AKTUM VERNÜNFTIGER P LURALITÄT IM R EGIME DER L AIZITÄT Einer auch in den Wissenschaften durchaus verbreiteten Auffassung zufolge passt die Struktur der personalen Identität moderner Subjekte nicht so recht zu einer Lebensform, in der auch der religiöse Glaube seinen festen Platz hat. Diese Sicht der Dinge mag sich bei näherem Hinsehen als seltsame Voreingenommenheit oder engstirniges Vorurteil entpuppen, nicht selten auch als Ergebnis theoretischer Unbedarftheit und begrifflicher Konfusion. Völlig grundlos ist sie jedoch nicht. Sie bedarf allerdings einer differenzierenden Auslegung: Von was für einer Art von »religiösem Glauben« und von welcher »modernen Lebensform« ist hier eigentlich die Rede? Welches »moderne Subjekt« ist gemeint, was soll unter »personaler Identität« verstanden werden? In der wiedergegebenen Allgemeinheit ist die erwähnte Kontrastierung von Religion und Moderne – spezieller: von religiösem Glauben und der personalen Identität moderner Subjekte – nicht haltbar. Sie ist sogar etwas bizarr. Das ist schon deswegen so, weil sich moderne Gesellschaften durch ein außerordentlich hohes Maß an sozialer Differenzierung und kultureller Pluralisierung auszeichnen.3 Zumindest für viele Gesellschaften ›dieses Typs‹ gilt: Sie 3
Genauere historische und systematische Bestimmungen der »Modernität« von Gesellschaften finden sich in den zuständigen Disziplinen zuhauf; auf einen allgemeinen Konsens stößt man indes nicht. An solchen Begriffsbestimmungen liegt es natürlich, ob man auch politisch totalitäre Systeme als »moderne« Gesellschaften bezeichnen kann (und sich dabei hauptsächlich oder sogar ausschließlich an wissenschaftlichtechnische und wirtschaftliche Kriterien hält, was eine erhebliche, manchmal zwar zweckdienliche, mitunter aber nicht sinnvolle Vereinfachung darstellt); oder ob man zum Beispiel die Achtung der Würde des Menschen und seiner Rechte, demokratische Regierungsformen und individuelle Selbstbestimmungschancen selbst dann als wesentlich betrachtet, wenn man konzeptionell für »multiple modernities« Platz lässt. Die vorliegende Abhandlung bezieht sich im Grunde auf liberal-demokratische, »offene« Gesellschaften und die in ihnen lebenden Menschen, ohne »Modernität« exklusiv für diesen Typus reservieren zu müssen. Für die folgenden Überlegungen zu einem an spezifisch neuzeitliche, moderne Lebensbedingungen angepassten bzw. darauf eingestellten (religiösen und areligiösen) Selbst sind nicht zuletzt Hans Joas’ Überlegungen zur zentralen Rolle von Kontingenz und Kontingenzbewusstsein in bestimmten Gesellschaften wichtig (Joas, Hans: Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg im Breisgau: Herder, 2012, S. 106ff.). Damit wendet sich der
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sind um eine möglichst weitgehende Inklusion verschiedener Weltbilder, Lebensformen und Sprachspiele bemüht. Sie streben nach der Integration von Gruppen und Personen, die nach ganz unterschiedlichen Weltanschauungen und Grundüberzeugungen leben und handeln. In solchen Gesellschaften ist erklärtermaßen für vieles Platz – auch wenn es sich als heterogen, mithin als zumindest teilweise unvereinbar erweist.4 Es gilt hier ein Grundsatz, der individuelle Freiheitsrechte mit sozialer Verantwortung und basalen Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen verknüpft: Es mag jede und jeder nach seiner eigenen Façon selig werden, solange sich die Einzelnen nur an die (historisch und kulturell variablen und dennoch) elementaren Spielregeln halten, die dafür sorgen, dass niemand die anderen massiv beeinträchtigt und jede Rücksichtnahme unterbleibt. Es mögen sich also alle Individuen und Gruppen im Rahmen der gegebenen, dennoch nicht in Stein gemeißelten Verfassung bzw. der gerade geltenden Gesetze, der geschriebenen und durchaus auch einiger ›ungeschriebener‹, gewähren lassen, ohne sich dabei in pures Desinteresse und radikale Gleichgültigkeit gegenüber den anderen zu flüchten. Auch das Sich-widersprechende und Sich-widerstreitende, in keinem übergeordneten Standpunkt und Sprachspiel zu Harmonisierende, soll Autor gegen das Vielerlei von »monothematischen« sowie gegen Diskontinuitäten allzu sehr dramatisierende Gegenwartsdiagnosen. In Abgrenzung von diesen Typen plädiert er für einen komplexeren Ansatz, der »Kontingenz« als theoretischen Grundbegriff einer philosophisch reflektierten, soziologischen Zeitdiagnostik etabliert und die historisch und kulturell variable Sensibilität und Offenheit für Kontingenz zum Prüfstein für »Modernisierung« und »Modernität« macht. Ich nehme es hier schon vorweg: »Personale Identität« im noch zu erläuternden Sinn bezeichnet eine zutiefst von gesteigerter Kontingenz, Kontingenzbewusstsein bzw. einer Art Kontingenzgefühl geprägte, mithin überaus dynamische Struktur oder Form der kommunikativen Selbstbeziehung von Personen, die sich und ihre Welt in einem eminenten Sinn als nicht festgelegt erleben und als offene Struktur reflektieren (müssen). 4
Einen anspruchsvollen, mit Ludwig Wittgensteins Konzept des »Sprachspiels« verwobenen Begriff der »Heterogenität« (und des »Widerstreits«, le différend) entfaltet: Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, München: Fink, 1989. Die sich aus diesem Konzept unweigerlich ergebende Frage nach der Inkommensurabilität von Lebensformen und Sprachspielen erörtert etwa Rosa, Hartmut: »Lebensformen vergleichen und verstehen. Eine Theorie der dimensionalen Kommensurabilität von Kontexten und Kulturen«, in: Handlung Kultur Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften 81 (1999), S. 10-42; vgl. zu diesem Problemkomplex vgl. auch Liebsch, Burkhard: Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit – Differenz – Gewalt, Berlin: Akademie Verlag, 2001; Jaeggi, Eva: Kritik von Lebensformen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2013.
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in der komplexen Einheit einer Gesellschaft aufgehen, die – darin sind sich viele einigermaßen einig – die Menschenwürde achtet, die Freiheit und Gleichheit aller schätzt, Gerechtigkeit und Solidarität anstrebt und all das auch rechtlich verbrieft. Diese (keineswegs leicht miteinander zu vereinbarenden) Werte und Prinzipien respektieren jedenfalls alle liberalen, demokratischen Gesellschaften – unabhängig davon, wie sie die »leeren Signifikanten« (Würde, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Brüderlichkeit, Toleranz etc.) konkret auslegen und in der Politik, in der Wirtschaft, im Recht, in der Bildung und anderen Subsystemen praktisch wirksam werden lassen.5 Für jene »Moderne«, welche (auch in normativer Perspektive) auf liberale Demokratien fokussiert, ist – unabhängig von sonstigen Merkmalen – das Prinzip radikaler Pluralität konstitutiv. Das etwa von John Rawls (2003) philosophisch geadelte »Faktum des vernünftigen Pluralismus« verweist auf politische Ordnungen, die die Gedanken-, Gewissens- und Meinungsfreiheit aller Bürger schätzen und schützen (wozu auch die Religionsfreiheit gehört). Man muss nicht in kantianischer Tradition stehen, um dem beizupflichten. Zu Recht sprechen Jocelyn Maclure und Charles Taylor von einem in allen liberalen Demokratien etablierten, die Pluralität heterogener Weltbilder und Lebensformen schützenden Regime der Laizität.6 Laizität dient generell als allgemeiner Wert und regulativer Leitfaden für die friedfertige Gestaltung von modernen Gesellschaften, deren Angehörige »einer Pluralität von Weltbildern und Vorstellungen des Guten anhängen, ob diese nun religiös, esoterisch oder säkular sind«.7 Es geht in laizistischen Ordnungen – abgesehen vom antifundamentalistischen Grundkonsens und den diesem Grundsatz verpflichteten allgemeinen und elementaren Rechten – also nicht gegen oder für ein bestimmtes Weltbild und eine dazu passende Lebensform, sondern um deren Vielfalt und ihre auch durch die Neutralität des Staates 5
Darauf kommt es am Ende freilich an, da sich im Namen der Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit oder auch der Gerechtigkeit, Anerkennung und Toleranz alles Mögliche fordern und unternehmen lässt – auch allerlei Scheußlichkeiten, wie sich hernach, nachdem den großen Worten monströse Taten gefolgt sind, vielfach gezeigt hat in der Geschichte der Menschheit. Zum Begriff des »leeren Signifikanten«, wie er hier verwendet wird, vgl. Gatzemeier, Ulrike: Konflikt, Nation, Narration. Entwürfe des politisierten Selbst. Eine diskurs- und biographieanalytische Studie zum ›SichEreignen der Nation‹, Serbien 1987-1989, Bochum: Westdeutscher Universitätsverlag, 2015 (in Vorbereitung), insb. Kap. A.1 und A.2, wo Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes politische Psycho-Philosophie und Sozialtheorie detailliert rekonstruiert und konstruktiv ausgelegt werden.
6
J. Maclure/Ch. Taylor: Laizität und Gewissensfreiheit, S. 39ff.
7
Ebd. , S. 11.
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zu gewährleistende Gleichwertigkeit. Das kann man feststellen, obschon Laizität – wie Maclure und Taylor darlegen – kein »klares und eindeutiges Prinzip ist, das überall auf dieselbe Weise angewandt werden müsse«8 – trotz der von den Autoren erörterten geläufigen Bestimmungen, an denen natürlich ausnahmslos etwas dran ist. Genauer betrachtet ist Laizität ein höchst komplexes Konzept und Prinzip, das Maclure und Taylor begrifflich in »eine Reihe von Zwecksetzungen und institutionelle Arrangements« zerlegen.9 Zentral für diese Regierungsform sind nach ihrer Auffassung zweierlei Zwecke oder Ziele, deren Verwirklichung zwei Verfahren dienen (die man nicht durcheinanderbringen sollte, vor allem dann nicht, wenn man Ziele und Instrumente nicht verwechseln und so die bloßen Mittel vielleicht unbemerkt selbst zu Zwecken erheben will und dadurch fetischisiert):10 Da gibt es die beiden laizistischen Oberziele namens »Achtung der moralischen Gleichheit der Individuen« sowie »Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit«, die durch die Verfahren (institutionellen Arrangements) der Trennung von Staat und Kirche sowie der Neutralität des Staates gegenüber Religionen und anderen Weltanschauungen erreicht werden sollen. Diese Prinzipien und Verfahren sind notwendige Grundlagen liberaler Demokratien; sie sind konstitutiv für diese Regierungsform.11 Und so halten sich moderne Staaten dieses Typs im Allgemeinen auch daran, selbst wenn sie in Einzelfragen zu unterschiedlichen Antworten gelangen (die ihren Ausdruck auch in den Gesetzen finden). Sie alle bilden ein »Regime der Laizität«,12 dessen Neutralitätsprinzip es verbietet, irgendwelche Gläubigen oder Ungläubigen, also irgendwelche religiös, spirituell oder esoterisch orientierten ebenso wie säkular, atheistisch oder agnostisch eingestellten Personen, zu bevorzugen oder zu benachteiligen (oder gar als Menschen erster und zweiter Klasse zu behandeln). Das mag nicht durchgängig 8
Ebd.
9
Ebd.
10 Diese stets drohende Verwechslung zu vermeiden, ist eines der Hauptanliegen von Maclure und Taylor – neben dem Bemühen, überhaupt einmal klar zu sagen, was man unter dem Begriff der Laizität verstehen könnte. Prinzipien und Verfahren (zu denen auch die Gewaltenteilung gehört) können, auch das ist ein wesentlicher Punkt, einander nicht nur dienen und sich wechselseitig befördern (im Sinne des angegebenen Zweck-Mittel-Verhältnisses), sondern sich auch in die Quere kommen und einander ›aushöhlen‹ (vgl. dazu ebd., S. 35-36); die in verschiedenen Ländern unterschiedlich ausgetragene »Kopftuchdebatte« etwa zeigt das. 11 Ebd., S. 30ff. 12 Ebd., S. 17ff.
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perfekt klappen (wie etwa ein Kalender zeigt, dessen Fest- und Feiertage offenbar den Christen gewisse Vorteile verschaffen, die Juden oder Muslime oder Hindus oder Buddhisten, denen am lebenspraktischen Vollzug ihrer religiösen Überzeugungen gelegen ist, nicht so einfach genießen können, solange sie sich strikt an diesen Kalender halten müssen. Analog trifft das natürlich auf andere Kalender zu). Im Großen und Ganzen gilt und funktioniert das Neutralitätsprinzip (vor allem wenn man mit Ausnahmeregelungen flexibel umgeht, so dass auch die existenziell bedeutsamen Belange der religiösen und sonstigen Minderheiten in einer Gesellschaft hinreichend Beachtung finden). Es ist klar, dass jede laizistische Politik auf Spannungen, Konflikte und Krisen antwortet, die mit der erheblichen Vielfalt teils heterogener Grundüberzeugungen (philosophischer oder moralischer, religiöser oder säkularer Art) zusammenhängen. Das stellt moderne Gesellschaften auf Dauer vor neue Herausforderungen. Gegenüber früheren Jahrhunderten geht es heute um eine radikalisierte oder vertiefte Haltung der Toleranz,13 die speziell gegenüber vormals ausgeschlossenen oder marginalisierten Minderheiten sensibel ist und darauf achtet, dass alle zu ihrem Recht kommen und ihre Überzeugungen hegen und auch leben können (zur Not auf der Grundlage von schwierigen Ausnahmeregelungen). Eine laizistische Ordnung führt in liberalen, demokratischen Gesellschaften also keineswegs zur Verdrängung oder Beseitigung religiöser Weltanschauungen und Lebensformen, sondern zu ihrer Situierung in einem pluralistischen Feld heterogener moralischer Orientierungen und Praktiken, die allesamt anerkannt werden (sollen) und den Schutz des Staates genießen. Man kann das Regime der Laizität nun allerdings enger oder weiter auslegen und entsprechend »strenger« bzw. »rigider« oder aber »offener« bzw. »weicher« führen. Die (mit multikulturellen14
13 Vgl. hierzu etwa Bobbio, Norberto: Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin: Wagenbach, 1998; Walzer, Michael: Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz (mit einem Nachwort von Otto Kallscheuer), Hamburg: Rotbuch-Rationen, 1998. 14 In der »Multikulturalität« sehen sie zuvorderst jene faktische Diversität und Heterogenität von Sprachspielen, Lebensformen und Weltbildern, die aus zahlreichen (Einwanderungs-) Gesellschaften nicht mehr wegzudenken ist. Zu Taylors um Anerkennungsprobleme kreisenden normativen Konzept des »Multikulturalismus« siehe auch Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M.: Fischer, 1993. Dieser Begriff besagt in Kanada etwas ganz anderes als etwa in Frankreich oder Deutschland (was die Verständigung auch in wissenschaftlichen Debatten mitunter stark belastet, in öffentlichen und politischen ohnehin). Zur Geschichte und zum Begriff des Multikulturalismus vgl. auch die Untersuchungen von Heins, Volker:
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Gesellschaften wohl vertrauten) kanadischen Autoren grenzen ein rigides »republikanisches« von einem weicheren, im engeren Sinn »liberalen« oder »pluralistischen« Modell ab. Dieser Punkt berührt die Unterscheidung verschiedener Typen des Selbst unmittelbar, letztlich auch die Frage, inwieweit Personen mit religiösen Orientierungen tatsächlich als gleichwertig und gleichberechtigt anerkannt sind. Dem republikanischen Modell werfen sie nämlich vor, tendenziell dogmatisch und im Grunde genommen – zumindest unterschwellig – mit einer »säkularistischen«, also partikularen und dennoch als universalistisch ausgegebenen Weltanschauung liiert zu sein. Diese Bindung führe unweigerlich zu einer Schwächung der vermeintlichen Neutralität des Staates (und mache namentlich religiösen Gruppen mitunter das Leben schwer). Sie sorge (nolens volens) für eine Stabilisierung der in westlichen Gesellschaften ohnehin starken Vormachtstellung des – wie Taylor an anderer Stelle sagt und eingehend erläutert – »abgepufferten«, soll heißen: des desengagierten, distanzierten, disziplinierten, privatisierten, individualisierten und intimisierten, möglichst autarken und autonomen, in (tendenziell abgeschlossener) Immanenz existierenden rationalen Selbst.15 Diese geschichtsmächtige Ausgabe des ›neuzeitlichen Menschen‹ präsentiert sich, wie Taylor (im Einklang mit vielen anderen) darlegt, bis heute als ein (möglichst weitgehend) auf (Zweck-) Rationalität, kalkulierende Kontrolle und
Der Skandal der Vielfalt. Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus, Frankfurt a.M./New York: Campus, 2013. 15 Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009, z.B. S. 234ff., 526-527, S. 899ff; vgl. außerdem ders.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994, sowie, Rosa, Hartmut: »Is There Anybody Out There?«, in: Michael Kühnlein/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011, S. 15-43. Zum Konzept des (von Taylor in Abgrenzung von gängigen Konzepten der »Säkularisierung« sehr ausführlich charakterisierten) »säkularen Zeitalters« sowie des in dieser Epoche allgemein verbindlichen »immanenten Rahmens« vgl. ders.: Ein säkulares Zeitalter, S. 899ff., wo auch klar gemacht wird, dass es offenere oder abgeschlossenere Konzepte der Immanenz gibt. Erstere zeigen sich gegenüber Transzendenzerfahrungen aufgeschlossen, während es für die zweiten schlechterdings kein Jenseits gibt und auch sonst nichts Übernatürliches geben kann (wie z.B. ein harter, reduktionistischer und szientistischer Materialismus kompromisslos behauptet, mit erheblichen psychosozialen und mitunter auch gesellschaftlichpolitischen Folgen für die religiös Gläubigen).
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instrumentelle Verfügungsgewalt, kurz: auf Selbstermächtigung eingeschworenes Vernunft- und Handlungssubjekt.16
16 Taylor klärt nicht allein die oben angeführten Prädikate sorgfältig, sondern macht im Übrigen deutlich, dass unter den einzelnen Begriffen (erneut) durchaus Verschiedenes verstanden wird. Was zum Beispiel das Konzept der Selbstermächtigung angeht, fällt etwa Isaiah Berlins Artikulation des Ideals der Freiheit nicht mit Albert Camus’ ›neuem Humanismus‹ zusammen (oder mit der von Taylor erinnerten Position Jacques Derridas; ebd. S. 972ff.). Ganz einzigartig sei schließlich Friedrich Nietzsches Radikalisierung einer Selbstermächtigung, die sich – wie der katholische Christ mit Bedauern feststellt (ebd., S. 978) – »bewußt gegen den allgemeinen Vorteil, den Egalitarismus und die Demokratie ausspricht, denn dies seien alles Hindernisse auf dem Weg zur Selbstüberwindung«. Für Taylor bezeugt Nietzsches ungebremster »Wille zur Macht« einen völligen Bruch »mit den Grundprinzipien unserer Zivilisation« (ebd.). Ob das so ist – oder ob in diese schroff ablehnende Auslegung der ohne Zweifel aggressiven, anti-christlichen Apologie des Willens zur Macht nicht doch auch ein gekränktes katholisches Herz und ein Übermaß an wehrbereiter Kampfeslust im Feld der ›argumentativen Auseinandersetzung‹ hineinspielt, kann hier offen bleiben (vgl. auch Joas, Hans: Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997, hier S. 37ff.). Es gibt bekanntlich interessante alternative Lesarten von Nietzsches Philosophie, die die durchaus produktiven Potentiale eines Denkens gegen und für ›zivilisierende Vernunft‹ herausarbeiten: Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2006, etwa S. 46ff., 72ff., 354ff.; ders.: Gottes Eifer, z.B. S. 212ff., wo Nietzsche zugutegehalten wird, er habe mit herausragender Einsicht und Weitsicht die »religionsphilosophischen Konsequenzen aus der neuzeitlichen Intoleranzkritik« (S. 212) gezogen, und zwar sowohl im Zuge einer »logischen Grundklärung« als auch eines »starken psychohygienischen Projekts […], das dem Abbau des metaphysischen Ressentiments gewidmet« sei (S. 213). In der Summe resultiere ein einzigartiges »kulturtherapeutisches Programm«, dessen von Sloterdijks formuliertes ›Oberziel‹ nicht gerade nach martialischem »Zivilisationsbruch« klingt: »In ausgearbeiteter Form hätte Nietzsches Intervention gegen die klassische Metaphysik und die Ideologie des herrschenden Einen eine Kritik der perspektivischen Vernunft in pluralistischer Absicht ergeben« (S. 213). Auch so kann man Nietzsche lesen und gelangt dabei womöglich in die höchst interessante Position einer Kritik des Ressentiments, aus der sich (motivations-) psychologische bzw. psychodynamische Dimensionen menschlichen Handelns (gerade auch im Feld des Religiösen) erschließen und analysieren lassen, wie das sonst kaum möglich wäre – eine unerledigte Aufgabe, zu der Sloterdijk, fast allein auf weiter Flur, Wichtiges und Anregendes notiert hat. Wie gesagt: Es geht mir nirgendwo um eine detaillierte kritische Prüfung von Taylors Position insgesamt, sondern le-
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Für Taylor ist es offenkundig, dass »die immanente Ordnung das Transzendente also völlig abstreifen [kann]. Es ist aber nicht notwendig, dass es sich so verhält«.17 Nach seiner merklich vom Katholizismus geprägten Auffassung zahlen abgeschlossene immanente Ordnungen, gerade weil sie Transzendenz und damit Religion aussperren und als vermeintlich zutiefst irrationale Angelegenheiten desavouieren, einen hohen Preis. Diesen Preis analysiert Taylor auch noch an einigen Stellen ›weit hinter dem Komma‹:18 Rigide, gegen Transzendenz abgedichtete immanente Überzeugungssysteme könnten unsere (nicht nur mit Vernunftgründen und argumentativen Begründungen, sondern auch mit Gefühlen und Empfindungen verwobenen) moralischen und ästhetischen Erfahrungen in ihrem Reichtum und ihrer Tiefe nicht angemessen verständlich machen. Sie versagten sogar prinzipiell und generell dabei, unsere kreative Urteilskraft und Handlungsfähigkeit in vollem Umfang zu begreifen und zu plausibilisieren. Ich lasse diese (mich nicht überzeugende) Argumentation ebenso dahingestellt wie Taylors manchmal durchscheinenden kulturkritisch-katholischen ›Konservativismus‹.19 diglich um einzelne, im vorliegenden Zusammenhang aufschluss- und hilfreiche Aspekte seines Denkens; auch die gibt es zuhauf. 17 Ch. Taylor: Ein säkulares Zeitalter, S. 906. 18 Ebd., S. 994ff. 19 Der gottesgläubige Philosoph kann es sich im Grunde genommen – obwohl er zweifellos ein Meister der Perspektivenübernahme und ein Musterbeispiel für eine in hohem Maße anerkennende und tolerante Haltung anderen und Fremden gegenüber ist – einfach nicht anders ausmalen, als dass ein Leben in abgeschlossener, purer Immanenz mit einer quälenden »Leere« und schrecklichen »Kälte« aufwartet. Diese ziemlich armselige, gruselige und deprimierende, ja (angeblich sogar) »traumatisierende« (ebd., S. 979) Atmosphäre verwandle den von Gott ›befreiten‹ Raum in eine zutiefst »sinnlose« Welt, der es, so Taylor, am »höchsten Gut« gebricht – was, wie auch die vielen anderen (angeblich) damit einhergehenden »Verluste« und »Versagungen«, eigentlich nicht wirklich gewünscht und gewollt sein könne und tatsächlich schwer auszuhalten sei. Vgl. im Zusammenhang des religiös geprägten Lamentos über den über die Vielen hereingebrochenen »Sinnverlust« auch die interessanten, aber erneut streitbaren Überlegungen zum für Taylor so wichtigen »Streben nach Ganzheit« (ebd., S. 1014ff.) oder auch Taylors (teilweise etwas oberflächliche) Kritik der psychotherapeutischen oder psychoanalytischen Behandlung von (im Therapiejargon zu individuellen »Krankheiten« oder, was keineswegs dasselbe ist, zu »Störungen« erklärten) Leiden an »Sinnkrisen« (ebd., S. 1028ff.). Was nun solche »Sinnkrisen« oder »Sinnverluste« angeht (die ich keineswegs völlig in Abrede stellen will, aber auch nicht zum übergeneralisierten Dauerzustand ›des‹ modernen Menschen erklären würde): So
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Taylor verkennt nicht die Attraktivität der äußerst wirkmächtigen kulturellen Narrative von der Selbstermächtigung des Menschen (es gibt sie in mehreren Versionen).20 Was ihn jedoch interessiert und irritiert, ist die gut dokumentierte Tatsache, dass diese Erzählung oft ein »axiomatisches Merkmal der Moderne« transportiert, das mitnichten als ›nackte Tatsache‹ gelten dürfe. Die (rationalistische oder voluntaristische) Erzählung von der auf seine Vernunft oder seinen Willen gestützten Selbstermächtigung des Menschen hält Taylor für einen wesentlichen Bestandteil einer Gesamtdeutung der Moderne, »die dieses Zeitalter als abgeschlossene immanente Ordnung« präsentiere.21 Stets seien dabei »abgeschlossene Weltstrukturen« (AWS) im Spiel. Man könnte auch von impliziten, voreingenommenen ontologischen Annahmen oder einfach von Vorurteilsstrukturen im Sinne der philosophischen Hermeneutik sprechen,22 Strukturen mithin, die etwas verbärgen oder verschleierten. Solche AWS erweckten nämlich »den (falschen) Eindruck, diese Deutung der Moderne sei selbstverständlich, unanfechtbar, axiomatisch«.23 Die (verschiedenen) Selbstermächtigungsgeschichten liefen dabei allesamt auf die zutiefst normative, moralisch und politisch höchst folgenreiche Vorstelschlimm war und ist es für viele nun auch wieder nicht. Was speziell Gott betrifft (den christlichen im Besonderen): Da muss man kein frohlockender Nietzscheaner sein, um augenzwinkernd mitzuteilen: Vielleicht gab und gibt es für nicht wenige Leute Schlimmeres im Leben als die vielfach vergeblich gewordene Suche nach Gott (in einem durch Fragilisierung geprägten Dasein). Man lese zum Beispiel die auch autobiographisch geprägte, im Kern aber sehr sachliche Kritik des Christentums und seiner fahrlässigen Behauptungen und unglaubwürdigen Dogmen, die ein anderer (auch religionsgeschichtlich äußerst bewanderter) Philosoph zum Anlass seines Abschieds vom Christentum genommen hat: Flasch, Kurt: Warum ich kein Christ bin, München: Beck, 2013. Wer die in Kapitel IX gegebene Antwort auf die Frage studiert, »wie es sich anfühlt, kein Christ zu sein«, kann nachvollziehen: nicht unbedingt schlecht und »jedenfalls anders als Prediger behaupten« (ebd., S. 254), auch anders, als Taylor in übergeneralisierenden Ferndiagnosen insinuiert (obwohl es einigen nachweislich so oder so ähnlich geht, wie Taylor sagt – aber wie vielen?). Man muss Vorsicht walten lassen, wenn man den Übergang von (empirisch fast immer etwas ›wackeligen‹) Gegenwartsdiagnosen zu weltanschaulichen Stellungnahmen und purer Interessenpolitik nicht allzu glatt machen möchte. 20 Vgl. zusammenfassend: Ch. Taylor, Ein säkulares Zeitalter, S. 982ff. 21 Ebd., S. 982. 22 Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr, 1960. 23 Ebd., S. 982-983.
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lung hinaus, das neuzeitliche Vernunft- und Handlungssubjekt repräsentiere einen ›erwachsen‹ gewordenen, mündigen Menschen, der aufgeklärt, also mit glasklarem Blick, unbestechlichem Scharfsinn und unerschrockenem Mut auf sich und seinesgleichen blicke – und uno actu auf die ein wenig erbärmlichen ›Vorstufen‹ in der soziokulturellen Evolution des Menschen herabsehe, auf die Gottesgläubigen vor allem, die religiösen und spirituellen Menschen eben, zu denen natürlich immer noch eine Heerschar zurückgebliebener Zeitgenossen zähle. Die von Taylor sezierte AWS beinhalte also eine normative Hierarchisierung, bei der die religiös Gläubigen stets schlecht abschneiden. Selbst in der schon in die Tage gekommenen wissenschaftlich-technischen Welt der Neuzeit glaubten diese ›zurückgebliebenen Naivlinge‹ und ›realitätsflüchtigen Feiglinge‹, so wird ihnen oft mit Hohn und Spott vorgehalten, noch immer an die Existenz Gottes, redeten mit Engeln oder fürchteten den Teufel und andere Fabelwesen aus dem Haushalt einer ›kindlichen‹ Vorstellungswelt, in der sich seit langem nur noch verängstigte oder verwirrte Seelen aufhielten. Das ganz der Immanenz verpflichtete Selbstermächtigungsnarrativ des besagten Typs ist, wie Taylor zurecht kritisiert, an eine teils grobe, teils subtile Abwertung des religiösen Glaubens gekoppelt und hält ihn im Grunde für ein zum Aussterben verurteiltes Phänomen aus den Kindertagen der Menschheit. Dieser Glaube habe in der wissenschaftlich-technischen Welt mehrfach abgepufferter Vernunft- und Handlungssubjekte, die es in einem »von Sinn und Wert entleerten« Dasein aushalten müssten (selbst wenn sie mitunter klagen und jammern mögen), eigentlich nichts mehr verloren.24 Unabhängig davon, dass – wie Taylor meint – dieser axiomatische Dogmatismus eines solchen Welt- und Selbstbildes borniert, inkohärent und kritikbedürftig sei und einer wahrhaft pluralistischen Auffassung Platz machen sollte, in der auch der religiöse Glauben seinen legitimen Ort als keineswegs anachronistische ›Option aus vormodernen Zeiten‹ habe, weist der bekennende Christ also darauf hin, dass rigide Auslegungen der Laizität unweigerlich mit der Konzeption eines abgepufferten, in einer rein immanenten Welt hausenden Selbst verbandelt seien und diesem stillschweigend eine Vorrangstellung einräumen, die seine längst etablierte Vormacht bestätige und verstärke. Das beißt sich offenbar mit der (im Sinne Maclures und Taylors verstandenen) laizistischen Idee, dass der Staat einer liberal-demokratischen, wirklich pluralistischen Gesellschaft alle Optionen gleich zu behandeln habe. Er solle allenfalls dem – zwar auch nicht gänzlich neutralen, aber in diesem Typ von Gesellschaft doch konsensfähigen – überwölbenden Wert treu sein, wonach das einzige Fundament des politischsozialen Lebens ein konsequenter Anti-Fundamentalismus sein könne. 24 Ebd., S. 981ff.
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Unter dem Gesichtspunkt der durch die angestrebte Neutralität des Staates zu gewährleistenden pluralistischen Ordnung ist es nach Taylor also wichtig einzusehen, dass das grob charakterisierte Vernunft- und Handlungssubjekt (offen oder verdeckt) auf religiöse Überzeugungen, Orientierungen und Praxen herabschaue und den Glauben im Grunde genommen als eine rückständige, irrationale, sogar vernunftwidrige oder vernunftfeindliche Option abstemple (die man ›eigentlich‹ sogar zu bekämpfen habe). Genau diese despektierliche Abwertung sei nun gerade nicht im Sinne eines wohlverstandenen Prinzips der Laizität (im Sinne des radikal pluralistischen Modells). Sobald sich der Staat diese partikulare und hierarchisierende Sicht alternativer (religiöser und areligiöser) Optionen zu eigen mache (und sei es nur versteckt oder tendenziell), werde es heikel. Just dagegen richtet sich ja die von Maclure und Taylor präferierte, weichere und offenere Auslegung des Prinzips der Laizität in Gestalt jenes tatsächlich liberalen, wirklich auf Vielfalt und Toleranz verpflichteten Modells (das sich vor allem gegenüber Minderheiten und ihren unter Druck stehenden Optionen, ihren bedrängten Lebensformen, bedrohten Sprachen und Sprachspielen, ihren althergebrachten Beziehungsformen und Handlungsweisen etc. – als kulanter und großzügiger erweise, mithin auch religiöse Weltanschauungen im säkularen Zeitalter eher schütze und unterstütze.25 25 Man sollte ergänzen: insofern diese als Randphänomene oder Minderheitenpositionen in der Tat Fürsorge und Solidarität nötig haben, etwa durch den Erlass entgegenkommender »Ausnahmeregelungen« (ebd., S. 81ff.). Es ist evident: Das kann man in der heutigen Welt vom Katholizismus wohl nicht ohne weiteres behaupten. Auf den Islam bezogen, jene monotheistische Weltreligion, welche in manchen Weltengegenden und speziell in ‚westlichen‘ Ländern in jüngerer Zeit erheblich unter Druck geraten ist, gilt das jedoch schon. Bereits die heute allgegenwärtigen, pädagogisch-politischen Bemühungen, auf der Elementarstufe einer religionskundlichen Propädeutik den Islam vom Islamismus zu unterscheiden, zeugen davon. Dabei vergisst sicher niemand, dass auch dieser Monotheismus anderswo politisch extrem mächtig ist und den Alltag der Menschen maßgeblich bestimmt, nicht selten gewaltsam beherrscht. Obwohl man insbesondere allen monotheistischen, abrahamitischen Weltreligionen nicht nur Gewaltpotentiale, sondern eine Geschichte exzessiver Gewaltausübung nachweisen kann – daneben auch anderen Religionen wie etwa dem politisch instrumentalisierten, polytheistischen Hindu-Fundamentalismus –, stimmt es schon, dass der religiöse Glaube im säkularen Zeitalter tagtäglich mit abfälligen Degradierungen und polemischen Angriffen zu tun hat, die für die Gläubigen verletzend und bedrohlich sein können. Allein darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang an, um schließlich darzulegen, wie auch auf der Ebene einer abstrakten Theorie personaler Identität »Bande der Solidarität« zwischen religiös Gläubigen und den diesbezüglich ›Unmusikalischen‹ gewoben
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Bleiben wir noch kurz beim Regime der Laizität und seinen unterschiedlichen Auslegungen, weil hier ja überaus wichtige politische, gesellschaftliche und soziokulturelle Rahmenbedingungen für die unten noch genauer zu erörternde Aufgabe zur Sprache kommen, vor der alle Angehörigen liberaler, pluralistischer Gesellschaften stehen: nämlich eine personale Identität im Sinne einer kontingenten, kontingenzsensiblen und kontingenzbewussten und vor allem auch deswegen offenen, auf Toleranz und Anerkennung von anderen gemünzte Struktur des kommunikativen Welt- und Selbstverhältnisses auszubilden. Interessant ist, dass Maclure und Taylor immer wieder an Beispiele einer laizistischen Politik erinnern, die gemeinhin als »republikanisch«, also zwar als streng und rigide ausgeflaggt wird, aber dennoch Kompromisse macht, die mit den Dogmen des republikanischen Laizismus brechen. So ist Frankreich, das europäische Aushängeschild eines laizistischen Staates, der zum Beispiel »sichtbare« religiöse werden können. Zur Gewaltgeschichte sowie den Gewaltpotentialen vor allem der monotheistischen Weltreligionen vgl. exemplarisch etwa Angenendt, Arnold: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster: Aschendorff, 2008; Assmann, Jan: Die mosaische Unterscheidung, oder: Der Preis des Monotheismus, München: Hanser, 2003; Beck, Ulrich: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a.M./Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2008; P. Sloterdijk, Gottes Eifer. Insbesondere Assmann und Sloterdijk, teilweise auch Beck, sehen die Gewaltpotentiale bereits in der Bibel und anderen »heiligen Schriften« angelegt, also in der (jeder Psycho-, Sozio- und PolitoLogik sowie jeder materiellen Praxis) vorausgehenden und zugrundeliegenden elementaren Logik, einer »Matrix logischer Operationen« sowie einem »Ideal des einwertigen Seins und seiner Spiegelung im wahren Satz«, die den missionarischen Eifer und tatbereiten Furor von Suprematismen, Extremismen und Totalitarismen mindestens ›begünstigen‹: »Das Eiferertum hat seinen logischen Ursprung im Herunterzählen auf die Eins, die nichts und niemanden neben sich duldet. Diese Eins ist die Mutter der Intoleranz. Sie fordert das radikale Entweder, bei dem das Oder gestrichen wird. Wer Zwei sagt, sagt um eins zu viel. Secundum non datur«; P. Sloterdijk, Gottes Eifer, S. 135-136. Auch K. Flasch: Warum ich kein Christ bin, S. 106, teilt diese Einsicht: »Die monotheistischen Religionen brauchen das zugleich universalistische und faktisch-objektivistische Wahrheitskonzept: Da ihr Gott der einzige ist, muß er es für alle sein. Und was sie als sein Wort verkünden, soll für alle gelten. Sie haben ein objektivistisches, realistisches Schema vor Augen: Sie haben, sagen sie auf Nachfrage, ihre Meldungen überprüft. Sie behaupten, sie verfügten über eine lückenlose Liste von Zeugen. Sie beanspruchen die Autorität, ihre Meldungen als wahr zu bestätigen und zu bestimmen, sie seien prinzipiell nicht überprüfbar und dienten der Erprobung des Glaubensgehorsams. Beides ist, zumindest in einigen Fällen, nachweisbar falsch«.
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Symbole in öffentlichen Institutionen strikt untersagt, keineswegs so streng, wie es oftmals klingt. Der französische Staat war im Laufe des 20. Jahrhunderts des Öfteren (auch und gerade in der Rechtsprechung) recht kompromissbereit und erweist sich bis heute als »offen für neue Sensibilitäten und historische Vermächtnisse«.26 Dazu passen auch folgende konkrete Maßnahmen, ihre Implikationen und Konsequenzen (die hier lediglich exemplarisch als Konkretisierungen des Prinzips flexibler Offenheit erwähnt werden): Das Tragen religiöser Symbole zum Beispiel in Schulen wurde in Frankreich 2004 »im Namen der Verteidigung der öffentlichen Ordnung und nicht der Laizität« untersagt (ebd., S. 46). Man braucht sich auch keineswegs – so konstatieren Maclure und Taylor m.E. zu Recht – auf das Prinzip der Laizität berufen, um etwa Lehrerinnen zu verbieten, im Schulunterricht die Burka oder den Niqab zu tragen. Da reicht es vollkommen aus, darauf zu insistieren, dass die Verschleierung des Gesichts eine ungebührliche Distanz zum Schüler schafft und einen pädagogisch wichtigen Teil der nonverbalen Kommunikation unterbindet und allein deswegen, also unter dem (natürlich ebenfalls normativen) Gesichtspunkt erzieherischen Handelns, unzweckmäßig und dysfunktional ist (ebd., S. 61). Man kann die Burka oder den Niqab mit diesem Argument aus Unterrichtsräumen öffentlicher Einrichtungen fernhalten (im Gegensatz zum Hijab) – ohne ihn aus jedweder Art von öffentlichem Raum verbannen zu müssen, wo diese praktische Artikulation eines bestimmten religiösen Glaubens nichts und niemanden ernsthaft stört (im Sinne der Unterbindung zweckgerichteter Handlungen im Rahmen einer kommunikativen, kooperativen Praxis). Gerade letzteres ist aber wichtig in einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft, die mit der allgemeinen Gedanken-, Gewissens- und Meinungsfreiheit auch die Religionsfreiheit gewähren will. Das schließt, will man religiöse Überzeugungen und Praktiken nicht völlig in die Privatsphäre des Eigenheims und der religiösen Institutionen (Kirchen, Moscheen, Gemeindehäuser etc.) verbannen und dort hermetisch abriegeln (was natürlich ohnehin kaum durchführbar ist), die Möglichkeit der öffentlichen Artikulation und Performanz des je eigenen Glaubens ein.27 Die bereits ausführlich zu Wort gekommenen Autoren argumentieren deswegen gegen ein generelles Verbot der Sichtbarkeit religiöser Symbole auch bei Staatsbediensteten und heben in diesem Kontext die schlichte Notwendigkeit ei26 J. Maclure/Ch. Taylor: Laizität und Gewissensfreiheit, S. 46. 27 Zu den hier ins Spiel kommenden verschiedenen Bedeutungen des Wortes und Begriffs »öffentlich« sowie der viel diskutierten Frage, ob, inwieweit bzw. unter welchen Bedingungen das Tragen sichtbarer religiöser (oder anderer weltanschaulicher) Symbole im Staatsdienst gestattet sein solle, vgl. ebd., S. 55ff.
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ner loyalen und unparteilichen, mit einem Wort: einer professionellen Aufgabenerfüllung (einer Lehrerin, einer Richterin, eines Polizisten usw.) hervor. Just diese zweckdienliche, funktionale Professionalität müsse durch eine religiöse Orientierung und deren sichtbare Symbole (ein Kopftuch, eine Kippa, ein Kreuz usw.) keineswegs (zwangsläufig) beeinträchtigt werden. Analoges gelte ja auch für andere persönlich bedeutsame Handlungs- und Lebensorientierungen (etwa für sexuelle Orientierungen). Allerdings ist es nun nicht nur so, dass sich Menschen in ihren professionellen Rollen zwar von ihren eigenen Überzeugungen und Orientierungen distanzieren und ihre Subjektivität ›einklammern‹ oder ›suspendieren‹ können, um eine einigermaßen neutrale Funktionserfüllung zuwege zu bringen. Ebenso bekannt ist, dass bestimmte (seien es religiöse, seien es säkulare) weltanschauliche Überzeugungen und Orientierungen bzw. die Formen ihrer persönlichen Auslegung und Konkretisierung in der alltäglichen (symbolischen) Praxis jedwede Offenheit gegenüber Anderen und anders Lebenden unterminieren und auch deren Offenheit stören oder zerstören können.28 So manches mag zwar zum Problem für die im Staatsdienst geforderte Professionalität werden – vieles muss es aber nicht. Es kann mithin, so argumentieren Maclure und Taylor, nicht darum gehen, religiöse (oder sonstige weltanschauliche) Bindungen jedweder Art völlig aus den öffentlichen Institutionen auszusperren und Menschen dazu anzuhalten, als neutrale Abstrakta zu denken, zu fühlen und zu handeln, sobald sie solche Einrichtungen betreten (auch um ihrem Beruf nachzugehen). Das ist schlechterdings unmöglich. Worum es jedoch geht, ist die Reflexion auf Eigenarten mancher religiöser Überzeugungen und Orientierungen, die es den Gläubigen in der Tat schwer machen, sich professionell zu verhalten. Analoges trifft natürlich, mutatis mutandis, auf andere Weltanschauungen zu. Das Gesagte gilt für fundamentalistische Evangelikale oder nationalistische Hindus ebenso wie für areligiöse Menschen, etwa für allzu eifrige Aufklärer und zornige Rationalisten, dogmatische Szientisten, revolutionäre Marxisten oder auch für frauenverachtende Machos oder militante Feministinnen sowie alle möglichen sonstigen Leute zu, die ganz genau wissen, wo es lang geht auf dem einzig und allein wahren und richtigen Weg (bzw. wo es lang gehen sollte). Solche Akteure, die sich ihrer Sache hundertprozentig gewiss sind, verbergen ihre penetrante Botschaft nicht, sondern kommunizieren sie missiona28 Das kann schon für jede Art von Kleidung gelten, deren kulturell, sozial und personal äußerst verschiedene Wirkungen man in solchen Situationen mit zu bedenken hätte. Ist denn Unterricht in militärischen Uniformen oder priesterlichen Gewändern ›pädagogisch ratsam‹, ist eine Erscheinung in der Kluft eines Hippies, eines typischen Repräsentanten der 68er-Generation oder eines protzigen Bankers ›weltanschaulich neutral‹?
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risch und versuchen sie anderen zu oktroyieren, selbst dann, wenn sie dabei nicht allzu viel reden (sondern sich nonverbaler Mittel der Suggestion und Manipulation bedienen). In allen diesen Feldern gilt, sobald es nach der Gesinnung der religiösen oder areligiösen Suprematisten, Extremisten und zur Totalität eines monologischen Denkens und monolitischen Handelns entschlossenen Menschen geht: Secundum non datur. Man sollte sich nichts vormachen: Auch ›äußerlich nicht uniformierte‹, voll überzeugte liberale Demokraten und rundherum abgepufferte Selbste können Personen sein, die ihre Weltanschauung und Lebensform ungebremst als neutral und offen idealisieren, ohne noch im Mindesten zu sehen, dass der Siegeszug dieses ebenfalls zutiefst normativen und auch hegemonialen, westlichen Modells bereits viele kulturelle Traditionen verdrängt hat und das noch immer tut – was keineswegs harmlos ist, auch wenn es der natürliche Preis jedweder Form von Dominanz ist, auch einer argumentativ begründeten, moralisch reflektierten und womöglich politisch legitimierten ›Überlegenheit‹. Im laizistischen Regime zählt diese (vermeintliche) Überlegenheit nicht, jedenfalls begründet sie keine Beseitigung oder Aushöhlung des für liberal-demokratische Gesellschaften konstitutiven Prinzips und Faktums des vernünftigen Pluralismus. Was die oben angeführten Beispiele betrifft, lässt sich resümieren: Im Grunde genommen sind nicht die sichtbaren Symbole religiöser (oder sonstiger weltanschaulicher) Zugehörigkeit das Problem (und der mögliche Stein des Anstoßes), sondern allenfalls die speziellen (tendenziell dogmatisch verabsolutierten, vielleicht schon fundamentalistischen) Überzeugungen und Orientierungen, mit denen manche Menschen auch in professionellen Zusammenhängen – in den Institutionen eines laizistischen Staates – nicht hinterm Berg halten können oder wollen, sowie die Art und Weise ihrer mehr oder minder doktrinären ›Vermittlung‹. Maclure und Taylor gehen im oben erörterten Punkt – einer nach Graden der Offenheit und Flexibilität unterscheidbaren Auslegung des laizistischen Prinzips – relativ weit, auch wenn das manchmal bedeutet, Minderheiten Sonderrechte einzuräumen, die das Prinzip der Gleichheit zu verletzen scheinen oder zu beschädigen drohen (in Wahrheit jedoch darum bemüht sind, das Prinzip der gleichen Achtung in möglichst gerechter Weise mit dem Prinzip der Gewissens- und damit auch der Religionsfreiheit in Einklang zu bringen). Dieses generöse Votum hängt nun mit dem von Maclure und seit langem schon von Charles Taylor eingehend analysierten Charakter von sogenannten Grundüberzeugungen zusammen (s.u.): Wenn es existenziell wichtig ist, zum Beispiel seine Religion ar-
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tikulieren und praktizieren zu können,29 dann muss auch ein traditionell christlich geprägtes Land Möglichkeiten vorsehen, dass zum Beispiel Juden am Shabbat nicht arbeiten müssen oder Muslime Gebetsräume in der Universität aufsuchen können; oder dass nicht alle aufgrund einer partikularen Tradition gezwungen werden, sonntags die Läden zu schließen und aufs Einkaufen zu verzichten. Natürlich kann man nicht immer allem und jedem gerecht werden – sonst bestünde das Jahr nur noch aus Fest- und Feiertagen und sonstigen Sonderregelungen, und selbst der gebräuchliche Kalender geriete ins Wanken. Außerdem muss man Grundüberzeugungen von oberflächlicheren Interessen, bloßen Vorlieben und vorübergehenden Präferenzen klar scheiden, auch wenn das mitunter ein schwieriges Unterfangen ist (und das Tor für die kalkulierte Instrumentalisierung staatlicher und öffentlicher Toleranz gegenüber – angeblich, vermeintlich oder tatsächlich – existenziell bedeutsamen Überzeugungen und Praktiken weit öffnet).30 Genügend öffentlicher Raum für die vitale Artikulation von Grundüberzeugungen und ein ihnen gemäßes Handeln und Leben ist eine außerordentlich wichtige Angelegenheit im Regime der Laizität. Mit anderen Worten: In diesem Raum muss Platz sein für alle möglichen qualitativen Identitäten von Individuen und Gruppen. Ich komme auf diesen Gesichtspunkt gleich zurück und möchte später auch darlegen, dass dieser Aspekt der qualitativen Identität in der Perspektive einer komplexen Theorie personaler Identität zwar sehr wichtig ist (auch weil er eben entscheidende, mit dem pluralistischen Prinzip der Laizität eng verwobene, politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen moderner Subjektivität fokussiert), aber keineswegs der einzig und allein ausschlaggebende. Er ist nach der hier vertretenen Auffassung sogar keineswegs der springende Punkt, sobald es darum geht, über die Verträglichkeit ›des‹ religiösen Glaubens mit einer strukturtheoretisch begriffenen Konzeption personaler Identität in ei-
29 Und dies haben die Vereinten Nationen 1966 in einem durch die Generalversammlung beschlossenen internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ausdrücklich artikuliert: »Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfaßt die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, deren Unterweisung und Ausübung zu bekunden« (zit. nach J. Maclure/Ch. Taylor: Laizität und Gewissensfreiheit, S. 85). 30 J. Maclure/Ch. Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, S.129ff.
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nem säkularen Zeitalter, das in wichtigen Zügen als ein »Zeitalter der Kontingenz«31 bestimmt werden kann, nachzudenken. Doch dazu gleich! Generell lässt sich erst einmal festhalten: Das in jedem Regime der Laizität begrüßte Faktum des vernünftigen Pluralismus eröffnet oder fördert die Chance, miteinander und nebeneinander zu leben, ohne allzu vorurteilsbehaftet und ressentimentgeladen, gewaltsam oder gar gewalttätig gegeneinander vorzugehen, nur weil die anderen offenbar anders denken, fühlen und handeln als man selbst, anderes begehren, wünschen und wollen und all dies auch auf je eigene Art öffentlich zum Ausdruck bringen. Diese Chance ist alternativlos, solange man – vernünftigerweise – annimmt, dass es keine ausnahmslos für alle nachvollziehbare und verbindliche, verständliche und annehmbare (inhaltlich bestimmte) Konzeption eines guten, gelingenden und erfüllten Lebens gibt. Wer das so sieht, stimmt zu: Dann nämlich bleibt eben nur die übergeordnete politische Koordination, institutionelle Organisation und rechtliche Gewährleistung von Respekt und Toleranz gegenüber anderen, anders lebenden und sich womöglich wechselseitig fremd erscheinenden Menschen. Man muss es diesen anderen – allen anderen, jeder und jedem Einzelnen – eben selbst überlassen, welche Urteile sie fällen und welche Überzeugungen sie hegen, wie sie mithin ihr (moralisches, spirituelles etc.) Leben führen, ihr Dasein und ihr Selbst gestalten möchten. Damit schlägt eben, politisch betrachtet, die Stunde des Laizismus. Ohne Rekurs auf das Regime der Laizität wäre es müßig, über das ›ernste Spiel‹ vielfältiger und in sich differenzierter Identitäten von Personen und Gruppen zu reden. Diese Praxis schließt den allmählichen Wandel und auch den Wechsel der qualitativen Identität einer Person oder Gruppe ein, also kontingente Transformationen und Konversionen in alle möglichen Richtungen in prinzipiell beliebiger, aus pragmatischen und psychologischen Gründen freilich stets begrenzter Anzahl.
31 H. Joas, Glaube als Option, S. 106ff. Kontingenz ist ein universell verwendbarer und zugleich ein zeitdiagnostischer Begriff: »Der Grund ist, dass mir der Begriff der Kontingenz wie kein anderer geeignet erscheint, die Zunahme der Optionen unseres Handelns und zugleich derjenigen Widerfahrnisse in unserem Leben, die sich aus den Folgen der massenhaften Verbreitung der Steigerung solcher individueller Handlungsmöglichkeiten ergeben, zu bezeichnen« (ebd., S. 121).
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G RUNDÜBERZEUGUNGEN UND QUALITATIVE I DENTITÄTEN IM K AMPF UM ANERKENNUNG »Man kann eine andere Staatsangehörigkeit annehmen, aber keine andere Kindheit erleben. Ich kann die ersten 24 Jahre meines Lebens nicht vergessen, entscheidende Jahre, die bewirken, dass ich Frankreich immer auch gleichsam von außen betrachte und dass ich das, was andere der Natur zuordnen, der Kultur zuschreibe. Mitunter fühle ich mich nicht so sehr als Franzose, sondern vielmehr als Bewohner einer Stadt, ja, eines Stadtviertels; dann wiederum als Teil des europäischen Kontinents oder der Welt! Eines weiß ich jedoch genau: Ich möchte nicht, dass ein Ministerium und seine Beamten für mich entscheiden, was ich bin, denke, glaube oder liebe«.32
Die möglichst allgemeine Zustimmung zum radikalen Pluralismus ist, wie oben paradox formuliert wurde, das antifundamentalistische Fundament einer liberalen Gesellschaft. Diese Gesellschaft kann Gewalt in ihren vielfältigen Formen zwar gewiss nicht völlig unterbinden und für immer vertreiben. Sie kann aber zu einer vergleichsweise gewaltarmen Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens zu finden versuchen. Dieses Abenteuer wird zu Recht als Praxis beschrieben, in der um wechselseitige Anerkennung gerungen wird.33 Die friedfertige Koexistenz von Gruppen und Individuen, die aus tiefstem Herzen und innerster Überzeugung alle nach eigener Façon leben und selig werden wollen – Juden, Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten, säkulare Rationalisten, Atheistinnen, Agnostiker, Anhänger der deep ecology, Zeugen Jehovas, amish people, (Neo-) Sannyasins, Vegetarierinnen, Veganer, Nudisten usw. usf. – lässt sich, wie dargelegt, in laizistischen Ordnungen einigermaßen gut organisieren (wie anspruchsvoll das auch sein und wie schwierig es auf ewig bleiben mag). Eine laizistische Politik sorgt dafür, dass verschiedene, auch heterogene und unvereinbare Grundüberzeugungen im Rahmen der gegebenen (institutionellen, insbesondere rechtlichen) Ordnung gleich viel gelten wie die Menschen, die sie vertreten und die nach ihnen leben möchten, auch in Taylors Sinn eines Strebens nach
32 T. Todorov, Die Angst vor den Barbaren, S. 273. 33 Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992; Todorov, Tzvetan: Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, Berlin: Wagenbach, 2006; die psycho-politische Struktur und Dynamik dieses anthropologischen Grundbedürfnisses, dem bekanntlich Georg W.F. Hegel schon besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht hat, analysiert vor allem P. Sloterdijk: Zorn und Zeit.
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dem Schönen und Guten, vielleicht sogar nach dem ihres Erachtens jeweils höchsten Gut. Solche Grundüberzeugungen bilden zentrale Bestandteile der qualitativen Identität von Personen. Darunter verstehe ich – im Unterschied zu einem rein formal- bzw. strukturtheoretisch bestimmten Identitätsbegriff (s.u.) – die (niemals vollständig erfassbare) Gesamtheit aller ›inhaltlich‹ bestimmbaren Überzeugungen, Werte, Wissensbestände, Glaubenssätze, Meinungen, Einstellungen, Orientierungen, Interessen, Wünsche, Motive, Gefühle, individuellen Eigenarten und Eigenschaften, sozialen Rollen und Funktionen, die eine Person charakterisieren, sowie die mit all dem verwobene, in soziale Beziehungen, gesellschaftliche Institutionen sowie kulturelle Traditionen eingebettete Handlungs- und Lebenspraxis dieses Menschen, mithin sein praktisches Selbst- und Weltverhältnis sowie das bewusste Selbst- und Weltverständnis eben dieser Person. Qualitative Identität ist ein (theoretisch nicht sehr anspruchsvoller) Sammelbegriff für all das, was das Dasein eines Menschen im Wesentlichen so ausmacht. Der Einfachheit halber ist im Folgenden lediglich von der Identität einer Person, nicht von kollektiver Identität die Rede (die im Prinzip in ähnlicher, analoger Weise inhaltlich qualifiziert werden kann).34 Die qualitative Identität lässt sich also als pragma-semantisches Netzwerk von ›Prädikaten‹ artikulieren – stets nur selektiv und fragmentarisch, versteht sich. Solche Prädikate geben Aufschluss darüber, was jemand denkt, empfindet, fühlt, wünscht und will und tatsächlich so tut den lieben langen Tag, erinnert und vorhat, bedauert und befürchtet, wie jemand sich und seine Welt erlebt, sieht und mitgestaltet im Wandel der Zeit. Jede qualitative Identität hat eine Genese und Geschichte, die Personen (aus ihrer Perspektive, zumindest teilweise) erzählen können (je nach Anlass und Situation sowie in Abhängigkeit vom aktuellen Stand ihrer Erfahrungen und Erwartungen immer wieder neu und anders). Niemand kann jedoch seine qualitative Identität ›frei erfinden‹, jedenfalls nicht als 34 Vgl. zu dieser und anderen elementaren Unterscheidungen Straub, Jürgen: »Identität«, in: Friedrich Jäger/Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart: Metzler, 2004, S.277-303; ders.: »Identität«, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch der Kulturphilosophie, Stuttgart: Metzler, 2012, S. 334-339; ders.: Theorien der Identität, Hamburg: Junius, 2015 (immer noch in Vorbereitung). Ich fasse hier nur das dort genauer Ausgeführte zusammen und ergänze bzw. vertiefe es im Hinblick auf das hier behandelte Thema, nämlich letztlich auf die Frage nach einer im säkularen Zeitalter der Kontingenz nicht anachronistischen (angepassten, funktionalen und dabei zugleich Autonomie gewährenden) Form oder Struktur der kommunikativen Selbstbeziehung einer Person, sei sie nun religiös oder nicht.
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eine vom Urteil und Kommentar der anderen unabhängige ›Konstruktion‹. Auch der willkürlichen Veränderung der qualitativen Identität einer Person sind klare Grenzen gesetzt. Menschen können sich nicht auf Beschluss und nach Belieben ›völlig verwandeln‹. Eine Person mag sich in einer oder mehreren Hinsichten ändern (die Haare wachsen lassen; einen unerfüllbaren Wunsch endlich aufgeben; neue Interessen entwickeln und ihnen nachgehen; ein andere störendes Verhalten unterlassen usw.). Eine vollständige Verwandlung ist jedoch kaum möglich, da die Identität einer Person nicht etwas dieser Person Äußerliches ist (wie ihre Kleidung oder andere Gegenstände). Transformationen und Konversionen qualitativer Identität sind notwendig selektiv und partiell. Irgendwelche Änderungen sind im Laufe des Lebens freilich unumgänglich. Davon zeugen die autobiographischen und episodischen Erzählungen, die unseren Alltag bevölkern. (Narrative und sonstige) Selbstthematisierungen zum Zweck der Artikulation qualitativer Identität referieren auf außerhalb dieser Selbstthematisierung ›lokalisierte‹ (materielle, soziale, kulturelle, psychische) Sachverhalte (auf Situationen, Personen, Ereignisse, Entwicklungen etc.). Deren Repräsentation (im Sinne einer sprachsymbolischen oder bildlich-präsentativen Vergegenwärtigung) ist mit Geltungsansprüchen verwoben und letztlich auf die Zustimmung von anderen – irgendwelchen anderen zumindest – angewiesen. Alle anderen werden niemals zustimmen, so dass Artikulationen und Repräsentationen qualitativer Identitäten stets umstritten sind, Anlass und Bezugspunkt für Auseinandersetzungen und Aushandlungen, vorübergehende Interaktionskrisen und anhaltende soziale Konflikte. Festzuhalten ist: Niemand kann sich und seine Welt völlig willkürlich ›konstruieren‹ und repräsentieren, also im Sinne einer idiosynkratischen kognitiven Komposition und symbolischen »Stellvertretung« von Gewesenem, Gegenwärtigem oder (imaginativ, extrapolierend, prognostizierend) Vorweggenommenem. Niemand kann auf Dauer eine (Selbst)-Geschichte auftischen, mit der kein anderer Mensch auch nur das Geringste anfangen kann. Soziale Beziehungen und persönliche Bindungen lassen sich so jedenfalls nicht lange aufrechterhalten, auch kein geteilter symbolischer Raum für gemeinsames, koordiniertes Handeln. Wer mit seinen Selbstthematisierungen keinerlei berechtigte Ansprüche auf Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Richtigkeit (im Sinne der von Jürgen Habermas differenzierten Geltungsansprüche35) verknüpfen kann, ist schnell allein und bleibt in die sonst niemandem zugängliche Welt eines einsamen Subjekts eingeschlossen. Die Beantwortung der temporal komplexen Frage, wer eine Person (geworden) ist, wer sie morgen sein möchte und vielleicht sein wird, hängt auch von den anderen ab, die in das (sprachliche und symbolisch 35 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981.
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vermittelte) Handeln und Leben dieser Person ›hineinspielen‹. Diese anderen wirken auch an der (nachträglichen oder vorausschauend-imaginativen) Beschreibung und (hermeneutischen) Erklärung, Plausibilisierung und Rechtfertigung des je eigenen Lebens einer Person mit. Sie zeichnen das entstehende und in stetigem Fluss befindliche Bild der qualitativen Identität einer Person mit (und sie ›unterzeichnen‹ es oder eben nicht, bestätigen, korrigieren oder verwerfen es). Die qualitative Identität einer Person ist, mit anderen Worten, kein refizierbares Substrat (keine objektivierbare Substanz oder Entität), sondern das ephemere Ergebnis kommunikativer Selbst- und Fremdzuschreibungen. Sie ist eine stets variable, mitunter recht ›wilde‹ Mischung aus solchen Zuschreibungen, mithin ein grundsätzlich relationaler symbolischer Tatbestand. Die Antwort auf die qualitative Identitätsfrage – »Wer bin ich (geworden), wer möchte ich und wer werde ich wohl sein in naher oder ferner Zukunft«? – ist temporal und sozial überaus komplex, sie ist stets ein kontingentes, nur vorläufiges Resultat jenes vielstimmigen Gesprächs, welches das menschliche Leben als eine symbolisch vermittelte Praxis nun einmal ist. Was diese Antwort jeweils besagt, lässt sich bei Bedarf nach verschiedenen Gesichtspunkten ordnen. Geläufig sind etwa Einteilungen in zentrale (persönlich sehr bedeutsame) und periphere (subjektiv weniger wichtige) Identitätsprädikate. Alle qualifizierenden Adjektive und sonstigen Prädikate lassen sich soziokulturell geläufigen Handlungsfeldern und Lebensbereichen oder aber Dimensionen der Personalität eines Menschen zuordnen. Ganz in diesem Sinne sprechen wir dann zum Beispiel von der »Berufsidentität«, von diversen »Rollenidentitäten« oder der »Geschlechtsidentität« einer Person, ihrer »körperlichen« oder »ethisch-moralischen«, »ästhetischen« oder »religiös-spirituellen« Identität. Egal wie wir den ›Gesamtkomplex‹ gliedern und ordnen, stets geht es um qualifizierende deskriptive und hermeneutische Zuschreibungen von Merkmalen, Eigenschaften und anderen Eigenheiten einer Person. Als besonders wichtig wurden oben die von Taylor so genannten Grundüberzeugungen herausgestellt, die in der Tat stets zum Kern der qualitativen Identität einer Person gehören. Genau deswegen können wir nun sagen: Wenn Menschen nicht nach ihren Grundüberzeugungen leben und handeln dürfen (oder können) – weil zum Beispiel staatliche Verbote und Kontrollen bestimmte Weltbilder, Lebensformen und Sprachspiele unterbinden, zumindest drastisch reglementieren und einschränken –, dann werden die Betroffenen (mitunter massiv) unter dieser Begrenzung leiden. Das gilt in verschärftem Maße dann, wenn zur politischinstitutionellen Benachteiligung und Unterdrückung die praktische Intoleranz einer Majorität hinzutritt, die die Minderheit in einem von Gängelung und Herab-
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lassung, Missachtung und Verachtung, Diskriminierung und Exklusion geprägten Alltag das Fürchten lehrt. Will man im laizistischen Regime liberaler Gesellschaften allen möglichen qualitativen Identitäten wirklich Räume für ihre öffentliche und private Artikulation zugestehen, kann das heißen – weil sich solche Identitäten auch in allerlei Symbolen anzeigen und manifestieren –, dass man solche sichtbaren Symbole – wie oben ausgeführt – öffentlich zulassen und tolerieren sollte, selbst wenn einem das, was sie symbolisieren, gleichgültig oder fremd oder sogar unsympathisch und nicht ganz geheuer sein mag. Ein Kopftuch oder eine Kippa sind eben nicht ›irgendwelche Kopfbedeckungen‹ wie eine wärmende oder modische Mütze (obwohl Kopftücher nicht unbedingt mehr sein müssen).36 Freilich kann auch die Mütze oder Kapuze eines Rappers weit mehr ›sein‹ als ein modisches Accessoire. Auch hier werden unter Umständen Zeichen gesetzt und Dinge gezeigt, die ein Weltbild und eine Lebensform zum Ausdruck bringen: starke Werte und ebenso starke Bindungen an die Hood etwa, aus der man kommt und zu der man zeitlebens gehört und gehören möchte, mit allen tiefen Überzeugungen, die damit verwoben sein mögen.37 In allen derartigen Fällen sind solche ›Kleidungsstücke‹ oder Körperzeichen (wie der Bart eines Sikh oder Muslim, die Haartracht eines indischen Gurus oder kalifornischen Hippies, die martialischen Piercings eines Punks) integrale Bestandteile einer identitätsrelevanten Lebensform und Praxis sowie eines Selbst, das sich womöglich moralisch verletzt fühlt, sobald das (öffentliche) Tragen dieser Kleidungstücke (oder des Bartes etc.) untersagt und unterbunden wird. Maclure und Taylor vergleichen diese Verletzung mit dem erniedrigenden und beschämenden Gefühl eines überzeugten Vegetariers, den man nötigt, Fleisch zu essen. Ebenso einschnürend und demütigend kann es sein, wenn man tagein tagaus wegen seines Vegetariertums oder seiner religiösen Identität, wie sie etwa in einer Kippa oder einem Kopftuch zum Ausdruck kommt, zum bzw. zur anderen oder Fremden gemacht und als Stigmatisierte veräppelt, gegängelt, geschnitten, beleidigt, entwürdigt und gemobbt wird. Es ist hinlänglich bekannt, dass alltägliche Praktiken der Stigmatisierung, Diskriminierung, Marginalisierung und Exklusion den Betroffenen ›die Luft zum Atmen‹ abschnüren können und sie tatsächlich allzu oft in ein oktroyiertes, negatives und entwürdigendes Selbstbild ›einkerkern‹. Dieses das eigene Selbst verletzende Bild wird ihnen in solchen Fällen von den anderen aufgezwungen oder in seriellen Behandlungen nahegebracht, die manchmal sehr anhaltende psycho36 Vgl. J. Maclure/Ch. Taylor: Laizität und Gewissensfreiheit, S. 101. 37 Vgl. Dietrich, Marc: Rapresent what? Zur Inszenierung von Authentizität, Ethnizität und sozialer Differenz im amerikanischen Rap-Video, Bochum: Westdeutscher Universitätsverlag, 2015 (im Druck).
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soziale Effekte zeitigen, derer sich zu erwehren für die Betroffenen immer schwerer werden kann. Man sieht sich über kurz oder lang nun leider auch so, wie man von den (überlegenen, dominanten, hegemonialen, repressiven) anderen längst gesehen und behandelt wird. Ihr beharrlicher Blick kann das eigene Selbstbild zum eigenen Schaden verwandeln. Edward Said und viele andere haben diesen besonders perfiden Aspekt des herabsetzenden othering beschrieben, beklagt und angeklagt.38 Das lässt sich indes nicht nur für »orientalisierende« Diskurse und Praktiken im globalen Maßstab geltend machen (über mehrere Jahrhunderte hinweg). Es gilt ebenso für die alltäglichen Interaktionen in multikulturellen Gesellschaften unserer Zeit, generell also für eine soziale Praxis, deren womöglich stigmatisierende, diskriminierende, marginalisierende und exkludierende Effekte dazu führen können, dass die Widerrede und Gegenwehr der Abgewerteten allmählich ermattet und zunehmend erlahmt. Wem Anerkennung systematisch und langfristig verweigert wird, läuft Gefahr, die Selbstachtung zu verlieren – auch wenn es dafür ›eigentlich‹ keinen triftigen Grund gibt. In der Folge findet das von anderen nahegelegte, aufgedrängte Bild womöglich ins eigene Selbstbild Eingang und zieht das Selbstbewusstsein und Selbstgefühl der betroffenen Menschen so sehr in Mitleidenschaft, das sich nachhaltige Transformationen des partiell unbewussten Selbst- und Weltverhältnisses einer Person und auch ihres bewussten Selbst- und Weltverständnisses geradezu zwangsläufig ergeben. Dieser psychosoziale Effekt kann sich auch dann einstellen, wenn es gar nicht direkt um eine leibliche Person oder konkrete Gruppe geht, sondern um das, was Menschen für wahr, richtig und schön, für wertvoll und wichtig halten (zum Beispiel ihre religiösen Überzeugungen). Auch dies(e) als abgewertet, irgendwie negativ und minderwertig zu erleben – ohne dabei persönlich adressiert zu sein –, kann die Betroffenen verletzen, kränken, erniedrigen, beleidigen, demütigen und bedrücken. Solche belastenden Verletzungen können anhaltend und sogar irreversibel sein. Auch intergenerationale Übertragungen sind denkbar und durchaus üblich, wie Verletzungsgeschichten und Verletzungsverhältnisse zeigen (selbst wenn wir davor auch in »postkolonialen« oder in ebenfalls sehr langwierigen »Nachkriegszeiten«, in denen Folgen exzessiver Gewalt ja nicht einfach verschwinden, gerne die Augen verschließen).39 Nicht immer bleibt es 38 Said, Edward: Orientalismus, Frankfurt a.M.: Fischer, 1979. 39 Zum sozialtheoretischen (und speziell auch sozial- und kulturpsychologischen) Begriff der »Verletzungsverhältnisse« siehe Straub, Jürgen: »Verletzungsverhältnisse. Erlebnisgründe, unbewusste Tradierungen und Gewalt in der sozialen Praxis«, in: Zeitschrift für Pädagogik 60 (2014), S. 74-95; ders.: »Gewaltgeschichten in Verletzungsverhältnissen. Gegenwärtige Vergangenheit, historisches Bewusstsein und inter-
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bei der Betrübtheit und Verstörtheit der Verletzten, bei ihrer erlebten Demütigung und Frustration. Diese kann sich bekanntlich auch in Aggression verwandeln, sie kann in manifesten Zorn, in Wut und Hass umschlagen (nachdem diese Gefühle vielleicht schon lange unterschwellig vorhanden waren in einer verletzten, vielleicht über Monate und Jahre hinweg zum Stillhalten gedrängten, genötigten Seele). Wichtig ist die basale, ja banale Einsicht (mit der wir gleichwohl oft fahrlässig und ignorant umgehen): Menschen sind verletzliche, kränkbare Wesen, die auf Kränkungen und Verletzungen in aller Regel reagieren, innerlich und äußerlich, zunächst ganz unwillkürlich und spontan, manchmal impulsiv und heftig. Wie gesagt können Kränkungen und andere Verletzungen auf vergleichsweise ›abstrakter‹ Ebene erfolgen. Sie sind oft gar nicht unmittelbar gegen leibliche Personen oder konkrete Individuen gerichtet, sondern gegen deren (vielleicht nur vage artikulierte) Weltbilder, Lebensformen und Sprachspiele, gegen ihre kollektiv geteilten Überzeugungen40 und das damit verwobene Erleben und Handeln. Ein bestimmten Grundüberzeugungen ›verpflichtetes‹ Leben konstituiert, wie oben angedeutet, die qualitative Identität der betreffenden Person in eminenter Weise. Verletzte Menschen sind häufig wegen und in ihrer qualitativen Identität angegriffene Personen. Umgekehrt gilt ebenso: Auch die Angreifenden handeln auf dem Boden und im Zeichen ihrer qualitativen Identität, ihrer zum Beispiel religiösen oder politischen (oder politisch instrumentalisierten religiösen) Grundüberzeugungen, für die sie leben und manchmal sogar zu sterben bereit sind. Menschen, denen noch an etwas wirklich gelegen ist, brauchen solche ihrem Dasein Richtung und Sinn verleihenden Grundüberzeugungen sowie ein ihnen gemäßes Leben und Handeln. Sie benötigen das beinahe so sehr wie die Luft zum Atmen. Deswegen lassen sie sich diese Überzeugungen und alles, was dazugehört, in der Regel auch nicht einfach nehmen, ohne zu widersprechen und irgendeine Art von Gegenwehr zu mobilisieren. Sie erleben, wenn sie zur Aufkulturelle Bildung in Migrationsgesellschaften. Ein Essay in vier Fragmenten«, in: psychosozial 136 (2014), S. 77-94. 40 Es ist längst deutlich geworden: Der Begriff der »Überzeugung« integriert kognitive und emotionale Elemente, enthält also rationale und unmittelbar argumentationszugängliche Komponenten ebenso wie affektbesetzte Positionen, Bindungen und Orientierungen, von denen Menschen nur schwer ablassen – auch weil sie sich über diese hartnäckigen, für die qualitative Identität so relevanten Aspekte gar nicht so recht im Klaren sein mögen. Zum besagten Begriff vgl. die drei Beiträge von Thomas Schärtl, Clemens Sedmak sowie Klaus von Stosch in: Joas, Hans (Hg.): Was sind religiöse Überzeugungen?, Göttingen: Wallstein-Verlag, 2003.
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gabe, Verletzung oder Vernachlässigung ihrer Grundüberzeugungen gezwungen oder gedrängt werden, sich selbst als verletzt. Sie empfinden das womöglich als partiellen Selbstverlust. Menschen hängen an ihren Grundüberzeugungen, sie sind geradezu mit ihnen ›verwachsen‹. Diese biologische Metapher passt in der Tat, insofern Angriffe auf diese Überzeugungen, auch symbolischer Art – beißender Spott, verhöhnende Beleidigungen und herabsetzende Demütigungen und mitunter sogar sachliche, zurückhaltend geäußerte Kritik – von den Getroffenen häufig körperlich empfunden werden. Die Attacke auf eigene Grundüberzeugungen wird als Stich ins Herz oder als Schlag in die Magengrube erlebt, sie raubt den Verletzten den Atem, treibt ihnen Tränen in die Augen, lähmt ihre Glieder; ihnen bleibt die Spucke weg, bevor es ihnen die Sprache verschlägt – und sie vielleicht zum Gegenschlag ausholen, mit symbolischen Mitteln, die nicht nur symbolische Wirkungen zeitigen können. Menschen sind leibliche Personifizierungen ihrer Grundüberzeugungen, die sie im Erleben und Handeln aktualisieren und artikulieren. Das gilt selbst für jene etwas indifferenten Leute, die sich eine nihilistische Lebenseinstellung zuschreiben oder jedenfalls vom »Sinn des Lebens« nichts hören wollen. Ihnen gehen die ständigen Sinnsucher und aufdringlichen Sinnstifter zwar gehörig auf die Nerven. Aber auch sie hegen ja tiefe und zentrale Überzeugungen, eben jene, welche sie vor den missionarischen Zumutungen der ›selbsternannten Sinnapostel‹ bewahren sollen und ihnen die alternative Option eines vielleicht etwas ›leichtfüßigeren‹, ironisch-gelassenen, heiter-abgeklärten – oder auch eines bewusst verzweifelten, existenzialistisch nobilitierten – Seins ohne ›großen Sinn‹ und ›letzten Zweck‹ eröffnen.41 Grundüberzeugungen, die man traditionell auch »Gewissensüberzeugungen« nennt, konstituieren das Selbstbewusstsein und Selbst(wert)gefühl einer Person, ihre qualitative Identität. Sie tun das auch deswegen, weil sie mit ehemaligen, existenziell bedeutsamen Erlebnissen und den daraus erwachsenen Erfahrungen und Erwartungen verwoben sein können (und tatsächlich oft verknüpft sind; sie sind meistens keine lebensfernen Abstrakta, sondern bedeuten Menschen etwas, das mit ihrem bisherigen Leben und Erleben zu tun hat, vielleicht auch mit Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen, die sie gerade hegen). Solche Erlebnisse sind für die betreffende Person bewegend gewesen, erschütternd oder aufrüttelnd, kurz: außerordentlich wichtig und wertvoll und sie bleiben es ihrem eigenen Gefühl nach wohl noch lange. Joas’ Theorie der Entstehung von Wertbindungen in Erlebnissen der Selbsttranszendenz macht diesen Aspekt verständ41 Zur etwas in Verruf gekommenen, aber dennoch nicht tot zu kriegenden Frage nach dem »Sinn des Lebens« vgl. Eagleton, Terry: Der Sinn des Lebens, Berlin: Ullstein, 2008; vgl. auch die Fußnoten 14 und 50 in der vorliegenden Abhandlung.
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lich und erklärbar.42 Diese Theorie beleuchtet einen wichtigen Modus der Genese identitätsrelevanter Wertbindungen und Überzeugungen, ohne andere Modi auszuschließen (wenngleich solche alternativen Wege bei Joas nicht systematisch durchforstet und diskutiert werden43). Bisweilen geht es etwas langsamer, nicht ganz so intensiv und weniger spektakulär zu, als es das soziologische und psychologische Konzept der Selbsttranszendenz nahelegt (das im Kern auf eine Art Grenzerfahrung abhebt, etwa im Feld des religiösen Glaubens, der sexuellen Ekstase oder des Erlebens der erhabenen und erhebenden Natur – aber auch der exzessiven Gewalt).44 Werte und Grundüberzeugungen können bekanntlich auch deswegen persönliche Bedeutung und existenzielles Gewicht erhalten, weil sie mit einer Lebensund Handlungspraxis verwoben sind, in die Menschen hineingewachsen, mit der sie vertraut geworden sind, und zwar allmählich so sehr, dass sie sich (in aller Regel) gar nicht mehr vorstellen können, anders zu denken und zu fühlen, zu handeln und zu leben, als sie es nun eben einmal gelernt haben und ›seit jeher‹ tun. Natürlich können Menschen auch von vertraut Gewordenem und lieb Gewonnenem, von Gewohntem Abstand nehmen (etwa dann, wenn die mit diesem Vertrauten verbundenen Einschränkungen immer schmerzlicher spürbar, dadurch bedingte Grenzen des eigenen Erlebnis- und Handlungspotentials stärker bewusst und zunehmend als in Gewohnheiten verwurzeltes Leid erlebt wer42 H. Joas, Die Entstehung der Werte. Der Begriff der Selbsttranszendenz besitzt im Prinzip eine ganz und gar profane Bedeutung. Er kann sich zwar auf religiöse Transzendenzerlebnisse beziehen, muss es aber nicht. 43 Dazu wäre eine eingehende Beschäftigung insbesondere mit verschiedenen Lerntheorien nötig, vor allem mit solchen, die sich nicht bloß für minimale Wissenserweiterungen und Verhaltensänderungen, sondern vielmehr für existenziell bedeutsame Transformationen des Erlebnis- und Handlungspotentials einer Person interessieren; vgl. hierzu Holzkamp, Klaus: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung, Frankfurt a.M.: Campus, 1993, sowie meine Auseinandersetzung mit diesem leider kaum beachteten Ansatz: Straub Jürgen: »Lerntheoretische Grundlagen« [interkultureller Kompetenz], in: Arne Weidemann/Jürgen Straub/Steffi Nothnagel (Hg.), Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorie, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung, Bielefeld: transcript, 2010, S. 31-98. 44 Am Rande sei bemerkt, dass der Spezifität erlittener oder auch ausgeübter Gewalt im Rahmen von Joas’ hermeneutisch und phänomenologisch so sensiblen Theorie nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Mit anderen Worten: Es gibt ganz verschiedene Grenzerfahrungen (erhebende, beglückende, zerstörerische usw.), und diese Diversität ist für eine Theorie der Entstehung von Wertbindungen relevant, zumal in ihren identitätstheoretischen bzw. persönlichkeitspsychologischen Dimensionen.
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den, und wenn vielleicht neue, attraktive Vergleichshorizonte sich bereits öffnen oder sogar ganz konkrete praktische Alternativen schon in Sicht sind). Distanz nehmende Reflexion und praktische Abstandnahme vom Gewohnten und Vertrauten sind stets Optionen für ein Dasein in »exzentrischer Positionalität« (Helmut Plessner), das im Prinzip – und ganz besonders im Zeitalter der Kontingenz – ja nie damit aufhören muss zu fragen, was es denn aus seinem Leben sonst noch so machen könnte in naher oder ferner Zukunft.45 Freilich kann es dieses Fragen einstellen oder auf ein Minimum reduzieren, und auch dafür gibt es starke psychosoziale Gründe (die erneut mit der identitätsbildenden Funktion von persönlich wertvollen Grundüberzeugungen zu tun haben). Anderes und Fremdes, zumal wenn es mit irgendeiner Art von impliziter Anforderung oder expliziter Aufforderung einhergeht, sich selbst zu ändern, kann die Betroffenen ängstigen und überfordern (und genau das geschieht häufig, sogar in aller Regel). Das führt, psychoanalytisch gesprochen, zur Mobilisierung psychischer Abwehr, die für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Ich notwendig ist – und die alles, fürs Erste jedenfalls, beim Alten lässt. Selbstveränderungen – Transformationen zentraler Aspekte der qualitativen Identität einer Person – verlangen in irgendeinem Ausmaß eine Art Selbstüberschreitung und Selbst-aufgabe, die gemeinhin als bedrohlich und beängstigend erlebt wird und in ihrem Vollzug tatsächlich schmerzen kann (oft sogar dann, wenn man des ›eigenen Alten‹, seines ›alten Selbst‹, schon überdrüssig geworden ist und es ›eigentlich‹ abschütteln und loswerden möchte, jedenfalls in gewissen Hinsichten). Expansives Lernen – also ein Lernen, das mit nennenswerten, subjektiv bedeutsamen Erweiterungen des Erlebnis- und Handlungspotentials einer Person einhergeht, mit neuen, bereichernden Möglichkeiten, sich selbst und die Welt um einen herum aufmerksam wahrzunehmen, intensiv zu erleben und kreativ zu formen, sich neugierig auf etwas (oder jemanden) einzulassen und am Geschehen aktiv teilzuhaben – ist in aller Regel mühsam. Vielerlei Lernen verlangt Anstrengungen. Speziell das hier (mit Klaus Holzkamp46) so genannte expansive Lernen, das für die lebenslange Entwicklung personaler Identität so wichtig ist, 45 Frankfurt, Harry: Sich selbst ernst nehmen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2007 (amerik. Original 2006): »Menschen sind sonderbare Wesen. Sie beschäftigen sich intensiv mit sich selbst, fragen sich, wer sie sind und was sie tun sollen. Sie hassen das Gefühl, von undurchsichtigen Impulsen gesteuert zu sein, und möchten, daß ihre Gedanken und Gefühle Sinn ergeben. Menschen besitzen vermutlich als einzige Spezies auf diesem Planeten die Fähigkeit, sich selbst ernst zu nehmen«, heißt es auf der Innenseite des Umschlags eines Buches, das von der Vernunft und von der Liebe handelt. 46 K. Holzkamp: Lernen.
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erfordert eine gestaltende Formung und Transformation des eigenen Selbst, die kaum einmal ohne Unbehagen, Widerstände und irritierende Anmutungen des Unheimlichen abgeht. Um dieses Lernen geht es natürlich auch im »Dialog der Lebensformen«, sei er nun interreligiös oder ein Gespräch zwischen religiös Gläubigen und Ungläubigen. Aus den genannten Gründen ist dieser Dialog so schwer, so mühsam, so zäh. Niemand lernt immer und alles aus freien Stücken (selbst wenn es Psychologinnen, Pädagogen und Politiker sowie andere Propagandisten der »Offenheit lebenslang lernender Menschen« noch so oft fordern und zu fördern versprechen). Lernchancen der besagten Art sind nicht immer und erst recht nicht unmittelbar verlockend (obwohl das Fremde schon auch mal anziehend und faszinierend sein kann, vor allem in seiner exotisierendentstellten Form). Angst und Abwehr in all ihren Formen sind, auch das sollte man im vorliegenden Zusammenhang bedenken, weitgehend unbewusste Vorgänge. Auch qualitative Dimensionen oder Aspekte personaler Identität können sich also dem Bewusstsein entziehen. Das heißt unter anderem (im Sinne einer allgemeinen Minimalbestimmung des »Unbewussten«): Sie unterstehen keiner rationalen Kontrolle, sondern sind nicht selten sogar zutiefst arationale und irrationale Angelegenheiten. Menschen reagieren mit Angst und Abwehr, Widerstand und Gegenwehr keineswegs nur dann, wenn es einen triftigen Anlass oder allen Grund dazu gibt. Gefühle brauchen auch in diesem Fall keine ›guten Gründe‹ und ›sachlichen Argumente‹ (obwohl sie die gar nicht so selten für sich in Anspruch nehmen können; manchmal sind Gefühle sogar selbst notwendige Vorstufen kognitiv-rationaler Argumente, weil sie spürbar, erlebbar und in ersten holprigen Versuchen artikulierbar machen, wovon wir erst hernach reden, reflektierend und argumentierend: zum Beispiel von irgendeinem Unrecht, einer Ungerechtigkeit, einer unsensiblen, verletzenden Geste usw.). Andere und Fremde wecken häufiger Ängste und Abwehrvorgänge, die mit den bewusst artikulierten Bedrohungen und Befürchtungen der Subjekte nichts, allenfalls wenig zu tun haben. Nicht weniges stößt uns spontan ab, manches empört uns unwillkürlich oder widert uns auf Anhieb einfach nur an. Wir alle ekeln uns vor irgendetwas, was anderen eine Freude und ein Genuss ist. Solche unmittelbaren emotionalen Reaktionen und spontanen Affekte gehören zur qualitativen Identität einer Person und sind oft wichtiger als das, was jemand bewusst und stolz von sich gibt. Die eher unbewussten Aspekte qualitativer Identitäten sind aus sozialen Interaktionen nicht herauszuhalten. Um sie geht es in unserer kommunikativen Praxis fast immer auch, bisweilen vorrangig, selbst wenn von den Akteuren anderes in den Vordergrund gerückt werden mag.
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Die während der Abfassung dieser Abhandlung durch die Tagesnachrichten geisternden Meldungen über Demonstrationen, in denen sich einige Tausend Leute in Dresden und anderswo voller (angeblicher oder wirklich erlebter) Sorge um die (angeblich oder wirklich) befürchtete »Islamisierung des Abendlands« wenden (darunter die ›üblichen Verdächtigen‹ aus der ›rechten Szene‹, aber auch die in den Medien so genannten ›ganz normalen Bürger‹) bieten ein naheliegendes Beispiel für das oben Ausgeführte. Hieran lassen sich auch unbewusste Aspekte einer (in diesem Fall kollektiv geteilten) qualitativen Identität studieren, diffuse Gefühle der Bedrohtheit mithin, die jeweils subjektiv empfunden und sodann kollektiv zur mitteilbaren Erfahrung geformt, schließlich öffentlich artikuliert und inszeniert werden.47 Es sind im ›sächsischen Elbflorenz‹ bislang zwar weit und breit kaum ein Muslim und kaum eine Muslima anzutreffen. Diese schlichte soziale Tatsache hält aber die mobilisierten, diffusen und stark projektiven Ängste vor einer vermeintlich drohenden Kolonialisierung der eigenen Lebenswelt durch ein fremdes religiöses (Gewalt-) Regime keineswegs in Schach. Wer von Angst beseelt ist und beherrscht wird, ist für Fakten und Argumente nicht offen. Es ist stets ein und dasselbe Problem: Wo Ängste die Regie des Erlebens und Handelns übernehmen, lässt sich mit diesen Ängsten zwar Politik machen – kaum aber gegen sie. Eine Aufklärung über den ›eigentlichen Ursprung‹ dieser Ängste ist im öffentlichen Feld des Politischen sehr schwer (viel schwieriger jedenfalls als im geschützten Raum einer analytisch-therapeutischen Situation, in der Analysanden unter persönlichem Leidensdruck stehen, den sie mit Hilfe professioneller sozialer Unterstützung loswerden wollen). Aufklärerische Bildungsbemühungen vermögen im Feld psycho-politischer sozialer Bewegungen oft wenig und manchmal überhaupt nichts, weil es eben gar nicht um mangelndes Wissen geht, sondern um emotionale Motive und affektive Einstellungen (um Vorurteile eben). Verängstigte und (unbewusst) verunsicherte Personen, die sich zu diffusen politischen Kollektivakteuren vereinen, mildern ihr Leiden in der und durch die gemeinsame Aktion, die sich gegen ei47 Die (vermeintlichen) kollektiven Gemeinsamkeiten einer Gemeinschaft sind stets eine prekäre Angelegenheit, vor allem aber dann, wenn die Mitglieder von Gemeinschaften derartig lose Bindungen und lockere Verbindungen aufweisen wie die teilweise spontan entstandenen Gruppen von Demonstrierenden, die unter dem Banner eines attraktiven »leeren Signifikanten« – »gegen Islamisierung, für Frieden und Freiheit« – alles Mögliche und sehr viel Verschiedenes denken, fühlen, begehren, wünschen, wollen und tun können – was, sobald sich diese Heterogenität herausstellt, zum zügigen Zerfall der Gruppe führen kann; vgl. zur politisch-psychologischen Pragma-Semantik des »leeren Signifikanten« und seiner Rolle bei der Konstitution personaler und kollektiver Identitäten wiederum U. Gatzemeier: Konflikt, Nation, Narration.
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nen äußeren Gegner und Feind richtet, den man just zu diesem Zweck braucht.48 Aversionen und Aggressionen – von schlummernden Vorurteilen über sachte Stigmatisierungen bis hin zu vehementen Diskriminierungen und anderen gravierenden Verletzungen – sind psychosozial funktional. Sie entlasten und beruhigen die Verängstigten und Verunsicherten, sie kompensieren Minderwertigkeitsgefühle und andere negative Aspekte des eigenen Selbstbildes, ohne dass dem tatsächlichen Grund der (eigenen projektiven) Gefühle nachgegangen werden müsste. Unbewusst Agierende wechseln das Handlungsfeld und die Adressaten der symbolischen und praxischen Operationen, durch die das aus ihrer Sicht und in ihrem Erleben drohende Unheil abgewendet werden soll. Derartige Kämpfe um Anerkennung und Identität sind zäh und ziemlich immun gegen aufklärerische Interventionen. Wer hier mitsprechen und im Sinne einer Befriedung latenter oder manifester Konflikte etwas erreichen will, mag sich an Tzetan Todorovs in ganz anderem Zusammenhang geäußerte Einsicht halten: Demnach hat sich bereits allzu häufig gezeigt, »dass die Charakterisierung der anderen als irrational und gewalttätig kein gutes Mittel ist, um zu erreichen, dass diese mit mehr Vernunft und weniger Gewalt agieren.«49 Manche wollen und lassen sich freilich unter keinen Umständen und mit keinen Mitteln ändern (und entsprechend auch nicht mit sich reden). Die anderen halten sich an ihre qualitative Identität oftmals umso fester, je mehr sie sie als bedroht erleben. Sie klammern sich daran, solange es geht, gerade dann, wenn sie unter Anklage gerät und (Gegen-) Angriffen ausgesetzt wird, so dass die betroffenen Grundüberzeugungen Gefahr laufen, ins Wanken zu geraten.
48 Vgl. Boesch, Ernst E.: Von Kunst bis Terror. Über den Zwiespalt in der Kultur. Mit einem Vorwort von Jürgen Straub, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, darin insbesondere das Kapitel über »willkommene Feinde«, S. 223ff.; vgl. außerdem natürlich Henri Tajfels wichtige Arbeiten zur »sozialen Identität« und damit verwobenen Gruppenkonflikten, zum Beispiel Tajfel, Henri (Hg.): Differentiation between social groups. Studies in the Social Psychology of Intergroup Relations, London/New York/San Francisco: Academic Press, 1978; ders.: Human Groups and Social Categories. Studies in Social Psychology, Cambridge, MA/New York/Melbourne: Cambridge University Press, 1981. 49 Todorov, Tzvetan: Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen, Hamburg: Hamburger Edition, 2010 (franz. Original 2008).
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S TRUKTURTHEORETISCHE K ONTUREN PERSONALER I DENTITÄT ALS OFFENE F ORM : INTERRELIGIÖSE UND RELIGIÖS - SÄKULARE F AMILIENÄHNLICHKEITEN »Es wird unsere durchgängige These sein, daß die im Sinne des ipse verstandene Identität keinerlei Behauptung eines angeblich unwandelbaren Kerns der Persönlichkeit impliziert«.50
Taylor definiert »Identität« einmal kurzerhand als »unser Gefühl für das, worauf es wirklich ankommt«.51 Er meint damit, was ich als qualitative Identität bezeichnet habe, wenngleich er nicht nur an konkrete Prädikate der besagten Art denkt, sondern oft auch an übergreifende, für bestimmte Großgruppen in hohem Maß intersubjektiv verbindliche, transindividuelle Merkmale – wie zum Beispiel die Merkmale der »neuzeitlichen Identität«.52 Taylors Arbeiten führen der Leserschaft vor Augen, wie weit gespannt die Pragma-Semantik »qualitativer Identität« sein kann: Auch diesem Autor geht es zum einen um ganz konkrete Eigenheiten etwa eines religiösen Selbst, das – sagen wir beispielsweise – täglich betet und im Gebet Fülle und Erfüllung findet, regelmäßig zur Messe geht und alle paar Jahre zum Wallfahrtsort pilgert, sich für Kirchenarchitektur interessiert und die sakrale Musik Johann Sebastian Bachs liebt, die Ehe als ein hohes Gut schätzt und sich aus Nächstenliebe freiwillig bei der Flüchtlingshilfe engagiert usw. usf. Zum anderen aber beschreibt er – zum Beispiel in seinen Ausführungen über »ein säkulares Zeitalter« – das religiöse Selbst durch sehr abstrakte und allgemeine Typisierungen, die kaum konkrete Tätigkeiten und individuelle Besonderheiten mehr erkennen lassen. So typisiert er »gläubige Christen« etwa dadurch, dass er sie im Zuge einer historisch weit ausholenden komparativen Analyse mit den charakteristischen Eigenheiten eines abgepufferten Selbst in der reinen Immanenz kontrastiert. Die qualitative Identität religiöser Menschen wird dann etwa dadurch markiert, dass für sie Transzendenzerlebnisse in einer durch Heteronomie geprägten Beziehung zu Gott sowie eine (auch mit Demut verknüpfte) rezeptive Haltung zur Welt konstitutiv sind. Im Unterschied dazu verzichtet das moderne Dasein in der bloßen Immanenz auf solche Transzendenzbezüge völlig und legt den Akzent unter anderem auf die »innere« Quelle der
50 Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer, München: Fink, 1996, hier S. 11 (franz. Original 1990). 51 Ch. Taylor: Ein säkulares Zeitalter, S. 237. 52 Ch. Taylor: Quellen des Selbst; vgl. auch die oben formulierten Anmerkungen zum »abgepufferten Selbst«.
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Fülle und Erfüllung sowie die Autonomie des individuellen Vernunft- und Handlungssubjekts.53 Auch an anderen Stellen spricht Taylor sehr abstrakt von »neuzeitlicher Identität« und charakterisiert diese Konstellation durch ebenso abstrakt bleibende Attribute. Auf solche typisierenden und generalisierenden Beschreibungen bezogen könnte man – wie es Taylor ja selbst tut – auch von einer Artikulation weitgehend unbewusster oder halbbewusster Tiefenstrukturen dieser Identität sprechen. Da es hier (wie bei Taylors Typisierung des religiösen Selbst im säkularen Zeitalter) aber weiterhin – meistens jedenfalls – um inhaltliche Bestimmungen bzw. qualitative Charakterisierungen durch geeignete Prädikate geht – oder solche zumindest immer wieder ins Spiel kommen, neben den eher strukturellen Merkmalen einer Subjektivitätsform –, zähle ich auch solche Artikulationen hier zu den Beschreibungen qualitativer Identitäten. Vielleicht könnte und sollte man aus Gründen der terminologischen Genauigkeit jedoch zwei Beschreibungsebenen unterscheiden – am Kriterium ihres jeweiligen Abstraktionsund Generalisierungsgrades – und von »qualitativer Identität I« und »qualitativer Identität II« sprechen.54 Das kann hier offen bleiben, da es im Folgenden nur noch um eine im engeren Sinne und dabei sehr spezifische struktur- oder formaltheoretische Explikation des Identitätsbegriffs geht. Dieser Begriff bezieht sich – völlig unabhängig von allen möglichen inhaltlichen, qualifizierenden Bestimmungen – auf die blo53 Vgl. zu einer ersten Charakterisierung dieser beiden Grundtypen Ch. Taylor: Ein säkulares Zeitalter, S. 24ff. Es ist offenkundig, dass bei der Typisierung des religiösen Selbst – seiner qualitativen Identität – das leidige Problem eines Religionsbegriffs ins Spiel kommt, der längst vielerlei sehr heterogene religiöse und spirituelle Traditionen und Überzeugungssysteme, Weltbilder und Lebensformen umfasst. Taylor bezieht sich jedoch vornehmlich auf die Geschichte des Christentums und die in diesem Kontext geprägten Begriffe der Religion und Religiosität, sodass seine Feststellung von Grundüberzeugungen und Grundeigenschaften eines religiös gläubigen Menschen sehr stark christlich bzw. katholisch anmutet (vgl. dazu auch Taylor, Charles: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002). Sobald man den Horizont des religiösen Feldes globalisiert (und etwa den Islam oder den Buddhismus berücksichtigt), wird die ganze Angelegenheit noch erheblich komplizierter. Analoges gilt, mutatis mutandis, für das ja längst ebenfalls in multiple modernities eingebettete Dasein eines in reiner Immanenz lebenden Selbst (das in anderen Weltengegenden vielleicht auch nicht immer völlig zutreffend als »abgepuffertes«, »desengagiertes Vernunft- und Handlungssubjekt« charakterisiert werden könnte). 54 Alternativ wäre es denkbar, zweierlei formal- bzw. strukturtheoretische Zugänge zu differenzieren (anstatt sich, wie ich es im Folgenden tue, auf einen zu kaprizieren).
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ße Form oder reine Struktur der kommunikativen Welt- und Selbstbeziehung einer Person. Selbstverständlich schließen sich die Konzepte der »qualitativen Identität« und der »personalen Identität als Form oder Struktur« nicht aus. Als unterschiedene bedürfen sie einander. Sie rücken allerdings ganz verschiedene Sachverhalte in den Blick. Es ist die als »personale Identität« gefasste Form oder Struktur, die man – im Unterschied zu anderen, ebenfalls klar benennbaren und beschreibbaren Formen oder Strukturen der kommunikativen Welt- und Selbstbeziehung einer Person (s.u.) – als spätmodernes Phänomen auffassen kann (also gerade nicht als anthropologische Universalie). Diese Form oder Struktur lässt sich in ihrer Spezifität als ein (in deskriptiver und funktionaler Perspektive) ›besonders gut angepasster‹ sowie (unter normativen Gesichtspunkten) ›relativ gelungener‹ Modus des Selbst- und Weltverhältnisses einer Person auffassen. Es ist dieser (zuerst im amerikanischen Pragmatismus und in der Psychoanalyse auftauchende, bis heute allerdings nur in Umrissen und fragmentarischen Überlegungen ausgearbeitete) theoretische Begriff des Selbst bzw. der Identität, der es erlaubt, jeweils genauer bestimmte religiöse und ebenso spezifische areligiöse Optionen als gleichermaßen zeitgemäße Lebens- und Subjektivitätsformen im säkularen Zeitalter der Kontingenz auszuweisen. Mit diesem Begriff kann man also bestimmte religiös Gläubige (verschiedener Konfession oder Zugehörigkeit) und bestimmte Ungläubige als ›nahe Verwandte‹ verstehen, die trotz ihrer ganz unterschiedlichen qualitativen Identitäten als Personen gemeinsame strukturelle Merkmale aufweisen (durch die sie sich von anderen Typen von Personen unterscheiden). Damit ergibt sich die Möglichkeit, auf einer sehr abstrakten theoretischen Ebene ›Bande der Solidarität‹ zwischen religiösen und areligiösen Menschen zu stiften (ohne wesentliche Differenzen ihrer qualitativen Identitäten zu negieren oder zu ignorieren). Voraussetzung dafür ist allerdings ein Abschied von der homogenisierenden Rede über ›die‹ Religion und ›die‹ religiöse Option sowie ›die‹ profane Lebensform ›des‹ modernen Subjekts. In der nun eigenommenen identitätstheoretischen Perspektive, die sich sehr stark für die Offenheit für und den Umgang mit Kontingenz, also auch für die Kontingenzsensibilität und das Kontingenzbewusstsein von Personen interessiert, verlaufen die relevanten Demarkationslinien anderswo. Die in dieser Sicht auftauchenden Differenzen sind nicht mehr dieselben wie jene, welche bei der Betrachtung der qualitativen Identitäten religiös gläubiger und ungläubiger Menschen sogleich auffallen. Festgehalten sei: Eine qualitative Identität kann man allen Menschen zusprechen, und sie zu beachten, zu achten und anzuerkennen erwarten auch alle Menschen von ihresgleichen. Wer Personen (als Individuen oder Angehörige einer Gruppe oder sozialen Kategorie) missachtet und verachtet oder sonst auf eine Weise (symbolisch, psychisch) verletzt, versagt ihrer qualitativen Identität sei-
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nen Respekt (bestimmten Aspekten jedenfalls, zentralen eher als bloß peripheren). »Qualitative Identität« ist eine universale anthropologische Kategorie (und dabei kein besonders anspruchsvoller, jedenfalls kein komplizierter theoretischer Begriff). Genau das trifft auf den die Struktur oder Form des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses einer Person fokussierenden Begriff der personalen Identität nicht mehr zu. Dabei handelt es sich nämlich um einen hoch abstrakten und hyperkomplexen theoretischen Grundbegriff der modernen Sozialund Kulturwissenschaften, der nicht nur selbst noch ›ziemlich jung‹, sondern auch auf ein Phänomen gerichtet ist, das alles andere ist als ›uralt‹, schon immer ›global verbreitet‹ gewesen und auch heute überall anzutreffen wäre. »Personale Identität« im nun interessierenden Sinn ist eine geschichtliche, gesellschaftliche und kulturelle Besonderheit. Identität in diesem (deskriptiven und normativen) Sinn und demzufolge auch jene Identitätsprobleme, auf welche dieser Begriff reflektiert,55 können nur einem kleineren Teil der Menschheit zugeschrieben werden. Dazu zählen, wie gesagt, viele religiös gläubige und viele ungläubige, im engeren Sinn säkular eingestellte Menschen. Das bedeutet im Übrigen, dass viele der heute beschworenen ›globalen‹ und ›gesellschaftlichen‹ Konfliktlinien keineswegs geradlinig zwischen Religiösen und Spirituellen einerseits, Agnostikern und Atheisten andererseits verlaufen. Es geht vielmehr drunter und drüber. Und so stellt sich mit Nachdruck die Frage, was es auf Seiten der religiös und der säkular eingestellten Personen denn eigentlich ist, das sie womöglich gleichermaßen zu tendenziell intoleranten Zeitgenossen macht, die den Zumutungen und Herausforderungen in pluralistischen Verhältnissen aus55 Man denke noch einmal an die von Taylor so strapazierten »Sinnkrisen«, die bis zur Meta-Frage nach dem »Sinn des Sinns« reichen: Ch. Taylor: Ein säkulares Zeitalter, S. 1120ff., 1179ff., aber auch an zahlreiche soziologische und (sozial-) psychologische Zeitdiagnosen, die Identitätskrisen (zumindest partiell) in vergleichbarer Weise artikulieren (selbst wenn sie dann ganz andere ›Lösungsvorschläge‹ als Taylor erarbeiten, der nicht zuletzt gegenüber allen psychotherapeutischen Perspektiven überaus skeptisch ist, weil die, so Taylor, aus einem letztlich auf die Transzendenz-Frage bezogenen Problem der moralisch-spirituellen Lebensführung eine im Grunde genommen ziemlich würdelose Angelegenheit erkrankter oder gestörter Patienten machen, die dann nur noch im medizinisch-psychologischen Sinne als behandlungsbedürftig gelten – also dadurch keinesfalls ›bekehrt‹ werden und auf den ›rechten Weg‹ zurückfinden können und sollen: ebd., S. 1028ff). Zum psychologischen Begriff der »Krise« vgl. allgemein Straub, Jürgen: »Der Begriff der Krise in der Psychologie«, in: Carla Meyer/Katja Patzel-Mattern/Gerrit J. Schenk (Hg.), Krisengeschichte(n) (VSWGBeihefte, Band 210), Stuttgart: Steiner, 2013, S. 27-66; zu Diagnosen von Sinn- und Identitätskrisen siehe ders., Identitätstheorien.
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weichend begegnen und sie unterlaufen. Umgekehrt stellt sich die Frage, welche strukturellen Merkmale im Selbst- und Weltverhältnis einer Person dazu beitragen, dass sie den pluralistischen Geist im Regime der Laizität ›ein- und auszuatmen‹ sowohl willens als auch fähig ist – egal, ob sie nun religiös gläubig ist oder nicht. Mit dieser zweigliedrigen Frage wechselt man von der politischen Philosophie, Sozial- und Moralphilosophie ins Feld einer Psychologie, die die individuelle Bereitschaft und Fähigkeit zu Pluralismus und Toleranz zwar keineswegs von gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen abkoppelt, aber doch auch als ein Problem der Person auffasst und analysiert. Selbst wenn man sich auf Prinzipien der politischen Gestaltung der gemeinsamen (institutionellen und informellen) Praxis geeinigt hat, sind die Leute nicht schon automatisch zu einem diesen Prinzipien entsprechenden Leben und Handeln bereit und imstande. Das wird häufig übersehen, wo ›demokratische Revolutionen‹ im liberalen Geist individueller Freiheitsrechte gefeiert werden, ohne zu bedenken, dass eine soziokulturelle Praxis im Zeichen pluralistischer Toleranz auch bestimmter Subjekte bedarf. Die gehen keineswegs ›wie von selbst‹ aus den kollektiven Protesten, sozialen Bewegungen und politischen Umstürzen hervor – selbst wenn sich diese ›relativ gewaltfrei‹ abspielen sollten (und auch auf der Subjektseite bereits vieles voraussetzen mögen). Die von Maclure und Taylor (sowie vielen anderen) empfohlene »Ethik des Dialogs, die unterschiedliche metaphysische und moralische Perspektiven respektiert«,56 und die genauso noble »Ethik der Sorge um den anderen […], die uns zu Empathie und Dezentrierung auffordert«,57 gelangen als praktisch tatsächlich orientierungsstiftende und handlungsleitende Ideen ebenso wenig ›einfach automatisch‹ in den Alltag konkreter Menschen wie die »offenen Diskussionen« von idealisierten Bürgern, die sich über die politische Ausrichtung ihres Gemeinwesens verständigen und sich dabei in wechselseitiger Generosität mit Achtung und Toleranz begegnen (also nicht bloß in der Schwundform rhetorischer Lippenbekenntnisse). Die Menschen, die ihre eigene Position »in einem Vokabular ihrer Wahl« sachlich erläutern und rechtfertigen und »dabei ihre Sensibilität und ihr Einfühlungsvermögen gegenüber den fundamentalen Überzeugungen unter Beweis [stellen], die wesentliche Bestandteile der moralischen Identität ihrer Mitbürger sind«, mag es hie und da schon geben (und in der Tat: so selten sind sie nun auch wieder nicht, erfreulicher Weise!). In der erdrückenden Mehrheit sind sie jedoch, das darf man mutmaßen, bislang in keiner real existierenden Gesellschaft der Welt (auch nicht in ihren nordatlantischen Zo56 J. Maclure/Ch. Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, S. 142. 57 Ebd., S. 144.
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nen). Vielleicht werden sie das auch niemals sein. Ganz von allein kommen sie selbst dann, wenn politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen es zuließen (und beförderten), nicht in die Welt. Im Übrigen ist es schon schwer genug, genau zu beschreiben, wie solche ›idealisierten‹, in liberal-demokratischen und laizistischen Gesellschaften hoch willkommenen Subjekte denn eigentlich beschaffen sind. Es lassen sich nun in der theoretischen Sprache der modernen Psychologie und Soziologie strukturelle Selbst- und Weltverhältnisse unterscheiden, die mehr oder weniger starke (oder auch keinerlei) Affinitäten zur pluralistischen Ordnung eines liberalen Gemeinwesens aufweisen. Just dieser Aufgabe widmen sich Theorien personaler Identität (auch wenn sie das oft gar nicht sehen und sagen). Der Begriff der Identität, wie er im Pragmatismus und in der Psychoanalyse erste Konturen annahm, lässt sich als subjekttheoretisches Analogon und Äquivalent zu offenen Gesellschaften und Lebensformen auslegen. Er ist im Wesentlichen in säkularen Kontexten entwickelt worden, obwohl es wichtige Wegbereiter dieser Theorie gibt, die – wie William James – zutiefst religiöse Menschen waren und dies auch in ihrer Konzeption des Selbst zum Ausdruck bringen.58 Im Kern 58 Vgl. hierzu die interessante Interpretation von Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011, S. 214ff.; dort sowie in H. Joas, Die Entstehung der Werte, Kapitel 3, finden sich auch die wichtigsten Angaben zu James’ einschlägigen Schriften, zu denen natürlich auch sein höchst einflussreicher religionspsychologischer Klassiker zählt: James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a.M.: Insel, 1997 (amerik. Original 1901/1902). In diesem der Vielfalt religiösen Erlebens gewidmeten, phänomenologisch und hermeneutisch überaus sensiblen Buch schlägt der amerikanische Pragmatist – wie in anderen Schriften – auch in den empirischen Wissenschaften eine Bresche für die schon seinerzeit sehr lautstarke Kritik an der Religion als institutionalisierter Kirche und ritualisierter kollektiver Praxis (in all ihren mitunter erstarrt und hohl wirkenden Formen). Zugleich lenkt er den Blick auf die subjektive Religiosität und Spiritualität von Gläubigen, die auch im Feld des Religiösen eine Art Individualisierung vollziehen (siehe dazu etwa U. Beck, Der eigene Gott). Auch in der heutigen Religionspsychologie ist diese Perspektive präsent: Belzen, Jacob A. van/Geels, Antoon (Hg.): Autobiography and the Psychological Study of Religious Lives (International Series in the Psychology of Religion, 15), Amsterdam: Rodopi, 2013; Belzen, Jacob A. van: Towards Cultural Psychology of Religion. Principles, Approaches, and Applications, New York: Springer, 2010; Popp-Baier, Ulrike: »Religionspsychologie«, in: Günther Mey/Katja Mruck (Hg.), Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden: VS Verlag, 2010, S. 799-805; dies.: »Religious experience as narrative. Reflections on the advantages of a narrative ap-
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ist dieser Begriff frei von religiösen Konnotationen und sogar eher auf die »abgepufferten«, vernunftorientierten Selbst- und Weltverhältnisse partiell autonomer Subjekte gemünzt. (Dabei muss man freilich einen weiteren, nicht auf Zweckrationalität eingeschränkten Vernunftbegriff unterstellen, einen Begriff mithin, der weder im Utilitarismus noch in der kantianischen Tradition aufgeht). Der Identitätsbegriff kann als eine formale Anzeige fungieren, dass im Leben eines Menschen Selbstbestimmungschancen in Reichweite sind.59 Identität bedeutet zwar keinerlei absolute Sicherheit im Denken und Handeln und keine völlige Unabhängigkeit selbständiger Menschen – mit diesem karikierenden Zerrbild von Autarkie und Autonomie hat personale Identität im hier verstanden Sinn wirklich nichts zu tun –, aber doch ein Mindestmaß an Orientierung, vor allem: an Orientierungs- und Handlungsfähigkeit auch dort, wo der Kompass verloren zu gehen droht oder bereits abhandengekommen ist. Identität verlangt keine völlig eindeutigen und auf ewig angelegten Festlegungen fürs heutige und fürs kommende Leben. Die niemals ganz von Ambivalenzen und Spannungen, Konflikt- und Krisen(potentialen) freizuhaltende Struktur der Identität ermöglicht es vielmehr, auch unter Bedingungen von Kontingenz und Unsicherheit nicht gleich ganz ‚aus der Fassung zu geraten‘, sondern sich weiterhin umzusehen und zu orientieren und zu bewegen, so gut es eben in der gegebenen Lage und bestehenden Situation für einen bestimmten Menschen geht. Dabei muss die betrefproach«, in: Agnė Budriūnaitė (Hg.), Religious Experience & Tradition. International Interdisciplinary Scientific Conference. May 11-12, Kaunas, Lithuania, Kaunas: Vytautas Magnus University, 2012, S. 13-17; dies.: Das Heilige im Profanen – Religiöse Orientierungen im Alltag. Eine qualitative Studie zu religiösen Orientierungen von Frauen aus der charismatisch-evangelikalen Bewegung, Amsterdam: Rodopi, 1998. – Auch Taylor würdigt natürlich den vom Protestantismus geprägten pragmatistischen Religionspsychologen William James, wobei dem Katholiken dessen Position teilweise gar nicht behagt und kaum einleuchtet, weil sie zu oft eine »verstümmelte und parteiliche Sicht auf einige wichtige Phänomene des modernen religiösen Lebens« nahelege: Ch. Taylor: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, S. 25. In mancherlei Hinsicht denkt James die Person und ihr Selbst allerdings ›religiöser‹ als andere Identitätstheoretiker. 59 Zum logischen, sozio- und psychologischen Zusammenhang zwischen Identität und partieller Autonomie vgl. Straub, Jürgen/Zielke, Barbara:»Autonomie, narrative Identität und die postmoderne Kritik des sozialen Konstruktivismus. ›Relationales‹ und ›dialogisches‹ Selbst als zeitgemäße Alternativen«?, in: Friedrich Jäger/Jürgen Straub (Hg.), Was ist der Mensch, was Geschichte? Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Anthropologie. Jörn Rüsen zum 65. Geburtstag, Bielefeld: trancript, 2005, S. 165-210.
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fende Person nicht immer gleich wissen, was sie ‚hier und jetzt‘ wünschen, wollen und tun soll. Sie muss jedoch Abstand von sich und der (materiellen, sozialen) Situation halten und sich just dadurch selbst ernst nehmen können.60 Orientierungs- und Handlungsfähigkeit setzen jenes Vermögen der (Selbst-) Distanzierung voraus, welches reflektiertes Handeln bekanntlich erst ermöglicht. Nicht alle Menschen können von sich selbst und ihrer Welt so Abstand nehmen, wie es für diejenigen charakteristisch ist, die um ihre Identität bzw. um deren (an Translationen und Transformationen, Übergänge und Selbstveränderungen gekoppelte) Aufrechterhaltung bemüht sind. Diesem ›identitären‹ Typus der Struktur der kommunikativen Selbstbeziehung einer Person stehen nun andere zur Seite, die sich – auf je spezifische Weise – durch einen Mangel an Distanzierungs-, Reflexions-, Orientierungs- und Handlungsfähigkeit auszeichnen. Es mangelt dort an der (voll verfügbaren) Fähigkeit, mit sich selbst eine Art Gespräch zu führen – eine Form der sozial unterstützten Selbstverständigung –, für die es bezeichnend ist, auch den eigenen Gefühlen nachzuspüren und nicht zuletzt auf diesem Weg herauszufinden, was für einen selbst (und für die anderen) wichtig und richtig ist, was mithin in der gegebenen Lage und Situation zu tun und zu lassen ist. »Personale Identität« im hier verstandenen Sinn ist – auch das sollte deutlich sein – kein rationalistischer Begriff, sondern ein die Leiblichkeit und den spürenden Leib einer Person einbeziehendes theoretisches Konstrukt. Wir orientieren uns und wir handeln stets als leibliche Personen (und nicht als reine Verstandes- und Vernunftwesen, informationsverarbeitende kognitive Systeme und dergleichen). Mitunter hört man auf sein Gefühl und folgt ihm, ohne (noch) exakte Gründe angeben zu können, warum man das macht. Erst ›hinterher‹ ist man schlauer und weiß, ob und warum es richtig oder falsch war, sich von gewissen atmosphärischen Eindrücken, affektiv gefärbten Gewahrnissen und anderen emotionalen Gestimmtheiten, die für unsere Orientierungsbildung im materiellen, soziokulturellen und moralischen Raum generell so wichtig sind, gelenkt haben zu lassen. Ich werde nun dreierlei Typen der Struktur des kommunikativen Welt- und Selbstverhältnisses von Personen unterscheiden, die prinzipiell in der Lage sind, sich selbst ernst zu nehmen (auch wenn sie dies nicht stets im gleichen Ausmaß und in derselben Weise tun müssen und in den drei Verfassungen auch nicht gleichermaßen vermögen). Diese Typen lassen sich auf einem Kontinuum ansiedeln. Fließende Übergänge zwischen den sich überlappenden Typen sind die Regel (so dass wir es mit akzentuierenden, logisch nicht völlig disjunkten Unterscheidungen zu tun haben). So gut wie niemand bewegt sich stets und vollständig um einen einzigen Punkt des Kontinuums herum. Konkrete Personen müssen 60 H. Frankfurt: Sich selbst ernst nehmen.
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also keineswegs einem einzigen dieser Typen zugeordnet werden (völlig situationsunabhängig). Solche Zuordnungen sind prinzipiell instabil und so gut wie niemals völlig eindeutig. Dennoch helfen die abstrakten Begriffe, die – wie unten vorgeschlagen – mindestens dreierlei Positionen auf einem Kontinuum möglicher Formen der Welt- und Selbstbeziehung markieren, festzustellen, wie es um eine Person in bestimmten Hinsichten bestellt ist (vor allem: bezüglich ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, offen zu sein für Kontingenz, Alterität und Fremdheit, sowie fähig dazu, mit dieser Offenheit zurechtzukommen und mit allerlei Differenz und Dynamik im eigenen Leben relativ angstfrei ›umzugehen‹). Diese Positionen, die wohl die meisten Menschen vom eigenen SelbstErleben her kennen, auch wenn ihnen die dazu passenden theoretischen Begriffe noch nie untergekommen sind, heißen: Totalität, Identität und Multiplizität (Dissoziation, Fragmentierung oder Diffusion sind ebenfalls geläufige Bezeichnungen für den dritten Typ). Nimmt man die in der unteren Zeile der folgenden Abbildung angeführten Zwischen- oder Übergangsformen dazu (adaptive Rigidität und adaptive Diffusion), gelangt man zu folgendem Schema: Abbildung 1: Schematisches Kontinuum struktureller Selbstbeziehungen Totalität ______________ Identität ______________ Multiplizität | | Adaptive Rigidität Adaptive Diffusion
Wie man sieht, befindet sich die Identität in der Mitte des Kontinuums. Das bedeutet nicht zuletzt, dass jede Analyse der Bedeutung dieses Begriffs – jede ertragreiche Untersuchung seiner psychosozialen Pragma-Semantik – ganz unabdingbar mindestens zwei weitere Begriffe beachten muss. Über Identität im hier verstandenen Sinne lässt sich nichts Sinnvolles sagen, wenn nicht auch über Totalität und Multiplizität gesprochen wird. Die Bedeutung eines Begriffs hängt vom Netzwerk der Unterscheidungen ab, in das er eingebettet ist (und von seinen durch diese Position möglich werdenden Gebrauchsweisen in der sprachlichen Praxis einer sozialen Gruppe). Es ist – zumal im Fall komplexer theoretischer Begriffe der Sozial- und Kulturwissenschaften – eher selten so, dass sich Bedeutungsanalysen allein auf dem Boden dualer Oppositionen oder sonstiger zweigliedriger Unterscheidungen durchführen lassen (wie der klassische Strukturalismus annahm und suggerierte). Im interessierenden Fall muss mindestens die triadische Struktur der interessierenden theoretisch-begrifflichen Konstruktion in Betracht gezogen werden, soll über einen der besagten Begriffe – Totalität, Iden-
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tität, Multiplizität – überhaupt etwas Gehaltvolles und Brauchbares ausgesagt werden können. Wer diese Mühe auf sich nimmt, erkennt – im Durchgang durch die einschlägige wissenschaftliche Literatur61 – recht zügig, dass es gänzlich verfehlt wäre, einen für die Sozial- und Kulturwissenschaften hilfreichen Begriff der »personalen Identität« durch eine simple Kontrastierung mit dem »NichtIdentischen« erhalten zu wollen. Indes geschah und geschieht genau dies unzählige Male, so dass die Identität einer Person oft pauschal und reichlich unbedacht als bloßes Gegenstück zum Nicht-Identischen aufgefasst wird (und entsprechend, psychoanalytisch gesprochen, eigentlich als bloße psychosoziale Abwehrformation gegen Differenz, Alterität und Fremdheit ausgelegt wird). Just diese – in der Sprache der Mathematik und Logik, der der Identitätsbegriff ursprünglich entstammt, natürlich naheliegende und nachvollziehbare – Kontrastierung und dualistische Opposition ist überaus irreführend. So schwer das vielen auch fallen mag (weil man es beim sozialwissenschaftlichen, insbesondere sozialpsychologischen und mikrosoziologischen Identitätsbegriff mit einer kontraintuitiven Konstruktion zu tun hat, die sich von der Semantik und Pragmatik des mathematisch-logischen Konzepts vollständig gelöst hat): Man muss die Identität einer Person (im Anschluss an die wirkmächtige pragmatistische und die ebenso einflussreiche psychoanalytische Tradition) als jene Form oder Struktur der kommunikativen Welt- und Selbstbeziehung einer Person begreifen, welche eine Integration nicht nur des Differenten, sondern auch und gerade des Heterogenen zulässt und befördert, ja sogar voraussetzt (logisch, sozio- und psychologisch). Identität in diesem Sinne ist die dynamische Einheit ihrer Differenzen. Jede personale Identität ist in sich differenziert, integriert also prinzipiell viel Verschiedenes (so dass es eigentlich tautologisch ist, Identität als »Vielheit« oder auch als eine Art »Hybridität« zu konzeptualisieren). Hier kommt stets Differentes zueinander und zusammen, wenngleich das Verschiedene natürlich in variablem Ausmaß in die Struktur eingehen und sich auch hinsichtlich der ›Grade‹ oder ›Tiefe‹ seiner Verschiedenheit unterscheiden kann. Die (keineswegs nur narrative) Synthesis des Heterogenen – so lautet Paul Ricœurs glückliche Formel – verbietet es, Identität als einfaches Gegenteil des Nicht-Identischen zu bestimmen. Es gibt keine personale Identität ohne Nicht-Identisches. Es gibt keine Person, die frei wäre von Brüchen und Spannungen, innerem Widerspruch und Widerstreit, Konflikten und Krisen. Erikson sprach diesbezüglich von »dystonen«
61 Ich verweise noch einmal auf genauere Darlegungen, die ich hier voraussetze, also nur in den wichtigsten Aspekten resümiere: J. Straub: Identitätstheorien; ders: Identität.
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Potentialen.62 Identität als Einheit, Gleichheit oder Nämlichkeit einer Person – wie es in Definitionen häufig heißt, ohne dem nicht-trivialen Charakter dieser offenkundig tautologischen Bestimmungen genauer nachzugehen – ist eine als dynamisches Differenzenverhältnis oder als Relationengefüge interner Differenzen bestimmte Struktur oder Form. »Identität« ist also ebenso ein differenztheoretischer wie »Differenz« ein identitätstheoretischer Begriff ist.63 Wollte man – wofür hier nicht der Platz ist – die Form oder Struktur des komplexen Welt- und Selbstverhältnisses einer Person theoretisch genauer beschreiben, müsste man sich zuvorderst den identitätstheoretischen Begriffen der »Kontinuität« und »Kohärenz« widmen. Erst dann ließe sich genauer angeben, was man unter der zutiefst paradoxen Struktur einer in ihrer inneren Verschiedenheit und Unverträglichkeit mit sich identischen Person im Detail verstehen kann. Beide Konstrukte – die einen diachronen bzw. einen synchronen »Zusammenhang« bezeichnen (so kann man die lateinischen Wörter ja übersetzen) – bieten notwendige Spezifizierungen der als Einheit ihrer Differenzen oder als Synthesis des Heterogenen bezeichneten Identität einer Person. Dabei geht es um den Zusammenhang eines (gelebten und erlebten, vor allem aber eines erfahrenen, also symbolisch artikulierten oder zumindest artikulationsfähigen) Lebens in der Zeit einerseits (Kontinuität), und andererseits um den einheitlichen Zu62 Erikson, Erik H.: »Das Problem der Ich-Identität«, in: ders.: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973, S. 123-224, hier S. 156; Straub, Jürgen: »Identitätstheorie im Übergang? Über Identitätsforschung, den Begriff der Identität und die zunehmende Beachtung des Nicht-Identischen in subjekttheoretischen Diskursen«, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 14 (1991), S. 49-71, hier S. 61-62. 63 Das ist übrigens der Grund, einer identitätstheoretisch ohnehin als Vielheit gedachten Person eine innere Komplexität zuzuschreiben, die es logisch-begrifflich ganz unsinnig erscheinen lässt, im Plural von den Identitäten einer Person zu sprechen. Damit wäre übrigens das zentrale psychosoziale und praktische Problem vom Tisch, an dem sich Theorien personaler Identität ja abarbeiten, wenn sie sich der Frage nach der Notwendigkeit sowie nach konkreten Möglichkeiten und Modi der (aktiven) Integration des Differenten oder der Synthesis des Heterogenen umsehen. Wenn man die vermeintlich vielen Identitäten oder auch die sogenannten »Teil-Identitäten« einer Person einfach nebeneinanderstellen kann, ohne die Frage nach ihren Beziehungen und ihrem Zusammenhang überhaupt noch zu stellen, kann man das viel beschworene »Identitätsproblem« in seiner struktur- oder formaltheoretischen Dimension ad acta legen. Das Problem wäre damit erledigt. Gelöst wäre es freilich nicht, im Gegenteil: Man hätte es bloß aus den Augen verloren und die begrifflichen Werkzeuge aus der Hand gegeben, es überhaupt noch durchdenken und praktischen ›Behandlungen‹ zuführen zu können.
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sammenhang des in einer Gegenwart sich vollziehenden Lebens einer Person, die ›gleichzeitig‹ alle möglichen Wünsche hegt, Ziele verfolgt und Dinge tut, und zwar auch deswegen, weil sie ›gleichzeitig‹ viele verschiedene soziale Positionen, Funktionen und Rollen auszufüllen hat, die sie integrieren muss (Kohärenz).64 Beide Begriffe sind auf die Aufgabe gemünzt, einen sinnhaft strukturierten Zusammenhang – der ja nicht ›einfach da‹ ist im Leben und Erleben einer Person – im kreativen Vollzug ihres Handelns zu bilden, immer und immer wieder. Identität ist, mit anderen Worten, nichts Gegebenes, sondern eine Aufgabe. Ist 64 Kontinuität bilden darum bemühte Personen nicht ausschließlich, aber vornehmlich durch das Erzählen von (Selbst-) Geschichten: vgl. Brockmeier, Jens: Narrazione e cultura, Ilaria Grazzani (Hg.), Mailand/Udine: Mimesis, 2014; Brockmeier, Jens/Carbaugh, Donald (Hg.): Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture, Amsterdam: John Benjamins, 2001; Bruner, Jerome S.: Acts of Meaning, Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 1990; McAdams, Dan P.: The Stories We Live By. Personal Myths and the Making of the Self, New York: The Guilford Press, 1993; Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer, München: Fink, 1996 (franz. Original 1990); Straub, Jürgen (Hg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Zur psychologischen Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998; ders.: »Kann ich mich selbst erzählen – und dabei erkennen? Prinzipien und Perspektiven einer Psychologie des Homo narrator«, in: Alexandra Strohmaier (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript, S. 75-144. Wer Kohärenz anstrebt, muss zum Beispiel die besagten sozialen Positionen, Funktionen und Rollen, aber auch davon unabhängige persönliche Perspektiven und Pläne, Orientierungen und Handlungen, Bedürfnisse und Begehren, Sehnsüchte und Wünsche, Motive und Interessen etc. so ›unter einen Hut kriegen‹, dass sie in einem ›stimmigen‹ Verhältnis zueinander stehen, also einen insgesamt kohärenten Zusammenhang bilden. Ob dies überhaupt gelingen kann, hängt nicht mehr nur vom Einzelnen ab, sondern von sich wandelnden und kulturell variablen gesellschaftlichen Werten und sozialen Normen (die darüber befinden, was sich in kohärenter Weise zusammenfügen und miteinander vereinbaren lässt). Beispiel: Früher wäre es inkohärent erschienen (also auch ein »Identitätsproblem« gewesen), als Homosexueller das Amt des Bundesaußenministers innehaben zu wollen und tatsächlich zu bekleiden; seit einigen Jahrzehnten geht das hierzulande problemlos (während dereinst allein homosexuelle Handlungen als Straftatbestand galten). Noch ein Exempel: Man wird es vielleicht erleben – wer weiß? –, dass Frauen das Amt einer katholischen Bischöfin anstreben können, während dies heutzutage (aus Sicht der Kirche) nicht in kohärenter Weise ›unter einen Hut zu kriegen‹ wäre.
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sie erst einmal gestellt (ab einem bestimmten Alter und Entwicklungsstand), bleibt sie zeitlebens erhalten. Jede Identitätsbildung ist unabschließbar. Personale Identität ist ein in bestimmten Verhältnissen funktionales, vielleicht notwendiges, in aller Regel ›erwünschtes‹, aber niemals endgültig erreichbares Ziel. Bereits diese knappen Erläuterungen lassen erkennen: Subjekte, die sich um die Bildung ihrer Identität bemühen (und in vielen modernen Gesellschaften dazu angehalten, sogar gedrängt und abgerichtet werden), sind dynamische Unruheherde, deren Selbsterleben, Selbstgefühl und Selbstbewusstsein ohne Kontingenzerleben, Kontingenzsensibilität und Kontingenzbewusstsein nicht einmal ansatzweise vorstellbar sind. Kontingenz ist das Einfallstor für ›Unruhe‹ und Dynamik schlechthin. Sie bringt unweigerlich zeitliche, soziale und sachliche Differenzen im Welt- und Selbstverhältnis einer Person mit sich. Im Unterschied zur prästabilierten Harmonie des Immergleichen – semper idem – bezeichnet die personale ipse-Identität (Paul Ricœur) überhaupt nichts ›Statisches‹, sondern allenfalls ein dynamisches Fließgleichgewicht, das einigermaßen aufrechtzuerhalten vielfältige Anstrengungen, sowohl bewusste Aktionen als auch unbewusste Aktivitäten verlangt – ohne dass dadurch jemals ein völlig fester ›Boden unter den Füßen‹, ein unerschütterliches Fundament für alle Zeiten gebaut werden könnte. »Identität« bezeichnet eine offene, dezentrierte Prozessstruktur, für die auch ein partieller Selbstentzug konstitutiv ist.65 Dagegen lässt sich die Alternative der Totalität nun als eine (möglichst) geschlossene Struktur der kommunikativen Welt- und Selbstbeziehung einer Person bestimmen: Nichts, was nicht schon drin ist, darf hinein, nichts von drinnen in unkontrollierter Weise nach draußen, in unbekannte Regionen und fremde Gegenden gar. Nichts soll sich verändern. Kontingenz ist der bedrohliche, Angst weckende Feind der Totalität. Der Begriff zeigt an, dass es – analog zum Feld des Politischen und Gesellschaftlichen – auch im Bereich des Persönlichen ›totalitäre‹ Verhältnisse gibt. Die Zwischenstufe der adaptiven Rigidität bezieht sich auf eine tendenziell stark geschlossene, unter Berücksichtigung der gegebenen Verfassung eines Subjekts und der bestehenden Situation womöglich aber adaptive und funktionale ›Versteifung‹, ›Verhärtung‹ und ›Abschottung‹ des Selbst. Alle Menschen können in Lagen geraten – wie sie belastende kritische Lebensereignisse gewöhnlich mit sich bringen –, in denen sie sich zumindest vorübergehend kaum oder keinerlei Offenheit leisten können (gegenüber Kontingenz, gegenüber anderem und Fremdem jedweder Art, auch in Gestalt von anderen 65 Vgl. Ricken, Norbert (2002): »Identitätsspiele und die Intransparenz der Macht. Anmerkungen zur Struktur menschlicher Selbstverhältnisse«, in: Jürgen Straub/Joachim Renn (Hg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt a.M.: Campus, 2002, S. 318-359.
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Personen). Jede Öffnung ihrer Selbstgrenzen würde sie allzu stark strapazieren und vielleicht hoffnungslos überfordern. Auf der gegenüberliegenden Seite des schematischen Kontinuums befindet sich die Multiplizität, eine durch Diffusion und Dissoziation stark bedrohte, womöglich schon im Zerfall befindliche oder bereits aufgelöste, also eigentlich (relativ) strukturlose Struktur. In diesem Fall existieren keine schützenden Selbstgrenzen mehr, das Individuum verliert seine Einheit, diffundiert und dissoziiert, multipliziert sich in zusammenhangslose Fragmente (die womöglich sogar eigenständige Quasi-Personen bilden, die nichts voneinander wissen. Das ist bei der pathologischen Vielfach-Existenz der multiplen Persönlichkeit bekanntlich der Fall). Multiplizität in diesem Sinn hat nichts mit der attraktiven und verlockenden, vitalen und vitalisierenden Vielheit einer in sich diachron und synchron differenzierten Identität zu tun, die bei aller internen Komplexität, Dynamik und Heterogenität gleichwohl einen (kontinuierlichen und kohärenten) Zusammenhang bilden kann, wie fluid und fragil dieser auch sein mag. Diese Einsicht wurde von manchen postmodernen, etwas allzu fröhlichen und fahrlässigen Apologien einer angeblich nicht-pathologischen »Multiphrenie« oder »Polyphrenie« häufiger in den Wind geschlagen (als könne man sich nach einer Überbietung des Leidens an Schizophrenie ernsthaft sehnen!). Im Fall der dissoziativen Multiplizität ist das Orientierungsvermögen, das Erlebnis- und Handlungspotential eines Menschen längst massiv gefährdet oder schon heftig angegriffen, vielleicht bereits irreversibel zerstört.66 Man denke exemplarisch an starke Psychopathologien wie die Persönlichkeitsspaltung und darunter leidende, vielleicht stationär ›psychiatrisierte‹ Patienten und Patientinnen. Sieht man vom Pol der »Multiplizität« her, gibt es in der Richtung der »Identität« erneut eine Übergangs- oder Zwischenstufe, nämlich jene adaptive Diffusion, welche James Marcia (in der Tradition der psychoanalytischen Identitätsforschung Erik Eriksons) in seinen empirischen Untersuchungen von Jugendlichen in ›postmodernen‹ Kulturen und Gesellschaften als eine nicht-pathologische und sogar funktionale Struktur betrachtet.67 Funktional ist sie, weil unter zunehmend beschleunigten und fragili-
66 Einen guten Eindruck von solchen »ontologischen Verunsicherungen« bietet, auch wenn sich der Autor später vom phänomenologischen Blick einer ›konventionellen‹ Psychopathologie distanziert hat, noch immer: Laing, Ronald: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1973 [amerik. Original 1960]. 67 Marcia, James E.: »Identity diffusion differentiated«, in: Mary A. Luszcz/Ted Nettelbeck (Hg.), Psychological development across the life-span, North-Holland: Elsevier, 1989, S. 289-295; ders.: »The status of the statuses. Research review«, in: James
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sierten Lebensbedingungen, in denen es immer mehr auf die Mobilität, Flexibilität und Wandelbarkeit des Individuums ankommt – viele sprechen etwas euphemistisch vom »lebenslangen Lernen« und dergleichen –, jede auf Dauer angelegte Festlegung und jede zeitintensive, Langfristigkeit erfordernde Bindung dysfunktional ist (oder schnell kontraproduktiv werden kann). Die in solchen Verhältnissen lebenden Menschen sollten sich daher, wie Richard Sennett in kulturkritischer Absicht moniert, auf das Paradox »bindungsloser Bindungen« einstellen und einlassen (auch wenn sie das mit der Auflösung ihres Charakters zu bezahlen haben, einer bekanntlich auf Dauer, also auf eine gewisse Konstanz und Stabilität angelegten Struktur).68 Der Begriff der »personalen Identität« ist das Kind einer spät- oder postmodernen Ära, in der die theoretische Reflexion auf praktisch erlebte Differenz und Heterogenität, auf kognitive, emotionale und motivationale Spannungen im Subjekt bislang unbekannte Ausmaße annimmt und eine bis heute nicht voll erschlossene Tiefendimension erhält. Mit den Einsichten in die kontingente und komplexe, dynamische, fluide und höchst fragile Struktur des kommunikativen Selbst- und Weltverhältnisses spät- und postmoderner Subjekte tritt die Theorie personaler Identität auf den Plan. Sie ist der bis heute unabgeschlossene Versuch, die nicht reifizierbare, niemals wirklich erreichbare und schon gar nicht ein für alle Mal stabilisierbare Einheit der Person als eine (auch temporalisierte) Synthesis des Heterogenen zu denken. Sie ist das Bemühen, theoretisch ein Subjekt auf den Begriff zu bringen, das trotz der ungeheuren Zumutungen und unablässigen Anstrengungen in einer zersplitterten und weiterhin umstürzenden Welt im Zeitalter der Kontingenz einigermaßen urteils-, orientierungs- und handlungsfähig bleibt (sich also immer wieder neu orientieren, eingeschliffene Urteile und gefasste Vorhaben ändern, alte Optionen überprüfen, aufrechterhalten und bewähren oder neue ergreifen kann). Die hier vorgeschlagene struktur- oder formaltheoretische Konzeptualisierung personaler Identität wendet sich an religiöse und areligiöse Menschen gleichermaßen. Es finden sich nun aber hier wie dort auch Personen, zu denen der BeE. Marcia/Alan S. Waterman/David R. Matteson et al. (Hg.), Ego identity. A handbook for psychosocial research, New York: Springer, 1993, S. 22-41. 68 Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin-Verlag, 1998 (amerik. Original 1998); eine kritische Würdigung findet sich etwa bei Straub, Jürgen: »Der ›flexible Mensch‹ – ein neues Leitbild für jüngere Generationen? «, in: Franz Lehner (Hg.), Erbfall Zukunft (Kongressband des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, Jahreskongress 2001), München/Mering: Hampp, 2001, S. 357-368.
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griff der »Identität« eher schlecht als recht oder sogar überhaupt nicht passt. Das sind Personen, deren Welt- und Selbstbeziehung in struktureller Hinsicht als Totalität oder Multiplizität begriffen und beschrieben werden muss (oder irgendwo dazwischen liegt, mithin als adaptive Rigidität oder adaptive Diffusion gut erfasst wäre). Ich will am Ende dieser Abhandlung noch darlegen, dass Hans Joas mit soziologischer Präzision und auch mit außergewöhnlicher psychologischer Sensibilität ein Verständnis des religiösen Glaubens entwickelt (und auch als Katholik vertritt!), das bestens in ein säkulares bzw. in das von ihm so genannte »Zeitalter der Kontingenz« passt – und demgemäß zu einer Theorie personaler Identität, für die Kontingenz, Kontingenzsensibilität und Kontingenzbewusstsein konstitutive Elemente einer zeitgemäßen, auch in normativer Hinsicht begrüßenswerten Form der Personalität bilden. Die für die personale Identität wesentlichen Merkmale kann man, wie gesagt, weder allen religiösen noch allen säkular eingestellten Menschen zuschreiben. Unter den religiös Gläubigen findet man ebenso wie unter den Ungläubigen wahrlich genügend Leute, deren fundamentalistische Grundüberzeugungen in das Gewand der Totalität gekleidet sind. Es versteht sich von selbst, dass diese Struktur gravierende Konflikte mit Personen heraufbeschwört, die zeitlebens um ihre dezentrierte, transitorische Identität bemüht und zurecht der Auffassung sind, dadurch einen persönlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung und Ausgestaltung der pluralistischen Ordnung in jenem Regime der Laizität leisten, welches für liberal-demokratische Gesellschaften des 21. Jahrhunderts so unabdingbar und typisch ist.
K ONTINGENZSENSIBILITÄT UND K ONTINGENZBEWUSSTSEIN ALS S TRUKTURMERKMAL RELIGIÖSEN G LAUBENS : E INE TOLERANTE V ARIANTE GOTTESGLÄUBIGEN P ERSON
DER
»Die scheinbare Gewissheit, von der die Gläubigen lange ausgingen, von der sie sich aber heute verabschieden müssen, ist die, dass der Mensch anthropologisch auf Religion hin angelegt sei und dass, wo gegen diese Notwendigkeit verstoßen werde, durch Zwang oder menschliche Hybris oder konsumistische Oberflächlichkeit, nur moralischer Verfall eintreten könne. […] Müssen sich also die Gläubigen von einer scheinbaren Gewissheit heute verabschieden, gilt dies auch für diejenigen Ungläubigen und Religionskritiker, die in der Religion etwas geschichtlich Überholtes sehen«.69
69 H. Joas, Glaube als Option, S. 15.
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Joas sieht im religiösen Glauben – einer bestimmten Variante dieser Option, muss man sogleich hinzufügen – und in der personalen Identität bestimmter religiöser Menschen eine Struktur, die grundsätzlich offen ist für die Erfahrung von Zweifel, von Neuem und damit für verschiedene Modi kreativer Selbsttranszendenz. Die Offenheit einer Person verlangt, wie dargelegt, Aufgeschlossenheit für Andere(s) und Fremde(s), für Differenz und Kontingenz. Auf dem, wie es scheint, bewährten Boden seines Glaubens sucht Joas nach erfahrungsgesättigten und theoretisch überzeugenden Artikulationsmöglichkeiten einer Form der Religiosität, die, so könnte man sagen, besonders gut ins Zeitalter der Kontingenz passt. Seine Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen inneren Erleben sowie den Äußerungen anderer, seine ausgeprägte Beobachtungsgabe und der gewandte Umgang mit Worten erlaubt ihm schließlich eine Art des voicing im Feld des Religiösen, die sich heute eher selten findet. Joas spricht zwar nicht für alle und er spricht gewiss nicht alle Gläubigen an, wenn er (s)einen religiösen Glauben – sehr selektiv natürlich – in Augenschein nimmt, um die enorm vielfältige Option des Glaubens bezüglich der möglichen Bedeutung von Kontingenz in ihm selbst zu analysieren. Dabei geht es vorrangig um das subjektive Erleben und Bewusstsein von Kontingenz in der Glaubenspraxis selbst (zum Beispiel beim Beten), aber auch beim immer wieder zu erneuernden Bekenntnis zum religiösen Glauben, der im säkularen Zeitalter mit alternativen, ebenfalls attraktiven Optionen wetteifert. Das ist dann auch die von Joas vorgeschlagene Bestimmung eines zeitdiagnostisch gehaltvollen Kontingenzbegriffs: »Der Begriff sensibilisiert uns zugleich für die Zunahme der Optionen unseres Handelns und für die Zufälligkeit der Widerfahrnisse in unserem Leben, die sich wesentlich auch aus der Steigerung individueller Handlungsmöglichkeiten ergibt«.70 Eine der wichtigsten psychosozialen Konsequenzen liegt auf der Hand: Die wachsenden Freiheiten und Möglichkeiten können begrüßt werden und beglückend wirken, aber, weil sie unausweichlich sind und Wahlen erzwingen, auch Angst einflößen und Überlastungsgefühle auslösen: »[D]ie Fülle der Widerfahrnisse aus der Freiheit der anderen heraus kann als intensitätssteigernd, aber auch als bedrohlich erlebt werden.«71 Obwohl es wahr sein mag, dass der Glaube den Gläubigen Vertrauen, eine Art ›Halt‹ und eine gewisse ›Sicherheit‹ vermittelt, so gilt im Zeitalter der Kontingenz doch auch für sie: Alle müssen sich in der gegebenen Konkurrenz alternativer Optionen stets aufs Neue für eine Option ›entscheiden‹ (selbst wenn die 70 H. Joas: Glaube als Option, S. 123.; dort und im Folgenden finden sich auch weitere Bestimmungen des Begriffs, auf deren Wiedergabe ich verzichte. 71 Ebd., S. 124.
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Entscheidung ›von Gott her kommen‹ und sich letztlich seinem ›Walten‹ und seiner ›Gnade‹ verdanken sollte). Die eigenen Grundüberzeugungen, die eigene Lebensform und Praxis muss sich – mit ihren Chancen und Grenzen – als kontingente Option immer wieder bewähren. Jede Option ist eine Möglichkeit, die zu ergreifen und beizubehalten es ›gute Gründe‹ geben sollte, wenn die Sache denn von Dauer sein soll. Gute Gründe sind dabei nicht nur rationale Argumente, sondern auch emotionale Beweggründe, die ja nicht minder wichtig sind, weil sie die Gläubigen zu einem Leben führen, das in Joas’ Sicht – wie für William James oder Charles Taylor – Erlebnisse und Erfahrungen bietet, die in der immanenten Welt profaner Existenzen entweder gar nicht oder nur ansatzweise offenstehen. In der Welt der Gläubigen warten ›Gratifikationen‹, auf die die Ungläubigen notgedrungen verzichten müssen (vice versa, darf man hinzufügen). Jede Option hat ihre eigenen Stärken und Schwächen, bietet Möglichkeiten und wartet mit unvermeidlichen Beschränkungen auf, indem sie das Leben, Erleben und Handeln ›optionsgemäß‹ strukturiert.72 So anziehend, so vitalisierend und motivierend der religiöse Glaube auch sein mag, weil er zum Beispiel Gelassenheit im Umgang mit dem Unverfügbaren, Hoffnung und Trost angesichts eines Todes, der die Seele nicht tötet, oder aber erschütternde Transzendenzerlebnisse gewährt, die im Erleben der Gläubigen die Existenz Gottes bezeugen, so gilt auch für religiöse Menschen: Das Unverbrüchliche ist im Zeitalter der Kontingenz rar geworden (jedoch keineswegs ausgestorben, sagen die inbrünstig Gläubigen). Wo es sich noch findet, verdankt es sich, wie zumindest Joas meint, nicht selbstverständlicher Treue und unauflöslicher Bindung, sondern einem starken Wunsch und beharrlichen Willen zu erhalten, was einem lieb und teuer, ungeheuer wichtig und vielleicht sogar heilig ist, weil es das Dasein – trotz verlockender Alternativen und ihrer spürbaren Verführungskraft – ungemein bereichert und in vielleicht einzigartiger Weise ›beschenkt‹.73 Die Bestimmung des Glaubens als kontingente Option markiert den im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Punkt. Joas meldet Widerspruch gegen bekannte soziologische Religionstheorien an und betont: Der Glaube und seine vielfältigen Praktiken sind keine bloßen Komplexitätsreduktions- und Kon72 Vgl. dazu neben den bereits angegebenen (und natürlich weiteren) Stellen in Taylors Arbeiten auch Joas, Hans: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau: Herder, 2004. 73 William James sprach auch deswegen von einem notwendigen »Willen zum Glauben«: ders.: »Der Wille zum Glauben«, in: ders.: Essays über Glaube und Ethik, Gütersloh: Bertelsmann, 1948, S. 40-67 (amerik. Original 1897); vgl. dazu auch Ch. Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart.
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tingenzbewältigungsmechanismen. Die psychosozialen Funktionen religiösen Glaubens gehen weit über das hinaus, was Trostpflaster in einem von Leid geplagten Leben und was Rettungsanker in der Not vermögen. Den religiösen Glauben sowie die Institutionen, die ihm Raum verschaffen und ihn zu praktizieren helfen und seine Tradierung befördern, ›benötigen‹ oder ›schätzen‹ keineswegs bloß in Bedrängnis geratene, hilfebedürftige Menschen, die in unübersichtlichen Verhältnissen nicht gut zurechtkommen (obschon sie gerade diesen zur Seite stehen und helfen mögen). Für den Glauben gibt es vielerlei Anlässe und (Beweg-) Gründe. Er vermag ganz verschiedene Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen, nicht nur solche nach einer Verminderung von Komplexität und Kontingenz sowie anderen ›Leiden an der Welt‹. Religionen bieten zahlreiche Möglichkeiten, beglückende und bereichernde Erfahrungen zu machen, allein oder in Gemeinschaft. Joas hält es demgemäß für »ganz einseitig, die Religion nur mit beängstigenden und tragischen Formen von Kontingenz in Verbindung zu bringen und nicht auch mit Begeisterung und dem Gefühl von Dankbarkeit und Gnade«.74 Viel wichtiger ist im hier interessierenden Zusammenhang jedoch, dass es seines Erachtens eben nicht bloß um die Bewältigung oder gar die (Sehnsucht nach) Ausschaltung von Kontingenz geht, sondern Gläubige Kontingenz durchaus zulassen können und im eigenen Erleben und Bewusstsein ›halten‹ können – egal ob Kontingenz mit negativen oder mit positiven Erfahrungen verbunden wird. Gläubige können und sollten vielleicht sogar wissen, erkennen und anerkennen, dass sie kontingenterweise als Angehörige dieser oder jener Glaubensgemeinschaft singen und beten. Diese Einsicht garantiert zwar noch keine allgemeine Friedfertigkeit von Gläubigen, sensibilisiert sie aber womöglich, so Joas, für die Kontingenz des Seins auch der anderen und Fremden und legt eine deswegen ›gebotene‹ Achtung, Anerkennung und Toleranz nahe. Wer weiß und akzeptiert, dass es mannigfaltige Formen und Strömungen des religiösen Glaubens gibt sowie Weltanschauungen, die sich spirituell oder esoterisch oder vollkommen immanent, säkularisiert, profan und rational geben, muss diese kontingente Vielfalt – auch das ist dem Autor wichtig – keineswegs als unvermeidliche Infragestellung und Schwächung des eigenen Welt- und Selbstbildes erleben und begreifen. Unverbrüchlichkeit ist rar geworden, tiefe und stabile Bindungen sind heute alles andere als selbstverständlich – und doch wird ihre Möglichkeit durch Kontingenz, Kontingenzsensibilität und -bewusstsein nicht zerstört, ja nicht einmal unbedingt geschwächt. Das Gegenteil kann der Fall sein. Kontingente Gewissheit kann, gerade weil man sie sich im Zeitalter der Kontingenz erringen und stets aufs Neue bekräftigen muss, stärker sein als das ›unerschütterliche 74 H. Joas: Glaube als Option, S. 15-16.
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Fundament‹ eines einfach nur ›zugefallenen‹ und ohne eigenes Dazutun ›immer schon gefestigten‹ Glaubens. Kontingenz, Kontingenzbewusstsein und Kontingenzsensibilität allein zersetzen noch keine persönlichen Bindungen (sei es an Menschen, sei es an Werte und Überzeugungen, Weltbilder und Lebensformen). Sie ändern jedoch deren Qualität – und sorgen dabei vielleicht sogar für eine größere Tiefe, da das Bewusstsein der kontingenten Grundlagen einer Bindung auch deren freiwilligen Charakter stärkt, sodass sie als Element einer selbstbestimmten Lebensführung erlebt werden kann. Wir leben wegen der Kontingenz und der zweifellos gewachsenen Anfälligkeit von Beziehungen und Bindungen nicht zwangsläufig in permanenter »Angst und Verhaltensunsicherheit«,75 sondern öfters wohl im Gefühl, dass wir uns bemühen müssen, das uns Erhaltenswerte zu erhalten, und sei es durch kreative Veränderungen des eigenen Selbst. Dazu ist Identität im Sinne einer durch Offenheit charakterisierten Struktur des kommunikativen Welt- und Selbstverhältnisses einer Person eine gute Voraussetzung (im Gegensatz zur Totalität und auch im Unterschied zur Multiplizität). Es mag unter dem Eindruck und Einfluss gesteigerter Kontingenz vieles anders werden, Veränderung mag der normale ›Existenzmodus‹ eines temporalisierten und dynamisierten sowie synchron differenzierten, überaus komplexen Lebens werden, in dem Ordnungen, Formen und Strukturen ihre Stabilität nur in Übersetzungen und Übergängen bewahren können. Dadurch löst sich jedoch, wie die oben angestellten identitätstheoretischen Überlegungen zeigen, nicht gleich alles in völlige Strukturund Formlosigkeit oder radikale Unverbindlichkeit auf. Die Tatsache, dass es viele, womöglich unzählige und vom Einzelnen niemals überschaubare Optionen, Möglichkeiten des Erlebens und Lebens, des Wählens und Handelns gibt, muss, so Joas, niemanden verzagen und verzweifeln lassen angesichts des einen, mit dem Stempel der Kontingenz versehenen eigenen Daseins. Abgesehen davon, dass man zwischen verschiedenen Leben ohnehin nicht wählen kann wie zwischen verschiedenen Paar Schuhen, relativiert die Tatsache, dass alle Menschen zwischen zunehmend mehr Optionen suchen und aussuchen können und unter Bedingungen der Individualisierung sogar auswählen müssen, nichts – jedenfalls nicht mit zwingender Notwendigkeit. Wo pluralistische Kulturen und liberale Gesellschaften mit mehreren konkurrierenden Werten aufwarten, wird nicht gleich alles wertlos. Weder zersetzen sich Werte und Normen zwangsläufig, noch verlieren sie ihre orientierende und motivierende Kraft, nur weil es andere Werte und Normen und Optionen gibt, die durchaus auch anziehend sind, sogar faszinieren können. Joas formuliert seine auch im eigenen subjektiven Erleben und Leben verwurzelte Ansicht schließlich so: »Für 75 Ebd., S. 140.
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mich stellt der Glaube keine Kontingenzbewältigungstechnik dar, sondern die Voraussetzung für einen spezifischen Umgang mit Kontingenz; unter Bedingungen hoher Kontingenz kann es [...] sehr wohl zu festen Bindungen an Personen und an Werte kommen, es ändert sich nur die Art dieser Bindung; und nicht Relativismus ist das Resultat von Kontingenzsensibilität, sondern ›kontingente Gewissheit‹, eine Gewissheit, die sich der Kontingenz ihrer Entstehung bewusst ist.«76 Offenbar bemüht sich Joas um eine interpretative Rekonstruktion und erfahrungsgesättigte Artikulation des religiösen Glaubens, die den zentralen Lebensbedingungen im Zeitalter der Kontingenz Rechnung trägt – dabei aber nicht weiter von der irrigen Annahme ausgeht, Modernisierung verlaufe stets Hand in Hand mit einer alles Religiöse zermalmenden »Säkularisierung« (im Sinne bestimmter soziologischer Auffassungen und Mutmaßungen, die Joas allesamt zurückweist). Wohlgemerkt, der neo-pragmatistische Soziologe und Sozialphilosoph betätigt sich in seinen Analysen keineswegs als Apologet der Religion(en), schon gar nicht als theologischer Dogmatiker oder verbohrter Pfaff und missionarischer Prediger, der das Eigene als absolutes Allgemeines missversteht und nichts gelten lassen mag als die eigenen Anschauungen und Auslegungen der Welt. Im Gegenteil, man kann und sollte sehen, dass Joas sicherlich vielen dogmatisch Religiösen ins Gehege kommt und jedem fundamentalistischen Funken religiöser Eiferer schnell mit Erlöschen droht, wenn er die kontingenten Grundlagen jedes Glaubens hervorhebt und selbst im Feld des Religiösen nicht mehr zulässt als »kontingente Gewissheit«. Das ist jedoch gerade so viel, wie man braucht, um in der Gegenwart eines über sich und seine Geschichte einigermaßen aufgeklärten 21. Jahrhunderts bestehen und auf der Grundlage seiner personalen Identität weiterleben zu können – auch dort, wo die kühle Luft einer ernüchterten und nüchternen Ratio weht, der alles Übersinnliche und emphatisch Tiefsinnige zutiefst suspekt ist. Joas’ kontingenzsensible Begriffs- und Theoriebildung – die sich bereits in seinen Überlegungen zur Kreativität des Handelns deutlich niederschlug77 – kommt in empirisch gesättigten Rekonstruktionen und hermeneutischen Interpretationen des religiösen Glaubens kraftvoll zum Ausdruck. Der Autor entwickelt hier eben eine Vorstellung von Religiosität und Gläubigkeit, die sich selbst als kontingent ver76 Ebd., S. 126. 77 Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992; dazu Straub, Jürgen: »Das Handeln denken. Kreativität als Grundbegriff einer revidierten Handlungstheorie in Soziologie und Nachbardisziplinen«. (Zu Hans Joas: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992), in: Handlung Kultur Interpretation. Bulletin für Psychologie und Nachbardisziplinen, 3 (1992), S. 113-129.
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steht, ohne deswegen etwas von ihrer Anziehungs- und Bindungskraft einbüßen zu müssen. Diese Vorstellung verträgt sich nach der hier vertretenen Auffassung gut mit einer Theorie personaler Identität, die Menschen das Potential zuschreibt, ihr Leben trotz aller Kontingenz und Komplexität, trotz aller unvermeidlichen Brüche und Krisen in den Grundzügen als einen kontinuierlichen und kohärenten Zusammenhang zu artikulieren und sich so als ein ›mit sich identisches Subjekt‹ auszulegen. Das (unter anderem) im symbolischen Medium der Erzählung artikulierte und repräsentierte Leben eines narrativen Selbst spiegelt Bedingungen, Erfahrungen und Erwartungen wieder, die im Zeitalter der Kontingenz unausweichlich sind. Im interessierenden Kontext ist dabei folgender Punkt von größter Bedeutung: Obwohl die Erfahrung gesteigerter Kontingenz und Optionsvielfalt eine Sehnsucht nach einem lebenspraktischen fundamentum inconcussum, einer nicht-kontingenten und niemals mehr anzuzweifelnden Gewissheit in der Totalität wecken kann, ist die Hinwendung zu (religiösen) Absolutismen und Fundamentalismen keinerlei Notwendigkeit. Ein zeitgemäßer religiöser Glaube kann ebenso auf eine kontingente Gewissheit bauen, die offen bleibt für Erschütterungen und Erlebnisse, die einen Menschen womöglich vom Glauben abfallen lassen oder zu einem anderen Glauben hinführen. Das kulturell (mittlerweile) tief verankerte Kontingenzbewusstsein, die in sozialen Erfahrungen und ihren symbolischen Artikulationen sowie in psychischen Dispositionen stets präsente Vielfalt von Optionen des Handelns und Lebens muss nicht das Ende der Religion bedeuten, verlangt aber einen Strukturwandel religiösen Glaubens. Joas misstraut, ohne die Verhältnisse schönzureden, den (auch in sozial- und kulturwissenschaftlichen Zeitdiagnosen) verbreiteten Lamenti »fortschreitender Fragmentierung, dem Verlust der Werte in unserer Zeit, dem Verschwinden der Gemeinschaft, des Vertrauens, der Bindung und der Charakterbildung und eben auch des Glaubens.«78 Ohne für zahllose Phänomene sozialer Ungleichheit und andere Zumutungen blind zu sein, singt er ein leises Loblied auf die Vielfalt von Handlungs- und Lebensoptionen sowie die damit verbundene Konkurrenz nicht nur von Optionen. Es konkurrieren ja eigentlich nicht Weltbilder und Lebensformen miteinander, sondern Menschen, die eine bestimmte religiöse oder säkulare Option gewählt haben. Auseinandersetzungen sind unvermeidlich, wo sich Personen, die anders denken, fühlen, handeln und leben, weil sie andere Grundüberzeugungen hegen, nicht völlig gleichgültig sind. Wechselseitige Anerkennung bedeutet, einander ernst zu nehmen. Das bringt es mit sich, dass man sich mit den Erfahrungen und Erwartungen der anderen beschäftigt, mit ihren Wünschen und Ängsten, Hoffnungen und Befürchtungen. Dies kann auch heißen, dass man die Überzeugungen und das damit verwobene 78 Joas, Glaube als Option, S. 129.
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Handeln und Leben der anderen kritisiert, um dadurch voneinander lernen zu können. Das Zauberwort des »Gesprächs«, eines Dialogs oder Polylogs, der kulturelle, soziale und psychische Differenzen und nicht zuletzt Unterschiede im religiösen Feld sowie Differenzen zwischen Gläubigen und Ungläubigen einbezieht, hat hier noch immer eine große Anziehungs- und Aussagekraft. Das gibt auch Joas zu Protokoll, wenn er sein Buch nicht als »Apologetik religiösen Glaubens«,79 schon gar nicht als missionarische Reklame für seinen eigenen Glauben verstanden wissen will (obschon er dieses Missverständnis befürchtet), sondern als Gesprächsangebot und speziell als »Versuch, zur Eröffnung eines Raumes des Sprechens beizutragen, in dem sowohl spezifische religiöse wie eben auch spezifische säkularistische Annahmen artikuliert und aufeinander bezogen, aber auch in Frage gestellt werden können.«80 Die oben erläuterten Konturen eines anspruchsvollen theoretischen Begriffs personaler Identität sowie die kursorischen Erinnerungen an ein Konzept religiösen Glaubens, das sich – wie der hier empfohlene Identitätsbegriff – in wichtigen Hinsichten um Kontingenz, Kontingenzbewusstsein und Kontingenzsensibilität dreht, lassen sich unschwer aufeinander beziehen. Sie zeigen, dass es keineswegs von vorneherein ausgemacht ist, dass die religiös Gläubigen dieser Welt mehr miteinander verbindet als bestimmte Gläubige einerseits, bestimmte Ungläubige und religiös Unmusikalische andererseits. Wie andere Kollektivsingulare sind auch »die Religion« oder »der Glaube« voller Fallstricke, die uns die Unterschiede zwischen speziellen Religionen und konkreten Gläubigen übersehen lassen. Es kommt schon darauf an, in welcher Art und Weise Menschen glauben, wie Personen ihren Glauben praktizieren und auslegen, wie sie ihn speziell im Hinblick auf die Rolle von Kontingenz, Kontingenzbewusstsein und Kontingenzsensibilität verstehen. Es gibt Gläubige, denen man aus guten Gründen eine Struktur oder Form der kommunikativen Welt- und Selbstbeziehung zuschreiben kann, die im skizzierten Sinne als personale Identität zu bezeichnen wäre. Diese Glaubenden verbindet allein deswegen – ungeachtet aller freilich bleibenden Unterschiede – so manches mit vielen religiös Unmusikalischen und Ungläubigen. Beide diese Gruppen trennt zugleich vieles von anderen religiösen und areligiösen Menschen, deren Welt- und Selbstverhältnis in struktureller Hinsicht an die Formen der Multiplizität oder Totalität erinnern. Dessen darf und sollte man sich vielleicht auch dann bewusst bleiben, wenn man sich (wie im vorliegenden Band) ganz besonders für »muslimische Identitäten« interessiert. Ein theoretisch ge79 Ebd., S. 21. 80 Ebd., S. 22.
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haltvoller, in ein Netzwerk von klaren Unterscheidungen eingebundener Begriff personaler Identität ist meines Erachtens bestens dazu geeignet, überraschende Ähnlichkeiten und Verwandtschaften aufzudecken, wo üblicherweise fast nur von Unterschieden und abgrundtiefen Gräben zwischen Menschen die Rede ist. Wo sich Muslime und Muslima angemessen im Licht einer Theorie »personaler Identität« begreifen und beschreiben lassen, eröffnen sich willkommene Möglichkeiten, Bande der Solidarität zwischen ihnen, Andersgläubigen und Ungläubigen zu knüpfen. Das geht freilich nicht nur jene an, welche an den Koran glauben, sondern alle, die sich in einem »Raum des Sprechens« bewegen wollen, »in dem sowohl spezifische religiöse wie eben auch spezifische säkularistische Annahmen artikuliert und aufeinander bezogen, aber auch in Frage gestellt werden können. […] Nur ein solcher neu geöffneter Raum des Sprechens eröffnet den Individuen die Freiheit zur Wahrnehmung der säkularen Option oder der Option des Glaubens, eines Glaubens«.81 Vielleicht sollte man gleich ergänzen und so den Kreis möglicher Gesprächspartner erweitern: einer säkularen Option, da man ja wohl davon ausgehen darf, das sich auch hinter der typisierenden Sammelbezeichnung des »Säkularen« so manches verbirgt, das eher schlecht als recht zusammenpasst und sich manchmal auch überhaupt nicht miteinander verträgt (weshalb man das Adjektiv »säkular« semantisch differenzieren und ihm auch das pejorativ gemeinte Attribut »säkularistisch« zur Seite stellen kann). Selbst im Feld des Säkularen, so kann man mutmaßen, bleiben die pluralistischen Ordnungen liberal-demokratischer Gesellschaften, wie könnte es anders sein – pluralistisch. Meine Suche nach dem subjekttheoretischen Analogon oder Äquivalent zum sozial- und kulturtheoretischen Konzept einer liberalen Demokratie im Regime der Laizität, einer Regierungs- und Lebensform also, die durch Offenheit gegenüber radikaler Pluralität, durch Kontingenzsensibilität und Kontingenzbewusstsein charakterisiert ist, ist vorläufig an ihr Ende gelangt. Diese Suche ist im Kern eine kulturpsychologische Fahndung nach dem inneren Zusammenhang zwischen soziokulturellen Lebensbedingungen und der Struktur des Selbst- und Weltverhältnisses von Personen, die sich an diese Bedingungen angeglichen haben und weiterhin anpassen – und beständig anschmiegen müssen, da solche Bedingungen nicht fest und bleibend sind, sondern dynamisch und beweglich, so dass das einzig Bleibende ihre Veränderung ist. Einer von Kontingenz durchzogenen Kultur der Pluralität in offenen Gesellschaften entspricht eine kontingenzsensible und kontingenzbewusste Person, die sich als integraler Bestandteil dieser Kultur begreift, entsprechend behandelt wird und selbst handelt.
81 Ebd.
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Die Bildungsarbeit islamischer Organisationen und die Identitätsentwicklung junger Muslime in Deutschland U RSULA B OOS -N ÜNNING
Zwei Themen, die besondere Relevanz für die Beschreibung der Situation von Jugendlichen in der Einwanderungsgesellschaft besitzen, sollen – fokussiert auf muslimische Jugendliche – miteinander verbunden werden: Die Überlegungen zur Identitätsentwicklung auf der einen und die Bildungsarbeit von Migrantenorganisationen auf der anderen Seite.
1. I DENTITÄTSENTWICKLUNG E INWANDERUNG
UNTER DER
B EDINGUNG VON
In der Betrachtung der Biographie in der postmodernen Gesellschaft lebender Menschen spielt die Frage der Identitätsentwicklung vor allem in der Kindheit und im Jugendalter eine hervorgehobene Rolle. Deren Ziel und Zweck ist die Entwicklung einer stabilen selbststeuerungsfähigen Persönlichkeit sowie von Humanvermögen zur Vorbereitung auf die kompetente Erfüllung gesellschaftlicher Rollen. Bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund wird ein Aspekt von Identität beschrieben, der bei einheimisch deutschen Jugendlichen keine Rolle spielt, nämlich der der nationalen oder ethnischen Identität. Seit Beginn der Diskussion um die Folgen der Einwanderung auf die Persönlichkeitsentwicklung wird – wohl in erster Linie veranlasst durch die Einführung des Konstruktes identifikative Integration – die Forderung nach Übernahme einer »deutschen Identität« erhoben. Ethnische Identität oder Ethnizität wird in Untersuchungen häufig ausschließlich als ethnische Selbstverortung erfasst. Ethnische Selbstverortungen verlieren – so in früheren und heutigen Untersuchungen ermittelt – im
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Verlauf des Einwanderungsprozesses nicht – wie erwartet – an Bedeutung.1 Nicht selten wird die Ethnizität orientiert an der Herkunftskultur von den Kindern der Einwanderer sogar reaktiviert, begleitet von jugendspezifischen Aneignungs- und Transformationsprozessen herkunftskultureller Bezüge. Demnach greifen die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen mit Migrationshintergrund stärker als ihre Eltern auf ihre Selbstverortung als Mitglied der Herkunftskultur der Eltern oder sogar Großeltern und (durchaus selektiv) auf die Werte und Normen der Migrationskultur zurück. Diese Prozesse der (Re-) Ethnisierung werden durch die politische und ökonomische Desintegration in der Aufnahmegesellschaft und die tatsächliche oder wahrgenommene Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit erklärt. Als Deutsche verorten sich wenige, eher als Europäer oder Europäerinnen oder als Angehörige der Stadt oder der Region, in der sie leben.2 Wird das Konstrukt Ethnizität in verschiedene Dimensionen ausdifferenziert, wird auch in Untersuchungen mit quantitativen Methoden ein Bild gezeichnet, das den in Untersuchungen mit qualitativen Verfahren ermittelten Vorstellungen von funktionalen multiplen Identitäten entspricht. Die Befragten lassen sich nicht eindeutig einer ethnischen Orientierung zuordnen, sondern orientieren sich innerhalb verschiedener Dimensionen unterschiedlich mehr oder weniger an der Herkunftsethnie oder an dem Herkunftsland der Eltern bzw. an Deutschland. So verorten sich junge Menschen nicht als Deutsche, auch dann nicht, wenn andere Optionen zugelassen werden, fühlen sich jedoch emotional in Deutschland wohl, sehen ihren künftigen Lebensort nur in Deutschland, verbringen die Freizeit kaum mit deutschen Gleichaltrigen und möchten keinen Deutschen heiraten, besitzen aber die deutsche Staatsangehörigkeit oder wollen sie beantragen. Sie wählen die kulturbezogenen Elemente aus, an die sie sich anpassen wollen.3 Junge Frauen mit türkischem Migrationshintergrund fühlen sich häufiger in Deutschland wohl, wehren sich aber auch mehr gegen kulturbezogene Anpassungsanforderungen und wollen häufiger auf keinen Fall einen einheimisch Deutschen heiraten.4 In der Selbstdefinition z.B. von Jugendlichen mit Migrationshintergrund als Frankfurter, als Deutsche, als Frankfurter Türken, als Bockenheimer Türken, als Türken und dem darauf beruhenden und notwendig 1
Vgl. Dannenbeck, Clemens/Esser, Felicitas/Lösch, Hans: Herkunft (er)zählt: Befunde über Zugehörigkeiten Jugendlicher, Münster: beck, 1999, hier S. 88.
2
Vgl. Boos-Nünning, Ursula/Karakaşoğlu, Yasemin: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster: Waxmann, 22006, hier S. 307ff.
3
Vgl. U. Boos-Nünning/Y. Karakaşoğlu: Viele Welten leben, S. 306ff.
4
Vgl. ebd., S. 335.
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werdenden Identitätsmanagement sieht schon Sauter die Chance einer Modernisierung von Ethnizität als Fähigkeit, Ambivalenz auszuhalten, zu bearbeiten und in eine eigene Lebensform zu überführen.5 Wenn Migration und das Leben in der Migrationsgesellschaft als bewusst verarbeiteter Prozess und integraler Bestandteil einer Biographie in ein Identitätskonzept aufgenommen wird, müssen widersprüchliche Erfahrungen von Migranten und Migrantinnen keineswegs zum identitätsgefährdenden Risiko werden. Im Gegenteil, die Konfrontation kann als Bestandteil der Biographie betrachtet werden, die auf der Grundlage eines dynamischen Kulturverständnisses auch entsprechende dynamische Verarbeitungsmuster erfährt. Hierzu ist es jedoch notwendig, eine Identitätstheorie zu entwickeln, die das Leben in und mit verschiedenen Lebensrealitäten als eine von mehreren möglichen Normalbiographien anerkennt; und zwar als Lebensrealitäten, die nicht nur pragmatisch bewältigt sondern selbstverständlich gelebt werden. Ein Identitätskonzept, das widersprüchliche Erfahrungen nicht schematisch als problemgenerierend definiert, ist für die Beschreibung der Situation dieser Gruppe adäquat. In Anwendung des interaktionistischen Identitätsmodells kann formuliert werden, dass eine positive Identitätsentwicklung die Handlungsfähigkeit in verschiedenen Systemen fordert und die Person befähigt werden muss, unterschiedliche Wertesysteme je nach Erfordernis voneinander abzugrenzen und die jeweils entsprechenden Normen sinngemäß und zweckmäßig anzuwenden bzw. situationsadäquat in einer Art kreativem und dekonstruktivem Prozess abzuwandeln. Wenn die Lebenssituation der Migranten und Migrantinnen strukturell analysiert und als eine Lebenswelt mit ›multiplen Realitäten‹ betrachtet wird, so kann ein Modell einer multiplen Identität Anwendung finden. Es verweist auf Ressourcen und Kompetenzen. Das Individuum muss sich immer wieder aufs Neue verorten und sich dabei in unterschiedliche aber grundsätzlich integrierbare Teil-Selbste aufspalten. Laut Mecheril sind die von ihm als »Andere Deutsche« bezeichneten jugendlichen Migranten, die tagtäglich Zugehörigkeitsmanagement betreiben (müssen), daher »Mehrfachzugehörige«.6 Im angelsächsischen Raum findet diese Diskussion eine Entsprechung in der Debatte um die »cultural hyb5
Vgl. Sauter, Sven: Wir sind ›Frankfurter Türken‹. Adoleszente Ablösungsprozesse in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt/Main: Brandes&Apsel, 2000, hier S. 152.
6
Mecheril, Paul: »Zugehörigkeitsmanagement. Aspekte der Lebensführung von Anderen Deutschen«, in: Iman Attia/Helga Marburger (Hg.), Alltag und Lebenswelten von Migrantenjugendlichen, Frankfurt/Main: IKO-Verlag, 2000, S. 27-48, hier S. 45; vgl. Mecheril,
Paul:
Prekäre
Verhältnisse:
Über
natio-ethno-kulturelle
fach-)Zugehörigkeit, Münster: Waxmann, 2003, hier S. 12.
(Mehr-
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ridity«, also hybride Identitäten, die in neuerer Zeit in der deutschen Fachdiskussion aufgegriffen wird.7 Seit einigen Jahren wird zusätzlich die religiöse Identität der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Focus der Analysen gestellt und zwar insbesondere und überwiegend bezogen auf Kinder und Jugendliche islamischer Religion. Wurden vorher die jungen Menschen mit Migrationshintergrund, deren Eltern oder Großeltern aus der Türkei eingewandert waren, wegen Zuschreibung einer besonders großen kulturellen Distanz als spefizische – häufig negativ dargestellte – Gruppe herausgestellt, so sind es nunmehr die Muslime, die besondere Aufmerksamkeit erfahren. Sowohl bezüglich der Thematisierung in den Medien als auch bezüglich des Eingangs in die Titel fachwissenschaftlicher Publikationen gewinnt das Thema Islam und Muslime kontinuierlich an Bedeutung, obgleich weder über die Zahl der Muslime in Deutschland noch über die Zugehörigkeit von Familien oder Personen zur Gruppe der Muslime Klarheit besteht.8 Werden die Selbstzuordnungen von Mädchen und jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund nach der schon angeführten Untersuchung berücksichtigt, so identifizieren sich 27% nur als Angehörige der Herkunftsgruppe, 9% nur als Angehörige der Religionsgruppe und 37% fühlen sich sowohl der Herkunfts- als auch der Religionsgruppe zugehörig. Immerhin 27% verbinden ihre Identität mit keiner der beiden Zuordnungen.9 Bei Jugendlichen, die in religiösen islamischen Einrichtungen leben – untersucht in den Wohnheimen des Verbandes der Islamischen Kulturzentren – ist die religiöse Identifikation deutlich wichtiger als die ethnisch-nationale: 90% der befragten Jugendlichen stufen erstere und 70% letztere als sehr oder ziemlich wichtig ein.10
7
Vgl. Foroutan, Naika/Schäfer, Isabel: »Hybride Identitäten – muslimische Migrantinnen und Migranten in Deutschland und Europa«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5 (2009), S. 11-18.
8
Vgl. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen (Hg.): Muslime in der Mehrheitsgesellschaft: Medienbild und Alltagserfahrungen, Berlin, 2013, S. 8ff.; vgl. Foroutan, Naika/Schäfer, Isabel : »Hybride Identitäten – muslimische Migrantinnen und Migranten in Deutschland und Europa«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5 (2009), S. 11-18, hier S. 13; vgl. Spielhaus, Riem: »Muslime in der Statistik: Wer ist Muslim und wenn ja wie viele? Ein Gutachten im Auftrag des Mediendienstes Integration«, http://mediendienst-integration.de/artikel/wer-ist-muslim-und-wenn-ja-wie-viele.html vom 03.07.2014.
9
Vgl. U. Boos-Nünning/Y. Karakaşoğlu: Viele Welten leben, S. 311.
10 Vgl. U. Boos-Nünning: Beten und Lernen. Eine Untersuchung der pädagogischen Arbeit in den Wohnheimen des Verbandes der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), S. 45.
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Aber auch diese Jugendlichen bejahen individualisierte Werte und halten Erfolg und familiäre Bindung für höchst bedeutsam für ihr Leben. Zwar wird von einem erheblichen Teil (61%) die eigene Religion hoch geschätzt und die Bereitschaft gezeigt, sehr viel für die Religion zu tun sowie der Wunsch genannt, viele Menschen für die eigene Religion zu gewinnen, aber gleichzeitig besteht ein hohes Maß an Offenheit gegenüber anderen Religionen und ein geringes Maß an religiöser Abschottung. Eine weitere Grundhaltung ist davon geprägt, mehr über den Islam zu erfahren und sich mit religiösen Vorstellungen auseinanderzusetzen wie auch von dem Wunsch getragen, dass andere Menschen interessiert sein sollten, mehr Wissen über den Islam zu erwerben. Deutlich wird darin der Wunsch nach mehr Verständnis für die eigene religiöse Auffassung und Haltung.11 Der Wechsel von der nationalen bzw. ethnischen zur religiösen Identität wurde und wird durch öffentliche Zuschreibungsprozesse gestützt und beschleunigt. Abgesehen von einer recht kleinen Zahl von Konvertiten kamen Menschen muslimischen Glaubens und damit der Islam mit der Arbeitsmigration in den frühen sechziger Jahren neu nach Deutschland. Für die deutsche Gesellschaft und für die einheimische deutsche Bevölkerung bedeutete die Einwanderung nicht nur die Verbreiterung der kulturellen sondern auch die Diversifizierung der religiösen Vielfalt. Die Entwicklung religiöser Einstellungen und die Auseinandersetzung mit der eigenen (im Einwanderungsland fremden) Religion und damit die Ausprägung einer religiösen Identität hängt auch davon ab, wie dieser Religion und den religiösen Formen begegnet wird und – worauf im nächsten Punkt eingegangen wird - ob die Bildung religiöser Gemeinschaften gelingt. Seit der Islam in den Stadtteilen in Form von Moscheebauten und kopftuchtragenden Frauen sichtbar wird, nehmen negative Aussagen und Abgrenzungen zu. Schon seit Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde das »Feindbild Islam« als gesellschaftliche Haltung eines Teils der deutschen Bevölkerung herausgestellt.12 Deutlich früher schon wurden durch Konzepte von der kulturellen Distanz die Einwanderer aus der Türkei als fremd definiert. Seit dem 11. September 2001 bestimmen die Auseinandersetzungen mit dem Islam und den Muslimen und Musliminnen den öffentlichen Diskurs. Die Auseinandersetzung mit und die Einbeziehung der als fremd eingeordneten Religion ist ambivalent: Auf der einen Seite erfolgt eine Institutionalisierung zum Beispiel in Form der Einführung von islamischem Religionsunterricht in den Schulen sowie der Ausbildung von Religionslehrern und Religionslehrerinnen, auf der anderen Seite werden religiöse Formen und aus religiösen Werten begründete Forderungen 11 Vgl. ebd., S. 50-51. 12 Vgl. Hippler, Jochen/Lueg, Andrea (Hg.): Feindbild Islam, Hamburg: Konkret Literatur Verlag, 1993, S. 14ff.
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wie eine Geschlechtertrennung im Schwimm- und Sportunterricht oder Möglichkeit der Verrichtung von Gebeten im Raum von Schulen rechtlich zurückgewiesen oder – trotz Entscheidungen der Gerichte zugunsten dieser Forderungen – durch Schulgesetze oder Erlasse konterkariert. Ein geplanter Moscheebau, eine Einrichtung einer muslimischen Kindertagesstätte oder einer Schule eines muslimischen Trägers führte früher und führt in vielen Fällen auch heute noch zu ablehnenden Reaktionen.13 Religiöse Vielfalt wird von einer zahlenmäßig bedeutsamen Gruppe einheimisch Deutscher als Bedrohung und als Ursache gesellschaftlicher Spannungen angesehen, insbesondere – wie ausgeführt – wenn es um den Islam oder um Muslime und Musliminnen geht. Auch die religiösen Orientierungen einer beträchtlichen Zahl der jungen Menschen mit Migrationshintergrund werden weder im öffentlichen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft noch in dem der Wissenschaft neutral (oder gar positiv) dargestellt, vielmehr wird Religiosität nicht selten in einen Zusammenhang mit vormodernen und traditionalistischen wenn nicht sogar fundamentalistischen Haltungen und Einstellungen gebracht.14 Eine kaum mehr überschaubare wissenschaftliche Literatur zum Islam (Orientierungen, islamische Verbände, Islamfeindlichkeit) wird begleitet von einer ständigen öffentlichen Debatte in den Medien spätestens und verstärkt seit 2001 mit überwiegend negativer Konnotation und von einer weniger öffentlichen aber umso deutlicher negativen Darstellung in den Internetblogs.15 Aus Gastarbeiterkindern wurden Kinder türkischer Herkunft und danach mit türkischem Migrationshintergrund und schließlich muslimische Kinder. Im Denken nicht nur der einheimischen deutschen Bürger und Bürgerinnen sondern auch in dem von Sozialpädagogen und -pädagoginnen, Lehrern und Lehrerinnen sind Bilder von Kindern und Jugendlichen mit türkischem oder arabischen Hintergrund enthalten, die (eigentlich deren Eltern oder Großeltern) aus Ländern mit großer kultureller Distanz (autoritär, patriarchalisch geprägt, undemokratisch) stammen und die in die westlichen (demokratischen, pluralistischen) Industriestaaten eingewandert sind. Sie bringen eine Religion mit, die die Gleichheit der Geschlechter nicht kennt und vor allem nicht akzep13 Vgl. Hüttermann, Jörg: Das Minarett. Zur politischen Kultur des Konflikts um islamische Symbole, Weinheim: Juventa, 2006, S. 69ff. 14 Dieses geschieht in der Studie von Heitmeyer, Müller und Schröder 1997 über Brettfeld und Wetzels 2007 und bis zum heutigen Tag. Allein die spektakulären Buchtitel schüren Fremdenabwehr bzw. tragen zu einer negativen Sicht auf den Islam bei, so Auge um Auge, Zahn um Zahn? von Wetzels/Brettfeld 2003; Schuf Gott am 8. Tag Gewalt? von Brettfeld 2009. 15 Näheres dazu bei Baş, Yasin (Hg.): nach-richten: Muslime in den Medien. Köln: forege (Forschungszentrum für Religion und Gesellschaft), 2011.
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tiert und die es verhindert, sich in einer pluralistischen Gesellschaft zurechtzufinden. Aber auch eine positive verständnisvolle Grundhaltung gegenüber dem Islam behebt die Schwierigkeiten im Diskurs nicht. Iman Attia (2009) stellt in ihrer Studie zu antimuslimischen diskursiven Praktiken in Deutschland fest, dass unterschiedlichen und widersprüchlichen Tendenzen im Diskurs über den Islam die Essentialisierung der ›Muslime‹ als zentrales Moment gemeinsam ist, selbst wenn die sprachlichen, pädagogischen oder politischen Intentionen divergieren. Um ›Muslime‹ zu vereinnahmen, zu verstehen, zu diskriminieren, zu tolerieren, zu integrieren, zu bekämpfen oder unter ihnen ›Unterscheidungen und Differenzierungen‹ vorzunehmen, ist es zuerst notwendig, sie in ihrem ›Wesen‹ begriffen, also festgelegt zu haben.16 Für junge Menschen mit Migrationshintergrund, deren Eltern oder Großeltern aus Ländern mit überwiegend islamischer Bevölkerung eingewandert sind, insbesondere aber für junge religiöse Muslime begründet dieses eine Außenseiterstellung, aber auch eine durch Fremdzuschreibung (mit)bestimmte religiöse Identität.17 Sie nehmen wahr, dass im alltäglichen Umgang mit einheimisch deutschen Gleichaltrigen und in den sozialen Bezügen, die religiöse Zugehörigkeit zum zentralen Merkmal ihrer Person gemacht wird und dieses obgleich für die jungen Menschen selbst andere Bezüge ebenso wichtig oder sogar wichtiger sind.18 Obwohl die religiöse Orientierung im Alltag und in der Lebenspraxis vielfältig und differenziert ist, sind die Zuordnungen in der Öffentlichkeit homogenisiert und weitestgehend vereinfacht.19 Als Gründe für die oben beschriebenen Prozesse der Ethnisierung der muslimischen Jugendlichen werden die politische und ökonomische Desintegration in der Aufnahmegesellschaft und die tatsächliche oder wahrgenommene Diskriminierung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit genannt. Es geht bei derartigen Ethnisierungsprozessen nicht um eine bloße Verpflanzung oder Weitergabe von Elementen der Herkunftskultur im intergenerativen Austausch, sondern vielmehr 16 Vgl. Attia, Iman: Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes. Zu Dekonstruktion von Orientalismus und Antimuslimischen Rassismus, Bielefeld: transcript, 2009, hier S. 7; nach Mecheril, Paul/Thomas-Olalde, Oscar: »Die Religion der Anderen«, in: Birgit Allenbach/Urmila Goel/Merle Hummrich (Hg.) u.a., Jugend, Migration und Religion. Interdisziplinäre Perspektiven, Zürich: Nomos, 2011, S. 35-63, hier S. 48. 17 Vgl. Spielhaus, Riem: Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, Würzburg: Ergon Verlag, 2011, hier S. 134ff. 18 Vgl. Yıldız, Erol: »Ein Ausflug in die Alltagspraxis migrantischer Jugendlicher«, in: Birgit Allenbach/Urmila Goel/Merle Hummrich (Hg.) u.a., Jugend, Migration und Religion. Interdisziplinäre Perspektiven, Zürich: Nomos, 2011, S. 115-133, hier S. 119. 19 Ebd., S. 119.
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um eine symbolische, auf (kollektive) Identitätsdarstellung und den Kampf um Anerkennung zielende und damit eine neu definierte, aus primordialen Bezügen herausgelöste Ethnizität in der Migrationssituation.20
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Die Beschäftigung mit der Bildungsarbeit – hier als weiterer Begriff verstanden unter Einbeziehung der Kinder- und Jugendarbeit – islamischer Organisationen verlangt, zwei Rahmenbedingungen anzusprechen. Der deutsche Staat nimmt erstens nach seinem Selbstverständnis eine neutrale Position gegenüber Religionen und den Religionsgemeinschaften ein und folgt dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirchen (Religionsgemeinschaften). In den intermediären Strukturen, die zwischen dem Staat sowie den Gebietskörperschaften und den Individuen vermitteln, sind Organisationen mit einem weltanschaulichen, auch kirchlichreligiösen Profil tätig und übernehmen – überwiegend staatlich finanziert – Aufgaben im Bereich der Bildung (z.B. als Träger von Kindertagesstätten und Schulen oder außerschulischen Bildungseinrichtungen) sowie der Kinder- und Jugendarbeit. Abgesichert in den Schulgesetzen in einem Teil der Bundesländer und deutschlandweit im Kinder- und Jugendhilfegesetz (StGB VIII), das den Vorrang der Freien Träger und das Subsidiaritätsprinzip festschreibt, sind private Träger gegenüber staatlichen Trägern privilegiert. Dass es sich bei den Trägern überwiegend um kirchliche Institutionen oder Wohlfahrtsverbände handelt, ist auf langjährig gewachsene Strukturen zurückzuführen.21 Trotz Bildungsambitionen bleiben zweitens jungen Menschen mit Migrationshintergrund Bildungschancen verwehrt; so erreichen 2012 nur 16 Prozent (im Vergleich zu 33 Prozent bei den einheimischen Schülerinnen und Schülern) das Abitur, aber 11 Prozent (im Vergleich zu 5 Prozent) verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss.22 Die zweite Generation von Migrationsschülern und schülerinnen schneidet in Deutschland schlechter ab als die erste und ein Blick auf andere Länder zeigt, dass sich Effekte des beruflichen Status und des Bil-
20 Vgl. Gröne, Markus: »Identitätspolitiken und Konfliktwahrnehmungen alevitischer Kurden in Deutschland«, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung (JKG) 3/2 (2001), S. 70-83, hier S. 79. 21 Nur die Rudolf-Steiner bzw. Waldorfschulen sind ebenfalls in einigen Regionen in größerer Zahl vertreten. 22 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund –Ergebnisse des Mikrozensus 2012, Wiesbaden, 2013.
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dungsniveaus der Eltern, der Sprachpraxis im Elternhaus und des Einwanderungsalters hierzulande deutlich stärker auswirken als in den meisten anderen Staaten. Die Schule in Deutschland hat es bis heute nicht geschafft, Bedingungen herzustellen, die Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund die gleichen Bildungschancen bieten wie einheimisch deutschen. Anders als in den meisten anderen Staaten der OECD und auch als in den europäischen Nachbarländern kompensiert das deutsche Schulsystem Unterschiede von Kindern nach dem Migrationshintergrund (und – so darf nicht vergessen werden – nach sozialer Schicht) nicht.23 Unstrittig ist ferner, dass Migrationskinder und -familien von den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe nicht hinreichend erreicht werden. Obgleich viele von ihnen rechtlich einheimisch deutschen Familien gleichgestellt sind und obgleich den meisten von ihnen alle Angebote grundsätzlich offen stehen, wird seit Jahren durch die Inanspruchnahmestatistiken ihre Unterrepräsentation in allen Formen der Beratung und Hilfen belegt. Kinder und Jugendliche mit nicht-deutscher ethnisch-kultureller Herkunft werden demnach schlechter als einheimisch deutsche mit institutionellen Erziehungs- und Beratungsangeboten versorgt. Dieses ist für die Jugendverbandsarbeit (nicht für die offene Jugendarbeit) insbesondere in Bezug auf die Gruppe der Mädchen ebenso belegt wie für die Jugendsozialarbeit als auch für die Hilfen zur Erziehung. Belegt ist auch die geringere Inanspruchnahme in vielen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe wie in der Erziehungsberatung, bei der Hilfe in familiären oder persönlichen Problemlagen, in der sozialpädagogischen Familienhilfe sowie in Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses. Wenn Daten zur Verfügung stehen, weisen sie in allen Bereichen von Bildung und Jugendarbeit stets auf das besonders schlechte Abschneiden von Kindern und Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund hin, unter denen sich ein erheblicher Teil von Muslimen und Musliminnen befindet.24 Diese beiden Rahmenbedingungen erklären zum Teil, dass sich viele Migrantenorganisationen in immer stärkerem Maße im Bereich der Bildung engagieren, dieses gilt auch und insbesondere für die muslimischen Organisationen.25 23 Daten in Autorengruppe Bildungsberichtserstattung: Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld: 2012. 24 Vgl. Boos-Nünning, Ursula/Karakaşoğlu, Yasemin: »Partizipation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund«, in: Marianne Krüger-Potratz/Hans H. Reich (Hg.), Familien- und Jugendpolitik in der Einwanderungsgesellschaft, Göttingen: V&R unipress, 2012, S. 53-78, hier S. 55ff. 25 Auch nicht islamische und weltanschaulich säkular ausgerichtete Vereine und Organisationen wie z.B. FÖTED (Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland e.V.)
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Die islamischen Gruppierungen bieten in Hunderten von Vereinen Hausaufgabenhilfe, Nachhilfe oder Förderunterricht für Schüler und Schülerinnen an. In vielen Moscheegemeinden von DITIB und dem VIKZ (Verband der islamischen Kulturzentren) werden neben einer außerschulischen religiösen Unterweisung und Freizeitangeboten Lernhilfen für Schüler und Schülerinnen eingerichtet. Der VIKZ unterhält zudem in Deutschland 19 Wohnheime (16 für Jungen und 3 für Mädchen), in denen die Bildungsarbeit einen relativ großen Raum einnimmt. Islamische Organisationen sind Träger von Kindertagesstätten, so z.B. 1999 in Karlsruhe, später in Berlin-Wedding, in Mainz, Mannheim und neuerdings in Köln. Schon seit 20 Jahren besteht in Berlin-Kreuzberg eine islamische Grundschule, eine weitere ist vor wenigen Jahren hinzugekommen, Privatgymnasien als anerkannte Ersatzschulen der Sekundarstufe I und II werden in Stuttgart, Köln, Mannheim und anderen Städten von Trägervereinen gegründet und unterhalten, die der Gülen Bewegung zugehören. Die verstärkte Bildungsarbeit ist auch im Kontext der Zunahme der Bedeutung ethnischer oder religiöser Vereine zu sehen, die von vielen Migrantengruppen gegründet wurden und werden. Weder die politischen noch die gesellschaftlichen Organisationen und Verbände erreichen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in gleichem Umfang wie einheimisch deutsche Jugendliche. Zudem sind die (deutschen) Jugendverbände weit von einer interkulturellen Öffnung entfernt. Gleichzeitig ist jedoch der Bedarf, ja die Notwendigkeit einer Jugendarbeit für die Gruppe der Migrationsjugendlichen unstrittig. Wegen dieser Mängel, aber auch aus dem Interesse heraus, die Jugendlichen an die jeweiligen Organisationen zu binden, haben viele Migrantenorganisationen vor einigen Jahren begonnen, eine eigene Jugendarbeit aufzubauen. So bieten auch Moscheegemeinden und islamische Migrantenorganisationen neben der Bildungsarbeit in Form von Hausaufgabenhilfe oder Nachhilfe Jugendarbeit an. Letztere erstreckt sich auf freizeitpädagogische Elemente wie Spiel, Sport und Reisen oder auch auf Elemente politischer und/oder kultureller Bildung. Es bestehen auch offene Angebote wie Teestuben und/oder Möglichkeiten in eigenen Räumen Billard und Tischtennis zu spielen. Geplant, aber erst in Ansätzen realisiert, ist die Übernahme von Aufgaben in der Elternberatung und Elternbildung. Die islamischen Organisationen wollen ihr Tätigkeitsfeld daraufhin erweitern oder diesen Bereich ausbauen. Eine Institutionalisierung hat in dem nicht an einen islamischen Verband gebundenen »Muslimischen Familienbildungswerk Köln«, getragen von Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e.V., stattgefunden. in Verbindung mit der Türkischen Gemeinde und Phoenix-Köln als Selbsthilfeorganisation für die russischsprachigen Einwanderer machen Angebote im Bildungs- und Jugendbereich.
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In den letzten zehn Jahren kommt es im verstärkten Maße zu Bildungsaktivitäten der Migrantenorganisationen. Diese reagieren auf das offensichtliche Unvermögen der deutschen Bildungseinrichtungen, die Situation der Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund zu verbessern. Sie sehen die Notwendigkeit, selbst Initiative zu ergreifen, wenn sie das Leiden der Kinder und ihrer Eltern verringern wollen. Die Migrationsfamilien leben mittlerweile langjährig in Deutschland und sind in ihren Lebensplanungen überwiegend auf Deutschland ausgerichtet, haben zu einem Teil dank der deutschen Staatsangehörigkeit politische Rechte und engagieren sich im Gemeinwesen. Bei einem Teil von ihnen haben sich ethnisch subkulturelle Lebensformen erhalten. Ausdruck der subkulturellen Formen sind die ethnischen Vereine. Zahlenmäßig größere Bedeutung haben zum heutigen Zeitpunkt die religiösen und die Kulturvereine sowie die Begegnungszentren, gleiche Wichtigkeit die sozialen und humanitären Vereine. Vermutlich wird die Zahl der ethnischen Gruppierungen in den nächsten Jahren wegen bedeutsamer werdenden kleinräumig angelegten ethnischen Wohnbezirke und wegen der steigenden Bedeutung einer eigenen Funktions- und Professionselite, zum Beispiel Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, Ärzte und Ärztinnen, Steuerberater und Steuerberaterinnen sowie Geschäftsleute steigen. Diese werden immer mehr initiativ, um Privatschulen oder Vereine zur Verbesserung der Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu gründen. Durch die Professionseliten wird die politische Kraft der Migrantenorganisationen gestärkt. Sie sind nunmehr auch in der Lage, die oben aufgeführten Lücken zu füllen und eigene Beratungsangebote aufzubauen. Zudem kommt es in neuerer Zeit verstärkt zu ersten Aktivitäten, Jugendverbände oder Wohlfahrtsverbände zu gründen.26 Immer häufiger kommt es zudem zu Gründungen islamischer Jugendverbände, die entlang der Differenzlinien religiöse (ethnische) Zugehörigkeit auf der einen und Jugend auf der anderen Seite ausgerichtet sind. Angebote und Aktivitäten werden von den Mitgliedern, die jünger als 27 Jahre sind, selbst durchgeführt ohne Weisungsabhängigkeit von Erwachsenenorganisationen oder von deren Dachverbänden. Seit Mitte der 1990er Jahre werden aus den Gruppen der Jugendlichen selbst oder von Jugendlichen in Migrantenorganisationen solche eigenen ethnischen oder religiösen Jugendorganisationen gegründet. In der Untersuchung von Jagusch wird die fehlende Anerkennung und unzureichende Partizipationsgerechtigkeit in einer als durch Rassismus und Exklusion wahrgenommenen Mehrheitsgesellschaft als handlungsleitendes Prinzip der 26 Am 3. Juni 2014 gründeten 11 Migrantenorganisationen, die nicht religiös ausgerichtet sind, den Verband für Interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity (VIW).
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jungen Menschen mit Migrationshintergrund herausgestellt.27 Unter einer solchen – m.E. verengten – Perspektive stellen sich Vereine und Organisationen junger Menschen mit Migrationshintergrund als Räume der Anerkennung in einem umfassenden Sinne und des Empowerments für Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung dar. Jagusch schreibt demnach den Vereinen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund die Funktion zu, Räume der Ausgrenzung zu thematisieren und Erfahrungen von Rassismus und Ausgrenzung in den Gruppen zu verarbeiten, indem über das Miteinander ein positiver Gegenhorizont aufgebaut wird, der es den Mitgliedern erlaubt, sich selbst als wertvolle Subjekte zu erfahren. Daraus entwickeln sich Praxen der Anerkennung, gebunden an die Chancen durch Kontakte zu Gleichaltrigen positive Stimuli für die eigene Selbstachtung zu erhalten. Auch andere Darstellungen sehen in der erlebten Fremden- bzw. Muslimfeindlichkeit und damit in der Erfahrung von Diskriminierung und Ausgrenzung einen wesentlichen Grund, sich in eigenen Jugendorganisationen zu engagieren, die dann – wie am Beispiel salafistischer jugendspezifischer Initiativen diskutiert wird – dazu führen, den Islam und die Gemeinschaft der Muslime als einzigen Schutz in einer vermeintlich feindlichen Umgebung darzustellen und zu überhöhen.28 Außerhalb dieser zahlenmäßig kleinen Gruppe streben junge Muslime in ihren Jugendorganisationen in erster Linie an, ihre eigenen Interessen aktiv zu vertreten und sich ein ihnen zusagendes Umfeld für Freizeit, Gespräche u.a. zu schaffen. Muslimische, aber auch andere Migrantenjugendorganisationen sind dann Ausdruck der Pluralität jugendspezifischer Lebensformen in der Einwanderungsgesellschaft. Nur erwähnt werden soll, dass auch die Zahl islamischer Fraueninitiativen steigt, von denen sich ein Teil ebenfalls im Bildungsbereich engagiert. Während ein Teil der Studien um Verständnis für eigenkulturelle Bildungsund Jugendaktivitäten von Migrantenorganisationen wirbt, wird in einem anderen Teil der Fachliteratur und vor allem in der Öffentlichkeit die Bildungs- und Jugendarbeit der Migrantenorganisationen, insbesondere, wenn es sich um religiöse Organisationen und hier nochmals verstärkt, wenn es um islamische Verbände geht, wenig freudig aufgenommen und nicht positiv oder auch nur neutral bewertet. Häufig wird der Vorwurf geäußert, durch die Einbindung in diese Form
27 Vgl. Jagusch, Birgit: Praxen der Anerkennung. ›Das ist unser Geschenk an die Gesellschaft‹. Vereine von Jugendlichen mit Migrationshintergrund zwischen Anerkennung und Exklusion, Schwalbach: Wochenschau Verlag, 2011, hier S. 424ff. 28 Nordbruch, Götz: »Islamische Jugendarbeit-Zwischen Empowerment und Missionierung«, in: VIA Magazin Themenheft: Migrantenjugendliche und ihre Kulturen (2011), S. 45-47.
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der Jugendarbeit werde die Segregation verstärkt, indem die Jugendlichen auf die eigene ethnische oder religiöse Gruppe verwiesen würden.
3. T EILNAHME AN DER B ILDUNGS - UND J UGENDARBEIT ISLAMISCHER O RGANISATIONEN UND DIE I DENTITÄTSENTWICKLUNG MUSLIMISCHER J UGENDLICHER Es bleibt die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Bildungs- und Jugendarbeit der muslimischen Organisationen als identitätsstabilisierend oder als identitätsschwächend eingeordnet werden kann und zwar auf der Grundlage der Entwicklung einer (muslimischen) Migrationskultur bzw. Migrationsjugendkultur unter Berücksichtigung von Mehrfachidentitäten (oder hybrider Identität). Wenn auch eine umfassende empirische Absicherung von Aussagen über Effekte der Teilnahme von Jugendlichen an Bildungs- und Jugendaktivitäten islamischer Organisationen fehlt, so bieten qualitative und quantitative Erhebungen an begrenzten Zielgruppen einen Blick, der Differenzierungen erlaubt. Untersuchungen, die sich mit einzelnen islamischen Verbänden oder Einrichtungen beschäftigen, erlauben Aussagen über deren Bildungsarbeit und den Einfluss auf die Identitätsentwicklung Jugendlicher. Eine neuere Untersuchung der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş stellt dar, wie die Moscheegemeinde für Jugendliche zur Stätte der religiösen Unterweisung und der schulbegleitenden oder Mängel von Schule ersetzenden Bildung, aber eben auch der Freizeitgestaltung, des Vergnügens, des Sportes und der mit anderen gestalteten Jugenderlebnisse wird. Es wird darüber hinaus beschrieben, dass die IGMG sehr wohl ein Jugendkonzept hat, dass aber die jungen Menschen ihre eigenen, von der Elterngeneration abweichenden Vorstellungen in Form eines Jugendprotestes in die Ausrichtung der Jugendarbeit einbrachten und durchsetzten, auch in Auseinandersetzung mit der eigenen islamischen Gemeinde.29 Schon 1994 wurde die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD) als übernationaler Verband mit dem verbindenden Merkmal muslimischer Religionszugehörigkeit gegründet. Sie ist als unabhängig von den Moscheeverbänden einzuordnen; vielmehr verdankt sie ihre Gründung teilweise Konflikten mit diesen und mit den in den Verbänden Macht und Einfluss ausübenden älteren Män29 Vgl. Schiffauer, Werner: Nach dem Islamismus. Die Islamische Gemeinde Milli Görüş. Eine Ethnobiographie, Berlin: Suhrkamp, 2010, hier S. 335ff.
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nern.30 Die Jugendlichen wollten durch ihr Engagement den engen Kontext der ethnisch-religiösen Gemeinden der ersten muslimischen Einwanderergeneration überwinden. »In der Muslimischen Jugend wurde sozusagen die Umma, die islamische Weltgemeinschaft erfahrbar. Mit diesem weiteren Blick korrespondierte eine Betonung der Spiritualität. Das erklärte Ziel der Organisationen war es, den muslimischen Jugendlichen zu helfen, als selbstbewusste, junge Muslime sich in die hiesige Gesellschaft zu integrieren und sich als Mitglied dieser Gesellschaft zu sehen. Zudem soll die islamische Identität gewahrt und ausgelebt werden (aus der Selbstbeschreibung)«.31 Die MJD verfolgte verschiedene Projekte, die unter anderem das Ziel hatten, muslimischen Jugendlichen in Einwanderervierteln Strategien gegen Rassismus, Vorurteile und Gewalt zu vermitteln. Sie waren beteiligt an christlich-muslimischen sowie christlich-jüdisch-muslimischen Dialogveranstaltungen. Daneben und zusätzlich bot sie Reisen, Sport- und Freizeitaktivitäten an. Aufgrund negativer Zeitungsberichte mit dem Vorwurf des Aufrufes zum Kampf gegen die USA und der Schürung des Hasses auf Juden wurde für die Jugendorganisationen die Nähe zu den Muslimbrüdern konstruiert und damit eine Nähe zu einer vom Verfassungsschutz beobachteten Organisation. Eine Untersuchung in den Wohnheimen des Verbandes der Islamischen Kulturzentren belegt, dass neben der religiösen Unterweisung eine auf Kompensation schulischer Defizite ausgelegte Bildungsarbeit und Freizeitarbeit einen wichtigen Stellenwert einnimmt und dass in einem Teil der Wohnheime – unterstützt durch sozialpädagogisches Personal – professionelle jugendpädagogische Elemente in die Verbandsarbeit einfließen.32 Die Untersuchung der Werte und Einstellungen der Jugendlichen belegt, dass gleichzeitig traditionellen Werten wie Familie und Religion und postmodernen Eigenschaften wie Selbstbewusstsein, Selbstständigkeit sowie Erfolg in Schule und Beruf hohe Bedeutung zugemessen wurde. Individualisierung und Selbstbestimmung verbinden sich mit Vorstellungen wie Respekt und Achtung vor dem Alter bei einer grundsätzlich optimistischen Lebenseinstellung. 30 Dziri, Bacem: »Chancen muslimischer Jugendarbeit gegen Radikalisierung«, in: Rauf Ceylan/Michael Borchart (Hg.), Imame und Frauen in Moscheen im Integrationsprozess: Gemeindepädagogische Perspektiven. Osnabrück: V&R unipress, 2011, S. 171190, hier S. 183. 31 Schiffauer, Werner: »Der unheimliche Muslim – Staatsbürgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste«, in: Levent Tezcan/Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, Baden-Baden: Nomos (Reihe Soziale Welt, Sonderband 17), S. 111133, hier S. 128. 32 U. Boos-Nünning: Beten und Lernen. Eine Untersuchung der pädagogischen Arbeit in den Wohnheimen des Verbandes der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), S. 40, 70.
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Nicht zuletzt verweisen die Untersuchungen und Darstellungen zur politischen und gesellschaftlichen Partizipation von Frauen mit Migrationshintergrund und hier wiederum nicht ausschließlich aber dennoch in besonderem Maße von muslimischen jungen Frauen darauf hin, dass es sowohl im Rahmen der Migrantenorganisationen als auch in eigenen in den letzten Jahren entstandenen Vereinen und Organisationen spezifische Formen der Jugend-, besser Mädchenfreizeitarbeit gibt, die weitgehend von der einheimischen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund übersehen wird.33 Schon sehr früh werden Treffen von jungen muslimischen Frauen – Neo-Muslima genannt –, die sich von den Hierarchien und Traditionen der Moscheegemeinden zu distanzieren verstanden, als identitätsstiftend herausgestellt.34 Neben den Ergebnissen aus Untersuchungen islamischer Organisationen und ihrer Bedeutung für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen weisen einige weitere Ergebnisse auf den Zusammenhang zwischen Ethnizität und Bildung hin. Nach einer Sonderauswertung der Daten einer Untersuchung bei Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund wird belegt, dass die Freizeitgestaltung und die private Orientierung an Deutschland als Dimension von Ethnizität auch bei Kontrolle anderer Einflussfaktoren einen positiven Einfluss auf die Bildungslaufbahn in Form des erreichten Bildungsniveaus, eines Kindergartenbesuches und eines Durchlaufen der Schule ohne Klassenwiederholungen besitzt. Es hat sich gezeigt, – wenn auch mit weniger starken Werten –, dass der eigenethnische Rückbezug ebenfalls für eine gute Bildungslaufbahn förderlich sein kann. Eine starke Loslösung vom Herkunftsland (der Eltern) hat hingegen einen negativen Einfluss auf die Bildungslaufbahn, die emotionale Bindung an Deutschland hat keinen Einfluss.35 Neuere Studien, mittels qualitativer biographischer Methoden durchgeführt, ermitteln ein breites Spektrum an Identitätsentwicklungen – von säkular westlich expressiver über bikulturelle und reislamisierte bis hin zu islamisch selektiv modernisierter Identifikation mit vielen 33 Vgl. Boos-Nünning, Ursula/Ilgün, Emra: »Gesellschaftliche und politische Partizipation von Frauen mit Migrationshintergrund. Ergebnisse einer Pilotstudie«, in: Migration und soziale Arbeit 1 (2010), S. 62-74, hier S. 63-64.; vgl. Markus Gamper: Islamischer Feminismus in Deutschland? Religiosität, Identität und Gender in muslimischen Frauenvereinen, Bielefeld: transcript, 2011, S. 121ff. 34 Vgl. Nökel, Sigrid: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, Bielefeld: transcript, 2002, S 62ff. 35 Vgl. Bandorski, Sonja: »Ethnische Identität als Ressource für die Bildung? «, in: Bildungsforschung 5 (2008), Ausgabe 1, S. 9ff.; http://www.bildungsforschung.org/ index.php/bildungsforschung/article/view/97/99 vom 21.7.2014.
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weiteren Zwischenvarianten.36 Die Ergebnisse dieser Studie verweisen nicht nur auf die Pluralität von Lebensentwürfen in deutsch-muslimischen Milieus, sondern sie belegen auch, dass Bildungserfolge unter unterschiedlichen Selbstkonzepten (Identifikationen) möglich sind. Auf den Zusammenhang mit den Bildungs- und Jugendarbeit der (islamischen) Migrantenorganisationen und den Bildungserfolgen wird in dieser Untersuchung nicht eingegangen. Würde die Einbindung der Jugendlichen in Migrantenorganisationen berücksichtigt, ließen sich unterhalb der formalen Organisationen wahrscheinlich wie bei den muslimischen Frauen Vergemeinschaftungen entdecken, die einen eigenen, den »dritten« Raum repräsentieren. Dieser bietet nicht nur Schutz vor Vorurteilen und Anfeindungen, sondern trägt darüber hinaus zur Stabilisierung von Orientierungen und Verhaltensmustern bei, die von denen der Mehrheitsgesellschaft abweichen. Migrantenorganisationen und insbesondere Migrantenjugendorganisationen bieten daher eine der möglichen Rahmenbedingungen für die Ausbildung einer hybriden Identität oder von Mehrfachidentitäten. Diese und weitere empirische Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass sich in den letzten 20 Jahren eine spezifische Migrationsjugendkultur herausgebildet hat, die zwar jugendkulturelle Elemente der Mehrheitskultur aufgreift, aber darüber hinaus in kreativer Verknüpfung mit migrationsbezogenen Erfahrungen und Orientierungen eigene Inhalte und Formen entwickelt hat. Die ethnischen Gemeinschaften, aber auch ethnische Gruppen übergreifende Migrantensubkulturen, an denen sich häufig auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund derselben sozialen Schicht und/oder Nachbarschaft beteiligen, weisen inzwischen sehr ausdifferenzierte eigene Erscheinungsformen und Handlungsfelder auf. Die neuen Migrantenjugendkulturen haben ihre Repräsentationsformen entwickelt.37 Zu den traditionellen, nationalen oder religiösen Vorstellungen ihrer Eltern und Großeltern wahren die muslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund Abstand, ohne sich jedoch vollständig von deren Lebensformen und Orientierungen zu distanzieren oder sich aus dem Lebenskontext der Älteren zu lösen. So entwickeln zum Beispiel muslimische Jugendliche ein eigenes Selbstverständnis auf islamischer Grundlage, das sich sowohl gegenüber der Türkei, dem traditionellen Islam der Eltern wie auch der deutschen Mehrheitsgesell-
36 Vgl. Wensierski, Hans-Jürgen/Lübcke, Claudia: ›Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause‹. Biographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland, Opladen/Berlin/Toronto: Budrich, 2012, hier S. 141ff., 355ff. 37 Vgl. Ottersbach, Markus/Steuten, Ulrich (Hg.): Jugendkulturen. Lebensentwürfe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Oldenburg: Internationale Arbeitsstelle e.V., 2013, S. 14ff.
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schaft und ihren diversen Jugendsubkulturen abzugrenzen versucht.38 Sie möchten mit eigenen Publikationen die Diskussion z.B. um die zeitgemäße Organisation eines islamischen Alltags anregen. Darüber hinaus werden durchaus auch kritische Töne gegenüber den Dachverbänden laut, die sich in Angebot und politischer Ausrichtung über Jahrzehnte nicht auf den Verbleib der türkischen Bevölkerung in Deutschland eingerichtet hätten. Es sei notwendig, sich von der Türkei-Orientierung zu lösen und endlich eine eigene Identität zu entwickeln. Vereine, die häufig aus Studenteninitiativen hervorgegangen sind, organisieren Informationsveranstaltungen über den Islam, über das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Westen und über einen Dialog mit Nicht-Muslimen. Defizit-/Differenz- und Bereicherungstheorien eignen sich nicht zur Erklärung von inzwischen empirisch belegten »hybriden« oder Mehrfachidentitäten bei Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft, die als äußerst funktional identifiziert werden können, angepasst an die Erfordernisse der Postmoderne an das sich selbst immer wieder neu entwerfende Individuum. Viele Jugendliche mit so genanntem Migrationshintergrund entwickeln individuelle Strategien des Identitätsmanagements und bedienen sich hierbei aus einem Pool verschiedener nationaler, ethnischer, religiöser und nicht zuletzt globaler kultureller Angebote. Sie balancieren nicht nur eine soziale mit einer persönlichen Identität aus, sondern haben verschiedene sozio-kulturelle Systeme, zu denen sie ihre persönliche Identität in Bezug setzen. Möglich wird die Wendung des Blicks auf diese Jugendlichen durch (de-)konstruktivistische Theorien, die das handelnde und kreative Individuum als Gestalter bzw. Gestalterin seiner Biographie in den Mittelpunkt stellen. Wie der Prozess der Identitätsbildung verläuft und ob das Ergebnis eine hybride Identität mit Ausprägung von Mehrfachzugehörigkeiten ist, hängt auch und wahrscheinlich in besonders starkem Maße von der Einbindung in eine Jugendkultur oder Jugendgruppe ab. Ob Jugendliche mit Migrationshintergrund und auch muslimische Jugendliche ihre hybride Identität entwickeln und bewahren können, hängt aber auch von dem Gelingen ihrer Bildungslaufbahn ab. Am Erfolg in der Bildung sind die fördernden und unterstützenden Aktivitäten der Migrantenorganisationen für einen erheblichen Teil der Jugendlichen von großer Bedeutung, da sie ohne diese noch häufiger am deutschen Schulsystem scheitern würden. Insofern hat die Bildungsund Jugendarbeit islamischer Organisationen einen bedeutsamen Anteil an der Entwicklung einer hybriden Identität einer immer größeren Zahl in Deutschland aufwachsender muslimischer Jugendlicher.
38 Vgl. Güvercin, Eren: Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation, Freiburg /Basel/Wien: Herder, 2012, hier S. 19ff.
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B IBLIOGRAPHIE Attia, Iman: Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes. Zu Dekonstruktion von Orientalismus und Antimuslimischen Rassismus, Bielefeld: transcript, 2009. Autorengruppe Bildungsberichtserstattung: Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld: 2012. Bandorski, Sonja: »Ethnische Identität als Ressource für die Bildung?«, in: bildungsforschung, Jahrgang 5, Ausgabe 1 (2008); http://www.bildungsfor schung.org/index.php/bildungsforschung/article/view/97/99 Baş, Yasin (Hg.): nach-richten: Muslime in den Medien. Köln: forege (Forschungszentrum für Religion und Gesellschaft), 2011. Boos-Nünning, Ursula: Beten und Lernen. Eine Untersuchung der pädagogischen Arbeit in den Wohnheimen des Verbandes der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), 2010. Kurzfassung abrufbar VIKZ Publikationen pdf. Boos-Nünning, Ursula/Karakaşoğlu, Yasemin: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Münster: Waxmann, 22006. Boos-Nünning, Ursula/Karakaşoğlu, Yasemin: »Partizipation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund«, in: Marianne Krüger-Potratz/Hans H. Reich (Hg.), Familien- und Jugendpolitik in der Einwanderungsgesellschaft, Göttingen: V&R unipress, 2012, S. 53-78. Boos-Nünning, Ursula/Ilgün, Emra: »Gesellschaftliche und politische Partizipation von Frauen mit Migrationshintergrund. Ergebnisse einer Pilotstudie«, in: Migration und soziale Arbeit 1 (2010), S. 62-74. Katrin Brettfeld: Schuf Gott am 8. Tag Gewalt? Religion, Religiosität und deviante Einstellungen und Verhaltensmuster Jugendlicher, Berlin: wvb Wissenschaftlicher Verlag, 2009. Brettfeld, Katrin/Wetzels, Peter: Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion und Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Ergebnisse von Befragungen im Rahmen einer multizentrischen Studie in städtischen Lebensräumen, Berlin: Bundesministerium des Inneren, 2007. Dannenbeck, Clemens/Esser, Felicitas/Lösch, Hans: Herkunft (er)zählt: Befunde über Zugehörigkeiten Jugendlicher, Münster: beck, 1999. Dziri, Bacem: »Chancen muslimischer Jugendarbeit gegen Radikalisierung«, in: Rauf Ceylan/Michael Borchart (Hg.), Imame und Frauen in Moscheen im Integrationsprozess: Gemeindepädagogische Perspektiven, Osnabrück: V&R unipress, 2011, S. 171-190.
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Ottersbach, Markus/Steuten, Ulrich (Hg.): Jugendkulturen. Lebensentwürfe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Oldenburg: Internationale Arbeitsstelle e.V., 2013. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen (Hg.): Muslime in der Mehrheitsgesellschaft: Medienbild und Alltagserfahrungen, Berlin, 2013. Sauter, Sven: Wir sind ›Frankfurter Türken‹. Adoleszente Ablösungsprozesse in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt/Main: Brandes&Apsel, 2000. Schiffauer, Werner: »Der unheimliche Muslim – Staatsbürgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste«, in: Levent Tezcan/Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, Baden-Baden: Nomos (Reihe Soziale Welt, Sonderband 17), S. 111-133. Schiffauer, Werner: Nach dem Islamismus. Die Islamische Gemeinde Milli Görüş. Eine Ethnobiographie, Berlin: Suhrkamp, 2010. Spielhaus, Riem: Wer ist hier Muslim? Die Entwicklung eines islamischen Bewusstseins in Deutschland zwischen Selbstidentifikation und Fremdzuschreibung, Würzburg: Ergon Verlag, 2011. Spielhaus, Riem: »Muslime in der Statistik: Wer ist Muslim und wenn ja wie viele? Ein Gutachten im Auftrag des Mediendienstes Integration«, http://mediendienst-integration.de/artikel/wer-ist-muslim-und-wenn-ja-wieviele.html vom 03.07.2014. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund –Ergebnisse des Mikrozensus 2012, Wiesbaden, 2013. Wensierski, Hans-Jürgen/Lübcke, Claudia: ›Als Moslem fühlt man sich hier auch zu Hause‹. Biographien und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland. Opladen/Berlin/Toronto: Budrich, 2012. Wetzels, Peter/Brettfeld, Katrin: Auge um Augen, Zahn um Zahn? Migration, Religion und Gewalt junger Menschen. Eine empirisch-kriminologische Analyse der Bedeutung persönlicher Religiosität für Gewalterfahrungen, einstellungen, -handeln muslimischer junger Migranten im Vergleich zu Jugendlichen anderer religiöser Bekenntnisse, Münster: LIT, 2003. Yıldız, Erol: »Ein Ausflug in die Alltagspraxis migrantischer Jugendlicher«, in: Birgit Allenbach/Urmila Goel/Merle Hummrich u.a. (Hg.), Jugend, Migration und Religion. Interdisziplinäre Perspektiven, Zürich: Nomos, 2011, S. 115-133.
Muslim Social Media – an Alternative Online Public Sphere: Nuri Şenay and his Internet Video-Platform muslime.tv A SMAA S OLIMAN
This paper examines the public engagement of Nuri Şenay via his website muslime.tv in relation to German Muslim identity. Nuri is a young Muslim from Germany. His online video platform offers diverse insights into the life of young Muslims in Germany in a documentary style. In the theoretical context of public spheres and counterpublics one can see crucial elements of counterpublics. The idea of an accessible, democratically inclusive and liberal public sphere as demonstrated by Jürgen Habermas does not seem to be shared by Nuri. The perception of an exclusive mainstream public as well as of wrong, negative public representations of Muslims can be observed. Muslime.tv intends to counteract that what is ›mainstream‹. Thereby mainstream media, political discourses and public opinion about Muslims play an essential role. Relevant features of counterpublics, such as the circulation of counter discourses and the challenge of specific assumptions about Muslims are identifiable in muslime.tv. The website offers a medial platform that presents Muslim identity in an alternative picture. It complements the mainstream public but it also criticises it and doubts some of its content. Muslime.tv portrays Muslims from an inner perspective. Their daily life, their German Muslim self-image, their creative projects and their positive contributions to society come to the foreground. The videos illustrate a rather positive image of Muslims that associates them among other things with music, socio-political commitment, voluntarism and sports. The normality of Muslim identity in Germany is communicated. Apart from that muslime.tv enables Muslims to participate in political and public Islam-related discourses and to speak with their own voice.
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My wife and I were sitting in front of the TV watching a programme titled ›Veil and Sharia - Does Islam fit to Germany?‹ We see that the topic is already defined and that it goes in a particular direction, that the guests are selected, that a Muslim woman with Hijab is sitting there on her own and there are four, five people who are rhetorically talented…This woman is sitting on her own confronting these people. We see that she is torn to pieces and this is broadcast on ZDF at a time when everyone is watching TV. Then of course I get disappointed and change the channel. I tell my wife it is always the same, one becomes sick of it. But then I realise that even if I change the channel millions of other people watch this programme and are shaped by contents like this.1
This was Nuri Şenay’s reply when I asked him about the reasons for founding muslime.tv. Nuri Şenay, known for his online video platform muslime.tv, is a young Muslim who lives in Germany and who identifies himself as a German Muslim. Like several other young German Muslims who are publically active in the context of German Muslim identity Nuri decided to participate via his online video platform in the public sphere. This paper asks in what way Nuri relates to German Muslim identity in the public sphere. To understand his public engagement, theories of the public sphere and of counterpublics were used. The methodology of ethnography was applied because qualitative accounts were of interest. An in-depth interview with Nuri was carried out which was semi-structured. Questions focused on his public engagement via muslive.tv, on the ways in which he perceives muslime.tv and the reasons for relating publically to Muslim identity in Germany. Apart from the interview, Nuri’s website muslime.tv was used as an essential basis of analysis. Before getting into depth, the theoretical context as well as a short description of Nuri Şenay and his online platform muslime.tv will be given. The theoretical framework of this paper deals with concepts of the public sphere and of counterpublics. The term public sphere was originally introduced by Jürgen Habermas. He used it primarily to describe an emerging space of political discussions of the eighteenth-century European bourgeois society from which he developed a more general theory.2 Habermas believes that in democratic and liberal societies public spheres are characterised by discursive equality and inclusion of all citizens. He argues that under proper circumstances consensus can be achieved and one right outcome can be reached.3 He emphasises that consensus 1
Nuri Şenay cited in Soliman, Asmaa: Interview with Nuri Senay, Germany, 2012.
2
For more see Habermas, Jürgen: The Structural Transformation of the Public Sphere: An Inquiry into a Category of Bourgeois Society, Cambridge, Mass: MIT Press, 1989.
3
Cf. Outhwaite, William: »Jürgen Habermas«, in: George Ritzer (Ed.), The Blackwell Companion to Major Contemporary Social Theorists, Oxford: Blackwell, 2003, pp.
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should be arrived at freely under fair conditions and that it should not be prestructured.4 He explains that all human expressions raise validity claims whose normative accuracy and veracity need to be examined. According to him argumentation and communicative rationality should be used to redeem problematic validity claims.5 Reason is seen as the guidance that will lead to the legitimisation of public opinion.6 The importance of providing commonly understandable justifications for one’s view is stressed. In the context of religion Habermas describes the communication between religious and secular citizens as a learning process where both sides should be critical towards their own assumption and should strive to grasp the views of the others. However, he calls for a translation of religious language into a secular, rational vocabulary.7 There are several criticisms that were raised with regard to the Habermasian public sphere and that are crucial in the context of this paper. Still it should be said that despite the following criticisms Habermas’s work offers essential contributions whose relevance should not be underestimated. To start with one of the criticisms, it is being argued that his concept of a public sphere is narrowed down to an exclusive political discursive space that thereby rules out any nonpolitical characteristics and any activities that go beyond a discourse. As several scholars express, the public sphere does also involve non-political features of performative nature that go beyond Habermas’s understanding of a public
228-246; Cf. Welton, Michael: »Civil Society and the Public Sphere: Habermas’s Recent Learning Theory«, in: Studies in the Education of Adults (2001), vol. 33, no.1, pp. 20-34. 4
For more see Habermas, Jürgen: The Theory of Communicative Action, Vol. Two, Lifeworld and System: A Critique of Functionalist Reason, Boston: Beacon Press, 1987.
5
Cf. Dahlberg, Lincoln: »The Habermasian Public Sphere: A Specification of the Idealized Conditions of Democratic Communication«, in: Studies in Social and Political Thought (2004), vol. 10, pp. 2-18.
6
For more see Held, David: Introduction to Critical Theory: Horkheimer to Habermas, Berkley: University of California Press, 1980.
7
Cf. Habermas, Jürgen: »Religious Tolerance: The Pacemaker for Cultural Rights«, in Philosophy (2004), vol. 79, no.1, pp. 5-18; Cf. Habermas, Jürgen: »On the Relation of the Secular Liberal State to Religion«, in: Eduardo Mendieta (Hg.), The Frankfurt School on Religion, New York: Routledge, 2005, p. 348; Cf. Habermas, Jürgen: »Religion in the Public Sphere«, in: European Journal of Philosophy (2006), vol. 14, no.1, pp. 1-25.
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sphere.8 Michael Warner, for example, examines the role of culture as a public expression and looks at multiple fields including media, art and public speaking.9 He describes the public sphere as a theatrical space in which people use culture to create spaces for themselves. In respect of this paper this idea of a more cultural and performative form of public engagement is of high importance. As becomes clear in the analysis, Nuri Şenay makes use of a cultural tool, namely of media, to relate in a performative way to Muslim identity in Germany. However, even though one might see this rather cultural public engagement as different from a political one, it can still be related to political issues. As Nilüfer Göle says as in the context of Muslims’ performative visibility in the public sphere, it draws upon essential political questions around matters like citizenship, secularism and freedom.10 A further main criticism of the Habermasian public sphere refers to his model’s informal mechanisms of exclusion that is said to ignore power relations between dominant culture and subordinated groups. Several critics argue that despite of Habermas’s rhetoric of an accessible, democratically inclusive and liberal public sphere, it rests on various significant exclusions and assimilative pressures.11 Moreover, they emphasise that an examination of competing public 8
For more see Warner, Michael: Publics and Counterpublics, Cambridge: Zone Books, 2002; Göle, Nilüfer: »Die Sichtbare Präsenz des Islam und die Grenzen der Öffentlichkeit«, in Nilüfer Göle/Ludwig Annemann (Hg.), Islam in Sicht: Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld: Transcript Verlag, 2004, p. 29.
9
For more see M. Warner: Publics and Counterpublics.
10 Cf. N. Göle: Die Sichtbare Präsenz des Islam, p. 13. 11 Cf. Fraser, Nancy: »Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Social Text (1990), no. 25/26, pp. 56-80; For more see M. Warner: Publics and Counterpublics; For more see Ryan, Mary: Women in Public: Between Banners and Ballots, 1825-1880, Baltimore: The John Hopkins University Press, 1990; For more see Ryan, Mary: »Gender and Public Access: Women’s Politics in Nineteenth Century America«, in: Craig Calhoun (Hg.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge; Massachusetts & London: MIT Press, 1992; For more see Eley, Geoff: »Nations, Publics, and Political Cultures: Placing Habermas in the Nineteenth Century«, in: Craig Calhoun (ed.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge; Massachusetts & London: MIT Press, 1992; For more see Landes, Joan: Women and the Public Sphere in the Age of the French Revolution, Ithaca NY: Comell University Press, 1988; Mansbridge, Jane: »Feminism and Democracy«, in: The American Prospect (1990), vol.1, pp. 126-139; Rocheleau, Jordy: »The Politics of Critical Theory: Discursive Proceduralism and its Discontents«, in: Social Theory and Practice (2003), vol. 29, no.1, pp. 137-157; For more see: Kellner, Douglas: »Haber-
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spheres and of the public sphere’s conflictual nature is ignored. It is said that apart from the idea that Habermas’s public sphere marks an emancipatory force from political authority, he does not take into account the public sphere’s own forms of dominance with regard to weaker social groups. Besides, various scholars elaborate on the essentiality of the internet as a platform that enhances counterpublics, expansions of the public sphere and a more participatory democracy12. Aforementioned critics stress that the public realm is not a cohesive entity. It is rather constitutive of multiple counterpublics that respond to the dominant public sphere and contest its exclusionary norms. Habermas’s assumption that a multiplicity of different publics is inevitably a step away rather than towards greater democracy and that one single sphere is desirable is seen with great scepticism. It is said that the Habermasian public sphere needs to be approached from mas, the Public Sphere, and Democracy: A Critical Intervention«, in: Lewis Hahn (ed.), Perspectives on Habermas, London: Open Court, 2000; For more see Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Public Sphere and Experience: Toward an Analysis of the Bourgeois and Proletarian Public Sphere, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1993; For more see Baker, Keith: »Defining the Public Sphere in EighteenthCentury France: Variations on a Theme by Habermas«, in: Craig Calhoun (ed.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge; Massachusetts & London: MIT Press, 1992; Cf. Benhabib, Seyla: »Modelle des öffentlichen Raums: Hannah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Habermas«, in: Soziale Welt (1991), vol. 42, pp. 147165; For more see Garnham, Nicholas: »The Media and the Public Sphere«, in: Craig Calhoun (ed.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge; Massachusetts & London: MIT Press, 1992; For more see Zaret, David: »Religion, Science, and Printing in the Public Spheres in Seventeenth- Century England«, in: Craig Calhoun (ed.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge; Massachusetts & London: MIT Press, 1992. 12 Cf. Milioni, Dimitra: »Probing the Online Counter Public Sphere: The Case of Indymedia Athens«, in: Media, Culture & Society (2009), vol. 31, no.3, pp. 409-431; Cf. Wimmer, Jeffrey: »Counter-Public Spheres and The Revival of The European Public Sphere«, in: Javnost-The Public (2005), vol. 12, no.2, pp. 93-109; For more see Wimmer, Jeffrey: »Gegenöffentlichkeit 2.0: Formen, Nutzung und Wirkung kritischer Öffentlichkeiten im Social Web«, in: Ansgar Zerfaß/Martin Welker/Jan Schmidt (eds.), Kommunikation, Partizipation und Wirkungen im Social Web: Strategien und Anwendungen: Perspektiven für Wirtschaft, Politik, Publizistik, Cologne: Herbert von Halem, 2008; Cf. Castells, Manuel: »The New Public Sphere: Global Civil Society, Communication Networks, and Global Governance«, in: The Annals Of The American Academy Of Political And Social Science (2008), vol. 616, no. 1, pp. 78-93.
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a pluralistic view on culture and diversity rather than an essentialist one.13 Thereby group-specific concerns do not have to be set aside in public discussions. Counterpublics are described as publics of subordinated groups who use these spaces on their behalf to expand their life-world and self-image.14 Thereby these groups overcome the denial of their public existence, circulate counter discourses, formulate oppositional interpretations of their identities and contest specific assumptions that were previously exempt from criticism. Nancy Fraser stresses that via counterpublics minorities are able to speak with their own voice and to construct their own cultural identity that offers alternatives to ascribed identities. As Michael Warner puts it, they demand majority culture to recognise their identities’ normality. He describes a counterpublic’s relation to the dominant public as follows: In fact, a counterpublic enables a horizon of opinion and exchange; its exchange remains distinct from authority and can have a critical relation to power […] counterpublics are, by definition, formed by their conflict with the norms and contexts of their cultural environment [...]15
It becomes clear that a counterpublic involves elements of challenging mainstream ideas and offering alternative, different narratives about one’s selfunderstanding. Many scholars see counterpublics as crucial complementary spaces that allow subordinated groups to engage in communicative processes, which are not under the majority culture’s supervision. They argue that counterpublics widen the discursive space that is a necessary need for any society calling for democratic inclusion. This does not mean however that the different spheres do not overlap. It is said that there should be also spheres in which participants deliberate as equal individuals across lines of differences. Related to the idea of exclusionary mechanisms that are embedded in societies’ power relations, critics question Habermas’s idea of bracketing status differentials and acting as social equals. Attention is drawn to informal exclusions 13 Cf. Flynn, Jeffrey: »Habermas on Human Rights: Law, Morality, and Intercultural Dialogue«, in: Social Theory and Practice (2003), vol. 29, no.3, pp. 431-457; Cf. Baumeister, Andrea: »Habermas: Discourse and Cultural Diversity«, in: Political Studies (2003), vol. 51, pp. 740-758; For more see Leonard, Peter: Postmodern Welfare: Reconstructing an Emancipatory Project, London: SAGE Publications, 1997; Pellizzoni, Luigi: »The Myth of the Best Argument: Power, Deliberation, and Reason«, in: British Journal of Sociology (2001), vol. 52, no.1, pp. 59-86. 14 For more see M. Warner: Publics and Counterpublics. 15 Ibid., p. 56 and p. 63.
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of discursive interactions and structural power relations within formally inclusive publics. These exclusions are said to happen in various ways. Most importantly, minority groups are excluded via the discourse’s cultural context that will prevent them from a genuine participation where their voices are heard. Critics argue that it is naïve to think that public spheres are spaces of zero degree culture. It is emphasised that a public sphere is always embedded in a culturally specific context that will inevitably privilege some expressive norms over others making discursive assimilation a requirement for participation.16 Moreover, Habermas’s accentuation on consensus is said to have an ideological bias that ignores the diversity of languages and concepts.17 Chantal Moffe argues that a consensus-oriented discourse uses the principle of consensus as a tool by which one tries to circumvent dimensions of power and conflicts that will always involve exclusionary mechanisms.18 Closely related to the idea of consensus critics charge him with a further form of partiality that pre-structures specific discourse conditions. They see a secular bias in his concept that demands citizens to use only rational and universally comprehensive arguments that need to be justified. Thereby especially religiously motivated arguments that involve ethics, emotions and eventually also irrational sensibilities do not really have a place.19 The idea that a »modernization of religious consciousness« has to take place that calls for the development of normative secular principles within religious views is seen with deep criticism.20 Apart from that there is a further more informal mechanism of exclusion that critics point out. It is related to the differentiation that is drawn between public matters about which citizens should deliberate and private issues that should be kept outside the public sphere. They argue that the terms private and public, as well as the line that marks the boundary between both spheres, are constructed
16 Cf. Fraser, Nancy: »Heterosexism, Misrecognition, and Capitalism«, in: Social Text (1997), vol. 15, no.3 and 4, pp. 279-289; Cf. Butler, Judith: »Merely Cultural«, in: Social Text (1997), vol. 15, no. 3 and 4, pp. 265-277. 17 Heyting, Frieda/Kruithof, Bernard/Mulder, Ernst: »Education and Social Integration: On Basic Consensus and the Cohesion of Society«, in: Educational Theory (2002)., vol. 52, no. 4, pp. 381-396; Amir-Moazami, Schirin: »Pitfalls of Consensus-Oriented Dialogue: The German Islam Conference (Deutsche Islamkonferenz)«, in: Approaching Religion (2011), vol. 1, no.1, pp. 22-15; For more see Mouffe, Chantal: Wider das Politische: Über die Kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007. 18 Ibid. 19 Cf. S. Amir-Moazami: Pitfalls of Consensus-Oriented Dialogue. 20 J. Habermas: Religious Tolerance, p. 12.
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by majority culture.21 Taking the example of feminists, Fraser says that until recently, violence against women was recognised only by a minority as a legitimate topic of public discourse. By defining a priori what counts as a public matter and what is of common concern any opportunity for minorities to bring in their issues on the agenda will be automatically ruled out. Redefinitions of public matters and of the common good are said to be essential requirements for a participatory democratic public sphere. It is emphasised that private identities have crucial public relevance and that the public sphere offers essential sources for one’s self-understanding. Craig Calhoun draws attention to the idea that nonpolitical cultures including minority identity groups involve important elements of political struggle. In the context of this paper, the idea of a counterpublic as a space that offers minority groups possibilities to voice their own self-understandings and to challenge the dominant discourse plays a crucial role. As part of an important minority in Germany, young Muslims who understand themselves as German Muslims and who relate to their identities in the public sphere might feel excluded and put under assimilative pressure by the dominant public sphere. The creation of their own public sphere that allows them to speak with their own voice as Nancy Fraser puts it and to confront the majority culture with the recognition of their identities’ normalities as Michael Warner says can be of vital importance. This is specifically relevant once one takes the German context into account. As several scholars point out and as multiple polls show the idea that Muslims are part of Germany is still not very common and political public discourses show a rather negative attitude towards Muslims.22 Debates about Islam in Germany are often 21 S. Benhabib: Modelle des öffentlichen Raums; N. Fraser: Rethinking the Public Sphere; For more see Warner, Michael: »The Mass Public and the Mass Subject«, in: Craig Calhoun (ed.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge; Massachusetts & London: MIT Press, 1992; For more see Calhoun, Craig: »Introduction: Habermas and the Public Sphere«, in Craig Calhoun (ed.), Habermas and the Public Sphere, Cambridge; Massachusetts & London: MIT Press, 1992. 22 For more see Spiegel.de (2010): »Integrationsdebatte: ARD-Umfrage zeigt Zunahme der Islamfeindlichkeit«, Online 25/09/2013 from http://www.spiegel.de/politik/deutsch land/integrationsdebatte-ard-umfrage-zeigt-zunahme-der-islamfeindlichkeit-a-722521. html; For more see Die Welt (2010): »Deutsche sehen Islam kritischer als andere Europaer: Deutsche fuehlen sich von fremden Kulturen bedroht, besonders kritisch sehen
sie
den
Islam.
Die
europaeischen
Nachbarlaender sind toleranter«,
Online 22/09/2013 from http://www.welt.de/politik/deutschland/article11323763/ Deutsche-sehen-Islam-kritischer-als-andere-Europaeer.html; Cf. Pollack, Detlef: »Akzeptanz und Wahrnehmung des Islams: Zu den Ergebnissen einer Studie der
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characterised by fear, misunderstanding and negative connotations. The public rhetoric reflects a rather polarised relation between Muslims and Germany. Also with regard to media studies show that there is a rather negative portrayal of Muslims.23 Now Nuri Şenay and his online platform muslime.tv will be introduced. The following information is derived from the website muslime.tv and from my indepth interview with Nuri Şenay that took place on the 30th of August, 2012. Nuri Şenay was born in 1974 in Bremerhaven in Germany. He accomplished his studies as a Turkish-English translator in 2004. He later decided to become a teacher and since then he teaches English and Turkish in Cologne. He belongs to the second generation of immigrants and his ethnic origin is Turkish. Nuri describes himself as a German Muslim. Having asked him to elaborate on his German identity and his Muslim identity Nuri says that what makes him feel German is that he was raised and socialised in Germany. What makes Nuri feel Muslim is not necessarily a confessional sentiment of belonging but rather a whole concept of a specific way of life that he prefers. Is-
Westfälischen Wilhelms-Universität Muenster«, in: Islam- Kultur- Politik (2013), pp. 67-68; Schiffer, Sabine: »Islamfeindlichkeit in Deutschland: Ausgrenzende Strukturen ernst nehmen«, in Islam- Kultur-Politik (2013), pp. 71-74; Baumgarten, Reinhard: »Islamische Vielfalt: Von den Gesichtern des Islams«, in: Islam-Kultur-Politik (2013), pp. 175-178; For more see Schiffauer, Werner: »Der unheimliche Muslim: Staatsbürgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste«, in: Levent Tezcan/Monika WohlrabSahr (eds.), Konfliktfeld Islam in Europa, Munich: Nomos Verlag, 2006; Cf. AmirMoazami, Schirin: »Buried Alive: Multiculturalism in Germany«, in: ISIM Review (2005), vol. 16, pp. 22-23; Coruh, Almut: »Wo Muslime fremd sind, sind wir es auch: Plädoyer für ein Atelier der kosmopolitischen Wissenschaftler und Künste in Berlin«, in: Islam- Kultur- Politik: Dossier zur Politik und Kultur (2011), vol.1, pp. 21-22; For more see Bosse, Daniel/Vior, Eduardo: Politische Partizipation von Migranten mit muslimischem Hintergrund in Deutschland: Entwicklung und Probleme, Magdeburg: Institut für Politikwissenschaften, 2005. 23 For more see Schiffer, Sabine: Die Darstellung des Islams in der Presse-Sprache, Bilder, Suggestionen: Eine Auswahl von Techniken und Beispielen, Würzburg: Ergon Verlag, 2005; For more see Mühe, Nina: »Muslims in the EU: Cities ReportGermany«, in: Open Society Institute-EU Monitoring and Advocacy Program (2007), 01/08/2013 from http://www.opensocietyfoundations.org/sites/default/files/museucitie sger_20080101_0.pdf; Hafez, Kai: »Aufgeklärte Islamophobie: Das Islambild deutscher Medien«, in: Islam- Kultur- Politik: Dossier zur Politik und Kultur (2011), vol.1, p. 25.
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lam plays a pivotal role in his life. He describes it as a system of values and of meanings that provides him with answers to essential questions about life. He states that his whole life is structured by the Islamic belief and he mentions examples of the regular prayer and the fasting. There is a continuous relation to God and a permanent awareness of a higher power he says that characterises his life. Important to mention at this point is that the strong attachment Nuri has towards Islam is not based on religion’s social or psychological functions. It is a much more profound philosophical dimension that he sees in Islam that touches a deeper level of religion, as scholars like Tariq Ramadan and John Caird point out.24 Thereby religion is seen to give answers to essential questions about life and it has consequently an immense influence on the individual’s life. It goes beyond functions that scholars from sociological and psychological backgrounds like Emile Durkheim, Joachim Wach or Sigmund Freud ascribe to religion. 25 Nuri favours the view that there are many convergences between Islamic identity and German identity. He gives examples of punctuality and accuracy that are according to him typical German, as well as Islamic characteristics. He also sees convergences between Islamic identity and his original Turkish identity and mentions characteristics like generosity and hospitality. The good thing, he says, is that he can choose from a pool of identities what fits with his lifestyle. This specific way of perceiving one’s multifaceted identity reminds one of the postmodern concept of identity, which states that individuals have access to various identifications and pick and choose what they want on the basis of their own personal preferences.26 Besides, it also illustrates the idea of active individuals who balance out different set of values.27 24 For more see Ramadan, Tariq: The Quest for Meaning: Developing a Philosophy of Pluralism, London: Allen Lane, 2010; For more see Caird, John: Introduction into the Philosophy of Religion, New York: Macmillan, 1880. 25 For more see Durkheim, Emile: The Elementary Forms of the Religious Life, New York: Free Press, 1995; For more see Wach, Joachim: Sociology of Religion, Chicago: University of Chicago Press, 1944; For more see Freud, Sigmund: Totem and Taboo, London: Routledge & Kegan Paul, 1960. 26 For more see Robinson, Kevin: »Tradition and Translation: National Culture in its Global Context«, in: John Corner and Sylvia Harvey (eds.), Enterprise and Heritage: Crosscurrents of National Culture, London: Routledge, 1991; For more see Hall, Stuart: »The Question of Cultural Identity« in: Stuart Hall, David Held & Tony McGrew (eds.), Modernity and Futures, Cambridge: Polity Press, 1992. 27 For more see Mason, Andrew: Community, Solidarity and Belonging: Levels of Community and their Normative Significance, Cambridge: Cambridge University Press, 2000.
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Coming to Nuri’s public engagement one can say that muslime.tv is the main tool with which he participates in the public. Muslime.tv was founded in June, 2010 which is a more advanced platform of his previously created website islampodcast.de. Muslime.tv shows videos covering interviews, reports and documentations about young engaged Muslims in Germany. These videos reflect upon their identities, activities and views about Islam-related issues in Germany. Having asked Nuri about his motivation of setting up muslime.tv, Nuri expresses that since 9/11 he sees a growing importance of creating a Muslim media presence in the German-speaking sphere. He describes that it all started with his disappointment of German mainstream media’s negative and selective coverage of Muslims that intensified since 9/11. The aforementioned citation at the beginning of the paper illustrates his motivational background. Nuri says that even though the negative attitude towards Muslims had already started with the Islamic Iranian Revolution, it strengthened since 9/11. He argues that since this incident there is a clear medial bashing taking place, where Islamophobic racist statements suddenly became legitimate expressions. Before that incident, he states, one was still to a certain extent politically correct towards the Muslim community. In his eyes German mainstream media is not productive in its coverage of Muslims and there is not a correct transmission of knowledge taking place. He accuses it of showing only specific negative opinions, images and reports about Muslims and of playing with people’s fears. He criticises it as onesided and unbalanced. Again and again extremist Muslims are portrayed in media even though they constitute less than one per cent of all Muslims in Germany. Yet, he says, they are the only ones being focussed on in media. Thereby they are perceived to be representative of the whole Muslim community. This perception of a one-sided, negative media presentation of Muslims prompted him to take initiative and to give Muslims the opportunity to talk about themselves and not be talked about by others. The idea that imposed identities are being contested and alternative identities are promoted, as expressed by Craig Calhoun and Marjorie Mayo, can be clearly seen in Nuri’s engagement.28 Nuri stresses that Muslims have to be able to present their own medial selfdefinitions and self-portrayal. There has to be a »real medial democracy« that allows all social groups to participate, he says.29 His aim is to forward an inner perspective of the Muslim world in Germany, the community’s social structure 28 For more see Calhoun, Craig: »Social Theory and the Politics of Identity«, in: Craig Calhoun (ed.), Social Theory and the Politics of Identity, London: Blackwell, 1994; For more see Mayo, Marjorie, »Cultures, Communities, Identities: Cultural Strategies for Participation and Empowerment«, Basingstoke: Palgrave, 2000. 29 Cf. N. Senay cited in A. Soliman: Interview with Nuri Senay.
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and its contribution to Europe. He uses modern media to make this insight available to a wide public. In Nuri’s opinion, there are many young Muslims who are active and who contribute positively to society but who are completely ignored. There are many practicing Muslims, he argues, whose religious values do not stand in contradiction with German culture, yet nobody knows about them. It becomes clear that he wants to challenge the idea that Islamic values are incompatible with German values that is often being propagated in mainstream media. The following excerpt makes his point of view clear: There are so many Muslims who are doing so many good and meaningful things day-today, on a voluntary basis, who are here and there involved in dialogue work and yet they do not have a place in mainstream media and these individuals have to be shown… Muslims who are participating in this society, Muslims who make a meaningful contribution, Muslims who are practising Muslims and one sees that there is no contradiction to have a Muslim identity and to take part in society.30
Against this background Nuri decided to start to portray various activities and life excerpts of engaged Muslims in Germany on his website muslime.tv. Totally unfamiliar with camerawork, he started to educate himself on the internet about how to film. This is the context in which muslime.tv was born which by now consists of an established team of trained cameramen who work on a national level in Germany. There is a diversity of topics that are featured in the videos. They cover political, social and cultural issues in relation to Muslims in Germany. What they all have in common is that they show an insight into Muslim life in Germany, mostly by interviews and documentations about interviewees’ activities. Videos include, for example, interviews with young active Muslims in the fields of women’s empowerment, political parties, music, volunteer work, artistic creativity, charity organisations, education, pastoral care, youth work and interreligious dialogue. In several cases, the featured Muslims refer to important happenings that concern Muslims in Germany, such as the racist murder of Marwa El-Sherbini in Germany or to public Islam-related discourses, such as the question about whether Islamic education should be allowed at schools or not. To get a clearer picture I will illustrate some of the videos’ contents. One video, for example, shows an interview with a rapper and excerpts of his rap song. The song is called »Germany laughs itself silly« which the young Muslim rapper Dia Soliman wrote in reaction to Thilo Sarrazin’s book Germany is digging its own grave: How we put our country at stake. In his book, Sarrazin, 30 Ibid.
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who is an SPD member, formulates various anti-Muslim theses based on a racist foundation of genetics. Among other things, he accuses Muslims of a lack of intelligence and argues that they are dangerous and exploitative. It was a millionbestseller in 2010 even though some criticism was raised about it. In this video, the rapper explains why he took initiative and wrote this song. He also expresses what he thinks about the general situation of Muslims in Germany. In »Germany laughs itself silly« the young Muslim reacts to Sarrazin’s statements in a satiric way. According to him one cannot deny the fact that anti-Muslim as well as negative comments about Muslims are common in Germany. The equation of Islam and terror shapes in his eyes the way many Germans think about Muslims. A further topic that is being discussed is his engagement with music and rap as a Muslim. The idea that being a Muslim and a musician can go along with each other is expressed. Apart from that as a basketball player who participated in Germany’s Reality Check, which is a big basketball event that took place during Ramadan, Dia was asked during the interview to elaborate on this. He emphasises that it was selfevident for him to fast during this game because fasting is a main pillar of Islam. What is more, he talks about the Hip Hop group that he is part of, namely Der Stamm (The Stem). Elaborating on the group’s name, Dia stresses that it reflects their African origins and also the idea of a society within a society. He explains that this means that they are part of the wider German society, yet they also adhere to their original stems. He draws a difference between conforming to Germany and assimilating into German culture and argues that they stand for the former form of integration. The last part of the video features some excerpts of the group’s raps. During one of them Dia reflects upon his Muslim Egyptian German identity and describes it as a mix of feelings, an interplay and as something in between. He stresses that by standing in between Germany and his foreign background he »just wants to be himself«.31 In another video, the Begegnungs-und Fortbildungszentrum Muslimischer Frauen (Centre for Encounter and Advanced Training of Muslim Women) that is based in Cologne is introduced. The video consists of several excerpts that provide an insight into the centre’s work and a couple of interviews with young Muslim women and a young Muslim man who report about the centre’s volunteer work. At the beginning of the video a small excerpt of the centre is shown during its Open Day where non-Muslim Germans were invited to learn more about Islam. The video features little kids who are playing, as well as young Muslims during a tour with non-Muslim visitors. Additionally, in between the interviews Nuri is shown during his tour at the centre where he films and reports 31 Soliman, Dia in muslime.tv, 2011, (Online) 20/09/2013 from http://muslime.tv/.
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about various activities that young women engage in like, for example, a Hennatattoo activity and a non-alcoholic cocktail bar activity. The interviewees describe that their activities are centred around two main core areas, namely educational offers for Muslim women and dialogue work. Other activities include artistic and creative workshops, as well as clubs for Muslim fathers. The educational offers cover general school education, German language courses, politics classes, history classes and PC courses. Several success stories of young women who participated in the centre’s education classes and who now study or work are presented. Especially the success of young Muslims, who came to the centre with no degree, is reflected upon during the interviews. The centre’s strength is said to lie in the fact that it is a grassroots organisation where young Muslim women came together and designed their own goals. Moreover, the members’ multifaceted cultural background is presented as a relevant asset. The importance of women’s empowerment is stressed and women’s participation in civil society is encouraged. In the field of family education the centre offers parenting seminars, motherchild groups and playgroups. These activities are designed specifically for Muslim women. There is also a father club. This club is meant to offer advice for Muslim fathers about various issues that concern them. What differentiates these volunteers from non-Muslim German educators is that as Muslims they are aware of the members’ cultural and religious background, which plays an important role during consultation. All volunteers come from an academic background and have specific expertise that they pass on to the centre’s members. Even though there are men who support these women in their volunteer work, their role is described as restricted and it is said that women are the ones who take the main and final decisions. Regarding interreligious dialogue, the interviewees say that it takes different shapes. They undertake, for instance, intercultural seminars with multiplicators from German society like teachers, staff member from government agencies and policemen. They also engage in dialogue with interested citizens, school classes and international groups who want to learn more about Muslims’ lives. These seminars and dialogues that the centre carries out are meant to improve the understanding between Muslims and nonMuslims in Germany. Various questions about Islam and Muslims in Germany are answered during these activities. A further shorter video features Afifi Ahmad, a young Muslim teenager from Bremen who performs Parkour. It is an extreme displacement sport where individuals move from one place to another, trying to overcome any obstacle that they face without using any kind of equipment. The values freedom and expression are said to symbolise the sport’s philosophy. During the video he is shown,
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for example, while jumping above grids and climbing on street walls and high street lamps. Moreover, the teenager reflects about his engagement in Islamic practices like Zikr that stands for the remembrance of God during his sport activity. Furthermore, he draws links between Parkour’s philosophy and his Islamic religion. He reflects upon the idea that according to Parkour’s philosophy one should move efficiently in an environment without causing any harm to people or to obstacles that one can come across. He argues that this ethos is mirrored in the Islamic religion that says that you should treat all creatures in a good way without causing any damage to someone. Another shorter video illustrates a charity event that took place to gather money for poor orphans in Morocco. The video offers an insight into different excerpts of the event. It shows a section where several performers of the event sing Islamic songs of praise. Another excerpt features a young Muslim rapper who raps mainly about political interests of wars that cause deaths of innocent people. Moreover, the event’s organiser is interviewed who argues that Muslims who are in Germany live in good conditions and should play an important role in helping the needy ones in poorer countries. A further video shows an interview with Melih Kesmen, the founder of Styleislam, during which he discusses several topics. Styleislam is an online shop that sells Islamic modern clothes and other products for Muslims. Melih talks about rather usual topics including artists that inspired him, his favourite music, his favourite musicians and his last vacation trip. A more specific Islamrelated issue deals with the role of Islamic prayer in his life. He describes the regular prayer as a timeout from one’s busy life during which one can »dive down to other spheres« to reach a high spirit.32 For him the day Friday is a special day because of the Islamic Friday Prayer where the whole team of Styleislam gathers together to go to the prayer and to receive a spiritual input during the sermon that inspires him during the rest of the day. Moreover, Melih elaborates on the philosophy of Styleislam which represents fashion that brings together the »Orient and the Occident«.33 He says that the intention of Styleislam was not in the first place a commercial one, but rather the production of a contemporary modern Islamic style. In another video with Melih Kesmen he introduces his products of Styleislam in more details. Many of his products have specific slogans in Arabic as well as English on them like ›I Love my Prophet‹, ›Jesus, Muhammad-Brothers in Path‹, ›Muslim-Matter of Heart‹ and ›Light and Knowledge‹. He elaborates on the slogan ›Terrorism has no Religion‹ which he says has a crucial message especially 32 Kesmen, Melih, in muslime.tv, 2011, (Online) 20/09/2013 from http://muslime.tv/. 33 Ibid.
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because Muslims are still being confronted with this issue. Moreover, Melih says that several products are designed for young female Muslims who are looking especially for clothes that are adapted to Islamic dress codes. He also talks about some criticism that he faced from German society with regard to his products. One example he gives is about a German who was completely upset about Styleislam and against the idea that Muslims wear products with Islam-related slogans. He argued that Christians then should also wear T-Shirts with labels like ›I Love the Knuckle of Pork‹. He expresses his surprise of such reactions, as well as of the idea that the knuckle of pork represents a Christian value. At the end of the video Melih sends a message to Muslim youths in Germany saying that they should put their aspirations into action and that they should not allow anybody to discourage them. Another video features an interview with the young Muslim scholar of Islam Dr. Ali Ö. Özdil. The interview starts with Ali’s elaboration on his experiences with journalists who ask him about Islam-related issues. Even though he thinks that there are some good experiences, he argues that most experiences are rather negative. He says that many of his statements were later on cut and changed so that at the end something completely different was shown to the audience and readers. With regard to misconceptions about Muslims that characterise most of the journalists’ questions, he mentions the example of one journalist whose first question was whether there are Muslims who want to introduce Sharia in Germany. In reaction to that Ali asked him whether he knows what Sharia means, assuming that he does not really know its original meaning. It should be mentioned that this word has generally a rather bad connotation in Europeans’ perception. When the journalist expressed his lack of knowledge about the word’s meaning, Ali offered several definitions and clarifications about how this word is used in the Quran and in law. He explains that Sharia does not stand for Islamic law as many people think but for »the ethical-legal overall system of Islam«.34 From an etymological- symbolic perspective Sharia means the Islamic way of life. He gives the example of Muslims who follow Islamic practices like praying and fasting. He describes these as examples where Muslims follow in their own ways of life Sharia as an ethical-legal system of Islam. He stresses that this is the scientific meaning of Sharia that can be differentiated from the negative populist meaning that is ascribed to Sharia in mainstream media where one equates Sharia with drastic punishments. He argues that this an example that shows the importance of speaking to journalists and of offering them other definitions than the ones they might have in mind.
34 Özdil, Ali in muslime.tv, 2011, (Online) 20/09/2013 from http://muslime.tv/.
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Another video shows several male and female young Muslim students from different cities in Germany who are volunteer members of Study Coach 2.0, an online study guidance platform. The interviewees explain that Study Coach 2.0 offers high-school graduates consultation about studying at university to help them find what they are looking for. Their aim is also to encourage young individuals to study and to participate in society. During the video one of the volunteers reads out some examples of questions that were raised by pupils and the answers that Study Coach 2.0 provided. Questions deal with general inquiries about specific fields of studies but also with more detailed issues like, for example, needed application documents. The interviewees describe that Study Coach 2.0 was born in 2010 when several young Muslims came up together with this idea. They all felt that there is a great demand in student counselling which they themselves wished to have as high-school graduates who were new to the university world. Nuri acknowledges the fact that muslime.tv’s range of influence is not comparable to mainstream German media like RTL or Pro Sieben. Nevertheless, he is convinced that a video that shows excerpts of Muslims’ lives tops every other form of coverage in that it is the most direct and natural way of presentation. These videos are meant to mirror the status quo of Muslims without any added influence. He sees his task in delivering a factual informative picture of Muslims in Germany. Nuri emphasises that there is not an appellative intention behind the videos but that they are rather designed to have a documentary character. I was told that it happened several times that German media companies asked him about contact details of Muslims who they came across with via his website. In that sense his website helped to make some German media programmes become aware of Muslim personalities that are otherwise unknown. Thereby he functions as a mediator who connects media companies with young active Muslims whose stories are worth broadcasting. He says that »even if we cannot define the agenda we can provide ideas for those who set the agenda«.35 Putting Nuri’s engagement in the context of the theoretical framework of a public sphere and of counterpublics, one can clearly see main elements of counterpublics. Looking at the background in which muslime.tv was created, one realises very quickly that the motivation can be traced back to the perception of exclusion as well as wrong and negative public representations of Muslims. The political discourse, the general public opinion about Muslims and mainstream media play all essential roles in Nuri’s muslime.tv. Muslime.tv is completely shaped by this context and wants to counteract that what is ›mainstream‹ in Germany. By saying that so many Muslims with meaningful contributions are 35 N. Senay cited in A. Soliman: Interview with Nuri Senay.
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excluded by mainstream media and »have to be shown« the feeling of exclusion as well as the longing for inclusion and participation comes to the foreground.36 Also, Nuri’s statement saying that there should be a medial self-portrayal of Muslims and »real medial democracy« enabling all social groups to participate, illustrates that in his opinion actual mainstream media is not inclusive.37 Habermas’s rhetoric of accessibility and democratic inclusion of the liberal public sphere does not seem to be realised in the way Nuri perceives Germany. Crucial characteristics of counterpublics where minorities engage in the circulation of counter discourses, in the formulation of oppositional interpretations and in the contestation of specific assumptions, as outlined by Michael Warner, can be found in Nuri’s muslime.tv.38 Muslime.tv is meant to offer a media platform that illustrates Muslim identity in an alternative way that complements but also contests mainstream public discourses about Muslims in Germany. By portraying Muslims from an inner perspective that reflects upon their usual lives, their creative projects, their positive contributions to society, their views about Islam- related discourses in Germany as well as the way they handle their Islamic and German identity, Nuri offers a counter discourse to the mainstream. In his eyes, mainstream media as well as political and public opinion about Muslims are very negative, which the previously mentioned polls showed as well. It seems that Nuri sees a necessity to provide a different understanding of Muslim identity and to challenge common assumptions about Muslims in Germany. The aforementioned different videos offer all in their own ways a multifaceted picture of Muslims different from the one that is depicted in mainstream media and mainstream public discourses. The young Muslim rapper, the involvement of young female Muslims in the organisation Begegnungs-und Fortbildungszentrum Muslimischer Frauen, the teenager who performs Parkour, Melih Kesmen who founded Styleislam, young Muslims who organised a charity event, Ali Özdil who is a scholar of Islam and Muslim students who offer student consultation all represent a rather positive picture of Muslims in Germany. These are only some videos that were presented in details, however once one has a look at all videos, one will realise that they all share the aforementioned characteristics in their own ways. Apart from the interviews’ contents, only the visual depiction of these Muslims and their lives already contributes to a different perception of Muslims that counters the negative image of the mainstream representation. Muslims are related to rap, music, sports, fashion, academic expertise, voluntary work, education, interreligious dialogue, charity fundraising and student counsel36 Ibid. 37 Ibid. 38 For more see M. Warner: Publics and Counterpublics.
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ling. The connection of Muslims with a draconian Sharia law, terrorism, violence, inequality between men and women and honour killings is clearly challenged. These videos do not only challenge mainstream images of Muslims but depicted Muslims also participate in political and public discourses about Islam in Germany and in the process of meaning-making. The previously presented video featuring Dia Soliman illustrates a perspective of a young Muslim who reacts to Thilo Sarrazin’s statements about Muslims in a satiric way. He contributes to the discourse by voicing his scepticism towards Sarrazin’s statements and the general rather negative attitude towards Muslims in Germany. By expressing that negative comments about Muslims are common in Germany and that the equation of Islam and terror shapes the way many Germans think about Muslims he brings another element to the foreground of public discourse. Rather than talking about Muslims and Islam, he reflects upon the issue of how Germans perceive, think and talk about Muslims and Islam. It can be understood as a way of confronting German society with its stance towards Muslims and subjecting it to criticism. Also Ali Oezdil’s views about the rather negative experiences he has with journalists, who either change his words or ask prejudiced questions, confront German society in an implicit way with values of accuracy, truthfulness and impartiality. Moreover, Ali’s perspective on the Islamic-scientific meaning of Sharia offers a different definition to the mainstream meaning that is associated with this word in Germany. The definition he provides goes away from the rhetoric of a radical political legal body that will enforce its laws on German society. Thereby a view is given which is not only from a random Muslim but also from a Muslim who has an Islamic-scientific expertise that authenticates his opinion. By creating a platform where Muslims are shown from their own perspectives, one recognises Nancy Fraser’s idea of a public sphere that enables minorities to speak with their own voice and to reflect upon their life style and selfimage.39 All previously discussed videos give an insight into the world of Muslims from their own perspectives. They present their Muslim identities in Germany and talk about their self-understandings. They also share their views on mainstream discourses about Islam-related issues and public opinion about Muslims. Additionally, they present their specific activities and involvements that are related to their Muslim identities in Germany. With regard to their identities, there are two aspects that are remarkable in most videos. The first aspect deals specifically with their Islamic identity and the importance it plays in their lives. The second aspect is about the relation of their Islamic identity to German socie39 Cf. N. Fraser: Rethinking the Public Sphere.
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ty that will be discussed later. Regarding the first point one can say that matters which concern especially practicing Muslims like the Islamic prayer, the nondrinking of Alcohol, spirituality, charity and fasting come repeatedly to the foreground during the videos. Interviewees, who express their deeper thoughts about the crucial role of fasting, Zikr and praying, are shown. Slogans like ›I love my prophet‹ and various excerpts that show Muslims performing Islamic songs of praise point at the relevance of Islamic prophetic figures as well as of praising God. By making the issue of Islam an essential subject of the videos, the Muslim life style and its religious facets is communicated. It is presented from the perspectives of young Muslims who live in Germany and yet consider themselves as religious. Coming to the second aspect, namely the way in which Islamic identity is related to Germany, one can say that the Muslims in the videos present a Muslim identity that connects to Germany. The perception that Muslims do not belong to Germany is challenged by the videos. During the video with Dia, for instance, the compatibility of Islamic values and German culture is elaborated on. His participation in the basketball game while fasting exemplifies his German Muslim identity. He does not want to withdraw from the activities of German society while at the same he wants to follow the Islamic practice of fasting. Besides, by arguing that he can be a musician as a Muslim, Dia links the activity of music with his Islamic identity. Also, the last excerpt of the video that shows him while he raps about his Muslim Egyptian German identity, describing it as something in between indicates an identity perception that involves German, Muslim as well as Egyptian characteristics. Also, the video about the young teenager who is engaged in the sport Parkour gives an insight into how this individual relates Parkour’s philosophy to his Islamic identity as well as how he engages in the Islamic practice of Zikr during the time of sports. Moreover, Melih Kesmen’s Styleislam that connects Islamic arts and Islamic values with Western fashion and that designs modern clothes with Islam-related slogans and Islamic dress codes, illustrates a Western Muslim style of life. Regarding the slogans some of them can also be seen as a bridge that connects Muslims with Germany. The slogan ›Jesus, Muhammad-Brothers in Path‹, for example, illustrate the artist’s intention to break down the difference between Islam and Christianity by depicting the Christian messenger as well as the Muslim messenger as brothers. Furthermore, the involvement of Muslim women in voluntary work as well as their support for education depicts a picture of a participative, active and educated Muslim woman. The woman who specifically says that women are the ones who take the main decisions in the association Begegnungs-und Fortbildungszentrum Muslimischer Frauen seems to be interested
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in depicting a modern, emancipated picture of Muslim women in Germany. Also, the scholar of Islam who comes from an academic background as well as the Muslim students who encourage others to study and who offer student counselling contribute to the idea that Muslims esteem education. Even though sports, music, fashion, education, academic professionalism, volunteer work and charity events can be seen as not specifically German or non-Muslim features, the individuals seem to feel the necessity of clarifying that their Islamic identity does not hinder them from engaging in these activities. One can assume that because there is this depiction of conformity of aforementioned activities with Muslim identity, young Muslims are confronted with views that deny the possibility of these linkages. What might also be the case is that these young Muslims feel that this rather cultural, social and educational engagement of Muslims is not known in the public sphere that focuses on other themes in relation to Muslims. With all aforementioned examples one can recognise an implicit call for the normality of a Muslim identity that despite of its Islamic difference is like any other identity. It is depicted as an identity that is equally involved in areas of arts, sports, education, academia, charity events, volunteer work and fashion as are non-Muslims. Furthermore, the video that Nuri conducted with Melih Kesmen that is asking him about rather general, ›normal‹ issues like his favourite musician or his last holiday trip can be seen as a video that is dealing with usual insights about Muslims that are not Islam-specific. Such a video reflects again upon the normality of a Muslim identity. As Michael Warner (2002) argues, one can see a demand for the recognition of the normality of minority identity.40 Furthermore, these activities do not only reflect the compatibility of Muslim identity and German identity, but they also bring to the foreground Muslim participation and involvement in German society, German culture and German civil society. The videos present Muslims who espouse the good and who make a positive contribution to Germany, be it through the support of women’s education, the encouragement of studying at university, the organisation of charity events, interreligious dialogue or the artistic-cultural expressions in forms of music and fashion. Also, the idea of Muslims who integrate into society and who are not just passive citizens is expressed. All these different insights into young Muslims’ lives in Germany show a positive image of Muslims that offers an oppositional understanding of identity, as Warner puts it and that challenges negative mainstream assumptions about Muslims. What is more, the idea that minorities who engage in counterpublics are aware of their subordinate status in the public sphere, as Michael Warner de40 For more see M. Warner: Publics and Counterpublics.
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scribes can be observed in Nuri’s perception of muslime.tv.41 By acknowledging the fact that muslime.tv’s influence is small in comparison to mainstream German media and by arguing that even if Muslims do not define the agenda they »can provide ideas for those who set the agenda« one understands that he is aware of muslime.tv’s rather minor space in the German public sphere.42 Describing Muslims as those who neither define nor set the agenda, but only as individuals who can offer contributions to the ones who are in the position of defining also draws upon a further issue. It reflects on the role of power relations that previously mentioned scholars elaborate on arguing that Habermas’s concept of a public sphere ignores structural power relations. Even if Muslims might be equal and free in terms of expressing their views and identities from an inner perspective, the accessibility of the public sphere as well as the inclusion of their ideas within the main public seem to be limited. Previously discussed ideas arguing that structural power relations as well as a society’s cultural context create a pre-defined public sphere where the voices of majority culture are more heard than those of minorities seem to be of importance in this context. Besides, the point made by Nancy Fraser and Judith Butler saying that only a specific language is allowed in the main public sphere that makes discursive assimilation of minorities a requirement for participation can be gathered from Nuri’s statements.43 A closer look at the previously cited excerpt where Nuri argues that mainstream TV programmes’ topics about Muslims are »already defined« and »go in a particular direction« illustrates the idea of a predetermined public sphere that has its own views on specific issues.44 Moreover, he says that Muslims who are invited to such programmes have to confront on their own a majority of »rhetorically talented people«.45 One sees that it is a public discourse with its own rules of participation. It is a discourse where the minority is exposed to the majority whereas the latter is privileged in several ways. Apart from the problem of disproportionality, the bigger issue is related to the majority’s excellence of rhetorical language that the woman in that case does not seem to have. Nuri ascribes this characteristic only to the other guests and not to the Muslim woman. Even if she has it, it might be that it will not be welcomed or understandable by the others. The description he gives about the woman as being
41 Ibid. 42 N. Senay cited in A. Soliman: Interview with Nuri Senay. 43 N. Fraser: Heterosexism, Misrecognition, and Capitalism; J. Butler: Merely Cultural. 44 N. Senay cited in A. Soliman: Interview with Nuri Senay. 45 Ibid.
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»torn to pieces« by all other guests clearly demonstrates the pressure she has to face as a Muslim who wants to speak from her own perspective.46 Nuri’s general attitude and his statement saying »even if we cannot define the agenda we can provide ideas for those who set the agenda« also point at another aspect.47 It shows a rather cooperative attitude towards the mainstream public sphere. By defining his role as someone who offers ideas for people from the main public the picture of overlapping publics is communicated. It is not a counterpublic that wants to substitute the main public or that sees itself as an aggressive competitor of it. In that sense counterpublics do not have to be perceived as intrinsically in conflict with the main public. Even if individuals from counterpublics counter some of the mainstream public’s content and challenge it in various ways, they do not necessarily see this in terms of fight and contest. This issue reflects a rather general discussion about counterpublics’ nature. Some might argue that counterpublics imply a necessary conflictual relation to the main public that is rather confrontational. However, others would argue that even if counterpublics are critical towards the mainstream public, their relation to it is not characterised by a disputatious motivation. To look deeper into how Nuri engages with his German Muslim identity via his website muslime.tv it can be said that it is a more indirect way of identity projection. He is not portraying nor referring to himself in most videos but he is showing other young Muslims with whom he seems to identify and whose activities are according to him worth being seen. In that sense his identity activity consists of presenting and showing others’ identity projections and their ways of engaging with their identities. His role can be seen as a mediator who takes the stories of young Muslims out to the public. He forwards that what is missed out in his eyes by German mainstream media. This is a very interesting approach because it shows an example of an individual who is not active by his own visibility in the public sphere but rather by throwing light on the visibilities of others. Nevertheless, one can assume that there is a strong identification with those who are being shown as he describes these Muslims in a similar way in which he describes himself. The main common characteristic between him and the presented Muslims is that they are practising Muslims who participate in German society and who do not see contradictions between their Islamic and German identity. To conclude one can say that the way in which Nuri Şenay relates to his German Muslim identity in the public sphere is characterised by typical elements of counterpublics. Muslime.tv enables the circulation of counter discourses as well as the challenge of specific assumptions about Muslims. The website pre46 Ibid. 47 Ibid.
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sents Muslim identity in an alternative way. It complements the mainstream public, however it also criticises it. Muslime.tv portrays Muslims from an inner perspective. It gives them the possibility to speak with their own voice and to reflect upon their identities’ normality. Their daily life, their German Muslim selfimage, their creative projects and their positive contributions to society come to the foreground. The videos illustrate a rather positive image of Muslims where they are associated among other things with music, socio-political commitment, voluntarism and sport. Apart from that, muslime.tv offers Muslims the possibility to participate in political and public Islam-related discourses. With regard to the range of influence that muslime.tv has in relation to the main public one can say that it seems to be rather minor in Nuri’s eyes. Nevertheless there are examples where his platform served as a source of content for the mainstream public sphere. The question about muslime.tv’s actual visibility in Germany and its role in the mainstream public could be an interesting inquiry for a future research project.
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Verhandlungsprozesse bosnischer Identitäten – eine Innenansicht S AMIR C AMIC
Im Jahr 2012 waren es 100 Jahre, seit die Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie den Islam als Religion anerkannt hat. In dieser Zeit bildete sich die islamische Gemeinschaft als organisierte Gemeinschaft der Muslime in Bosnien und Herzegowina heraus. Gegenwärtig bin ich als leitender Imam des MIZ-Bijeljina (Medžlis Islamske zajednice Bijelijina, Islamische Gemeinde Bijeljina) ein Teil dieser religiösen Gemeinschaft. In meinem Land Bosnien leben hauptsächlich drei Ethnien bzw. Volksgruppen: die Bosniaken1, Kroaten und Serben. Der Islam, der Katholizismus, die serbisch-orthodoxe Kirche (bzw. die Orthodoxie) und das Judentum werden praktiziert. Damit sind also alle drei großen Weltreligionen in Bosnien und Herzegowina vertreten. Mit der Bezeichnung »Bosnier« sind all jene Menschen gemeint, die in diesem Land leben – unabhängig von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit. Die Bezeichnung »Bosniake« meint allerdings explizit einen Muslim, d.h. »Bosniake« ist ein Synonym für einen in Bosnien lebenden Muslim. Meine Vorfahren lebten im Osmanischen Reich unter der ÖsterreichischUngarischen Monarchie, im Königreich Jugoslawien, im sozialistischen Jugoslawien, und heute leben wir in einem unabhängigen Bosnien und Herzegowina, bestehend aus zwei Landesteilen. Die heutigen Balkanländer durchlebten verschiedene Staatsformen und politische Organisationen, unter ihnen gab es sogar einige, die die Existenz Gottes und die Existenz der bosniakischen Muslime negierten. Trotz alldem hielten die Bosniaken an ihrer religiösen Identität fest und sind muslimische Europäer geblieben. Sie sind sich selbst, ihren Überzeugungen und islamischen Prinzipien
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Die Bezeichnung »Bosniake« wurde 1993 für die bis dato in Jugoslawien lebenden Muslime wieder neu eingeführt.
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treu geblieben und haben seit jeher religiös Andersdenkende sowie »Andere« im ethnischen Sinn immer respektiert. Wenn ich von mir sage, dass ich ein Muslim bin, meine ich damit, dass ich meine Religion lebe, d.h. beispielsweise, dass ich das rituelle Gebet fünf Mal am Tag verrichte und mich dabei Mekka zukehre. Wenn ich von mir sage, dass ich Europäer bin, wende ich mich vielen europäischen Ländern zu, in denen zahlreiche meiner Landsleute während des letzten Krieges in Bosnien und Herzegowina von 1992 bis 1995 Zuflucht gefunden haben und in denen weiterhin noch viele leben. Wenn ich sage, dass ich Bosnier bin, bin ich jener, der 1000 Jahre lang in bosnischen Bergen lebte, und weder in islamisch geprägten Ländern noch in westeuropäischen Ländern das Gefühl hatte, heimisch zu sein.
D ER E NTWICKLUNGSPROZESS DER I DENTITÄT – EINE P ERSPEKTIVE
BOSNIAKISCHEN
Bosnische Muslime leben in einem Umfeld, das seit mehr als 150 Jahren immer wieder die Frage nach ihrer Identität aufruft. Dabei gab und gibt es in Bezug auf die bosniakische Identität und hinsichtlich der Bezeichnung »Bosniake« selbst irreführende Ansichten. Die Bosniaken bestimmen ihre Identität vor allem in Bezug auf Menschen, mit denen sie Lebensraum, Herkunft und Sprache teilen. In diesem Sinne sind den Bosniaken aus ethnischer Perspektive der südslawische Ursprung und die Sprache gemein. Sie unterscheiden sich von anderen Südslawen gleichwohl durch unterschiedliche religiöse und politisch-kulturelle Erfahrungen. Angesichts der historischen und politisch-rechtlichen Entwicklung in Bosnien, einschließlich der Entwicklungen in den umliegenden Gebieten, gruppierten sich ethnisch betrachtet orthodoxe Christen als Serben, Katholiken als Kroaten und Muslime als Bosnier. Mit anderen Worten: Die Religion war und ist in Bosnien für die Konstruktion der drei wichtigsten Volksgruppen grundlegend. Das religiöse Erbe trennt die Bosniaken von den orthodoxen und katholischen Christen, die in demselben Gebiet leben, und der slawische Ursprung und die Sprache trennen sie von den Türken, die durch die Osmanen den Islam nach Bosnien gebracht haben. So gesehen könnten sich die Bosniaken als der Teil der südslawischen Stämme definieren, der sich als Nation geformt hat und auf dem besonderen historischen Gebiet des Landes Bosnien lebt. Dieses Gebiet befindet sich im westlichen Balkan und in Europa. Die Bosniaken sind also authentische europäische Muslime.
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Wir dürfen nicht vergessen, dass der Balkan, Bosnien und die Bosniaken schon seit der Spätantike und der Völkerwanderungszeit und bis zum heutigen Tage aktive Teilnehmer an großen Geschehen der europäischen Geschichte waren und sind. Bosniaken zeig(t)en ihre religiöse Identität stets in einer christlichen Umgebung. Dies ist eine besondere Situation, in der Bosniaken immer wieder gezwungen sind, die Grenzen der eigenen Identität insgesamt auszutesten. Da Muslime eng mit den Serben auf einem Territorium lebten, waren sie aufgrund von historisch einschlägigen Ereignissen Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts angehalten, ihre Identität immer aufs Neue zu definieren. Diese territorialen Grenzen werden von Elementen bestimmt, die die bosniakische Identität formten: der slawische Ursprung, die Sprache, Bosnien und Herzegowina als Staat und der Islam als Religion. Des Weiteren darf nicht in Vergessenheit geraten, dass der Balkan ein Teil Europas ist und damit die bosniakische Identität in dieser Dimension auch prägt, nämlich in der Weise, dass die Bosniaken von sich sagen, dass sie europäische Muslime seien. Um die Rolle und Position der Bosniaken besser verstehen zu können, ist es wichtig, auf die historischen Fakten zurückzublicken, die das Bosniake-Sein beeinflussten. Die Bosniaken kämpften als Muslime seit Jahrhunderten um ihr Überleben im eigenen Vaterland. Während des 20. Jahrhunderts kam es mehrfach zu Verschiebungen der Identität der Bosniaken aufgrund von Veränderungen der politischen Situationen und Umstände. Die Verschiebungen zeigten sich in der Transformation einer traditionellen und religiösen Vorstellung vom Leben und vom eigenen Dasein zu einer modernen Vorstellung. Diese Umwandlungsprozesse ereignen sich im 20. und 21. Jahrhundert und lassen sich in drei historische Phasen einordnen. Die erste fällt in die letzte Periode der österreichischungarischen Herrschaft vom späten 19. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg. Die Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie sicherte den Bosniaken als Muslime ein körperliches und geistiges Überleben, welches, wenn die lokale islamisierte Bevölkerung betrachtet wird, der erste derartige Fall in der Geschichte seit dem Osmanischen Rückzugs aus Mitteleuropa und dem Balkan ist. Bosniaken bildeten sich in Bildungszentren der Habsburgischen Monarchie und kamen so in Berührung mit der westlichen Zivilisation und ihren Möglichkeiten. In der ersten Phase arbeiteten einige wenige bosniakischen Intellektuelle mit außerordentlicher Energie an der Aufklärung, der Wiederbelebung ihres Volkes und am kulturellen Wachstum. Diese auch historische Perspektive zwang die Bosniaken aber gleichzeitig dazu, ihre eigene Identität zu hinterfragen. 1878 wurde mit Beginn der Österreichisch-Ungarischen Doppelmonarchie die orientalische Epoche beendet und die
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europäische Periode der Geschichte Bosniens, während der die Bosniaken mit neuen Erfahrungen und Herausforderungen konfrontiert werden sollte, begann. Die zweite Phase ist der Zeitraum des ersten und zweiten Jugoslawiens, und die dritte Phase bildet die Zeit seines Zerfalls und des Krieges gegen Bosnien und Herzegowina und die Bosniaken. Die erste Periode der jugoslawischen Geschichte begann für die Bosniaken mit Massenmorden, die hauptsächlich auf Genoziden beruhten. Schon 1918 kam es insbesondere in Ostbosnien zu Diebstahl, Landraub und Verfolgung und zur Liquidierung einer Vielzahl bosniakischer Muslime. Obwohl es die jugoslawischen Behörden in den darauf folgenden Jahren geschafft haben, in diesen Bereichen Sicherheit, Recht und Ordnung zu etablieren, blieb der Völkermord eine verschleierte politische Option, mit der das körperliche und geistige Überleben der Bosniaken konstant bedroht wurde. Mit dem Zerfall des Vielvölkerstaats Jugoslawien im Jahre 1941 ging die Unabhängigkeitserklärung von Kroatien einher, die das Territorium Bosnien und Herzegowinas umfasste. Schon seit den ersten Tagen nach der Gründung im Frühjahr 1941 verfolgte der Staat Kroatien das Ziel, ein ethnisch gesäubertes Territorium mit massenhafter Vertreibung von Serben, Juden, Sinti und Roma zu schaffen. Die Behörden versuchten von Beginn an, die Bosniaken in ihre Verbrechen gegen Serben, Juden und Antifaschisten aller Nationalitäten zu verwickeln. Diese Entwicklungen ergaben, dass sich die Mehrheit der Bosniaken schon seit dem Spätsommer und Herbst 1941 offen von der Politik der Massenverfolgung und Vernichtung der serbischen und jüdischen Bevölkerung distanzierte. Ein erster derartiger Protest gegen die Verbrechen wurde von der Vereinigung »El Hidaje« (»die (Rechts-) Leitung«, »die Führung«) hervorgebracht, die am 14. August 1941 in Sarajevo tagte. Daraufhin wurden im Zeitraum von September bis Dezember Beschlüsse in Prijedor, Sarajevo, Mostar, Banja Luka, Bijeljina und in Tuzla mit Unterschriften eines großen Teiles der bosniakischen Bürgerschaft, der Intellektuellen und Imame veröffentlicht, mit denen diese verdeutlichen wollten, dass sie die Verbrechen verurteilten und sich stark von jenen einzelnen Bosniaken distanzierten, die Teilnehmer und Mitakteure der Ereignisse waren. Die Bosniaken haben ihre Staatsangehörigkeit während des Bestehens des letzten Jugoslawiens als jugoslawische definiert, da ihnen die Regierung verbot, sich als Bosniaken zu deklarieren. Aus denselben Gründen definierten sie ihre Kultur und nationale Identität gleichzeitig als muslimisch. Die historisch-ethnische Bezeichnung »Bosniake«, die nach dem Zerfall Jugoslawiens und der Unabhängigkeit Bosniens erneuert aufgenommen wurde, ist der konsequente Ausdruck der neuen politischen und staatlich-rechtlichen Realität. Für die Bosniaken war somit das JugoslawischSein und nicht der Balkan der politische Rahmen und ein wichtiges Element der
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Identität, denn weder eine bosnische Nation noch die bosnische Sprache, sondern lediglich die serbo-kroatische nationale Identität und Sprache konnten etabliert werden. Mit der neuen Situation kommt die große Mehrheit weiterhin sehr schwer aus. Gleichzeitig werden sie in eine Position gebracht, die im Vergleich zu den anderen zwei ethnischen Gemeinschaften in Bosnien und Herzegowina kulturell-politisch und ökonomisch schlechter ist. Doch der Kampf um das Mithalten mit europäischen Standards eröffnet den Bosniaken nach und nach neue Perspektiven. Denn die Bosniaken hatten zunächst mit dem Problem der nationalen Identifikation und Selbstbestimmung zu kämpfen. Darauf folgte das Problem ihrer Positionierung dem Islam gegenüber und des politischen und kulturellen Anschlusses an Europa. Doch neben den neuen Herausforderungen und Möglichkeiten sahen sich die Bosniaken zu diesem Zeitpunkt unter Beschuss zweier nationalistischer Strömungen der benachbarten Länder: Kroatien und Serbien mit einander ausschließenden Ansprüchen. Man versuchte, den bosnischen Muslimen einen angeblich kroatischen oder serbischen Ursprung und Namen zu geben. Trotzdem hielten die Bosniaken stark und geduldig an ihrer traditionellen bosniakisch-muslimischen Identität und ihrem Namen fest. Allerdings muss stets mitbedacht werden, dass der Name »Bosnier« den Muslimen in Jugoslawien eigentlich gänzlich fremd war, da diese sich vornehmlich als Muslime identifizieren. Die Bezeichnung »Bosnier« diente vielmehr einer geografischen Verortung der Bosnier, die dann allerdings alle Bosnier einschloss. Konfrontiert mit neuen Umständen versuchten die Bosniaken, ihre Identität zu bewahren. Um auch in Zukunft zu »überleben«, passten sie sich zunehmend der europäischen Lebensart an. Darin sahen sie meistens die einzige Möglichkeit, ihre slawisch-islamischen Vorstellungen aufrechtzuerhalten und ihre Identität zu schützen. Aus diesen Erfahrungen aus zwei Jahrhunderten bildete sich ein grundlegendes Ideenkonzept der bosniakischen kulturellen Wiederbelebung heraus. Es umfasst das Ziel, das Bewusstsein der Menschen hinsichtlich ihrer slawischen Zugehörigkeit zu stärken und ihnen vor Augen zu führen, dass ein Anschluss an den Westen unter Erhalt der islamischen Kultur und der wesentlichen Bestandteile der bosniakischen Identität unumgänglich ist.
B IJELJINA Ich erwähnte, dass sich die Bosniaken im Laufe der Geschichte mit der Leugnung ihrer Identität, Sprache und Religion konfrontiert sahen. Die Leugnung ging mit staatlichen Gesetzeserlassungen und einer politischen Ideologie einher.
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Das Erschütternde daran ist, dass solche Versuche heute noch gebräuchlich sind. Ein Beispiel dafür ist meine Stadt Bijeljina, die an der Grenze von Serbien und Kroatien im Norden liegt. Nach dem Krieg in Bosnien änderte sich die ethnische Zusammensetzung der Stadt. Heute leben in Bijeljina weniger Bosniaken als vor dem Krieg. Dies ist mit der Situation vieler anderer Städte in Bosnien und Herzegowinas vergleichbar, aus denen Bosniaken vertrieben worden sind. Nach der Rückkehr vieler Bosniaken in ihre Heimatstadt, stellt sich heute die Frage, wie die Bosniaken ihre Identität aufrechterhalten, in einer Situation, in der der Wert einer Nation als sehr hoch angesehen wird und in der andere Identitäten, in diesem Fall die bosniakische, geleugnet und zurückgedrängt werden. Die Leugnung ist in Schulen, Kultur- und Sportvereinen sowie anderen öffentlichen Einrichtungen anzutreffen. Besondere Aufmerksamkeit widmen wir Jugendlichen, die dem großen Druck ausgesetzt sind, sich zu assimilieren, sich zu identifizieren, und zwar mit der Identität Bosnien und Herzegowinas, die ursprünglich nicht ihre ist. Daher haben wir eine Reihe von Aktivitäten ins Leben gerufen, um Inhalte der bosniakischen Identität lebendig zu halten. Das gemeinsame Singen in Chören, traditionelle bosnische Folklore, gemeinsame Gebete und religiöse Feste sind einige Aktivitäten, die von einem Großteil der bosniakischen Jugendlichen wahrgenommen werden. Es brauchte Zeit, Geduld und aufrichtigen Einsatz, um die Jugendlichen davon zu überzeugen, wie wichtig ihr persönliches Engagement bei diesen Aktivitäten ist. Die gegenwärtige junge Generation der Bosniaken hat erkannt, dass das Recht auf eine eigene Identität nicht geschenkt wird, sondern dass sie bei gleichzeitiger Bewahrung der Identitätsvielfalt in unserer Heimat Bosnien und Herzegowina geistig erkämpft werden muss. Wir Bosniaken wussten immer, wer wir sind, obwohl wir überwiegend unter verschiedenen gesellschaftspolitischen Systemen gelebt haben, in denen wir nicht oft die Möglichkeit hatten, unsere nationale Zugehörigkeit auszusprechen. Wir wollen niemandem das Recht auf Selbstbestimmung und Zugehörigkeit nehmen, aber genauso wollen wir, dass uns keine Vorgaben für unsere ethnische, religiöse und kulturelle Zugehörigkeit gemacht werden.
Muslimische Performanzen in Nachkriegsbosnien zwischen Konfession, Nation und Staatlichkeit M ALTE F RYE
1. E INLEITUNG Das gesellschaftliche Leben in Bosnien und Herzegowina1 wird bis heute sowohl durch Muslime als auch durch katholische und serbisch-orthodoxe Christen geprägt. Während die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche primär mit der kroatischen Bevölkerungsgruppe assoziiert wird und orthodoxe Christen mit der serbischen Bevölkerung verbunden werden, stellte sich die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit der bosnischen Muslime im geschichtlichen Verlauf auf vielfältige Weise. In diesem Artikel soll die Verschränkung von religiöser Zugehörigkeit und nationaler Verortung detailliert beleuchtet werden. Die Betrachtung des Themas beginnt mit einer umfassenden Beschreibung des sich historisch wandelnden Verhältnisses des Islams zwischen Konfession und Nation in Bosnien. Anhand der Untersuchung einer Pilgerfahrt (zijaret) zu einem muslimischen Heiligenschrein (turbe) in einem Dorf in Zentralbosnien und einem mit diesem in der sakralen Topographie eng verbundenen Gebetsplatz (dovišta) sollen darauf aufbauend einige der zentralen gesellschaftlichen, politischen und staatlichen Transformationen in Nachkriegsbosnien aufgezeigt werden. Als Grundlage der Analyse dienen Ergebnisse mehrmonatiger Forschungsaufenthalte und eines intensiven Quellenstudiums. Die Analyse von unterschiedlichen Performanzen am Gebetsplatz in Ajvatovica und im nahegelegenen Dorf Prusac soll verdeutlichen, dass sich die Pilgerfahrt zu einer Bühne entwickelt hat, auf der nicht nur an das mit dem muslimi1
Aus Gründen der Vereinfachung wird fortlaufend die Kurzform Bosnien verwendet.
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schen Heiligen (evlija) Ajvaz-dedo (Großvater Ajvaz) assoziierten Wunders (keramet) und der Gnade Allahs erinnert wird. Neben Aspekten der religiösen Wissensvermittlung, festlicher Unterhaltung und der Bildung sozioökonomischer Netzwerke werden im Zuge dieser Inszenierung heute zudem verstärkt historische Kontinuitäten der bosnischen Muslime bzw. der deckungsgleichen nationalen Gemeinschaft der Bosniaken konstruiert und dargestellt. Zentrale Ereignisse der älteren und jüngsten Geschichte der Gemeinschaft werden durch öffentliche Reden, musikalische Performanzen und das Durchschreiten von Landschaften reaktualisiert und in nationale Erzählungen übersetzt. Ferner soll aufgezeigt werden, dass eine der heutigen Bedeutungs- und Handlungsebenen der Pilgerfahrt zudem in der Wiederaneignung und Schaffung von Heimat (domovina) und Räumen moderner bosnischer Staatlichkeit (državnost) liegt. Vor dem Hintergrund der jugoslawischen Sezessionskriege der 1990er Jahre, der nationalistischen Fragmentierungen und »ethnischen Säuberungen«2 des Landes sowie kaum funktionierender gesamtstaatlicher Strukturen und anhaltender Sezessionsäußerungen durch serbische und kroatische Nationalisten streben die Performanzen von Ajvatovica, wie aufgezeigt werden soll, auf symbolischer Ebene eine Bestätigung der Integrität, Geschichtlichkeit und Souveränität des multinationalen Staates Bosnien und Herzegowina an. Durch die direkte Verbindung von Geschichte und Territorium sowie Religion und Nation in den Performanzen werden historische Anrechte auf Staatlichkeit formuliert und die Verpflichtungen des Einzelnen diesem gegenüber mit religiösen Symbolen und Metaphern evoziert.
2. D ER I SLAM B OSNIEN
UND
N ATIONSBILDUNGSPROZESSE
IN
Historiker und Sozialwissenschaftler sind sich grundsätzlich einig, dass die 1992 in Bosniaken umbenannte nationale Gemeinschaft der bosnischen Muslime im
2
Ich schließe mich Wieland an, der sich für eine kritische Verwendung des euphemistischen Begriffs der »ethnischen Säuberung« ausspricht. Die im Krieg in Bosnien begangenen Grausamkeiten werden durch diesen Terminus häufig geglättet und verharmlost (vgl. Wieland, Carsten: Nationalstaat wider Willen. Politisierung von Ethnien und Ethnisierung der Politik. Bosnien, Indien, Pakistan, Frankfurt/Main: Campus-Verlag, 2000, hier S. 22-23.).
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Vergleich zu anderen europäischen »Wir-Gruppen«3 erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt ein nationales Bewusstsein entwickelte. Folgt man Seton-Watsons Typologie von »old continuous nations« und »modern nations«4, gehört die bosniakische Nation eindeutig der letzteren Kategorie an. Die Geschichte der Bosniaken muss, wie verdeutlicht werden soll, deshalb als Prozess gelesen werden, in der die für die Nationsbildung elementare »transition from faith to culture«5 erst vergleichsweise spät vollzogen wurde und Religion und Nation sich in einem historisch wandelnden Spannungsverhältnis zueinander befinden. Vom Osmanischen Reich bis zum Zweiten Weltkrieg Von einer kontinuierlichen Geschichte des Islams in Südosteuropa kann erst seit den im 14. Jahrhundert beginnenden osmanischen Eroberungen gesprochen werden. Obwohl vereinzelte Übertritte überall zu beobachten waren, verbreitete sich der Islam besonders in Albanien sowie im 1463 eroberten Bosnien. Neben schwach ausgebildeten kirchlichen Organisationsstrukturen, waren es häufig ökonomische und strukturelle Vorteile, welche die anfänglichen Konversionen motivierten.6 Die These, dass die bosnischen Muslime jedoch Nachfahren der sogenannten »Bosnischen Kirche« (Crkva Bosanska) bzw. der häretischen Bewegung der Bogumilen sind, muss hingegen wie im zweiten Abschnitt am Beispiel der Hagiografie des evlijas verdeutlicht werden soll, als nationaler Ursprungsmythos interpretiert werden. Wenngleich die Nation als moderne Form der sozialen Organisation noch »unvorstellbar«7 war, setzten in der Zeit der osmanischen Herrschaft jene Prozesse ein, welche die heutigen nationalen Gemeinschaften in Bosnien in engsten
3
Elwert, Georg: »Nationalismus, Ethnizität und Nativismus – über die Bildung von Wir-Gruppen«, in: Georg Elwert/Peter Waldmann (Hg.), Ethnizität im Wandel, Saarbrücken: Breitenbach, 1989, S. 21-60, hier S. 21.
4
Seton-Watson, Hugh: Nationalism. Old and New, Sydney: Sydney UP, 1960, hier S. 6ff.
5
Gellner, Ernest: Nations and Nationalism, Ithaka/London: Cornell UP, 1983, hier S. 72.
6
Vgl. Balić, Smail: »Der Islam und seine gesellschaftliche Bedeutung für Südosteuropa«, in: Hans-Dieter Döpmann (Hg.), Religion und Gesellschaft in Südosteuropa, München: Südosteuropa-Gesellschaft, 1997, S. 71-86, hier S. 72.
7
Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/Main: Campus-Verlag, 1996, hier S. 15.
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Zusammenhang zu ihren jeweiligen Kirchen und Konfessionen setzen sollten. Die vom sunnitischen Werte- und Normensystem abgeleitete Minderheitenordnung des millet-Systems (arab. milla, Gemeinschaft) kannte zwar keine ethnischen, dafür aber religiöse Minderheiten und legte deren Definition und Behandlung fest. Jeder abrahamitischen Religion wurde hiernach ein eigener Repräsentant zugesprochen, der als Vermittler zum Reich die eigenen religiösen, rechtlichen und politischen Belange aushandelte.8 Die heutigen nationalen Gemeinschaften stellen de facto das Erbe dieser Zeit dar bzw. das millet-System kann, wie Weiland es formuliert, vica versa als »Nationsschmiede«9 in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens angesehen werden. Jedoch erst im endenden 19. Jahrhundert sollten sich nationalistische Strömungen ausgehend von intellektuellen und politischen Eliten, den »Vorkämpfern der nationalen Bewegung«10, von Serbien und Kroatien ausgehend auch unter der orthodoxen und katholischen Bevölkerung Bosniens schichtenübergreifend ausbreiten. Da es an der Möglichkeit einer Rückkoppelung an eine Titularnation außerhalb Bosniens und einer Abgrenzung zum überkonfessionell definierten Osmanischen Reich fehlte, setzten die Nationsbildungsprozesse unter den Muslimen hingegen verspätet ein. Auf die osmanische Herrschaft in Bosnien folgte die Zeit der österreichischungarischen Okkupation (1878-1908) und späteren Annexion (1908-1914). Im Gegensatz zu Serben und Kroaten waren Ansätze einer Nationalideologie unter den Muslimen nach wie vor noch kaum vorhanden. Verbunden mit territorialen Ansprüchen auf Bosnien einerseits und einem kaum ausgebildeten Nationalbewusstsein andererseits, wurden die Muslime zunehmend als »islamisierte Serben« bzw. »islamisierte Kroaten« für die respektive Nation vereinnahmt und ihnen eine eigenständige nationale Identität aberkannt bzw. deren Entwicklung per se in Frage gestellt.11 Für Volkskundler wie Miroslav J. Spalajković lag
8
Vgl. Friedman, Francine: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation, Boulder: Westview Press, 1996, hier S. 30-31.
9
C. Wieland: Nationalstaat wider Willen. Politisierung von Ethnien und Ethnisierung der Politik. Bosnien, Indien, Pakistan, S. 154.
10 Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegungen bei den kleinen Völkern Europas, Prag: Univerzita Karlova, 1968, S. 21. 11 Vgl. Höpken, Wolfgang: »Konfession, territoriale Identität und nationales Bewusstsein. Die Muslime in Bosnien zwischen österreichisch-ungarischer Herrschaft und Zweitem Weltkrieg (1878-1941)«, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hg.), Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien, München: Oldenbourg, 1994, S. 233-253, hier S. 236.
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»[…] der edelste Teil serbischer Massen […] in Bosnien-Herzegovina«12 und der Geograf Jovan Cvijić bezeichnete Bosnien als »Kernland« und »Herz« der serbischen Nation.13 Das Plebiszit, eine Nation sein zu wollen, war unter der Bevölkerung, aber auch unter der sich herausbildenden muslimischen Intelligenzija bis zur Zeit des Sozialismus hingegen nur schwach ausgeprägt. Zwar betonten die Muslime ihr Sonderbewusstsein, das sich auf einem bosnischen Regionalismus und der konfessionellen Identität aufbaute, doch erst allmählich entwickelten sie die für die Schaffung einer nationalen Identität notwendige eigenständige kulturelle und politische Infrastruktur.14 Stattdessen versuchten sich viele Muslime durch einen verstärkten Rückzug auf die religiöse Identität vor serbischen und kroatischen Vereinnahmungsstrategien zu schützen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall Österreich-Ungarns erlangten die südslawischen Bevölkerungsgruppen ihre Unabhängigkeit und schlossen sich im Jahr 1918 im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien) zusammen. Auf die Etablierung der durch Zentralismus, Unitarismus und serbische Hegemonie bestimmten sogenannten »dreinamigen Nation« nahmen bosnisch-muslimische Politiker jedoch kaum Einfluss. Die Muslime wurden nicht im Namen des neuen Staates berücksichtigt und hatten in staatlichen und bürokratischen Abfragen nur die Möglichkeit, ihre Konfession anzugeben und sich als Serben oder Kroaten zu deklarieren.15 Wenngleich die Belgrader Regierung 1919 noch die territoriale Integrität Bosniens anerkannte, wurde diese in den folgenden Jahren im Rahmen der territorialen und politischen Reorganisation des Staates graduell abgeschafft. Bosnien wurde als historische Verwaltungseinheit aufgelöst und im Jahr 1939 wurden im Zuge des serbisch-kroatischen Ausgleichs, dem Cvetković-Maček- Abkommen, Teile
12 Spalajković, zit. nach Džaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichischungarischen Epoche (1878-1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie, München: Oldenbourg, 1994, hier S. 88. 13 C. Wieland: Nationalstaat wider Willen. Politisierung von Ethnien und Ethnisierung der Politik. Bosnien, Indien, Pakistan, S. 162. 14 Vgl. W. Höpken, Wolfgang: »Konfession, territoriale Identität und nationales Bewusstsein. Die Muslime in Bosnien zwischen österreichisch-ungarischer Herrschaft und Zweitem Weltkrieg (1878-1941)«, S. 248-249. 15 Vgl. W. Höpken, Wolfgang: »Konfession, territoriale Identität und nationales Bewusstsein. Die Muslime in Bosnien zwischen österreichisch-ungarischer Herrschaft und Zweitem Weltkrieg (1878-1941)«, S. 243.
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des heutigen bosnischen Staatsgebietes an das autonome Banat Kroatien angegliedert.16 Das Königreich Jugoslawien existierte bis zur Besatzung durch deutsche Truppen im Jahr 1941. Während des Zweiten Weltkrieges fanden sich die Muslime zwischen den sich bekämpfenden kommunistischen Partisanen, die einen föderativen jugoslawischen Staat anstrebten, sowie serbischen Royalisten und kroatischen Nationalisten wieder. Aus zumeist pragmatischen Gründen war es dabei keine Seltenheit, dass die bosnischen Muslime unterschiedliche Nationalitäten »annahmen« und das »switching« von Identitäten war nicht unüblich.17 Anfänglich zeigte sich die Mehrheit der Muslime – verbunden mit ideologischen Vereinnahmungen – loyal gegenüber dem faschistischen deutschen Vasallenstaat Kroatien, dem »Unabhängigen Staat Kroatien« (1941-1945), der neben kroatischen Gebieten nunmehr auch Bosnien umfasste. Um die bosnischen Muslime für die Idee einer durch zwei Religionsgemeinschaften definierten kroatischen Nation zu gewinnen, wurde bspw. ein Kunstpavillon in Zagreb in die sogenannte Moschee des Führers (Poglavnikova džamija) umgewandelt.18 Aussagen dieser Zeit, wonach die Muslime die »Perle der kroatischen Nation«19 seien, folgten der Logik des ethnischen Nationalismus und waren mit territorialen Ansprüchen auf Bosnien als »Herz des kroatisches Staates«20 verbunden. Nach Ante Pavelić (1889-1959), dem Führer des kurzlebigen kroatischen Staates, »Croat national consciousness never was extinguished in the Muslim element of Bosnia, and after the departure of the Turks has resurfaced«21. Da politische Macht jedoch 16 Vgl. F. Friedman: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation, S. 104. 17 Vgl. Elwert, Georg: »Boundaries, Cohesion and Switching. On We-Groups in Ethnic National and Religious Forms«, in: Hans-Rudolf Wicker (Hg.), Rethinking Nationalism and Ethnicity. The Struggle for Meaning and Order in Europe, Oxford u.a.: Berg, 1997, S. 251-270, hier S. 251. 18 Vgl. Pavlaković, Vjeran: »Conflict, Commemorations, and Changing Meanings. The Meštrović Pavilion as a Contested Site of Memory«, in: Davor Pauković/Vjeran Pavlaković/Višeslav Raos (Hg.), Confronting the Past. European Experiences, Zagreb: Political Science Research Center Zagreb, 2012, S. 317-352, hier S. 328. 19 Lampe, John R.: Yugoslavia as History. Twice there was a Country, Cambridge: Cambridge UP, 2000, hier S. 212. 20 F. Friedman: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation, S. 122 21 Pavelić, zit. nach Banac, Ivo: »Bosnian Muslims. From Religious Community to Socialist Nationhood and Post-Communist Statehood. 1918-1992«, in: Mark Pinson (Hg.), The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Historic Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia, Cambridge: Harvard UP, 1993, S. 129154, hier S. 141.
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kaum geteilt wurde, Proteste gegen eine »Kroatisierung« wuchsen und Repressalien von Seiten der kroatischen Nationalisten zunahmen, kooperierten die Muslime z. T. enger mit den deutschen Besatzern. Systematische Gewalttaten von Teilen der serbischen Bevölkerung gegen die Muslime verhinderten gleichzeitig eine Zusammenarbeit mit serbischen Royalisten.22 Aus dem Zweiten Weltkrieg gingen die sozialistischen Partisanen unter Josip Broz Tito (1892-1980) schließlich siegreich hervor. Nationale Anerkennung im sozialistischen Jugoslawien Die Lasten der Erinnerung an die von allen Kriegsparteien ausgeübten Gräueltaten tragend, wurde unter Präsident Tito am 29. November 1945 die Föderative Volksrepublik Jugoslawien (ab 1963 Sozialistische Föderative Volksrepublik Jugoslawien) ausgerufenen. Bosnien und Herzegowina wurde als sechste jugoslawische Teilrepublik neben Serbien, Kroatien, Slowenien, Mazedonien und Montenegro geschaffen. Während alle anderen Republiken den Namen ihrer jeweiligen Titularnation erhielten, entstand die bosnisch-herzegowinische Republik, in der sowohl Muslime als orthodoxe und katholische Christen relevante Bevölkerungsteile stellten, jedoch als multinationale Einheit. Die Schaffung der Republik sollte serbische und kroatische Aspirationen auf Bosnien vor vollendete Tatsachen stellen und eine Pufferfunktion zwischen den Republiken einnehmen.23 Bis in die 1950er wurden jedoch keine Versuche unternommen, die Muslime in irgendeinem Sinne »ethnisch« oder »national« zu definieren. Sie befanden sich vielmehr in einem »ethnonationalen Niemandsland«24. Die jugoslawischen Kommunisten gingen noch von der Prämisse aus, dass es sich bei den Muslimen um eine reine Konfessionsgemeinschaft handeln würde, die sich national noch nicht entschieden hätte.25 Zudem bestanden mit dem sogenannten integralen Ju-
22 Vgl. F. Friedman: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation, S. 122ff. 23 Vgl. F. Friedman: The Bosnian Muslims. Denial of a Nation, S. 143ff. 24 Sundhaussen, Holm: »Vom Mythos Region zum Staat wider Willen. Metamorphosen in Bosnien-Herzegowina«, in: Philipp Ther/Holm Sundhaussen (Hg.), Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Marburg: Herder-Institut, 2003, S. 215-232, hier S. 226. 25 Vgl. Höpken, Wolfgang: »Die jugoslawischen Kommunisten und die bosnischen Muslime«, in: Andreas Kappeler et al. (Hg.), Die Muslime in der Sowjetunion und in Jugoslawien. Identität. Politik. Widerstand, Köln: Markus-Verlag, 1989, S. 181-210, hier S. 194.
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goslawismus zunächst Bestrebungen, eine gemeinsame jugoslawische nationale Verortung in der Bevölkerung zu stärken. Eine Statusveränderung zeichnete sich so auch erstmals – verbunden mit dem Fallenlassen des »integralen Jugoslawismus« – auf dem achten Kongress der Liga der Kommunisten im Jahr 1964 und mit der Verfassung von 1974 ab. Tito verurteilte »[…] the confused idea that the unity of our peoples means the elimination of nationalities and the creation of something new and artificial« und bezeichnete die Idee »[…] to create a unified Yugoslav nation [as an] expression of bureaucratic centralism and unitarism«26. Die Schaffung einer synthetisierenden und homogenisierenden jugoslawischen Nation bzw. einer supranationalen Identität wurde weitgehend aufgegeben. Die Ideologie des Jugoslawismus verschob sich damit zunehmend vom Prinzip der supranationalen »Einheit« zur Vorstellung von nationaler »Brüderlichkeit« und der politischen Stärkung der einzelnen Teilrepubliken. Die Muslime konnten sich im Rahmen der Hinwendung zum sogenannten organischen Jugoslawismus 1961 zum ersten Mal als »Muslime im ethnischen Sinn« deklarieren. Einen verfassungsrechtlichen Status als Nation erlangten sie 1968. Das Zentralkomitee des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (ZK BKJ) gab am 17.05.1968 bekannt: Practice has shown the harm of different forms of pressure and instances from the earlier period when the Muslims were determined to be Serbs or Croats from the national viewpoint. It has been shown and present socialist practice confirms that Muslims are a distinct nation.27
Dies brachten die Muslime in der Volkszählung von 1971 in der Kategorie als »Muslime im nationalen Sinn« (»Musliman u smislu narodnosti«) zum Ausdruck. Der nationale Name, der 1981 in einem weiteren Schritt schließlich ohne weiteren Zusatz als »Muslim« (»Musliman«) im Zensus angeführt wurde, war jedoch ausschließlich für die slawischen Muslime in Bosnien und nicht für die in den anderen Teilrepubliken lebenden muslimischen Gemeinschaften konzipiert.28 Mit Banac kann dabei festgehalten werden, dass der erlangte Nationalitätenstatus nur einen Wandel vom de facto zum de jure Status darstellte, da das Ple26 Tito, zit. nach Ramet, Sabrina P.: Nationalism and Federalism in Yugoslavia. 19621983, Bloomington: Indiana UP, 1984, hier S. 56-57. 27 ZK BKJ, zit. nach Irwin, Zachary T.: »The Islamic Revival and the Muslims of Bosnia-Hercegovina«, in: East European Quarterly 17 (1984), S. 437-455, hier S. 444. 28 Vgl. W. Höpken: »Die jugoslawischen Kommunisten und die bosnischen Muslime«, S. 197.
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biszit, eine Nation sein zu wollen, sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmend unter der muslimischen Bevölkerung in Bosnien verbreitet hatte.29 Viele serbische und kroatische Historiker, Politiker und Intellektuelle vertreten hingegen bis heute die These, dass die Anerkennung der bosnischen Muslime als Nation allein dem hochpolitischen Kalkül der Liga der Kommunisten Jugoslawiens entsprang. Aus diesem Grund schreiben sie der Gemeinschaft den Charakter eines »artifiziellen« und »erdachten Volkes« (ismišljeni narod) zu.30 Religionspolitik und Säkularisierung In Jugoslawien war die Beziehung zwischen dem föderativen Staat und den Religionsgemeinschaften durch die sozialistische Ideologie bestimmt, welche die Trennung von Religion und Staat forcierte. Neben der grundsätzlich atheistischen Ausrichtung des Systems kam mit der kommunistischen Religionspolitik zudem eine latente Angst des neuen Staates vor jeder Form von religiösnationalistischem Separatismus und neuen nationalistischen Spannungen zum Ausdruck.31 Wenngleich in der Verfassung von 1946 formell das Recht auf Religionsfreiheit verankert war, zeichnete sich die Politik der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (ab 1952 Liga der Kommunisten Jugoslawiens) besonders in den ersten Nachkriegsjahren (1945-1953) durch radikale Einschränkung gegenüber allen Religionsgemeinschaften aus. Für die muslimische Gemeinschaft bedeutete dies: die Aufhebung der Scharia-Gerichtshöfe, das Verbot des Tragens des Schleiers, die Schließung zahlreicher Moscheen, religiöser Bildungsinstitutionen, muslimischer Kulturvereine sowie die Verstaatlichung der religiösen Stiftungen.32 Vertreten wurden die jugoslawischen Muslime jedoch nach wie vor durch die bereits 1882 gegründete Islamische Glaubensgemeinschaft (Islamska vjerska zajednica, IVZ). Die durch moderne Administration und einen hohen Grad an Bürokratisierung sowie einen hegemonialen Deutungsanspruch auf den Islam
29 Vgl. Banac, Ivo: The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics, Ithaka/London: Cornell UP, 1984, hier S. 373-374. 30 Vgl. W. Höpken: »Die jugoslawischen Kommunisten und die bosnischen Muslime«, S. 181. 31 Vgl. Ramet, Sabrina P.: Nihil Obstat. Religion, Politics, and Social Change in EastCentral Europe and Russia, Durham: Duke UP, 1998, hier S. 146-147. 32 Vgl. Karčić, Fikret: »Administration of Islamic Affairs in Bosnia and Herzegovina«, in: Islamic Studies 38 (1999), S. 535-561, hier S. 544.
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gekennzeichnete IVZ hatte sich als Vertreter der Muslime in den ersten Nachkriegsjahren nicht einschüchtern lassen und zunächst demonstrativ überzeugte Antikommunisten in ihre Führung gewählt. Unter Ibrahim Fejić (1879-1962), dem 1947 neu gewählten Oberhaupt der Gelehrten (reisu-l-ulema), wurde jedoch deutlich, dass die IVZ nicht mehr auf Konflikt, sondern auf Adaption und den Pragmatismus der Muslime als Minderheit innerhalb neuer Staatssysteme setzte. Das Oberhaupt der Gelehrten verurteilte antikommunistische Tendenzen, sagte dem Staat seine Loyalität zu und vermied es auch, bei der Wahl der neuen Führung Antikommunisten zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu den christlichen Kirchen, die sich als Patrone des serbischen bzw. kroatischen Volkes verstanden, zeichnete sich die muslimische Gemeinschaft bis in die späten 1980er ferner durch die vornehmliche Abwesenheit nationalistischer Tendenzen aus. Die muslimische ulema trat weniger bedeutsam im öffentlichen Leben auf und »[…] in contrast to Serbian and Croatian Christian clergy, Muslim clerics (hodjas, imams) and ulema did not systematically worship medieval native rulers, native saints, shrines, territory, and ethnic myths«33. Wenngleich einige muslimische Pilgerorte, wie bspw. Karići bei Vareš und Dobre vode bei Foča, auch im sozialistischen Jugoslawien weiter besucht werden konnten, wurde die Pilgerfahrt nach Ajvatovica im Jahr 1947 auf Anliegen einiger sozialistischer Funktionäre verboten. Zog die Veranstaltung zuvor bis zu 15.000 Besucher aus verschiedenen Gemeinden und Städten Zentralbosniens an, waren es mit dem schlagartigen Verbot nur noch die Bewohner des heute ca. 2.500 Einwohner und ca. 450 Haushalte zählenden Dorfes Prusac, die den Tag unter nunmehr veränderten Umständen begingen. Aus Angst vor staatlichen Repressionen wurde die Veranstaltung dabei jeder öffentlichen religiösen Symbolik entzogen. Ab den 1950er Jahren kam es zu einer zunehmenden Entspannung zwischen den Religionen und dem Staat, und die Religionsgemeinschaften genossen in der Folgezeit, im Gegensatz zu anderen sozialistischen Staaten wie Bulgarien, Albanien oder die Sowjetunion, ein relativ hohes Maß an Freiheit. Doch auch wenn der titoistische Einparteienstaat in den 1960er Jahren einer weiteren Dezentralisierung unterzogen wurde und es zu signifikanten Liberalisierungen kam, betonten die politischen Autoritäten und der ihnen angeschlossene Bildungsapparat fortwährend die negativen Auswirkungen der Religion auf die interethnischen Beziehungen. Die Politik zielte weiterhin – wenngleich nicht mehr mit offener Gewalt, so doch durch offizielle Propaganda und durch das Bildungssystem – auf die Beseitigung der Religion aus dem öffentlichen Leben. Die Religionen 33 Perica, Vjekoslav: Balkan Idols, Religion and Nationalism in Yugoslav States, Oxford: Oxford UP, 2002, hier S. 74.
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wurden als überkommenes Relikt früherer Zeiten dargestellt, wobei insbesondere die muslimische Kultur als modernisierungswürdig angesehen wurde.34 Die kommunistische Führung unterschied ihrerseits auch klar zwischen dem religiösen Bekenntnis und der nationalen Zugehörigkeit und strebte eine ebenso klare Trennung der religiösen und nationalen Komponente muslimischer Identität an. Diese Unterscheidung sollte orthographisch dadurch hervorgehoben werden, dass die Nationalität als »Muslim im nationalen Sinne« (Musliman u nacionalnom smislu) mit großem »M« und die religiöse Identität als »Muslim im religiösen Sinne« (musliman u vjerskom smislu) mit kleinem »m« geschrieben wurde. Als Kriterium für die nationale Definition wurde alleine die islamische Kultur, nicht aber der Islam als System von religiösen Symbolen und sozialen Praktiken herangezogen. Nicht nur im Ausland, sondern auch unter den nunmehr nationalen Muslimen sorgte die Namensgebung deshalb für Verwirrung und zahlreiche Diskussionen. Auch von der Führung der Islamischen Glaubensgemeinschaft wurde die Unterscheidung zwischen »Musliman« und »musliman« zunächst entschieden zurückgewiesen. Für sie stellte ein Muslim ohne Bekenntnis zum Islam einen Widerspruch in sich dar. Mit der Anerkennung der Muslime als Nation entbrannten die ersten Konflikte um das Deutungsmonopol über die nationale Gemeinschaft:35 »The consequence of the birth of the »religious« nation in Bosnia was a friction between Muslims, who stressed ethnicity and modern secular national identity, and Muslims, who considered religion the key ingredient of the new national identity«36. Mit der Umbenennung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Islamische Gemeinschaft (Islamska zajednica, IZ) im Jahr 1969 zeigte sich schon zu diesem Zeitpunkt, dass sich die IZ zunehmend als Ersatz verweigerter nationaler Institutionen verstand und inszenierte. Diese Auseinandersetzung um das nationale Deutungsmonopol über die Muslime sollte in einer zweiten Phase ab 1990 fortgeführt werden. In Kooperation mit der politisierten IZ stellte dabei die erste in einem Mehrparteiensystem gewählte Partei der bosnischen Muslime die religiöse Komponente des »Muslimentums« (muslimanstvo) ins Zentrum ihrer Identitäts34 Vgl. Ghodsee, Kristen/Ballinger, Pamela: »Socialist Secularism. Gender, Religion and Modernity in Bulgaria and Yugoslavia, 1946-1989«, in: Aspasia. The International Yearbook of Central, Eastern, and Southeastern European Women’s and Gender History 5 (2011), S. 6-27, hier S. 15-16. 35 Vgl. H. Sundhaussen: »Vom Mythos Region zum Staat wider Willen. Metamorphosen in Bosnien-Herzegowina«, S. 217; Velikonja, Mitja: Religious Separation and Political Intolerance in Bosnia-Herzegovina, College Station: Texas A&M University Press, 2003, hier S. 220-221. 36 V. Perica: Balkan Idols, Religion and Nationalism in Yugoslav States, S. 76.
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politik. Führende Mitglieder der Partei der demokratischen Aktion (Stranka demokratske akcije, SDA) um den ersten im neuen System gewählten bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović strebten eine Überführung des Islams aus der (sozialistischen) Sphäre des Privaten in die (postsozialistische) Öffentlichkeit an. Gleichermaßen sollte die nationale Kohäsion durch die religiöse Praxis und eine Wiederbelebung des Islams gestärkt werden.37 (Nach-)Kriegsordnungen: Ethnisierung von Politik, Kultur und Territorium Wie anhand der weiteren Beschreibungen deutlich wird, werden ethnische und religiöse Gruppenzugehörigkeiten häufig auch erst in Zeiten des Konfliktes und ökonomischer Krisen bedeutsam. Allein aufgrund der Möglichkeit der Politisierung kultureller Unterschiede müssen ethnische und nationale Identitäten auch nicht als statischer kultureller Besitz kollektiver Gruppen, sondern vielmehr als kontextabhängige Variablen betrachtet werden. Sie sind nicht objektiv gegeben, sondern müssen erst – im Fall Bosniens auch mit Gewalt und Vertreibung verbunden – »geschaffen« und »reproduziert« werden.38 Die mit der Verfassungsänderung Jugoslawiens von 1974 verbundene Stärkung der Republiken sowie wirtschaftliche Ungleichgewichte und Diskrepanzen zwischen den Republiken ließen politische Führer und Intellektuelle in den 1980er Jahren zunehmend auf nationalistische Propaganda zurückgreifen. Gleichermaßen führten eine inflationäre Wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosenzahlen und sinkende Lebensstandards, aber auch das Ende des »Kalten Krieges« zur Erosion staatlicher Identitäten und den Rückzug auf exklusive nationale und kulturelle Bezugsysteme.39 Der aufbrechende Geist der Nationalismen, eine fehlende demokratische und zivilgesellschaftliche Infrastruktur und das chauvinistische Streben nach größeren und »ethnisch homogenen« Territorien bereiteten dabei den Weg, sich der Religion sowohl als Legitimation nach außen wie auch als af-
37 Vgl. Bougarel, Xavier: »L’islam bosniaque, entre identité culturelle et idéologie politique«, in: Xavier Bougarel/Nathalie Clayer (Hg.), Le nouvel Islam balkanique. Les musulmans, acteurs du post-communisme 1990-2000, Paris: Maisonneuve et Larose, 2001, S. 79-132, hier S. 109-110. 38 Vgl. Brunnbauer, Ulf: »Vom Selbst und den Eigenen. Kollektive Identitäten«, in: Karl Kaser et al. (Hg.), Historische Anthropologie im südöstlichen Europa. Eine Einführung, Wien: Böhlau, 2003, S. 377-402, hier S. 391. 39 Vgl. Calić, Marie-Janine: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996, hier S. 44ff.
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fektiv stark besetztes Reservoir an polyvalenten Symbolen zu bedienen. Die Religionen wurden in diesem Kontext ohne Rücksicht auf die fragile multinationale Gesellschaft als kultureller Marker manipuliert und als Standard für ethnische Exklusion anderer Gruppen mobilisiert. Durch systematische Vertreibungen und die Nationalisierung von Territorium, Sprache und Kultur strebten nur wenige Wochen nach der Unabhängigkeitserklärung Bosniens vom 03.03.1992 sowohl die nationalistische Partei der bosnischen Serben (Srpska demokratska stranka, Serbische Demokratische Partei, SDS) als auch später die nationalistische Partei der bosnischen Kroaten (Hrvatska demokratska zajednica, Kroatische Demokratische Gemeinschaft, HDZ) die Angliederung von Teilen Bosniens an Serbien bzw. Kroatien durch die Schaffung autonomer Regionen an.40 Wie Hayden verdeutlicht, [t]hus extreme nationalism in the former Yugoslavia has not been only a matter of imagining allegedly »primordial communities«, but rather of making existing heterogeneous ones unimaginable. In formal terms, the point has been to implement an essentialist definition of the nation and its state in regions where the intermingled population formed living disproof of its validity: the brutal negation of social reality in order to reconstruct it.41
Izetbegović, als Staatspräsident aller nationaler Gemeinschaften Bosniens sowie als Parteipräsident der SDA auftretend, setzte sich in den ersten Kriegsjahren hingegen zunächst für den Erhalt des multinationalen bosnischen Staates und die Koexistenz der Gemeinschaften ein. Erst im Zuge des weiteren Kriegsverlaufs setzte die SDA – auch als Reaktion auf den serbischen und kroatischen Nationalismus – mehr auf die Souveränität des bosniakischen Volkes. Die Schaffung eines muslimischen Rumpfstaates wurde nach dem Vance-Owen-Plan (1993) zwar kurz in Erwägung gezogen, jedoch von der bosniakischen Führung verworfen.42 Dabei kann mit Moe gefolgert werden, dass die Bosniaken aufgrund des fehlenden Schutzes durch eine multi-ethnisches Imperium »[…] tend to believe that their security depends on being part of at least a multi-ethnic Bosnian state. A
40 Vgl. Burg, Steven L./Shoup, Paul S.: The War in Bosnia-Herzegovina. Ethnic Conflict and International Intervention, Armonk: Sharpe, 1999, S. 70ff. 41 Hayden, Robert M.: »Imagined Communities and Real Victims. Self-Determination and Ethnic Cleansing in Yugoslavia«, in: American Ethnologist 23/4 (1996), S. 783801, hier S. 783-784. 42 Vgl. Bougarel, Xavier: »L’islam bosniaque, entre identité culturelle et idéologie politique«, S. 96-97.
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Muslim mini-state surrounded by hostile neighbours is not thought as a viable alternative«43. Im Gegensatz zur Identitätspolitik der sozialistischen Führung, welche den nationalen Status »Muslim« weitestgehend seiner religiösen Komponente zu entziehen versuchte, strebten die SDA in enger Zusammenarbeit mit der IZ und dem damals amtierenden reisu-l-ulema Mustafa Cerić eine Wiederbelebung und Erneuerung des Islams in der Gesellschaft an. Durch diese sollte gleichermaßen ein exklusiveres Verständnis der relativ heterogenen und erst jungen nationalen »Wir-Gruppe« aufgebaut werden. Wie Bougarel feststellt, »lay militants of this party have been tempted to use Islam to promote a policy of national homogeneity«, während »religious ones expected that an aggravation of tension would favour the re-Islamization of a largely secularized population«44. Die Kriegspropaganda serbischer und kroatischer Nationalisten sowie die systematische Zerstörung muslimischer Kultur sollte die enge ideologische Verbindung von nationaler Identität, Islam, Politik und territorialer Integrität gleichermaßen stärken. Wie die Analyse der Pilgerfahrt aufzeigen wird, trat anstelle einer »ReIslamisierung« der Nation jedoch primär eine Politisierung und Nationalisierung der (trans-)lokalen Symbole und Praktiken des Islams.45 Heute und als Folge des Friedensvertrages von Dayton (1995), mit dem der Krieg in Bosnien sein formelles Ende fand, besteht der zuvor heterogen besiedelte Vielvölkerstaat aus dem Kondominium Brčko sowie zwei weitgehend autonomen Entitäten: der zu 90 % von Serben bewohnten Serbischen Republik (Republika Srpska), die 49% der Gesamtfläche Bosniens ausmacht und der kroatisch-bosniakischen Föderation Bosnien und Herzegowina (Federacija Bosne i Hercegovine) mit 51% des bosnischen Staatsterritoriums. Letztere besteht wiederum aus 10 Kantonen, von denen acht durch die absolute Mehrheit entweder der kroatischen oder der bosniakischen Bevölkerungsgruppe und zwei durch ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Kroaten und Bosniaken gekennzeichnet sind. Politische Führer sowie die Bevölkerungsmehrheit der Republika Srpska befürworten die Aufrechterhaltung der derzeitigen Verfassung, mit weitreichender legislativer, exekutiver und judikativer Autonomie der Teilrepubliken und 43 Moe, Christian: »›Is Multi-Cultural Man circumcised?‹ Bosnian Muslim and European Identity Discourses«, in: Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft, 2007, S. 261-281, hier S. 276. 44 Bougarel, Xavier: »Ramadan during a Civil War (as reflected in a series of sermons)«, in: Islam and Christian-Muslim Relations VI/1 (1995), S. 79-103, hier S. 99. 45 Vgl. Bougarel, Xavier: »L’islam bosniaque, entre identité culturelle et idéologie politique«, S. 109ff.
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schwachen gesamtstaatlichen Strukturen. Die Integrität des Gesamtstaates und seiner Institutionen wird gegenwärtig zudem durch zunehmende Sezessionsrhetorik von politischen Repräsentanten wie Milorad Dodik, dem Präsidenten der Republika Srpska, in Frage gestellt. Die fehlende Akzeptanz des noch jungen Staates erhält ihren symbolischen Ausdruck nicht zuletzt an alljährlichen großen Festakten zum »Tag der Republik« (9. Januar), während der Unabhängigkeitstag Bosniens (1. März) sowie der »Tag der Staatlichkeit« (25. November) in der serbischen Teilrepublik nicht gefeiert werden.46 Nationalistische kroatische Parteien fordern – verbunden mit Vorwürfen der Benachteiligung durch eine »bosniakische Majorisierung« in der Föderation – ihrerseits verstärkt die Auflösung der Föderation und die Gründung einer dritten Entität. Diesen separatistischen Tendenzen stehen die Interessen der bosniakischen Repräsentanten und Bevölkerung gegenüber. In deren Forderungen nach der Revision des verfassungsgebenden Friedensvertrags von Dayton wird das Interesse an der Stärkung des bosnischen Gesamtstaates sichtbar. Die politischen Ziele reichen dabei von einer stärkeren Zentralisierung der Politik bis zur Abschaffung der Republika Srpska. Folgt man der Argumentation führender bosniakische Politiker wie Haris Silajdžić, dem bosniakischen Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium in den Jahren 2006 bis 2010, habe die serbische Entität kein rechtliches Fundament, da sie eine auf Genozid und Vertreibung aufgebaute Schöpfung sei.47 Somit ist die politische Landschaft zu einem sehr hohen Grad durch das Wirken ethno-nationaler Paradigmen gekennzeichnet. Auf institutioneller Ebene wird Ethnizität durch »ethnische Schlüssel« in der Vergabe von Ämtern und in den staatlichen Wahlverfahren, aber auch durch getrennte Curricula in den Schulen gesellschaftlich festgeschrieben. Gleichermaßen spiegelt sich die Machtverteilung nach ethnischem Proporz in der Etablierung monoethnischer Öffentlichkeiten sowie exklusiven Identitätsdiskursen und sozio-kulturellen Praktiken wider. Wie Sarajlić aufzeigt, […] the state of Bosnia and Herzegovina as it was conceived upon the Dayton Constitution remains weak and ineffective. The real power does not rest in institutions of the state but in institutions of ethnicity: ethnic parties and their elites, (ethno)religious communities
46 Vgl. Jahn, Egbert: Politische Streitfragen, Bd. 3: Internationale Politik, Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften, 2012, hier S. 85ff. 47 Vgl. ebd.
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and other ethnic agentsʼ associates, such as influential businessmen, media magnates and ethnic intelligentsia.48
Wenngleich die Islamische Gemeinschaft wie auch die christlichen Gemeinschaften des Landes die prinzipielle Trennung von Staat und Religion unterstützt, testet sie fortwährend die Grenzen des Säkularen aus. Bei Fragen, die sich auf »nationale Interessen« und die Kriegsschuld und -aufarbeitung oder bspw. die Rolle des Islams im staatlichen Schulunterricht beziehen, melden sich Vertreter der Gemeinschaft zu Wort. Wie das Beispiel der Pilgerfahrt nach Ajvatovica aufzeigen wird, nimmt der Rekurs auf religiöse Idiome in der Konstruktion des »Eigenen« und in der (räumlichen) Grenzziehung zum ethnisch »Anderen« eine zentrale Rolle ein. In diesem Sinne kann das durch die IZ formulierte Skript von Ajvatovica als Inszenierung und Verkörperung imaginierter nationaler »Verwurzelungen« mit der Landschaft und dem Territorium sowie als Ausdruck sich wandelnder (trans-)lokaler Geschichtsschreibungen interpretiert werden. Aufgrund wechselnder Kurse und zweckrationaler Bündnisse der inzwischen vielfältigen bosniakischen Parteien inszeniert sich die IZ dabei zunehmend als überparteilicher und einziger Interessenvertreter aller Bosniaken. Das uneingeschränkte Bündnis mit der SDA brach bereits einige Jahre nach dem Krieg auf. In den Jahren 2000-2002 fand sich die Partei erstmals in der Opposition wieder und versuchte sich in der Folgezeit auch verstärkt der säkularen Bevölkerung zu öffnen und ihr nationalistisches und stark religiöses Image zu verlieren.
3. AJVATOVICA: P ILGERN ZU DEN Q UELLEN
DER
N ATION
Lokale muslimische Pilgerorte werden in Bosnien dovišta genannt. Der Term leitet sich vom Begriff dova (Bittgebet) ab und kann am treffendsten mit »Gebetsort« übersetzt werden. Ein kollektives Bittgebet unter freiem Himmel sowie ein rituelles Mittagsgebet (podne namaz) bilden neben einer Prozession von Reitern und Fahnenträgern sowie dem Besuch des Schreins des evlijas Ajvaz-dedo so
48 Sarajlić, Eldar: »The Convenient Consociation«, in: Francis Cheneval/Sylvie Ramel (Hg.), From Peace to Shared Political Identities. Exploring Pathways in Contemporary Bosnia-Herzegovina, Brüssel: Université libre de Bruxelles, 2011, S. 61-80, hier S. 66.
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auch zwei der zentralen muslimischen Performanzen der dovišta von Ajvatovica.49 Räumlich befinden sich Ajvatovica und weitere Gebetsorte mehrheitlich in der freien Natur und als »center out there«50 häufig abseits der Zivilisation. Sie liegen in vielen weiteren Fällen wie bspw. in Karići bei Vareš in der Nähe von alten muslimischen Gräbern oder Schreinen von muslimischen Heiligen und Märtyrern (sg. šehid) aus der Zeit der osmanischen Eroberung Bosniens. Im direkten Umkreis befinden sich zudem häufig mittelalterliche Grabsteine (sg. stećak), die der sogenannten mittelalterlichen Bosnischen Kirche bzw. der mit ihr assoziierten häretischen christlichen Bewegung der Bogumilen zugerechnet werden. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, dienen diese Grabsteine als direkt mit dem Boden verbundene materielle Zeugnisse der Vergangenheit Bosniens, heute der Entdeckung und Konstruktion von nationalen Ursprüngen, Genealogien und territorialen Zugehörigkeiten bzw. Ansprüchen. Zudem befinden sich die Pilgerorte als »intersections of the human and divine, the religious, and the secular, and of conflicting and contradicting claims«51 häufig in der Nähe von Quellen oder von Höhlen, auf Berggipfeln sowie unweit von Flüssen.52 Bis zur sozialistischen Machtübernahme im Jahr 1945 existierten zwischen 50 und 60 dieser kollektiven Gebetsorte in Bosnien, während deren heutige Anzahl auf 35 beziffert wird.53 An einigen muslimischen Pilgerorten wie jenem in Ajvatovica findet die Teilnahme heute unabhängig vom Geschlecht statt, während andere auf Basis von Geschlechtszugehörigkeiten reglementiert sind. Seit einigen Jahren sind größere Veranstaltungen wie Ajvatovica zudem verstärkt durch die Anwesenheit der westeuropäischen und transatlantischen bosniakischen Diaspora sowie von 49 Erstmals detaillierter beschrieben wurde die Pilgerfahrt von Grdjić-Bjelokosić, Luka: »Hajvatovača ili širomasna Ćaba«, in: Karadžić 3 (1901), S. 38-40. Ajvatovica wurde dem Autor von den Teilnehmern u.a. als »Kaaba der Armen« (širomasna ćaba) und »kleine Kaaba« (mala ćaba) vorgestellt. 50 Turner, Victor W.: »The Center Out There: Pilgrim’s Goal«, in: History of Religions 12 (1973), S. 191-230, hier S. 211ff. 51 Schielke, Samuli/Stauth, Georg: »Introduction«, in: Samuli Schielke/Georg Stauth (Hg.), Dimensions of Locality: Muslim Saints and Their Places. Yearbook of the Sociology of Islam, Bd. 8, Bielefeld: transcript, 2008, S. 7-21, hier S. 7. 52 Vgl. Bringa, Tone: Being Muslim the Bosnian Way. Identity and Community in a Central Bosnian Village, Princeton: Princeton UP, 1995, hier S. 172; Hadžijahić, Muhamed: »Još jedno bogumilsko-islamsko kultno mjesto«, in: Glasnik vrhovnog islamskog starješinstva u SFRJ XLIV/3 (1981), S. 257-274, hier S. 261. 53 Vgl. Muftić, Azmir: Bosanski jandžik, Vareš, 2004, hier S. 221.
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Teilnehmern aus den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken gekennzeichnet. Der transnationale Aspekt des Pilgerns wird auch durch die steigend sichtbare Präsenz von Touristen, Geschäftsleuten, Medienvertretern und Politikern aus der Türkei sichtbar. Größere dovištas stehen gegenüber eher lokal ausgerichteten kleineren Pilgerorten zudem unter stärkerem Einfluss der Islamska zajednica sowie der Politik. Die inhaltliche Konzeption und Organisation der Veranstaltung liegen im Falle von Ajvatovica seit der Wiedereröffnung im Jahr 1990 in den Händen eines Organisationskomitees aus politischen und religiösen Würdenträgern sowie lokalen Unternehmern. Der Autor dieses Artikels begleitete und untersuchte die Pilgerfahrt in den Jahren 2010 und 2011. In diesen Jahren zogen der malerische Ort Prusac und der Gebetsplatz in Ajvatovica zwischen 40.000 und 50.000 Besucher an. Ursprungsmythen und Inszenierungen der Nation Auf die Frage nach den Ursprüngen der Pilgerfahrt verwiesen die meisten der vor Ort befragten Teilnehmer zuerst auf ein Wunder. Hiernach litt die Ortschaft Prusac zur Zeit der ersten osmanischen Eroberungen Bosniens im Jahr 1463 unter starker Dürre und Wassermangel. Der Zugang zur einzigen Wasserquelle war durch einen großen Felsen versperrt. Erst durch die Ankunft von Ajvaz-dedo sollte sich das Schicksal der lokalen Bevölkerung wenden. Einige interviewte Personen sahen in ihm einen Sufischeich bzw. Derwisch, während er zumeist allgemeiner als evlija oder »Guter« (dobri), wie muslimische Heilige in Bosnien häufig genannt werden, bezeichnet wurde. Ebenso wurde er als großer Gelehrter (alim) des Islams angesehen und erinnert. Folgt man der Überlieferung, verrichtete der evlija nach seiner Ankunft in dem Dorf jeden Morgen auf der Spitze des sieben Kilometer vom Dorf entfernten Felsen sein Morgengebet (sabah namaz) und sprach ein Bittgebet, dass Allah den Felsen spalten möge. Am vierzigsten Tag wurden seine Gebete erhört und das Wasser konnte durch den gespaltenen Felsen zur Bevölkerung vordringen. Aus Dankbarkeit an Ajvaz-dedo wurde die Quelle sowie das umliegende Gebiet Ajvatovica genannt und in Erinnerung an ihn sowie Allahs Barmherzigkeit (rahmet) im gleichen Jahr die Pilgerfahrt etabliert. Wenngleich in Gesprächen mit den Organisatoren immer wieder auf die Kontinuitäten der Zeremonien von Ajvatovica verwiesen wurde, zeichnet sich die Veranstaltung bei genauerer Betrachtung durch zahlreiche Brüche und semantische wie inhaltliche Veränderungen aus. Politische Würdenträger der SDA nahmen so etwa in den 1990er Jahren direkten Einfluss auf die Durchführung und Interpretation von religiösen und kulturellen Praktiken am Pilgerort. In die-
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sem Sinne kann van der Veer gefolgt werden, dass »[n]ationalism also grafts its notion of territory onto religious notions of sacred space. It develops a ritual repertoire, based on earlier rituals of pilgrimage, to sanctify the continuity of territory«54. Religiöse Vertreter beteilig(t)en sich ihrerseits hingegen direkt an der Ausgestaltung der »nationalen Frage«. Wenngleich die Islamska zajednica heute nicht mehr geschlossen parteipolitisch agiert und der »religiöse Flügel« der SDA nur noch wenig Einfluss auf die Parteipolitik ausübt, stellt Ajvatovica bis heute eine Bühne für Vertreter aus Politik und Religion bereit. Dauerten die Inszenierungen der Pilgerfahrt vor dem Verbot im Jahr 1947 auch nur zwei Tage an, wurden die nunmehr als »Tage von Ajvatovica« (Dani Ajvatovice) bezeichneten Feierlichkeiten in diesem Kontext auf mittlerweile drei Wochen ausgedehnt. In den aufwendig gestalteten Programmheften der »Tage von Ajvatovica« wurden in den untersuchten Jahren letztendlich jeweils 80 verschiedene kulturelle, wissenschaftliche, sportliche und religiöse Veranstaltungen aufgeführt, die die Feierlichkeiten nicht nur inhaltlich, sondern auch räumlich erweitert und transformiert haben. Neben Prusac bildeten in den Jahren 2010 und 2011 insbesondere die Nachbargemeinden Donji Vakuf, Bugojno und Gornji Vakuf, aber auch entferntere Städte wie Jajce, Zenica und Travnik Austragungsorte für vielfältige Programme. Inhaltlich reichten diese von folkloristischen Performanzen lokaler Kunst- und Kulturvereine, islamischen Modeschauen, klassischen Konzerten und Aufführungen religiöser Chöre über Moscheeeröffnungen, Kunstausstellungen, Buchvorstellungen, Theaterstücke und Koranlesungen bis zu Schach, Karate- und Basketballturnieren. Neben Momenten der Unterhaltung, des Wettbewerbs und Entspannung wiesen die Veranstaltungen einen dezidiert pädagogischen Aspekt auf. Auf der einen Seite sollten sie der Förderung von gesunden, gebildeten, moralisch geleiteten und religiös informierten Individuen dienen, die ihr Streben für das islamische Konzept des Gemeinwohls (maslaha) einsetzen. Im Kontext des eng mit der religiösen Zugehörigkeit verbundenen Nationsbildungsprozess wurden diese Praktiken und mit ihnen verbundene Tugenden und moralische Dispositionen auf der anderen Seite gleichzeitig in eine nationale Rhetorik übersetzt und in Bezug zur Vergangenheit und Gegenwart der Schicksalsgemeinschaft gesetzt. Auf diskursiver Ebene sollte der moderne Staatsbürger mit den primordial konzipierten kulturellen, religiösen und politischen Bausteinen des nationalen Selbst in Kontakt kommen. Ein die »Tage von Ajvatovica« durchziehendes Leitmotiv bildete hiernach die Notwendigkeit der textbezogenen Erforschung des Islams, seiner obligatorischen globalen Praktiken und lokalen Institutionen und die gleichzeiti54 Veer, Peter van der: Religious Nationalism. Hindus and Muslims in India, Delhi u.a.: Oxford UP, 1996, hier S. 201-202.
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ge (Wieder-)Entdeckung der bosniakischen Kultur, Geschichte und Politik. Das Gefühl der Notwendigkeit einer Differenzherstellung gegenüber dem ethnoreligiös »Anderen« in Nachkriegsbosnien durch die Rückkehr zu einer nunmehr objektivierten und politisierten »Tradition«, Kultur und Religion verdeutlichte auch das religiöse Oberhaupt der bosnischen Muslime und Schirmherr Ajvatovicas Mustafa Cerić in einer Ansprache vor Ort: Wir haben uns hier in Ajvatovica versammelt, um unserer autochthonen Gemeinschaft zu erinnern, ihres Schicksals und ihrer Probleme. Dies ist eine Gemeinschaft moralischer Traditionen, die immer Stärke und Vitalität in Zeiten der Krise und des Stresses gezeigt hat. [….] Jede Nation will ihre authentische Zeit in der Geschichte haben, einschließlich der Bosniaken. Deshalb ist es notwendig, dass die Bosniaken sich ihrer Existenz als Nation bewusst sind und dass sie das Selbstvertrauen wiedererlangen, das für eine gesunde und erfolgreiche Existenz notwendig ist. Wir müssen lernen, stolz auf unsere Vorfahren (pretke) und unsere Geschichte zu sein. Wir müssen uns als Nation dazu verpflichten, unseren Gemeinschaftssinn zu stärken. Es ist nicht ausreichend, erfolgreiche Individuen in der kulturellen und zivilisatorischen Entwicklung der Menschheit zu sein. Wir müssen die Aufgaben annehmen, die nur die Nation als Ganzes erreichen kann. Nur auf diese Weise können Bosniaken ihre moralische, soziale, kulturelle und zivilisatorische Weiterentwicklung sicherstellen.
Wie im Folgenden deutlich wird, spiegelt sich der politische Fokus der Veranstaltung, mit Verweisen auf ethno-nationale und ethno-territoriale Bezugssysteme, ebenso in der Konstruktion von (nationalen) Genealogien des Pilgerorts sowie in der Bestimmung der Hagiografien des evlijas wider. Wie auch Stauth und Schielke aufzeigen, [i]n fact, claims to continuity, competing theories of the origin of a saint and varying and often contradicting modes of authentication – that is, of ways to imagine and argue for historical, territorial and normative foundations of a religion, a nation, a culture, or any other such imagined community – significantly contribute to the kind of importance and dimensions that are assigned to a location.55
Sowohl der Umgang mit der Historizität des Pilgerortes als auch der Herkunft des evlijas verdeutlichen im Falle von Ajvatovica die Suche nach den historischen Wurzeln der Gemeinschaft. Gleichermaßen streben sie die Schaffung historischer Kontinuitäten der nationalen »Wir-Gruppe« und deren direkte Verbindung mit dem Territorium und bosnischen Staat an. Dabei existieren über Ajvaz55 S. Schielke/G. Stauth: »Introduction«, S. 8.
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dedo zwei Hagiografien. Folgt man der ersten Version, war Ajvaz-dedo ein in Anatolien geborener Sufi Sheikh. Dieser erreichte 1463 zusammen mit der Armee Sultan Mehmed Fatihs II. und vierzig weiteren Sheikhs Bosnien, um den Islam und die osmanische Kultur unter den Anhängern der bereits kurz erwähnten mittelalterlichen Bosnischen Kirche bzw. den sogenannten Bogumilen zu verbreiten. Ajvaz-dedos Mission war es hiernach, die Menschen und den Raum der Region Uskoplje, mit Prusac als kulturellem und politischem Zentrum, zu islamisieren. In der zweiten und lokal bekannteren Hagiografie wird Ajvaz-dedo hingegen selbst als ein Bogumilenführer (djed) dargestellt, der nach seiner Konversion zum Islam als erfolgreicher Missionar unter der Bevölkerung wirkte.56 Der bosniakischen Interpretation der Bogumilentheorie folgend, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Publizisten und Politiker Safet-Beg Bašagić (1870-1934) entwickelt wurde, werden die Bosniaken als direkte Nachfahren der Bogumilen dargestellt. Die Anhänger der Bewegung seien nach der Ankunft der Osmanen en masse und in kurzer Zeit zum Islam übergetreten.57 Βosniakische Nationalideologen wie Atif Purivatra und Adil Zulfikarpašić, die in der Periode der politischen Aufwertung der Muslime als Nation bereits auf die Bogumilentheorie zurückgriffen, nennen so auch Ähnlichkeiten zwischen dieser Religionsgemeinschaft und dem Islam, wie bspw. fünf tägliche Gebete oder das Bilderverbot, als Motiv für den Übertritt zum Islam.58 Über die Begriffe des Synkretismus, des kulturellen Erbes und des (nationale und kulturelle Identitäten 56 Vgl. Dimitrejević, Dejan: »Ajvatovica. Analyse de la tentative de construction d’un mythe fondateur de l’identité bochniaque«, in: Annales de la Fondation Fyssen 13 (1998), S. 31-48, hier S. 40. 57 Die erste Gleichsetzung der Bosnischen Kirche mit den Bogumilen nahm der kroatische Historiker Rački 1869 vor. Für eine ausführliche Erörterung der »Bosnischen Kirche« siehe Fine, John V. A.: The Bosnian Church. A New Interpretation, Boulder: East European Quarterly, 1975, der diese als schismatische katholische Bewegung beschreibt. Bosniakische Nationalideologen wie Atif Purivatra und Adil Zulfikarpašić griffen in der Periode der politischen Aufwertung der Muslime als Nation vermehrt auf die Bogumilentheorie zurück und nennen Ähnlichkeiten zwischen dieser Religionsgemeinschaft und dem Islam, wie bspw. fünf tägliche Gebete oder das Bilderverbot, als Motiv für den Übertritt zum Islam (vgl. Dick, Christiane: Die BošnjaštvoKonzeption von Adil Zulfikarpašić. Auseinandersetzung über den nationalen Namen der bosnischen Muslime nach 1945, Abschlussarbeit zur Erlangung des Magister Artium, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin, Berlin, 2003, S. 30). 58 Vgl. C. Dick: Die Bošnjaštvo-Konzeption von Adil Zulfikarpašić. Auseinandersetzung über den nationalen Namen der bosnischen Muslime nach 1945, S. 30.
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naturalisierenden) Terminus der Wurzeln (korijeni) werden letztendlich Kontinuitäten und örtliche Essenzen geschaffen, die mehr über ihre Hervorbringer und ihre Zeit, denn über den Ort und seine Geschichte a priori aussagen. Für einige bosnische Historiker wird die Präsenz der bereits genannten mittelalterlichen Grabsteine und alter Kultstätten (sg. hiža) in der Nähe von lokalen muslimischen Pilgerorten so auch als Indiz dafür herangezogen, dass diese als Sinnbild eines »slawisch-bogumilisch-islamischen Synkretismus«59 bereits vor der Ankunft des Islams als Gebetsplätze der Bogumilen gedient hätten. Geteilt werden diese Narrative auch von der Mehrheit der Organisatoren von Ajvatovica. Die Islamska zajednica hebt in ihren Schriften und Reden so auch hervor, dass diese früheren bogumilischen Gebetsorte und die mit ihnen verbundenen Praktiken nach der Ankunft des Islams in dessen Symbol- und Ritualsystem eingefügt wurden. Ihrer theologischen Argumentation folgend, wären die heutigen Praktiken von Ajvatovica dabei mit der Scharia vereinbar bzw. würden sich »in den Grenzen« dieser bewegen. Als Ausdruck einer »invented tradition«60 dienen der Abstammungsmythos und die damit verbundene Betonung der Kontinuität des Pilgerortes sowie der Gehalt der Hagiografien für die Konstrukteure der bosniakischen Nation letztendlich als Mittel, um die historische Eigenständigkeit und Kontinuität der nationalen Gemeinschaft zu betonen. Serbische und kroatische Ansprüche auf die Bosniaken als »islamisierte Serben« bzw. »islamisierte Kroaten« und vermeintliche Renegaten der serbisch-orthodoxen bzw. katholischen Kirche sowie Ansprüche auf bosnisches Territorium sollen durch die Konstruktion einer (nationalen) Entwicklungslinie von den Bogumilen bis zur bosniakischen Nation entkräftet werden.61 Denn folgt man der primordialistischen Konstruktion der Nation, haben Konfession, Kultur und Nation in Bosnien bereits im Mittelalter eine Einheit gebildet. In diesem Sinne geben Ajvaz-dedo und die Pilgerfahrt heute auch eine Antwort auf die territoriale Frage »Wem gehört Bosnien?« Als multinationaler Staat bildet Bosnien hiernach auch die rechtmäßige Heimat der in politischen Diskursen häufig als autochthon (autohton) und mit dem Boden Bosniens (zemlja Bosne) verbunden bezeichneten muslimischen Bevölkerung.
59 Hadžijahić, Muhamed: Islam i Muslimani u Bosni i Hercegovini, Sarajevo: Starješinstvo Islamske zajednice u SR Bosni i Hercegovini, 1991, S. 81. 60 Hobsbawm, Eric J.: »Introduction. Inventing Traditions«, in: Eric J. Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge: Cambridge UP, 1983, S. 15-42, hier S. 15. 61 Vgl. D. Dimitrejević: »Ajvatovica. Analyse de la tentative de construction d’un mythe fondateur de l’identité bochniaque«, S. 40-41.
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Performanzen von Heimat und Staatlichkeit Die sichtbarste Form der symbolischen (Wieder-)Aneignung von Räumen der Zugehörigkeit sowie der Inszenierung bosnischer Staatlichkeit bildet eine alljährliche aus ca. 500 Reitern und Flaggenträgern bestehende Prozession zum Pilgerort. In den untersuchten Jahren wurde die Prozession von einem Träger der Staatsflagge Bosniens angeführt. Auf diesen folgte ein Flaggenträger der Islamska zajednica mit einer einen weißen Halbmond mit Stern auf grünen Hintergrund darstellenden Flagge. Die sich aus verschiedenen lokalen Gemeinschaften zusammensetzende Prozession durchschritt mehrere Kleinstädte und Dörfer des gleichermaßen jungen wie ethno-politisch fragmentierten Staatsgebildes. Die Herkunftsorte der verschiedenen Gruppen verriet ein Standartenträger. Neben diesem ritt oder lief zumeist ein Flaggenträger, welcher entweder die staatliche oder muslimische Flagge trug sowie der imam der jeweiligen Moscheegemeinden (sg. džemat). Einige Teilnehmer sangen religiöse Texte (sg. ilahija), die jeweils mit einem lauten und kollektiven Amen (amin) beendet wurden. Gelegentlich durchbrach ein lautes durch die Täler getragenes tekbir (Ausruf »Allahu Ekbar«, »Gott ist der Größte«) die Stille der von Bergen und Wäldern geprägten Landschaft. Die im Vorfeld festgelegte Abfolge der Teilnehmer spiegelte dabei ausgehend von Prusac, über Nachbarorte bis zu entfernteren Städten wie bspw. Sarajevo, Mostar oder dem in der heutigen Republika Srpska liegenden Banja Luka, die räumliche Verbreitung der nationalen Gemeinschaft wider. Gleichermaßen machte sie durch die Präsenz von Flaggenträgern aus dem Ausland transnationale Räume und Verbindungen zwischen Bosnien und den neu geschaffenen Heimaten der bosniakischen Diaspora sichtbar. Von einigen Teilnehmern wurde Ajvatovica entsprechend als »größter Versammlungsort der Bosniaken« (najveće zborište Bošnjaka) bezeichnet. Folgt man Turner in Bezug auf die enge Verwendung von staatlichen wie auch islamischen Flaggen und Symbolen im rituellen Setting der Pilgerfahrt, so müssen auch deren durch Mehrdeutigkeit gekennzeichneten Referenten hervorgehoben werden.62 In einer Region, in der nationale und territoriale Zugehörigkeiten nach wie vor zu einem hohen Grad umkämpft und umstritten sind, folgt die kulturelle Produktion von Symbolen hiernach auch keiner gruppenübergreifenden Konventionalität. Als normatives Symbol des Existenzrechts des unabhängigen föderativen Staates Bosnien rufen ihr Anblick und ihre Verwendung vielmehr unterschiedliche Emotionen und Reaktionen hervor. Die neue bosni62 Vgl. Turner, Victor W.: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual, Itahka/London: Cornell UP, 1967, hier S. 27ff.
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sche Staatsflagge wird in diesem Sinne von vielen bosnischen Kroaten und Serben auch nicht als identifikatorisches Zeichen anerkannt. Von der bosniakischen Bevölkerung wird die bosnische Staatsflagge hingegen primär als zu schützendes Symbol der territorialen Einheit und Souveränität wahrgenommen. Auch einige im Kontext der Veranstaltung vorgetragene ilahijas spiegelten die Schaffung moralisch besetzter nationaler Räume der Zugehörigkeit unter Bezugnahme zentraler universaler Symbole des Islams wider. Im vor Ort gespielten und instrumental begleiteten Stück »Da je Bosna od dženneta dio« (Wenn Bosnien ein Teil des Himmels wäre) wurde eine direkte Verbindung von nationaler Gemeinschaft, dem Islam und dem bosnischen Territorium hergestellt. In der von einem weiblichen Medressa-Chor vorgetragenen ilahija nehmen neben Ajvatovica alle größeren Städte des Landes einen festen Platz ein: Da je Bosna od dženneta dio
Wäre Bosnien ein Teil des Himmels
Mostar grad bi džennet bašča bio
So wäre Mostar der himmlische Garten
Sarajevo džennetska kapija
Sarajevo des Himmels Tor
Banja Luka džennetska avlija.
Banja Luka des Himmels Innenhof.
Refrain
Refrain
Moj Allahu, hvala Tebi sada
Mein Gott, gedankt sei Dir jetzt
cijela Bosna, cijela Bosna
ganz Bosnien, ganz Bosnien
na sedždu Ti pada.
fällt vor Dir nieder im Gebet.
Kevser vrelo na Buni bi bilo
Die Buna-Quelle wäre die Quelle des Paradieses
u Bihaću podne bi učilo
in Bihać würde zum Mittagsgebet gerufen
u Travniku sabah se klanjao
in Travnik das Morgengebet gebetet
Ajvaz vodom abdest uzimao.
mit Ajvaz Wasser die rituelle Waschung vorgenommen.
Die hier dargestellte enge Verbindung von Islam, Nation und dem Territorium Bosniens kann letztendlich als Ausdruck der bosniakischen Nationalideologie gesehen werden. Dass die Reden und Performanzen von Ajvatovica heute auch politische Symbole für das Recht auf Heim, Heimat und Staat darstellen, verdeutlicht ein weiteres Zitat aus einer Rede des reisu-l-ulema im Jahr 2010. Verweise auf die gesellschaftlichen und politischen Nachkriegsrealitäten treffen hier erneut auf global geteilte Konzepte und Metaphern des Islams: Das Schicksal der Bosniaken ist, dass sie eine im historischen Kreis definierte Nation sind, der jedoch die Unterstützung eines Staates fehlt, der sie zusammen hält. […] Nur ein Gemeinschaftsunternehmen, das sich im Herzen und der Seele eines jeden Bosniaken auf der
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ganzen Welt befindet, kann unseren nationalen Stolz wiederherstellen und auf eine bessere Zukunft hoffen lassen. Und dieses Gemeinschaftsunternehmen heißt mütterliches Heim (matična dom), Mutterland (matična domovina) und Mutterstaat (matična država). […] [W]ie der Prophet Gottes sagte: »Der kraftvolle und starke Gläubige ist Gott lieber und besser als der schwache und kraftlose.« Deshalb haben wir als Gemeinschaft nicht das Recht, schwach und hilflos zu sein. Wir müssen – es ist religiöse Pflicht (farz) für uns – stark und kraftvoll sein; in der Religion, in der Moral, bei der Arbeit und im Wissen, in der Einheit und der Harmonie, im privaten wie im öffentlichen Leben.
(Nationale) Erinnerungslandschaften Wie die Konversionsnarrativen bereits aufgezeigt haben, nimmt in der konfliktbeladenen Frage nach territorialen Rechten, nationalen Zugehörigkeiten und der Konstruktion von historischen Narrativen insbesondere die Epoche osmanischer Herrschaft (1463-1878) einen bedeutsamen Platz im »kulturellen Gedächtnis«63 der verschiedenen nationalen Gemeinschaften Bosniens ein. Folgt man Connerton besteht ein besonderes Merkmal von Erinnerungszeremonien darin, historische Ereignisse in Form von »verbal and gestural re-enactment«64 gegenwärtig zu machen. Dabei war es im Rahmen von Ajvatovica das Ensemble einer osmanischen Militärmusikkapelle (mehter) aus Istanbul, welche temporär die Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart aufheben sollte. Die rote osmanische Militärkleidung tragende Gruppe aus der Türkei sollte den gesamten Einmarsch der Prozession nach Prusac musikalisch einrahmen. Begleitet von Trompeten und Trommelrhythmen und schwenkenden türkischen Nationalflaggen sangen diese mit kräftigen Stimmen Texte über die Ehre der Soldaten, siegreiche Schlachten der osmanischen Armee und die Unterstützung Allahs. Bis zu ihrer mit der Auflösung der Janitscharen einhergehenden Abschaffung im Jahr 1826 dienten die Militärkapellen insbesondere der Motivation der eigenen und der Einschüchterung gegnerischer Truppen. Als Signalgeber dienten ih-
63 Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988, S. 9-19, passim. 64 Connerton, Paul: How Societies remember, Cambridge: Cambridge UP, 1989, hier S. 48.
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re Trompeten und großen Doppelpauken zudem der Organisation des Heeres.65 542 Jahre nach dem Einmarsch der osmanischen Truppen in Bosnien war im Jahr 2010 an die Stelle des Kampfanzuges dabei das Kostüm getreten. Erweiterte die Militärmusikkapelle mit den Armeen von Sultan Mehmed Fatih II. noch die Grenzen eines transnationalen Reiches, durchschritten sie nunmehr den noch jungen multinationalen Staat. Wie die Hagiografie des evlijas soll die farbenfrohe Parade an die Islamisierung Bosniens erinnern und der heutigen modernen, nationalen Geschichtsschreibung folgend ein zentrales Moment der nationalen Wir-Gruppen-Bildung darstellen. Wurde das Osmanische Reich in der offiziellen jugoslawischen Geschichtsschreibung primär als »türkisches Joch« (turski jaram) und das osmanische Bosnien als »dunkle Provinz« (tamni vilajet) dargestellt66, findet im Rahmen der »Tage von Ajvatovica« und der Performanzen von Prusac und Ajvatovica letztendlich eine positive Neuaneignung dieser Periode der bosnischen Geschichte statt. Als Inszenierung des »kulturellen Gedächtnisses« vermochten die Performanzen jedoch nicht dermaßen starke und sichtbare Emotionen hervorzurufen wie jene, die einen direkten Bezug zu den Kriegsereignissen der 1990er Jahre aufwiesen. In der Etablierung Ajvatovicas als Erinnerungsort nahmen neben Fotoausstellungen über das sogenannte Kriegsajvatovica, der musikalischen Aufführung von Texten aus der Kriegs- und Nachkriegszeit sowie einem neu eingeweihten Museum insbesondere kollektive Gebete und Koran-Rezitationen für die im Krieg gestorbenen Soldaten und Zivilisten einen bedeutsamen Platz ein. Die Kernfamilie sowie das individuell erfahrene Leid durch Tod und Vertreibung wurden in Ansprachen dabei ebenfalls häufig in direkte Verbindung zur nationalen »Schicksalsgemeinschaft« gestellt.
65 Vgl. Jäger, Ralf Martin: »Janitscharenmusik«, in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Kassel: Bärenreiter, 21996, Sachteil 4, Sp. 1316-1329, hier Sp. 1316-1317. 66 Bougarel, Xavier: »L’héritage ottoman dans les recompositions de l’identité musulmane«, in: Paul Dumont/Sylvie Gangloff (Hg.), La perception de l’héritage ottoman dans les Balkans, Paris: Harmattan, 2005, S. 63-94, hier S. 63-64.
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F AZIT Die Performanzen von Ajvatovica können letztendlich als die Aushandlung eines »sozialen Dramas«67 gesehen werden. Sie streben eine Bestätigung, Regenerierung und Wiederherstellung der Gemeinschaft und die Reintegration des Einzelnen in diese an. In einer durch vielfältige ethnonationale, politische und ökonomische Schismen und Konflikte gekennzeichneten Nachkriegsgesellschaft sollen sie der Schaffung moralischer, sozialer und räumlicher Ordnung und Einheit dienen. Als Metakommentar über die eigene Gesellschaft zeigen sie gleichermaßen den Ist-Zustand sowie das Ideal der Gemeinschaft auf. Gleichermaßen wird durch die IZ – mit Verweis auf den im historischen Teil dargestellten (umstrittenen) Nationsbildungsprozess und den jüngsten gewaltvollen Kriegserfahrungen – der historische Anspruch der Bosniaken auf ein Existenzrecht in Bosnien im Rahmen einer »Brüderlichkeit im Glauben und Heimatland« (bratstvo u vjeri i domovini) formuliert. Im weitesten Sinne bilden die Praktiken von Ajvatovica somit einen Bestandteil der post-jugoslawischen Geopolitiken und Erinnerungslandschaften. Diese zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass sie neue Räume der ethno-nationalen und konfessionellen Zugehörigkeit etablieren und diese mit häufig in Konflikt zueinander stehenden religiösen und nationalen Symbolen, Semantiken und Erinnerungskulturen besetzen. Die körperlichen Praktiken des Bewegens und die symbolischen Performanzen durch Raum und Zeit bildeten dabei letztendlich aktive Momente in Prozessen der (Re-)Konstruktion und Transformation von Räumen und Geschichte. In diesem Sinne kann Colemans und Eades Pilgerfahrtskonzept gefolgt werden, wonach »[…] travel involves getting literally and metaphorically in touch with a history that is also a physical enactment of perceived origins«68. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Praktiken und Diskurse des »banal nationalism« durch »continual ›flagging‹, or reminding, of nationhood«69 als Mittel der Reproduktion der Nation ausschließlich die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Besucher prägten. Vielmehr waren die Motivationen und Ziele der befragten Teilnehmer abhängig von idealtypischen Kategorien wie Klassenhabitus, Herkunftsort, Alter und Geschlecht und nicht zuletzt von der Zugehörigkeit zu un-
67 Turner, Victor W.: Dramas, Fields, and Metaphors: Symbolic Action in Human Society, Ithaca: Cornell University Press, 1974, hier S. 23ff. 68 Coleman, Simon/Eade, John: »Introduction. Reframing Pilgrimage«, in: Simon Coleman/John Eade (Hg.), Reframing Pilgrimage. Cultures in Motion, London: Routledge, 2004, S. 1-25, hier S. 22. 69 Billig, Michael: Banal Nationalism, London: Sage, 1995, hier S. 8.
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terschiedlichen »Islamic fields« sehr divers und standen sich häufig auch konfliktreich gegenüber. Die anwesenden Personen und Gruppen ließen ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen Statuspositionen sowie ihre verschiedenen Vorstellungen und Erfahrungen von lokalen, religiösen und nicht zuletzt politischen Identitäten so auch nicht einfach am jeweiligen Herkunftsort zurück. Vielmehr zeigte sich Ajvatovica ebenso als eine Arena, in der Konflikte um das nationale und religiöse Deutungsmonopol in Nachkriegsbosnien sichtbar wurden.
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Autobiographische Innenansichten und fiktionale Rekonstruktionen sozialer und religiöser Marginalisierung. Annäherungen an den ›Fall Khaled Kelkal‹ und seine literarischen und medialen Darstellungsformen H ANS -J ÜRGEN L ÜSEBRINK
I. M ARGINALITÄT
UND
S YMPTOMATIK
Der ›Fall‹ des Khaled Kelkal, eines 1971 in Mostanagem in Algerien geborenen Sohnes maghrebinischer Immigranten, der im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich emigrierte, in der Vorstadt Vaux-en-Velin in der Nähe von Lyon aufwuchs und als 24-Jähriger im September 1995 von Polizisten mit elf Schüssen als dringend Terrorverdächtiger erschossen wurde, erscheint in gleicher Weise extrem marginal und in gewisser Hinsicht symptomatisch für eine soziale Situation. Genauer gesagt: für ein soziales Milieu, für sozio-kulturelle Exklusionsmechanismen und für bestimmte Formen muslimischer Identitätsentwürfe im Frankreich der Gegenwart. Eine Rekonstruktion und Analyse des ›Falles‹ unter dieser dreifachen theoretischen und methodischen Perspektive – der sozialen Strukturen, der sozio-kulturellen Exklusionsmechanismen und der individuellen Identitätsentwürfe – kann sich lediglich auf ein fragmentarisches und recht heterogenes Material stützen, das sich bei näherer Betrachtung und in der Analyse jedoch wie zu einem Puzzle zusammenfügt: auf die umfangreiche, intensive, aber im Wesentlichen auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzte Medienberichterstattung über Khaled Kelkal in den letzten Septembertagen und Anfang Oktober 1995, im Kontext des vereitelten Attentats auf den TGV LyonParis und der polizeilichen Verfolgungsjagd nach Khaled Kelkal, der schließlich
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am 29.09.1995 in der Nähe von Lyon gestellt und bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötet wurde; sodann auf ein ausführliches Interview, das der damals an der Universität Bielefeld (und heute an der Universität Grenoble) tätige deutsche Soziologe Dietmar Loch im Rahmen einer Untersuchung über maghrebinische Jugendliche in den französischen Vorstädten im Jahre 1992, das heißt drei Jahre vor dem Tod Khaled Kelkals, mit ihm führte und in seiner Studie Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt. Eine Fallstudie in der französischen Vorstadt Vaux-en-Velin (2005)1 veröffentlichte; und schließlich auf den 2012 erschienenen Roman Moi, Khaled Kelkal2 des algerischen Schriftstellers Salim Bachi, der Gattungsstruktur nach eine fiktionale Autobiographie, in der dokumentarisches Material, u.a. das 1995 posthum in Le Monde in Auszügen veröffentlichte Interview von Dietmar Loch mit Khaled Kelkal mit fiktionalen Elementen verknüpft wurde. Der ›Fall Khaled Kelkal‹ erhielt nicht nur durch das Werk Salim Bachis, sondern auch durch den Fall Mohamed Merah, den 23-jährigen Attentäter von Montauban und Toulouse, der im März 2012 sieben Menschen – drei französische Polizisten und vier jüdische Zivilisten – ermordete und anschließend von der Polizei gleichfalls in einem Schusswechsel getötet wurde, eine neue und brisante Aktualität. Salim Bachi stellte in Interviews zu seinem Buch zahlreiche Parallelen zwischen den Biographien der beiden Terroristen fest, die beide maghrebinischer Herkunft waren, aus einem ähnlichen sozialen Milieu stammten, in mehreren Punkten vergleichbare Lebenswege und Lebenserfahrungen aufwiesen, eine ähnliche Hinwendung zu einem radikalisierten Islam aufwiesen und beide bei Schusswechseln mit der Polizei getötet wurden, was von kritischen Stimmen als ›gezielte Tötung‹ oder gar als Exekution wahrgenommen wurde.3 Durch den absoluten Zufall, dass der Soziologe Dietmar Loch 1992 mit dem damals völlig unbekannten Khaled Kelkal ein ausführliches Interview führte und dieses aufzeichnete, ist die Diskurskonstellation in diesem Fall komplexer als in 1
Loch, Dietmar: Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt. Eine Fallstudie in der französischen Vorstadt Vaux-en-Velin, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, S. 354-369 (»Anhang 3: Das Interview mit Khaled Kelkal«).
2 3
Bachi, Salim: Moi, Khaled Kelkal, Paris: Grasset, 2012. Sulser, Élénore: »›Moi, Khaled Kelkal‹, un livre qui croise le parcours de Mohamed Merah [Interview mit Salim Bachi]«, in: Le Temps vom 20.03.2012: »L’histoire de Khaled Kelkal est peut-être plus étrange encore que celle de Mohamed Merah. Il était bon élève, mais s’est senti largué au plan scolaire et social en arrivant au lycée. Il commence à dériver, revient vers la Cité. Sa délinquance ressemble alors à celle de Mohamed Merah, des petits vols.«
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ähnlich gelagerten Fällen. Sie stellt sich, zumindest in ihrer Grundstruktur, ähnlich komplex dar wie die des Falles Pierre Rivière, eines Mordfalles aus dem Jahre 1835, den Michel Foucault mit einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern 1973 in einem Seminar am Collège de France und dann in seinem Buch Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma sœur et mon frère… un cas de parricide au XIX siècle4 analysierte. Neben der Medienberichterstattung, dem Diskurs der Justiz sowie fiktionalen Texten eröffnet das Material hier zu Kelkal – durch Zufall – den Blick auf die Innensicht, den zumindest fragmentarisch artikulierten autobiographischen Diskurs des Betroffenen. Die unterschiedlichen Dokumente, die einen Zugang zum Fall Khaled Kelkal erlauben, sind von großer Heterogenität, ähnlich wie im Fall Pierre Rivière; sie legen eine singuläre Form der Wortergreifung offen, die Michel Foucault im Vorwort zur Analyse seines Falls u.a. wie folgt kommentierte: »ces discours [...] dans leur hétérogénéité, [...] ne forment ni une œuvre, ni un texte, mais une lutte singulière, un affrontement, un rapport de pouvoir, une bataille de discours et à travers des discours«5. Und die Dokumente zum Fall Kelkal zeigen eine durchaus vergleichbare Machtkonstellation in den Diskursstrukturen: Wie im Fall Pierre Rivière erfolgt die diskursive Wortergreifung des Betroffenen als Reaktion auf die Fragen und diskursiven Einordnungsschemata von externen Experten: Polizeikommissare, Leiter der Terrorbekämpfungskommission, aber auch Soziologen und Psychiater sowie Journalisten verschiedenster Ausrichtung und ideologischer Couleur. Zugleich weist der ›Fall Kelkal‹ eine völlig andere Dimension auf als der ›Fall Pierre Rivière‹: Er zählt, im Zusammenhang mit der Welle terroristischer Attentate, die Frankreich im Sommer und Herbst 1995 erschütterten, zum kollektiven Gedächtnis Frankreichs und wurden wiederholt – unter anderem zehn Jahre danach, im Jahre 2005 – in sehr populären Fernsehsendungen wie Secrets d’actualité (des Fernsehsenders M6) und Faites entrer l’accusé (von France 2) thematisiert und erinnert. Im kollektiven Gedächtnis des zeitgenössischen Frankreich verkörpert Khaled Kelkal den »meist gesuchten Mann Frankreichs« (»l’homme le plus recherché de France«6) im Sommer und Herbst 1995, die zentrale Figur in jener »terroristischen Psychose« (»psychose terroriste«7), die Frankreichs Gesellschaft Mitte der 1990er Jahre zutiefst erschütterte und die unter anderem zur Einrich4
Foucault, Michel/Barret-Kriegel, Blandine/Burlet-Torvic, Gilbert et al.: Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma sœur et mon frère...: Un cas de parricide au XIXe siècle, Paris: Gallimard/Julliard, 1973 (coll. »Archives«).
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Ebd., S. 12.
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Secrets d’actualité vom 22.05.2005: »Les attentats de 1995. L’été meurtrier«. Sender M6, 64 Minuten.
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Ebd.
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tung neuer anti-terroristischer Maßnahmen wie des »Plan vigi-pirate« führten, die im französischen Alltagsleben seitdem omnipräsent sind.
II. K HALED K ELKAL – E TAPPEN DER ( AUTO -) BIOGRAPHISCHEN R EKONSTRUKTION SEINER L EBENSGESCHICHTE Die Lebensgeschichte Khaled Kelkals, die sich aus unterschiedlichen, das heißt aus offiziellen, autobiographischen und fiktionalen Dokumenten und Materialien zumindest annäherungsweise ›rekonstruieren‹ lässt, liest sich zunächst, und in erster Linie, als die Geschichte eines zunächst erfolgreichen und dann, aufgrund sozialer Umstände und biographischer Brüche, gescheiterten sozialen Aufstiegs. 1971 als eines von insgesamt zehn Kindern einer algerischen Arbeiterfamilie in Mostaganem in Algerien geboren, kam Khaled Kelkal 1973 zusammen mit seiner Familie nach Frankreich.8 Die Familie, die dem bereits 1969 aus wirtschaftlichen Gründen nach Frankreich ausgewanderten Vater nachgefolgt war, siedelte sich in einer Sozialwohnung am Rande der Satellitenstadt Vaux-en-Velin in der Nähe von Lyon an. Anfang 1990 wurde der Vater Kelkals von dem Unternehmen entlassen, in dem er seit 1969 gearbeitet hatte und blieb arbeitslos, was die finanzielle Situation der 12-köpfigen Familie drastisch verschlechterte. Khaled Kelkal gelang als ehrgeizigem, begabtem und sehr gutem Schüler 1989 der Sprung vom Collège der Banlieue – wo er Klassenbester in Mathematik und Naturwissenschaften gewesen war – auf das renommierte Lycée La Martinière in Lyon, wo er das technische Abitur (Bac technique) vorbereitete. Dieser Wechsel von der Banlieue in die Stadt und vom Vorstadt-Collège (eine Art Gesamtschule) in ein bürgerlich dominiertes Gymnasium scheiterte jedoch bereits nach wenigen Monaten: weniger aufgrund mangelnder Begabung und von vornherein unzureichender Leistungen, sondern – wie Khaled Kelkal selbst in einem Interview mit dem Soziologen Dietmar Loch ausführlich darlegt – aus psychologischen und mentalen Gründen und vor dem Hintergrund, sich in einer Klasse als einziger Schüler mit Migrationshintergrund zu befinden. »Die anderen«, so Khaled Kelkal im Interview mit Dietmar Loch, »hatten in ihrer Klasse noch nie einen Araber gesehen, wie sie das nennen – ehrlich, du bist der einzige Araber –, und nachdem sie mich kennengelernt hatten, sagten sie zu mir: »Du bist die Ausnahme«. Die waren unter sich und haben es leichter gehabt, sich zu unterhalten. […] 8
Vgl. zur Biographie von Khaled Kelkal: D. Loch: Jugendliche maghrebinischer Herkunft, S. 341-342.
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Mit meinem Stolz ging es abwärts, und meine Persönlichkeit sollte ich links liegen lassen. Das kann ich nicht, und ich hab’ meinen Platz da nicht gefunden. Also habe ich die Schule geschwänzt, einmal, zweimal. Das waren so Verkettungen, bis ich da und dort immer neue Leute kennengelernt habe. Und die haben mir vorgeschlagen: »Es gibt da ‘ne Menge schöner Sachen zu holen«. Das war wirklich so eine Verkettung, und Klick gemacht hat es dort«.9 An mehreren Einbrüchen mit sogenannten »Rammbock-Autos« beteiligt, wurde Kelkal im Juni 1991 verhaftet und zu zweieinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. 1993 aus der Gefangenschaft wegen guter Führung entlassen, gelang es ihm trotz einer zusätzlichen Berufsausbildung im Bereich der Informatik, die er als Freigänger während seiner Haftstrafe absolvieren konnte, nicht, einen Arbeitsplatz zu finden. Die Rückkehr nach Algerien, von der er noch in seinem Interview als einer konkreten Zukunftsperspektive sprach10, erwies sich bei einem kürzeren Algerienaufenthalt 1993 mit seiner Mutter als Illusion. Wahrscheinlich während seines Gefängnisaufenthaltes in Kontakt mit Angehörigen der algerischen islamischen Organisation GIA (Groupe Islamique Armé) gekommen, war Khaled Kelkal im Frühjahr und Sommer 1995 an mehreren terroristischen Attentaten beteiligt, u.a. auf die Pariser Metro am 25. Juli 1995, bei dem acht Menschen getötet und über 200 Menschen verletzt wurden, und am Place de l’Étoile in Paris am 12. August 1995. Nachdem seine Fingerabdrücke im Sommer 1995 auf dem nicht explodierten Sprengkörper, mit dem er am 26. August 1995 auf den TGV Paris-Lyon ein Attentat verüben wollte, identifiziert wurden, leitete die französische Polizei eine Großfahndung nach ihm ein. Sein Passfoto mit der Vorder- und Seitenansicht seines Kopfes wurde 170.000-mal gedruckt und an ebenso vielen Stellen in Frankreich verbreitet. Nachdem er sich mit Unterstützung eines Jugendfreundes in Waldstücken in der Nähe von Lyon mehrere Wochen versteckt gehalten hatte, wurde er am 29.09.1995 von der Polizei entdeckt und nach einem Schusswechsel mit elf Schüssen getötet – nach Meinung von Journalisten, die sich in den Tagen danach zu Wort meldeten, bewusst und gezielt, was in einigen Medienberichten, etwa in der linken Tageszeitung Libération, auch als »Exécution« (Hinrichtung) bezeichnet wurde. Khaled Kelkal wurde am 6. Oktober 1995 in Rillieux-la-Pape, einer Stadt im Großraum Lyon, beigesetzt.
9
Ebd., S. 354-355.
10 Ebd., S. 367: »Wohin ich gehen würde? Nach Algerien. Nun, zurück nach Hause, nach Algerien.«
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III. W ERTESYSTEME
UND
S ELBSTLEGITIMATIONSFORMEN
Das Interview, das der Soziologe Dietmar Loch drei Jahre vor dem Tod Khaled Kelkals, nämlich im Jahr 1992, mit ihm geführt hat, wurde am 03.10.1995, vier Tage nach seinem Tod, in der französischen Tageszeitung Le Monde11 und in einer leicht gekürzten Form in deutscher Übersetzung in der Frankfurter Rundschau am 12.10.1995 und in der Schweizer Wochenzeitung Die Weltwoche12 am 26.10.1995 veröffentlicht. Eine ungekürzte deutsche Fassung erschien erst 2005 zusammen mit anderen Interviews mit maghrebinischen Jugendlichen, die Dietmar Loch in Vaux-en-Velin 1991-92 geführt hatte, in der Druckfassung seiner Dissertation über Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt. Eine Fallstudie in der französischen Vorstadt Vaux-en-Velin. Diskursanalytisch ist dieser Text insofern hochinteressant, als er das einzige Dokument darstellt, das in der sehr breiten Medienberichterstattung über den ›Fall Khaled Kelkal‹ eine autobiographische Innenansicht des erschossenen Täters eröffnet. Khaled Kelkal hat ansonsten keine schriftlichen (und öffentlich zugänglichen) Zeugnisse hinterlassen, und es sind auch keine publizierten gerichtlichen Aussagen von ihm vorhanden bzw. zugänglich. Das von dem Soziologen Dietmar Loch geführte und aufgezeichnete Interview mit Khaled Kelkal wurde 1995 zu einem Theaterstück unter dem Titel Moi, Khaled Kelkal verarbeitet, das im Oktober 1996 in Mulhouse uraufgeführt und u.a. in Paris gezeigt wurde. Die Plakate mit dem genannten Titel wurden von der Stadt Mulhouse als »provocatrices« eingestuft und von einem Gericht mit der Begründung verboten: »les affiches »Moi, Khaled Kelkal«, en gros caractères sur fond blanc, sont de nature à choquer de nombreux Mulhousiens et à créer un trouble à l’ordre public«.13 Im unmittelbaren Kontext der Medienberichterstattung über den Tod von Khaled Kelkal erschien darüber hinaus, gleichfalls in der Tageszeitung Libération, eine fiktive, posthume Botschaft Kelkals aus dem Jenseits, in der Khaled Kelkal sich in pathetischem Ton an die »Gens d’occident« (Bewohner des Wes-
11 »L’énergie qui émane de l’exclusion« et »Entretien avec Khaled Kelkal«, in: Le Monde vom 07.10.1995, S. 10-12. 12 »›Ich habe einfach meinen Platz nicht gefunden‹. Das triste Leben in tristen Vorstädten. Ein Gespräch mit dem jungen Franco-Maghrebiner Khaled Kelkal, der von der französischen Polizei erschossen wurde«, in: Frankfurter Rundschau vom 12.10.1995, S. 20; auch in: Die Weltwoche (Zürich) vom 26.10.1995. 13 »Mulhouse, Khaled Kelkal à l’affiche interdite«, in: Libération vom 09.10.1996. Das Theaterstück wurde vom 9.-26.10.1996 im Café-théâtre Entrepôt in Mulhouse aufgeführt.
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tens) richtet – sie werden in dem Text auch »Pauvres gens d’occident« genannt – , von denen er sich empört und entrüstet abwendet. Zugleich kündigt er am Ende an, wie ein obsessioneller Albtraum präsent zu bleiben: »Vous n’en sortirez pas. Je suis votre urgence et votre drogue. Moi, Kelkal, mort à 24 ans, je ressuscite de jour en jour et je ne vous lâcherai pas.«14 Ein letztes, gleichfalls heterogenes Diskurselement der Medienberichterstattung über den ›Fall Khaled Kelkal‹ bildeten die Graffiti, die in mehreren Banlieues sensibles Frankreichs, wie Vaux-enVelin, unmittelbar nach seinem Tod auf Mauerwänden erschienen und ihn als ›Helden‹ feierten. Sie stellen (Schrift)Spuren eines militanten ‚Gegendiskursesʼ und einer sozialen Gegenöffentlichkeit dar, die Khaled Kelkal als »Opfer« und zugleich als »Sündenbock« für soziale Fehlentwicklungen und Probleme sahen, der von den Medien ›verteufelt‹ werde: »Victime-émissaire diabolisée par les médias«, so die Zeitschrift Agora 1996, »Kelkal devient un héros pour les jeunes de certaines banlieues, ce dont témoignent les inscriptions sur les murs des quartiers de la région lyonnaise et ailleurs«15. In diesen öffentlich-schriftlichen Diskursspuren, in denen sich eine im Wesentlichen mündliche, vor allem in den Jugendkulturen der Vorstädte verankerte Gegenöffentlichkeit artikulierte, sei Kelkal, so Bernard Blier in der Zeitschrift Agora, zu einer emblematischen Figur mit zwei antagonistischen Bedeutungsdimensionen geworden: einerseits zu einem Mythos (»mythe«16), in dessen Lebensweg, in dessen Stimme und in dessen Scheitern sich viele Jugendliche vor allem franko-maghrebinischer Herkunft selbst und ihre eigene Verzweiflung wiederzuerkennen glaubten (»la figure emblématique d’une cause, de leur désespoir«17), von den letzten, extremistischen Konsequenzen seines Lebensweges abgesehen; und andererseits, für andere Gruppen, sei er zu einem religiösen Mythos geworden, einem Märtyrer des Glaubens (»martyr de la foi«18), da er seit seinem Gefängnisaufenthalt 1991-92 zum Anhänger eines militanten, radikalen Islam geworden sei. Allerdings habe es, so Maurice Charrier, Bürgermeister von Vaux-en-Velin von 1985 bis 2009, in einem Interview zur angeblichen ›Heroisierung‹ Kelkals, nie einen ›Kult‹ der Jugendlichen in der Banlieue um Khaled Kelkal gegeben, sondern lediglich spontane emotionale Äußerungen (»charge
14 Gallaz, Christophe: »Moi. Khaled Kelkal, ressuscité«, in: Libération vom 03.11.1995. 15 Bier, Bernard: »À propos d’un entretien avec Khaled Kelkal«, in: Agora – Débats/Jeunesses, 4 (1996), Dossier »Pédagogie, illusion de la technicité«, S. 55-78, hier S. 76. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd.
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émotionelle«) und Sympathiebekundungen.19 Christian Delorme, gemeinsam mit Antoine d’Abbundo Autor des Buches L’Islam que j’aime, l’Islam qui m’inquiète (2012) erklärt diese Reaktionen mit der von zahlreichen Jugendlichen der Banlieue empfundenen Wut (»rage«) angesichts der täglich erfahrenen Erniedrigungen und Stigmatisierungen, die Khaled Kelkal auf seine – extremistische und äußerst radikale – Weise zum Ausdruck gebracht hätte.20 Den einzigen – aufgrund der zwar leitfadengestützten, aber sehr offenen und narrativ orientierten Interviewstrategie von Dietmar Loch in starkem Maße authentisch anmutenden – Text von Khaled Kelkal stellt sein bereits erwähntes und erstmals in Auszügen in Le Monde vier Tage nach seinem Tod veröffentlichtes Interview mit dem deutschen Soziologen dar. Es liefert in keiner Weise – und schon gar nicht unmittelbar – Hinweise oder Indizien für seine Motivation für die späteren terroristischen Anschläge und auch nicht für seine sich in den Jahren 1992-93 vollziehende Hinwendung zu radikal islamischen Milieus. Das Interview gibt jedoch Aufschluss über die in unserem Zusammenhang interessierenden Selbstthematisierungs- und -legitimierungsformen Khaled Kelkals, über seine soziale Integration und sukzessive Desintegration und schließlich über sein Wertesystem. Die Entwicklung des eigenen Lebenswegs seit 1991, die ihn wegen Diebstählen ins Gefängnis gebracht hatte, sieht er in dem mit Dietmar Loch geführten Interview als »Verkettung« unglücklicher Umstände, als »cercle vicieux« und als »enchaînement« sowie als »mauvaise pente« (schiefe Bahn), für deren Entstehung und für deren Dynamik die soziale Umwelt – vor allem das bürgerliche Milieu des Gymnasiums, das ihn isoliert, ausgeschlossen und abgestoßen habe – ebenso verantwortlich sei wie er selbst, da er sich zu Unrecht von seiner Familie, die ihm bis dahin Rückhalt gegeben hatte, abgewendet habe. Schuld an der ›schiefen Bahn‹, auf die er geraten sei, sei jedoch auch der alltägliche Rassismus gewesen, der ihm bei der Jobsuche und bei Vorstellungsgesprächen nach der absolvierten Lehre begegnet sei. Sein Name, sein Äußeres und seine Herkunft aus einem sozialen ›Problemviertel‹ seien hierbei ausschlaggebend gewesen. Auf die
19 Hocquin, François: »De Khaled Kelkal à Mohamed Merah, deux dérives meurtrières, deux énigmes«, in: Le Monde vom 29.3.2012: »›Il n’y a jamais eu d’identification, de culte de Kelkal, comme certains le redoutaient à l’époque. Il y a eu une charge émotionnelle sur l’instant, mais pas de suite‹, poursuit-il. ›Les jeunes sont revenus à leur principale préoccupation: trouver du travail‹.« 20 Zitiert nach ebd.: »›Des dizaines de milliers de jeunes ont la rage, le sentiment d’être stigmatisés, humiliés‹, explique le prêtre. ›Et ce sentiment d’humiliation peut nourrir des dérives comme celles de Khaled Kelkal ou Mohamed Merah.‹«
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Frage »Würdest du Vaux-en-Velin gern verlassen?« antwortete Khaled Kelkal diesbezüglich: Ich, ich würde am liebsten eines machen: Frankreich überhaupt verlassen. Ja, für immer. Wohin ich gehen würde? Nach Algerien. Nun, zurück nach Hause, nach Algerien. Hier gibt es keinen Platz für mich. Weil, jetzt braucht sich ein Arbeitgeber nur zu erkundigen – der war im Knast –, und wenn im Betrieb mal was gestohlen wird, dann bin ich das gewesen. Manchmal ist bei uns in der Klasse ein Taschenrechner verschwunden. (…). Ich war kein Dieb, ich war nichts, aber weil ich der einzige Araber war, war mir nicht wohl, und ich dachte: »Alle denken bestimmt, ich sei es gewesen.« Und dann gibt es diese aufsässigen Blicke. Ich sage mir: »Was habe ich hier verloren? Hier akzeptiert man mich nicht, ich hab’ hier nichts zu tun«.21
Zentrale Wertvorstellungen Kelkals, die er in seinem Interview mit Dietmar Loch entwickelt und anhand erlebter Situationen veranschaulicht, sind vor allem Gerechtigkeit und Solidarität: Solidarität innerhalb der streng hierarchischen Familie, in der er erzogen wurde, sowie innerhalb der jugendlichen Peer-Groups der Banlieue, die er als multikulturell beschreibt und in der ethno-kulturelle Solidaritätsbeziehungen, etwa zwischen Jugendlichen maghrebinischer, portugiesischer oder schwarzafrikanischer Herkunft, aus seiner Sicht keine dominierende, sondern eine eher nachgeordnete Rolle spielten. Sodann nehmen die Begriffe und Prinzipien »Persönlichkeit« (»personnalité«), »Respekt« (»respect«), »Würde« (»dignité«), »Stolz« (»fierté«) »Ehrenhaftigkeit« (»honneur«) und »Anständigkeit« (»honnêteté«) in seinem Diskurs eine zentrale Rolle ein, moralischethische Prinzipien und Werte, die er in der französischen Gesellschaft und allgemein in der westlichen Kultur – er spricht in seinem Interview von den »Westlern«22 – im Gegensatz etwa zu seiner Familie wenig repräsentiert und tradiert sieht. Er wirft – auf die Frage hin »Wie würdest du deine Kinder erziehen?« – den Franzosen, die er kennt (vor allem seinen Mitschülern und Lehrern), »Mangel an Respekt« vor: Es gibt sogar solche, die schauen sich mit ihren Eltern pornographische Filme an. Das ist eine Schande, ein Mangel an Respekt. Die beleidigen die Religion. Für mich als Muslim ist das Christentum eine falsche Religion, weil ihr jedes Jahr wieder eine neue Version der Bibel habt. […] Ich kann meine Kinder nicht so erziehen, wie ich die Leute das tun sehe. 21 »Das Interview mit Khaled Kelkal«, in: D. Loch: Jugendliche maghrebinischer Herkunft, S. 354-369, hier S. 367. 22 Ebd., S. 369.
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Das ist unmöglich. Unsere Eltern haben uns eine Erziehung gegeben, aber parallel haben die Franzosen uns eine andere Erziehung gegeben, ihre Erziehung. Das passt nicht zusammen. Ein bisschen dies, ein bisschen das, ein bisschen jenes. Nein, ich persönlich, für mich braucht es Prinzipien und Respekt. Wenn es das nicht gibt, dann kracht alles zusammen.23
Und schließlich spielt für Khaled Kelkal ein sozialer Wert eine wichtige Rolle, den man im Anschluss an Arbeiten von Müller-Jacquier24 und Christoph Barmeyer25 zu Konflikten in interkulturellen Interaktions- und Kommunikationssituationen das ›Komplizitäts-Schema‹ oder die ›Komplizitäts-Reaktion‹ nennen könnte, die grundlegend mit der Wertschätzung von Solidarität verknüpft ist. Gemeint ist das Bedürfnis nach gegenseitiger Wertschätzung, die einher geht mit bestimmten, gemeinsamen, vor allem auch paraverbalen und non-verbalen Kommunikationsregistern (wie Humor und Ironie). Kelkal beschreibt dieses ›Komplizitäts‹-Schema und die hiermit verbundenen Wertvorstellungen, mit denen er sich identifiziert, wie folgt: Die Freiheit, du selbst zu sein, die Freiheit, mit einem guten Freund zusammen zu sein, sich gut zu verstehen, eine verschworene Gruppe zu sein. Vor allem das. Wir hatten unseren Spaß. Da war sogar ein Franzose dabei, der total die Mentalität angenommen hatte. Ein anständiger, wirklich ehrenhafter Typ. Der hatte nichts zu tun mit den anderen Franzosen. Er hat unsere Kultur übernommen, in moralischer Hinsicht, wenn er sie auch nicht praktiziert hat. Wer sich selbst respektiert, der respektiert zwangsläufig auch die anderen. Bei uns hat er Anerkennung gefunden.26
Auch im schulischen Raum des Collège der Banlieue sei es, so Khaled Kelkal, möglich gewesen, emotionale ›Komplizitäts‹- und damit Soldaritätsbeziehungen zu entwickeln, ganz im Gegensatz zum sozio-kulturellen Raum des Lycée in der Innenstadt von Lyon, wo dies völlig ausgeschlossen gewesen sei. So äußerte 23 Ebd., S. 369. 24 Müller-Jacquier, Bernd: »›Cross-cultural‹ versus Interkulturelle Kommunikation. Methodische Probleme der Beschreibung von Inter-Aktion«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Konzepte der Interkulturellen Kommunikation. Theorieansätze und Praxisbezüge in interdiszipinärer Perspektive, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2004 (Saarbrücker Studien zur Interkulturellen Kommunikation 7), S. 69-113, hier S. 92-93. 25 Waxin, Marie-France/Barmeyer, Christoph (Hg.): Gestion des ressources humaines internationales. Problématiques, stratégies et pratiques, Rueil-Malmaison: Éditions Liaisons, 2008. 26 D. Loch: Jugendliche maghrebinischer Herkunft, S. 356.
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Kelkal Folgendes zum Lehrer-Schüler-Verhältnis im Collège der Banlieue, das auf einem solchen ›Komplizitäts‹-Schema basiert habe: Im Collège war es super. Die wußten, dass wir uns erlauben konnten, es lustig zu haben, weil wir gearbeitet haben. Die haben uns eine gewisse Freiheit gelassen, wir durften uns in einer Stunde auch mal fünf Minuten ausdrücken, unseren Spaß haben. Aber wenn geschuftet werden musste, dann haben wir auch geschuftet. Im Collège wurde unser Wert erkannt, die wussten, was wir wert waren, und die kannten unsere Grenzen. Doch am Gymnasium kam es mir vor, als fiele ich zurück. Das lag an den Leuten. Da gibt es keinen Kontakt, nicht einmal mit den Lehrern.27
Khaled Kelkal sieht sich, was seine Beziehung zum Islam angeht, als gläubiger Muslim, gibt an, im Gefängnis dank eines miteinsitzenden Muslimbruders Arabisch gelernt zu haben und sich seitdem auch regelmäßig Videokassetten »mit großen Gelehrten des Islam« auszuleihen und anzuschauen, »mit Leuten aus dem Westen, worin die Worte des Korans gezeigt werden. Einer der größten Astronomieprofessoren aus Japan hat«, so Kelkal, »bestätigt, dass der Koran die Stimme Gottes ist. Der größte Gelehrte der NASA hat das auch bestätigt. Was da gesagt wird, das kann nicht menschlich sein, das kann nur göttlich sein. Danach kannst Du es nicht mehr leugnen. Wenn die größten Gelehrten es bestätigen, dann kannst du es nicht mehr leugnen«.28 Die »schiefe Bahn« (»la mauvaise pente«), auf die er gekommen sei, führt Kelkal auch darauf zurück, dass er mit dem Beten aufgehört und den Ramadan nicht mehr befolgt habe: »an diesem Tag hat mein ganzer Schlamassel angefangen«29. In Kelkals Interview finden sich nur drei Sätze, die auf seine Hinwendung zum Terrorismus eventuell (und mit Einschränkungen) vorausweisen könnten. Sie stehen im Zusammenhang mit seinem Schulabbruch, dem Verlassen seiner Familie und seinen ersten Diebstählen: »Da musste ich mir dann selbst weiterhelfen und war gezwungen, klauen zu gehen. Doch das war vor allem so eine Rachegeschichte. Ihr wollt Gewalt? Dann kriegt ihr auch Gewalt. Von uns spricht man nur, wenn es Gewalt gibt, dann werden wir eben gewalttätig«30.
27 Ebd., S. 356. 28 Ebd., S. 364. 29 Ebd., S. 365. 30 Ebd., S. 357.
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IV. D IE S YMPTOMATIK DES ›FALLS K ELKAL ‹ – ANNÄHERUNGSVERSUCHE MIT DEN M ITTELN F IKTION
DER
Die eingangs thematisierte ›Symptomatik‹ des Falls Khaled Kelkal verweist wie in einem Brennglas auf grundlegende Probleme der französischen Banlieues und dort lebender maghrebinischer Jugendlicher in den letzten 20 bis 30 Jahren: auf Diskrimination und Rassismus; auf differente Wertesysteme und Solidaritätsformen; auf spezifische Kommunikations- und Wertemuster; auf die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den Banlieues sensibles (45%); auf die Rolle der islamischen Religion als Mittel der existentiellen Kontingenzbewältigung; auf die Rolle von Gewalt als Form symbolischer Wortergreifung; auf das Fehlen von Soziabilitätsformen, die mit den Kommunikationsstilen der Jugendlichen maghrebinischer Herkunft und ihren Vorstellungen von Respekt, Achtung, Wertschätzung, Persönlichkeit und Complicité in Einklang zu bringen wären.31 Die völlig aus dem Rahmen fallende, monströse Dimension des ›Falles Khaled Kelkals‹, die sich erst in den drei Jahren nach dem mehrfach zitierten Interview aus dem Jahr 1992 entwickelte, ist nur spekulativ und hypothetisch zu erklären und zu erfassen. Ihr kann man sich, aufgrund der Quellenlage, allenfalls tentativ und mit den Mitteln der Fiktion annähern, einen Weg, den der 1971 in Algerien geborene Schriftsteller Salim Bachi 2012 in seinem Roman Moi, Khaled Kelkal beschritten hat. Die literarische Fiktion dient hier auch dazu, die Lücken des historischen Archivs und der öffentlich zugänglichen Dokumentation zu überbrücken und hypothetisch zu schließen, zumal der Roman teilweise auch aus dokumentarischen Material zusammengesetzt ist, ähnlich einem Mosaik, in das eine Anzahl fehlender Stücke eingesetzt und hinzugefügt wurde. Im Anschluss an den fiktionalen Romantext findet sich in der Tat eine achtseitige »Chronologie«, die in gewisser Weise die historisch gesicherten ›Fakten‹ beinhaltet: eine dichte, aber zugleich dürre, jeweils von einer Jahreszahl ausgehende Auflistung der wichtigsten Ereignisse im Leben des Khaled Kelkal, von seiner Geburt im Jahre 1971 bis zu seinem Tod am 29. September 1995. Es folgt, in Form einer »Chronique judiciaire«, die Narration der Taten und der Verurteilun31 Vgl. zu diesen Problemfeldern exemplarisch: Kepel, Gilles: Les banlieues de l’Islam. Naissance d’une religion en France, Paris: Seuil, 1987; Stébé, Jean-Marc: La crise des banlieues, Paris: PUF, 1999; Wieviorka, Michel: Une société fragmentée? Le multiculturalisme en débat, Paris: La Découverte, 1996; Kepel, Gilles: Banlieue de la République. Société, politique et religion à Clichy-sous-bois et à Montfermeil, Paris: Gallimard, 2011.
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gen der Freunde und Weggenossen (bzw. ›Komplizen‹) Khaled Kelkals bis zum 30. Oktober 2002, an dem Boualem Bensaïd und Smaïn Belkacem wegen ihrer Mittäterschaft an mehreren, zum Teil gemeinsam mit Khaled Kelkal verübten Attentaten auf die Pariser Métro zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden. Während die anschließende »Chronologie« sich auf die Aufreihung von Fakten und Ereignissen beschränkt, entwickelt die vorhergehende fiktionale Narration Erklärungsmuster, die in erster Linie auf den Kommentaren des Erzählers – des fiktionalen Khaled Kelkal – beruhen. Salim Bachi erklärt, in der Handlungsstruktur des autobiographischen Romans, der auf der Ich-Erzählperspektive Kelkals basiert, seine Entwicklung zum Terroristen vor allem mit drei Faktoren: zunächst mit der immensen Enttäuschung Kelkals über seinen kurzen Algerienaufenthalt, den er gemeinsam mit seiner Mutter unternahm und der den Traum von der Rückkehr in sein Heimatland definitiv zerstörte; sodann mit der Vereinnahmung Kelkals durch Mitglieder des militärischen Flügels des Front Islamique du Salut (FIS), die er im Gefängnis kennengelernt hatte und in deren Soziabilitätsnetz er nach der desillusionierenden Rückkehr aus Algerien und während seiner fortdauernden Arbeitslosigkeit Unterstützung und Rückhalt fand; und schließlich – und dies ist sicherlich der hypothetischste Teil der Fiktion – in einer sehr partiellen, selektiven, durch Faszination geprägten und in ihrer Hermeneutik von seinen Kontakten mit dem Front Islamique du Salut beeinflussten Koran-Lektüre, durch die Kelkal – so Salim Bachis Darstellung – in zunehmenden Maße die Legitimation für seinen Hass auf die französische Gesellschaft und seine terroristischen Akte zu finden glaubte. In der Tat schildert der Roman, wie der Gefängnisaufenthalt Kelkal mit islamistischen Kreisen in Verbindung brachte, durch die er eine ›islamische Erziehung‹ (»éducation islamique«32) spezifischer Ausprägung durchlaufen habe, einen Islam der radikalen Konfrontation mit okzidentalen Werten, der die Justiz Gottes auf Erden wiederherzustellen beanspruchte.33 Eine wichtige Rolle spielen in der fiktionalen Darstellung seiner Beeinflussung durch radikale Formen des Islamismus nicht nur einzelne Personen (die historisch verbürgt sind, aber ein imaginäres Profil erhalten), wie der Koranlehrer Khélif, den Kelkal als »mon maître« und »mon maître à penser« bezeichnet34, sondern auch prägende Lektüreerfahrungen und obsessionelle Träume. Die Begegnung mit Khélif führt Kelkal, der bis dahin eher von Filmen als von der Lektüre von Schrifttexten fasziniert war, zu einer intensiven, aber zugleich angeleiteten, sehr direktiven und partiellen Koranlektüre, die ihn in seinen Gedanken und 32 S. Bachi: Khaled Kelkal, S. 59. 33 Ebd., S. 68: »rétablir la justice de Dieu sur la terre de l’islam«; »la justice de Dieu doit remplacer celle des hommes«. 34 Ebd., S. 59, 33.
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vor allem auch in seinen Träumen weiter intensiv beschäftigt. Die Erzählerfigur Kelkal thematisiert die ästhetische Schönheit der Sprache des Korans35, aber zugleich auch sein Identifikationspotential, das auf der Überzeugung vom absoluten Wahrheitsanspruch des Islam sowie der zivilisatorischen Überlegenheit der arabisch-islamischen Kultur beruht. In Albträumen, die ihn verfolgen, sieht sich Kelkal als racheübender Erzengel (»Archange«36), der den Seinen wieder Hoffnung geben und Ihnen jene Würde (»dignité«) zurückgeben könne, die sie in der französischen Gesellschaft verloren hätten. Seine Koranlektüre lässt ihn auch die religiös-mythologische und symbolbehaftete Bedeutung seines Namens entdecken, den er auf Khalid Ibn Walid zurückführt: zunächst der größte Widersacher Mohammeds, sei Khalid nach seiner Bekehrung zum ›größten Krieger‹ und ›General‹ des frühen Islam geworden37, dessen Beispiel er selbst nacheifern wolle.38 In der Auseinandersetzung mit dem Koran erhalten Werte eine religiöse Dimension, die Salim Bachis Khaled Kelkal als zentral ansieht und die er durch die französische Gesellschaft verletzt sieht: ›Würde‹ (»dignité«) und ›Respekt‹ (»respect«), vor allem gegenüber den Eltern und gegenüber moralischen Geboten.39 Die Form der autobiographischen Fiktion im Medium der Literatur, die Salim Bachi für die Aufarbeitung des ›Falles Kelkal‹ nutzt, vermittelt ähnlich wie das mit Dietmar Loch geführte Interview – aber zugleich in anderer, weitaus intensiverer Weise – eine psychologische und soziale Innensicht der Person Khaled Kelkals und seiner sozialen Lebenswelt. In knappen, intensiven Bildern taucht der Leser des Romans in die Welt von Vaux-en-Velin ein, empfängt Kelkals Gefühle des Ausgestoßenseins im Lyoner Lycée de La Martinière, verfolgt seine Gedankengänge, die ihn in die Marginalität treiben, zunächst zur Kleinkriminalität und zum Drogenhandel und dann, in einem weiteren Schritt, zur religiösen Radikalisierung und zum Terrorismus. Aus der Ich-Erzählperspektive heraus werden in schnellen, geradezu filmartig entwickelten Sequenzen Schlüsselerlebnisse der Biographie Kelkals dargestellt, deren Verknüpfungslogik nur teilweise aus sozialen Umständen und Zwängen resultiert und ebenso auf Formen der existentiellen Kontingenz sowie auf persönliche, zum Teil sehr emotional bedingte Weichenstellungen zurückgeführt wird. 35 Ebd., S. 60: »La langue arabe est belle, chantante, envoûtante et c’est la langue choisie par Allah pour dire la vérité aux hommes«. 36 Ebd., S. 62. 37 Ebd., S. 121: »le plus grand général de l’islam«; S. 122: »le plus grand guerrier de l’histoire«. 38 Ebd., S. 122: »Khaled Kelkal, le glaive de l’islam, ça sonne bien.« 39 Ebd., S. 22, 23, 35.
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Biographie und Persönlichkeit Khaled Kelkals erschließen sich somit posthum, wie die Analyse der unterschiedlichen Dokumente und Darstellungsformen zeigt, lediglich in approximativer Weise, durch Hypothesen und Versuche der fiktionalen Rekonstruktion. Paradoxerweise scheint, ähnlich wie in dem von Michel Foucault untersuchten Fall des Pierre Rivière, lediglich die – mit zahlreichen nicht-fiktionalen, dokumentarischen Elementen durchsetzte – autobiographische Fiktion über die Fähigkeit zu verfügen, sich der Persönlichkeit, den Erfahrungen, Tatmotivationen, Gedanken und Träumen Kelkals zumindest tentativ und in plausibler Form anzunähern. Durchaus strukturell vergleichbar mit dem (nicht-fiktionalen) autobiographischen Text Pierre Rivières40, den Foucault und seine Mitautoren edierten und kommentieren, nehmen seine Interviewäußerungen sowie die fiktionale Autobiographie Salim Bachis in der Tat die Funktion narrativer Gegendiskurse ein, die sich den medialen, politischen und justiziären Diskursen entgegenstellen, sie gegen den Strich bürsten und andere Sichtweisen eröffnen. Kennzeichnenderweise weist der autobiographische Roman Salim Bachis eine durchaus ähnliche narrative Entwicklungsstruktur auf wie die Dokumentar-Fernsehsendung Faites entrer l’accusé41, die – in gleicher Weise wie Bachis Roman – von dem Attentat auf die Pariser Métrostation Saint-Michel am 25. Juli 1995 ausgeht und in der narrativen Struktur einer Enquête judiciaire die Person Khaled Kelkals in den Blick rückt. In ähnlicher Weise wie Moi, Khaled Kelkal arbeitet der Dokumentarfilm, hier unter Einbeziehung verschiedener Zeitzeugen, das soziale Umfeld, die Lebensumstände und die möglichen Motivationen Kelkals heraus und endet mit der frankreichweiten Fahndung nach dem Attentäter und seinem gewaltsamen Ende in einem Wald in der Umgebung von Lyon. Der für ein Massenpublikum produzierte und von einem Millionenpublikum 2006 gesehene Dokumentarfilm der sehr populären Serie Faites entrer l’accusé über berühmte Kriminalfälle zeigt wie in einem Brennglas Ereignisse wie das mörderische Attentat in der Pariser Métro 1995, die inzwischen fest zum kollektiven Gedächtnis des gegenwärtigen Frankreich gehören, und verwendet hierzu Bilder und Interviewsequenzen, die die umfangreiche Medienberichterstattung über den Fall Khaled Kelkal im September und Oktober geradezu teleskopartig kondensieren. Der Film bildet zugleich den wichtigsten intertextuellen Bezugsrahmen für Salim Bachis Roman, der die vielfach verbreiteten dokumentarischen Bilder ebenso beim Leser voraussetzt wie im Medium schriftlicher 40 [Rivière, Pierre]: »Détail et explication de l’événement arrivé le 3 juin à Aunay, village de la Fauctrie écrite par l’auteur de cette action«, in: M. Foucault: Moi, Pierre Rivière, S. 73-148. 41 Faites entrer l’accusé – Khaled Kelkal, ennemi public n°1, présenté par Christophe Hondelatte, Paris, France 2 Télévision, 2006, 90 Minuten.
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Narrativik erneut evoziert und in anderer Form und Perspektivierung rekonstruiert. Die Parallelen zwischen den narrativen Grundstrukturen der beiden Darstellungsformen legen zugleich in frappierender Weise die Diskrepanzen zwischen der fiktional-autobiographischen Erzählweise des Romans und der vorgeblich ›objektiveren‹ Sichtweise des Dokumentarfilms offen und lassen die Grenzen zwischen ›Fiktion‹ und ›Wirklichkeit‹, ›Wahrheit‹ und ›Erfindung‹ tendenziell verwischen. Die provokative Logik der autobiographischen Fiktion, verfasst von einem Autor, der selbst algerischer Herkunft ist und Kelkals Sicht- und Erfahrungsweisen zumindest sprachlich und kulturell nachzuvollziehen, zu verstehen und sie somit zu ›lesen‹ und zu dekodieren vermag, versucht hier die Wissensund Wahrnehmungsschemata des politischen und medialen Diskurses zu durchbrechen und in Frage zu stellen.42 An die Stelle des ›Sprechens der Anderen‹ über Khaled Kelkals muslimische Identitätsentwürfe – und ihre in seinem Fall zutiefst tragischen Folgen – treten sein eigenes, imaginiertes Sprechen und seine eigene, ebenso reelle wie mit den Mittel der Fiktion konstruierte Wortergreifung.
B IBLIOGRAPHIE Bachi, Salim: Moi, Khaled Kelkal, Paris: Grasset, 2012. Bier, Bernard: »À propos d’un entretien avec Khaled Kelkal«, in: Agora – Débats/Jeunesses, 4 (1996), Dossier »Pédagogie, illusion de la technicité«, S. 55-78. Faites entrer l’accusé – Khaled Kelkal, ennemi public n°1, présenté par Christophe Hondelatte, Paris, France 2 Télévision, 2006, 90 Minuten. Foucault, Michel/Barret-Kriegel, Blandine/Burlet-Torvic, Gilbert et al.: Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma sœur et mon frère...: Un cas de parricide au XIXe siècle, Paris: Gallimard/Julliard, 1973 (coll. »Archives«). Gallaz, Christophe: »Moi. Khaled Kelkal, ressuscité«, in: Libération vom 03.11.1995. Hocquin, François: »De Khaled Kelkal à Mohamed Merah, deux dérives meurtrières, deux énigmes«, in: Le Monde vom 29.3.2012.
42 Vgl. in ähnlicher Perspektive: Foucault, Michel: »Les meurtres qu’on raconte«, in: M. Foucault, Moi, Pierre Rivière, S. 265-275, hier S. 275: »A cet acte discursif, à ce discours en acte, profondément engagé dans les règles du savoir populaire, on appliquait les questions d’un savoir né ailleurs et géré par d’autres.«
D ARSTELLUNGSFORMEN
DES
›F ALLS K HALED K ELKAL ‹
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»›Ich habe einfach meinen Platz nicht gefunden‹. Das triste Leben in tristen Vorstädten. Ein Gespräch mit dem jungen Franco-Maghrebiner Khaled Kelkal, der von der französischen Polizei erschossen wurde«, in: Frankfurter Rundschau vom 12.10.1995, S. 20; auch in: Die Weltwoche (Zürich) vom 26.10.1995. Kepel, Gilles: Les banlieues de l’Islam. Naissance d’une religion en France, Paris: Seuil, 1987. Kepel, Gilles: Banlieue de la République. Société, politique et religion à Clichysous-bois et à Montfermeil, Paris: Gallimard, 2011. »L’énergie qui émane de l’exclusion« et »Entretien avec Khaled Kelkal«, in: Le Monde vom 07.10.1995, S. 10-12. Loch, Dietmar: Jugendliche maghrebinischer Herkunft zwischen Stadtpolitik und Lebenswelt. Eine Fallstudie in der französischen Vorstadt Vaux-en-Velin, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. »Mulhouse, Khaled Kelkal à l’affiche interdite«, in: Libération vom 09.10.1996. Müller-Jacquier, Bernd: »›Cross-cultural‹ versus Interkulturelle Kommunikation. Methodische Probleme der Beschreibung von Inter-Aktion«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink (Hg.), Konzepte der Interkulturellen Kommunikation. Theorieansätze und Praxisbezüge in interdiszipinärer Perspektive, St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2004 (Saarbrücker Studien zur Interkulturellen Kommunikation 7), S. 69-113. Secrets d’actualité vom 22.05.2005: »Les attentats de 1995. L’été meurtrier«. Sender M6, 64 Minuten. Stébé, Jean-Marc: La crise des banlieues, Paris: PUF, 1999. Sulser, Élénore: »›Moi, Khaled Kelkal‹, un livre qui croise le parcours de Mohamed Merah [Interview mit Salim Bachi]«, in: Le Temps vom 20.3.2012. Waxin, Marie-France/Barmeyer, Christoph (Hg.): Gestion des ressources humaines internationales. Problématiques, stratégies et pratiques, RueilMalmaison: Éditions Liaisons, 2008. Wieviorka, Michel: Une société fragmentée? Le multiculturalisme en débat, Paris: La Découverte, 1996.
3. Formungen von Strukturen und Inhalten des Dispositivs Muslimsein in Westeuropa
Islam und Muslime im europäischen Kontext. Reden eines medienwirksamen Menschen (1993-2013): Tariq Ramadan D OMINIQUE A VON
Seit Anfang der 1990er Jahre steht Tariq Ramadan für einen bis dahin ungekannten Aspekt der muslimischen Präsenz in den westeuropäischen Gesellschaften. Diese waren bis dahin eher an Repräsentationen von immigrierten Arbeitern aus dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum oder etwa von zum Sufismus konvertierten Intellektuellen gewöhnt. Seitdem hat er an zahlreichen kollektiven, institutionellen und informellen Forschungszentren zu gesellschaftlichen Fragen mitgearbeitet. Sein Anliegen war und bleibt es, sich von einem doppelten Komplex freizumachen: gegenüber den Nicht-Muslime des Okzidents und gegenüber den Muslimen des Orients.1 Vom Time Magazine wurde er 2004 auf die Liste der hundert einflussreichsten Personen gewählt.2 Der Autor von über dreißig Monographien und exzellente Dialektiker, der regelmäßig in den Medien präsent ist, ist äußerst charismatisch. Seine Werke sind im Internet im frankophonen Milieu weit verbreitet.3 In Frankreich, das, wie er sagt, »an seiner Identität leidet […]
1
Vgl. Ramadan, Tariq: »Pris en tenaille en Europe«, in: Manière de voir, 64 (2002), S. 60-62. Vgl. ebenfalls das Interview »Islam & the West«, erschienen in: Globe&Mail und online zu finden auf der Seite: http://www.tariqramadan.com vom 21.12.2006.
2
Crumley, Bruce: »Tariq Ramadan [The 2004 Time 100]«, http://www.time.com vom 26.04.2004.
3
Beispielhaft sei die Teilnahme von Tariq Ramadan an der Sendung von Laurent Ruquier, »On n’est pas couché«, auf France 2 vom 27.09.2009 genannt, in der er sein Buch Mon intime conviction vorgestellt hat. Online zu finden auf Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=dIeh2lKAva0.
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stellte ich einen Spiegel und ein europäisches Kultursymbol dar, da ich aus Glauben Muslim und aus Prinzip Universalist bin«.4 Seine Publikationen und Beiträge geben ihm Gelegenheit, eine integralistische und holistische Konzeption der muslimischen Religion – shumûliyyat alislam5 – voranzutreiben: »ein globaler Dschihad des Wissens, der Lehre, des Dialogs, der Kommunikation und des Widerstands«, um »zu sagen, was zum Islam gehört und was nicht (unter Achtung der Vielfalt und des Pluralismus)«6. A) Sein normatives Vorgehen widersetzt sich einer rationalen Herangehensweise an die Dinge, die das Fundament des Islam darstellen. Im Kontext einer epistemologischen Kritik der Humanwissenschaften verwendet er Hauptbegriffe des Werkes »Orientalismus« von Edward Saïd und gibt ihnen eine konfessionelle Färbung: »ideologische Agendas oder kollektive Ängste«, beträchtliche Geldsummen, die in eine »natürlicherweise eigennützige« Forschung investiert werden, Vorherrschaft der Wissensproduktion von Soziologen, Politologen und »Terrorismusexperten«, »Profil der Lehrenden der Islamwissenschaften«, das durch eine zu geringe Zahl von »muslimischen Lehrenden«7 gekennzeichnet ist. B) Dieses Vorgehen hinterfragt, im politischen Bereich, moderne Rechtskonzepte. Im Zusammenhang mit der Hinterfragung der Universalität von Prinzipien, die zuerst in Europa und Nordamerika8 verfochten worden sind, angesichts einer »liberalen und fortschrittsgläubigen Zivilisation, die Frieden, Demokratie und Menschenrechte verteidigt«9 besteht sein Projekt darin, eine Alternative anzubieten, deren Werte, Pflichten und Rechte sich auf dem tawhîd begründen .10
4
Barnavi, Elie/Di Falco, Mgr: Tariq Ramadan, Faut-il avoir peur des religions?, Paris: Editions Mordicus, 2008, hier S. 92.
5
Ramadan, Tariq: Les Musulmans d’Occident et l’avenir de l’islam, Arles: Actes SudSindbad, 2003, hier S. 65 und Fußnote 1, S. 211.
6
Ramadan, Tariq: »Etre Musulmans à l’ère de la mondialisation«, http://www.tariq ramadan.com vom 06.08.2012.
7
Ramadan, Tariq: »Les défis de la recherche et de l’enseignement des Etudes islamiques dans l’actuel climat politique«, http://www.tariqramadan.com vom 26.11. 2007, sowie L’islam et le réveil arabe, Paris: Presses du Châtelet, 2011, hier S. 217219.
8
Vgl. Ramadan, Tariq: L’Islam en question (Gespräch mit Alain Gresh, geleitet von Françoise Germain-Robin), Actes Sud-Sindbad, »Babel«, 22002, hier S. 230-231, vgl. auch S. 162.
9
T. Ramadan: L’Islam en question, S. 157.
10 Vgl. Ramadan, Tariq: Islam. Le face à face des civilisations. Quel projet pour quelle modernité?, Lyon: Tawhîd, 2001 [1995], hier S. 287.
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In beiden Bereichen (in den Humanwissenschaften und der Liberalen Demokratie) weist sein Vorgehen Ähnlichkeiten mit demjenigen heutiger protestantischer Fundamentalisten oder demjenigen der katholischen Integralisten auf, die am Ende des 19. Jahrhunderts danach strebten, der »modernen Wissenschaft« eine »katholische Wissenschaft« und der liberalen Demokratie eine »christliche Demokratie« – nämlich die von Leo XIII. – entgegenzusetzen. Mehrere Gründe erklären die positive Resonanz, die seine Reden hervorrufen: •
•
• •
•
die Wirkungskraft der Lesart »dominant/dominiert« erlaubt es, ein Kontinuum zwischen französischer und britischer Kolonisierung und kapitalistischer Globalisierung durch die amerikanische Supermacht zu entwerfen; die sozialen Ungleichheiten und die fremdenfeindlichen Wahrnehmungen oder Taten, die vornehmlich die Bevölkerungsteile betreffen, die sich erst kürzlich in Europa niedergelassen haben; die Identitätskrisen der europäischen Gesellschaften, die mit den Migrationsphänomenen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Verbindung stehen; die gemeinschaftlichen konfessionellen Mobilisierungen als Reaktion auf die komplexen Prozesse der Säkularisierung und auf die politischen Entscheidungen hin zum Laizismus; die Bewegung des kulturellen Differenzialismus, der durch die Erinnerungsdebatten des 19. und 20. Jahrhunderts verstärkt worden ist, nach denen die »Mächte« im Widerspruch zu den Prinzipien handelten, die sie in der Welt zu verteidigen vorgaben.
E INE MUSLIMISCHE P ERSÖNLICHKEIT IM DREIER N ETZWERKE
S CHNITTPUNKT
Von Freiburg nach Oxford In den »biographischen Elementen«, die auf seiner Internetseite auftauchen, gibt Tariq Ramadan an, »an der Universität Genf studiert zu haben (Französische Literatur und Philosophie)«. Er verschweigt damit seine Laufbahn an der Universität Freiburg (im Breisgau), wo er eine Magisterarbeit über Nietzsche verfasst hat. Sein Studium der Islamischen Wissenschaften in Kairo (1992) stand unter dem Einfluss des Shaykh Alî Jum'a11, ohne dass er es jedoch mit einem akademischen 11 Alî Jum'a wird später Mufti von Ägypten. Er bekundet 2005, auch Vorbehalte hinsichtlich des Aufrufs zur Aufschiebung von Gefängnisstrafen und körperlicher Züch-
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Diplom beendete. Zurück in Genf unterrichtet Ramadan am Gymnasium. 1995 untersagen ihm die französischen Behörden einstweilig den Aufenthalt in Frankreich wegen der Attentate im Zusammenhang mit dem algerischen Bürgerkrieg. Der Verdacht erweist sich zwar als unbegründet, aber er steht am Beginn einer schikanösen Überwachung12 und einer Polemik zwischen seinen Gegnern und Anhängern. Sein Aufenthalt in Großbritannien, der von der Islamic Foundation gefördert wird, die 1973 von Ahmed Khurshid, einem Mitglied der pakistanischen Jamaat E Islami, gegründet wurde, nährt diese Spannungen. Tariq Ramadan verteidigt seine Dissertation vor einer neu berufenen Jury, nachdem er einige Kritikpunkte seines Doktorvaters Charles Genequand hinnehmen musste. Der Text wird bei Bayard, einem katholischen Verlagshaus, publiziert. Zu diesem Zeitpunkt vereint er die Rollen des Akademikers, des Medienmenschen und des Predigers in sich. Was seine Rolle als Akademiker betrifft, so erhält er einen Lehrauftrag an der Universität Genf und erteilt Unterricht von einer Wochenstunde an der Universität Freiburg. In seinem Unterricht, der von den Studenten geschätzt wird, behandelt er Themen aus der Philosophie, der französischen Literatur und der Islamologie. Die Universität Freiburg beendet den Arbeitsvertrag zum Universitätsjahr 2003-2004. Zu diesem Zeitpunkt erhält Tariq Ramadan eine Einladung an die katholische Notre-Dame University. Er kann das Angebot trotz internationaler Unterstützung nicht annehmen13, da ihm die Behörden der Vereinigten Staaten sein Arbeitsvisum entzogen haben. Der Grund hierfür ist, dass er Bildungsprojekte einer Hamas-nahen Vereinigung in den besetzten Palästinensergebieten finanziert hat.14 Die Wiedererteilung des Visums wird erst nach der Wahl von Barack Obama eingeleitet werden. Zwischenzeitlich wird Tariq Ramadan zum Senior Research Fellow an der Universität Oxford und an der Universität von Doshisha (Kyoto) ernannt. Er ist
tigungen zu haben (vgl. Ramadan, Tariq: »Réponse au mufti d’Egypte, le shaykh Dr. Alî Jum'a«, http://www.oumma.com vom 02.05.2005). 12 Vgl. Ramadan, Tariq: »La liberté d’expression? Tu parles! Et pourtant… ce temps passera«, http://www.tariqramadan.com vom 06.03.2007. 13 Vgl. Ramadan, Tariq: »Je démissionne de mon poste de Professeur à l’Université Notre Dame« (Pressemitteilung), http://www.oumma.com vom 15.12.2004. 14 Vgl. Ramadan, Tariq: »Un engagement, au-delà des atteintes à la liberté d’expression« [Übersetzung des Artikels: »What the West can learn from Islam«, in: Chronicle for Higher Education vom 12.02.2007), http://www.tariqramadan.com vom 13.02.2007. Ramadan, Tariq: »Pour la Palestine, un secret…«, http://www.tariqramadan.com vom 06.01.2007. Semple, Kirk: »At Last Allowed, Muslim Scholar Visits«, http://www.nytimes.com vom 07.04.2010.
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auch Gastprofessor an der Erasmus-Universität15 und Mitarbeiter der Stadt Rotterdam, der mit der Durchführung von Integrationskursen für Muslime und unter anderem von einer europäischen Kampagne gegen Zwangsheirat beauftragt wird. Die Zusammenarbeit verläuft schlecht. Seine Zusage zur Moderation der Sendung »Islam and Life« auf PressTV, einem iranischen Informationskanal, sorgt für Irritationen.16 Tariq Ramadan wird 2009 entlassen und strengt einen Prozess gegen seine alten Arbeitgeber an. Die niederländische Justiz gibt ihm sowohl gegen die Universität17 als auch gegen die Stadt Rotterdam18 recht. Der Kläger analysiert seinen Fall als eine Situation, die im Zusammenhang stehe »mit der allgemeinen Atmosphäre, die im Okzident bezüglich des Islam herrsche. Der Kontext eines Generalverdachts hat es einigen (privaten und öffentlichen) Institutionen erlaubt, Entscheidungen zu treffen, die im Widerspruch zur Anerkennung der Rechte von Muslimen bezüglich ihrer Anstellung, der Freiheit ihres Gewissens und ihrer Meinungsfreiheit stehen«19. 2010 richtet der Katar die Professur »Sheik Hamad Bin Khalifa al-Thani« am St Antony’s College in Oxford ein. Tariq Ramadan wird dort nach einer kontroversen Entscheidung der Berufungskommission zum Professor für Contemporary Islamic Studies ernannt.20 Er ist ebenfalls Gastprofessor an der Fakultät für Islamische Studien in Doha. Dank der Hilfe Katars gründet und leitet er ferner das Research Center on Islamic Legislation and Ethics, das im September 2011 gegründet und am 15. Januar 2012 eröffnet wird. Das Ziel dieser Institution ist es, die »unabänderlichen Prinzipien« von denen zu unterscheiden, die »überdacht werden können«, »eine Typologie der Texte, die keinen zu interpretierenden Gehalt besitzen, und der Bedingungen ihrer Anwendung in Beziehung zur propheti-
15 Diese Ernennung löst Vorbehalte bei dem Politikwissenschaftler Gilles Kepel aus. Die beiden Männer kennen sich seit Anfang der 1990er und vertreten gegensätzliche Meinungen. Vgl. beispielsweise: »L’islamisme, fin et suite«, in: Libération vom 08.08.2000. 16 Vgl. »Tariq Ramadan answers his Dutch detractors«, http://www.vorige.nrc.nl vom 18.08.2009. Am darauf folgenden Tag veröffentlicht die Webseite der Universität Rotterdam: »Tariq Ramadan’s appointment in Rotterdam ended«. 17 Vgl. Ramadan, Tariq: »Décision du tribunal de Rotterdam«, http://www.tariqramadan.com vom 08.11.2012. 18 Vgl. »Tariq Ramadan gagne son second procès, contre la Municipalité de Rotterdam«, http://www.tariqramadan.com vom 19.03.2013. 19 Ramadan, Tariq: »Un grand merci!«, http://www.tariqramadan.com vom 20.03.2013. 20 Zeugenaussage von Sajjad Rizvi, Tunis, am 24.02.2010.
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schen Tradition« zu etablieren und die »islamische Ethik« »ihrem Sinn und ihrem Zweck nach« zu begreifen.21 Von der Hilfe für die Dritte Welt zur muslimischen Ethik Im Laufe der ersten Jahre seines Berufslebens hat Tariq Ramadan an zahlreichen Projekten der Solidarität mit der Dritten Welt teilgenommen, er ist nach Lateinamerika gefahren, wo er die Befreiungstheologie kennengelernt hat. Diese Erfahrungen nähern ihn der politischen Linken22 und der katholischen Militanz an, die durch die Engagements der 1970er und 1980er Jahre gekennzeichnet sind: Kampf gegen den Kapitalismus, Förderung der Gerechtigkeit und des Friedens, Sorge um die Umwelt. In der Schweiz, wo er an Wohlfahrtsaktionen beteiligt ist, kommt er den Abgeordneten Jacques Neirynck (Christdemokrat) und Jean Ziegler (Sozialist) näher. In Frankreich freundet er sich mit dem Forscher François Burgat23 und dem Journalisten Alain Gresh an. Er nimmt im Jahre 2001 am Forum der Globalisierungskritiker in Porto Alegre teil; danach hält er auf den Europäischen Sozialforen in Saint-Denis und Montpellier Vorträge. Er arbeitet auch mit Bernard Cassen von der Vereinigung Attac zusammen. Aus dieser Matrix entnimmt er einen Teil der Bezugsquellen, die später in sein »Manifest für ein neues Wir. Appell an die westlichen Muslime und ihre Mitbürger« eingehen werden: »Wenn es einen Beitrag gibt, den die westlichen Muslime für ihre jeweiligen Gesellschaften leisten können, so ist es dieser: Versöhnung. […] Es ist notwendig, dass in unseren Gesellschaften ein neues ›Wir‹ entsteht. Ein ›Wir‹,
21 Ramadan, Tariq: »Lancement du site de CILE: message de Tariq Ramadan«, http://www.tariqramadan.com vom 15.11.2012. Adresse der Webseite: http://www.cilecenter.org. 22 Vgl. Mullen, John: »Les musulmans et la gauche: entretien avec Tariq Ramadan«, in: Revue Socialisme International, 12 (2005), http://www.revue-socialisme.org. 23 Vgl. Burgat, François: L’islamisme en face, Paris: La Découverte, 1996 [1995]. Die Beziehungen scheinen zu einem anderen Wissenschaftler komplexer zu sein, nämlich zu Vincent Geisser, Autor von: La nouvelle islamophobie, Paris: La Découverte, »Sur le vif«, 2003. Vgl. auch das Vorwort (online: http://www.oumma.com vom 17.01.2007) zu seinem Werk: La vérité sur Tariq Ramadan, sa famille, ses réseaux, sa stratégie (Favre, November 2006), das von dem Journalisten Ian Hamel verfasst wurde (auf der Webseite http://www.oumma.com angekündigt, um die Unterstützung und die vorgefundenen Schwierigkeiten am 22.01. und 31.01.2007 aufzuzeigen). Das Buch hat bei Tariq Ramadan keinen Gefallen gefunden (vgl. »Une biographie très différente, ›sérieuse‹?«, http://www.tariqramadan.com vom 01.02.2007).
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das Frauen und Männer vereint, Bürger aller Religionen und ohne Religion, die gemeinsam gegen die Widersprüche ihrer Gesellschaft vorgehen, gegen Rassismus und jegliche Diskriminierung, gegen jegliche Anfeindungen, gegen die Würde des Menschen, für das Recht auf Arbeit, auf Wohnraum, auf Respekt.«24 Dieses Engagement wird von einer Teilnahme an zahlreichen, im Wesentlichen französischen Institutionen, immer unter den wachsamen Augen der Presse25, begleitet: in der Menschenrechtsliga, deren Präsident Michel Tubiana ist, und in der Kommission »Laizität und Islam« der Liga für Bildung, deren damaliger Präsident Michel Morineau ist. Es geht dabei darum, dazu beizutragen, eine neue Präsenz muslimischer Bürger innerhalb der Republik und der muslimischen Schüler innerhalb der laizistischen Schule zu denken. Das Experiment ruft widersprüchliche Standpunkte innerhalb beider Strukturen hervor; es wird beendet. Die staatlichen Schulen Frankreichs stehen zu diesem Zeitpunkt im Zentrum der Aufmerksamkeit rund um die Debatte über das Tragen des Kopftuchs, die seit der Entscheidung der Exekutive im Jahre 1989 bis zum »Verbot des Tragens auffälliger religiöser Symbole« im Jahre 2004 einen großen gesellschaftlichen Widerhall erfahren hat. Tariq Ramadan macht sich in dieser Debatte Gegner, aber er findet auch Verbündete, wie zum Beispiel Jean Baubérot, einem Spezialisten der Geschichte des Laizismus. Er wird so zum anerkannten Experten und Berater der Kommissionen des Brüsseler Parlaments. Es folgen Einladungen vom Deutschen Orient Institut, dem British Council, dem Vienna Peace Summit und der Veranstaltung »Barcelona 2004«. Sein Verhältnis zu den nicht-muslimischen Konfessionen ist komplex. So schreibt er, dass in Europa der »jüdische oder christliche Bezug aufgelöst oder ganz verschwunden« sei.26 Von einer Mehrheit der jüdischen Bevölkerung wird er vehement kritisiert, ja abgelehnt, zumal nach dem Erscheinen seines Artikels »Kritik der (neuen) gemeinschaftlichen Intellektuellen«27. Auf Seiten der Katho24 Ramadan, Tariq: »Manifeste pour un nouveau ›Nous‹« vom 25.09.2006, abgedruckt in: Mon intime conviction, Paris: Presses du Châtelet, »Archipoche«, 2009, hier S. 204. Kurzfassung in: Le Monde vom 21.09.2006. 25 Unter vielen anderen Pressemitteilungen sei Le Monde vom 29.09.2000 genannt. Und die verärgerte Reaktion des Betroffenen: »Etre musulman, être entendu«, in: Le Monde vom 5./6.11.2000. 26 T. Ramadan: Les Musulmans d’Occident et l’avenir de l’islam, S. 201. 27 Ramadan, Tariq: »Critique des (nouveaux) intellectuels communautaires«. Der Text wurde von den französischen Presseorganen im Herbst 2003 abgelehnt und online gestellt auf der Webseite: http//www.tariqramadan.com vom 02.08.2004. Vgl. »[…] die Gründe der Sorge«, die Olivier Gebuhrer und Pascal Lederer darlegen in: »Un soutien ambigu«, in: Le Monde vom 15.11.2003.
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liken und der Protestanten gibt er Anlass zu widersprüchlichen Reaktionen. Manche28 interessieren sich für die Formen aktiver interreligiöser Zusammenarbeit in vernachlässigten Wohnvierteln oder für die gemeinsame Förderung spiritueller Werte angesichts einer materialistischen Konsumhaltung.29 Andere äußern ihre Bedenken bezüglich der »Bruderschaft«, die vor allem islamisch ist30, wie bei Hassan al-Banna, seinem Großvater und Begründer der Muslimbruderschaft.31 Sie haben den Eindruck, nur eine nützliche Gewähr zu sein: Das ist der Fall bei Pater Christian Delorme, der sich noch 1995 zu seinen Gunsten geäußert hat und der anschließend auf Distanz gegangen ist, im Gegensatz zu Pater Michel Lelong. Tariq Ramadan selbst gibt zu, dass den islamisch-katholischen Begegnungen Grenzen gesetzt seien. Er äußert Bedenken bezüglich der dringenden Aufforderungen zur Anerkennung der Religionsfreiheit in den überwiegend muslimischen Gesellschaften.32 Leidenschaft und Abwendung von den muslimischen Organisationen Obschon er durch familiäre Bande an das Islamische Zentrum von Genf gebunden ist, das sein Vater gegründet hat, hat Tariq Ramadan dort niemals gearbeitet.33 Sein erster öffentlicher Auftritt vor seinen Glaubensgenossen fand 1993 anlässlich eines Kongresses der UOIF (Union der islamischen Organisationen
28 Vgl. Baum, Gregrory: The Theology of Tariq Ramadan. A Catholic Perspective, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 2009. 29 Vgl. Ramadan, Tariq: L’autre en nous. Pour une philosophie du pluralisme, Paris: Presses du Châtelet, 2009, hier S. 273-292. 30 Vgl. Delorme, Christian: ›L’islam que j’aime et l’islam qui m’inquiète‹. Entretien avec Antoine D’abbundo (Vorwort von Tareq Oubrou), Paris: Bayard, 2012, hier S. 48. Christian Delorme und Tariq Ramadan haben ein Gespräch aufgezeichnet, das auf Bitten der Beteiligten nie veröffentlicht wurde. 31 Vgl. Ramadan, Tariq: Aux sources du renouveau musulman. D’al-Afghani à Hassan al-Banna, un siècle de réformisme islamique, Paris: Bayard, »Religions en dialogue«, 1998, hier S. 233 und 284. 32 Vgl. »Le Pape Benoît XVI: comme un Bilan«, http://www.tariqramadan.com vom 25.02.2013. 33 Mehrere Personen, darunter eine Doktorandin und der Journalist Ian Hamel haben vergeblich um Zugang zu den Archiven dieses Zentrums gebeten (vgl. »Ian Hamel: ›Tariq Ramadan n’a pas de double discours‹«, http://www.oumma.com vom 31.01.2007).
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Frankreichs) statt, einer Organisation, die sich in die Bewegung der Muslimbruderschaft einschreibt. Er erlebt einen unmittelbaren Erfolg bei einer jungen Generation, die sich im Grunde in seinem Identitäts- und Normendiskurs wiedererkennt, sich aber zur Frage der Art und Weise der Anwendung nicht festlegt. Der große »Bruder« verficht die Anwendung eines laizistischen Rahmens für die Forderungen der Muslime. Die Aufzeichnungen seiner Vorträge sowie seine Leitartikel in der Monatsschrift Présence musulmane stoßen auf ein lebhaftes Echo. Im darauf folgenden Jahr veröffentlicht er ein erstes Werk im Lyoner Verlagshaus Tawhîd, das von der Union junger Muslime innerhalb des Kollektivs der französischen Muslime geführt wird. Es häufen sich die Vorträge, die eine moralische, spirituelle und intellektuelle Unterstützung für die Vereinigungen der Muslimischen Studenten Frankreichs (EMF) und der Jungen Muslime Frankreichs (JMF) darstellen. Er legt diese Art von Auftritten jedoch nicht auf Dauer an, sondern gibt dem European Muslim Network den Vorzug: »a Think Tank that gathers European Muslims Intellectuals and activists troughout Europe. They aim at fostering communication, views and expert analysis on the key issues related to the Muslim presence in Europe«34. Die Internationalisierung der Aktivitäten von Tariq Ramadan und die Priorität, mit der er manche Netzwerke behandelt und seine medialen Auftritte häuft35, lösen gemischte Reaktionen aus. Das Verhältnis zur Union der muslimischen Organisationen Frankreichs ist komplex. Diese Vereinigung steht in Verhandlungen mit den französischen Behörden, da sie sich im Prozess der Institutionalisierung der muslimischen Akteure in Frankreich engagiert. Tariq Ramadan behauptet, eine Kompromittierung und eine Instrumentalisierung zu befürchten. Er beklagt zusammen mit anderen in Bezug auf die Sache der Muslime in Frankreich die Rolle des Innenministeriums und die nachweisliche Rivalität der Konsulate Marokkos, Tunesiens und Algeriens. Der Bruch, der sich bereits im Jahre 200036 angedeutet hat, wird 2003 öffentlich, und zwar im Augenblick der Einsetzung des CFCM (Französischer Rat für die muslimische Religion) und der Regeln für die Wahl der Vertreter der muslimischen Religion in Frankreich: Er spricht dieser Instanz ihren repräsentativen Charakter ab. Die Unstimmigkeiten dauern an und schließlich verlässt die Union der Islamischen Organisationen Frankreichs das 34 http://www.euro-muslims.eu. 35 Bemerkenswerte Sendung auf France culture vom 10.01.2003. Vgl. auch seine Teilnahme an: La Marche du siècle vom 12.10.1994 36 Tariq Ramadan wurde, im Gegensatz zu seinem Bruder, seit 2000 nicht zum Kongress von Bourget eingeladen, vgl. Ternisien, Xavier: »Hani Ramadan, le directeur du Centre islamique de Genève, suspendu d’enseignement après avoir justifié la lapidation des femmes adultères«, in: Le Monde vom 15.10.2002.
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CFCM, um gegen seine Instrumentalisierung zu protestieren. Später kommt es beim Kongress von Le Bourget, der größten muslimischen Veranstaltung in Europa, zu einem Comeback von Tariq Ramadan. Seine Darstellung der aktuellen Situation konzentriert sich sowohl auf das Entstehen einer muslimischen Elite in Europa, als auch auf die »Krise« des »zeitgenössischen islamischen Bewusstseins«37. Er erkennt die Leistung der sufistischen Bruderschaften an, aber nur unter Vorbehalt: Er unterscheidet auf der einen Seite den »Aberglauben der Massen«, der »immer mehr gewöhnliche Muslime dazu führt, ihr Herz toten ›Heiligen‹ zu weihen« und auf der anderen Seite den »Elitismus zu vieler gelehrter (ulama) oder mystischer (sufistischer) Zirkel, der »junge, gut ausgebildete« Menschen ins »spirituelle Exil« treibt.38 Er ist ein Verteidiger der großen Bedeutung, die sunnitische, »salafistische Gruppen, die die Schrift wörtlich auslegen« den Texten beimessen. Er distanziert sich allerdings von ihrer Normenauffassung, die nicht mehr zwischen Zweck und Mittel unterscheidet und die sich populistischer Emotionen bedient. Bis auf einige Ausnahmen, wie etwa die Ahbaches39 oder der Hizb al-Tahrîr, nimmt er niemals eine Gruppe oder einen Glaubensgenossen ins Visier. Er beteiligt sich an der Erschaffung einer neuen Amtsautorität, die auf einer »muslimischen Ethik« gründen soll. Diese »Ethik« hängt von juristischen Mitteln ab, deren Anwendung »extrem heikel ist und nicht jedem zur Verfügung steht«40. Seine Positionsbestimmungen stoßen auf Vorbehalte41, und das umso mehr, als seine Kritik42 sich zwar auf die
37 Vgl. Ramadan, Tariq: »Crise de la Conscience islamique contemporaine«, http://www.tariqramadan.com vom 02.04.2013. 38 Ramadan, Tariq: »Chemins vers la paix«, http://www.tariqramadan.com vom 18.02.2013. 39 Vgl. Ramadan, Tariq: Etre musulman européen. Étude des sources islamiques à la lumière du contexte européen (aus dem Englischen übersetzt), Lyon: Tawhîd, 1999, hier S. 401-403. 40 T. Ramadan: Les Musulmans d’Occident et l’avenir de l’islam, Fußnote 1, S. 220. 41 Vgl. Seniguer, Haoues: »Décès de Gamal al-Banna: le (très) lourd silence de Tariq Ramadan«, http://leplus.nouvelobs.com vom 06.03.2013. Seniguer, Haoues: »Le Qatar et l’islam de France: vers une nouvelle idylle?«, in: Confluences Méditerranée, 84 (2012-2013), S. 101-115. Vgl. auch Stauffer, Beat: »Zwischen allen Fronten«, http://www.nzz.ch vom 12.11.2009. 42 Vgl.
http://www.saphirnews.com/Tariq-Ramadan-La-reforme-radicale-passera-par-
le-Centre-de-recherche-pour-l-ethique-au-Qatar_a13947.html.
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Außenpolitik des Katar43, der ihn finanziell unterstützt, richtet, aber Tariq Ramadan niemals über das dortige Regime selbst spricht.44
D AS V ERBOT DER »T EXTE « K ONTEXTUALISIERUNGEN
UND DIE
Hassan al-Bannâ unc Shâtibî Mit einer Dissertation über den Werdegang seines Großvaters hat Tariq Ramadan seine Universitätslaufbahn abgeschlossen. Das Ambivalente daran ist, dass sein Thema ihm dazu dient, sein eigenes Engagement zu rechtfertigen, ein Engagement für einen »Islam der Mitte«, der zugleich eine Rückkehr zu den salaf [den frommen Vorfahren] ist und eine Vergegenwärtigung von kontextuellen Variationen. Seine Quellenarbeit ist selektiv. Die organisatorischen Fähigkeiten des Gründers der Muslimbruderschaft, der populäre Erfolg, den seine Bewegung hatte, und der Kampf gegen die britischen Besatzer und die – vor allem christlichen – Bildungsinstitutionen, die allesamt aus Europa stammten, sind Tatsachen, die unter den Forschern unumstritten sind. Doch ist die Doktorarbeit von Tariq Ramadan in anderer, nämlich akademischer Hinsicht nicht unproblematisch: Er weigert sich, die Konversion von al-Afghâni und von Muhammad 'Abduh zur Freimaurerei anzuerkennen; er verschweigt die intellektuellen und finanziellen Verbindungen zwischen Rachid Rida und Ibn Seoud sowie die Bewunderung seines Großvaters für den Gründer Saudi-Arabiens; er rechtfertigt Gewalt im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Kolonialmächte und gegen den Zionismus, aber er zitiert nicht den »Brief des Dschihad«, dessen inhaltliche Reichweite viel größer ist45; er verschweigt die Kampagnen des Kampfes für die »guten Sitten« sowie die Attacken gegen ägyptische Intellektuelle wie etwa Taha Husayn.46 43 Vgl. Ramadan, Tariq: »Interpréter la crise au Moyen-Orient«, http://www.tariq ramadan.com vom 09.10.2012. 44 Vgl. Ben Rhouma, Hanan: »Tariq Ramadan et le Qatar: réponse à ses détracteurs« (Video: http://www.saphirnews.com vom 04.04.2013. Vgl. auch »Libération du 27 avril 2013: Tariq Ramadan: ›Mes relations avec le Qatar‹«, http://www.tariq ramadan.com vom 29.04.2013. 45 Vgl. al-A'lâ al-Mawdûdî, Abû/Qutb, Sayyid/al-Bannâ, Hassan: Al-Jihâd fî sabîl Allâh [Le combat pour Dieu], Kairo: Al-Ittihâd al-islâmî al-'âlamî li al-munazzamât altullâbiyya, 1970, hier S. 32. Sein Urteil über Sayyid Qutb ist größtenteils auch ideologisch orientiert, vgl. Carré, Olivier: Mystique et politique. Lecture révolutionnaire du
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Der Ägypten-Spezialist Rémy Leveau hat in Tariq Ramadan einen »modernen Neofundamentalisten«47 gesehen, dessen Arbeiten unterschwellig apologetisch seien. Die Verlagsgruppe Bayard hat übrigens keine Neuauflage seiner Dissertation herausgegeben. Dies wurde vom Verlag Tawhîd übernommen. Die »Schule des reformistischen Denkens«48, deren Idee er sich bedient, integriert zeitweise Hassan al-Tourabi. Ferner setzt er die Scheiche Youssef al-Qaradhâwî, dessen antisemitische und homophobe Aussagen, dessen Aufruf zum Ausschalten der Apostaten und dessen politische Kompromittierung mit dem Katar er verschweigt49, und Abdessalam Yassine, dessen finanzielle Machenschaften er nicht kennt50, miteinander in Beziehung. Er bezieht sich auch auf andere zeitgenössische Denker: unter anderem auf den malaysischen Juristen Muhammad Hashim Kamali oder etwa auf den iranischen Intellektuellen Soroush. Seine Auffassung vom Primat des »Rechts«, das sich in eine ethische Vorgehensweise einschreibt, lässt ihn sowohl behaupten, dass »es keine islamische Theologie gebe« als auch, bei anderer Gelegenheit, dass diese existiere.51 Dieses Primat nährt auch seinen Kampf gegen »das neoliberale kapitalistische System, [das] für uns heute eine
Coran par Sayyid Qutb, Frère musulman radical, Paris: Cerf, 1984. Die Bedeutung die Qutb dem Begriff jihâd gibt, entspricht nur sehr partiell der Definition, die Tariq Ramadan diesem gibt: Jihâd, violence, guerre et paix en islam, Lyon: Tawhîd poche, 2002. Vgl. auch: Islam. Le face à face des civilisations. Quel projet pour quelle modernité?, Lyon: Tawhîd, 2001 [1995], S. 76-86. 46 Vgl. al-Bannâ, Hassan:»Mustaqbal al-thaqâfat fî Misr… li-al-haqîqat wa al-târîkh« [»L’avenir de la culture en Egypte… Pour la cause de la vérité et de l’histoire«], in: Al-Nadhîr, 6 (1939), Kairo (http://www.ikhwanwiki.com vom 29.10.2010). 47 Leveau, Rémy: Le Monde des débats, Februar 2000, zitiert nach Ternisien, Xavier: Le Monde vom 29.09.2000. 48 T. Ramadan: L’Islam en question, S. 272. 49 Vgl. Aschi, Youssef/Avon, Dominique: »Qui est le cheikh Qaradawi, interdit de
séjour
en France« ?, in: L’Express.fr vom 05.07.2012,
http://www.lexpress.fr/
actualite/monde/qui-est-le-cheikh-qaradawi-interdit-de-sejour-en france_1134398. html. 50 Vgl. Ramadan, Tariq: »Shaykh Abdessalam Yassine: entendre sa voix«, http://www.tariqramadan.com vom 24.02.2013. Über das Vermögen des Shaykh, vgl.: »Abd al-Salâm Yâsîn sajala mumtalakât al-'Adl wa al-Ihsân bi-ismi-hi«, http://www.maghress.com/akhbarona/2865 vom 22.03.2011. 51 Ramadan, Tariq: Les Musulmans d’Occident et l’avenir de l’islam, S. 28. Paradoxerweise ruft er in demselben Werk zu einer »Debatte über theologische Fragen« im Rahmen einer interreligiösen Dialogs auf (Fußnote 1, S. 349).
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Art 'alam al-harb, ein Universum des Krieges darstellt«.52 Seinem Urteil nach ist »die Offenbarung im Koran explizit: Derjenige, der sich an finanziellen Spekulationen oder an Zinsgeschäften beteiligt, tritt in einen Krieg gegen den Allerhöchsten«53. Mit diesem Argument verweigert er jegliche Diskussion über dieses Thema54, obwohl sogar Muhammad 'Abduh, einer der Verfasser des islâh [der muslimischen »Reform«], der er anzugehören vorgibt, diese Praktiken gerechtfertigt hat. Da er sich in den Mainstream des Ash'arîsmus einreiht, der den Sunnismus seit dem 9. Jahrhundert beeinflusst hat, verarbeitet Tariq Ramadan keine theologisch-juristischen Debatten, die dieser Zeit vorausgehen, und er zitiert die Philosophen des 9. bis 12. Jahrhunderts nur beiläufig. Er wählt seine Quellen aus den Muwâfaqât [»Harmonien«] des Abû Ishâq Ibrahîm al-Shâtibî (gestorben 1388).55 Dessen geistiges Vermächtnis dient ihm allerdings nicht als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand56, sondern als methodologisches Werkzeug für sein normatives Projekt. Dies erlaubt es ihm, den Akzent, den er auf das »Recht« setzt, mit der Verschiedenheit von Situationen zu vereinbaren, ohne die Frage nach dem Zweck zu vernachlässigen.57 In seiner Bibliographie greift er nur auf die gängigsten Werke der klassischen muslimischen Tradition zurück, ohne diese aus einer kritischen Perspektive zu betrachten. Willentlich vernachlässigt der Autor so anderthalb Jahrhunderte wissenschaftlicher Forschung über die Geschichte dieses »Rechts«.
52 T. Ramadan: Les Musulmans d’Occident et l’avenir de l’islam, S. 326-327. 53 Ramadan, Tariq: »Les musulmans et la mondialisation«, in: Pouvoirs, 104 (2003), S. 101-102. 54 Vgl. Ramadan, Tariq: Peut-on vivre avec l’islam? Le choc de la religion musulmane et des sociétés laïques et chrétiennes (Gespräch mit Jacques Neirynck), Lausanne: Favre, 1999, hier S. 166. 55 Muhammad 'Abduh tadelt Shâtibî, da er zum Prinzip erhebt, das die »Propheten« keine Gelehrten seien (Risâlat al-tawhîd, S. 282 und Fußnote 78 auf Arabisch; S. 83-84 auf Französisch). 56 Vgl. die Einführung von Abû Zayd im Band 6 von al-Shâtibî, Abû Ishâq: AlMuwâfaqât fî Usûl al-Sharî'a, Saudi Arabien: Dâr Ibn Ayfân, 1996. 57 Vgl. Ramadan, Tariq: Islam. La réforme radicale. Ethique et libération, Paris: Presses du Châtelet, 2008, hier S. 83-104.
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Ablehnung einer historisch-kritischen Exegese Die Geschichtswissenschaft ist das Element, das im Schema der »Wissenschaften des Islam«, das Tariq Ramadan entwickelt hat, gänzlich fehlt.58 Er ignoriert die Historizität der arabischen Sprache und ihre Veränderungen in der fernen und nahen Vergangenheit.59 Er ignoriert ebenfalls die geschichtswissenschaftliche oder philologische Beschäftigung60 mit dem, was er als die »Texte« bezeichnet, namentlich der Koran61 und zumindest ein Teil des Hadîth, während andere Forscher dezidiert daran arbeiten, mit Hilfe von Quellen aus dem 7. Jahrhundert eine fortschreitende Unterscheidung dessen zu ermöglichen, welche Aussagen »im Koran und im Hadîth« dem Propheten Mohammed zugeordnet werden können.62 Für Tariq Ramadan »wird sich der Koran niemals ändern, genauso wenig wie die Texte des Propheten Mohammed. Was sich ändern muss, ist die Art und Weise, mit der wir Dinge begreifen, die Art und Weise, mit der wir die Herausforderungen, die zu uns sprechen, lesen und verstehen«.63 Seine Haltung, die sich starr auf die »Art zu lesen« bezieht, führt dazu, dass ihn die Arbeiten junger Forscher, 58 T. Ramadan: Etre musulman européen, S. 65-89 (Schema, S. 86). Über seine Beziehungen vgl. Laroui, Abdallah: Islam et Histoire, Paris: Albin Michel, 1999. 59 Vgl. seine Zurückweisung des Begriffs »Laizität« auf Arabisch aus Furcht vor einer semantischen »Kolonisierung«. Der Begriff existiert dennoch im Arabischen: »'almaniyya«; seine Bedeutung wird seit mehr als einem Jahrhundert diskutiert: Avon, Dominique/Elias, Amin: »Laïcité: navigation d’un concept autour de la Méditerranée«, in: Droits de Cité, am 03.01.2011 online gestellt (http://droitdecites.org/2011/01/03/religions-secularisation-et-laicite-des-conceptsen-mouvement-dcie/#more-9529) und erschienen in der tunesischen Zeitschrift: Affaires stratégiques, 2 (2011), S. 54-70. 60 Vgl. Idrissi, Abdellatif: Pour une autre lecture du Coran. Les voix du verset, Paris: L’Harmattan, »Bibliothèque de l’iReMMO«, 2012, 136 S. 61 Ramadan, Tariq: »Le Coran et le cœur: un dialogue«, http://www.oumma.com vom 19.11.2004 und »Rencontre avec le Coran«, http://www.tariqramadan.com vom 01.02.2006. 62 Vgl. Amir-Moezzi, Mohammad Ali: Le Coran silencieux et le Coran parlant, Paris: CNRS éditions, 2011, 266 S. 63 H., A.-B. (mit Apic und APS):»Au Sénégal, Tariq Ramadan appelle les musulmans à quitter leur position de ›victimes‹«, in: La Croix vom 13.03.2013. Am 11. März 2013 Einladung von Seiten der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar/Senegal (Ucad) zur Eröffnung des 6. Internationalen Kolloquium der Muslime im frankophonen Raum (Cimef), das für den 23.-26.08.2013 vorgesehen war. Titel des Beitrags: »L’urgente nécessité de repenser l’éthique islamique: la spiritualité et la loi«.
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wie zum Beispiel von Rachid Benzine64, beunruhigen. In seinen Beiträgen vermeidet er eine Debatte zwischen Mu'taziliten und Ash'ariten über die Problematik eines »erschaffenen« oder »nicht erschaffenen« Koran. Er widerspricht der ursprünglichen Position von Muhammad 'Abduh, der am Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben hatte, dass »man nicht verneinen könne, dass [die geäußerten Worte] einen Anfangspunkt haben und Teil der Schöpfung seien […]. Derjenige, der behaupte, dass der Koran, den man lese, nicht erschaffen sei, befinde sich in einem unwissenden Zustand.«65 Er ergreift Partei gegen den »›rationalistischen Exzess‹ mancher alter und zeitgenössischer Denker«, indem er behauptet, dass ihr Vorgehen inakzeptabel sei: »Innerhalb des muslimischen Credos (al-aqîda) […] findet man die Erkenntnis, dass bestimmte Bücher offenbart sind, und den Glauben daran, dass der Koran als letztgültige Offenbarung das Wort Gottes ist (kalâm Allah), das der Menschheit in seinem Zustand, in klarer arabischer Sprache, offenbart worden ist. […] Eine jede Reform, die die Grundlagen des Credos – der aqîda – infrage stellt, könnte von den Gläubigen der muslimischen Religion weder angenommen noch gehört oder bekannt werden.«66 Dieser kategorische Imperativ des Gläubigen, der die Arbeiten des Wissenschaftlers in Abrede stellt, ähnelt der Haltung protestantischer Fundamentalisten und katholischer Integristen. Gemeinsam ist ihnen, die alle von Ideen postmoderner Kritik profitieren67, die Stellungnahme gegen »eine Art einseitiger Aufoktroyierung moderner atheistischer oder agnostizistischer Denknormen«, wobei Tariq Ramadan hinzufügt, dass »man in manchen Debatten nicht weit von einer
64 Benzine, Rachid: Le Coran expliqué aux jeunes, Paris: Seuil, 2013, hier S. 167-168. 65 'Abduh, Muhammad: Rissalat al-Tawhîd, Kairo: Imprimerie 'Amîryya, Boulâq, 1890. Die Textstelle wurde in der zweiten Auflage ausgelassen (vgl. Yousfi, Fouzia Madani: Le rapport entre la Religion et la Science dans la pensée des artisans du réformisme musulman du XIXe et du début du XXe siècle. Jamâl al-Dîn al-Afghânî & Mohammed Abduh et son impact sur l’exégèse du Coran. Le cas de l’Ecole du Manâr, Dissertation unter der Leitung von MM. Régis Morelon und Ahmed Hasnawi, Université Paris-Diderot Paris 7, S. 150). Vgl. auch die von B. Michel und dem Cheikh Moustapha Abdel Razik übersetzte Ausgabe: Cheikh Mohammed Abdou. Rissalat al-Tawhid. Exposé de la religion musulmane, Paris: Geuthner, 1925, S. 99-103. 66 Ramadan, Tariq: Islam. La réforme radicale. Ethique et libération, Paris: Presses du Châtelet, 2008, hier S. 25. 67 Avon, Dominique, « Intégristes catholiques et fondamentalistes protestants (fin XXedébut XXIe siècle) », Vortrag im Forum islamo-chrétien von Lyon, 1. Dezember 2012, erscheint 2013 in der Zeitschrift Chemins de Dialogue.
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neuen Art von intellektueller Inquisition entfernt ist«.68 Indem er dies tut, vermeidet er eine grundlegende Debatte über den Kreationismus – im Gegensatz zu Nidhal Guessoum, der die Frage der Evolution offen anzusprechen wagt.69 In »Muhammad. Leben eines Propheten« stellt Tariq Ramadan Adam als eine historische Person und sogar als den ersten Propheten dar. Die Ankunft Abrahams und Ismaels im alten Tal von Bacca, das später Mekka geworden ist, und die Errichtung des al-Ka'ba gehören für ihn zum Register der »einfachen Tatsachen« und er bekräftigt, dass in »rein faktischer Hinsicht der Prophet Muhammad von den Kindern Ismaels abstammt«.70 Die Disziplinen der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Archäologie und der Epigraphie sind ihm fremd. So verhält es sich auch mit der Linguistik und der Semiologie, die wichtige Veröffentlichungen zum Thema der Texte des Koran ermöglicht haben, wie zum Beispiel jene von Farid Esack oder Mohamed Arkoun.71 Indem er sich darauf beschränkt, was er »die klassischen islamischen Quellen«, »die Mehrheit der Exegeten des Koran«, »die Traditionalisten« oder etwa »die von den Gelehrten und den islamischen Wissenschaften anerkannten Normen« nennt, verkennt Tariq Ramadan die wesentliche Frage nach dem Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Er zitiert Auszüge aus dem Leben des Mohammad von Ibn Hishâm – der ungefähr zehn Generationen nach der Hedschra gelebt hat –, ohne den Text kritisch zu hinterfragen, und das trotz der mittlerweile erschienenen wissenschaftlichen Arbeiten zum Beispiel von Abdesselam Cheddadi.72 Sein Interesse73 für eine Revision der Schriften des Hadîth, hauptsächlich derer von al-Bukhâri und von Muslim, die 2008 von der Türkei in Auftrag gegeben wurde, blieb ohne wirksame
68 Ramadan, Tariq: »Du bon usage des religions en général, et de l’islam en particulier«, http://www.tariqramadan.com vom 05.02.2013. 69 Vgl. Guessoum, Nidhal: Réconcilier l’islam et la science moderne. L’esprit d’Averroès, Paris: Presses de la Renaissance, 2009, hier S. 412-445. 70 Ramadan, Tariq: Muhammad. Vie du Prophète. Les enseignements spirituels et contemporains, Paris: Presses du Châtelet, 2006, hier S. 16. 71 Mohamed Arkoun sagte über Tariq Ramadan: »un trésor de pédagogie ne sert à rien, il est dans des postulats de la croyance dogmatique« (La construction humaine de l’Islam, Gespräche mit Rachid Benzine und Jean-Louis Schlegel, Paris: Albin Michel, 2012, 224 S.). 72 Cheddadi, Abdessalam: Les Arabes et l’appropriation de l’histoire. Emergence et premiers développements de l’historiographie musulmane jusqu’au IIe/VIIIe siècle, Arles: Sindbad/Actes Sud, 2004, 394 S. 73 Vgl. Ramadan, Tariq: »Pas de fidélité sans évolution«, http://www.tariqramadan.com vom 10.03.2008.
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Folgen. Und er spricht mit keinem Wort von der Arbeit der Dekonstruktion des Hadîth, die von seinem Großonkel Gamâl al-Bannâ unternommen worden ist.74 Islamische Normen und praktische Situationen Der Hinweis auf Gamâl al-Bannâ ist insofern bezeichnend, als dass die beiden Männer miteinander Umgang hatten und dass der ältere von beiden, der in den 1930er Jahren in Ägypten aufgewachsen ist, liberalere Positionen vertritt als sein Großneffe, der in den 1970er Jahren in der Schweiz aufwuchs. Im Laufe seiner letzten zwanzig Lebensjahre in einem arabischen und mehrheitlich muslimischen Milieu hat Gamâl al-Bannâ ohne Unterlass Partei ergriffen gegen die Macht der »Menschen islamischen Glaubens«, gegen die Starrheit ihres Wissens und gegen die Sakralisierung des »Unveränderlichen« – der Gesamtheit der Normen und Prinzipien, die in den ersten Jahrhunderten des Islam festgelegt worden sind. Zur gleichen Zeit ergreift Tariq Ramadan, der von sich sagt, dass er seinen Verwandten respektiert, ohne alle seine Meinungen zu teilen75, in einem europäischen und minoritär muslimischen Milieu, eine entgegengesetzte Haltung. Er bringt einen normativen islamischen Diskurs hervor und setzt sich für die Entwicklung neuer referentieller Strukturen ein. Seine willkürliche Unterscheidung zwischen »Religion« und »Kultur« erlaubt es ihm, Kriterien zu setzen, mit deren Hilfe er das, was »islamisch« ist, von dem abscheidet, was es nicht ist. Die Grenze gründet sich, nach seiner Beweisführung, auf drei Dichotomien: dem sich Wandelnden und dem Unwandelbaren, den Prinzipien und den Modellen sowie der Orthodoxie-Orthopraxie und den Angelegenheiten der Polis.76 Beispielsweise wirbt Tariq Ramadan für einen »islamischen Feminismus«, der es ablehnt, die Rolle der Frau auf die vier Wände ihres Heims zu beschränken77, für eine »islamische Weiblichkeit«, die sich auf »der Würde und Autonomie des weiblichen Wesens, auf der gesetzlichen Gleichheit und auf der natürli-
74 Vgl. al-Bannâ, Gamâl: L’islam, la liberté, la laïcité und Le crime de la tribu des ›Il nous a été rapporté‹, Vorstellung und Übersetzung von Dominique Avon und Amin Elias, Paris: L’Harmattan, »Comprendre le Moyen-Orient«, 2013. 75 Vgl. http://www.saphirnews.com/Tariq-Ramadan-Gamal-Al-Banna-un-penseur-acontresens-des-Freres-musulmans_a16375.html vom 10.03.2013, mit Maryam al Shamiya, Interview aufgenommen am 09.03.2013 von Hanan Ben Rhouma. 76 Vgl. Ramadan, Tariq: Islam. La réforme radicale. Ethique et libération, Paris: Presses du Châtelet, 2008, hier S. 34. 77 Vgl. T. Ramadan, Tariq: Peut-on vivre avec l’islam?, S. 94-95; T. Ramadan: L’islam en question, S. 281 und S. 292.
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chen Komplementarität«78 gründet. Und doch ist sein Autonomiebegriff eingeschränkt: Auch wenn das, was er den »Schleier« nennt, niemandem aufgezwungen werden darf79, bleibt das Tragen des Schleiers für ihn eine religiöse Verpflichtung, wohingegen selbst Gamâl al-Bannâ schreibt, dass er keine Spur dieser Verpflichtung im Text des Koran finden kann.80 Bezüglich des Rechtsprinzips der Gleichheit der Frauen oder »aller Menschen«81 widerspricht Tariq Ramadan sich selbst im Falle der Heirat einer Muslimin mit einem Nicht-Muslim: »Wenn man den religiösen Prinzipien treu bleiben will, ist diese Tendenz negativ zu bewerten, aber ich finde, die Freiheit eines jeden muss respektiert werden. Es bleibt die Frage der muslimischen Gesellschaften: Er gibt dort nur die religiöse Heirat und dies bleibt in dieser Hinsicht eine Einschränkung«.82 In diesem Zwiespalt zwischen Normen, die als zeitlos angesehen werden, und Situationen, die von Seiten der Muslime Anpassungen erfordern, situiert sich Tariq Ramadan auf eine exklusive Art und Weise. So zum Beispiel bei seinem Aufruf zu einem Moratorium bezüglich körperlicher Züchtigung, Steinigung und Todesstrafe83: Ihre Anwendung ist abzulehnen84, erklärt er, denn die Bedingungen für ihre Anwendung seien nicht alle erfüllt, aber es könne nicht die 78 T. Ramadan: Les musulmans d’Occident…, S. 240 und S. 244. 79 Vgl. T. Ramadan: Peut-on vivre avec l’islam?, S. 92. 80 al-Banna, Gamal (Übersetzung von G. Madbak): La Femme Musulmane entre l’Emancipation du Coran et les Restrictions des Juristes, Beirut: Al-Biruni, 2011: »Le noble Coran n’a ordonné, explicitement, que de cacher les ouvertures de la poitrine et d’allonger les robes«, hier S. 41. Ben Rhouma, Hanan: »Tariq Ramadan: Gamal alBanna, un penseur à contresens des Frères musulmans«, http://www.saphirnews.com vom 09.03.2013. 81 T. Ramadan: Peut-on vivre avec l’islam?, S. 137. 82 T. Ramadan: L’islam en question, S. 282-283; T. Ramadan: Peut-on vivre avec l’islam?, S. 120-121. 83 Vgl. Ramadan, Tariq: »Appel international à un moratoire sur les châtiments corporels, la lapidation et la peine de mort«, http://www.oumma.com vom 30.03.2005. Und: »Pour un moratoire sur l’application de la charia dans le monde musulman«, in: Le Monde vom 31.03.2005. Aufruf, der mittels einer internationalen Petition verbreitet wurde, um die Debatte in Gang zu setzen: http://www.petitiononline.com/PMC001/pe tition-sign.html. 84 Vgl. Ramadan, Tariq: »Réactions au moratoire à travers le monde. Réponses aux savants et leaders«, http://www.tariqramadan.com vom 28.04.2005. »Tariq Ramadan invité de Jean-Pierre Elkabach à la Bibliothèque Médicis«, Sendung des parlamentarischen Fernsehkanals Sénat vom 31.10.2008. Hinweis auf der Webseite: http://www.tariqramadan.com.
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Rede davon sein, »die Texte und ihren definitiven Charakter (qat'iyya)«85 anzuzweifeln. Neben dem, was »unabänderlich« ist, gebe es allerdings auch diskutable Normen, bezüglich derer widersprüchliche Positionen akzeptiert werden müssen: so zum Beispiel das Bilder- und Photographieverbot.86 In gleicher Weise lehnt er die Attentate vom 11. September 2001 und die darauf folgenden in Europa ab87: »Diese Gruppierungen stellen nicht die Werte des Islam dar und ihre Aktionen sind klar anti-islamisch und zu verurteilen«88. So setzt sich Tariq Ramadan dafür ein, die Amtsautoritäten des Islam des 21. Jahrhunderts mithilfe einer regelmäßigen Konfrontation derer weiterzuentwickeln, die er die »Gelehrten des Textes« und die »Gelehrten des Kontextes« nennt. Dieses Vorhaben möchte er im CILE verwirklichen. Das erste Seminar gibt sich das doppelte Ziel, die »islamischen Prinzipien bezüglich der Bioethik« zu definieren und zugleich zu untersuchen, ob die »vier großen Prinzipien der Bioethik, die im Okzident definiert worden sind, tatsächlich universell sind«89. Die zweite Initiative betrifft die Umwelt und das künstlerische Schaffen und findet in einem Augenblick statt, in dem in Katar ein Dichter in Arrest sitzt, der Verse verfasst hat, die nicht gefallen haben.
85 Ramadan, Tariq: »Réponse au communiqué de la Commission des recherches juridiques d’al-Azhar«, http://www.oumma.com vom 28.04.2005. Vgl. auch Aoussat, Noureddine: »Epître à Tariq Ramadan à propos de son appel pour un moratoire«, http://www.oumma.com vom 24.05.2005 und die Antwort von Tariq Ramadan: »A propos du moratoire: des arguments, une attitude«, http://www.oumma.com vom 25.05.2005. 86 Vgl. T. Ramadan: Les Musulmans d’Occident…, S. 365; T. Ramadan: Etre musulman européen, S. 335. 87 Vgl. Ramadan, Tariq: »Condamner et résister ensemble«, in: Le Monde vom 03.10.2001. »Les terroristes ont trahi l’islam«, in: L’Histoire, 260 (2001). »Des responsables musulmans européens affichent leur rejet du terrorisme« und »Topkapi declaration«, http://www.tariqramadan.com vom 02.07.2006. 88 Ramadan, Tariq: »A propos du Terrorisme, des Salafis Jihadistes et de l’Occident«, http://www.tariqramadan.com vom 09.10.2012. 89 Ramadan, Tariq: »Le Centre de recherche sur la Législation Islamique et l’Ethique organise un séminaire sur ›Les principes de la bioéthique‹«, http://www.tariqramadan. com vom 04.01.2013.
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G LOBETROTTER , D ENKER , P REDIGER UND G AUKLER Über den Laizismus und die Vorstädte Auf globaler Ebene fordert Tariq Ramadan anlässlich seiner vielen Reisen seine Glaubensbrüder dazu auf, die Folie des »Kampfes der Kulturen« abzulehnen. Er ruft sie dazu auf, jegliche Opferhaltung abzulegen. Er schwört sie darauf ein, die juristische Sichtweise der Welt zu überwinden, die den dâr al-islâm [Anwesenheit des Islam] vom dâr al-harb [Anwesenheit von Krieg] unterscheidet, um »den Okzident zu einem eroberten Raum, zu einem Land der Muslime zu machen«.90 Im Allgemeinen fordert er, dass anerkannt werde, dass der »Islam, wie das Judentum, zur Bildung einer Seele Europas durch ihre Denker, ihre Philosophen, ihre Architekten, ihre Schriftsteller, ihre Künstler und ihre Kaufleute beigetragen hat«.91 Und doch hört er nicht auf, sein Unwohlsein angesichts des »Okzidents«, angesichts »Europas« und angesichts »Frankreichs« auszudrücken. Die Tatsache, dass auf der ganzen Welt Männer und Frauen Prinzipien verteidigen, die in diesem geographischen und historischen Gebiet formuliert worden sind, stört ihn so sehr, dass er schreibt, die universelle Erklärung der Menschenrechte von 1948 stelle »für Muslime ein Problem dar«, da sie von »rationalistischen Überlegungen, die seit der Renaissance im Okzident entstanden sind«, herkomme.92 Er äußert sich nicht zum Thema der »Erklärungen der Menschenrechte«, die von den Staaten, die dem Islam nahestehen, verfasst worden sind, wie die Erklärung von Dacca (1983) oder von Kairo (1990), die die »Freiheit des Gewissens« bestreiten, auf die er selbst Bezug nimmt.93 Regelmäßig warnt er vor
90 T. Ramadan: Les Musulmans d’Occident…, S. 101-102 und die Schemata: S. 135-136. 91 Ramadan, Tariq: »Le Pape Benoît XVI: comme un Bilan«, http://www.tariqramadan.com vom 25.02.2013. 92 T. Ramadan, Islam. Le face à face…, S. 348 und S. 110-113. Tariq Ramadan weist dennoch hierauf hin, um die Diskrepanz zur Realität zu bemängeln: vgl. L’autre en nous. Pour une philosophie du pluralisme, Paris: Presses du Châtelet, 2009, hier S. 246. 93 Vgl. T. Ramadan: Peut-on vivre avec l’islam?, S. 171; T. Ramadan: Les Musulmans d’Occident…, Fußnote 1, S. 249; T. Ramandan: Islam. Le face à face…, S. 104-105. und S. 258-259; T. Ramadan: Islam. La réforme radicale…, S. 127. Zu dieser Frage vgl. Avon, Dominique: »Liberté religieuse, liberté de conscience. Un angle de saisie de la problématique de la conversion au XXe siècle«, in: Béatrice Bakhouche/Isabelle Fabre/Vincente Fortier (Hg.): Dynamiques de conversion. Modèles et résistances. Ap-
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den Gefahren der kulturellen und religiösen Entfremdung in der mehrheitlich muslimischen Welt.94 Und den tunesischen Intellektuellen, die nach dem Sturz von Ben Ali ihre Ablehnung des staatlichen Projekts von Ennahda bekunden, sagt er: »Manche von Euch haben einen tunesischen Körper, eine tunesische Haut und den Geist eines Pariser Salons«.95 Was sind die Bedeutungen der Begriffe »multi-identitäres Europa«96 oder »gemeinsamer Widerstand«97, die Tariq Ramadan als seine Wünsche formuliert? Wenn der Islam »wie das Judentum, das Christentum und verschiedene philosophische Traditionen«98 einen Beitrag zur Entstehung einer europäischen Identität geleistet hat, wogegen soll man dann Widerstand leisten? Wenn die mehrheitlich muslimische Welt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem im politisch-religiösen Bereich Konzepte verwendet, deren Herkunft auf in Europa und Amerika verfassten Schriften beruht, liegt es nicht daran, dass sie dort ein Echo findet? Im Gegensatz zum Juristen Yadh Ben Achour vermeidet Tariq Ramadan Fragen zur Gewissensfreiheit99, weil dies bedeuten würde, den Islam mit dem gleichen Maßstab zu messen wie das Judentum und das Christentum. Anstatt die Bürgerrechte zu vergleichen, zieht er es vor, das Augenmerk auf die Situationen zu lenken: die der Muslime »im Okzident« wird derjenigen der Buddhisten, Hindus und Christen in Malaysia angenähert100, oder derjenigen der Christen in den arabischen, mehrheitlich muslimischen Ländern. Zwar stellen die sozialen Ungleichheiten und die rassistischen und diskriminatorischen Akte eine unbeproches interdisciplinaires, Turnhout: Brepols, »Bibliothèque de l’Ecole des Hautes Etudes. Sciences religieuses«, Bd. 155, 2012, S. 101-116. 94
Vgl. T. Ramadan: Peut-on vivre avec l’islam?, S. 170. Vgl. auch S. 151.
95
Ramadan, Tariq: Conférence à Tunis, Bayt al-Hikma, am 25.02.2012.
96
Chams, Dalia: »Les voies de l’exil«, der in Al-Ahram erschienene Artikel wurde auf der
folgenden
Webseite
veröffentlicht:
http://www.tariqramadan.com
vom
16.07.2007. 97 98
T. Ramadan: L’islam en question, S. 226-227. Vgl. auch S. 255-257. Barnavi, Elie/Di Falco, Mgr: Tariq Ramadan, Faut-il avoir peur des religions?, Paris: Editions Mordicus, 2008, hier S. 82. Vgl. auch: »Où l’Europe pourrait perdre son âme«, http://www.tariqramadan.com vom 06.06.2006.
99
Vgl. »Yadh Ben Achour: Ce qui favorise la dictature religieuse dans la Constitution«, http://www.mag14.com vom 15.01.2013. Dieser tunesische Jurist, der die »Haute instance pour la réalisation des objectifs de la révolution« leitete, ist ebenfalls Autor von: Politique, Religion et Droit dans le monde arabe, Tunis: Cérès Productions/Cerp, »Enjeux«, 1992.
100 Vgl.
Ramadan,
Tariq:»Quels
ramadan.com vom 23.07.2012.
défis,
quelle
modernité?«,
http://www.tariq
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zweifelbare Wirklichkeit dar101 und auch die Ausschreitungen in Frankreich im Jahre 2005 und in Großbritannien im Jahre 2011 zeugen von der Dringlichkeit des Problems,102 aber die Unklarheiten zwischen der Frage nach den Problemen der Immigration und denen der muslimischen Religion sind groß. Die Islamophobie wird als »neuer Rassismus« aufgefasst, obwohl die Grenzen dieses Konzeptes nicht eindeutig festgelegt sind, wie die widersprüchlichen Stellungnahmen Tariq Ramadans zu den Mohammed-Karikaturen zeigen.103 Tariq Ramadan ruft die Muslime in Europa und Nordamerika dazu auf, ihre Normen und Praktiken anzupassen.104 So betraut er sie, in Anlehnung an eine größere Bewegung von »vernünftigen gütlichen Einigungen«, mit der Aufgabe, bei der Neuformung eines gesetzlichen Rahmens mitzuwirken. Diesbezüglich ist Frankreich das konsequenteste Land105, auch wenn dort die Anwendung des laizistischen Prinzips manch eine Ausnahme kennt. Allerdings verstärken sich auch im angelsächsischen Raum die Spannungen, vor allem dann, wenn ein spezifisches Recht auf eine spezifische Kategorie von Bürgern angewendet werden soll. Geopolitik und die »Sache der Palästinenser« Tariq Ramadan hat sich generell nicht zum algerischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre geäußert, auch wenn er, in Anlehnung an die Analysen von François Burgat, darin das Resultat der repressiven Aktionen der Armee und der FLN gesehen 101 Vgl. die differenziertere Umfrage (die 2013 weitergeführt wurde) und Analyse von Farhad Khosrokhavar: L’islam dans les prisons. Voix et regards, Paris: Balland, 2004, 285 S. 102 Vgl. Ramadan, Tariq: »La Fracture sociale: la France et l’Angleterre en miroir«, http://www.oumma.com vom 08.11.2005. 103 Vgl. Avon, Dominique (Hg.): La caricature au risque des autorités politiques et religieuses, Rennes: PUR, 2010. Ramandan, Tariq: »De quelques caricatures et de quelques dérives« und »Il ne s’agit pas d’un conflit entre la liberté et le dogme«, http://www.tariqramadan.com vom 08-09.02.2006. 104 Ramadan, Tariq: Les musulmans dans la laïcité. Responsabilités et droits des musulmans dans les sociétés occidentales, Lyon: Tawhîd, 1998 [1994], hier S. 21, S. 137-141 und S. 145. 105 Vgl. Mir, Anita: »Tariq Ramadan: Dangerous thoughts«, der in Al-Ahram erschienene Artikel wurde auf der folgenden Webseite veröffentlicht: http://www.tariq ramadan.com vom 15.12.2006. Vgl. auch Ramadan, Tariq: »Seeing and understanding religious symbols«, http://www.tariqramadan.com vom 02.01.2007 und Dhombres, Dominique: »Manuel Valls contre Frère Tariq«, in: Le Monde vom 16.12.2005.
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hat. Er hat sich schon vor dem Bruch zwischen Hassan Tourabi und Umar alBachir nicht mit dem Sudan beschäftigt. Über den Krieg in Ex-Jugoslawien hat er sich ausgeschwiegen. Er macht so gut wie niemals Aussagen über den indischpakistanischen Konflikt oder über die komplexe Situation im Libanon. Er hat die Anschläge von 2001 (New York), 2004 (Madrid) und 2005 (London) verurteilt und ist dem Aufruf von Toni Blair gefolgt, an einer Task Force mitzuarbeiten, die sich mit den Ursachen des Extremismus und möglichen Lösungen beschäftigt.106 Seine Aussagen über die Politik der Vereinigten Staaten und des Nahen Ostens greifen sehr verbreitete Analysen auf und werden daher kaum in Frage gestellt. Sein Interesse gilt insbesondere dem »israelisch-palästinensischen Konflikt«, der für ihn als »universeller Konflikt alle Dimensionen des Kampfes der Kulturen« in sich vereint.107 Er behauptet, dass die Palästinenser unter einem Regime der Apartheid leben, das hinterhältiger und grausamer sei, als das in Südafrika vor 1994.108 Tatsache sei, dass Israel trotz Verletzung zahlreicher internationaler Resolutionen wie kein anderer Staat straffrei bleibe. Ferner sei es wahr, dass, selbst wenn das Regime auch liberal, es dennoch nicht demokratisch sei, da israelische Bürger je nach Nationalität nicht über die gleichen Rechte und Pflichten verfügen. Tatsache sei weiterhin, dass die Vereinigten Staaten seit 1967 ihren Verbündeten bedingungslos unterstützen, während Europa sich als ohnmächtig erwiesen hat. Tariq Ramadan hat einen offenen Brief mitunterzeichnet, der zum Dialog zwischen Muslimen und Juden aufruft109, während er andererseits aber schreibt, dass »die Vereinigten Staaten außer Israel keine Freunde, sondern nur Interessen, haben und dass Israel nur die Macht besitzt, die ihm die Schwäche der Araber, der Ungläubigen, der Christen und der Muslime, der Sunniten und der Schiiten, der Laien und der Islamisten verschafft.110 Und er widerspricht der Wirklichkeit, indem er beteuert, dass »die Mehrheit der Führer [der Hamas] zum
106 Vgl. Ramadan, Tariq: »Au sujet de mes engagements en Grande-Bretagne«, http://www.oumma.com vom 07.09.2005. 107 Ramadan, Tariq: »Palestine, Israël et la conscience planétaire«, http://www.tariqramadan.com vom 02.01.2007. Vgl. auch: »L’idéologie de la peur ou la globalisation du syndrome israélien«, http://www.oumma.com vom 27.11.2005. 108 Vgl. Ramadan, Tariq: »Leçons sud-africaines«, http://www.tariqramadan.com vom 12.11.2012. 109 Vgl. »An Open Letter: A Call to Peace. Dialogue and Understanding between Muslims and Jews«, http://www.tariqramadan.com vom 25.02.2008. 110 Ramadan, Tariq: »Crise en Egypte: du bon usage des islamistes«, http://www.tariqra madan.com vom 10.12.2012.
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Dialog auffordern und niemals davon gesprochen haben, die ›Juden ins Meer zu werfen‹«.111 Er rechtfertigt den Kampf gegen den Zionismus mit der Verlängerung des Kampfes der ägyptischen Muslimbruderschaft gegen eine koloniale Aggression. Er verheimlicht die eigentlich religiöse Ausrichtung der OS (Geheimen Organisation), genauso wie die antisemitischen Worte und Akte der Zeit um 1930.112 Tariq Ramadan beruft sich nicht auf die Gründung Pakistans, an der sein Vater ideologisch und diplomatisch mitgearbeitet hat. Und doch ist dieser Staat zur gleichen Zeit und aus einem ähnlichen Grunde wie Israel erschaffen worden: nämlich aus der Ablehnung einer religiösen Minderheit, die nicht innerhalb einer anderen religiösen Mehrheit leben wollte. So schweigt er bezüglich der Verbindungen, die die Muslimbruderschaft nach 1945 mit den Vereinigten Staaten unterhalten hat, während die verschiedenen Verwaltungen die muslimische Identität verschiedener arabischer oder ostasiatischer Organisationen als Vorwand genutzt haben, um gegen den »Kommunismus und Atheismus« zu kämpfen.113 Die Veröffentlichung eines Fotos, auf dem Saïd Ramadan als Mitglied einer Delegation auftaucht, die den Präsidenten Eisenhower114 besucht, und die späteren Berichte über seine Kontakte zu Bob Dreher, der ein CIA-Agent in München gewesen ist, bringen ihn in Verlegenheit. Tariq Ramadan lehnt es ab, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen115, genauso wie mit der zwischen seinem Vater und den jordanischen Behörden. Wenn er zugibt, dass Saïd Ramadan von SaudiArabien finanziell unterstützt worden ist, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit der Gründung des Islamischen Zentrums in Genf (1961), erwähnt er weder die Islamische Gemeinschaft in Deutschland, die Muslime, die aus der Roten Armee stammten, aufgenommen hat, noch die europäischen Vertretungen der globalen Islamischen Liga (1962). Er zieht es vor, auf die spätere Isolierung seines Vaters hinzuweisen, nachdem es Saudi-Arabien nicht gelungen war, seinen Schützling zu kontrollieren. 111 T. Ramadan: L’islam en question, S. 123. 112 Vgl. die Debatten über das Werk von Matthew Kuntzel: Jihad and Jew Hatred, ins Französische übersetzt unter dem Titel: Djihad et la haine des Juifs (Vorwort von Pierre André Taguieff), Paris: L’œuvre éditions, 2009, S.180. 113 Johnson, Ian: Une mosquée à Munich. Les nazis, la CIA et la montée des Frères musulmans en Occident, Paris: Jean-Claude Lattès, »Essais et Documents«, 2011. 114 Das Treffen fand im Juli 1953 statt, vgl. Naba, René: »Le rôle mobilisateur de Saïd Ramadan«, http://www.oumma.com vom 27.10.2013. René Naba hatte das Foto bereits in Les révolutions arabes à la malédiction de Camp David veröffentlicht. 115 Vgl. »Quand la CIA finançait les Frères musulmans«, http://www.lepoint.fr vom 06.12.2012.
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Arabischer Frühling und Schwierigkeiten in Schwarzafrika In den 2000er Jahren bekräftigt Tariq Ramadan, nicht an die Wirksamkeit der UNO zu glauben, »eine international ausgeglichene Ordnung herzustellen«, er entwirft eher die Idee »einer populären Mobilisierung, die eine Front des Widerstandes begründet«.116 Zehn Jahre später begrüßt er den Sturz der Despoten Ben Ali und Mubarak, aber seine Lesart ist, dass die »Kräfte, die die Aufstände begleitet haben, weder spontan noch uneigennützig waren«.117 Er bringt die Möglichkeit eines »von fremden oder inneren Parteien geschriebenen Szenarios«118 ins Spiel, von dem ausgehend er die Geschehnisse von 2003 bis 2013 als politischen Willen und Strategie der Vereinigten Staaten deutet, die er auf zwei geopolitische Kriterien hin definiert: namentlich als Willen, einen relativen Machtverlust in der Region gegenüber der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China)119 auszugleichen und das Zentrum der Spannungen des Nahen Ostens nach Osten zu verlagern, um Israel zu entlasten.120 Die Interventionen in Libyen und in Mali analysiert er als eine »ausgeklügelte Form einer neuen Entfremdung« mit »den letzten Schüssen, die von diesem absterbenden Okzident abgefeuert werden, der an seinen wirtschaftlichen, politischen und identitären Zweifeln und Krisen erstickt.«121 Wenn er auch zugibt, dass »eingegriffen werden musste«, fügt er hinzu, dass die westlichen Mächte das Entstehen dieser bewaffneten islamistischen Bewegungen jahrelang zugelassen haben, nur um dann im Namen wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen in den betroffenen Gebieten Fuß fassen zu können.122 Er fordert so die Reaktion von Bakary Sambé heraus, der eine Warnung an die »traditionelle afrikanische Linke« und die »Neo116 T. Ramadan: L’islam en question, S. 211. 117 Vgl. Ramadan, Tariq: L’islam et le réveil arabe, Paris: Presses du Châtelet, 2011. Der Vorschlag wurde veröffentlicht in: »Egypte: une élection pour rien?«, http://www.tariqramadan.com vom 29.06.2012. 118 Ramadan, Tariq: »Egypte: des élections, et quelques questions«,
http://www.tariq
ramadan.com vom 28.05.2012. Die Formulierung »in Szene setzen« wurde kurze Zeit später verwendet in dem Beitrag: »Les Frères musulmans face à l’histoire«, http://www.tariqramadan.com vom 11.06.2012. 119 Ramadan, Tariq: L’islam et le réveil arabe, Paris: Presses du Châtelet, 2011, hier S. 11. 120 Vgl. Ramadan, Tariq: »Un étrange renversement de situation«, http://www.tariq ramadan.com vom 08.11.2012. 121 Ramadan, Tariq: »Le Mali, la France et les Extrémistes«, http://www.tariq ramadan.com vom 17.01.2013. 122 Vgl. Sendung Infrarouge auf RTS: »Débat sur la France au Mali« vom 22/01/2013.
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Islamisten« ausspricht. Für den senegalesischen Islamologen haben die Araber den Europäern in Sachen Paternalismus oder Darstellung der Schwarzen in ihrer Geschichtsschreibung keine Lektionen zu erteilen, da sie sich selbst in einem Rahmen »der spirituellen Inferiorität des afrikanischen Muslime« befinden: »[Tariq Ramadan] hat es weder vermocht noch gewollt, vehement auf den ideologischen Imperialismus der Länder und Organisationen der arabischen Welt hinzuweisen, die unter dem Deckmantel der Islamisierung Afrikas, Bewegungen und NGOs unterstützen, die heute die Existenz von Mali in Frage stellen.«123 In Sachen demokratischer Referenz widerspricht Abdelwahhab Meddeb Tariq Ramadan. Meddeb fordert Ramadan dazu auf, anzuerkennen, dass die Gründungselemente der Demokratie, die die Demonstranten in den arabischen Ländern so sehr angezogen haben, »moderne politische Erfindungen« sind, die man nicht abstreiten kann. Ramadan behauptet nämlich, dass »sich das politische Denken der Islamisten in den letzten dreißig Jahren gewandelt hat«, und würde gerne »endogene demokratische Modelle«, die einer kulturalistischen Auffassung der Welt verpflichtet sind, zum Vorschein kommen sehen.124 Wie schon in mehreren seiner Schriften verteidigt er auch hier seine »fünf unveräußerlichen Prinzipien«: »den Rechtsstaat; die Gleichheit der Bürger; das universelle Wahlrecht; die Verpflichtung zur Transparenz; die Gewaltenteilung«.125 Meddeb kontert, es gebe keinen dritten Weg außer der »Volks-« und der »Gottessouveränität«, aber Ramadan lehnt es ab, die Frage nach der Heterogenität der Rechtsquellen zu beantworten.126 Im Anschluss an diese Debatte hat er sein Bedauern darüber geäußert, dass die Muslimbruderschaft in Ägypten zu früh aus der Rolle eines politischen Gegengewichts geschieden ist, während er für Tunesien weiterhin die Formel der »Troika« verwendet.127 Er analysiert nicht die Versuche, Staaten mit »islamischer Referenz« zu bilden. Er spricht ausschließlich von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der geostrategischen Bedeutung und der bremsenden Wirkung der »Laien« (Integristen oder Populisten) oder der »wortgenauen,
123 Sambé, Bakary: »Occupation du Nord-Mali: l’autre vrai paternalisme occulté par Tariq Ramadan«, http://www.lescahiersdelislam.fr vom 26.01.2013. 124 Vgl. »De la charia à l’islamophobie, de l’homosexualité au statut de la femme«, http://www.lemonde.fr vom 22.04.2011. 125 Diese »fünf Prinzipien« wurden in mehreren Publikationen zitiert, z.B.: T. Ramadan: L’islam et le réveil arabe, S. 188. 126 Vgl. »De la charia à l’islamophobie, de l’homosexualité au statut de la femme«, http://www.lemonde.fr vom 22.04.2011. 127 Tariq Ramadan wurde von Präsident Moncef Marzouki am 26.02.2012 in Tunis empfangen.
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ja dschihadistischen Salafisten«128 und gibt nicht zu, dass der »zivile Staat« der ägyptischen Muslimbruderschaft ein Staat ist, der legal auf der Ungleichheit seiner Bürger aufbaut: Männer – Frauen, Muslime – Nicht-Muslime. Was den Raum angeht, den man der Freiheit lässt, so steht dieser unter der Kontrolle offizieller muslimischer Institutionen (Al-Azhar, Zitouna) oder kommt von zivilen Organisationen, die ihn im Namen des »Gesetzes« oder der »guten Sitten« ausdeuten.129 *** Muslime und Nicht-Muslime werden gleichermaßen von den Reden Tariq Ramadans angezogen, der seinerseits sehr häufig Opfer von substanzlosen Anschuldigungen ist.130 Aus einer Richtung jedoch wird Kritik geäußert. Diese betrifft sowohl den sozialen131 als auch den wissenschaftlichen und politischen Bereich.132 Die Frage lautet: Wie kann man über ein und dieselbe Sache in der Astronomie, der Biologie, der Linguistik, der Geschichte und in anderen Disziplinen sprechen, indem man die Sprache des Glaubens verwendet? Wie kann man einerseits von »Demokratie« sprechen und andererseits ihre Besonderheiten so definieren, dass sie im Namen von anderen »Referenzen«, einer anderen »Konzeption des Menschen« und einer anderen »Rationalität« ihrer Definition zuwiderlaufen?133 Diese integralistische Haltung ist nicht nur Tariq Ramadan eigen, son128 Ramadan, Tariq: »Le Moyen-Orient de tous les dangers et de l’espérance«, http://www.tariqramadan.com vom 03.12.2012. Und: »Crise en Egypte: du bon usage des islamistes« vom 10.12.2012. 129 In Tunesien war dies mit Adel 'Ilmi der Fall, der von Ennahda unterstützt wurde, welcher den Verein « Commanderie du Bien et du pourchas du Mal » schuf. Vgl. Avon, Dominique und Aschi, Youssef: « Ennahda 2012. Première année de l’exercice partagé du pouvoir en Tunisie », http://religion.info/pdf/2012_05_ Avon_Aschi.pdf. 130 Vgl. Taylor, Charles: »Berman is wrong, we should welcome Ramadan«, http://www.tariqramadan.com vom 31.12.2007. 131 »Zwischen allen Fronten. Der Genfer Islamwissenschafter Tariq Ramadan polarisiert und spaltet auch die reformwilligen Muslime«, http://www.nzz.ch vom 12.11.2009. 132 Dies ist der Fall von Kishwer Falkner, Baronin von Margravine, einzige Muslimin im House of Lords. 133 T. Ramadan: L’islam en question, S. 294. Vgl. auch seine Angst vor einem »Humanitarismus hin zu einem Totalitarismus«, in: Ramadan, Tariq: »Quel humanisme pour l’islam?«, http://www.tariqramadan.com vom 03.07.2006.
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dern sie existiert auch unter den Gläubigen anderer Religionen. Sie wird durch die freie Bewegung der Menschen, des Wissens und der Informationen sogar noch verstärkt. Tariq Ramadan spricht von »Freiheit«, von »staatsbürgerlicher Gleichheit« und von »Gewaltenteilung«, aber er weigert sich, anzuerkennen, dass die grundlegenden Prinzipien der philosophischen und politischen Moderne dieselben Herausforderungen an den Islam wie an das Christentum, das Judentum und an alle Religionen, die einen ganzheitlichen gesellschaftlichen Anspruch haben, stellen. Seinem Urteil nach muss der Islam gesondert betrachtet werden, da er eine Synthese ist, die den Ziel- und Endpunkt der Auseinandersetzung zwischen These (Olymp) und Antithese (Kirche) darstellt.134 So schreibt er 2007, dass der »post-revolutionäre Iran (1979) Prinzipien einer realen Demokratie zur Anwendung135 gebracht habe, die beispielsweise die Wahl der reformistischen Bewegung in Person Khatamis ermöglicht hätten«, und er fügt hinzu, dass »dieses Experiment offensichtliche Grenzen hatte, und zwar in Form der Rolle, die der ›höchsten religiösen Referenz‹ (dem Ayatollah Khomeiny, später Khamenei) zugedacht war, und dass es daher nötig sei, eine klare Kritik zu äußern, aber zugleich auch die Realität der Abweichung gegenüber anderen benachbarten arabischen Ländern zu sehen«.136 Jedoch ist das Prinzip des wilayat al-faqîh (der Amtsautorität der Juristen)137 nicht ein Anhängsel des Regimes, sondern sein Zentrum. Tariq Ramadan scheint diese Tatsache einzusehen, wenn er 2011 von »einer Art Theokratie« spricht; er schreibt aber gleichzeitig, dass Yusuf alQaradhâwî und Rached Ghannouchi »recht schnell das Prinzip der Demokratie akzeptiert« hätten138 – ein Widerspruch, der eine allgemeine Verwirrung bezüglich der Wortbedeutungen nach sich zieht. Das Problem letztverbindlicher Lehrautorität im Islam übersteigt den persönlichen Fall eines Mannes. Die Wiederholung des zustimmenden Ausdrucks »die 134 Vgl. T. Ramadan: Islam. Le face à face…, Fußnote 180, S. 357. 135 Der Begriff wurde später verwendet in: Ramadan, Tariq: »Cessons d’entretenir la méfiance sur la révolte des peuples musulmans«, http://www.lemonde.fr vom 11.02.2011. Der Ausdruck «reale Demokratie» wurde bekanntermaßen von der Befehlsgewalt in Peking verwendet, um die Existenz der spezifischen »chinesischen Werte« hervorzuheben. 136 Ramadan, Tariq: »La relation de l’autorité religieuse et de l’Etat dans une démocratie. Le cas musulman«, http://www.tariqramadan.com vom 09.03.2007. 137 Therme, Clément: »De la nature du régime iranien«, in: Relations internationales, 154 (2013). Und: Avon, Dominique/Khatchadourian, Anaïs-Trissa: Hezbollah. De la doctrine à l’action, une histoire du ›parti de Dieu‹, Paris: Seuil, 2010, hier S. 234238. 138 T. Ramadan: L’islam et le réveil arabe, S. 167-173 und S. 180-182.
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überwiegende Mehrheit der muslimischen Denker und Gelehrten [sagt, dass/denkt, dass]« kann einer Überprüfung hin auf die Fragmentierung des Wissensmonopols innerhalb wie außerhalb der mehrheitlich muslimischen Gesellschaften nicht standhalten. Die Spannungen und Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vor allem zwischen Sunniten und Schiiten, demonstrieren diesen Bruch, auch wenn es wichtig ist, daran zu erinnern, dass der religiöse Faktor nur ein Element unter vielen anderen zur Erklärung sein kann. Bezüglich der Orthodoxie und der Orthopraxie ist für Tariq Ramadan charakteristisch zu definieren, was der »gute Islam«139 sei und was nicht. Er hat mehrfach das Angebot abgelehnt, am Europäischen Rat für Fatwa und Forschung oder bei der Gesellschaft muslimischer Wissenschaftler teilzunehmen,140 aber er hat regelmäßig Kommentare über ihre Themen verfasst und sogar das Vorwort für den ersten auf Französisch veröffentlichten Band des fatâwâ.141 In der Art der traditionellen Gelehrten, aber in moderner Sprache, möchte er dafür sorgen, dass akzeptiert wird, dass »die Texte über den huddûd (religiöses Strafrecht) authentisch sind und das betreffen, was als Wesen der Religion anerkannt ist«.142 Nach diesem Maß müssten zahlreiche Gelehrte, die zur Belebung der muslimischen Philosophie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beigetragen haben, als außerhalb des »guten Islam« stehend angesehen werden: Mansûr Fahmy, Qâsim Amîn, Taha Husayn, Alî Abd al-Razîq, Hassan Hanafi, Yadh Ben Achour und sogar sein Onkel Gamâl alBannâ. Und diese Liste ist nicht erschöpfend, sie soll nur einem europäischen Publikum, das allzu oft diese Wirklichkeit verkennt, aufzeigen, dass in der Vergangenheit das Denken im mehrheitlich muslimischen Milieu arabischer Sprache reich und verschiedenartig gewesen ist.
139 Der Begriff wurde am 04.01.2012 während der Sendung »Fil rouge« des Radiosenders RTL verwendet. 140 Vgl. http://tariqramadan.com/english/biography/. 141 Vgl. al-Qardâwî, Yûsuf: Recueil de fatwas. Avis juridiques concernant les musulmans d’Europe, Vorwort und Kommentar von Tariq Ramadan, Lyon: Editions Tawhid, 2002. 142 Ramadan, Tariq: »Réponse au communiqué de la Commission des recherches juridiques d’al-Azhar«, http://www.oumma.com vom 28.04.2005.
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Criticism of Islam. Responses of Dutch Religious and Humanist Organizations Analyzed S IPCO J. V ELLENGA
I NTRODUCTION During the last five decades Islam has emerged as Europe’s second religion after Christianity.1 In a relatively short period the number of Muslims in Western Europe has increased to more than 15 million and Islam has become a fixed part of Europe’s religious landscape. Arguably, Islam will be one of the forces that shape Europe’s cultural future. The presence and increasing visibility of Islam in Europe has evoked various responses. One of them – and a very important one from a political point of view – is that of criticism of Islam, or, in its harsh and xenophobic form, anti-Islamism or Islamophobia.2 In a number of European countries, so-called nationalistpopulist parties have emerged that show a deep aversion to Islam and Muslim migrants. Examples are the Flemish Block (Vlaams Blok) in Belgium, the Danish People’s Party (Dansk Folkeparti) in Denmark, the Swiss People’s Party 1
Jenkins, Philip: God’s Continent. Christianity, Islam and Europe’s Religious Crisis, Oxford: Oxford University Press, 2007; Nielsen, Jørgen: Muslims in Western Europe, Edinburgh: Edinburgh University Press, 32010.
2
It makes sense to distinguish ›Islam criticism‹ and ›Islamophobia‹. Islam criticism is a much broader concept than Islamophobia. That concept is coined by the Runnymede Trust report: Islamophobia: a challenge for us all, London: Commission on British Muslims and Islamophobia, 1997. Nevertheless this report used a rather broad definition of Islamophobia, it also noted that: »in a liberal democracy it is inevitable and healthy that people will criticize and oppose, sometimes robustly, opinions and practices with which they disagree« (Runnymede Trust: Islamophobia, p. 4).
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(Schweizerische Volkspartei) in Switzerland, the National Front (Front National) in France and the Party for Freedom (PVV, Partij voor de Vrijheid) in the Netherlands. Expressions of Islam criticism have given rise in many European countries to heated debates about the character of Islam and the freedom Muslims in Europe should have, individually and collectively, to express their religion in the public domain. The focus of this contribution will be on the way leaders of Muslim and non-Muslim organizations have responded to these expressions during the last decade. How did they respond to them and why? For practical reasons, I will limit this article to the situation in the Netherlands. However, I assume that the situation in this country is to a high degree comparable with that in most other Western European countries where Islam has become an important topic in the public debate. This contribution is based on a research project which I have conducted in collaboration with Gerard Wiegers.3 This contribution is structured as follows: first, I will present the research questions that will be answered here, specify the main concepts and refer to the methods used in the empirical research. Next, I will outline the context of selected expressions of Islam criticism will be outlined. Then, I will present the findings. The presentation of the factors which have significant impact on the responses to these expressions will start with the presentation of a theoretical model. The central notion in this model is, as we shall see, framing. In conclusion, I will summarize the main results and make a remark on the effects of the responses to the selected expressions on the escalation or de-escalation of the controversy in the Netherlands over Islam and Muslims.
R ESEARCH
QUESTIONS
This article focuses on two questions: How did the leaders of nationwide Muslim and non-Muslim organizations in the Netherlands respond to selected expressions of Islam criticism between 2004 and 2010? What are the factors that influenced their responses? With regard to these questions, the following should be noted. First, it is useful to make a distinction between three types of responses by leaders to Islam critical expressions: their response in the public debate, or the public response; their response within their own organizations, or the internal response; and their
3
Vellenga, Sipco J./Wiegers, Gerard A.: Religie, binding en polarisatie, The Hague: WODC, 2011.
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response with regard to the connection to other religious and humanist organizations, or the external response. Second, the focus is on five expressions of Islam criticism: the film Submission, the Danish cartoons, the film Fitna, the Internet film An interview with Mohammed, and the Swiss ban on the building of new minarets and its Dutch aftermath. The film Submission was made by the Dutch MP Ayaan Hirsi Ali and the filmmaker Theo van Gogh. It was broadcast on Dutch television on August 29, 2004, and depicted in four short scenes the deplorable situation of four Muslim women. On November 2, 2004, Theo van Gogh was killed by Mohammed Bouyeri, who was raised in a Moroccan Dutch family. On September 30, 2005, the Danish newspaper Jyllands-Posten published twelve cartoons of the Prophet Mohammed. Among them the cartoon of the Prophet with a bomb in his turban and the Shahada – the Muslim declaration of faith, drew by Kurt Westergaard. Five month later, the cartoons were object of emotional protests across the world, from Asia to Europe. The film Fitna, produced by the Dutch MP Geert Wilders, was released on the Internet on March 27, 2008. It shows a number of images of Muslims and violence and anti-Semitism. The last picture of the film was the cartoon of Kurt Westergaard mentioned above. The internet film An Interview with Mohammed, made by Ehsan Jami, was posted on the Internet on December 9, 2008. It is an interview in which Jami poses questions to a masked actor who plays the role of Mohammed on issues concerning the rights of women, Jews and infidelity. On November 29, 2009, the Swiss voters supported a referendum proposal to ban the building of minarets. Four days earlier, the Dutch MP Van der Staaij, member of the Calvinist party SGP, requested the government in a motion to be reserved with regard to legal admitted activities, such as the construction of minarets, as these activities could contribute to feelings of alienation and the erosion of historical Dutch identity among native Dutch people. The motion was rejected by the majority of the Dutch parliament some days after the Swiss referendum. Without doubt, of all these five expressions Fitna caused the largest upheaval in the Netherlands. Third, we studied the leadership of 21 Dutch organizations, ten of which were Muslim, five Christian, three Jewish, one Hindu, one Buddhist, and one Humanist. In selecting these, we used the following criteria: operating at the national level; contacts with public authorities; ethnic diversity; religious diversity; and an equal distribution between Muslim and non-Muslim organizations. Most of the Muslim organizations under consideration are members of one of the two liaison organizations which are acknowledged by the Dutch government and claim to represent the overwhelming part of Dutch Muslim communities, namely the Islamic Council of the Netherlands (CMO, Contactorgaan Moslims en Over-
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heid) and the Dutch Muslim Council (CGI, Contact Groep Islam). We studied the following CMO members: the Union of Moroccan Mosques in the Netherlands (UMMON, Unie van Marokkaanse Moskeeën in Nederland), the Islamic Foundation of the Netherlands (ISN, Islamitische Stichting Nederland; Turkish; Diyanet), the Islamic Center of the Netherlands Foundation (SICN, Stichting Islamitisch Centrum Nederland; Turkish; Süleymanli), the Dutch Islamic Federation (NIF, Nederlandse Islamitische Federatie; Turkish; Mili Görüs), the Shi`ite Umbrella Association (OSV, Overkoepelende Sjiitische Vereniging); the following CGI members: the Union of Lahore Muslim Organizations in the Netherlands (ULAMON, Unie van Lahore Moslim Organisaties Nederland Surinamese; Lahore Ahmadiyya), the Federation of Alevi Associations in the Netherlands (HAK-DER, Federatie van Alevitische Verenigingen in Nederland), the Federation of Islamic Organizations in the Netherlands (FION, Federatie Islamitische Organisaties Nederland); and two ›independent‹ Muslim organizations: the Islam & Dialogue Foundation (SID, Stichting Islam & Dialoog; Turkish; Gülen movement) and the National organization of Muslim women in the Netherlands (Al Nisa). In addition to consulting the leaders of these Muslim organizations, we referred to the leadership of five Christian organizations: the Council of Churches in the Netherlands (RvK ,Raad van Kerken in Nederland), the RomanCatholic Church (RKK, Rooms-Katholieke Kerk), the Protestant Church in the Netherlands (PKN, Protestantse Kerk in Nederland), the Being Church in the Netherlands Foundation (SKIN, Samen Kerk in Nederlands; migrant churches), the Christian Reformed Churches in corporation with the Gospel & Muslims Foundation (CGK, Christelijke Gereformeerde Kerken; E&M, Stichting Evangelie & Moslims), three Jewish organizations: the Central Jewish Committee (CJO,Centraal Joods Overleg), the Dutch-Jewish Congregation (NIK, Nederlands–Israëlitisch Kerkgenootschap), the Dutch Association for Progressive Judaism (NVPJ, Nederlands Verbond voor Progressief Jodendom); and three other organizations: the Buddhist Union of the Netherlands (BUN, Boeddhistische Unie Nederland), the Hindu Council for the Netherlands (HRN, Hindoe Raad Nederland) and the Humanist Union (HV, Humanistisch Verbond). In order to answer the aforementioned questions, we explored three sources. Firstly, we conducted semi-structured interviews with leaders of the selected 21 organizations. In addition, we collected and analyzed documents about these leaders and their organization. The Internet was an important source. Thirdly, we studied secondary literature about these organizations in order to get a more nuanced picture of them, the way they function, their world-views, history, internal structure, external connections and position in society.
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We analyzed the documentation as well as the transcriptions of our interviews. The transcriptions are analyzed according to the common methods of qualitative research of open, axial and selective coding.4 Our final analyses of the leaderships’ responses have been presented to our respondents, allowing them to correct possible mistakes. All references to organizations should be understood as a reference to their leaderships.
C ONTEXT The overwhelming majority of the Muslims in the Netherlands are of Turkish, Moroccan or Surinam origin. The first Turkish and Moroccan immigrants settled down in the 1960s. They were single male laborers who expected to return home after a short stay. By the mid-1970s, however, many of these workers decided to prolong their stay and a process of family reunion started. The first Surinam Muslims came in the 1950s. Their numbers increased rapidly in the early-1970s, after the Dutch government announced that the colony of Suriname would become independent in 1975. Since the end of the 1970s, a third category of Muslim immigrants has entered the Netherlands, consisting of political refugees from mainly Iran, Iraq, Afghanistan and Somalia. Due to these developments, the number of Muslims has increased rapidly in the Netherlands, from 51,000 in 1971 to approximately 380,000 in 1988 and subsequently to more than 900,000 at the present time – approximately 6 percent of the Dutch population.5 Many factors contributed to the emergence of a public and political debate on Islam in the Netherlands. This rise was not only the upshot of the rapid growth of the number of Muslims, but probably more important, the increasing visibility of Islam, the stronger religious identification of migrants from the Muslim world, the rise of political Islam and Muslim militantism as well as the higher value put in the media on the cultural dimension of integration of migrants in Dutch society. It can be argued that this debate started with the Rushdie affair in 1989 and became more intense after the turn of the century.6
4
Strauss, Anselm/Corbin, Juliet: Basics of Qualitative Research, Thousand Oaks/ London/New Delhi: Sage Publications, 1998; Kvale, Steinar: Doing Interviews, Los Angeles/London/New Delhi: Sage, 2011.
5
FORUM: Factbook - The Position of Muslims in the Netherlands: Facts and Figures, Utrecht: FORUM, 2010.
6
See Peters, Ruud/Vellenga, Sipco J.: »Contested Tolerance: Public Discourses in the Netherlands on Muslim Migrants«, in: Monica Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan (eds.),
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Within this debate various discourses can be noticed. One of them is the discourse of Islam criticism. In the first half of the first decade of this century this discourse became leading, in the sense that Islam critics got the power to set the agenda of the debate while other participants were compelled to respond to their contributions. In the autumn of 2001, in the aftermath of ›9/11‹, the scholar and politician Pim Fortuyn, who rejected the hitherto existing policy of multiculturalism, decided to stand in the May 2002 elections. In his election campaign, he promised, among many other things, to make every effort to defend Dutch society against the threat of ›Islamization‹. On 6 May 2002, however, he was murdered by a (non-Muslim) Dutch animal rights activist, an action that profoundly shocked the population. Nine days later his party, the List Pim Fortuyn (LPF, Lijst Pim Fortuyn), won a sweeping election victory and became the secondlargest party in parliament after the Christian Democrats, with 26 of the 150 seats. From 2002 onwards, Somali-born Ayaan Hirsi Ali has become a prominent figure in the public debate about Islam and multiculturalism. In collaboration with Theo van Gogh, filmmaker and publicist, she produced the film Submission. On 2 November 2004, Theo van Gogh was stabbed to death by Mohammed Bouyeri, a Dutch youth of Moroccan descent. In February 2006, Ayaan Hirsi Ali declared, in connection with the publication of the cartoons about Muhammad in the Danish newspaper Jyllands Posten, that she wanted to defend the right to freedom of speech as a right to offend hard-line Muslims.7 In the summer of 2006, she left the Netherlands for a position with the American Enterprise Institute, a neo-conservative think-tank in Washington DC. Ayaan Hirsi Ali’s negative views on Islam resonate in the work of many other Dutch opinion makers and politicians. In 2006, Geert Wilders founded the PVV, which presents itself explicitly as an anti-Islam party. The negative view of Wilders on Islam radicalized. Since 2007 he has not longer characterized Islam as a backward religion incompatible with so-called western values, but as fascist ideology. »The root of the problem is fascist Islam. The sick ideology of
Soziale Welt Sonderband 17: Konfliktfeld Islam in Europa, München: Nomos, 2007, p. 221-240; Vellenga, Sipco J.: »›Huntington‹ in Holland. The Public Debate on Muslim Immigrants in the Netherlands«, in: Nordic Journal of Religion and Society 21(2008), p. 21-42. 7
Hirsi Ali, Ayaan: The Right to Offend, Speech in Berlin on February 9, 2006. Available from http://vorige.nrc.nl/opinie/article1654061.ece/The_Right_to_Offend (accessed October 15, 2013).
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Allah and Mohammed as laid down in the Islamic Mein Kampf: the Koran.«8 In March 2008, Geert Wilders released the anti-Islam film Fitna. At present, his party holds 15 seats in the Dutch parliament. The rise of the Islam critical voice in the Netherlands has led to a heated public debate. This critical voice has been contested by people who advocate a more positive view on Islam and/or a pluralist society. They reproach members of the anti-Islam camp for being intolerant and feeding social unrest. This debate takes place on a national level in particular by politicians, journalists, writers and academics. Here my focus is on the way leaders of religious and humanist organizations have responded to expressions of Islam criticism.
P ATTERNS
OF RESPONSE
Before presenting the patterns of response that can be observed with the organizations researched, it is important to notice that we can distinguish three positions in the field or system of Islam criticism.9 If we put it in judicial terms, first there is the party of the persecutor (accuser), namely the party of the Islam critics, second there is the party of the defendant (accused), namely the party of the Muslim organizations whose religion is criticized, and third there is the party of the bystanders, namely the party of the non-Muslim organizations. The first research question is about the party of the accused and bystanders: what patterns of response can we trace among the leaders of the selected Muslim and nonMuslim organizations? I will start with the response of the Muslim organizations.
8
Wilders, Geert: »Genoeg is genoeg: Verbied de Koran«, in: De Volkskrant, August 8, 2007.
9
In his article Religion and Conflict the Belgian social scientist Luc Reychler, for instance, emphasizes that the roles religious organizations play in conflict situations are strongly influenced by the positions they take within those situations (Reychler, Luc: »Religion and Conflict«, in: The International Journal of Peace Studies 2 (1997), p. 1-11). They can act as conflicting parties, but also as bystanders, as the non-Muslims organizations in our research. Religious bystanders can adopt a neutral stand, but can also choose to intervene. They can decide to support one of the conflicting parties or can take the role of a peace-builder or peace-maker.
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M USLIM
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Three types are discernible in the responses by Muslim organizations: resignation/ avoidance, defensive/ disapproval, and offensive/counteracting. I underline that the responses are mostly more complex and ambivalent than these terms suggest and show always a certain variance, depending on the topic to which a specific response applies. Resignation/ avoidance: These responses show a certain indifference. The leaders feel that the criticism does not apply to their organization and can safely be ignored. »This isn’t about us. It’s about other Muslims«, a leader of the Ahmadiyya association ULAMON said. Reaching out to the critics or to other religious or humanist organizations is no priority in this type of response, which can be found beside the leaders of the ULAMON with the leaders of the Süleymanli association SICN and the Alevi association HAK-DER. Defensive/ disapproval: In this case, the leaders do take the criticism to heart, but refrain from taking public action, either because they feel incapable of doing so or because they do not see it as part of their responsibility. According to Dr. Bülent Senay, president of the Turkish Dutch ISN, for example, it is the responsibility of Dutch society, or broader, of European society to combat expressions of anti-Islamism, not of Muslims. Beside ISN, this type of response is discernible with the Gülen organization SID and the Shia association OSV. Offensive/ counteracting: This type of response is characterized by active involvement. The leaders respond to the Islam-critical expressions in whichever way they find suitable, such as filing law-suits, issuing public statements, launching poster campaigns, or strengthening their ties with non-Muslim organizations. The Islamic women organization Al NISA for example, has actively participated in the public debate on Islam since 2004. Its aim is to counteract the negative image of Islam. To this end it has launched several times humorous poster campaigns, such as in 2007 which was entitled ›Real Dutch‹. Al Nisa has always been in favour of working with other religious and societal organizations that share its emancipatory aims. Furthermore this type of response is shown with the Moroccan Dutch UMMON, the Turkish Dutch NIF and the ›Arabic oriented‹ FION.
N ON -M USLIM
ORGANIZATIONS
The responses by non-Muslim organizations can be characterized as supportive, non-committal, and critical.
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Supportive: These responses express solidarity to the ›accused‹ Muslims and Muslim organizations when Islam is – in their eyes - insulted. They advocate the right to freedom of expression but condemn insults against the Prophet or the Koran. The response may be limited to issuing public statements, but may also encourage more dialogue and cooperation. In response to the killing of Theo van Gogh, for example, the leaders of the RKK in the Netherlands raised the status of their dialogue activities to that of the highest level of the Conference of bishops and set up, related to that, a Council for Interreligious Dialogue (CID; Contactraad Interreligieuze Dialoog). This Council has taken many interreligious and cultural dialogue initiatives and has responded publicly to all mentioned expressions of Islam criticism, except to the film Interview with Mohammed and the Swiss minaret affair. This type of response is displayed by the mainstream Christian churches as well as the Jewish organizations Non-committal: In this case, there is virtually no public response to the Islam-critical expressions. The organization’s leadership may feel these expressions are none of its business, or may be faced with internal division. Contacts with Muslim organizations are scarce or lacking. We find this response with the leaders of the Christian Reformed Churches as well as the umbrella organizations of Christian migrant churches SKIN, Buddhist centre BUN and Hindu groups HRN. Critical: Responses of this type are positive about most of the content of the Islam-critical expressions, even if their form may not win approval. These responses take side with the critics if and when they are under threat because of what they said. This type of response was found with the HV (Humanistic League). The association declared in June 2006: »The Humanistic League accuses the extreme responses in large parts of the Muslim world to the publication of the - in the meanwhile well-known - Danish cartoons. Satirical drawings have proven to be an effective means to mock people, institutions, officials and population groups. In a constitutional state, citizens who think they are abused or insulted can take judicial steps«.10
10 Humanistic League, Press release: »Cartoons en de vermoorde onschuld«, February 9, 2006.
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F ACTORS Model What factors have affected these patterns? In order to assess which factors possibly affected these patterns, we, first of all, surveyed scholarly literature about the way religious organizations act in conflict dynamics. On the basis of this survey, we constructed a tentative model capturing the various factors (Figure 1). This model assumes that the response of the leaders is the outcome of the three main factors: the framing of the leaders, the influence of external forces, such as the government, and the influence of internal forces, such as member organizations and their members. The framing of the leaders is influenced by background factors: traditions and worldviews, experiences of threat, and characteristics of the organizations (goals, ethnicity, and position). The key notion in the model is the concept of framing. I distinguish two types of framing: diagnostic framing and prognostic framing.11 The process of diagnostic framing produces specific definitions of the expressions of Islam criticism and the process of prognostic framing refers to specific strategies and tactics of the organizations with regard to these expressions, or in other words, addresses the question ›what is to be done?‹
11 The concept of ›framing‹ goes back in sociology to work by Erving Goffman and in particular his famous study Frame Analysis: An Essay on the Organization of Experience, Boston: Northeastern University Press, 1974. He considers a frame as a scheme of interpretation in which the particulars of the events and activities to which we attend are organized and made sensible. Among others, David Snow and Scott Byrd applied this concept to the study of social and religious movements. They made a useful distinction between diagnostic framing, prognostic or strategic framing and motivational framing (Snow, David S./Benford, Robert D.: »Ideology, Frame Resonance, and Participant Mobilization«, in: International Social Movement Research (1988), p.197-217; Snow, David S./Byrd, Scott C.: »Ideology, Framing Processes, and Islamic Terrorist Movements«, in: Mobilization: An International Quarterly Review 12 (2007), p.119-136.
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Figure 1: Model of factors
Framing Our empirical research shows that framing is critically important. The way leaders define the selected expressions of Islam criticism and stipulate the general strategy and tactics with respect to them influences the way they responded to a high degree. Diagnostic framing: Among the leaders of the organizations studied at least four types of diagnostic framing can be discerned, namely religious framing, political framing, societal framing and juridical framing. These four are ›ideal types‹, what means that we find them in practice never in a pure form but always in mixed forms. Some Muslim organizations define the Islam-critical expressions primarily as offensive to the key symbols of Islam (UMMON, NIF, SID), whereas others see them mainly as expressions of anti-Islamic or racist political ideologies (ISN, Al Nisa, FION). Among the non-Muslim organizations we find primarily societal and constitutional types of framing. The Christian RvK, RKK, PKN, as well as the Jewish NIK and NVPJ, responded to Fitna primarily from the perspective of the cohesion of Dutch society, qualifying the film as provocative and a source of polarization. The Humanist HV, for its part, stressed the legitimacy of the Islam-critical expressions, viewing them from the perspective of constitutional freedom of expression, stepping in for the critics if and when they are under threat.
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Prognostic framing: Essential for the public response of the leaders is not their diagnostic framing, but the combination of their diagnostic and strategic framing. Starting from their framework, the mainline Christian churches plead for interreligious and cultural dialogue. Although the CGK (Christian Reformed Churches) largely share the diagnoses of the situation of these churches, they did not respond to the expressions because they are of the opinion that response to criticism of Islam is certainly not their responsibility but that of societal and political organizations. Likewise, some of the Muslim organizations say it is not their task but that of the government (ISN) or non-Muslim organizations (SID) to oppose anti-Islamism, while others try to counterbalance the negative image of Muslims in the media by launching a poster campaign (Al Nisa) or by sending appeals to Islamic authorities not to boycott Dutch products (UMMON), according to their strategic visions. Background factors Tradition and world view: In many organizations the diagnostic and prognostic framing of the expressions of Islam criticism is influenced by the (religious) tradition of which it considers itself to be a part.12 In the mainline protestant churches reports of synods on interreligious relations are guiding, whereas in the Roman Catholic Church a document as Nostra Aetate, the Declaration on the Relation of the Church with Non-Christian Religions of the Second Vatican Council, is influential. Within all Muslim organizations the particular traditions of interpretation of textual sources (the Qur’an and the Sunna) they are affiliated with, are crucial. For the leaders of ›non-official‹ Muslim organizations, such as NIF (Milli Görüs) and I&S (Gülen), the doctrinal writings of the founders of
12 Beginning from the so-called meaning system approach, Israela Silberman, Torry Higgins and Carol Dweck (2005) stress the impact of the contents of beliefs, goals, and actions of religions groups on their attitudes towards conflicts (See Silberman, Israela,/Higgins, E.Torry/Dweck, Carol S.: »Religion and World Change. Violence and Terrorism versus Peace«, in: Journal of Social Issues 61 (2005), p. 761-784). They state that these aspects can facilitate both violent as well as peaceful activism. In line with this approach, Mark Juergensmeyer put the concept of ›cosmic war‹ at the heart of his analysis of the alleged global rise of religious violence (Juergensmeyer, Marc: Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence, Berkeley: University of California Press, 2003). According to him, images of divine warfare are persistent features of religious activism. By relating conflicts to the metaphysical struggle between good and evil, they give them an absolute character.
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their movements, Necmettin Erbakan (1926-2011) and Fethullah Gülen (1941) respectively, are authoritative. Experience of threat: Although many Muslim organizations consider the selected expressions as insults to key symbols of their faith, they apparently do not experience them as a serious threat.13 It is likely that the support they received from non-Muslim organizations and from the government during the Fitna affair partly contributed to this. In particular, the leaders of the Moroccan organizations declared that the stance the Dutch government took during the affair stimulated them to contribute to a ›calm and sensible‹ response among Muslims in the Netherlands and the Islamic world. Organization: One important factor that affects the framing of the leaders of the organizations studied is the type of organization.14 Actually we can distinguish two main types, namely interest-driven organizations and value-driven or13 Social identity theories point out that identity threat is very likely a necessary condition to the eruption of intergroup conflict. According to Jeffrey Seul, religion has the powerful ability to serve identity-related needs of individuals and groups (Seul, Jefrey R.: »›Ours is the Way of God‹. Religion, Identity, and Intergroup Conflict«, in: Journal of Peace Research 36 (1999), p. 553-569). That is why it can promote the production and escalation of intergroup conflict. In the same vein, Herbert Kelman points out that in existential conflicts, the experience of threat to collective identity is a core issue (Kelman, Herbert C.: »Negotiating National Identity and Self-Determination in Ethnic Conflicts. The Choice between Pluralism and Ethnic Cleansing«, in: Negotiation Journal (1997), p. 327-340). This experience stimulates processes of ›selfing‹ and ›othering‹ and lead to a view of the conflict as a zero-sum struggle. The sense of threat and the consequent rejection of the other gain additional strength when religious differences overlap with ethnic or national differences (cf. Verkuyten, Maykel : »Multicultural Recognition and Ethnic Minority Rights: A Social Identity Perspective«, in: European Review of Social Psychology, 17 (2006), p.148-184). 14 In the field of research on social and religious movements the so-called mobilization approach used to stress the importance of leaders and organizations for the way groups operate in various social contexts (see Edwards, Bob/McCarthy, John D.: »Resources and Social Movement Mobilization«, in: David A. Snow/Sarah A. Soule/Hanspeter Kriesi (eds.), The Blackwell Companion to Social Movements, Oxford: Blackwell Publishers, 2004, p.116-152). This approach is recognizable in Scott Appleby’s famous study on the complicated relationship between religion, violence and peace, entitled The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation, Lanham: Rowman & Littlefield, 2000. According to Appleby, religious leaders and organizations determine to a high degree the stance that religious groups take within a conflict situation.
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ganizations.15 Whereas interest-driven organizations take their own interest or their members’ interests as their main frame of reference, value-driven organizations say they intend to be guided mainly by values. These two types are actually two extremes. All selected organizations bear elements of both within them. Among the ten Muslim organizations studied, four can be characterized as primarily interest-driven, namely SCIN (Süleymanli), ULAMON (Ahmadiyya), HAK-DER (Alevies) and OSV (Shiites). The remaining six are predominately value-driven: UMMON, ISN, NIF, Al Nisa, FION, and SID. Among the nonMuslim organizations, SKIN, BUN, and HRN are primarily interest-driven, whereas RvK, RKK, PKN, CGK, SEM, and HV are value-driven organizations. The Jewish organizations are somewhere in the middle of the continuum, particularly NIK and NVPJ. The umbrella organization CJO explicitly aims at fostering the interests of the Jewish organizations it represents as well as those of the Jewish communities in the Netherlands in general. What is interesting is that actually no interest organization responded to the criticism of Islam. The interest organizations among the Islamic organizations say that the criticism of Islam is not about ›their‹ Islam, while the non-Islamic interest organizations say they do not have the responsibility to respond to them. »That is not our business.« Accordingly, they hardly invest in strengthening their interreligious contacts in the aftermath of the Islam-critical expressions. In contrast to the interest organizations nearly all value-driven organizations have responded actively to anti-Islam expressions. It is important to note that all the interest-directed organizations researched are in fact organizations representing small minorities within or outside Islam in Dutch society. Many of them are ethnically based. They try to serve the interests of their people and strive to stay aloof from social and political debates when they conclude that their interests are not at stake. Sometimes, this pattern of passivity is partly the upshot of internal dissension about Islam and criticism of Islam among the members of the organization, which makes it impossible for their leaders to take a clear stand in public. The member churches of SKIN, for example, hold widely diverging opinions on Islam and on criticism of Islam.
15 The distinction between values and interests is a classical one in sociology. It can be traced back to work by Max Weber. In conflict studies this distinction is found in Vilhelm Aubert’s study The Hidden Society, Totowa (NJ): The Bedminster Press, 1965. In that book on modes of conflict resolution Aubert made a distinction between interest conflicts and value conflicts. Interest conflicts stem from ›a situation of scarcity‹, whereas value conflicts are based ›upon dissenses concerning the normative status of a social object‹. (V. Aubert: The Hidden Society, p. 86-89).
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The value-driven organizations are actually umbrella organizations of larger minority groups as well as larger religious groups, such as the RKK and the PKN. Partly determined by their position, these organizations feel responsibility for issues of Islam and society in general. Because of that sense of responsibility, they tend to respond to significant events with regard to religion in the public domain. Internal and external factors Framing is not the only significant factor. In some cases internal differences of opinion may have prevented organizations from firmly responding, while in other cases instructions from the international headquarters of the organizations may have affected their response. In particular in the case of Fitna, the Dutch government appears to have played a significant role. In the aftermath of the Danish cartoons, the Dutch government was deeply concerned about the effects this film could have for the Netherlands. The government feared that in the Netherlands the film would put the relation between Muslims and non-Muslims further under pressure and abroad it would harm Dutch economic interests and for example lead to treats of Dutch embassies in the Middle East. In order to prevent these effects, it took several measures. The Minister of Internal Affair sent a message to the local authorities to be alert, and the Minister of Foreign Affairs instructed diplomats to spread the message among Islamic authorities that the film is only the product of the leader of a small party in Dutch Parliament and the Dutch government distances itself to it. Moreover, the Minister of Justice invited more than twenty leaders of religious, humanist and migrant organizations to discuss the release of the film. Many Muslim organizations felt bolstered by it. This may have been especially true for Moroccan organizations, which have been stigmatized as prone to radicalization because of the Moroccan background of the man who murdered Theo van Gogh. They felt encouraged not only to urge their constituencies to respond ›with calm and dignity‹ to the Islam-critical expressions, but also to advocate the Dutch interests in the Muslim world. Actually, the response to Fitna in Muslim countries was quite moderate and calm and remained tiny compared to the Danish cartoons crisis. Some organizations, however, were not pleased with the stance of the government. They questioned the negative assumption on Islam behind the governmental policy and reproached the government for the omission to give the ›Fitna consultation‹ a follow-up.
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I N CONCLUSION In this article, I have analyzed the responses of the leaders of 21 religious and humanist organizations in the Netherlands to five expressions of criticism of Islam. What are the main results? What are the main answers to the two research questions? With regard to the responses, we can conclude that there is not one response but a wide scale of responses discernible among the leaders of the selected organizations. The responses of the Muslim organizations vary from resignation to defensive to offensive and those of the non-Muslim organizations from supportive to non-committal to critical. With respect to the factors that contribute to the responses, we note that the responses are strongly linked to the framing of the selected expressions by the leaders. We can distinguish four types of diagnostic framing, namely religious, political, societal and juridical framing. The combination of diagnostic and strategic framing determines to a high degree the organization’s pattern of response. The framing is influenced by the type of organization. It is remarkable that the selected interest organizations which represent small religious minorities do not respond, whereas the other organizations which are more value-driven and more society-oriented do, such as the selected Christian and Jewish churches as well as the relatively large Islamic organizations. The doctrines of these organizations affect their way of framing the expressions of Islam criticism. The leaders of the Muslim organizations researched do not expericience the expressions of Islam criticism as a threat, that is why the factor of perceived threat has only a minor impact on the framing by the leaders. It turns out that most organizations researched were quite pleased with the government’s policies, particularly its ›Fitna Consultations‹. They felt encouraged not only to urge their constituencies to respond ›with calm and dignity‹ to the Islam-critical expressions, but also to advocate the Dutch interests in the Muslim world. Some organizations, e.g. Al Nisa and SCIN, were less content. They felt that the authorities held a negative view of Islam and kept silent when Muslims actually responded to the Islam-critical expressions with calm and dignity. What are the societal effects of the responses of the leaders of these organizations on the development of the controversy on Islam? Do they escalate or deescalate the polarization in Dutch society over Islam and Muslims? It is obvious that the passive responses of the interest-driven organizations do not have an impact of the current controversy over Islam. They do not participate in the public conflict on Islam and consequently do not have influence on it. But
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what about the active responses of the value-driven organizations? What is their impact? To this end, it makes sense to pay attention to work of the Dutch sociologist Kees Schuyt. In his lecture Democratische deugden (Democratic virtues) he mentioned, based on a review of many studies, four conditions which can contribute to the escalation of an intergroup conflict within a given political context, namely: the dominance of collective identity over personal differences and freedom; the development of a strict ›us and them‹; the character of a conflict and the perception of the resolvability of it; the role of recognized or notrecognized emotions of shame and anger.16 The issue is how the value-driven organizations score on these conditions. As it turns out, we find no positive scores on any of these parameters. Actually, there are no attempts to curtail internal diversity so as to appear stronger in confronting the critics. The leaders are not able, neither have the aspirations to do that. Only in the days of Fitna they deliberately tried to influence the attitude of their constituencies. However, their initiatives at that time were not aimed at seeking the confrontation with Islam critics, but to react ›calmly and sensibly‹. There is a general tendency to discourage confrontational thinking, both with Muslims and non-Muslims. Several Muslim leaders have stressed their solidarity with Dutch society. By supporting Muslims but at the same time keeping open relationships with critics, many non-Muslim leaders break the polarized way of thinking in terms of ›us and them‹. There is no ridiculing or vilifying of the critics. Some of our respondents signal a conflict of values and world-views between Muslims and the critics, but no-one sees this conflict as unsolvable. All respondents acknowledge the importance of the rule of law, and come up with ways of dealing with the existing tensions in a peaceful manner. Several respondents are aware of the emotions that play a role on either side of the divide: feelings of anxiety and discontent on the part of the indigenous population, anger and a sense of being discriminated against and hurt on the part of the Muslim population. They say their aim is to prevent their constituencies from being guided by those emotions. In conclusion, the responses of the leaders of most of the selected organizations contribute to the de-escalation of the controversy on Islam in the Netherlands. In his famous study The Ambivalence of the Sacred, Scott Appleby argues that religious actors use to represent a source of peace and political stability in the post-Cold War world.17 He states that it is a misconception that religious ex16 Schuyt, Kees: Democratische deugden. Groepstegenstellingen en sociale integratie, Leiden: Leiden University Press, 2006. 17 R.S. Appleby: The Ambivalence of the Sacred.
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tremists are a majority within every major religious tradition. In contrast, they are a minority and religious groups which are teaching dialogue rather than violence, reconciliation rather than retaliation, used to constitute the majority. Our research findings confirm this statement regarding to the current situation in the Netherlands. By taking a peaceful stance in the current Islam conflict they contribute to ›living together‹ in the Netherlands.
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Muslime und Nicht-Muslime in Brüssel: Reflexionsforen und das Foucaultsche Konzept des »Dispositivs« B RIGITTE M ARÉCHAL
Um sich mit dem Instrumentarium auszustatten, das dazu dienen soll, die fundamentalen Probleme des Zusammenlebens innerhalb zahlreicher Beziehungen, wie beispielsweise innerhalb der heutigen Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, aufzudecken, erweist es sich nicht nur als nützlich, sondern vermutlich sogar als notwendig, auf komplementäre Forschungsmethoden zurückzugreifen. Wir denken dabei ziemlich klassisch daran, semi-direktive Interviews durchzuführen, an Materialsammlungen sowie an Beobachtungen an den für die Sozialisation bedeutsamen Orten, wie Schulen, Unternehmen und Krankenhäusern, aber auch Jugendhäuser und diverse Treffpunkte, die nicht zuletzt das Aufeinandertreffen von Überzeugungen und sportlichen wie kulturellen Austausch im weiteren Sinne organisieren. Aber wir denken vor allem auch an die Einrichtung von Diskussionsgruppen, die wir als »Reflexionsforen« bezeichnen. In diesen speziellen Räumen, die ein Dutzend Personen mit unterschiedlichsten Profilen zusammenbringen und in denen Standpunkte ausführlich hinterfragt, abgewogen und geäußert werden, kommen nicht nur individuelle Empfindungen, sondern auch die von Michel Foucault hervorgehobenen Wissens- und Machtstrukturen zum Ausdruck und treffen kontrovers aufeinander. Deshalb lassen sich die Daten, die während des Austauschs in den Reflexionsforen gesammelt und mit den Daten aus der gesamten Recherche verbunden worden sind, zweckmäßigerweise mit dem foucaultschen Konzept des »Dispositivs« zusammenbringen. Aufgrund der Anfrage der Universität Paderborn zur Relevanz dieses Konzepts und um die Identitätskonstruktionen von Muslimen in Europa zu begreifen, haben wir die Ergebnisse einer empirischen Umfrage, die außerhalb dieses theoretischen und speziellen Rahmens durchgeführt wurde, neu ausgewertet.
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In diesem Artikel werden wir zunächst den Kontext, die Methodologie sowie die Ergebnisse einer Studie darlegen, die zur Rolle des Islam im Hinblick auf die Beziehung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Brüssel durchgeführt wurde. Diese wurde zwischen Januar und November 2013 im Anschluss an vorangehende Arbeiten, die wir hier ebenfalls kurz vorstellen, durchgeführt. Nach einer kurzen Erläuterung von M. Foucaults Sichtweise werden wir unsere Forschungsergebnisse im Hinblick auf die zu analysierenden Identitätskonstruktionen europäischer Muslime befragen. Dieser Artikel möchte im Wesentlichen zeigen, dass neue Recherchemodalitäten unverzichtbar sind, um die Komplexität der aktuellen Beziehungs- und Machtdynamiken begreifen zu können.
E INIGE ALLGEMEINE Ü BERLEGUNGEN IM V ORFELD R ECHERCHE
DER
Unsere Analyse der Rolle des Islam in den Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Brüssel ist in einem relativ langen Reflexions- und Rechercheprozess verortet, der – ausgehend von einem der Gründungswerke von Felice Dassetto mit dem Titel La rencontre complexe1 – am CISMOC durchgeführt wurde. F. Dassetto definiert hier einen allgemeinen Rahmen für die Reflexion über die Präsenz der Muslime im europäischen Raum, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem sich das Ausmaß der Fragestellungen im Hinblick auf die Aktivierung religiöser Dynamiken nach und nach gezeigt hat. Für F. Dassetto leitet die Präsenz des Islam einen neuen Pluralismus in den europäischen Gesellschaften ein, in denen bereits ältere europäische Pluralismen nebeneinander existieren, etwa die vielfältigen Formen des Christentums, die Konfrontation zwischen dem laizistischen und dem religiösen Gesellschaftsmodell, die beide aus der Moderne hervorgegangen sind, oder auch diejenigen Gesellschaftsmodelle, die ihren Ursprung in der Konfrontation zwischen Liberalismus und Sozialismus finden, etc. Jedoch führt die Präsenz des Islam Dassetto zufolge nicht nur zu einer weiteren Kultur in den europäischen Gesellschaften und bringt neue Fragen der Kommunikation hervor, die das Erlernen des Verstehens wechselseitiger Codes verlangen. Vielmehr wirft das derzeitige »komplexe Aufeinandertreffen« von einem europäischen Teil der Bevölkerung, der sich in Bezug auf vielfältige Formen des Islam in positiver Weise betätigt, und der nicht-muslimischen europäischen Bevölkerung viel wichtigere Fragen auf, beispielsweise nach unterschiedlicher Ge1
Dassetto, Felice: La rencontre complexe. Occidents et Islams, Louvain-la-Neuve: Académia-Bruylant, 2004.
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schichte, unterschiedlichen Weltanschauungen, unterschiedlichen Wahrnehmungen des Verhältnisses zwischen dem Religiösen und dem öffentlichen Raum, unterschiedliche geopolitische Sensibilitäten etc. Obgleich F. Dassetto feststellt, dass die Unterschiede keine größeren Konflikte veranlasst haben, wenn man die für jede soziale und kulturelle Innovation typischen Unterschiede mal außer Betracht lässt, so stellt er dennoch verschiedene Phänomene fest, die Fragen hervorrufen, unter anderem bestimmte, dem europäischen Islam inhärente und externe Dynamiken, aber auch vom Nationalismus eingefärbte politische Spannungen oder aber eine Unsicherheit und Unbeholfenheit in politischen, den Islam betreffenden Angelegenheiten. Da Letztgenanntes Spannungen vergrößern und Unbehagen im Zusammenleben hervorrufen kann, mahnt F. Dassetto nachdrücklich an, sich grundlegend mit den Formen des Zusammenlebens in unseren Gesellschaften, unseren Städten, unseren Institutionen sowie unseren demokratischen Staaten auseinanderzusetzen. Seiner Meinung nach müssen neue Modalitäten des Zusammenlebens geschaffen werden, weil die Begegnung nicht oder nicht mehr als eine reine und einfache »Assimilation« verstanden werden kann, aber auch, weil diese Begegnung nicht oder nicht mehr unter dem Blickwinkel der Differenzierung gedacht werden kann (selbst wenn einige Leute weiterhin ein soziales und politisches Modell der ethnisch-gemeinschaftlichen Differenzierung als Gesellschaftsgrundlage unterstützen). Da sich die aktuellen Begegnungsprozesse als mühsam erweisen, müssen sie, so Dassetto, konstruktiv gefördert werden.
P RÄSENTATION DER M ETHODE »R EFLEXIONSFOREN «
DER SOGENANNTEN
Im Anschluss an diese Überlegungen wurde 2005 eine Studie begonnen2 mit dem Ziel, Bedingungen herzustellen und zu erproben, die eine Schaffung authentischer Begegnungen zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Personen,
2
Eine Recherche, die zu folgender Veröffentlichung geführt hat: De Changy, Jordane/Dassetto, Felice/Maréchal, Brigitte: Relations et co-inclusion. Islam en Belgique, Paris: L’Harmattan, 2007. Diese behandelt Themen zu Problemen, die in Flandern, Brüssel und Wallonien debattiert wurden: die Präsenz des Islam in Schulen, der mediale Umgang mit dem Islam, die Identitäten und Zugehörigkeiten, das Tragen des Schleiers, die Werte der Jugendlichen, der politische Islam und die Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionen. In diesem Buch stellen wir unsere Methodologie im Detail vor.
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die sich anfänglich nicht kennen, erlauben. Es ging außerdem darum, die wechselseitigen Beziehungsformen, die zwischen Muslimen und dem Rest der Bevölkerung entstehen, empirisch zu untersuchen, und zwar unter Berücksichtigung der Tatsache, dass diese beiden Personengruppen in Wirklichkeit keine homogenen, sondern sehr vielfältige sowie sich stets verändernde Einheiten bilden, die zudem selbst von starken internen Spannungen durchzogen sein können. Konkret wurden »Reflexionsforen« ins Leben gerufen, um etwa zehn Personen mit sehr kontrastreichen Profilen zu einer argumentativ geführten Diskussion über grundlegende Fragen anzuregen. Es handelt sich dabei um eine Methode, die darauf abzielt, einen Diskussionsstil und eine Diskussionskultur zu schaffen. Sie geht von dem Prinzip aus, dass die grundlegenden Herausforderungen das Zusammenleben und das dafür notwendige Vertrauen (das Vertrauen innerhalb sozialer Gruppen und dasjenige gegenüber Institutionen) darstellen. Das Vorhaben setzt voraus, dass vernünftig handelnde Menschen in der Lage sind, rational über Themen zu debattieren, die sie betreffen, ihre Sichtweisen und Standpunkte zu äußern, diese argumentativ zu begründen und mit denen anderer Personen zu konfrontieren. Hier wird die von Habermas formulierte Prämisse des »kommunikativen Handelns« gesetzt, das wir im Rahmen eines Forschungsprojekts erproben wollten, ohne dabei die Schärfe der sozialen und kulturellen Konfrontation außer Acht zu lassen. Die Zusammensetzung der Teilnehmergruppe bedurfte einer beträchtlichen Vorarbeit, da sie hinsichtlich der sozialen Vielfalt so repräsentativ wie möglich für die gesellschaftliche Vielfalt sein sollte.3 Um den Austausch zwischen den Teilnehmern zu erleichtern, die sich anfänglich nicht kannten, aber alle einverstanden waren, sich zu treffen, um in drei etwa dreistündigen Sitzungen, die innerhalb von ungefähr zehn Tagen organisiert wurden, über ein umstrittenes Thema zu diskutieren, versuchten die Forscher, einen geeigneten und so neutral wie möglich konzipierten Begegnungsrahmen zu schaffen. Sie garantierten außerdem die Einhaltung des Gleichheits- und des Freiheitsprinzips für jeden Teilnehmenden und für jeden Redebeitrag, unabhängig vom Bildungsniveau oder der gesellschaftlichen Stellung der Teilnehmenden. Alle Äußerungen hatten also denselben Stellenwert und wurden von den Forschern ebenso wie von den anderen Teilnehmenden berücksichtigt, wobei sich alle frei den anderen vorstellen konnten, aber mit einer im Rahmen der Recherche gewährleisteten Anonymität. 3
Auch wenn eine solche Gruppe – in diesem Fall die Gruppe der Nicht-Muslime und Muslime – immer nur ein Bild unter vielen möglichen Bildern der Gesellschaft widerspiegelt, so stellte sie hier eine der wichtigsten Kategorien der Recherche dar. Daher war die Einladung auch an Personen mit überaus kontrastreichen Profilen gerichtet worden, wie an Rechtsextreme oder Mitglieder islamistischer Strömungen.
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Diese Untersuchungsmethode hat Anregungen mehrerer wissenschaftlicher Strömungen und Recherchemethoden aufgenommen, ebenso wie die Geisteshaltung, die der Diskursethik von J. Habermas zugrunde liegt und sich auf eine ideale, demokratische Konstitution des öffentlichen Raumes bezieht.4 Vor allem geht sie von der Idee der in der nordamerikanischen Soziologie entwickelten »focus group« aus, die darauf abzielt, Informationen von mehreren Personen gleichzeitig zu erhalten. Darüber hinaus stützt sich sich auf die von dem Soziologen Alain Touraine eingeführte Verfahrensweise der »soziologischen Intervention«: Hier versucht der Gruppenleiter, die Probleme einer Gruppe zu lösen, deren Mitglieder sich aufgrund bestimmter Diskurse bereits gegenseitig eingeordnet haben.5 Die sogenannten Methoden der Gruppenanalyse (MAG), bei der die Teilnehmer teilweise Akteure der Untersuchung sind und versuchen, die Dynamik der sozialen Beziehungen anhand von einer organisierten Debatte im Prozessablauf zu begreifen, erwiesen sich ebenfalls als sehr förderlich für die Konzipierung unserer Recherche.6 Was die »Reflexionsforen« angeht, so haben wir das Begegnungs- und Analyseverfahren vereinfacht, insbesondere um Akteure, die auf keine gemeinsame Erfahrung vor der Recherche zurückgreifen konnten, mit möglichst heterogenen Standpunkten aufnehmen zu können. Die Standpunkte wurden im Laufe des Prozesses analysiert. Die Gruppenleiter stellten die Ergebnisse den Teilnehmenden zwischen den Sitzungen vor, um die Debatte anzukurbeln und vor allem zu vertiefen, indem die Spannungsfelder und die Probleme des Austauschs aufgezeigt wurden. Das Ziel bestand darin, im dynamischen Verlauf zu sehen, in welchem Umfang sich Diskussionsmöglichkeiten ergeben, sich Zustimmungen und Ablehnungen in Bezug auf den Status der Beziehungen und ihrer Umsetzungsmodalitäten feststellen lassen, Entwicklungen hinsichtlich der Standpunkte der beiden Seiten im Laufe des Austauschs zu erkennen sind und in welchem Umfang sich schließlich die Fähigkeit der Teilnehmer, sich zumindest teilweise in die Recherche sowie in einen Prozess der »Co-Inklusion« einzubringen, entwickelt. Wurden tatsächliche Uneinigkeiten festgestellt, so wurde versucht, die Gründe hierfür herauszufinden. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht auch die 4
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.
5 6
Touraine, Alain: La voix et le regard, Paris: Seuil, 1978. Siehe Van Campenhoudt, Luc/Chaumont, Jean-Michel/Franssen, Abraham: La méthode d’analyse en groupe. Applications aux phénomènes sociaux, Paris: Dunod, 2005; Van Campenhoudt, Luc/Franssen, Abraham/Cantelli, Fabrizio: »La méthode d’analyse en groupe«, in: SociologieS. Théories et recherches, online gestellt am 5. November 2009. http://sociologies.revues.org/2968.
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Idee, dass die Personen über den freien Dialog und die Argumentation nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Denkweisen offenbaren; wir befinden uns hier nämlich auf der Stufe der Begegnung, ja der tatsächlichen Konfrontation unterschiedlicher Bezugswelten. Es handelt sich also nicht um eine psychologische Analyse, denn die Untersuchung geht davon aus, dass die persönlichen Haltungen Problemstellungen aufdecken, die überindividuell von Bedeutung sind. Der Ansatz beruht auf dem Postulat, dass eine richtige Debatte, auch wenn sie konfliktträchtig ist, möglich ist, weil Personen zu einer systematischen Selbstreflexion in der Lage sind. Er fußt außerdem auf der Tatsache, dass es nützlich ist, Personen zum rationalen Argumentieren zu bringen, um zu versuchen, gemeinsame Sichtweisen zu identifizieren, Annäherungen auszuhandeln oder Unstimmigkeiten zwischen ihnen zu klären. Wir haben gesehen, dass es nötig ist, Diskussionsverhalten zu konstruieren, da in der Diskussion häufig wie in einem Streitgespräch vorgegangen wird, nicht aber wie in einem auf Argumenten fußenden Austausch. Dies ist zum Beispiel der Fall bei der Erörterung von Identitäten, die ein großes Anliegen geworden sind, weil die Diversität in den Gesellschaften Identitätsfragen auf neue Art und Weise wieder aufkommen lassen. Zum Beispiel: Wie werden Identitätsfragen (erneut) gestellt? Wie treten sie in ein Verhältnis zueinander und wie konstruieren sie sich gegenseitig?
E RGEBNISSE DER ERSTEN F ELDUNTERSUCHUNGEN VON C ISMOC ZUM T HEMA B EZIEHUNGEN ZWISCHEN M USLIMEN UND N ICHT -M USLIMEN Ausgehend von den 2005 durchgeführten Debatten über die Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen haben wir festgestellt, dass keine unlösbaren Konflikte bestehen, wohl aber dass ein gewisses Unwohlsein wahrnehmbar ist, da alle Gesprächspartner an einem Mangel an Anerkennung zu leiden scheinen.7 Die eine Seite hat das Gefühl, ihre Religion nicht wirklich frei leben zu können. Die andere Seite befürchtet eine Herrschaft des Religiösen und einen Protest gegen die belgischen Verfassungsprinzipien, wie zum Beispiel das der Religionsfreiheit, das der Neutralität des Staates und das der Gleichheit zwischen Mann und Frau. Außerdem stoßen die wechselseitigen Befürchtungen und Erwartungen nicht immer auf ein Echo. Dies zeigt sich insbesondere in dem häufi7
Dieses Thema wird umfassend innerhalb der Humanwissenschaften in Fortführung der berühmten Arbeiten von Axel Honneth bzw. in Frankreich vor allem von Alain Caillé behandelt.
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gen Fehlen klarer Antworten in Hinblick auf eine gewisse Anzahl von Fragen, die von den Nicht-Muslimen als problematisch erachtet werden. Zudem wird dies in dem Wunsch der Muslime sichtbar, gekannt zu werden und eine echte Anerkennung der islamischen Religion in Belgien zu erlangen. Und dies in einem Kontext, in dem die Muslime der Meinung sind, dass der Islam gemeinhin kriminalisiert wird. Obgleich für den Ansatz der Gedanke einer wechselseitigen Co-Inklusion (also die Fähigkeit, den Standpunkt des Anderen bei der Herausbildung eines eigenen Urteils zu berücksichtigen) im Mittelpunkt der Überlegungen stand, so muss doch festgestellt werden, dass der Weg dorthin noch lang ist: Bestenfalls hört man sich gegenseitig zu und will noch mehr hören. Aber in einer gewissen Art und Weise bleibt jeder taub. Man sagt, dass man sich gegenseitig zuhört, um über sich sprechen zu können, während vielerlei Missstände bestehen bleiben, besonders in Bezug auf die Schule und auf der Ebene politischer Fragen. Diese ersten Reflexionsforen haben uns also vor Augen geführt, dass es keine unüberwindbaren Blockaden gibt. Sie haben uns auch gelehrt, dass es durchaus eine große Erwartungshaltung an ausgedehnte Austausche in einer vertraulichen Atmosphäre gibt, auch wenn die zahlreichen Diskussionspunkte Gegenstand klarer Worte sein sollten, und die Probleme groß sind, weil oft Misstrauen gegenüber dem Anderen vorherrscht, der anders als man selbst ist, gegenüber seinem Glauben, seinem Lebensstil, seinen Denk- und Handlungsweisen. Angesichts der Erfahrung mit den Reflexionsforen erscheint diese Art von Debatte sinnvoll, ja sogar dringlich zu sein. Spontane soziale Prozesse führen nämlich nicht zwangsläufig zu einem harmonischen Zusammenleben: Die neue Vielfalt in der Gesellschaft, die sich unter Zeitdruck und nach Maßgabe der Globalisierungsprozesse herausbildet, wird nicht von selbst mittels sozialer Automatismen und im alltäglichen Betrieb der Institutionen erzeugt. Im Gegenteil: Wenn die sozialen Gruppen auf sich allein gestellt sind, tendieren sie zu Abschottung, Abwehr und Misstrauen. Insbesondere im Zusammenhang mit der Angst vor einer »Extremisierung« der beiden Seiten und mit dem Wunsch einer jeden, voll und ganz man selbst sein zu können, entwickelt sich das Gefühl, dass sich der Andere einem in den Weg stellt oder dies tun möchte. In einer Untersuchung über die vielfältigen Erscheinungsarten des Islam im Brüsseler Raum, die 2011 von F. Dassetto veröffentlicht wurde, werden diese anfänglichen Feststellungen bestätigt. So auch diejenige bezüglich der Jugendlichen, die mittlerweile von den andauernden Prozessen der Implantation mehr oder weniger rigoristischer Dynamiken im Islam geprägt zu sein scheinen. Diese Implantation wirkt wenig integriert in die Komplexität des belgischen Kontextes und stellt sich oft in der Entwicklung einer Sie-Wir-Opposition zur belgischen
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Gesellschaft dar.8 Jenseits der Frage von persönlichen Beziehungen stellt F. Dassetto die Frage, ob die urbanen Probleme, die mit dieser neuen Präsenz zusammenhängen, wirklich ausgelotet worden sind, auch wenn Medien und politische Akteure diese gelegentlich überbewerten und stigmatisieren. Dassettos Arbeit hat die Presse und die Zivilgesellschaft erschüttert. Sie hat dutzende Debatten in unterschiedlichen Milieus ins Leben gerufen und zwar wohl wissend, dass sie die Frage nach der wechselseitigen Integration von Muslimen und NichtMuslimen, aber auch von Muslimen und Brüsseler Institutionen deutlich aufgeworfen hat. Eine Frage, die also noch vertieft werden muss, unter anderem, um die Mechanismen besser zu verstehen, die die Grundlage dieser Einstellungen bilden.
E INIGE P RÄZISIERUNGEN HINSICHTLICH DER B ESONDERHEITEN DES B RÜSSELER K ONTEXTES M ODALITÄTEN UNSERER LETZTEN R ECHERCHEN
UND DER
Wir wollen an dieser Stelle zuerst die Beziehungen zwischen religiösen Muslimen und Nicht-Muslimen im allgemeinen Brüsseler Kontext einordnen, wo vier Bruchlinien besonders ausschlaggebend zu sein scheinen (obwohl sie kein spezieller Gegenstand der Recherche waren). Die erste Bruchstelle besteht in einem sozioökonomischen Auseinandertriften, denn die Muslime gehören größtenteils den am wenigsten vermögenden Schichten an. Die zweite Bruchstelle besteht in einer räumlichen Distanzierung, die mit der ersten Bruchstelle zusammenfällt, während sich die dritte, eine ethnische Bruchstelle, ebenfalls an den vorherigen anschließt, da zahlreiche Gruppen nebeneinander leben, darunter türkische, marokkanische, kongolesische, außerdem italienische, griechische, spanische, portugiesische etc. Die vierte Bruchstelle bezieht sich auf die religiösen Empfindungen, und zwar insofern, als dass Brüssel und seine alteingesessene belgische Elite stark von einer atheistischen und agnostischen Weltanschauung und einem jahrhundertealten Kampf gegen die katholischen Institutionen geprägt sind und sich als ängstlich, verunsichert, mitunter unwissend in Bezug auf die religiöse Realität erweisen, welche oftmals am Maßstab früherer Erfahrungen beurteilt wird. Was die spezifischen Besonderheiten der aus einem muslimischen Land stammenden Bevölkerung und insbesondere deren Nachkommen anbelangt, so 8
Dassetto, Felice: L’Iris et le Croissant. Bruxelles et l’islam aux défis de la coinclusion, Louvain-la-Neuve: Presses Universitaires de Louvain, 2011.
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ist ihr Anteil in Brüssel von großer Relevanz, zumal man von 17% der gesamten Brüsseler Bevölkerung und von 30%, der Jugendlichen unter 30 Jahren ausgehen kann. Von dieser Bevölkerung praktiziert nur ein Teil (30-40%) seine religiösen Bezüge, wohingegen der Rest atheistisch, agnostisch oder solchen Bezügen gegenüber indifferent ist. Diese Personengruppe ist auch in anderer Hinsicht vielfältig, unter anderem durch ihre unterschiedlichen ethno-nationalen Wurzeln (vor allem Marokko und die Türkei, aber auch Tunesien, Algerien und seit kurzem auch Pakistan, Bangladesch, das subsaharische Afrika, der Mittlere Osten, Zentralasien, der Balkan etc.). Dieser intra-muslimische Kosmopolitismus ist eine neue Erfahrung für die Muslime. Diese Bevölkerungsgruppen unterscheiden sich auch durch die Dauer ihrer Präsenz in Brüssel: Die Immigrationsströme setzen sich so fort, dass eine große Anzahl muslimischer Familien, die erst vor kurzem angekommen sind, noch aus der »ersten Generation« stammen, wohingegen andere, die in den 1960er Jahren eingewandert sind, sich oft aus Familien der zweiten oder dritten Generation zusammensetzen. Ebenfalls heterogen sind diese Bevölkerungsgruppen hinsichtlich der unterschiedlichen muslimischen Sensibilitäten. Einerseits handelt es sich um kulturelle und nationale Differenzen, die zudem von alten, theologischen Unterschieden geprägt sind: die sunnitischen und die (sich in Minderzahl befindlichen) schiitischen Muslime, ohne dabei ihre verschiedenartigen Bezüge zu unterschiedlichen Rechtsschulen zu vergessen. Andererseits sind Unterschiede hinsichtlich der Sensibilitäten in den Überzeugungen zu beobachten. Diese können variieren, je nachdem, ob bestimmte Gläubige eine Nähe zu den verschiedenen – mystischen, streng missionarischen, politischen oder aber radikal-militant jihadistischen etc. – Bewegungen stärker oder schwächer aufbauen. Im Hinblick auf »religiöse« Muslime ist festzustellen, dass die Bezüge auf den Islam seit den 1980er Jahren ein bemerkenswertes Ausmaß annehmen.9 Obwohl sich diese Bezüge in der Privatsphäre äußern, werden sie aufgrund der religiösen Praxis der Muslime, aufgrund ihrer Bedürfnisse und durch ihren Diskurs (Bräuche, aber auch Verhaltensweisen, wie das Tragen des Schleiers, das Gebet, die zulässige Nahrung etc.) Teil der Öffentlichkeit und des institutionellen Raumes. Wenn wir das Aufeinandertreffen der muslimischen und der nichtmuslimischen Bevölkerungsgruppen in Brüssel aus einem historischen Blickwinkel betrachten, können wir bestätigen, dass sich alles in allem beide Seiten vorsichtig aneinander herantasten und nach der Trial-and-Error-Methode vorgehen, gezwungen durch konkrete Dynamiken und das Zusammenleben. Seit mehr als 30 Jahren vollzieht sich im Alltag in Brüssel sowohl seitens der Muslime als 9
Maréchal, Brigitte: Les Frères musulmans en Europe. Racines et discours, Paris: Presses Universitaires de France, 2009 (Brill, 2008).
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auch seitens der Nicht-Muslime, sowohl seitens der Institutionen als auch seitens der Privatpersonen eine große Arbeit der Gesellschaft an sich selbst, um Änderungen und Anpassungen herbeizuführen. Und dies wird vielleicht nicht hinreichend anerkannt und in seiner Tragweite analysiert. Doch lässt sich heute feststellen, dass sowohl aufgrund des Ausmaßes der muslimischen Präsenz als auch angesichts der ziemlich weitgehenden und hermetischen, ja unbeugsamen Forderungen in Folge des seit den 1990er Jahren wachsenden Einflusses der wahhabisch-salafistischen Ideologie und dem der Muslim-Brüder (die in Konkurrenz zueinander stehen) die Lösungssuche noch einen langen Weg vor sich hat. Wir treten zudem fortan in eine neue Phase der Beziehungen zwischen Muslimen und den europäischen Gesellschaften, in denen sie leben, ein. Diese neue Phase ist im Übrigen keine Einbahnstraße. Einerseits ist der Einfluss dieser religiösen Ideologien beachtlich, da diese de facto ihre Konzeptionen und ihre Stimmen im öffentlichen Raum durchsetzen und gewissermaßen den Sinn der islamischen Religion besetzen. Aber andererseits steigt in Brüssel ebenfalls die Anzahl junger Familien der zweiten Generation und bald die der dritten Generation, die ihr ganzes Leben in Belgien, verbracht hat. Obgleich diese Familien einen Bezug zu ihrem Glauben behalten, hegen sie Erwartungen an ein ruhiges Zusammenleben, das als kritisch gegenüber der Modernität, aus der sie hervorgegangen sind, verstanden werden kann. Hier erscheint nun in grundsätzlicher Weise das gesamte Ausmaß der Probleme und Veränderungen, die sich manifestieren, wenn man von einer multikulturellen Stadt oder einer Stadt der Vielfalt spricht. Letzterer Begriff wird oftmals oberflächlich gebraucht, so als ob es sich dabei um partielle oder kosmetische Anpassungen handeln würde. Aber was sich abspielt, sind Begegnungen von Weltanschauungen und bedeutsame Transformationen von sehr alten Gleichgewichten rund um das Religiöse. Zudem haben sich die letzten Jahre durch ein ereignisreiches Zeitgeschehen mit vielen Wendungen ausgezeichnet, die vielfach Unwohlsein und Spannungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Belgien hervorgerufen haben. Vor dem Hintergrund quälender Debatten in Bezug auf das, was manche als einen demographischen Druck von Seiten der Muslime darstellen, aber auch vor dem Hintergrund wachsender Sichtbarkeit des Islam – in erster Linie in Großstädten wie Brüssel – haben leidenschaftliche Diskussionen und einen großen Wirbel ausgelöst. Diese werden angeregt unter anderem durch das Verbot des Ganzkörperschleiers und durch rechtsextreme Provokationen, in denen die manichäische Auffassung von Schleier versus Freiheit vertreten wird. Es gab auch den sogenannten »Fall Chicha« – benannt nach dem Anführer eines Aufruhrs, der zur Absage eines Vortrags der umstrittenen französischen Journalistin, Caroline Fourest, an der Freien Universität Brüssel geführt
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hat. Dieser Fall wurde als radikale Anfechtung der Redefreiheit inmitten eines Heiligtums, das ebendiese Redefreiheit fördert, gedeutet. Zudem gab es lebhafte Polemiken infolge einer Reportage im Rahmen der Sendung »Questions à la Une« auf dem nationalen frankophonen Sender, die den sehr missverständlichen Titel »Faut-il avoir peur de l’islam?« (»Muss man Angst vor dem Islam haben?«) trug. In dieser Reportage wurden unter anderem scharfe Reden islamischer Splittergruppen wiedergegeben, die auf zu wenig Gegenwehr stoßen – darunter die der Gruppe Sharia4Belgium, die insbesondere die Demokratie in Frage stellt. Nicht zu vergessen die Polemik, die auf den Tod des Imam Abdullah Dadou infolge eines Brandes folgte, der von einem sunnitischen Muslim absichtlich in einer schiitischen Moschee gelegt worden war (und im Zusammenhang mit dem Syrien-Konflikt steht), oder auch die Ängste, die durch die Abreise Dutzender junger Muslime nach Syrien hervorgerufen worden sind, etc. In diesem Kontext, der manchmal als immer angespannter, ja sogar als elektrisiert wahrgenommen wird, wurde die letzte Studie 2013 initiiert, um problematische Fragen – »Fragen, die verärgern« – aufzuzeigen und zu analysieren, wie man zu einem besseren Verständnis der Gründe gelangen und mögliche Lösungen finden kann. Der Rückgriff auf die »Reflexionsforen« wurde an dieser Stelle nicht nur motiviert, um neue Daten in Bezug auf die Standpunkte der einen oder anderen zu erheben, sondern auch, um diese dem an anderer Stelle gewonnenen Interview- und Beobachtungsmaterial gegenüberzustellen. Es ging zudem darum, Mittel zu finden, um die Grundlagen der Argumentationen und insofern den mehr oder weniger vorherrschenden Einfluss bestimmter Diskurse und/oder Praktiken von Politikern, Predigern, von Vertretern von Bildungseinrichtungen und Medien etc. sichtbar zu machen, die die Meinungen der beiden Gruppen hinsichtlich der Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen betreffen. Hierbei wirken sich gewisse grundlegende Dynamiken sehr unauffällig, aber dauerhaft auf die Meinungen aus, genau wie die Nachrichten, die häufig via Internet in persönlichen Email-Postfächern verbreitet werden. Jenseits der objektiven, strukturellen Bedingungen des Zusammenlebens ging es also darum, die subjektiven Empfindungen beider Gruppen zu berücksichtigen, wobei diese stets allgemeinere soziale Dynamiken widerspiegeln. In der Vergangenheit wollte man die heiklen Probleme in ihrer Gesamtheit nicht ansprechen, und zwar aus Angst, beim Ansprechen des Themas die Spannungen zu verstärken. Man hoffte, dass sich die Angelegenheiten von selbst in Luft auflösen würden. Aber dem war nicht so. Heute versteht man an immer mehr Orten, wie dringlich es ist, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Die Recherche hat sich konkret auf Aspekte, bei denen die Religion hineinspielt, konzentriert. Anders ausgedrückt behandelte sie nicht Fragen wie Schul-
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versagen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, mit der die Religion nichts zu tun hat. Es sei denn, man bezieht sich auf die Tatsache, dass sich im Allgemeinen (bis auf Ausnahmen) die Jugendlichen, die sich der Religion zuwenden, oft mehr und besser um ihre Bildung bemühen und nicht zu denjenigen gehören, die kriminelle Delikte begehen. Diese Recherche, die zeitlich und hinsichtlich finanzieller Mittel begrenzt war, wurde von drei Personen durchgeführt, von denen zwei Forscher erprobt waren, um eine umfangreiche Feldstudie umzusetzen. Sie haben sich mit 40 Personen, die unterschiedlichen Alters, Geschlechts, unterschiedlicher Herkunft, Überzeugung und Auffassung waren, im Rahmen von vier »Reflexionsforen« getroffen. Es wurde zudem eine Debatte in einer Klasse der Sekundarstufe organisiert, die 14 junge Schüler aus der 11. Klasse zusammenbrachte. Individuelle Interviews und Gruppeninterviews haben die Informationsbeschaffung vervollständigt. Insgesamt wurden so etwas mehr als 150 Personen befragt. Wir haben auch etwa 60 Veranstaltungen, die das Zusammenleben in den verschiedensten Milieus betrafen, verfolgt und an ihnen teilgenommen, um die Reden, die dort gehalten wurden, aber auch die Praktiken zu analysieren.10 Ohne behaupten zu wollen, diese Studie sei vollständig, kann man sagen, dass sie einen globalen Überblick über den Status der Beziehungen zwischen Muslimen und NichtMuslimen gibt, insbesondere unter dem Blickwinkel der Spannungsorte (Sozialisationsinstanzen für Jugendliche, darunter die Schule, Unternehmen und Krankenhäuser) und der Spannungsmodalitäten. Hier werden nur die Ergebnisse hinsichtlich der Jugendlichen präsentiert. Doch wäre es wichtig, die Initiativen und die Orte, an denen positive Beziehungen entstehen, in einer weiteren Studie zu analysieren.
10 Eine Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Recherche findet sich auf der Internetseite der Fondation Roi Baudouin: Bocquet, Célestine/Dassetto, Felice/Maréchal, Brigitte: »Regards et relations musulmans et non musulmans à Bruxelles. Entre tensions, (imaginaires de ?) phobies et ajustements réciproques«, 2014. Vgl. http://www.kbs-frb.be. Die vollständige Studie wird im Laufe des Jahres 2014 veröffentlicht.
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DIESER S TUDIE ÜBER DIE WECHSELSEITIGEN S ICHTWEISEN UND P RAKTIKEN UNTER J UGENDLICHEN Der erste große Befund unserer Studie im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen zeigt ein grundlegendes historisches Missverständnis auf: Die Muslime, die seit 45 Jahren einen neuen Blick auf ihre religiöse Zivilisationsgeschichte erlangt haben, sind stolz darauf, diesen zu zeigen, zum Ausdruck zu bringen und in Europa auszuleben. In ihrer Begeisterung kaschieren sie die Probleme, die die muslimische Welt seit 50 Jahren charakterisiert, und versuchen, diese zu ignorieren. Es handelt sich dabei um Probleme, die nur teilweise zu ihrer Lebenswelt gehören und die sie nicht immer beherrschen (nämlich die religiös-politische Ideologie, die Familienideologie und die konservativen Geschlechterbeziehungen, die Radikalismen und den Jihadismus). Die Nicht-Muslime hingegen, die die Lebenswelt der Brüsseler Muslime nicht kennen, blicken aufmerksam und sogar ziemlich besorgt auf diese von den Medien häufig aufgegriffenen Probleme, wobei sie recht stark von dem religiösen Eifer irritiert zu sein scheinen, den einige Muslime bezeugen und der oft als aufdringlich wahrgenommen wird. Aus dem Gegenüber der Muslime und Nicht-Muslime folgt also eine recht merkwürdige Kommunikation der Missverständnisse und ergibt sich die Schwierigkeit, überhaupt zu einer Diskussion konkreter problematischer und verärgernder Fragestellungen zu gelangen. Was die Beziehungen zwischen Jugendlichen im Besonderen anbelangt, so sind gemeinsame Sozialisierungsorte aufgrund der Prekarität der Eltern eher begrenzt (sei diese Prekarität nun finanzieller Art, den geringen Sprachkenntnissen, der mangelnden Information über angebotene Möglichkeiten oder mangelnder Sensibilisierung geschuldet). Außerschulische Aktivitäten (in Sportvereinen und anderen Einrichtungen) scheinen verhältnismäßig wenig genutzt zu werden. Wie es ein Lehrer der Sekundarstufe ausdrückt, ermutigen manche Familien ihre Kinder, sich zu öffnen, aber »für andere gibt es gar keine intellektuelle Nahrung; es gibt nur das Handy, Internet, Kino und fertig«. Die Cafés, wo sich viele Jugendliche treffen, werden von zahlreichen Muslimen für Begegnungen als ungeeignet erachtet (s. unten). Die zahlreichen kulturellen Aktivitäten und Events in der Stadt, auch die, die gratis sind, scheinen die jungen Muslime kaum anzuziehen. Erst recht nicht, wenn sie außerhalb von deren Viertel stattfinden. Gleichzeitig entwickeln sich seit einigen Jahren neue kulturelle Dynamiken von muslimischen Jugendlichen, die unter sich versuchen, Veranstaltungen durchzuführen, die gegenwärtig im Wesentlichen nur von innergemeinschaftlich-muslimischer Bedeutung sind.
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Nach zahlreichen Treffen mit Jugendlichen und Sachkundigen des Jugendsektors scheint es, dass die Jugendlichen dazu tendieren, ihre Beziehungen, Sympathien und Spiele anderen Überlegungen vorzuziehen. Dennoch wird wahrscheinlich nicht ausreichend die beachtliche Arbeit berücksichtigt, die die Jugendlichen an sich selbst derzeit verrichten, um sich wechselseitig anzupassen, um zu versuchen, Beziehungen aufzubauen, Jugendliche anderer Milieus kennenzulernen, die, obwohl sie wie sie selbst Jugendliche sind, ganz anders wirken. Ohne dabei den Blick aus der Ferne, den sie halb neidisch, halb gleichgültig auf diese Jugendlichen anderer Milieus werfen, in Betracht zu ziehen. Ebenso wenig hinreichend wird die enorme Arbeit der Lehrer, Erzieher, der schulischen Betreuer wertgeschätzt, die tagtäglich mit dieser Vielfalt und diesen Distanzen unter teils schwierigen Umständen konfrontiert werden. Und dies geschieht im Zusammenhang mit fehlender Anerkennung und unzulänglichen finanziellen Mitteln, was entweder Personalknappheit oder Unterqualifizierung des Personals im Vergleich zu den zu erledigenden Aufgaben zur Folge hat (unter anderem im Bereich der Jugendhäuser und Hausaufgabenbetreuung). Wir konnten jedoch Anzeichen aufkommender Spannungen feststellen. Viele Jugendliche, vor allem ab der Mittelstufe, bezeugen nämlich, dass sie von ihren eigenen Mitschülern aufgrund ihrer – wie auch immer bestimmten – ethnischen Unterschiede schnell abgestempelt werden, obwohl sie sich allem voran als Jugendliche wahrnehmen. So ist die Rede von »Weißen«, »Flamen«, »Bounty«11 etc. Aber solche Zuschreibungen werden auch genutzt, um unter Jugendlichen die zuletzt Angekommenen zu unterscheiden. Die Jugendlichen etikettieren sich außerdem jeweils nach ihrer Zugehörigkeit zu den Vierteln von Brüssel. Dieser letzte Punkt wird gut in einem Dialog resümiert, der in einer vom kulturellen Standpunkt aus sehr gemischten Brüsseler 11. Klasse der Sekundarstufe aufgenommen wurde. Als Belaid, ein junger 17-jähriger Muslim tunesisch-libyscher Herkunft über Brüssel spricht, sagt er: »Wenn man in die Innenstadt Brüssels kommt, sind links Marokkaner, dreht man den Kopf nach rechts, sind dort Marokkaner…«. Worauf Stella, eine junge Protestantin aus dem Kongo, folgendermaßen reagiert: »Hey, wir sind auch noch da, ne?« Da erwidert Belaid spontan: »Ich spreche nicht von Matonge [Brüsseler Stadtteil, in dem viele afrikanische Einwanderer leben]!« Jeder wird ethnisch und in die Stadt eingeordnet. Wie ein anderer marokkanischer Jugendlicher sagte: »Da drüben ist die Straße der Rifs [Bezeichnung für berberophone Marokkaner aus dem Rif-Gebirge]. Wir, die Araber, wir gehen vor allem in die Straße Brabant.« Solche Identifizierungen 11 Dieser Ausdruck beispielsweise bezeichnet einen jungen Mann oder eine junge Frau, der bzw. die familiäre Wurzeln im subsaharischen Afrika hat und »sich wie ein Weißer oder eine Weiße« verhält.
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und Bezeichnungen, die Markierungspunkte innerhalb der Stadt festlegen, tragen ebenfalls zu Stigmatisierungsprozessen bei. In den Klassen erscheinen die Beziehungen auch gelegentlich verbal geladen, insbesondere zwischen marokkanischen und türkischen Jugendlichen, aber auch zwischen Arabern und Afrikanern, die sich streiten. Zweifelsohne kann man diese Beziehungen mit einem gewissen Fatalismus strukturellsoziologischen Gründen, wie der Diskriminierung oder dem Fehlen von Arbeit, zuordnen. Sie können auch durch intensivere Beziehungen zum Herkunftsland und zur Herkunftskultur via Satellitenfernsehen oder andere Medien verstärkt werden. Und dabei ist noch nicht einmal die Rolle des Internets berücksichtigt, das häufig von den Jugendlichen genutzt wird und theoretisch einen Raum für Beziehungen eröffnet, der aber lediglich ein intimes oder familiäres Unter-sichSein oder manchmal auch ein Unter-sich-Sein unter Unbekannten ermöglicht. Die Jugendlichen suchen so manchmal beispielsweise nach Antworten auf persönliche Fragen und zwar von bestimmten lokalen Predigern, zu denen sie nicht zwangsläufig eine persönliche Beziehung pflegen, aber denen sie aufgrund einer Verbundenheit mit der gleichen Herkunftskultur und dem lokalen Kontext vertrauen. Das Internet begünstigt zudem die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten und Übertreibungen. Letztere sind insbesondere bei den Jugendlichen von besonderer Bedeutung, die auf der Suche nach Orientierung und, mangels kritischer Distanz, empfänglich für Internetseiten sind, die eindeutige Standpunkte in einer klaren Sprache gegen das System vertreten oder auch Verschwörungstheorien entwickeln. Dennoch sollte man, was staatliche Finanzierungen angeht, auch die Auswirkungen der Bedeutung berücksichtigen, die der Herkunftskultur der Familien und der Begeisterung für das Multikulturelle zugesprochen wird, welche das konkret Erlebte dieser Jugendlichen, die gemeinsame Kultur des Landes, in dem diese Jugendlichen leben, und die kulturellen Wurzeln des Landes, dessen Bürger sie nun sind, außen vor lässt. Im Gegensatz dazu versuchen einige wenige Bürgerinitiativen, die Stereotypen zu durchbrechen und ein anderes Bild dieser Jugendlichen durch die Jugendlichen selbst zu geben. Nichtsdestotrotz empfinden diese Jugendlichen, von denen sich die meisten eine Identität aufbauen, indem sie den ererbten ethno-nationalen Identitäten und dem vermittelten familiären Erbe, oft ohne groß nachzudenken, ein großes Gewicht beimessen, das Zusammenleben als anstrengend, in dem jeder dazu tendiert, seine besondere Identität zur Schau zu tragen. Für gewöhnlich wird das Interkulturelle unter intellektuellen Gesichtspunkten als ein exaltiertes Prinzip angesehen. Aber es fordert auch große soziale Energien, besonders dann, wenn die Partikularismen geschärft werden und viele Lebensbereiche einnehmen.
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In dieser ermüdenden Situation ist der einfachste Ausweg der Rückzug unter seinesgleichen. Da, wo die Jugendlichen gezwungen sind, miteinander zu verkehren, wie in der Schule, an Hochschulen oder Universitäten, beobachtet man ein Funktionieren in »Blöcken«. Der Hörsaal wird folgendermaßen eingenommen: »Man lebt sein persönliches Wohlempfinden aus«, sagte eine Studentin, »man umgibt sich mit Leuten, die einem ähneln, dieselbe Kultur haben. Ich umgebe mich mit meinen Leuten. Warum sollte ich woanders gucken gehen«? Gleichgültigkeit, ein Leben parallel zum »Anderen«: Dies ist ein ziemlich gewöhnlicher und natürlicher Prozess. Aber die Situation wird problematisch, wenn diese Jugendlichen keine anderen Erfahrungen als diese machen, nur mit denen leben, von denen sie denken, dass sie die natürlichen »Ihrigen« sind, sich nur in den von den »Ihrigen« bewohnten Vierteln aufhalten, lediglich die Straßen und Geschäfte betreten, die von den »Ihrigen« betreten werden. Es kann so eine gewisse Abschottung entstehen, eine Angst, weiter zu gehen als unter seinesgleichen, wobei sich auch einige wünschen, dass ihnen geholfen wird, die Grenzen des Viertels zu überwinden, weil sie sich aufgrund fehlender Orientierungspunkte an diesen unbekannten Orten nicht trauen und/oder weil sie denken, nicht auf Anhieb willkommen zu sein. Wir haben zu diesem Thema zahlreiche Erlebnisberichte von Erziehern und Lehrern erhalten. Sich in Viertel außerhalb des gewohnten Terrains zu begeben, macht manchen Jugendlichen Angst. Es ist wichtig, diese Situationen nicht zu pauschalisieren. Es handelt sich dabei vielleicht um den schutzbedürftigen Teil der Jugendlichen, die außerhalb ihres eigenen Kontextes am schwächsten sind. Wie dem auch sei, in solchen Situationen kann sich eine Spirale der Abschottung, ja sogar der Ausgrenzung einstellen, denn auch wenn das Unter-sich-Sein schützend sein kann, grenzt es ebenfalls aus und hat mitunter keine Zukunft. Viele Erzieher reagieren auf dieses Problem und machen sich darüber Gedanken. Manche Sportvereine verfolgen eine Politik, bei der das Gemeinschaftsleben innerhalb einer Mannschaft in gewisser Weise verpflichtend ist. Andere, in denen die Erzieher weniger geschickt sind, ein Projekt auf die Beine zu stellen, erweisen sich als unfähig, mit der natürlichen Tendenz zum Rückzug fertig zu werden. Und um Spannungen und Konflikte zu vermeiden, lassen sie es zu, dass ethno-nationale Mannschaften aufgestellt werden, wobei sie bereits zufrieden sind, wenn diese es schaffen, Seite an Seite zu leben. Jugendhäuser wagen Versuche durch Reisen oder – zum Teil künstlerische – Projekte, die die Grenzen des Viertels überschreiten. Jugendorganisationen wie die Pfadfinder scheinen bislang die größten Schwierigkeiten zu haben, Projekte in die Wege zu leiten, die die neuen Dimensionen der Brüsseler Realität berücksichtigen. Die Lehrer tun, was sie in ihrem Rahmen tun können, wobei sie wissen, dass sich ein sehr
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großer Teil des Lebens der Jugendlichen außerhalb des schulischen Rahmens abspielt – mögliche Vergeltungsakte eingeschlossen, bei denen auch die Brüder mitmischen. Der Großteil der Fachkräfte aus dem Jugendsektor, die wir getroffen haben, berichtet von Unterschieden je nach Alter und Generation. Sie unterstreichen, dass unter Grundschulkindern generell keine spezielle Angst vor »dem Anderen« hinsichtlich Hautfarbe, Herkunft oder Religion herrscht. Es kommt lediglich bei den einen zu Anfragen, was bestimmte Nahrungsmittelverbote angeht, was wiederum bei den anderen Erstaunen oder Fragen hervorruft. Aber die ethnonationalen Identitätsfaktoren treten gegen Ende der Grundschule und anschließend in der Mittelstufe ziemlich schnell ans Tageslicht, sowohl bei den Mädchen als auch bei den Jungen. Bei letzteren vielleicht auf eine deutlichere Art und Weise. Das Aufkommen dieser schwer zu handhabenden Identitätslogik scheint die Fachkräfte zu verunsichern. Einige von ihnen betonen, wie Kinder aus der dritten, vierten Generation mittlerweile weniger an ihre familiären und zum Teil auch weniger an ihre religiösen sowie identitären Bezugssysteme des Herkunftslandes gebunden sind. Da sie in einem familiären Milieu, das stärker in der belgischen Realität verankert ist, aufgewachsen sind, scheinen sie sich an einem anderen Umfeld zu orientieren – von drei Ausnahmen abgesehen. Viele Jugendliche, von denen ein Elternteil der zweiten oder dritten Generation angehört, haben ein anderes Elternteil, das direkt aus dem Herkunftsland stammt und das nicht immer die französische Sprache spricht. Besonders ist zudem die Situation der türkischen Familien, die aus verschiedenen Gründen in offiziellen Politiken und Diskursen gefangen sind, die einen starken Bezug zur Türkei und zu deren kulturellen, religiösen und nationalen Realität aufrechterhalten. Besonders ist auch die Lebenswirklichkeit der Familien, die Anhänger von orthodoxeren und strengeren Strömungen des Islam sind. In diesen Fällen bringt der Blick auf die Anderen und die belgische Gesellschaft eine andere, distanziertere Sichtweise mit sich. In dieser oft zwiespältigen Beziehung mit der Gastgesellschaft scheinen die Eltern, vielfach unbewusst, eine ambivalente Rolle gegenüber ihren Kindern gespielt zu haben. Da einige von ihnen zum Teil jahrzehntelang das Projekt, wieder abzureisen und ins Herkunftsland zurückzukehren, aufrechterhalten haben, haben die Jugendlichen nie das Gefühl entwickeln können, endgültig angekommen zu sein. Sich in Brüssel zu engagieren schien lange Zeit ein sinnloses Vorhaben zu sein. Und noch heute scheinen sich viele Jugendliche der Möglichkeiten wenig bewusst zu sein, die sich ihnen eröffnen, wenn sie sich die Stadt aneignen. In diesem Zusammenhang fehlt die Selbstkritik der vorangegangenen Generationen, wobei die zahlreichen Fortschritte, die in 50 Jahren Präsenz gemacht wur-
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den, kaum bekannt sind. Es gibt nur wenige, die die mögliche individuelle, familiäre oder gemeinschaftliche Verantwortung anerkennen, die (wenn auch partiell) zu diesem Hin- und Hergerissen-Sein der Jugendlichen beigetragen hat. Aber für manche sitzt die dritte Generation de facto »vielleicht mehr zwischen zwei Stühlen als wir«. Man muss sagen, dass sich einige Erwachsene aus der zweiten Generation bei der kulturellen Weitergabe der Werte des Herkunftslandes an ihre Kinder manchmal besorgt oder sogar übereifrig zeigen, weil sie wissen, dass sie selbst beispielsweise nicht mehr ihre Herkunftssprache sprechen und/oder sie nicht schreiben können. Das Verhältnis der Geschlechter ist in den Kontakten zwischen Jugendlichen nicht immer leicht zu handhaben, und zwar unabhängig davon, ob ein religiöser Bezugsrahmen vorhanden ist oder nicht. Ein besonderes Problem ist auch das einer bestimmten, vom Machismo geprägten Einstellung, die bei einem Teil der muslimischen Jugendlichen immer noch präsent ist. Diese macht das Geschlechterverhältnis problematisch (z.B. in Jugendhäusern), aber sie stellt ebenfalls ein Problem im schulischen Kontext dar, auch im Verhältnis zwischen Schülern und Lehrerinnen. Auf religiöser Ebene scheint die Frage des Islam, bis auf einige Verbote betreffende Aspekte, in den alltäglichen Beziehungen unter Jugendlichen im schulischen Umfeld nicht allzu sehr ins Gewicht zu fallen. Im Unterricht mancher Fächer dagegen sehr wohl: Geschichte, Biologie, Literatur, Gesellschaftskunde, Physik. Es scheint, als ob kritische Einwände muslimischer Jugendlicher (wahrscheinlich infolge von Konferenzen, Predigten, Informationen aus dem Internet) für Lehrer sowohl als Gelegenheit für eine Vertiefung dieser Themen als auch als Anlass zur Verärgerung dienen können. Manchmal arten sie sogar in Auseinandersetzungen aus, wenn die Lehrer (im Geschichts- oder Ethikunterricht oder im Unterricht anderer Fächer) auf dem Gebiet der historischen und kulturellen Aspekte der muslimisch-religiösen Denkweise nicht hinreichend (d.h. nur durch den einen oder anderen Konferenzbesuch) ausgebildet sind. Die Lehrer sind meistens schlecht vorbereitet und kennen nicht wirklich die Sichtweise des Schülers, der ihnen Fragen stellt. Es würde sich also lohnen, ein ernsthaftes Bemühen um eine vertiefte Ausbildung voranzutreiben und zu fördern. Bei diesen Fragen, die sich unter anderem auf die islamische Glaubenslehre beziehen, scheinen die islamischen Religionslehrer (bis auf Ausnahmen) keine herausragende Rolle zu spielen. Bis heute lässt sich größtenteils feststellen, dass sie sich zurückziehen.
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S IND DIE R EFLEXIONSFOREN NÜTZLICH , UM DAS K ONZEPT DES »D ISPOSITIVS « EMPIRISCH ZU ÜBERPRÜFEN ? Unsere Aktionsforschung hat die theoretischen Überlegungen von M. Foucault kaum einbeziehen können, aber bei der Anfrage der Universität Paderborn zur Relevanz des Begriffs des »Dispositivs« für die Erforschung der Identitätskonstruktionen europäischer Muslime stellte sich heraus, dass wir teilweise auf unsere anfänglichen Fragestellungen treffen und zugleich gezwungen sind, unseren Analysegegenstand erneut zu überprüfen, indem wir den Machtverhältnissen, die die Identitäten formen, besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wir sind nämlich davon ausgegangen, dass individuelle Identitäten zwar stets besonders, aber doch von vornherein kontextuell und relational sind, zumal sie sich im Laufe der Zeit und infolge gesellschaftlich geprägter multipler Bruchlinien formen und in den Interaktionen erkennbar behaupten.12 Die erste Sorge unseres Ansatzes betraf nicht direkt das Machtgefüge, sondern hatte vor allem zum Ziel, die »Fragen, die verärgern«, zu begreifen. Erst in einem zweiten Schritt war es uns wichtig, die Argumente der beiden Gruppen zu verstehen, um die Art, wie sie ihre jeweiligen Standpunkte hinsichtlich der Beziehungen begründen und rechtfertigen, zu begreifen. Nun betrifft das Konzept des »Dispositivs« von vorneherein und vorrangig Machtrelationen. Ausgehend von diesem Konzept betrachtet M. Foucault nämlich zugleich ein System von Beziehungen zwischen heterogenen Elementen wie Diskurse, institutionelladministrative Verfahrensweisen und Mechanismen sowie Wissensstrukturen, die die Machtausübung innerhalb eines Sozialkörpers aufrechterhalten oder optimieren. So erlaubt dieses sehr umfassende Konzept des »Dispositivs« M. Foucault, vor allem die Taktiken der Macht und die des Wissens aufeinander zu beziehen und in den Blick zu nehmen.13 Laut J.F. Bert besteht die question obsédante M. Foucaults darin, »à démasquer comment le pouvoir se transforme en un savoir qui, à son tour, s’installe comme vérité dans la société : Comment le pouvoir subordonne le savoir et le fait servir à ses fins ou comment il se surimpose à 12 Siehe u.a. Barth, Fredrik: »Les groupes ethniques et leurs frontières«, in: Fredrik Barth/Philippe Poutignat/Jocelyne Streiff-Fenard (Hg.), Théories de l’Ethnicité, Paris: P.U.F., 1995, S. 203-249, oder aber Lahire, Bernard: Les plis singuliers du social. Individus, institutions, socialisations, Paris: La Découverte, 2013. 13 Die hier dargestellten Ansätze beziehen sich auf die aufschlussreiche Zusammenfassung von: Bert, Jean-François: Introduction à Michel Foucault, Paris: La Découverte, 2011.
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lui et lui impose des contenus et des limitations idéologiques«. Kurz: M. Foucault versucht zu verstehen, wie sich die festgelegten Machtstrukturen mit den durch das Wissen definierten Strukturen zugunsten einer wechselseitigen Verstärkung beider Achsen verbinden. In diesem Zusammenhang scheint M. Foucault ohne Weiteres anzuerkennen, dass es eine Vielzahl von Machtquellen gibt. Aber es ist festzustellen, dass er sie im Wesentlichen im Sinne ihrer wechselseitigen Übereinstimmungen betrachtet, wohingegen unsere Sichtweise weniger festgelegt und offener erscheint. Wir haben das Hauptaugenmerk nämlich vor allem auf die Art und Weise gelegt, wie die Personen die Probleme darstellen, indem sie sich Argumente wie auch unter Umständen in Konkurrenz stehende oder sogar sich direkt widersprechende Diskurse aneignen, die im Streitgespräch über eine als gemeinsam gesetzte Diskussionsfrage (die Beziehungen) in einem ebenfalls relativ geschlossenen RaumZeit-Verhältnis zu Tage treten (auch wenn der Maßstab einer Stadt sicherlich weit größer und komplexer erscheint als eine geschlossene Institution, wie sie M. Foucault erforschen konnte). Mit anderen Worten: Obwohl es gemeinsame Perspektiven und Ziele zwischen unserem Projekt und dem von M. Foucault (dessen Betonung der Wissen-Macht-Achse ihre volle Relevanz behält) gibt, scheint die Reihenfolge unserer jeweiligen Prioritäten nicht identisch zu sein und unsere Zielsetzungen schränken de facto die Bedeutung der ziemlich verabsolutierenden Machtkonzeption bei Foucault ein. Es scheint uns, dass uns unser soziologischer Ansatz, indem er den Diskursen und Praktiken sehr unterschiedlicher Individuen die Möglichkeit gibt, sich auszudrücken, erlaubt, die Komplexität der sozialen Logiken, die am Werk sind – unter Umständen in Konkurrenz zueinander stehen und die der einen oder anderen Gruppe, oder vielmehr den einen gegen die anderen, auferlegt werden –, zu erfassen und sie in Bezug zu den Ansprüchen konkurrierender Wahrheitsregime zu setzen. In diesem Zusammenhang erscheinen uns die Reflexionsforen also nützlich, um das Konzept des »Dispositivs« empirisch zu überprüfen, da sie es zulassen, die Argumente, die die Standpunkte legitimieren, herauszuarbeiten: Wir verfügen tatsächlich über ein konkretes Forschungsinstrumentarium, das versucht, die Mechanismen, Prozesse und Instanzen, durch die die Subjekte wirklich gebildet und geformt werden, zu erfassen. Aber es scheint uns, dass das Forschungsfeld, das sich durch diese Methode öffnet, die Ansprüche des Dispositivs dahingehend überschreitet, als dass es der Komplexität der betroffenen Kräfteverhältnisse mehr Platz einräumt. Ist es in unseren Gesellschaften, die unaufhörlich multikultureller und globalisierter und in Abhängigkeit von in Konkurrenz zueinander stehenden Einflüssen unterschiedlicher Natur und Stärke konstruiert werden,
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nicht wichtig, unseren Blick zu erweitern, um ihr Gewicht und die jeweilige Wirkung zu begreifen?
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EINIGE Ü BERLEGUNGEN IM ANSCHLUSS AN UNSERE S TUDIE HINSICHTLICH DER I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN JUNGER EUROPÄISCHER M USLIME UNTER DER B ERÜCKSICHTIGUNG DES K ONZEPTS DES »D ISPOSITIVS « Bei den Diskussionen, die oft polemischer Natur sind, geben extrem pro- oder antimuslimische Positionen den herrschenden Ton an. Gewiss entwickeln sich verschiedene Haltungen der Gesprächspartner hinsichtlich der Frage der Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen: antagonistische, kompromisswillige, ausweichende, zwischenmenschlich-umsichtige und zwischenmenschlich-identitätsbezogene. Und es scheint, dass auf beiden Seiten die zwischenmenschlich-umsichtige Haltung, die bereit und offen für einen Austausch, aber zugleich kritisch und ruhig ist, sicherlich überwiegt. Aber diese Feststellung wirft folglich ein Paradoxon auf: Obwohl die Leute, Muslime wie NichtMuslime, agieren, um einen Weg zu positiven Beziehungen zu finden, dominieren im Diskurs- und Gedankenfeld die antagonistischen und zwischenmenschlich-identitätsbezogenen Argumente und Formulierungen, die auf zugespitzte Haltungen abzielen. Einer der möglichen Gründe für diese Situation ist, dass die schweigende Mehrheit nicht alle Mittel besitzt, um eine Grundsatzdebatte zu führen, die es ihr erlaubt, sich gegenüber radikalen Diskursen zu positionieren. Zu letzteren zählen unter anderem solche, die auf pauschale Verallgemeinerungen und Kategorisierungen zurückgreifen (wie beispielsweise »Die Muslime sind…«, »Der Westen ist…«), oder aber solche, die nicht zögern, sich verbaler Angriffe zu bedienen. In diesem Zusammenhang scheinen zwei Kernpunkte für die Gesprächsblockaden vorherrschend zu sein (allerdings wird in der Analyse deutlich, dass diese Kernpunkte früher lediglich von einigen wenigen Akteuren, die spezifische Akteursstrukturen aufweisen, d.h. von einer (sehr) aktiven Minderheit, verbunden mit Strömungen vom Typ der Muslim-Brüder oder der Salafisten, die es nun im Namen der Gerechtigkeit tatsächlich geschafft hat, ihre Sichtweisen so weit durchzusetzen, dass sie die größte »orthodoxe« Strömung unter den muslimi-
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schen Bevölkerungsgruppen geworden ist).14 Zum einen handelt es bei diesen Kernpunkten um das Konzept der »Islamophobie«, das, allgemein gebraucht und verbreitet, weitläufig eingesetzt wird, und zwar auch von öffentlichen Instanzen. Es verkrampft ernsthaft den Austausch. In unseren Augen bedarf dieser an die Gesellschaft insgesamt gerichtete Vorwurf, der diese gewissermaßen zur Geisel nimmt und so zum Teil eines Machtmechanismus des negativen Blickes auf die gesamte Gesellschaft wird, a posteriori einer ernsten Kritik. Und dies aus zwei Gründen: Ist das Konzept der Islamophobie nicht Teil der verbalen Attacken, die jegliche kritische Distanzierung verhindert? Und richtet es nicht auch den Blick in einem unilateralen Sinne aus, obwohl es im Austausch wichtig ist, in wechselseitigen Bezügen zu denken (gibt es beispielsweise keine Form von Christenfeindlichkeit, Judenfeindlichkeit, Feindlichkeit gegenüber dem Westen bei einigen Muslimen?). Der zweite Kernpunkt, der die Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen blockiert, ist der islamische Schleier. Er scheint das Hindernis par excellence in allen Debatten zu sein, das Thema, in dem sich der Großteil der Gegensätze kristallisiert. Zahlreiche Überlegungen überlagern sich bei diesem Thema und sind kaum aufeinander zu beziehen. In den Reflexionsforen scheinen die Diskussionslinien ständig zu verschwimmen, unter anderem, weil sich das Kopftuch, das unterschiedliche persönliche Einstellungen zum Ausdruck bringt, als mehrdeutig erweist. Es kann sowohl Ausdruck von traditionellen Praktiken als auch der Religiosität sein; es kann sowohl das Symbol einer Hyper-Selbstbestätigung seiner selbst sein als auch rein pragmatische Aspekte abdecken oder sogar Modeerscheinungen bedienen. Diese Mehrdeutigkeit scheint für gewöhnlich zahlreichen Nicht-Muslimen unbekannt zu sein. Und angesichts dieser zahlreichen Bedeutungen, die sich oft vermischen, wird das Verständnis dieser sozialen Tatsache konfus. Und dies umso mehr, weil diese Praktik an sich sehr wenig diskutiert wird, obwohl sie zahlreiche Fragen aufwirft. Diese »religiöse Verpflichtung« (die dennoch nicht von allen Muslimen akzeptiert wird und zudem immer und überall Gegenstand zahlreicher Interpretationen ist) tendiert dazu, unbestreitbar zu werden. Infolgedessen scheint es gegenwärtig nicht mehr erlaubt zu sein, ihre Grundlagen und Umsetzungsmodalitäten anzusprechen. Daraus ergibt sich wiederum, dass es unmöglich wird, sich über diese zahlreichen Aspekte auszutauschen, wobei die Verzerrungen und wechselseitigen Tabuzonen wie Ausgrenzungen ebenfalls und auf beiden Seiten an unterschiedlichen Machtmechanismen mitwirken. Aber dass die Diskussionen schwierig sind, kommt auch daher, dass die Orientierungspunkte nicht klar sind. Diese Frage beinhaltet nämlich zahlreiche 14 Siehe zu dieser Thematik: Ben Achour, Yadh: Aux fondements de l’orthodoxie sunnite, Paris: Presses Universitaires de France, 2007.
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wechselseitige Vorstellungen, die aufeinanderprallen. Bei den Gesprächen sind also drei Spannungsfelder hervorgetreten. Erstens stehen Überlegungen zum Freiheitsprinzip denjenigen über Unterdrückung gegenüber. Für die einen wird diese Praktik seitens der betroffenen Frauen meistens als Ausdruck ihrer persönlichen Freiheit dargestellt. Für die anderen jedoch steht diese Praktik, ganz im Gegenteil, für die Unterwerfung der Frauen unter religiöse Vorschriften und/oder unter eine patriarchalische Ordnung oder aber unter Gemeinschaftsregeln. Zweitens plädieren einige Personen, und zwar generell Nicht-Muslime, die sich weigern, das Tragen des Kopftuchs weiter zu akzeptieren, vor allem für die Aufrechterhaltung einer etablierten Ordnung. Aber diese Personen treffen dann auf lebhafte Proteste und Formen des Engagements derer (sowohl Muslime als auch Nicht-Muslime), die sich aktiv für einen Wandel (und nicht unbedingt für die vollständige Veränderung) dieser als rigide wahrgenommenen sozialen Ordnung im Namen der Freiheit und des Antidiskriminierungskampfes einsetzen möchten. Drittens geht das Unverständnis auch aus der Tatsache hervor, dass die Muslime dem Schleier die Tugenden der Frömmigkeit, Bescheidenheit und manchmal sogar des Schamgefühls zusprechen. Andere hingegen, meistens Nicht-Muslime, empfinden ihn vor allem als eine spezielle und sehr sichtbare Identitätsbestätigung, die die Blicke auf sich zieht, was in einem großen Widerspruch zu den zuvor erwähnten religiösen Motiven zu stehen scheint. All diese Überlegungen tragen also dazu bei, dass es zu Unklarheiten bei den Diskussionen und zu diesem »Aufeinanderprallen von wechselseitigen Vorstellungen« im Sinne einer gegen die Anschauung des »Anderen« gerichteten Konfrontation kommt, die scheinbar nicht überwunden werden kann. Dies gilt umso mehr, als diese Diskussionen von widersprüchlichen ideologischen Diskursen, die außerdem in Konkurrenz zueinander stehen, getragen werden, wie beispielsweise von solchen, die einen abwertenden Laizismus im Hinblick auf das Religiöse unterstützen, und solchen, die für eine umfassende Sichtweise des Islam werben. Dabei rühmen sich letztere damit, lediglich dafür sorgen zu wollen, dass das Prinzip der Religionsfreiheit, auch in der öffentlichen Verwaltung, in denen das Neutralitätsprinzip herrscht, respektiert wird, wobei sie sich stark auf dem Gebiet der Identitätskonstruktion engagieren (um nicht zu sagen auf dem der selbstgenügsamen Identitätsabschottung der Muslime). Innerhalb dieser ideologischen Diskurse sind auch Versuche festzustellen, die darauf abzielen, das Stigma umzudrehen, indem dieses dem Anderen übergestülpt wird. Dies haben wir unter anderem bei dem Vorwurf der Islamfeindlichkeit festgestellt (wobei dieser außerdem eine Möglichkeit darstellt, diejenigen, die dieser angeblich zum Opfer gefallen sind, gegenüber den anderen, von denen sie sich aufgrund einiger Besonderheiten so immer mehr distanziert fühlen, zu-
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sammenzuschweißen). Aber wir stellen dies auch bei der Kritik an einer sozialen Praxis fest, die von Nicht-Muslimen weitläufig geteilt wird, nämlich dem Alkoholkonsum. So erkennt die belgische Gesellschaft in den Augen vieler Muslime deren Glauben nicht an, oder zumindest nicht hinreichend. Und angesichts dessen, was sie als ein Defizit an Anerkennung empfinden, kommen sie auf bestimmte Praktiken zu sprechen – ja prangern diese sogar an –, die die Mehrheit der Gesellschaft ihnen ihrer Meinung nach tendenziell auferlegt. Es ist also nicht mehr die Rede von der Unterwerfung der verschleierten muslimischen Frau, die sich ihrer Religion, einer patriarchalischen Ordnung oder dem Gemeinschaftsdruck unterordnet, sondern eher von einer Unterwerfung unter eine vorherrschende soziale Ordnung, die nicht so glänzend ist, wie sie scheint. Und die Verantwortung für die Ungerechtigkeiten, die von einigen muslimischen Frauen empfunden wird, die mit ihrem Kopftuch nicht arbeiten oder zur Schule gehen können, wird so vor allem auf die Gesellschaft zurückgeführt, ohne dass irgendeine Kontextualisierung oder Selbstkritik durchgeführt werden könnte. Hinsichtlich dieses Spannungsverhältnisses zwischen Freiheit und Unterwerfung stellen wir also fest, dass die Argumente der beiden Gruppen spiegelbildlich konstruiert werden und an unterschiedlichen, in Konkurrenz stehenden Machtmechanismen teilhaben, deren kausale Verkettungen umgedreht werden. Und im Vergleich zu den teils wenig differenzierten Vorstellungen von NichtMuslimen hinsichtlich des Tragens des Kopftuchs, kommen ebenfalls abwertende Bilder und Verurteilungen einiger Muslime zum Alkoholkonsum bestimmter Nicht-Muslime auf. Diese soziale Praxis wird also mit einem ausschweifendem Leben und dem Sittenverfall in Zusammenhang gebracht, die moralisch verurteilt und als schädlich erachtet werden. Genau wie die Vorstellung von verschleierten Frauen, die als unausweichlich unterworfen betrachtet werden, sind die mit dem Alkoholkonsum verbundenen Bilder übertrieben. Egal, ob die Rede von Alkohol oder vom Kopftuch ist, auf beiden Seiten kommen Vorurteile und bestimmte Phantasievorstellungen auf. Und dieses »geteilte Wissen« trägt zu den Beziehungsschwierigkeiten bei, die Muslime und Nicht-Muslime heute erleben. Es wäre also notwendig, wechselseitige Selbstkritik an dieser »Über-Fokussierung« der Verhaltensweisen, durch die der Andere als unausweichlich fremd wahrgenommen wird, zu üben. All diese Äußerungen zeigen, in welchem Maße die Reflexionsforen erlauben, das Ausmaß und die Intensität der aktuellen Herausforderungen zu enthüllen, die dann noch einmal im Zusammenhang mit den zahlreichen Mechanismen der Macht und des Wissens überdacht werden sollten. Dies gilt umso mehr, als wir es mit Bevölkerungsgruppen zu tun haben, die an unterschiedlichen Bezugssystemen teilhaben und in heterogenen, letztendlich mitunter sehr schwach mit-
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MIT
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einander verknüpften Sozialisierungskontexten verkehren. In diesem Zusammenhang erscheinen die Muslime nicht nur Machtverhältnissen (in ihren europäischen (Gast-)Gesellschaften oder in den verschiedenen ethno-nationalen oder auch religiösen Strömungen) unterworfen, sondern auch als Akteure und Produzenten von Machtverhältnissen, und zwar nicht nur unter den Mitgliedern muslimischer Gemeinschaften, sondern auch in der Gesellschaft als Ganzes, wobei unterschiedliche Dynamiken ständig interagieren und auch das Zusammenleben betreffen. Ermöglichen die Reflexionsforen im Grunde genommen nicht, sich von den gänzlich vorgefertigten Vorstellungen zu distanzieren, um die objektiven Bedingungen des Zusammenlebens zu klären und neue konkrete Handlungswege auszuloten? Ermöglichen sie nicht durch ein mögliches Überwinden dieser Machtverhältnisse, die auf diese Weise nach und nach aufgedeckt werden, die Etablierung einer Beziehungskultur, die auf Respekt und gegenseitigem Zuhören der jeweiligen Argumente basiert, um Wege zu finden, die nicht nur kurz- und mittelfristig bestehen und denen es gelingt, ein »Wir« zum Vorschein zu bringen, das dem Gemeinwohl aller nützt?
B IBLIOGRAPHIE Barth, Fredrik: »Les groupes ethniques et leurs frontières«, in: Barth, Fredrik/Poutignat, Philippe/Streiff-Fenard, Jocelyne (Hg.), Théories de l’Ethnicité, Paris: P.U.F., 1995, S. 203-249. Ben Achour, Yadh: Aux fondements de l’orthodoxie sunnite, Paris: Presses Universitaires de France, 2007. Bert, Jean-François: Introduction à Michel Foucault, Paris: La Découverte, 2011. Bocquet, Célestine/Dassetto, Felice/Maréchal, Brigitte: »Regards et relations musulmans et non musulmans à Bruxelles. Entre tensions, (imaginaires de ?) phobies et ajustements réciproques«, in: Fondation Roi Baudouin, 2014. http://www.kbs-frb.be De Changy, Jordane /Dassetto, Felice/Maréchal, Brigitte: Relations et coinclusion. Islam en Belgique, Paris: L’Harmattan, 2007. Dassetto, Felice: La rencontre complexe. Occidents et Islams, Louvain-laNeuve: Académia-Bruylant, 2004. Dassetto, Felice: L’Iris et le Croissant. Bruxelles et l’islam aux défis de la coinclusion, Louvain-la-Neuve: Presses Universitaires de Louvain, 2011.
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Zur Bedeutung von Ordnungsparadigmen und Raumkonstruktionen für Formungen der Institutionalisierung und Repräsentation des Dispositivs Muslimsein in Belgien, Frankreich und Spanien SA BINE SC HMITZ
Seit den 1990er Jahren bilden die Repräsentation und Organisation muslimischer Gemeinschaften in Europa auf nationaler und lokaler Ebene einen in wissenschaftlichen Studien intensiv betrachteten Gegenstand, da sie vielfach als Gradmesser für die Integration der Muslime und des Islam auf politischer Ebene betrachtet und zugleich als eine wichtige Rahmung des Weltverhältnisses und der Selbstdefinition der Muslime bewertet werden.1 Ein stets in diesem Zusammen1
Frégosi fasst diesen Prozess wie folgt zusammen: »L’institutionnalisation revient en fait à mettre l’accent sur les dynamiques institutionnelles, destinées, non seulement à rendre visible la présence musulmane, mais aussi et surtout à officialiser le caractère plus ou moins achevé, durable, pérenne de son insertion. Le degré d’institutionnalisation d’un groupement religieux étant supposé conditionner grandement sa participation au système politique dominant, en d’autres termes, sa normalisation sociale«; Frégosi, Frank: »L’Islam en Europe, entre dynamiques d’institutionnalisation, de reconnaissance et difficultés objectives d’organisation«, in: Faculté de droit et de science politique d’Aix-Marseille (Hg.), Religions, droit et sociétés dans l’Europe communautaire. Actes du XIIIème colloque de l’Institut de Droit et de l’Histoire Religieuses (IDHR), Aix en Provence, 19-20 mai 1999, Aix-en-Provence: Presses universitaires d’Aix-Marseille, 2000, S. 91-117, hier S. 95. Frégosi verweist hier treffend darauf, dass den Untersuchungen zur Institutionalisierung der Muslime in europäischen Ländern selbstverständlich stets auch die Frage nach den Organisationsstrukturen einer religiösen Minderheit implizit ist.
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hang wiederkehrender Topos ist der Verweis auf die vielfältigen Ausprägungen der Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in verschiedenen europäischen Ländern.2 Vor diesem Hintergrund wurde in vergleichenden Studien wiederholt das Ziel formuliert, nach den Gründen und Auswirkungen dieser Unterschiede zu fragen. Auch Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Repräsentation und Organisation muslimischer Gemeinschaften in europäischen Ländern wurden in einigen Studien angeführt. Dass die Institutionalisierung des Islam als ein wichtiges Element des Dispositivs Muslimsein angesehen werden kann, findet sich auch in Foucaults Definition des Begriffs ›Dispositiv‹ bestätigt. Denn er verweist hier auf die wichtige Stellung der Institutionen im Ensemble der Elemente eines Dispositivs: Was ich unter diesem Titel [unter dem des Dispositivs, S.S.] festzumachen versuche, ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale [sic] Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst soweit die Elemente des Dispositivs [Hervorhebung S.S.]. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens möchte ich in dem Dispositiv gerade die Natur der Verbindung deutlich machen, die zwischen diesen Elementen sich herstellen kann. […].3
In vielen Studien zu diesem Themenfeld wird bisher jedoch nur bedingt berücksichtigt, dass die Prozesse zur Institutionalisierung des Islam das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses sind, deren Protagonisten und Zielgruppen in einer Institution organisierte Individuen bzw. Gruppen sind. In der Folge richteten sich die Untersuchungen vor dem Hintergrund von gouvernance-Theorien, mobilization-
2
Eine frühe, bis heute wichtige Studie stammt von Rath, Jan/Groenendijk, Kees/ Penninx, Rinus: »The recognition and institutionalisation of Islam in Belgium, Great Britain and the Netherlands«, in: New community ; European journal on migration and ethnic relations 18:1 (1991), S. 101-114; neue interessante Studien sind z.B. Ferrari, Silvio: »The Secularity of the State and the Shaping of Muslim Representative Organizations in Western Europe«, in: Jocelyne Cesari/Sean McLoughlin (Hg.), European Muslims and the Secular State, Aldershot: Ashgate, 2006, S. 11-23; Maussen, Marcel/Bader, Veit/Moors, Annelies: Colonial and post-colonial governance of Islam. Continuities and ruptures, Amsterdam: Amsterdam University Press, 2011.
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Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve, 1978, hier S. 119-120.
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Ansätzen etc. fast ausschließlich auf eine vergleichende Institutionenanalyse und weniger auf die Protagonisten des Prozesses. Um stärker in den Blick zu nehmen, dass diese Institutionalisierungsprozesse das Ergebnis der Handlungen von Personen bzw. Gruppen sind, und um zugleich Strukturen und Bedeutungen dieser Etablierungsprozesse zu systematisieren, betrachtet die folgende Analyse Formungen der Institutionalisierung und Repräsentation des Dispositivs Muslimsein unter Einbeziehung des in den letzten beiden Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften vollzogenen spatial turn, die Hinwendung zum Raum. Denn in Folge dieser ›Raumwende‹ wird Raum nun nicht mehr als fest gefügter Containerraum begriffen, sondern als Produkt der dem zeitlichen Wandel unterworfenen anordnenden Handlungen von Subjekten, die kulturelle und soziale Strukturen schaffen und gesellschaftliche Ordnung vorgeben.4 Diese zentrale Setzung von Raum hat Foucault in seinem Konzept des Dispositivs bereits vorweggenommen, da er in dem soeben angeführten Zitat als Element des heterogenen Ensembles eines Dispositivs explizit auch »architekturale [sic] Einrichtungen« anführt.5 Raumkonstruktionen und sie bestimmende Raumparadigmen werden somit als Konstrukte im Prozess wahrnehmbar, die zugleich auf individuelle und kollektive Identitäts- und Sinnbildungsprozesse und auf die unterhalb dieser Vollzüge liegenden Zuschreibungen verweisen, die sie vielfach maßgeblich prägen bzw. strukturieren. Denn Raumkonstrukte werden sowohl von einer Theorie und einer Konzeption des Raums als auch von der Theorie und Konzeption der Gesellschaft bestimmt.6 4
Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt: Suhrkamp, 2002. Hierbei wird deutlich, dass Löw nicht einer Unterscheidung zwischen Ort und Raum, die auf eine Binnendifferenzierung des Begriffs ›Raum‹ zielt, folgt. Denn nach dieser ›klassischen‹ Unterscheidung sind Orte konkret und werden durch persönliche Erfahrungen, kollektive Erinnerung oder Narrative erschaffen. Räume hingegen sind gegenüber diesen persönlichen Erfahrungen indifferent, dienen vielmehr als Ordnungsschema und stehen vielfach in einem engen Zusammenhang mit politischen oder ökonomisch definierten Territorien. Indem sie diese Trennung auflöst, ist es möglich, die Handlungsdimension, die die gesellschaftlich verhandelten Prozesse des Anordnens bzw. des Platzierens von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten implizieren, sichtbar zu machen bzw. abzubilden. Da diese Perspektive auf Räume im vorliegenden Forschungszusammenhang grundlegend ist, tritt die aufgezeigte Unterscheidung von Ort und Raum in den Hintergrund.
5 6
M. Foucault: Dispositive der Macht, hier S. 119. Auf dieser Wechselwirkung insistiert Schmid, wenn er klarstellt: »Jede Theorie des Raumes stützt sich auf eine bestimmte Konzeption von Gesellschaft und jede Gesell-
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Als Gegenstand der Untersuchung dieser komplexen Wechselwirkung von Raum und Gesellschaft wird im Folgenden die bisher nicht in einer Studie explizit vergleichend betrachtete von staatlicher Seite initiierte bzw. strukturierte Institutionalisierung und Repräsentation der muslimischen Gemeinschaften in Belgien, Frankreich und Spanien analysiert. Ein besonderes Interesse dieses Vergleichs ergibt sich auf einer allgemeinen Ebene aufgrund der gemeinsamen Zugehörigkeit der drei Länder zum romanischen Kulturraum und auf einer themenspezifischen aus der den Ländern gemeinsamen nachhaltigen Prägung durch den Katholizismus. Die vergleichende Analyse betrachtet in einem ersten Punkt, in welchem Maße die von staatlicher Seite vorgenommene anordnende Handlung zur Schaffung von kulturellen und sozialen Strukturen in den letzten Jahrzehnten maßgeblich die von politisch-staatlicher Seite gewünschte institutionelle Verfasstheit der Muslime in Belgien, Frankreich und Spanien bestimmt hat. Hierbei stellt sich die Frage, welchen Ordnungsprinzipien die Strukturierung und Etablierung dieser Institutionalisierungsprozesse bzw. die hieraus resultierenden Organisationen folgen und in welchem Verhältnis diese zu einem für den Islam relevanten Organisations- bzw. Strukturprinzip stehen könnte. Im Anschluss hieran wird in einem zweiten Punkt diesen Ausführungen die Betrachtung von konkreten, dem Islam in den drei Ländern zugeeigneten bzw. verwehrten physischen Räumen an die Seite gestellt, um zu zeigen, dass Ordnungsstrukturen neben der Festlegung von Beziehungen zwischen Staat und den Muslimen auch maßgeblich die Ausgestaltung dieser Räume bedingen und damit für die Entfaltung des Muslimseins in den verschiedenen Ländern einen hohen Stellenwert haben. Die »Persistenz« des physisch-materiellen Raumes7 für die in Gang gesetzten Prozesse der Verräumlichung von Differenz und Vielfalt sowie von sozialer Ordnung und Widersprüchlichkeit tritt hierbei ebenso deutlich hervor wie die Tatsache, dass diese Prozesse von Individuen in Gang gesetzt werden.8 Im Fazit wird dann zu fragen sein, welche Bedeutung das Wechselverhältnis zwischen der Etablierung von schaftstheorie impliziert eine bestimmte Konzeption von Raum«, Schmid, Christian, »Raum und Regulation. Henri Lefevbre und der Regulationsansatz«, in: Ulrich Brand/Werner Raza (Hg.), Fit für den Postfordismus, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2003, S. 217-242, hier S. 233. 7
Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt: Suhrkamp, 2006, hier S. 177ff.
8
Diese Grundannahmen sind zentral, um eine geodeterministische Definition des Raumes als eine vortheoretisch bereits existente Entität, der eine ordnende Funktion zukommt, zu überwinden, ohne dem Raum damit gänzlich eine materielle Komponente abzusprechen.
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Strukturen zur Institutionalisierung sowie Repräsentation des Islam und der Konstruktion von Räumen bzw. von (räumlichem) Handeln für die Konstitution sozialer und kultureller Wirklichkeiten und identitärer Entwürfe der Muslime und der Konstruktion des Muslimseins hat.
1. I NSTITUTIONALISIERUNG DES I SLAM IN B ELGIEN , F RANKREICH UND S PANIEN : WIRKMÄCHTIGE V ERTIKALEN UND ALTERNATIVE / DIFFERENTE H ORIZONTALEN Zwar wird auf europäischer Ebene das Recht des Einzelnen auf Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung sowie der Anerkennung von kulturellen Unterschieden etc. einheitlich favorisiert, jedoch hat dies nicht – wie nun beispielhaft ausgeführt werden soll – dazu geführt, dass die Institutionalisierung der Religionen, ihre Beziehungen zum Staat, ihr Status, u.v.m. europaweit einheitlich geregelt wurden.9 1.1 Zur Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in Spanien Gliedern wir die Darstellung dieser Institutionalisierung in den zu betrachtenden Ländern nach dem Zeitpunkt der Etablierung einer offiziellen Vertretung, richtet sich der Blick zuerst auf Spanien. Was zunächst überraschend ist, da Spanien erst in den 1980er Jahren zu einem Land mit einer nennenswerten muslimischen Einwanderung wurde, die nach heutigen Schätzungen ca. 1,2 bis 1,4 Mio. Muslime umfasst.10 Nach dem »Ley orgánica 7/1980« zur Religionsfreiheit dürfen nur die 9
Einen guten Überblick zu diesem Themenfeld gibt nach wie vor Valérie Amiraux in: »L’institutionnalisation du culte musulman en Europa. Perspectives comparées«, in: Rémy Lévau/Khadija Mohsen-Finan (Hg.), Musulmans de France et d’Europe, Paris: CNRS Editions, 2005, S. 81-97.
10 Belastbare Zahlen zur Einwanderung in Spanien finden sich bei Cebolla Boada, Héctor/González Ferrer, Amparo: La inmigración en España (2000-2007). De la gestión de flujos a la integración de los inmigrantes, Madrid: Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, 2008. Die Institutionalisierung des Islam in Spanien ist einerseits durch die gesetzlich verankerte Glaubensfreiheit sowie die gesetzliche Regelung der Beziehung zwischen Staat und den Konfessionen und andererseits durch die immer stärkere Sichtbarwerdung des Islam und die ihn vertretenen Organisationen der Mus-
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Religionen von staatlicher Seite Berücksichtigung finden, die ein notorio arraigo, d.h. eine nachhaltige, offenkundige Verwurzelung in der Gesellschaft nachweisen können, da sie sich nur dann in das offizielle Register der in Spanien anerkannten Religionen eintragen lassen können11. Die Asociación Musulmana de España stellte 1989 erfolgreich einen Antrag, den Islam als Religion de notorio arraigo in Spanien anzuerkennen. In der Folgezeit entstanden zwei zentrale muslimische Vereinigungen, die die Vertretung der Muslime Spaniens beanspruchten, zunächst entstand 1989 die FEERI (Federación de Entidades Religiosas Islámicas), kurz darauf, 1991, die UCIDE (Unión de Comunidades Islámicas de España). Aber die spanische Regierung beharrte darauf, dass es nur eine Organisation geben könne, die der offizielle Ansprechpartner für sie sei, und forderte die beiden Organisationen auf, sich zusammenzuschließen. Darauf wurde nach zähem Ringen 1992 die Comisión Islámica de España (CIE) gegründet und mit ihr unterzeichnete der spanische Staat 1992 einen Kooperationsvertrag,12 in dem jedoch die Frage nach der Regelung der von staatlicher Seite nun zu erfolgenden finanziellen Unterstützung der Muslime ausgeklammert wurde. Diese für die Muslime, Juden und evangelischen Christen gleichermaßen in den Kooperationsverträgen nicht geregelte Finanzierung sollte die 2004 mit staatlicher Unterstützung ins Leben gerufene Stiftung Fundación Pluralismo y Convivencia ebenso regeln wie die Verbesserung der Sichtbarkeit der religiösen Vielfalt in Spani-
lime bestimmt. Rechtlich ist die »Ley de Libertad Religiosa« aus dem Jahre 1967 relevant, auf deren Grundlage in den Folgejahren erstmals in Melilla eine Asociación Musulmana entstand. Zum Folgenden vgl. Motilla, Augustín (Hg.): Los musulmanes en España. Libertad religiosa e identidad cultural, Madrid: Trotta, 2004. 11 »El Estado, teniendo en cuenta las creencias religiosas existentes en la sociedad española, establecerá, en su caso, Acuerdos o Convenios de cooperación con las Iglesias, Confesiones y Comunidades Religiosas inscritas en el Registro que por su ámbito y número de creyentes hayan alcanzado notorio arraigo en España«, Ley orgánica 7/1980, Artículo 7. Ley Orgánica de Libertad Religiosa, B.O.E.,177, vom 24.7.1980, i.V.m. den Leyes 24,25 und 26/1992 vom 10.01.1992, B.O.E. 272 vom 12.11.1992, S. 38209. Zu diesen Daten sowie den folgenden vgl. die Ausführungen in JiménezAybar, Iván: El islam en España. Aspectos institucionales de su estatuto jurídico, Pamplona: Navarra Gráfica Ediciones, 2004; Laarbi, Ali M.: Hacia una representación democrática del culto islámico de España, Almería: Imp. Úbeda, 2007. 12 Dieser Vertrag regelt rechtlich den Rahmen der institutionellen Repräsentation des Islam in Spanien und umfasst somit Angaben wie z.B. zum Status der Imame, zur religiösen Erziehung in den öffentlichen Schulen, zu religiösen Festen, zu Lebensmitteln und ihrer Herstellung, zum Moscheebau etc.
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en sowie die Akzeptanz der Integration der religiösen Minderheiten und der Religionsfreiheit. Ihre Arbeit wird bisher als sehr erfolgreich angesehen.13 Die dem Islam somit 1992 politisch auferlegte Struktur sorgte für ständige Konflikte in der CIE, die von der FERRI und der UCIDE dominiert wurde. Zudem bewirkten neue Einwanderungsströme sowie die zunehmende politische Partizipation der Muslime auf lokaler und föderaler Ebene,14 dass die CIE immer weniger den Anspruch erheben konnte, die Muslime in ihrer Pluralität zu vertreten. Der Ruf nach einer basisdemokratisch orientierten Dachorganisation und die Kritik an der CIE wurden immer lauter. Besonders in Gemeinden bzw. autonomen Gemeinschaften von Madrid, Valencia, Murcia, Andalusien, Katalonien und den Balearischen Inseln, wollten lokale und regionale Organisationen als Ansprechpartner der offiziellen politischen Vertretungen fungieren können, die sie betreffende Politik aber auch überregional mitgestalten. Als Antwort darauf hat die Dirección General de Asuntos Religiosos im April 2011 die Gründung eines neuen Repräsentationsorgans der Muslime Spaniens, des Consejo Islámico Español, favorisiert, die von zwölf muslimischen Organisationen unterstützt wurde, unter ihnen die UCIDE, nicht aber die FERRI. Hier sollten nun 37 Mitglieder aus einer Vielzahl von Organisationen (ca. 800 von den derzeit existierenden ca. 1400) als Vertretung gewählt werden. Denn dann würde es erstmals möglich, ohne Mitglied in der UCIDE oder FEERI zu sein, der offiziellen Vertretung der Muslime Spaniens als Organisation anzugehören.15 Dies führte aber 13 Arigita stellt die These auf, dass durch die von islamistischen Attentätern verübten Zuganschläge im März 2004 die Institutionalisierung des Islam in den Fokus der Politik und der Öffentlichkeit rückten und die Fundación vor diesem Hintergrund ins Leben gerufen wurde; einen Beleg für diese Vermutung findet sich nicht. Arigita, Elena: »Muslim Organisations and State Interaction in Spain: Towards a More Pluralistic Representation?«, in: Axel Kreienbrink/Mark Bodenstein (Hg.), Muslim Organisations and the State. European Perspectives, Nürnberg: Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, 2010, S. 73-92, hier S. 85. Eine differenzierte Untersuchung dieser Zusammenhänge und ihrer Auswirkungen auf die Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in Spanien ist nach wie vor ein Forschungsdesiderat. 14 Diese muslimischen Organisationen machten sich hier besonders für die Einrichtung muslimischer Friedhöfe oder die Reservierung von Parzellen auf städtischen Friedhöfen, für die Überlassung von Grundstücken, auf denen Moscheen gebaut werden konnten, den islamischen Religionsunterricht in Schulen, die Möglichkeit der HalalErnäherung in Schulen und am Arbeitsplatz sowie den interreligiösen Dialog stark. 15 Nach Meinung des damaligen sozialistischen Abgeordneten des katalanischen Parlaments Mohamed Chaib ist diese Reform des CIE eine dringende Aufgabe der Muslime, da dieser seit seiner Gründung im Jahr 1992 unverändert geblieben sei, obwohl
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bei genauer Rechtsprüfung zu Problemen, da die rechtliche Stellung des Consejo Islámico Español gegenüber der CIE einer Klärung bedarf, die bisher aussteht.16 Auf diese Entwicklungen zielt die folgende Feststellung von María de los Ángeles Corpas Aguirres, wenn sie erläutert, dass die aktuelle Institutionalisierung des Islam in Spanien es erlaubt to speak about a lobby whose political dimension and social influence goes beyond the religious-cultural filed […]. The internal history of the Islamic communities, their approaches, their projects and their policies at the level of communication allow us to see them as prominent actors of the sociological and cultural transformation of contemporary Spain and of the modernisation of a state which had been built on confessionalism for centuries.17
1.2 Zur Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in Belgien In Belgien18 leben heute ca. 500.000 Muslime, die vor allem türkischer und marokkanischer Herkunft sind. Anders als in Spanien ist hier zur Erlangung des
sich inzwischen viele der 672 muslimischen Organisationen, die 2009 nach Angaben des Justizministeriums offiziell verzeichnet sind, nicht von dieser Organisation repräsentiert fühlten. Daher schlägt er vor, dass der CIE reformiert werden müsse und in Zukunft die Bildung des CIE auf Wahlen fußen solle, vgl. hierzu Olga R. Sanmartín: »Los españoles tienen miedo a las mezquitas«, in: El mundo vom 21.4.2009. http://www.elmundo.es/elmundo/2009/04/20/espana/1240260334.html vom 16.6.2013. 16 Vgl. hierzu das Dossier der Casa Árabe: »El marco institucional del islam en España«, http://mdocc.casaarabe.es/noticias/show/el-marco-institucional-del-islam-en-espanadossier vom 12.07.2013. 17 Corpas Aguirres, María de los Ángeles: Las comunidades islámicas en la España actual (1960-2008). Génesis e institucionalización de una minoría de referencia, Madrid: UNED, 2010, hier S. 99. 18 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Sägesser, Caroline/Torrekens, Corinne: »La répresentation de l’Islam«, in: Courrier hebdomadaire du CRISP 11-12:1196-1997 (2008), S. 5-55; Brebant, Emilie: État de la formation des enseignants de religion islamique dans l’enseignement officiel en Communauté française, CIERL/ULB, von der Fondation
Roi
Baudouin
in
Auftrag
gegebene
Untersuchung
unter
der
Leitung von Jean-Philippe Schreiber, März 2006. http://plateformeadmb.files.word press.com/2012/01/rapportcierl_frb_final-gestion-de-lemb-et-ingc3a9rance1.pdf 03.03.2013.
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Status einer offiziellen Religionsgemeinschaft einer Summe von Anforderungen zu entsprechen, die darauf zielen die »utilité sociale«19 einer Religion sicherzustellen. Zugleich ist Belgien das Land, in dem die Regierung in Bezug auf die Anerkennung von Religionsgemeinschaften besonders weitgehende Rechte hat, da sie diese Anerkennung bereits durch die Unterzeichnung eines Beschlusses als offiziell anerkannte Religionsgemeinschaft vornehmen kann. Ebenso hat die Regierung die Möglichkeit, dieser Glaubensgemeinschaft direkte finanzielle Unterstützung zu geben (cf. Artikel 117, der belgischen Verfassung). Der erste Schritt zur Anerkennung des Islam als Glaubensgemeinschaft in Belgien erfolgte 1969, mit der Eröffnung des Centre Islamique et Culturel (ICC), das durch enge Verbindungen zu Saudi Arabien geprägt ist. Diesem Zentrum wurde, nicht zuletzt aus diplomatischen Erwägungen, von der belgischen Regierung eine führende Rolle in der Organisation der Muslime Belgiens eingeräumt. Dies rief jedoch sehr schnell Kritik hervor, da die Repräsentativität dieses Organs für die in Belgien lebenden Muslime, die vornehmlich aus Marokko und der Türkei kamen, nicht gegeben war. Belgien ist 1974 das erste Land in Europa, in dem die Gleichstellung des Islam mit den anderen offiziell anerkannten Religionen des Landes im Parlament einstimmig anerkannt wurde.20 Jedoch gab es einen wichtigen Unterschied zwischen dem Islam und den anderen offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften des Landes, auf Verwaltungsebene waren die Belange der Muslime nicht auf kommunaler Ebene angesiedelt, sondern auf der Ebene einer der heute zehn Provinzen Belgiens; dies hat bis heute weitreichende Konsequenzen für die lokalen muslimischen Gemeinschaften, die in der Folge nicht als anerkannte Gemeinschaften galten und daher auch nicht direkt finanziell unterstützt werden konnten.21 Die Gleichstellung des Islam mit anderen Religionen brachte im Prinzip die Verpflichtung des Staates mit sich, z.B. die Finanzierung der den Religionsunterricht durchführenden Lehrkräfte zu übernehmen, sich an den Kosten von Unterhaltung und Bau von Moscheen zu beteiligen etc. Doch obwohl es schon sehr früh, seit 1978, islamischen Religionsunterricht in öffentlichen Schulen gab,22 19 Sägesser, Caroline/Coorebyter Vincent de: »Cultes et laïcité en Belgique«, in: Dossier du CRISP 51 (Februar 2000) S. 1-32, hier S. 9-10. 20 Für ausführliche Informationen zur Institutionalisierung des Islam in Belgien und die Implikation des Staates in diesen Prozess für die Zeit von 1974 bis Anfang der 1990er Jahre vgl. Blaise, Pierre/Coorebyter, Vincent de: »L’islam et l’école. Anatomie d’une polémique«, in: Courrier hebdomadaire du CRISP 1270-1271 (1990), S. 1-88. 21 J. Rath/K. Groenendijk/R. Penninx, »The recognition and institutionalisation of Islam in Belgium, Great Britain and the Netherlands«, S. 105. 22 Moniteur belge, 113 (1978), S. 2733.
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fand dieser zunächst nicht in Abstimmung mit einem offiziellen Vertretungsorgan der Muslime statt, sondern mit dem als autorisierten Gesprächspartner identifizierten Centre Islamique et Culturel (ICC), dessen zentrales Gebäude die so genannte Große Moschee von Brüssel bildet.23 Konkret bedeutete dies, dass die Regierung den Imam der Grande Mosquée de Bruxelles zum Hauptimam von Belgien machte und diesem, mit Billigung der in Belgien vertretenen Botschaften der vorwiegend muslimischen Länder, wichtige Aufgaben, wie z.B. die Ernennung von muslimischen Religionslehrern für die Schulen, übertrug. Eine weitgehende Übernahme der Gehälter der Lehrer erfolgte nicht. Diese Machtkonstellation wurde von muslimischer, aber auch belgischer Seite immer schärfer kritisiert.24 Als institutionelle Interimslösung wurde 1990 der Conseil provisoire des Sages pour l’organisation du culte islamique en Belgique ins Leben gerufen. Lionel Panafit charakterisiert diese erste Phase der Institutionalisierung des Islam in Belgien kritisch als Resultat von diplomatischen Verhandlungen, bestimmt von Faktoren und Interessen, die weder an den Bedürfnissen der in Belgien lebenden Muslime noch an denen der belgischen Gesellschaft orientiert waren. Vielmehr sei in dieser ersten Phase erkennbar, dass die Herkunftsländer vieler Muslime, wie die Türkei und einige Maghrebstaaten, sowie wichtige wirtschaftliche Partner Belgiens, deren Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist, wie z.B. Saudi Arabien, maßgeblichen Einfluss auf die Institutionalisierung des Islam in Belgien genommen hätten.25 Erst in den 1990er Jahren erfolgte nach Panafit bei der Institutionalisierung eine Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der in Belgien lebenden Muslime. So kam es 1993 zur Einrichtung 23 Detaillierte Informationen zum Bau der Moschee und der Genese des ICC finden sich in Punkt 2.2 dieses Beitrags. 24 Felice Dassetto erläutert die Gründe für diese Kritik wie folgt: »Ce Centre, rappelonsle, est une asbl [i.e. une Associations sans but lucratif], constituée par les ambassadeurs des pays musulmans, créée, coiffée et financée par la Ligue islamique mondiale, saoudienne. Après un moment d’incertitude, des critiques ont été formulées: on a commencé à comprendre le rôle de l’islam saoudien, on a critiqué cet « islam des ambassades ». Mais alors que faire devant cette vacuité hiérarchique de l’islam sunnite et cette hétérogénéité d’organisations entre turcs et marocains ?«, Dassetto, Felice: Islam belge au-delà de sa quête d’une instance morale et représentative, Cismoc Papers online, März 2012, hier S. 9, verfügbar unter: http://www.cie.ugent.be/documenten/ dassetto_islam_belge.pdf vom 15.11.2014. 25 Vgl. hierzu und zu den folgenden Informationen: Panafit, Lionel: Quand le droit écrit l’islam. L’intégration juridique de l’Islam en Belgique, Brüssel: Bruylant, 1999, hier S. 545 ff.
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eines »Exécutif provisoire«, der die Wahl eines Exécutif des musulmans de Belgique (EMB) vorbereitete und nun die Religionslehrer ernannte. Erst fünf Jahre später fand dann die Wahl des EMB statt.26 Hierzu konstituierte sich 1998 eine Versammlung von 68 Mitgliedern, die zu drei Vierteln von den 48.000 Mitgliedern der Moscheegemeinden gewählt wurde und die zu einem Viertel aus kooptierten Mitgliedern bestand. Sie hatten die Aufgabe den Exécutif des musulmans de Belgique (EMB) bzw. das »Organe chef du culte«, zu stellen.27 Hierbei war es maßgeblich, dass den verschiedenen Herkunftsländern der Muslime Rechnung getragen wurde, theoretisch war daher folgende Verteilung der 17 Sitze vorgesehen: »7 Marocains, 4 Turcs, 3 Belges d’origine et 3 personnes issues d’autres nationalités«.28 Aber auch in Belgien kam es trotz der Wahlbeteiligung der Muslime bald zu erheblichen Spannungen innerhalb des Exécutif des musulmans de Belgique, der 2003 abdankte, 2005 in anderer Zusammensetzung erneut eingesetzt wurde und seit 2011 durch die Formierung einer neuen Organisation mit Vertretungsanspruch, der Alternative Démocratique des Musulmans de Belgique (ADMB), nachhaltig in Frage gestellt wird. Torrekens und Sägesser kommen nach einer umfangreichen Studie zur Institutionalisierung des Islam in Belgien seit den 1990er Jahren zu dem Ergebnis, dass für die instabile Institutionalisierung des Islam in Belgien maßgeblich die 26 Vgl. hierzu Foblets, Marie-Claire/Overbeeke, Adriaan, »State intervention in the institutionalization of Islam in Belgium«, in: Wasif A. Shadid/P. Sjoerd van Koningsveld (Hg.), Religious freedom and the neutrality of the state. The position of Islam in the European Union, Leuven: Peeters, 2002, S. 113-128. 27 Felice Dassetto stellt treffend klar, dass es diese Position im Islam nicht gibt und kommt daher zu dem Schluss: »La loi était faite sur base du modèle hiérarchisé catholique (le terme « organe chef de culte » renvoyant directement aux figures de l’archevêque et des évêques), où l’autorité religieuse a réussi à se théoriser théologiquement et acquérir une légitimité difficile à discuter, ce qui n’est pas le cas pour d’autres et encore moins pour les musulmans«, F. Dassetto, 2012, S. 8. Eine interessante Reflexion zur Genese und Konnotation des Begriffs »Organe chef de culte« findet sich bei C. Sägesser/C. Torrekens: »La représentation de l’Islam«, S. 5. 28 El Battiui, Mohamed/Kanmaz, Meryem: Mosquées, imams et professeurs de religion islamique en Belgique. État de la question et enjeux, Brüssel: Fondation Roi Baudouin, 2004, hier S. 9. Sägesser und Torrekens merken zur Konstitution des EMB kritisch an: »L’islam ne possédant pas de hiérarchie, au contraire de l’Église catholique, dont l’organisation centralisée sert de modèle implicite au mécanisme de représentation des cultes, c’est sous une forme collégiale et sociologiquement représentative, exception faite des tendances jugées trop radicales, que l’organe chef de culte a été institué«, C. Sägesser/C. Torrekens, »La représentation de l’Islam«, S. 5.
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besondere doppelte Struktur des EMB verantwortlich ist, die aus einer Versammlung von gewählten Vertretern der Muslime besteht, welche wiederum den eigentlichen Rat der Muslime wählt. Die Autorinnen erläutern, dass die fehlende Regelung der Rolle der gewählten Versammlung sowie des Verhältnisses der beiden Organe, Versammlung und Rat, zueinander zu einer stetigen Spannung und zu Machtkämpfen führe.29 Ferner konstatieren Hassan Bousetta und Brigitte Maréchal für die Organisation und Repräsentation der Muslime Belgiens eine ähnliche Entwicklung, wie sie bereits in den vorangehenden Ausführungen zu Spanien von Corpas Aguirre aufgezeigt wurde, wenn sie erläutern, dass sich neben dem Exécutif des musulmans de Belgique funktionale Strukturen ausprägen, die über lokale Organisationen hinausweisen. In diesem Zusammenhang nennen sie z.B. die Ligue des enseignants de religion, die Ligue des imams sowie verschiedene Moscheevereine, die vielfach auch in europäischen Strukturen organisiert sind und zu einer Internationalisierung bzw. Mobilisierung der Muslime beitragen.30 1.3 Zur Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in Frankreich Frankreich ist nach wie vor das Land in Europa, in dem die meisten Muslime leben. Ihre Zahl wird mit vier bis sechs Millionen angegeben. Im Gegensatz zu den anderen beiden betrachteten Ländern geht in Frankreich der Einwanderung der Muslime eine lange koloniale Präsenz des Staates in verschiedenen Ländern mit muslimischer Bevölkerung voraus. Hier sind besonders Algerien, Marokko und Tunesien zu nennen. Diese koloniale Vergangenheit hat in Frankreich nach29 »Cette organisation à deux niveaux est également unique dans le régime belge des cultes. La double structure, de même que la terminologie choisie (assemblée et exécutif), rappellent le mode d’organisation du régime parlementaire. Les membres de l’Assemblée des musulmans ne s’y sont pas trompés, et ils ont estimé légitime d’exercer un contrôle sur l’Exécutif, contrôle qui n’est pas prévu par la législation. En réalité, aux termes de celle-ci, les prérogatives de l’Assemblée se bornent à constituer un « réservoir » de candidats aux fonctions exécutives. C’est tout naturellement que l’absence de rôle prévu pour l’Assemblée et la structure double assemblée – exécutif ont conduit à une divergence d’interprétation sur les prérogatives des uns et des autres«. C. Sägesser/C. Torrekens, »La représentation de l’Islam«, S. 52. 30 Bousetta, Hassan/Maréchal, Brigitte: L’islam et les musulmans en Belgique. Enjeux locaux et cadres de réflexion globaux. Note de synthèse, Brüssel: Fondation Roy Baudouin, 2003. Verfügbar unter http://www.kbs-frb.be/uploadedFiles/KBS-FRB/Files/ FR/PUB_1414_Islam_et_musulmans_en_Belgique.pdf vom 14.11.2014.
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haltig den Diskurs zur muslimischen Präsenz im Land und der Partizipation der Muslime am politischen Geschehen bestimmt.31 Frégosi sieht die koloniale Erfahrung Frankreichs besonders in Algerien bestimmend für den die Interaktion zwischen einer laizistischen Republik und dem Islam kennzeichnenden Willen, eine direkte Verwaltung der Religion durch den Staat zu erlangen.32 J. Christopher Soper und Joel S. Fetzer heben einige Jahre später übereinstimmend den Laizismus als zentrale strukturelle Matrix für das Verhältnis des französischen Staats zu den Muslimen hervor, wenn sie argumentieren: As both a form of public policy and an ideological tradition, laïcité has structured the political arguments of Muslim groups and political leaders in France. […]. The pre-existing Church-State model in France, […], restricted Muslim efforts successfully to negotiate with the state on substantive religious issues of concern to their religious community.33
Historisch, d.h. ab Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, fungierte der jeweilige recteur der so genannten Grand Mosquée de Paris als erster Ansprechpartner und Vertreter der Muslime einer jeden Regierung Frankreichs. Seit 1990 gibt es in Frankreich Bestrebungen, mit Unterstützung des Rektors der Grande Mosquée de Paris eine offizielle Vertretung der Muslime im Land zu schaffen. Verschiedene Innenminister haben sich hierfür eingesetzt, so schuf Pierre Joxe 1993 den Conseil de réflexion sur l’islam en France (CORIF). Kurz darauf, 1996, wurde dann, unterstützt vom Innenminister Charles Pasqua und dem directeur der Grande Mosquée de Paris, die Charta der Muslime Frankreichs verabschiedet und 1998 lud Jean-Pierre Chevènement ausgewählte Muslime Frankreichs zu einer al-istischara, einer Beratung, ein. Sein Ziel war es, durch diese Gespräche mit »qualifizierten Persönlichkeiten« auf diesem Weg die Bildung einer mit der Vertretung der Protestanten in Frankreich, der Fédération protestante, vergleichbaren Organisation anzuregen, die die bisherige prominente Stellung der Grande Mosquée de Paris ablösen sollte. Schließlich kam es dann, unter der Ägide der beiden aufeinander folgenden Innenminister Daniel Vaillant und Nicolas Sarkozy, 2003 zu der Wahl des CFCM (Conseil français du 31 Vgl. hierzu auch die Studie von Davidson, Naomi: Only Muslim. Embodying Islam in Twentieth-century France, Ithaca/London: Cornell University Press, 2012, die diesen Punkt zwar aufgreift, jedoch nicht hinreichend diskutiert. 32 F. Frégosi, »L’Islam en Europe, entre dynamiques d’institutionnalisation, de reconnaissance et difficultés objectives d’organisation«, S. 102. 33 Soper, J. Christopher/Fetzer, Joel S.: »Religious Institutions, Church-State History and Muslim Mobilisation in Britain, France and Germany«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies: JEMS 33: 6, 933-944 (2007), hier S. 937.
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culte musulman)34 sowie der 25 regionalen Vertretungen, den Conseils régionaux du culte musulman (CRCM). Wahlberechtigt waren 4000 Muslime – die sogenannten »grands électeurs«, die von den über 1500 Moscheegemeinden Frankreichs je nach deren Größe proportional gestellt wurden.35 Im Vorfeld hatte Sarkozy genaue Absprachen mit einzelnen Gemeinschaften über die Vergabe der wichtigsten Posten im CFCM getroffen. Die Grande Mosquée de Paris versuchte lange, diese Wahl zu verhindern, die sie endgültig ihrer langjährigen Macht enthob. Schnell wurde der CFCM das Symbol für einen staatlich verordneten Islam à la française, dessen Existenz nach Olivier Roy auf einem »vieux fond du gallicanisme«, der die gesamte französische Islampolitik präge, fußt36 Wenngleich dieser Hinweis auf den Gallikanismus eine grundsätzliche Struktur der Beziehung zwischen Staat und Kirche in Frankreich benennt, die bis heute auf das Verhältnis der Regierung zur Religion und insbesondere zum Islam nachwirkt, sind doch daneben auch andere wichtige Faktoren, wie die Tradition einer strikten oder moderaten laïcité (laïcité stricte oder laïcité ouverte), zu nennen sowie die lange Zeit relevanten Festlegungen, die im Konkordat von 1802 getroffen wurden, die z.B. den Staat ermächtigten, Bischöfe in ihr Amt einzusetzen. Das Zusammenspiel dieser Kräfte sowie die Vielfältigkeit der islamischen Glaubensgruppen – Frégosi spricht gar von einem atomisierten Islam37 – mit ihren jeweils
34 Die Generalversammlung des CFCM umfasste 201 Mitglieder, 157 gewählte und 44 kooptierte (Frégosi, Franck: »Les enjeux lié à la structuration de l’islam en France«, in: Rémy Leveau/Khadija Mohsen-Finan (Hg.), Musulmans de France et d’Europe, Paris: CNRS, 2005, hier S. 102). 35 Eine interessante Innensicht auf Vor- und den Ablauf der Wahl des CFCM gibt Khalil Merroun, ein Mitglied des CFCM und Rektor der Moschee von Évry-Courouronnes, in: Merroun, Khalil: »L’islam et le conseil français du culte musulman«, in: Khalil Merroun/Isabelle Lévy (Hg.), Français et musulman. Est-ce possible?, Paris: Presses de la Renaissance, 2010, S. 81-86. 36 Roy, Olivier: La laïcité face à l’islam, Paris: Stock, 2005, hier S. 145.Vgl. hierzu auch Zeghal, Malika: »La constitution du Conseil Français du Culte Musulman. Reconnaissance politique d’un Islam français« ?, in: Archives de sciences sociales des religions 129 (2005), S. 97-113. 37 Frégosi, Frank: »From a Regulation of the Religious Landscape to the ›Preacher State‹. The French Situation«, in: Axel Kreienbrink/Mark Bodenstein (Hg.), Muslim Organisations and the State – European Perspectives, Nürnberg: Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, 2010, S. 111-122, hier S. 113.
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eigenen Vertretungsorganen und Interessen sind maßgebliche Ursachen dafür, dass der CFCM bis heute von starken inneren Spannungen geprägt ist.38 Frégosi nimmt einen wichtigen Perspektivenwechsel auf die Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in Frankreich vor, wenn er darauf hinweist, dass der französische Staat in den letzten beiden Jahrzehnten nachhaltig in die interne Verwaltung der muslimischen Religion involviert ist, was ihn zu der folgenden Ansicht veranlasst: What is questionable […] is not the involvement of the State in the organisation of a worship representation but its will to weight on the composition of the representation organ. One has to wonder if, ironically, the current organization supported by the Government finally is not an institution representing public powers to Muslims.39
Grundsätzlich verweist die Debatte um die Institutionalisierung des Islam in Frankreich fernerhin auf die vieldiskutierte, offene Dialektik eines Islam en France und Islam de France, die ihren Ausgangspunkt bereits im Ersten Weltkrieg hat, sowie auf die 2009/2010 seitens der Regierung angestoßene Grand débat sur l’identité.40 Diesen komplexen Zusammenhängen kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden. Von ihrer weiteren Entwicklung wird gleichwohl nicht zuletzt abhängen, welche gesellschaftliche Rolle die Muslime in Frankreich in Zukunft innehaben werden. Abschließend kann somit festgestellt werden, dass die Institutionalisierung des Islam in den betrachteten Ländern vielfach von einem staatlichen Interesse geleitet ist, einerseits diese Gemeinschaft konkret in den Blick zu nehmen bzw. in die sie prägenden Prozesse einzugreifen, andererseits ihren Status als anerkannte und damit mit finanziellen und ideellen Rechten ausgestattete Glaubens38 Zu den historischen Voraussetzungen dieses Vorgehens des französischen Staates vgl. Pesch, Andreas »›Gallikanismus‹ oder Gleichbehandlung? Die Integration des Islam und das religionspolitische Erbe in Frankreich«, in: Felix Heidenreich/JeanChristophe Merle/Wolfram Vogel (Hg.), Staat und Religion in Frankreich und Deutschland – L’Etat et la religion en France et en Allemagne, Berlin: LIT Verlag, 2008, S. 140-157. 39 F. Frégosi, »From a Regulation of the Religious Landscape to the ›Preacher State‹. The French Situation«, S. 115. Vgl. hierzu auch M. Zeghal, »La constitution du Conseil Français du Culte Musulman«, S. 97-113. 40 Vgl. Schmitz, Sabine/Ebert, Kathrin: »Entre Grand débat sur l’identité nationale et politique identitaire. La France à la recherche d’une identité nationale et culturelle au début du XXIème siècle«, in: Dominique Avon/Jutta Langenbacher-Liebgott (Hg.): Facteurs d’identité, Frankfurt/Paris: Lang, 2012, S. 243-262.
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gemeinschaft zu definieren. In allen drei Ländern bestimmt ein hierarchisches, vertikal orientiertes Ordnungsschema die Beziehungen zwischen dem Staat und dem Islam. Osterhammel hat diese Art der Hierarchien treffend als »Vertikalen im sozialen Raum« bezeichnet und ihre Zentralität für die Gesellschaftsorganisation des 19. Jahrhunderts umfassend aufgefächert.41 Ohne Frage wirkt dieses Organisationsparadigma noch bis in die Gegenwart fort.42 Denn die bis heute andauernden Spannungen sowohl innerhalb der offiziellen Vertretungsorgane der Muslime in den drei betrachteten Ländern als auch in Bezug auf die Beziehungen der muslimischen Organisationen zum Staat bzw. seinen Vertretungsorganen sind von Organisationsparadigmen bestimmt, die quer zueinander liegen. Denn während für die christlichen Religionen, und besonders für den in Belgien, Frankreich und Spanien vorherrschenden Katholizismus, die Vertikale als zentrale Achse der innerkirchlichen Hierarchien bis heute eine wichtige Matrix für die Beziehung von Kirche und Staat ist und dies auf die Institutionalisierung des Islam vielfach appliziert wird, ist der Islam als Religion, sehr verallgemeinernd gesprochen, von einem horizontalen Schema bestimmt, da das Verhältnis der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft untereinander von dem Konzept der umma und der Gleichheit aller Gläubigen geprägt ist. In zwei der betrachteten Länder erfährt diese Struktur allerdings eine deutliche Abschwächung, indem sie den Minderheitenreligionen eine staatliche Institution zur Unterstützung ihrer Interessen an die Seite stellt. Dies ist einmal die 2004 vom spanischen Staat ins Leben gerufene und finanzierte Fundación pluralismo y convivencia, die z.B. die Etablierung des Consejo islámico maßgeblich angestoßen hat und begleitet.43 Des Weiteren gibt es in Belgien eine vergleichbare Einrichtung, dass 1989 gegründete Commissariat Royal à la Politique des Immigrés (CPRI), das dann 41 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: C.H. Beck, 62011, hier S. 1056 ff. 42 Auf die Langlebigkeit dieser Strukturen weisen Soper und Fetzer hin, wenn sie feststellen: »How, and under what conditions, states accommodate Muslim religious needs will depend in large measure on decades, sometimes centuries, of pre-existing constitutional arrangements«, J. Soper/J. Fetzer, »Religious Institutions, Church-State History and Muslim Mobilisation in Britain, France and Germany« 2007, S. 942. 43 Sie hat die Aufgabe, die Religionsfreiheit und die soziale Einbindung der religiösen Minderheiten durch Projekte zu fördern sowie ihnen Unterstützung bei administrativen Vorgängen, besonders die durch den Staat zugesagten Finanzierungen, zu gewähren. Die Stiftung ist seit knapp zehn Jahren ein wichtiger Akteur im religiösen Feld, sie hat maßgeblich die Umsetzung des Consejo Islámico initiiert und unterstützt. Sie ist vor allem an Basisarbeiten beteiligt und liegt somit quer zu der vertikal bestimmten Grundstruktur, die das Verhältnis von Staat und Islam in Spanien bestimmt.
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1993 durch weitere Organisationen abgelöst wurde. Es leistet vor allem Hilfestellungen an der Basis und liegt somit, ebenso wie die Fundación puralismo y convivencia, quer zu der vertikal bestimmten Grundstruktur von Staat und Islam in den genannten Ländern.44 Zudem wurde deutlich, dass in beiden Ländern eine lokale Struktur sowie das konkrete Engagement der muslimischen Bürger ein maßgeblicher Faktor ist, der besonders in Spanien die Einleitung der Änderung einer nicht akzeptierten, den Muslimen von politischer Seite zugeeigneten Organisationsstruktur ihrer Religion im nationalen Kontext angestoßen hat. Valérie Anmiraux hat bereits 2005 auf das Potential und die Dynamik dieser sich in vielen Ländern Europas entwickelnden lokalen Organisationsstrukturen der Muslime verwiesen: D’une manière plus globale, les questions ordinaires [i.s. des musulmans] se posent et se résolvent fréquemment hors du cadre de l’institutionnalisation, souvent localement, mais surtout de plus en plus par l’intermédiaire des tribunaux et des cours du Justice. Dès lors, plusieurs dynamiques de participation politique coexistent parmi les populations musulmanes en Europe. Certaines valorisent l’engagement local et la mise en œuvre d’une participation citoyenne plus active autour de questions non strictement cultuelles, les musulmans devenant le cadre d’associations, des acteurs de la démocratie locale.45
In Frankreich sucht man hingegen vergeblich nach einem vergleichbaren von staatlicher Seite eingesetzten Akteur. Jedoch hat sich hier eine politisch aktive lokale Basis entwickelt, die nicht, wie in Spanien, vor allem die Interessen der Muslime vor Ort im Auge hat und voranbringt, sondern auch auf Landesebene, vielfach in den großen Parteien engagiert ist. Ein deutliches Zeichen für diese ›neue‹ politische Realität in Frankreich haben die Wahlen zur Legislative im Frühjahr 2012 gesetzt. Denn auf den Wahllisten befanden sich, nach der zweiten 44 Zudem sind heute die Commission du Dialogue interculturel (2005) und auch die Assises de l’Interculturalité (2010) wichtige Akteure im sozial-lokalem Feld. Diese Organisationen sind vom Staat dazu bestimmt, den Dialog der Immigranten und ihre Eingliederung in die Gesellschaft konkret zu unterstützen, indem Hilfe bei der Arbeitssuche, bei rassistischen Anfeindungen etc. geleistet wird, aber auch in institutionellen Fragen. Auch hier handelt es sich vor allem um die Arbeit in lokalen Zusammenhängen; die Aktivitäten und Strukturen dieser Organisationen liegen somit quer zu der vertikal bestimmten Grundstruktur, die das Verhältnis von Staat und Islam in Belgien bestimmt. Vgl. hierzu den Beitrag von Brigitte Maréchal in diesem Band. 45 Anmiraux, Valérie: »L’institutionnalisation du culte musulman en Europa. Perspectives comparées«, in: Rémy Lévau/Khadija Mohsen-Finan (Hg.), Musulmans de France et d’Europe, Paris: CNRS Editions, 2005, S. 81-97, hier S. 96-97.
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Wahlrunde, von 6611 Kandidaten noch knapp 400 Kandidaten »à consonance arabe ou bien musulmane; une demi-douzaine d’entre eux figurent au nombre des 577 élus«.46 Um eine Vielzahl dieser Kandidaten zu interviewen, ist Gilles Kepel ein Jahr quer durch Frankreich gereist. In seiner Studie mit dem doppeldeutigen Titel Passion française. Les voix des cités (2014) hat er die Ergebnisse, vor allem bezogen auf die von ihm besonders ins Auge gefassten Städte Marseille und Roubaix, ausgewertet. Die durch das Institut Montaigne ermöglichte Studie gibt einen hervorragenden Einblick in zentrale politische und soziale Realitäten und Befindlichkeiten der Muslime in Frankreich und kann zugleich als eine spannende Zustandsbeschreibung gelesen werden, wie es in Frankreich mit den in Punkt 1.3 skizzierten Bemühungen um Integration der Muslime in die politische Sphäre durch – politische – Repräsentation und Institutionalisierung steht. Die aufgezeigte Entwicklung der Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in Frankreich verweist auf eine Vielzahl von Implikationen. Hierzu ist sowohl das von Olivier Roy aufgerufene Erbe des Gallikanismus, das das Dispositiv der Einheit von Herrschafts- und Werteordnung stützt,47 zu zählen, als auch die koloniale Vergangenheit Frankreichs in mehrheitlich muslimischen Ländern wie Algerien, Marokko und Tunesien, da hierdurch, wie schon sehr früh von Gilles Kepel aufgezeigt,48 Stereotypen und Organisationsmuster festgelegt wurden, die bis in die Gegenwart wirken. Zudem ist die Tatsache, dass der CFCM durch die ihm untergeordneten Conseils régionaux du culte musulmans (CRCM) bereits eine klare, ebenfalls vertikal strukturierte Organisationsstruktur in Richtung Lokalorganisation aufweisen, ein in Zukunft im Zusammenhang mit der Institutionalisierung des Islam in Frankreich noch genauer zu betrachtender Faktor. Auf die lokale Bedeutung der Moscheen verweist Gilles Kepel in seiner wichtigen Studie über den Islam in den französischen Vorstädten Clichy-sous-Bois und Montfermeil, Banlieue de la République (2011), wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass die in dieser Region erst in jüngerer Zeit errichtete Grande Mosquée einen wichtigen Platz im Leben der Muslime einnehme. Er bezeichnet sie als »interface entre les pouvoirs publics et une fédération d’associations musulmanes, identifiées comme interlocuteur de référence – en tant que force de
46 Kepel, Gilles: Passion française. Les voix des cités, Paris: Gallimard, 2014, hier S. 13. 47 Rémond, René: Quand l´Etat se mêle de l´Histoire. Entretiens avec François Azouvi, Paris: Editions Stock 2006, hier S. 51. 48 Kepel, Gilles : Les banlieues de l’Islam. Naissance d’une religion en France, Paris: Seuil, 21991.
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paix sociale. Mais elle représente un acteur potentiellement important dans le champ politique local, à l’échelle de la commune […]«.49 Die Analyse der Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in Belgien, Frankreich und Spanien hat somit gezeigt, dass sich bisher nur vereinzelt Entwicklungen abzeichnen, die darauf hinweisen, dass es an der Zeit ist, die folgende Beschreibung der Rolle der offiziellen Vertretungsorgane für das Dispositiv Muslimsein in verschiedenen europäischen Ländern von Valérie Amiraux einer alternativen Einschätzung zu unterziehen: Pour la population des musulmans confrontés à des questions pratiques ou à l’expérience du racisme ordinaire, de la circulation des stéréotypes, de la discrimination et de l’islamophobie, elles [i.s. les institutionnalisations de l’islam en Europe] représentent moins une aide ou un appui quotidien, que le symbole de l’acceptation par les États du caractère définitif de leur présence en Europe et la prise de distance vis-à-vis des États d’origine.50
2. Z UR V ERSCHRÄNKUNG VON O RGANISATIONSSTRUKTUREN , PHYSISCHEN R ÄUMEN UND IDENTITÄREN D ISKURSEN DES I SLAM IN B ELGIEN , F RANKREICH UND S PANIEN Die Organisationsstrukturen des Islam in verschiedenen europäischen Ländern stehen in einem engen Zusammenhang mit den physisch-materiellen Räumen, die den Muslimen zugeeignet werden. Denn beide sind maßgebliche Faktoren, die sowohl die Organisation als auch die Repräsentation des Islam in Europa, und damit auch das Dispositiv Muslimsein, bedingen bzw. formen. Bisher wurde auf diese Zusammenhänge in vergleichenden Studien nur ansatzweise in einer synchronen Perspektive eingegangen, eine diachrone oder systematische Auseinandersetzung mit diesem Gefüge fehlt bisher gänzlich. Die folgenden Ausführungen sollen einen ersten Ausblick auf die Komplexität dieser Wechselbeziehungen in Belgien, Frankreich und Spanien in synchroner, diachroner und systematischer Perspektive eröffnen.
49 Kepel, Gilles: Banlieue de la République. Société, politique et religion à Clichy-sousBois, Paris: Gallimard, 2011, hier S. 502. 50 V. Anmiraux, »L’institutionnalisation du culte musulman en Europa. Perspectives comparées«, S. 96.
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Im Folgenden stellt sich die Frage, ob die den offiziellen Vertretungen der Muslime zugeeignete vertikale Organisationsstruktur Verschränkungen mit zentralen physischen Räumen, die für das Dispositiv Muslimsein in den drei Ländern besonders wichtig sind, aufweist. Als zentraler Betrachtungsgegenstand zur Erläuterung dieser Zusammenhänge bieten sich, wie in den vorangehenden Erläuterungen deutlich wurde, besonders die von den Regierungen in Frankreich und Belgien schon früh jeweils benannten zentralen Moscheen des Landes an. Die sich hier für Spanien abzeichnende Leerstelle erweist sich als ebenso aufschlussreich wie die ihr gegenüberstehenden konstruierten Räume. Denn im gleichen Maße wie die beiden zentralen Moscheen ist auch sie, wenn auch in einem noch zu erläuternden, sehr eigenen Modus, ein Beleg für die von Schroer postulierte »Persistenz« des physisch-materiellen Raumes51, da sie sich in einem Kristallisationspunkt, der Iglesia-Catedral y antigua mezquita de Córdoba, materialisiert. 2.1 Das Institut musulman de la Mosquée de Paris: von einem Schaufenster der islamischen Welt zu einem Denkmal an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Muslime Erneut bietet es sich an, chronologisch vorzugehen und zunächst einen Blick auf die Geschichte und Rolle der Mosquée de Paris zu werfen, da sie eine wichtige Vorbildfunktion für die Grande Mosquée und das Centre islamique et culturel de Belgique in Brüssel hatte. Grundlegend für die folgenden Ausführungen ist die nach wie vor kanonische Studie von Giles Kepel zur Genese und Geschichte der Mosquée de Paris.52 Die ersten Planungen einer Moschee von Paris, initiiert von der Société orientale algérienne et coloniale, gehen nach Kepel auf das Jahr 1849 zurück.53 Aufgrund verschiedener, vor allem politischer Entwicklungen kam es jedoch nicht zu einer Umsetzung des Bauvorhabens. Ein erneuter Anlauf wurde 1896 unternommen,54 dieses Mal auf Initiative des Comité de l’Afrique française sowie des einflussreichen Generalgouverneurs von Algerien, Jules Cambon, der 51 M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 177 ff. 52 G. Kepel, Les banlieues de l’Islam. 53 Ebd., S. 65. Zu diesem Datum gibt es unterschiedliche Angaben, so gibt z.B. Renard das Jahr 1842 an, in dem im Pariser Stadtteil Baujón eine Moschee geplant gewesen sei, ohne diese Datierung hinreichend zu belegen, vgl. Renard, Michel: »Les prémisses d’une présence musulmane et sa perception en France. Séjours musulmans et rencontres avec l’islam«, in: Mohammed Arkoun (Hg.), Histoire de l’islam et des musulmans en France du Moyen Âge à nos jours, Paris: Albin Michel, 2006, S. 573-582. 54 Zu den folgenden Ausführungen vgl. G. Kepel, Les banlieues de l’Islam, S. 65 ff.
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sowohl bei den Staatsoberhäuptern in Frankreich und Ägypten wie auch des ottomanischen Reiches Unterstützung fand. Jedoch wurde unter Verweis auf politische Umwälzungen, für die das Massaker in Armenien als deutliches Anzeichen gewertet wurde, erneut der Bau einer großen Moschee in Paris verschoben. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde schließlich eine erfolgreiche Initiative zum Bau der Moschee ins Leben gerufen, die Commission interministérielle des Affaires musulmanes (CIAM) Der Ratspräsident Millerand und andere Mitglieder der Nationalversammlung schlugen die Unterstützung einer Société des Habous et Lieux saints de l’Islam vor, deren Ziel der Bau eines Institut musulman in Paris sein sollte.55 Dem Ansinnen wurde 1920 stattgegeben und in einem Gesetz wurden der Gesellschaft 500.000 Francs zu diesem Zweck zugebilligt. Kepel führt aus, dass erst die Übertragung des Bauvorhabens an die Société des Habous et Lieux saints de l’islam56 den Bau einer Moschee ermöglichte, denn der französische Staat verfolgte damit zwei Interessen. Erstens stand dieser Gesellschaft mit Al Haj Abdelkader ben Ghabrit eine Vertrauensperson des Staates vor und zweitens stellte dieses Vorgehen sicher »que des musulmans gèrent l’islam – ce qui permet d’atténuer les accusations éventuelles de manipulation de cette religion par le gouvernmenet de la République«.57
55 Kepel führt aus, dass erst die Übertragung des Baus an die Société des Habous et Lieux saints de l’islam den Bau einer Moschee ermöglichte, denn der französische Staat verfolgte damit zwei Interessen. Erstens stand dieser Gesellschaft mit Al Haj Abdelkader ben Ghabrit eine Vertrauensperson des Staates vor und zweitens »faire que des musulmans gèrent l’islam – ce qui permet d’atténuer les accusations éventuelles de manipulation de cette religion par le gouvernement de la République«, G. Kepel, Les banlieues de l’Islam, 1991, S. 67. 56 Es handelt sich um eine Gesellschaft, die 1916 ins Leben gerufen wurde, um mit dem Einverständnis des Scherif von Mekka ein Hotel in Mekka und ein Hotel in Medina zu erwerben, die für die Muslime Frankreichs während ihrer Wallfahrt zur Verfügung stehen sollten. Da diese aufgrund des Gesetzes von 1901 nicht vom französischen Staat gekauft werden konnten, wurde die Société des Habous et Lieux saints de l’Islam gegründet, die den Kauf tätigte. Sie bestand aus muslimischen Würdenträgern aus Algerien, Marokko, Tunesien und Westafrika, die im Auftrag des französischen Staates in den Hedschas gereist waren um die Verhandlungen zu führen. 1920 wurde die Gesellschaft in Algerien für rechtsgültig erklärt, vgl. Sbaï, Jalilia, »La République et la Mosquée. Genèse et institution(s) de l’islam en France«, in: Pierre-Jean Luizard (Hg.), Le choc colonial et l’islam. Les politiques religieuses des puissances coloniales en terres d’islam, Paris: La Découverte, 2006, S. 223-236, hier S. 224-225. 57 G. Kepel, Les banlieues de l’Islam, S. 67.
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Kurze Zeit später stellte zudem die Stadt Paris eine hohe Summe für den Bau der Pariser Moschee zur Verfügung, die zum Kauf eines Baugrundstücks im 5. Arrondissement vorgesehen war, jedoch unter der Auflage, dass sich die Société des Habous explizit zum Bau eines Institut musulman de la Mosquée de Paris verpflichtet und nicht zum Bau einer Moschee.58 Kepel weist darauf hin, dass durch diese Bezeichnung eine Umgehung der im Gesetz von 1905 festgeschriebenen Vorgabe möglich war, derzufolge die Republik »ne reconnaît ni ne salarie aucun culte«.59 Die Moschee war somit nach der offiziellen Definition ein Bestandteil des als Institut musulman, einer Bildungsinstitution, bezeichneten Komplexes, der zudem eine Bibliothek, ein Restaurant, einen hammam sowie ein Geschäft mit nordafrikanischen Kunsthandwerk umfassen sollte und somit auch vom französischen Staat mitfinanziert werden konnte. Während nach Kepel dem Bau der Moschee das Hauptinteresse aller Beteiligten und Finanziers galt, zu denen neben dem französischen Staat auch maßgeblich der Sultan von Marokko, Moulay Youssef, sowie »diverses quêtes en pays d’islam« gehörten,60 insistiert die Historikerin Naomi Davidson in ihrer Studie darauf, dass der Bau der Grande Mosquée und des Institut musulman einer anderen Logik folge: I argue that the rationale behind the distinction between the Mosquée, a religious site that would come to be identified with a particular »Maroccan« aesthetic, and the Institut Musulman, an intellectual center for cross-cultural exchanges set in the heart of Paris’ Latin Quarter, was not a political ruse to avoid charges of violating the law of 1905. […] the true significance of these discussions lay in the attempt to define an Islam that was French, republican, and laïc and at the same time based in a set of elite Morocccan religious and aesthetic norms. The site of the Mosquée de Paris and the Institut Musulman was the physical manifestation of the attempt to reconcile these two elements into a new French Islam.61
Es gelingt Davidson jedoch nicht, diese im Anschluss in dem entsprechenden Kapitel ihrer Studie vielfach wiederholte These hinreichend zu erläutern. Zudem ist ihre Argumentation stets von einen Konzept des »French Islam« bedingt, das in der von ihr postulierten Eindeutigkeit in Frankreich nicht existierte bzw. existiert. Vielmehr ist der Historikerin Jalila Sbaï zuzustimmen, wenn sie die Spezifik eines ›Islam français‹ wie folgt erläutert:
58 Ebd., S. 69-72. 59 Ebd., S. 72. 60 Ebd., S. 72. 61 N. Davidson, Only Muslim, S. 41-42.
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La genèse de l’Institut musulman de la mosquée de Paris et d’autres structures […] dévoile que le fait musulman, la ›chose‹musulmane, en France, ont commencé à se construire en réponse à une conjoncture bien particulière. Il s’agissait pour les pouvoirs publics de concilier plusieurs politiques contradictoires dont l’islam, en tant que ›religion et communauté‹62, constituait l’élément central. Ceci sonna à l’›Islam français‹ cette double légitimation – objet de toutes les controverses encore aujourd’hui – à savoir d’être à la fois islam en France et Islam de France, avec, pour première caractéristique, la subsidiarité de l’aspect culturel et religieux.63
Das Institut musulman de la Mosquée de Paris wurde von den Architekten Robert Fournez, Charles Heubès und vor allem von Maurice Mantout entworfen. Die Grundsteinlegung für den Gebäudekomplex erfolgte 1922. Im Jahr 1926 wurde er schließlich in Anwesenheit des marokkanischen Sultans sowie diversen Vertretern aus Algerien, Tunesien und dem Senegal eingeweiht. An seiner Gestaltung haben in erster Linie Handwerker aus Marokko mitgewirkt. Kepel skizziert überzeugend die komplexe Interessenlage, die zu einem historisch günstigen Zeitpunkt diese Umsetzung des Moscheebaus bzw. des Institut musulman de la Mosquée de Paris motivierte, wenn er erläutert, dass es sich um ein Zusammenspiel der folgenden Beweggründe handelt: »[…] renforcer la cohésion de l’empire colonial, mener une politique musulmane active, et manifester, symboliquement, la reconnaissance de la métropole pour le sacrifice de nombreux musulmans sous l’uniforme français pendant la guerre de 19141918«.64 Eine weitere wichtige Funktion der im Zentrum von Paris zu errichtenden Grande Mosquée bestand nach Kepel schließlich darin, als sichtbares Zeichen für eine symbolische Allianz zustehen, nämlich jener »de la République avec les dignitaires indigènes, partisans de la politique coloniale française«, die darauf abzielte, die nationalen Bewegungen in den von Frankreich besetzten nordafrikanischen Ländern davon abzuhalten, einen an die breite Bevölkerung gerichteten religiös motivierten Aufruf zum Widerstand gegen die »colonisateur ›in-
62 Sbaï erläutert in einer Fußnote, dass sie dieses Begriffpaar »dans le sens de pratiques cultuelles et culturelles« verstanden wissen möchte, J. Sbaï, »La République et la Mosquée«, S. 223, Fn. 1. 63 J. Sbaï, »La République et la Mosquée«, S. 223. 64 G. Kepel, Les banlieues de l’Islam, S. 70. Diese Option, einen Erinnerungsort für die im Ersten Weltkrieg gefallenen muslimischen Soldaten zu schaffen, wurde erst im Erinnerungsjahr 2014 eingerichtet; cf. hierzu die Ausführungen im letzten Punkt dieses Aufsatzes.
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fidèle‹« zu starten.65 Jüngere Studien weisen ferner auf die Funktion der Moschee hin, für die Pariser und die zahlreichen Touristen der Stadt eine wichtige weitere Attraktion zu sein, da das Institut musulman de la Mosquée de Paris als Schaufenster für den Islam, aber auch für die nordafrikanischen Kulturen fungieren konnte.66 Standen in dem Gebäudekomplex doch Einrichtungen wie der hammam, das Restaurant, das Geschäft mit handgearbeiteten Produkten aus dem Maghreb, die Bibliothek und die Gartenanlagen jedem offen bzw. waren sie explizit darauf ausgerichtet, Besucher anzuziehen.67 Den Muslimen selbst waren vor allem die Räume der Moschee sowie einige Nebenräume vorbehalten. Davidsons Charakterisierung des Institut musulman de la Mosquée de Paris als ein »temple to Islam français« bzw. »theater for the display of Islam française«68 wird durch diese Raumgestaltung gleichwohl nicht hinreichend belegt. Alain Boyers breit rezipierte Feststellung, dass die Mosquée de Paris eine »creation de la France coloniale« sei69, ist somit vor dem Hintergrund der erläuterten Genese des Gebäudekomplexes in Teilen zwar zutreffend, trägt jedoch der vielschichtigen Interessenlage, die die Entstehung der Pariser Moschee bzw. des Institut musulman de la Mosquée de Paris ermöglichte und zugleich bedingte sowie ihrer Funktion nur unzureichend Rechnung. Die geographische Lage und architektonische Konzeption des Institut musulman de la Mosquée de Paris haben ebenso widersprüchliche Interpretationen hervorgerufen wie seine Funktion. Denn die Tatsache, dass der Gebäudekomplex im Zentrum von Paris, im Quartier Latin, das Davidson plakativ als »the cradle of French civilization« bezeichnet, in direkter Nachbarschaft zum 65 G. Kepel, Les banlieues de l’Islam, S. 72. Vgl. hierzu auch Bayoumi, Mustafa: »Shadows and Light. Colonial Modernity and the Grande Mosquée of Paris«, in: The Yale Journal of Criticism 13:2 (2000), S. 267-292. 66 Vgl. die Studien von N. Davidson, Only Muslim, S. 56 ff.; Maussen, Marcel: »Mosques and Muslims in Marseille«, in: ISIM Review 16 (2005), S. 54-55; J. Sbaï, »La République et la Mosquée«. 67 Die isolierte Betrachtung des Institut musulman de la Mosquée de Paris als ›Schaufenster des Islam‹, könnte Silvestris Befund belegen, dass der Islam in Europa zu einer »sort of ›civil religion‹« anverwandelt werden soll, Sara Silvestri, »The Situation of Muslim Immigrants in Europe in the Twenty-first century. The creation of National Muslim Councils«, in: Holger Henke (Hg.), Crossing Over. Comparing Recent Migration in Europe and the United States, Lanham, MD: Lexington, 2005, S. 101-129, hier S. 111. 68 N. Davidson, Only Muslim, S. 36, 61. 69 Boyer, Alain, L’Institut musulman de la Mosquée de Paris, Paris: CHEAM – La Documentation française, 1992, hier S. 19.
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Jardin des plantes und vor allem nahe dem Invalidendom erbaut wurde, sowie »it’s ›Muslim architectural character‹« zeigten nach Meinung der Historikerin »visually the tension between ist role as a secular cultural and religious institution that defined the paradox of Islam français«.70 Zugleich weist Davidson jedoch auch darauf hin, dass die Lage in einer bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr dicht bebauten Stadt wie Paris davon abhängt, wo gerade eine größere für die Bebauung freigegebene Fläche zur Verfügung steht.71 Diese ›Baulücke‹ ergab sich im 5. Arrondissement, da hier mit dem Gelände des 1912 abgerissenen Hôpital de la Pitié ein großes freies Areal entstanden war. Ein Teil dieser Fläche,72 7.500 qm2, wurde mit finanzieller Unterstützung durch die Stadt Paris für den Bau des Institut musulman de la Mosquée de Paris von der Société des Habous für 1.500.000 Francs vom Service de la Santé, dem dieses Grundstück gehörte, erworben. Trotz der Tatsache, dass die Lage des Institut musulman de la Mosquée de Paris somit pragmatische Überlegungen zugrunde liegen, gab sie bei den Zeitzeugen des Baus, wie Davidson aufzeigt, vielfach Anlass zu ideologischen Schlussfolgerungen, die in sehr unterschiedlicher Weise darauf zielten, sie als Beleg für die Beziehung des Islam zur französischen Kultur anzuführen.73 Neben der geographischen Lage ist das architektonische Konzept ein zweiter wichtiger Faktor, der den physischen Raum des Institut musulman de la Mosquée de Paris bestimmt. Hierzu gibt es bisher kaum konkrete Angaben. So findet sich neben Verweisen auf die Vorbildfunktion der Großen Moschee von Fez vielfach der Hinweis darauf, dass das Institut musulman de la Mosquée de 70 N. Davidson, Only Muslim, S. 37. 71 Ebd., S. 49. 72 Vgl.
hierzu
http://alain.bugnicourt.free.fr/cyberbiologie/histoirehopitaux/pitie.pdf
vom 30.10.2013. Hier finden sich auf der vierten Seite zwei Karten, aus denen die Situierung der Grande Mosquée auf dem Gesamtgelände des abgerissenen Hôpital de la Pitié ersichtlich ist. 73 N. Davidson, Only Muslim, S. 50. Davidson nimmt im Verlauf ihrer Studie die folgende Unterscheidung zwischen der diskursiven Situierung der Moschee und des Institut musulman in den zeitgenössischen Diskussionen vor: »When its proponents discussed the Mosquée’s creation, they did not situate it in the heart of Paris’s university district; that was the space occupied by the Institut Musulman, whose Islam was intellectual, modern, and compatible with French republicanism but whose physical design was never described. The Mosquée, on the other hand was not discursively located in a particular part of Paris, other than its center«, N. Davidson, Only Muslim, S. 50. Es wäre von Interesse, diesem unzureichend belegten Hinweis nachzugehen und ihn als Teil der Genese des Narrativs ›Grande Mosquée de Paris‹ und ›Institut musulman‹ differenziert einzuordnen.
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Paris im Mudéjar-Stil erbaut worden sei oder aber bei Davidson die These, es handle sich um einen marokkanischen Stil, den sie als Hinweis darauf liest, dass damit eine bestimmte Form, eines »›rejuvenated Islam‹« favorisiert werden soll.74 Maussen argumentiert hingegen, dass der Bau von der Weltausstellung in Marseille beeinflusst ist, da hier tunesische Architektur, in einem Fall gar eine Moschee, beispielhaft ausgestellt wurde75 bzw. charakterisiert er den Stil an anderer Stelle als einen nicht näher definierten »Maghrebi style«.76 Der Hinweis auf den Mudéjar-Stil findet sich am häufigsten. Jedoch handelt es sich hier um eine besonders problematische Charakterisierung, da dieser Stil für die Verschmelzung von christlichen und arabisch-muslimischen Stilelementen auf der Iberischen Halbinsel steht77 und damit kaum der medialen Zielsetzung durch den Bau des Institut musulman de la Mosquée de Paris entspricht. Die diffusen Aussagen über den die Gebäude des Institut musulman de Mosquée de Paris prägenden architektonischen Stile verdeutlichen einmal mehr, dass der Gebäudekomplex sowie insbesondere die Mosquée de Paris das Ergebnis anordnender Handlungen von Subjekten ist und durch diesen Raum nicht nur ein Ort, sondern auch kulturelle und soziale Strukturen geschaffen wurden, die eine Ordnung vorgeben, die über Jahrzehnte die Beziehung von französischem Staat und Islam festlegte, ja zementierte. Die Ordnung folgt einer Logik, die, wie Kepel umfangreich auffächert (1987), sowohl der laïcité, dem Anspruch auf eine Vormachtstellung in Nordafrika als auch dem Willen zur Etablierung einer politisch geleiteten Erinnerungspolitik folgt. Vor dem Hintergrund dieser Entstehungsgeschichte kann es kaum überraschen, dass es besonders nach dem Ende der Kolonialherrschaft Frankreichs in Nordafrika zu fortwährenden Auseinandersetzungen zwischen dem französischen Staat und den nordafrikanischen Staaten, insbesondere Algerien sowie der algerischen Unabhängigkeitsbewegung im Land selbst, aber auch den nordafri74 N. Davidson, Only Muslim, S. 48. 75 Maussen, Marcel: »Islamic Presence and Mosque Establishment in France: Colonialism, Arrangements for Guestworkers and Citizenship«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 33: 6 (2007), S. 981-1002, hier S. 988. 76 Maussen, Marcel: Constructing Mosques. The Governance of Islam in France and the Netherlands, Amsterdam: Universiteit Amsterdam/Amsterdam Institute for Social Science Research (AISSR), 2009, unveröffentlichte Dissertation, hier S. 77. 77 Vgl. zu Charakteristika und geographischer Einordnung des Mudéjar-Stils: Borrás Gualis, Gonzalo M. (Dir.): Mudéjar. El legado andalusí en la cultura española. Catálogo de exposición, Zaragoza: Universidad de Zaragoza, 2010; López Guzman, Rafael: Arquitectura mudéjar. Del sincretismo medieval a las alternativas hispanoamericanas, Madrid: Cátedra, 2000.
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kanischen Staaten untereinander, kam, in die die Moschee maßgeblich involviert war. Zunächst stand bis 1954 Haj Abdelkader ben Ghabrit der Grande Mosquée als recteur vor, dann übernahm nach seinem Tod trotz zahlreicher Proteste bis 1995 Al Sidi Cheikh Abou Bakr Hamaza, genannt Si Hamza Boubakeur, das Amt.78 Seit 1992 steht der Großen Moschee Dalil Boubakeur vor. Aufgrund der bis Mitte der 1970er Jahre wachsenden Arbeitsmigration verschärften sich die Konflikte innerhalb der Führung der Grande Mosquée sowie die zwischen der Moschee und der französischen Regierung bzw. den nun unabhängigen nordafrikanischen Staaten. Denn einerseits wurde die Grande Mosquée von der wachsenden Gruppe der Muslime in Paris weder als sozialer Raum noch als Gebetsstätte angenommen,79 andererseits sah sich der Staat mit der Notwendigkeit konfrontiert, auf die stetig größer werdende Gruppe der Muslime zu reagieren. Gleichwohl war die Grande Mosquée lange Zeit, bis 2003, der offiziell anerkannte Ansprechpartner der französischen Regierung, mit der sie verbindlich Fragen des Lebens- und Glaubensalltag der Muslime in Frankreich erläuterte80 und u.a. eine Charta der Muslime Frankreichs verfasste. Das soeben unter großen Medienrummel und in präsidialer Gegenwart in der Mosquée de Paris aufgestellte »Memorial du soldat musulman« zur namentlichen Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Muslime fordert nun nach fast 100 Jahren das Gedenken für die im Kampf auf Seiten der französischen Republik gefallenen muslimischen Soldaten ein und formuliert damit eine Anerkennung der Verdienste der Soldaten, die dem politischen Diskurs zufolge, bereits von Beginn an
78 Alain Boyer weist treffend auf die Singularität dieses Titels im muslimischen Kontext hin, wenn er erläutert: »À l'époque [i.e. zum Zeitpunkt der Ernennung von Ben Ghabrit] le titre de ›recteur‹ n’exist[e] pas (il n’y en a d’ailleurs pas d’exemple en Islam ; ce titre est inspiré du catholicisme)«, A. Boyer, L’Institut musulman de la Mosquée de Paris, 1992, hier S. 56. 79 Kepel spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem »hiatus entre la fonction officielle de la Mosquée, selon les autorités françaises et la fonction sociale et religieuse qu’elle a peine à assumer auprès des ›travailleurs indigènes‹, trop mal vêtus pour avoir le droit d’en franchir le porche«, G. Kepel, Les banlieues de l’Islam, S. 76. Zudem galt und gilt das Institut musulman de la Mosquée de Paris als ›algerische‹ Institution, die den Interessen der muslimischen Gläubigen anderer Länder kaum Rechnung trug. Viele sahen diese Annahme bestätigt, als 1982 eine Rückübereignung des Moscheegebäudes, die anderen Gebäude blieben im Besitz Frankreichs, an Algerien erfolgte. Zu den Hintergründen vgl. G. Kepel, Les banlieues de l’Islam, S. 72. 80 Vgl. hierzu die Ausführungen in Punkt 1.3.
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die zentrale Motivation für den Bau des Institut musulman de la Mosquée de Paris war.81 2.2 Das Centre islamique et culturel de Belgique bzw. die Grande Mosquée de Bruxelles: von der Auflösung der Panoramasicht zur Zentralstellung der Innensicht Das Centre islamique et culturel de Belgique (CICB), das auch als Grande Mosquée de Bruxelles bezeichnet wird, entstand unter gänzlich anderen Bedingungen als sein Pariser Vorbild. Das Gebäude war im Ursprung weder Moschee noch islamisches Kulturzentrum, sondern wurde auf Veranlassung des Comtes Louis Cavens 1895 von dem Architekten Ernest Van Humbeeck im Jubelpark von Brüssel erbaut, um für das Monumentalfresko Le Caire et les bords du Nil von Émile Wauters, das die Reise des Erzherzogs Rudolphe nach Kairo zeigte, einen Ausstellungsort zu schaffen. Wauters hatte das Wandfresko im Auftrag der belgisch-österreichischen Aktiengesellschaft Panoramas 1880/1881 gemalt;82 es war für ein neues Panoramagebäude in Wien bestimmt, das jedoch abrannte. Das Fresko wurde daraufhin, durch den Brand beschädigt, in Brüssel eingelagert. Herzog Louis Cavens kaufte das Monumentalfresko, ließ es restaurieren und ein Gebäude für die Brüsseler Weltausstellung von 1897 im ›orientalischen‹ Stil bauen, um das 14 Meter hohe und 114 Meter lange Bild der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Bauwerk war aus haltbaren Materialien wie Backstein, Mar81 Vgl. hierzu die an Präsident Hollande gerichtete Rede des aktuellen Rektors der Moschee Dalil Boubaker am 18. Februar 2014 anlässlich der Enthüllung des »Mémorial du soldat musulman«, http://www.lecfcm.fr/wp-content/uploads/2014/02/allocutionpresident-du-cfcm-inauguration-du-memorial-du-soldat-musulman-180220141.pdf vom 19.02.2014. 82 Ab 1875 bis Ende des 19. Jahrhunderts gab es weltweit ein großes Interesse an Szenen der nationalen Geschichte. Daher wurden sie vor allem in großen Städten in riesigen Panoramen, die bis zu 15 Meter hoch waren und einen Durchmesser von bis zu 120 Meter aufwiesen, in einem als Rundgemälde konzipierten Wandfresko ausgestellt. Diese Wandbilder wurden regelmäßig ausgetauscht. Zur Finanzierung wurden Aktiengesellschaften gebildet, die sich durch die Einnahme der Eintrittsgelder große Gewinne versprachen. Viele Großstädte besaßen am Ende des 19. Jahrhunderts mindestens ein Panoramagebäude, in dem wechselnd und im Austausch neue Panoramabilder gezeigt wurden. Vgl. hierzu Plessen, Marie Luise von: Sehsucht. Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts, Katalog der gleichnamigen Ausstellung, Kunsthalle Bonn, 28. Mai bis 10. Oktober 1993, Frankfurt: Stroemfeld/Roter Stern, 1993.
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mor und Stahl, da es nicht nach der Weltausstellung abgerissen, sondern ein Teil der Musées royaux des Arts décoratifs et industriels werden sollte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Gebäude und Gemälde mehrfach ausgebessert, dies war notwendig, weil sie im Zweiten Weltkrieg erheblichen Schaden genommen hatten. Doch 1963 waren beide in einem so schlechten Zustand, dass sie nicht mehr für den Publikumsverkehr freigegeben werden konnten. Im Jahre 1967 hielt sich der saudische König Faisal zu einem Staatsbesuch in Brüssel auf; bei dieser Gelegenheit besprach der belgische König Baudouin mit ihm die Möglichkeit, das Gebäude im bekannten Brüsseler Jubelpark zu einer Moschee umbauen zu lassen. König Faisal sagte die Finanzierung und Organisation des Umbaus zu und beauftragte den tunesischen Architekten Mongi Boubakar mit dem Projekt. Im Beisein des saudischen Königs Khalid und des belgischen Königs Baudouin wurde das Centre Islamique et Culturel de Belgique (CICB) 1978 eingeweiht und der Muslimischen Gemeinschaft Belgiens zur Nutzung übergeben, damit sie dort ein religiöses und kulturelles Zentrum aufbauen konnte. Seit 1982 hat die Ligue Islamique Mondiale, eine von König Faisal von Saudi Arabien gegründete Organisation, weitgehend die allgemeinen Unterhaltungskosten des CICB übernommen und stellt ihm darüber hinaus ein Jahresbudget zur Verfügung.83 Dies sorgte für erhebliche Kritik unter den Muslimen Belgiens, da sie die in Saudi Arabien vorherrschende hanbalitische Rechtsschule ablehnten, denn sie kamen entweder mehrheitlich aus Marokko und hingen damit der malikitischen Rechtsschule an oder aber aus der Türkei und favorisierten somit die hanafitische Rechtsschule. Für den Umbau in eine Moschee musste das Monumentalfresko von Wauters entfernt werden, von ihm existieren heute nur noch Fragmente. Ferner erforderte die Neugestaltung des Gebäudes zahlreiche grundsätzliche Umbaumaßnahmen, deren bisher nicht erforschter Umfang das im Anhang dieser Studie befindliche Bildmaterial verdeutlichen soll.84 So wurden z.B. dem Raum für das Panoramagemälde, eine von sechs Mauerteilen gebildete Rotunde mit einem Durchmesser von 38 Metern, neben der vorhandenen Zuschauergalerie noch zwei weitere Galerien hinzugefügt sowie große Glasfenster in die Rotunde eingelassen. Zudem wurde der Einbau des Mihrab im Westen der Rotunde vorgenommen. Dem Hauptraum wurden in verschiedenen Himmelsrichtungen kleinere Räume hinzugefügt, so z.B. im Osten ein Minarett von 40 Metern Höhe, im Süden ein drei83 Hierauf weist die Homepage des Centre islamique explizit mit den folgenden Worten hin: »La Ligue Islamique Mondiale prend en charge les frais généraux du Centre Islamique et lui alloue un budget annuel«. http://www.centreislamique.be/node/26 vom 10.01.2014. 84 Vgl. Abb. 1 und Abb. 2 im Anhang dieses Aufsatzes.
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eckiger Garten, der von Arkaden gesäumt war. Die Fassaden waren in einem arabischen Dekor gehalten. Viele der orientalisierenden Elemente besonders an der Außenfassade wurden zurückgebaut und durch prunklose Mauern oder schlichtere Ornamente ersetzt. Im Verlauf der Zeit wurde der Gebäudekomplex noch erweitert, so dass er heute auch eine Schule und seit 2009 das L’Institut Islamique Européen section francophone beherbergt, eine islamische Bildungseinrichtung, die für Interessierte ab sechzehn Jahren Kurse aus dem Bereich der islamischen Bildung bzw. Erziehung anbietet, und das Institut Islamique, das in arabischer Sprache Unterricht der Islamwissenschaften erteilt. Eine Öffnung oder gar Zurschaustellung der islamischen Kultur, die, wie aufgezeigt, für die Raumkonstruktion des Institut musulman de la Mosquée de Paris konstitutiv waren und sind, lassen weder die Anlage des Gebäudes des CICB noch die Zuschreibungen an diesen Raum erkennen. Wie bereits in Punkt 1.2 angeführt war das Centre Islamique et Culturel de Belgique (CICB) lange für die Islampolitik und die Entwicklung des Islam in Belgien ebenso zentral wie das Institut musulman de la Mosquée de Paris für die Islampolitik in Frankreich. Die Genese des Raumes, an den das CICB bzw. die Große Moschee von Brüssel angesiedelt ist, unterscheidet sich somit zwar grundlegend von ihrem Pariser Pendant, dessen ungeachtet sind sowohl ihre Funktion als auch die durch sie ins Bild gesetzten Beziehungen zwischen Islam und Staat aufgrund der ihnen eingeschriebenen vertikalen Organisationsparadigmen vergleichbar. Zudem gibt es zur Bedeutung des belgischen Centre Islamique et Culturel bzw. zur Grande Mosquée de Bruxelles für die in Belgien lebenden Muslime erste Studien, die hingegen für das Institut musulman de la Mosquée de Paris bisher nicht vorliegen. So unterstreicht Corinne Torrekens, unter Bezugnahme auf von ihr durchgeführte Befragungen, die zentrale symbolische Dimension des Gebäudes für die Muslime Belgiens. Sie stellt heraus, dass diese symbolischen Zuschreibungen auf die Architektur des Baus referieren, da das Centre Islamique et Culturel de Belgique architektonisch deutlich als Moschee gekennzeichnet sei, weshalb es vielfach unter den Muslimen als Grande Mosquée de Bruxelles bekannt sei und nicht als Centre Islamique et Culturel de Belgique. 85 Nach Ural Alp Manço und Meryem Kanz ist Brüssel »une des villes les plus musulmanes du monde occidental«, da hier ungefähr 160.000 Muslime leben, was einem Bevölkerungsanteil von 39 % entspräche.86 Die konkrete Konzentra85 Torrekens, Corinne: »L’islam dans la capitale européenne. Vers l’émergence d’un islam européen« ?, in: Emigrations et Voyages 1:1 (2005), S. 47-69, hier S. 55. 86 Manço, Ural Alp/Kanz, Meryem: »Les musulmans de Belgique entre intégration et stigmatisation«, in: Khader Bichara/Claude Roosens (Hg.), Belges et Arabes. Voisins
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tion und Organisationsstruktur der Muslime in dieser ›besonders muslimisch‹ geprägten Stadt hat Torrekens in einer Studie untersucht. In diesem Rahmen hat sie selbstverständlich auch die Moscheen der Stadt und ihre Bedeutung für die Muslime Brüssels in den Blick genommen und unterstreicht in diesem Zusammenhang die besondere Rolle, die die Grande Mosquée de Bruxelles einnimmt: À Bruxelles, la visibilité extérieure de ces mosquées [i.s. die etwas mehr als 80 erfassten Moscheen in Brüssel] se marque plus ou moins, selon différents moyens (panneaux en arabe et/ou traduction phonético-francisée, indications en français, mosaïques, minaret, etc.), ou pas de tout. Dans le cadre d’une citoyenneté affirmée et revendiquée, un nombre croissant de fidèles musulmans se révèle sensible à l’expression architecturale des mosquées. C’est ce qu’on voit bien dans l’importance symbolique particulière que possède pour un nombre non négligeable de musulmans pratiquants le Centre islamique et culturel de Belgique, appelé aussi Mosquée du Cinquantenaire ou Grande Mosquée de Bruxelles, parce qu’elle est la seule à ressembler à une ›vraie‹ mosquée.87
Die Sonderstellung der Grande Mosquée de Bruxelles kann somit nicht nur als das Produkt von staatlichen Strukturvorgaben angesehen werden, sondern ist aus Sicht der Muslime Belgiens auch in ihrer herausragenden geographischen Lage im Jubelpark und in der an eine Moschee gemahnenden, gut sichtbaren Architektur begründet. 2.3 Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: die IglesiaCatedral y antigua mezquita de Córdoba als (un)doing place und Erinnerungsort Im ersten Teil dieses Artikels konnte gezeigt werden, dass die Beziehung von Staat und Islam in Spanien ebenso durch die Vorgabe einer vertikalen Organisationsstruktur bestimmt war und ist wie in Belgien und Frankreich. Somit wäre distants, partenaires nécessaires, Louvain-la-Neuve: Presses universitaires de Louvain, 2004, S. 83-110, hier S. 84. Ebenso wie in Frankreich ist es in Belgien nicht erlaubt, im Rahmen eines Zensus die Religionszugehörigkeit zu erfragen; daher handelt es sich hier stets um approximative Zahlen. 87 Torrekens, Corinne: »Concentration des populations musulmanes et structuration de l’associatif musulman à Bruxelles«, in: Brussels Studies, 4 (2007), S. 1-16, hier S. 10, verfügbar unter: http://www.brusselsstudies.be/medias/publications/FR_35_BS4FR. pdf vom 31.06.2013. Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Dassetto, Felice: L’Iris et le Croissant. Bruxelles et l’Islam au défi de la co-inclusion, Louvain-laNeuve: Presses universitaires de Louvain, 2011, besonders Partie 1. »Panorama du monde musulman bruxellois organisé« und Partie 4 »Ville et islam«.
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auch hier das Vorhandensein einer Zentralen bzw. Großen Moschee von Madrid denkbar. Doch einen vergleichbaren Raum gibt es in Spanien nicht. Zwar wurde 1988 die Mezquita Central de Madrid, auch Mezquita Abu-Bakr genannt, eingeweiht oder aber die größte moderne Moschee Spaniens, die über 1000 qm2 große Mezquita an der Madrider Autobahn M30.88 Doch keiner dieser Räume hat eine mit den Grandes Mosquées in Brüssel und Paris vergleichbare Rolle inne. Ein Grund hierfür kann in der Präsenz und damit gemeinsamen Geschichte der Muslime und Christen vom 8. bis 16. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel gesehen werden. Sie hinterließ neben einem reichen kulturellen Erbe auch zahlreiche Bauten, unter ihnen architektonisch herausragende Bauwerke wie die Mezquita de Córdoba, die ebenso wie andere Moscheen nach dem Sieg über die Muslime eine Umnutzung zur christlichen Kirche erfuhr.89 Viele dieser umgenutzten Gebäude gibt es heute nicht mehr, jedoch ist die architektonisch und aufgrund ihrer politischen Bedeutung herausragende Moschee, die ehemalige Mezquita Aljama (Haupt- bzw. Zentralmoschee) von Córdoba, noch erhalten. Sie wurde unter Abd Al-Rahman I nach dem Abriss einer dort vorher vorhandenen westgotischen Basilika – zuvor stand dort evtl. bereits ein römischer Tempel – gebaut und erfuhr bis zur Eroberung Córdobas als zentrale Moschee der Machthaber zahlreiche Um- und Ausbauten90 und wurde für viele spätere Moscheebauten auf der ganzen Welt ein architektonisches Vorbild. Im Jahr 1239 wurde sie, nach der Eroberung Córdobas durch die Christen, zu einer Kathedrale umgebaut und zur Catedral de Santa María de Córdoba geweiht. Sie blieb auch danach weiterhin Gegenstand einer regen Bautätigkeit. Dennoch ist die Kathedrale heute in Spanien und der Welt weitgehend als die Mezquita de Córdoba bekannt. Dies dürfte vor allem der Tatsache geschuldet sein, dass sie nach wie vor sowohl in ihrer äußeren wie auch inneren Gestaltung als Moschee erkennbar ist. Sie bildet heute, neben der Alhambra, eines der wichtigsten Touristenziele Südspaniens. Im Jahr 2014 feiert die katholische Kirche bzw. die Kathedrale von Córdoba das auch medial umfangreich in Szene gesetzte 775-jährige Kirchenjubiläum unter dem bezeichnenden Motto: »Cátedral de Córdoba 1239-2014. 775 años juntos«.91 Be88 Sie wurde ebenso wie die das Centre Islamique et Culturel de Belgique (CICB) von der Liga der Islamischen Welt finanziert. Allgemein zum Islam in Spanien und der Bedeutung der im Land vorhandenen Moscheen vgl. Martín Muñoz, Gema (Hg.): Musulmanes en España. Guía de referencia, Madrid: Casa Árabe, 2009. 89 Prominente Beispiele für die Umnutzung von Moscheen in Kirchen sind die Moscheen von Toledo, Jaén, Sevilla, Granada und Málaga. 90 Vgl. hierzu die detaillierte Studie von Souto, Juan A.: »La Mezquita Aljama de Córdoba«, in: Artigrama 22 (2007), S. 37-72. 91 http://www.catedraldecordoba.es/ am 11.01.2014.
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sonders nachhaltig wird auf der Webseite der Kathedrale bei der Vorstellung ihrer Geschichte darauf verwiesen, dass sie zunächst eine westgotische Basilika gewesen sei, in der die christliche Religion praktiziert worden ist. Sie sei dann von den Muslimen zerstört worden und auf ihrem Fundament haben die Muslime dann die Mezquita de Córdoba errichtet. Im Jahr 1239 wurde das Gebäude dann erneut dem christlichen Glauben geweiht und sei nun schon über 700 Jahre Gegenstand intensiver Restaurierungsarbeiten. Die Zielsetzung, die christliche Genealogie der Kathedrale zu unterstreichen, wird hier überdeutlich. Sie ist ein Verweis auf die in Spanien seit langem schwelende Diskussion um die Ansprüche von Muslimen auf diesen Raum.92 Denn nach Auskunft von Manuel Nieto, Chefarchivar des erzbischöflichen Archivs der Catedral de Santa María de Córdoba, wurden bereits in der Zweiten Republik von Abgeordneten der linken Parteien Anträge auf Übereignung der Moschee an die Muslime gestellt; sie wurden negativ beschieden. Zudem gab es angeblich in der Franco-Zeit ein Angebot von König Faisal von Saudi Arabien, 10 Millionen US-Dollar an Franco zu zahlen, wenn er den Muslimen erlaube zwei bis dreimal in der Woche in dieser ehemaligen Moschee beten zu dürfen. Franco soll dieses Angebot ernsthaft erwogen, sich dann aber dagegen entschieden haben. Ebenso wurde die Frage nach dem Status dieses Gebäudes virulent, als die UNESCO in den 1970er Jahren den Antrag prüfte, es in die Liste des Weltkulturerbes aufzunehmen. Ende der 1980er Jahre, als sich ein deutlicher Zuwachs an muslimischer Einwanderung abzeichnete und somit auch die Frage nach einer Zentralmoschee virulent wurde, kam es zu einer Intensivierung der Debatte um die Bedeutung und den praktischen Nutzen, die dieses Gebäude für in Spanien lebende Muslime hat bzw. haben kann. Diese Diskussion ist bis heute nicht abgerissen.93 Stets geht es darum, wem dieser Raum eigentlich gehört bzw. wer ihn zur Religionsausübung nutzen kann. So hat sich die Junta Islámica vergeblich mehrfach an die zuständigen kirchlichen Autoritäten in Spanien und auch an den Papst in Rom mit der Bitte gewandt, den Muslimen Spaniens das Beten in der »MezquitaCatedral« zu erlauben.94 Im Kontext dieser Debatte hat Manuel Nieto, Chefar92 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: http://www.elconfidencial.com/espana/201405-19/la-ii-republica-y-franco-tambien-estudiaron-devolver-la-mezquita-a-los-musul manes_131921/ am 20.05.2014. 93 Eine jüngere Überblicksstudie zu den Hintergründen der sich wandelnden Bedeutung, Deutung und Inanspruchnahme der Großen Moschee von Córdoba bis in die Gegenwart ist die Studie von Ruggles, D. Fairchild: »La estrategia del olvido. La Gran Mezquita de Córdoba y su legado refutado«, in: Antipoda 12 (Januar-Juni 2011), S. 19-37. 94 Vgl. http://www.publico.es/espana/304131/la-junta-islamica-pide-el-culto-compar tido-en-la-mezquita-de-cordoba
am
23.02.2013
sowie
http://www.webislam.
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chivar des erzbischöflichen Archivs der Catedral de Santa María de Córdoba darauf hingewiesen, dass das Gebäude bei der Eroberung Córdobas 1236 von den Muslimen indirekt an die Eroberer verkauft worden sei und sich daher nicht die Frage stelle, wem das Gebäude gehöre.95 Als bekannt wurde, dass die katholische Kirche erst 2006 die Kathedrale als ihren Grundbesitz eintragen ließ, kam es zu zahlreichen Protesten, auch von Bürgern aus Córdoba, in denen dieses Gebäude als Allgemeingut aller Bürger Córdobas reklamiert wurde.96 Ohne Frage ist die Catedral de Santa María de Córdoba von der katholischen Seite als undoing place für die Muslime vorgesehen, zugleich ist sie aber nach wie vor ein Kristallisationspunkt muslimischer Identität nicht nur der in Spanien lebenden Muslime, sondern für Muslime der gesamten arabischen Welt.97 Noch deutlicher als die Alhambra stellt sie einen zentralen physischen Bezugspunkt für eine auf al-Andalus zielende imagined geography der in Spanien lebenden Muslime dar. Das Narrativ der Mezquita-Catedral de Córdoba erweist sich somit als ein wichtiges Element im Dispositiv des Muslimsein in Islam in Spanien. Es zeigt sich somit, dass in Spanien mit der Iglesia Catedral bzw. Mezquita von Córdoba ein gerade nicht für das konkrete religiöse Handeln der Muslime bestimmter Raum den zentralen Referenzraum der Diskussion um Räume des muslimischen Glaubens bildet, was eng mit der Tatsache zusammenhängt, dass in Spanien aufgrund der historischen Präsenz der Muslime auf der Iberischen Halbinsel besonders intensiv imagined geographies, vorgestellte bzw. eingebildete Räume, verhandelt werden bzw. für die Identitätsbildung in Anspruch genommen werden. Dies wirkt sich nicht nur auf die Repräsentation des Islam in Spanien aus, sondern wird auch programmatisch von den offiziell bestimmten Vertretungsorganen des Islam eingefordert. Denn einerseits kann, anders als in com/dosieres/67703-uso_ecumenico_de_la_mezquitacatedral_de_cordoba.html
am
24.02.2013. 95 Vgl.
hierzu
http://www.elconfidencial.com/espana/2014-05-19/la-ii-republica-y-
franco-tambien-estudiaron-devolver-la-mezquita-a-los-musulmanes_131921/
am
20.05.2014. So wurden jüngst vier junge Muslime aus Österreich in Spanien angeklagt, weil sie in der Kathedrale bzw. ehemaligen Moschee von Córdoba versucht haben sollen zu beten und es daraufhin zu Handgreiflichkeiten mit Sicherheitskräften kam. 96 http://www.elconfidencial.com/espana/2014-05-19/la-ii-republica-y-franco-tambienestudiaron-devolver-la-mezquita-a-los-musulmanes_131921/ am 20.05.2014. 97 Schließlich ist sie nicht zuletzt auch ein architektonischer Referenzpunkt. Vor diesem Hintergrund ist es von besonderem Interesse, dass in Katalonien jüngst Bauvorschriften zur Neutralisierung der Moscheen im öffentlichen Raum erlassen wurden.
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Belgien und Frankreich, das für die Repräsentation des Islam zentrale Medium des Islam in Spanien nicht mehr, vor allem nicht von der Regierung, modelliert werden, da es in Form eines der bedeutendsten Bauwerke islamischer Baukunst bereits vorhanden ist. Andererseits ist, wie kurz angedeutet, dieser Raum nicht nur für die mächtige FERRI ein zentraler Referenzpunkt des Islam, sondern auch für die Junta Islámica sowie für zahlreiche andere Gruppen und Individuen islamischen Glaubens in Spanien. Der Beitrag von Gema Martín Muñoz in diesem Band zeigt, das al-Andalus als Bezugspunkt der imagined geographies eine große Rolle spielt. Denn dieser Ort gilt als Symbol eines al-Andalus, dessen Zentralität für die Debatte um den Islam in Spanien Gema Martín Muñoz in ihrem Aufsatz in diesem Band ausführt. Die Mezquita de Córdoba ist somit für die Muslime Spaniens nach offizieller Lesart in Bezug auf die Praktizierung ihres Glaubens ein non lieu bzw. ein undoing place,98 nach Lesart der Muslime jedoch ein wichtiger Erinnerungs- und Sehnsuchtort der Religionsausübung. Es wird von großem Interesse sein, wie Spanien in Zukunft mit diesem polyvalenten Erinnerungsort umgeht; die zukünftige Raumdefinition der Mezquita von Córdoba ist ein untrüglicher Seismograph für die Dimensionen der Möglichkeitsräume des Muslimseins in Spanien. In den vorangegangenen drei Analysen wurde deutlich, dass Räume in ihrer materiellen und sozialen Dimension die Welt der Dinge und die der Menschen beinhalten. Um dies zu erkennen, mussten die untersuchten Räume im Prozess analysiert, d.h. die sie maßgeblich prägende zeitliche Dimension aufgearbeitet werden. Somit ist die von Werlen postulierte handlungstheoretisch verankerte Raumkonzeption auch in dem vorliegenden Kontext bedeutsam.99 Denn die vorangegangene Analyse zeigte deutlich, dass Handlungen – in Bezug auf die drei untersuchten Räume sind dies vor allem staatlich-politische Handlungen – die einem ständigen Wandel in der Zeit unterworfene Ordnung von Körpern im Raum besorgt oder aber auch danach trachtet, diesen Wandel zu verhindern bzw. in bestimmter Weise zu lenken.
98
Zum Begriff des »Undoing Place« vgl. McDowell, Linda (Hg.): Undoing place? A geographical reader, London/New York: Arnold, 1997, die sich in dem Vorwort zu diesem Reader neben anderen Autoren der Frage widmet, wie sich Orte und individuelle Identitäten oder Gruppenidentitäten im Laufe der Zeit verändern, wenn sie z.B. nicht mehr aktiv konstruiert bzw. konstituiert werden.
99
Zu den Grundlagen dieses Konzepts vgl. Werlen Benno: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Bd. I, Stuttgart: Franz Steiner, 21999.
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Martina Löw hat in ihrem relationalen Raummodell diesen gesellschaftlich verhandelten Prozess des Anordnens bzw. des Platzierens von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten mit dem Begriff Spacing belegt, um einerseits darauf hinzuweisen, dass Raumstrukturen eine gesellschaftliche Ordnung vorgeben bzw. auf eine Vorstellung einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung Bezug nehmen und um andererseits hervorzuheben, dass diese Strukturen wiederum ein Ergebnis von Handlung, nämlich einer anordnenden Handlung von und im Raum durch Subjekte sind.100 Diese wechselseitige Bedingtheit von Raumstrukturen und anordnender Handlung wurde sowohl in der Darstellung der Genese des Institut musulman de la Grande Mosquée de Paris als auch durch die Umwidmung der Mezquita de Córdoba zur Catedral de Santa María de Córdoba deutlich. Während für den Prozess des Anordnens bzw. Platzierens von Lebewesen und sozialen Gütern, das Spacing, im Zusammenhang mit dem Institut musulman de la Grande Mosquée de Paris Faktoren wie Gallikanismus, die koloniale Vergangenheit Frankreichs und die laïcité und für die Mezquita-Catedral dies Elemente wie die Geschichte von al-Andalus sowie die Reconquista waren, konnten für die Brüsseler Moschee entsprechende Faktoren des Spacing nicht eindeutig identifiziert werden. Denn in den Raumstrukturen und -konstruktionen der Grande Mosquée de Bruxelles prägt sich weniger ostentativ eine vom belgischen Staat bestimmte Vorstellung einer gesellschaftlichen Ordnung bzw. der Beziehung des Islam zum Staat aus, da das Gebäude an das Königreich SaudiArabien übereignet wurde und damit die diesen Ort bestimmenden gesellschaftlichen Strukturen nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar unter den Vollzügen religiöser Strukturen in die Raumordnung eingeprägt sind. Hieraus ergibt sich, dass aus den deutlich angenäherten Organisations- und Repräsentationsstrukturen, die die Pariser und Brüsseler Moschee nachhaltig bestimmen nicht automatisch auf ein das Spacing bestimmendes, gemeinsames historisches oder politisches Fundament geschlossen werden kann. Zugleich zeigten die vorangegangenen Ausführungen, dass bei einer Einbeziehung Spaniens in vergleichende Studien stets berücksichtigt werden muss, dass der historischen Präsenz des Islam und den in diesem Zusammenhang entstandenen Bauten in diesem Land in Verhandlungsprozessen aktueller muslimischer Identitäten von sehr unterschiedlichen Seiten vielfach die Funktion einer Blaupause zugewiesen werden. Die Betrachtungen zentraler muslimischer Gebetsstätten in Paris und Brüssel bzw. der Mezquita-Catedral de Córdoba haben ferner gezeigt, dass neben den (An)Ordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern stets die anthropologisch100 M. Löw, Raumsoziologie, S. 158, 224.
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phänomenologische Dimension von Räumen für ihre Konstruktion und Konstitution zentral ist, da sie komplexe Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprozesse umfasst, deren Analyse zum Verständnis der Räume und der mit ihnen verschränkten Organisations- und Repräsentationsstruktur unabdingbar ist.101 Um diese Dimensionen zu erfassen, sind für den Bau des Institut musulman de la Grande Mosquée de Paris die Wahrnehmung des heute sehr unbestimmt und vielfältig benannten ›arabischen‹ Stils an seine historischen Entstehungsvoraussetzungen in der Zeit der Weltausstellungen sowie der nationalen Ausstellung von Marseille zurückzubinden,102 aber auch die Referenz auf die Große Moschee von Fez oder aber die exotistische Vorstellung eines orientalischen Raums mitten in Paris oder das soeben eingelöste Versprechen auf eine aktive Erinnerungspolitik an die gefallenen Muslime im Ersten Weltkrieg zu zählen. Die Wahrnehmungs- und Vorstellungsprozesse, die sich auf die Große Moschee im Brüsseler Jubelpark beziehen, haben einen genau umgekehrten Verlauf genommen. Der Rückbau orientalisierender Elemente hat die von Torrekens beschriebene positive Wahrnehmung des Gebäudes durch die Muslime Belgiens ohne Frage maßgeblich erhöht. In der Folge konnte das zunächst für orientalisierende Vorstellungsprozesse errichtete Gebäude zur Ausstellung eines Monumentalfreskos einer Ägyptenreise zu einem Ort bzw. Raum werden, auf den die Identitätskonstruktionen der Muslime Belgiens referieren. In Spanien ist mit der Mezquita-Catedral ein komplexes Erinnerungsgeflecht verbunden, das einerseits viele Muslime mit Nostalgie erfüllt, die sich besonders auf die Funktion des Gebäudes im Zeitalter der Kalifen von Córdoba richtet, und das andererseits, aufgrund der hybriden Architektur des Gebäudes, besonders des Innenraums, auch langfristig auf der Agenda vieler in Spanien lebender Muslime als offener, mit der jeweiligen spanischen Regierung zu verhandelnder Punkt figurieren wird.
101 Löw hat diesem Umstand in ihrer Raumtheorie Rechnung getragen, wenn sie darauf verweist, dass (An)Ordnungen stets Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprozesse zugrunde liegen bzw. durch sie in Gang gesetzt oder auch begrenzt werden; für diesen Vorgang hat sie dem Begriff »Syntheseleistung« geprägt. 102 Erste Studien hierzu hat Marcel Maussen vorgelegt: »Islamic Presence and Mosque Establishment in France. Colonialism, Arrangements for Guestworkers and Citizenship«.
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3. M USLIMSEIN IN B ELGIEN , F RANKREICH UND S PANIEN IM S PANNUNGSFELD VON I NSTITUTIONALISIERUNG UND R AUMZUWEISUNGEN »Die islamische Architektur wird durch die […] Betonung der horizontalen Richtung, der Unbestimmtheit der inneren Räume und eine strenge Geschlossenheit des Gebäudes nach Außen gekennzeichnet«. »DER RAUM IM ISLAM« VON LILIANA VILLANUEVA – 2009
Das vorangegangene Zitat weist darauf hin, dass die den Islam in Organisationsund Repräsentationsformen bestimmende Dominanz der Horizontalen auch in der islamischen Architektur bzw. der Konzeption des physisch-materiellen Raums greifbar ist. Diese Horizontalen werden vielfach, wie im ersten Punkt dieser Studie umfassend aufgeführt, durch die von politisch-staatlicher Seite erfolgten Zuweisungen von vertikalen Organisationsstrukturen an die Muslime in Belgien, Frankreich und Spanien ebenso durchkreuzt wie von den ebenfalls dieser vertikalen Logik folgenden räumlichen Fortschreibungen, die den Muslimen in den genannten Ländern zur Repräsentation des Islam zugeeignet bzw. versagt werden. Damit werden maßgebliche Strukturen für das Muslimsein in den einzelnen Ländern geschaffen. Anhand neuerer Entwicklungen konnte gleichwohl skizziert werden, dass in diese von der Vertikalen bestimmten Strukturen und Raumkonstruktionen in Belgien und Spanien und zum Teil auch in Frankreich zunehmend neue horizontale Strukturen eingelassen sind, die vielfach der Etablierung lokaler Bewegungen bzw. alternativer Organisationen wie der spanischen Fundación Pluralismo y Convivencia, der belgischen Commission du Dialogue interculturel (2005) und auch den Assises de l’Interculturalité (2010) zu verdanken sind. In Frankreich scheint dieser Weg zum Teil durch das Konzept eines Islam de France verstellt. Denn noch 2012 hat der damals mit dem Amt des Innenministers betraute und heutige Premierminister Manuel Valls anlässlich der Eröffnung der Grande Mosquée de Strasbourg dieses Modell für Frankreich favorisiert,103 dessen Inhalte jedoch bis heute weder klar benannt noch mit den Muslimen umfassend diskutiert worden sind. Gleichwohl steht neben diesem vielfach kritisierten Anspruch eine breite Akzeptanz der laïcité durch viele Muslime, die sie als wichtige Basis
103 Vgl. http://www.france24.com/fr/20120927-inauguration-grande-mosqueestrasbourg-manuel-valls-islam-france-musulmans, 28.9.2012 vom 03.01.2013.
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für eine eigene Auslegung ihres Glaubens à la française beurteilen.104 Diese Zustimmung könnte z.B. eine Motivation für die von Gilles Kepel untersuchten umfangreichen Kandidaturen von Kandidaten mit muslimischen Namen bei den letzten Parlamentswahlen sein,105 hier wäre in Zukunft nach einer hieraus möglicherweise resultierenden Aufweichung des vertikalen Organisations- und auch Raumparadigmas des Islam in Frankreich zu forschen. Zugleich könnte dieses politische Engagement der Muslime als ein erster Beleg für die von Sara Silvestri geäußerte Vermutung gehandelt werden, dass es von großem Interesse ist, stärker auf die – womöglich eher horizontale – Struktur der Organisationen zu schauen, die von den Muslimen selbst organisiert bzw. von ihnen als Organisation gewählt werden.106 Dann jedoch ist einem Aspekt Rechnung zu tragen, der im Rahmen dieses Beitrags nicht diskutiert werden kann, nämlich den der Vielfalt der muslimischen Gruppen, die nach Nation, nach Glaubensrichtung, z.T. nach Zugehörigkeiten, die auf ehemalig relevante Sozialzusammenhänge wie Region etc. verweisen. Wie diese Zusammenhänge sinnvoll in eine Untersuchung eingearbeitet werden können, ist in weiteren Studien unbedingt nachzugehen. Gleichwohl kann auf der Grundlage der vorangegangenen Analyse der engen Wechselbeziehung zwischen staatlich eingeforderten Institutionalisierungsstrukturen und offizieller Raumzuweisung an den Islam in Form eines umgebauten Weltausstellungspavillons, eines ›Schaufensters‹ des Islam und auch eines un104 Brouard, Sylvain/Tiberj, Vincent: Rapport au politique des français issus de l’immigration. Rapport final, Paris, CEVIPOF/Sciences Po, Juni 2005, 30 S., hier S. 18, verfügbar unter: http://www.cevipof.com/rtefiles/File/rapp_fi.pdf am 13.01.2013. 105 G. Keppel, Passion française. 106 Silvestri, Sara: »Public policies towards Muslims and the institutionalization of ›Moderate Islam‹ in Europe. Some critical relflections«, in: Anna Triandafyllidou (Hg.), Muslims in 21st Century Europe. Structural and Cultural Perspectives, London: Routledge, 2010, S. 45-59, hier S. 54-55. Gleichwohl ist ebenso zu berücksichtigen , dass zahlreiche Muslime in Belgien, Frankreich und Spanien der Gründung einer offiziellen, vom Staat unterstützten Vertretungsorganisation aller Muslime positiv gegenüber stehen, weil sie dadurch Stimme und Gewicht in der Politik und Gesellschaft erlangen. Ihnen gegenüber steht die wohl weit größere skeptisch oder zumindest nicht in diesen Organisationen aktive oder sich mit ihr identifizierende Mehrheit, die in Teilen befürchtet, dass diese Organisation vor allem darauf zielt, den Islam an Europa anzunähern, ihn nach europäischen Mustern zu institutionalisieren. Die Kritik zielt auf die muslimischen Führer dieser Organisationen, ihrer Nähe zur politischen Macht und der Option eines Dachverbandes ohne Rückhalt an der Basis, der dennoch den Anspruch erhebt, die Muslime insgesamt zu vertreten, was aufgrund der Heterogenität der Muslime in den einzelnen Ländern nicht möglich sei.
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doing place, nach der diese Raumformungen bestimmenden Funktionalität und damit zugleich nach dem sozio-politischen Fundamente des Institutionalisierungsprozesses des Islam in den jeweiligen Ländern gefragt werden. Einen wichtigen Hinweis für eine mögliche Antwort auf diese Frage findet sich in Foucaults Definition des Dispositivkonzepts, denn er erläutert, dass er unter einem »Dispositiv eine Art von […] Formation [versteht], deren Hauptfunktion […] darin bestanden hat, auf einen Notstand zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion«.107 Das Dispositiv Muslimsein antwortet insofern auf einen Notstand, als dass es für das (Anwesend)Sein der Muslime in Europa noch keine vorgeprägte oder akzeptierte Setzung in den untersuchten europäischen Ländern gibt. Es wurde deutlich, dass die untersuchten europäischen Länder danach streben, auf diesen ›Notstand‹ durch Formungen von offiziellen Institutionen und Repräsentationen bzw. Repräsentationsräumen zu reagieren, die umfassende identitäre Zuweisungen von staatlicher Seite an die Muslime beinhalten. Ohne Frage ist die von Foucault konstatierte, vorwiegend strategische Funktion eines Dispositivs hier virulent. Bisher kaum erforscht ist ein von muslimischer Seite selbst formuliertes Streben die strategische Funktion des Dispositivs mitzugestalten und damit den von staatlicher Seite an sie herangetragenen Vorgaben, Zuweisungen und Inanspruchnahmen zu begegnen. Wenn sich ein Austauschprozess über diese Zusammenhänge ergibt, dann können sowohl Organisationsstrukturen als auch Formen sowie Medien der Repräsentation, wie z.B. Räume, von den Muslimen in Belgien, Frankreich und Spanien größere Akzeptanz erfahren und von ihnen als Schnittpunkt bzw. Ausgangspunkt zur Organisation der Vielfalt der Gruppen der Muslime genutzt werden. Auf die Zentralität sowohl der emotionalen Implikation des Muslimseins als auch der Notwendigkeit einer von ihnen zu gestaltenden professionellen Organisationssteuerung weist Silvestri hin, wenn sie zu dem Schluss kommt: »The success of the project to create Muslim councils depends to a great extent on psychological and emotional elements as well as on the management of power «.108 Ferner verweisen die umfangreichen Zuschreibungen an die Brüsseler und Pariser Große Moschee sowie an die Mezquita-Catedral von Córdoba darauf, dass Räume immer von Subjekten gemacht sind, damit jedoch die »Persistenz«
107 M. Foucault, Dispositive der Macht, S. 119-120. 108 S. Silvestri, »The Situation of Muslim Immigrants in Europe in the Twenty-first Century. The Creation of National Muslim Councils«, S. 119. Vgl. zur Verhandlung von Identitäten die kanonische Studie von Kastoryano Riva: Negotiating Identities, Princeton, NY: Princeton University Press, 2002.
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des physisch-materiellen Raumes109 nicht aufgehoben ist. Denn es wurde deutlich, dass physische Räume durch politisch-symbolische Konstrukte zu sozialräumlichen Handlungskonzepten werden, wenn kollektive Raumzuschreibungen aus ihnen common places bzw. grounds machen und auf diese Weise politischen, sozialen oder ökonomischen Strategien folgend bedeutsam bzw. umgedeutet und damit Logiken und Mechanismen deutlich werden, die das Aufkommen und die Etablierung der räumlichen Repräsentation der Muslime in den untersuchten Ländern maßgeblich bestimmen. Die Auffächerung der Geschichte und die Konstruktion materieller Setzungen wie das Institut musulman de la Grande Mosquée de Paris und das Centre islamique et culturel de Belgique oder aber materieller Brüche, konstitutiv für die Entstehung der Catedral de Córdoba, zeigen jedoch, dass die physisch-materielle Persistenz der betrachteten Räume den Spielraum dieser Zuschreibungen und politischen Inanspruchnahmen nachhaltig mitbestimmt hat. Durch die Engführung der von staatlicher Seite den Muslimen zugewiesenen Institutionalisierung und Repräsentation mit einigen, in diesem Prozess zentralen Raumkonstruktionen konnte die Vielschichtigkeit dieser Wechselbeziehung aufgezeigt werden. Im Ergebnis wurden zahlreiche Implikationen der den Muslimen zugewiesenen Institutionalisierung und Repräsentation sichtbar, da sich die untersuchten Räume als Ordnungskonzept, als Repräsentation, als Wirkkraft, als (architektonisches) Medium, als Form der Disziplinierung und als Ort des Wissens erwiesen. Immer wieder rückt somit die Frage in den Mittelpunkt, in welchem Maße Räume das gesellschaftliche und kulturelle Leben der Muslime bestimmen, bzw. die Notwendigkeit, auf die gegenseitige Durchdringung von Raum und Gesellschaft in der Zeit stärker das Augenmerk zu richten.110 Gerade diese dynamische, prozessuale Verflechtung von Raum und Gesellschaft ist für die Analyse einer bisher nicht erfolgten raumbezogenen Fokussierung der Institutionalisierung des Islam in verschiedenen Ländern wichtig. Denn wenn das gesellschaftliche und kulturelle Machen Raum schafft, dann entstehen fortlaufend neue Räume: Räume des Dialogs, der Macht, der Gewalt oder der Angst, die wiederum Verräumlichungen nach sich ziehen, die für die Konstitution des Muslimseins in den genannten Ländern der aktiven Teilhabe der Muslime anheim gestellt werden sollten. 109 M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 177 ff. 110 Auf die Wichtigkeit der Untersuchung dieser Prozesshaftigkeit von Räumen hat Nigel Thrift bereits 1996 im Rahmen der von ihm geforderten Kontextanalyse von sozial konstruierten Zeit-Räumen hingewiesen, weil sie über Akteure und Interaktionsbeziehungen Aufschluss gibt, die den Raum in und über die Zeit prägen und somit Raum als Prozess und Raum im Prozess zeigen.
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Es wäre daher für weitere Forschungen über das Dispositiv Muslimsein in Belgien, Frankreich oder Spanien von großem Interesse, die verschiedenen Zuschreibungen, deren Subjekte und Objekte sowie Hintergründe und Positionierungen weiter aufzuschlüsseln.111 Erst dann wird ein bisher nicht erfasster wichtiger Teil der Verschränkung der Geschichte der Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in den drei Ländern lesbar und für komparative Studien attraktiv. Hierzu fehlen bislang jedoch fast gänzlich Studien über die Sicht der Muslime auf die untersuchten Räume, die von ihnen in Bezug auf diese Räume geleistete Syntheseleistung, d.h. die den räumlichen (An)Ordnungen impliziten Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Vorstellungsprozesse. Raum erweist sich dann als Konstrukt, das die soziale Bedingtheit der Wahrnehmung von Wirklichkeiten bzw. der Dispositive sichtbar macht, die ihm eigenen Ordnungs- und Handlungsdimensionen und die durch die Räume bedingten Narrative sowie die damit transportierten Bilder der ›Anderen‹ bloßlegt. 112 Zudem wird es im Rahmen einer Untersuchung der Diskurse der Muslime über die hier untersuchten ihnen zugeeigneten bzw. verweigerten Räume notwendig sein, die in der Aktualität zahlreichen vorhandenen, in vielen Formen sichtbaren Alternativen zu einer Grande Mosquée in den Blick zu nehmen und nach ihrer Bedeutung für das aufgezeigte Wechselverhältnis von Institutionalisierung, Repräsentation und Raumkonstruktion zu fragen.113 Damit werden Räume als Subjekt gemachte Räume lesbar und die Frage nach ihrer Funktion, ihren aktuellen Entwicklungen und zugleich nach den vielfältigen Formen der Institutionalisierung und Repräsentation des Islam in den untersuchten Ländern gerät aus der Perspektive der Muslime in den Blick, wirft ein Schlaglicht auf das aktuelle Muslimsein in Belgien, Frankreich und Spanien. Denn die in Gang gesetzten Prozesse der Verräumlichung von Differenz, Vielfalt und Integration sowie von sozialer Ordnung und Widersprüchlichkeit treten dann ebenso deutlich hervor wie die Tatsache, dass diese Prozesse von Individuen in Gang gesetzt werden.114 Diese Ergänzung zur bisherigen Forschung zur Institutionalisierung 111 Diese Beispielreihe ließe sich mit Blick auf aktuelle Vorgaben zum Moscheebau in Katalonien, den Umgang mit Identitätssymbolen etc. fortsetzen. 112 Die Wichtigkeit eines Zugangs zu den Narrativen eines Dispositivs unterstreicht bereits Foucualt in seiner Dispositivdefinition, in der er als erstes Element den »Diskurs« anführt. 113 Das Ergebnis wäre u.a. eine wichtige Ergänzung von M. Maussens Artikel »Islamic Presence and Mosque Establishment in France. Colonialism, Arrangements for Guestworkers and Citizenship« um eine muslimische Perspektive. 114 Ein Beispiel hierfür ist das Wirken von Tareq Oubrou, Imam in Bordeaux, der darauf dringt, dass es wichtig sei, die Ausübung des islamischen Glaubens in einem
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und den Repräsentationsformen des Islam in Europa ist in der Gegenwart unerlässlich, weil Religion, und somit auch der Islam, in den hier untersuchten europäischen Gesellschaften im wachsenden Maße Gegenstand des Politischen ist.
Zusammenhang mit den historischen, soziologischen und kulturellen Kontext zu stellen, in dem sie praktiziert wird; er hat in diesem Zusammenhang den vieldiskutierten Begriff »sharia de minorité« geprägt. Vgl. hierzu z.B. Oubrou, Tareq/Privot, Michaël/Baylocq, Cédric: Profession imâm. Entretiens avec Michaël Privot et Cédric Baylocq, Paris: Albin Michel, 2009.
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ANHANG Abbildung 1: Pavillon für die Brüsseler Weltausstellung, erbaut im Jahr 1897 von Ernest Van Humbeek zur Ausstellung des Monumentalfreskos Le Caire et les bords du Nil (1880-81) von Émile Wauters, Ansicht Süd-Ost-Fassade. Bildunterschrift: «Pavillon du Panorama du Caire, façades sud et est, L’Émulation, 1898, pl. 31».
© Coll. Archives d’Architecture Moderne, Bruxelles. Verfügbar unter: http://www.irismonument.be/fr.Bruxelles_Extension_Est.Parc_du_Cinquantenaire.14.html
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Abbildung 2: Grande Mosquée et Centre islamique et culturel de Belgique, Ansicht Süd-Ost-Fassade Bildunterschrift: »Grande Mosquée et Centre islamique et culturel de Belgique, façades sud et est« (photo 2007).
© Monuments & Sites – Bruxelles; Direction des Monuments et des Sites – Ministère de la Région de Bruxelles-Capitale Verfügbar unter: http://www.irismonument.be/fr.Bruxelles_Extension_Est.Parc_du_Cinquantenaire.14.html
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Identität und Zugehörigkeit – Muslime in Deutschland und England im Vergleich S HAZIA S ALEEM
Gehört der Islam zu Deutschland oder zu Europa? Und was ist mit den Muslimen? Die Identität und Zugehörigkeit europäischer Muslime stehen gegenwärtig im Zentrum einer Vielzahl von politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um den Islam und Integration. Insbesondere die Sichtbarkeit von Muslimen in Westeuropa hat zahlreiche Debatten über ihre Zugehörigkeit entfacht. Die dauerhafte Präsenz religiöser und ethnischer Minderheiten fordert das säkulare Selbstverständnis westeuropäischer Gesellschaften heraus. Die Attentate vom 11. September 2001, die Zuganschläge von Madrid 2004 sowie die Londoner Terrorangriffe von 2005 und andere ähnliche Attentate der letzten Jahre haben zusätzlich europäische Muslime in den Fokus der Öffentlichkeit und der wissenschaftlichen Forschung gerückt. George Herbert Mead zufolge entstehen Identität und Zugehörigkeit in einem sozialen Interaktionsprozess zwischen einem Individuum und der es umgebenden Gesellschaft.1 Die Identität und Zugehörigkeit muslimischer Minderheiten entwickeln sich demnach in Wechselbeziehung mit der deutschen und der britischen Mehrheitsgesellschaft. Indem Muslime mit ihrer Fremdwahrnehmung konfrontiert werden, werden sie sich ihrer selbst und ihrer Zugehörigkeit gewahr. Anhand von zwei Interviews, die ich für meine Dissertation in den beiden Staaten Deutschland und England durchgeführt habe, wird aufgezeigt, wie sehr Mehrheitsdiskurse das Zugehörigkeitsempfinden von Personen muslimischer
1
Vgl. Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968.
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Herkunftskultur beeinflussen und ihre Identität gestalten.2 Dabei spielt das Selbstbild und das Selbstverständnis der Mehrheit und die Verortung der Minderheit darin eine entscheidende Rolle. In den Fallrekonstruktionen wird zum einen im kontrastierenden Vergleich die Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie die Selbst- und Fremdverortung der Muslime in beiden Ländern nachgezeichnet. Zum anderen ermöglicht die rekonstruktiv-hermeneutische Analyse der Fallbeispiele Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Interpretationen der beiden Gesellschaften, die beide Gesellschaften entwickelt haben, in Bezug auf die Integration und Partizipation der Minderheit, bezüglich ihrer Haltungen zur Minderheit sowie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu Mehrfachzugehörigkeit und Homogenitätsvorstellungen.
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when i go back to iraq and they find out the things i do (.) oh she travels alone and she does this and that (.) all that has been shaped by being in britain and being in that more open and accepting society that has let allowed me to be the person i am (.) (Z. 874-878).3
In dieser kurzen Sequenz beschreibt Hibba die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen ist. Sie spricht über ihre Unabhängigkeit, ihre Selbstständigkeit und Freiheit, z.B. allein zu reisen, die sie in Großbritannien genießt. Ihr Ton und ihre Formulierung weisen darauf hin, dass sie diese Vorzüge schätzt, die in ihrem Herkunftsland Irak scheinbar für eine junge Frau unüblich sind. Aus ihrer Erzählung geht hervor, dass ihre Verwandten im Irak über ihre Freiheiten sehr verwundert reagieren. Doch von größerem Interesse als ihr Blick zurück in den Irak ist ihre Sicht auf Großbritannien. Wie ihre Formulierungen verraten, hat sie den
2
Die hier vorgestellten zwei Interviews und ihre Analysen sind ein zentraler Bestandteil meiner noch unveröffentlichten Doktorarbeit. Entsprechend sind einige Teile des Textes zum Teil sogar wörtlich aus meiner Dissertation übernommen und werden so ähnlich wie in diesem Beitrag in meiner noch folgenden Veröffentlichung der Promotionsarbeit erscheinen. In diesem Artikel werden die Ergebnisse meiner Forschung erstmals publiziert.
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Die im Text angegebenen Zeilenangaben am Ende von wörtlichen Zitaten aus den Interviews verweisen auf die vollständigen Transkriptionen der Interviews, die meiner Dissertation beiliegen werden.
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Irak hinter sich gelassen, er symbolisiert ihre Vergangenheit, dahingegen steht Großbritannien für ihre Gegenwart und Zukunft. Hibba spricht »[B]ritain« eine entscheidende Rolle bei ihrer Persönlichkeitsentfaltung zu. Ihre Fähigkeit, frei, unabhängig und selbständig zu agieren, »all that has been shaped by being in britain« (Z. 876), sagt sie. Ihre Worte zeugen von einem gewissen Stolz, sie sprechen Lob aus. Stolz scheint sie zu sein, weil sie sehr wohl zu schätzen weiß, welche Errungenschaften und Vorteile sie in Großbritannien genießen kann. Doch aus ihrer Formulierung ist ebenfalls zu entnehmen, dass sie aufgrund dieser Vorzüge Solidarität und Verbundenheit gegenüber Großbritannien empfindet, in dessen Obhut sie die genannten Eigenschaften überhaupt erst herausbilden konnte. Sie habe diese Entwicklung »by being in [B]ritain« und nirgendwo anders durchleben dürfen. Die britische Gesellschaft und der britische Staat haben ihr die Möglichkeiten und Freiräume gewährt, sich selbst zu entfalten. In Hibbas Augen haben das Land und mit diesem auch die Mehrheitsgesellschaft einen entscheidenden und aktiven Beitrag zu ihrem Werdegang geleistet. Diese aktive Rolle der Mehrheitsgesellschaft wird erst im Nachsatz schärfer gezeichnet, als Hibba diese ausdrücklich als »more open and accepting society« (Z. 877) charakterisiert. Die Zustandsbeschreibung der britischen Gesellschaft als offen und akzeptierend weist eine Besonderheit auf. Zum einen schreibt Hibba hiermit der britischen Gesellschaft einen aktiven unterstützenden Part in ihrem Werden zu. Zum anderen wird der Mehrheitsgesellschaft zugleich ein gewisser passiver Beobachterstatus zugesprochen, der in der Ergänzung »that has let allowed me to be the person i am (.)« (Z. 877-878) kenntlich wird. Die Mehrheitsgesellschaft wird positiv als eine unterstützende und begleitende Kraft im Hintergrund erfahren, die Möglichkeitsräume schafft und Freiheiten zulässt. Diese Haltung der Mehrheit eröffnet Hibba Gelegenheiten, sich frei und selbstbestimmt zu entfalten und zu der selbständigen, unabhängigen Person zu reifen, die sie heute ist. In diesem Prozess liegt dabei die Entscheidungsgewalt darüber, wie sie ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft entwickelt, so scheint es, stets bei Hibba – und nicht bei der Mehrheit. Der Staat und die Gesellschaft werden von Hibba als fördernde Einheiten verstanden. Hibba äußert sich sehr positiv über das Land, ihre Schilderungen verweisen auf eine emotionale, erfreuliche und solidarische Beziehung zur britischen Gesellschaft. Des Weiteren beschreibt sich Hibba selbst nachdrücklich und selbstbewusst als »british-muslim first and foremost british-muslim« (Z. 822-823). Sie scheint mit der Ergänzung der Frage vorwegzugreifen, als was sie sich denn mehr fühle, und beendet mit ihrer Definition jede weitere Diskussion, indem sie auf ihre kombinierte Selbstbeschreibung und Mehrfachzugehörigkeit nachdrücklich besteht. Damit schiebt sie jegliche Kritik einfach beiseite. Bei Hibba ver-
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schmelzen ihre staatsbürgerschaftlich-gesellschaftliche (nationale) und religiöse Zugehörigkeit zu einer selbstverständlichen Einheit. Für sie sind sie keineswegs zwei unterschiedliche Kategorien, obwohl sie zugibt, dass einige rechtskonservative Stimmen neuerdings diese zwei Aspekte trennen wollen. Dieser Aussage ist zugleich zu entnehmen, dass diese Diskussion um die Trennung der nationalen und religiösen Zugehörigkeit neu zu sein scheint und die zusammengesetzte Bindestrich-Identität zuvor wohl widerspruchsfrei betrachtet wurde. Diese Sichtweise wird durch die Tatsache gestärkt, dass Hibba die Kombination unvermittelt ohne weitere Erläuterung einführt und stehen lässt, so als sei diese Konstruktion üblich und bekannt und beruhe auf einem allgemeinen Konsens in der Gesellschaft. Ihre Selbstbezeichnung in Form einer Mehrfachzugehörigkeit ist aus Hibbas Perspektive eine allgemein anerkannte Größe der identitären Definition. Der Soziologe Tariq Modood4 charakterisiert diese Form der Zugehörigkeit als »hyphenated Britishness«5, die wie eine vereinende Identität wirkt. Die von Hibba oben angeführte Offenheit und Akzeptanz der britischen Mehrheitsgesellschaft ermöglichen erst diese kombinierte Zugehörigkeit und lassen zu, dass die Bindestrich-Identitäten, wie British-Muslim, normal erscheinen. Der Begriff British fungiert hier als eine Art umbrella term, d.h. als eine Art Sammelbegriff für anzuknüpfende Identitäten und ist demnach als ein sog. Sammelidentitätsbegriff oder als eine Dachidentität zu verstehen. Sie erlaubt Anknüpfungspunkte, bietet Andockmöglichkeiten, wodurch Menschen wie Hibba es möglich wird, den zweiten Teil der Bindestrich-Identität eigenständig auszufüllen und so ihrem Beziehungsgeflecht (aus Religion-Staat-Gesellschaft) konfliktfrei stärkeren Ausdruck zu verleihen. Die Verwendung der britischen Identität als Bindeelement zeigt, dass Mehrfachzugehörigkeiten grundsätzlich kein Problem darstellen. Im Gegenteil: In ihrer zusammengesetzten Form gewährt die britische Identität einerseits bereits im Voraus Akzeptanz und Anerkennung durch die Mehrheit und andererseits gestaltet sie die Zugehörigkeit der Minderheit zur britischen Gesellschaft. Hibba betont, dass sie ein intensives Gespür für das Britischsein in sich trägt und sich in mehrfacher Hinsicht britisch fühlt. Vor allem der britische Humor ist für sie hierfür ein Beleg, der schlicht zu ihr gehört: »and it is it’s something we quite pride ourselves in« (Z. 871-872). Hibba offenbart, dass sie, wie alle Briten, stolz auf den besonderen dunklen und sarkastischen britischen Humor sei. Auf4
Madood, Tariq: »New Forms of Britishness: Post-Immigration Ethnicity and Hybridity in Britain«, in: Rosemarie Sackmann/Bernhard Peters/Thomas Faist (Hg.), Identity and Integration. Migrants in Western Europe, Hants: Ashgate Publishing Limited, 2003, S. 77-90.
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fällig ist, dass Hibba ausdrücklich das Personalpronomen »we« hier gebraucht, um von dieser Gemeinsamkeit zu berichten. Offenbar spricht sie damit im Namen der britischen Gesamtgesellschaft. Dahinter verbirgt sich mehr als nur eine gemeinsame Vorliebe. Dieses »we« verweist vielmehr auf eine starke Identifikation und Verbundenheit zur britischen Kultur und Gesellschaft, die in ihrem Unterbewusstsein verankert zu sein scheint und ihre Denkmuster widerspiegelt. Sie versteht sich eindeutig als Teil der Gesellschaft. Besonders deutlich werden diese Denkmuster, wenn Hibba auf das Verhältnis von Muslimen und Nicht-Muslimen zu sprechen kommt. Sie leugnet die herrschenden Schwierigkeiten nicht, betrachtet diese im Interview jedoch erstaunlicherweise als Herausforderungen (»challenges«) für die Gesamtgesellschaft: I know we’ve had challenges with with muslims in terms of integrating and the like in terms of perceptions of muslims but at the end of the day we still have freedom to practice our religion freely […] there is definitely freedom of religion (Z. 855-858).
Sie nimmt die Islamdebatten der Öffentlichkeit nicht zum willkommenen Anlass, die Mehrheitsgesellschaft einfach für ihre Haltung und ihr Verhalten gegenüber Muslimen zu kritisieren und sich über die Situation zu beschweren. Hibba gesteht ein, dass in der Vergangenheit wir – die Gesamtgesellschaft – Schwierigkeiten bei der Integration von Muslimen hatten. In diesem Satz spricht Hibba klar aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft über die Muslime. Direkt anschließend in demselben Satz erwähnt Hibba in derselben Formulierungsstruktur (»and the like in terms of perceptions of muslims«) die zurzeit existierende negative Wahrnehmung der Muslime in der Mehrheitsgesellschaft. Sie markiert diese Wahrnehmung somit ebenfalls als ein gesamtgesellschaftliches Problem, das gemeinsam bewältigt werden muss. Auch hier spricht sie über die Muslime und nicht stellvertretend für Muslime oder selbst als Muslima. Es zeigt sich in dem zitierten Abschnitt deutlich, dass in Hibbas Sprache keine starre »Wir-DieDifferenz« zwischen »wir Muslime« und »die britische Mehrheitsgesellschaft« existiert. Hibba wechselt auffällig in einem einzigen Satz die Perspektiven. Sie springt von einem wir – die Gesamtgesellschaft – zu einem wir – die Muslime. Diese Trennung wird im Gespräch schnell dort eingeführt, wo es um die Verteidigung der Grundrechte der muslimischen Minderheit geht. Da besteht sie darauf, dass wir – die Muslime – letztlich trotz aller negativen Wahrnehmung immer noch das Recht auf freie Religionsausübung haben (»we still have freedom to practice our religion freely«, Z. 857). Genauso schnell wird diese Unterscheidung dort aufgehoben, wo es die Herausforderungen und Werte der gesamten britischen Gesellschaft betrifft. Sie bemerkt anerkennend, dass dieses Prinzip der
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allgemeinen Religionsfreiheit in Großbritannien definitiv existiere und geachtet werde (»there is definitely freedom of religion«, Z. 858). Diese Kombinierfähigkeit des Britisch-Muslimseins verwebt scheinbar auch Hibbas Loyalitäten. Hibba ist britisch, weil sie ebenfalls Muslim sein darf. Dadurch ist für sie die Zugehörigkeit als British-Muslim widerspruchfrei gestaltund kombinierbar. Beachtlich ist, dass diese Vereinbarkeit von nationalstaatlicher und religiöser Identität nicht nur in Hibbas Selbstwahrnehmung vorhanden zu sein scheint, sondern auch in der Fremdwahrnehmung der Gesellschaft grundsätzlich wohl möglich ist. Hibba erklärt diesen Aspekt damit, dass die britische Gesellschaft in ihren Augen sich auch über ihre Vielfalt kennzeichnet, »and a lot of people would say actually british culture is this multicultural diversity« (Z. 657). Sie empfindet sich beiden Gruppen zu gleichen Teilen zugehörig. Sie betrachtet sich als einen selbstverständlichen Teil dieser britischen Gesellschaft und analysiert die Situation der muslimischen Einwanderer in England als Mitglied der Gesamtgesellschaft und somit auch im Namen der Mehrheit. Sie ist ausgeglichen in ihrer Kritik, richtet diese sowohl an die Mehrheit als auch an die Minderheit. Sie bemängelt zwar, dass es durchaus »some segregated communities« (Z. 642) von Muslimen gibt, aber der Großteil der Muslime ist ihrer Einschätzung nach definitiv integriert und wirkt bei der Gestaltung der Gesellschaft mit. Hibba ist durchaus bewusst, dass es in der britischen Mehrheitsgesellschaft zurzeit eine allgemeine Haltung von Vorsicht (»caution«, Z. 587), Misstrauen (»sense of mistrust«, Z. 1113) und eine Art Angst vor dem Unbekannten (»this fear of unknown«, Z. 592) herrscht, weil falsche Vorstellungen vom Islam (»misconceptions about islam«, Z. 17) in der Gesellschaft existierten. Das alles nähre ihrer Meinung nach die Islamophobie in der Gesellschaft (»issues of islamophobia«, Z. 613). Gleichzeitig nimmt sie jedoch die Mehrheitsgesellschaft in Schutz, weil viele Nicht-Muslime gar nicht wüssten, dass sie sich islamophobisch verhielten. Vielmehr verlaufe Islamophobie subtil im Unterbewusstsein ab, wofür die verzerrten Medienberichterstattungen der vergangenen Jahre und die problematische Antiterrorgesetzgebung der Politiker verantwortlich seien. Hibba wiederholt mehrmals in ähnlichen Worten und an mehreren Stellen im Interview, »I think generally you know we get along quite harmoniously within this country« (Z. 601-602). Die Briten seien grundsätzlich im Vergleich zur Bevölkerung anderer Staaten Europas sehr viel toleranter und Toleranz zähle überhaupt zu einem der wichtigsten »british values« (Z. 1243). Hibba übernimmt in ihrer differenzierten Art eine Mittlerposition bzw. eine Brückenfunktion zwischen Mehrheit und Minderheit. Sie kennt beide Standpunkte, wirkt harmonisierend und hat meist die Gesamtgesellschaft im Blick.
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Hibba betrachtet die gegenwärtigen Schwierigkeiten deshalb als temporäre Erscheinungen, die nach 9/11 und den Anschlägen von 2005 aufgetreten sind und in einigen Jahren oder Jahrzehnten überwunden sein werden. Ihre Zuversicht stützt sie auf ihre Fremdwahrnehmung und auf die Solidarität aus der Mehrheitsgesellschaft. Vor allem gegen rechte Parteien, wie British National Party (BNP) und English Defense League (EDL), die besonders die islamophobe Stimmung im Land befeuern würden, erzählt sie, gebe es eine große antifaschistische Bewegung in Großbritannien. Hibba versichert zudem, dass die Ansichten der rechten Parteien mehrheitlich diskreditiert seien, »and they are not the norm« (Z. 1053-1054). Diese Gruppierungen würden mehrheitlich als Angstmacher, krank und gewalttätig erachtet. Aus dieser öffentlichen Wahrnehmung dieser rechten Gruppierungen entnimmt Hibba, dass Muslime in der Gesellschaft Unterstützung und Anerkennung genießen. Auch wenn eine gewisse islamfeindliche Atmosphäre in der Gesellschaft herrsche, hätten die Muslime nicht viel zu befürchten, glaubt sie zu wissen, »simply because they [und meint diesmal die britische Mehrheit] stand by this whole this is british value this is british value this freedom to practice religion as you please« (Z. 1242-1243). Hibba blickt sehr hoffnungsvoll und zuversichtlich in die Zukunft. Die Muslime werden sicherlich nicht weggehen aus Großbritannien und das müssen aus ihrer Sicht einige Menschen noch begreifen und einfach akzeptieren. Hibba sieht in der herrschenden Aufmerksamkeit für Muslime auch eine große Chance. Für sie gibt es zurzeit spannende und herausfordernde Zeiten für Muslime, sie können sich jetzt noch stärker einbringen und die Gesellschaft mitgestalten. Viele Muslime hätten in den letzten zehn Jahren durch diese medialen, öffentlichen Rückschläge die Notwendigkeit erkannt, stärker zu partizipieren, sich aktiver mit Themen der Gesamtgesellschaft (»mainstream issues«, Z. 670) und nicht allein den muslimischen Angelegenheiten zu befassen und vieles sei inzwischen auch vorangebracht. Hibba selbst möchte ebenfalls ein aktives Mitglied der britischen Gesellschaft sein. Aus ihren Zukunftsplänen wird ersichtlich, wie sehr die gesamtgesellschaftliche Perspektive sie prägt: Sie will nicht für eine muslimische Organisation tätig sein, sondern hofft, »to actually go into something that’s non muslim in terms of something more mainstream« (Z. 773-774), weil sie auch keine Notwendigkeit sieht, für Muslime eintreten zu müssen. Gerade in dieser Aussage wird Hibbas Verständnis von Integration sehr sichtbar. Sie begreift Integration als Partizipation und als eine aktive, gestaltende Teilhabe für gesamtgesellschaftliche Belange. In dieser Haltung wird Hibba jedoch auch von anderen aus der Mehrheitsgesellschaft bestätigt und ermutigt. So erfuhr sie z.B. Bestätigung für ihre Einstellung während eines Praktikums, das sie bei einem britischen Think Tank absolviert hat, der zu Themen britischer Po-
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litik und zu Angelegenheiten britischer Staatsbürger arbeitet. Diese Erfahrungen haben Hibba zuversichtlich und selbstbewusst werden lassen. Sie kann und will trotz ihrer Religionszugehörigkeit, die besonders durch ihr Kopftuch und der Abaya (langes, weites arabisches Kleid für Frauen) markant wird, für die britische Gesamtgesellschaft und Politik tätig sein. Hibba beansprucht sogar souverän und selbstbewusst, der britischen Gesellschaft zugehörig zu sein, und verlangt selbstsicher und selbstverständlich von der Gesellschaft, diese Zugehörigkeit anzuerkennen und zu akzeptieren. Sie deklariert islamfeindliche Kritiker schlicht als unbedeutend für den gesellschaftlichen Diskurs. Für Hibba ist ihre Zugehörigkeit zur britischen Gesellschaft überhaupt nicht prekär oder verhandelbar. Hibbas Selbst- und Fremdwahrnehmung scheinen demnach im Einklang zu sein. Der Hoffnung und Zuversicht Hibbas in London stehen die Traurigkeit und Enttäuschung Salsabils in Berlin gegenüber.
F ALL S ALSABIL AUS B ERLIN , D EUTSCHLAND : » AUF JEDEN F ALL MEHR DEUTSCH « ich finds halt traurig weil man das Gefühl hat ja egal was man macht wie man sich abstrampelt oder egal (.) ahm wie sehr man sich sozusagen auch (.) Deutschland zugehörig fühlt sag ich mal (.) man wird trotzdem mit den ganzen Islamisten sozusa(h)gen (haha) ((lacht)) in ein Topf geworfen also (I: mhm) d da wird überhaupt nich differenziert und das macht mich (.) traurig dass das so ist (.) (Z. 832-836).
Salsabil findet die Situation in Deutschland »traurig« (Z. 832). Mit dieser Antwort bezieht sich Salsabil auf die im Interview gestellte (Nach-)Frage, ob sie grundsätzlich ihr Deutschsein mit dem Muslimsein für vereinbar hält. Wie hier in der angezeigten Sequenz spricht Salsabil mehrmals im Interview vom Traurigsein. Ihre Traurigkeit ergibt sich aus enttäuschten Erwartungen, Zugehörigkeit durch das eigene Handeln und Leistung erwerben zu können und Akzeptanz zu finden. Dabei habe sie das Gefühl, es sei gleichgültig, wie sie sagt: »egal was man macht wie sehr man sich abstrampelt« (Z. 832), ihr wird die Zugehörigkeit verweigert. Unabhängig von jeglichen körperlichen oder geistigen Anstrengungen ihrerseits scheitert sie daran, als Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden. Ihre Wortwahl »abstrampeln« (Z. 832) bekräftigt einerseits ihre Bemühungen und verweist auf ihre Vergeblichkeit. Andererseits verdeutlicht die Formulierung, dass Salsabil die Kriterien der Mehrheitsgesellschaft für eine Anerkennung der Zugehörigkeit als undurchschaubar, als unberechenbar empfindet. Sogar ihre
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subjektive emotionale, innere Bindung zu Deutschland – die für Salsabil einen Indikator ihres maximalen Zugehörigkeitsempfindens darstellt – ist offenbar für die Mehrheitsgesellschaft nicht ausreichend, um sie als zugehörig zu akzeptieren. Es ist scheinbar bedeutungs- und wertlos, »wie sehr man sich sozusagen auch Deutschland zugehörig fühlt« (Z. 833-834), stellt Salsabil fest. In der Traurigkeit Salsabils drückt sich ebendieses Spannungsverhältnis zwischen ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung aus. Salsabils Trauer scheint das Ergebnis eines langen Prozesses zu sein, bei dem sie sich vergeblich um Anerkennung bemüht hat und ihre Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht wurden. Aus ihrer Erzählweise ist zu entnehmen, dass sie vermutlich zu Beginn dieses Prozesses sehr erwartungsfroh gewesen sein muss, Zugehörigkeit aus eigener Kraft zu erlangen. Sie scheint davon ausgegangen zu sein, eben durch Abstrampeln – beispielsweise durch den Erwerb ihrer (deutschen) Sprachkenntnisse, ihrer akademischen Bildung oder durch ihre persönlichen Integrations- und Dialogbemühungen – irgendwann von der Mehrheitsgesellschaft als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. Mittlerweile scheint sie jedoch diese Hoffnung aufgegeben zu haben. Sie beschwert sich eher über die Situation. Ihre Worte wirken beinahe anklagend, sie verbergen Ärger und Wut, zugleich deuten sie auf Bedauern hin, auf ihren Vertrauensverlust in die Mehrheitsgesellschaft und lassen sogar eine gewisse Resignation bei ihr vermuten. Ihre Ratlosigkeit bezüglich der fehlenden Anerkennung seitens der Mehrheitsgesellschaft ist in ihren Worten spürbar. Dieses Gefühl der Traurigkeit widerfährt Salsabil, wenn sie mit ihrem Fremdbild konfrontiert wird, dessen sie sich sehr bewusst ist. Als Muslima werde ihr grundsätzlich misstraut. Salsabil sagt: »man wird trotzdem mit den ganzen Islamisten sozusa(h)gen (haha) ((lacht)) in ein Topf geworfen« (Z. 834-835). Salsabil kritisiert indirekt die undifferenzierte Haltung der Mehrheit gegenüber Muslimen in Deutschland, von der sie betroffen ist. Salsabil ist sich gewiss, ihr wird die (Voll-)Mitgliedschaft in der Gesellschaft prinzipiell verweigert, weil sie als Muslima fremdmarkiert und stigmatisiert wird.6 Ihre Worte implizieren ein distanziertes, vielleicht sogar angespanntes Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft. Sie weiß, sie entspricht nicht 6
Vgl. Schiffauer, Werner: »Der unheimliche Muslim – Staatsbürgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste«, in: Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan (Hg.), Konfliktfeld Islam in Europa, Soziale Welt Sonderband 17, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2007, S. 111-133. Schiffauer schildert, wie Muslime in Deutschland als potentiell gefährlich und von vornherein als latent illoyal registriert werden und beschreibt diesen Mechanismus aus Misstrauen, Angst und voreiligen Unterstellungen gegenüber Muslimen. Eine solche Atmosphäre konstruiere nach Schiffauer den Muslim sogar als »Angstobjekt« (ebd., S. 131) und als den Fremden schlechthin.
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den Normalitätsvorstellungen und den Identitätsstandards der deutschen Gesellschaft. Sie passt nicht in das Selbstbild der Mehrheit, das sich im gesellschaftlichen Diskurs offenbar immer noch an Homogenitätsvorstellungen einer Abstammungsgemeinschaft orientiert.7 Mehrfachzugehörigkeiten, wie Deutsch- und Muslimsein zugleich scheinen in dem Konstrukt des gesellschaftlichen Wir weiterhin nicht wirklich vorgesehen. Daher fällt Salsabil kategorisch aus der Selbstbeschreibung der deutschen Gesellschaft heraus. Dabei ist die Synthese zwischen islamischer Religionszugehörigkeit und Verbundenheit mit Deutschland gerade für Salsabil eine natürliche. Ihr Muslimsein und Deutschsein sind ineinander verflochten und von Geburt an selbstverständlich. Salsabil ist die Tochter eines zugewanderten Ägypters und einer deutschen Mutter. Sie ist demnach bi-national deutsch-ägyptisch. Ihr Vater ist zum Studium der Humanmedizin nach Deutschland gekommen. Ihre Mutter ist von Beruf Sozialpädagogin und ist im Alter von zwölf Jahren zusammen mit Salsabils Großmutter zum Islam konvertiert. Damit ist Salsabil auch von der deutschen Seite bereits in der dritten Generation Muslima. Die islamische Religionszugehörigkeit ist eine geteilte Tradition in Salsabils Familie, sie lernt von Anfang an ihre Religion sehr wertzuschätzen. Ihr wird von ihren Eltern die Vorstellung vermittelt, dass der Islam nationenübergreifend und wichtiger sei als ethnischkulturelle und nationale Herkunft. Diese Vorstellung schließt sich strukturell an das Gründungsmotiv des Islam an, das besagt, »dass jeder Muslim unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder sozialem Status Mitglied der [muslimischen] Gemeinschaft [ist]«8 und somit dem Herausstellen der gemeinsamen Religion zusätzliche Legitimität verleiht. Indem die gemeinsame Religionszugehörigkeit hervorgehoben wird, gelingt es der Familie scheinbar, die Schwierigkeiten um die verschiedene nationale Herkunft der Eltern zu überwinden. Der Islam wird zu einem gemeinsinnstiftenden und bindenden Element zwischen den Familienmitgliedern. Infolgedessen identifiziert sich Salsabil ebenfalls stärker mit dem Islam. Gleich zu Beginn des Interviews macht sie deutlich, »für mich is halt das 7
Vgl. u.a. Oberndörfer, Dieter: »Einwanderung wider Willen. Deutschland zwischen historischer Abwehrhaltung und unausweichlicher Öffnung gegenüber (muslimischen) Fremden«, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden: VS Verlag, 2010, S. 131-147 und im selben Band Rommelspacher, Birgit: »Islamkritik und antimuslimische Positionen – am Beispiel Necla Kelek und Seyran Ateş«, S. 447-470.
8
Saleem, Shazia: »Die Umma – Wandel und Interpretationen eines Gemeinschaftskonzeptes«, in: Rüdiger Robert/Daniela Schlicht/Shazia Saleem (Hg.), Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion. Münster: Waxmann Verlag, 2010, hier S. 33.
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muslimsein irgendwie bedeutender als=ah der migrationshintergrund« (Z. 2324). Die Religionszugehörigkeit erachtet Salsabil als zentralen Aspekt für ihre persönliche Identitätsbildung, der Migrationshintergrund spielt hierfür eine nachrangige Rolle. Die Migration ist in erster Linie nicht ihre Geschichte, sondern die Erzählung ihres Vaters, der nach Deutschland zugewandert ist. Genau genommen kennt Salsabil auch die Perspektive der Migrantenkinder nicht wirklich, die aus Gastarbeiterfamilien kommen und Eltern aus einer Herkunftskultur haben. Durch die Bi-Nationalität und den akademischen Hintergrund der Eltern sowie den sozialen Aufstieg des Vaters unterscheidet sich Salsabil von der Mehrheit der Muslime mit Migrationshintergrund. Wie für Akademikerkinder sehr wahrscheinlich hat sie »normal« (Z. 76), wie sie es nennt, den Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium ohne Schwierigkeiten bewältigt und auch die Hochschulreife absolviert. Das gelingt in Deutschland den Kindern aus bildungsfernen Milieus allgemein und insbesondere aus Zuwandererfamilien wesentlich seltener problemlos.9 Salsabil hingegen studiert zum Zeitpunkt des Interviews. Von ihren deutschen Peers weicht sie aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und ihres bi-kulturellen Hintergrundes ab. Es scheint, als ob für ihr Aufwachsen und Leben in Deutschland das Unterscheidungsmerkmal der Religionszugehörigkeit substanziell entscheidend gewesen ist. Darin liegt im Vergleich zu ihren ägyptischen Wurzeln die viel auffälligere Differenz zur Mehrheitsgesellschaft. Danach ist es verständlich, dass anscheinend das Ägyptische bei ihr nicht vordergründig ist, dahingegen aber die Erzählung der deutschen Muslima, als die sie sich versteht, größere Bedeutung einnimmt. Vielmehr noch fühlt sie sich »auf jeden Fall mehr deutsch […] als ägyptisch« (Z. 63-64), so sagt sie. Ihre deutsche Sozialisation war demnach dominierend und scheint ihre Person wesentlich mehr geprägt zu haben als ihre ägyptischen Wurzeln. Der Migrationshintergrund hat wohl wenig identitätsbildenden Einfluss bei ihr hinterlassen. Zu dieser Erkenntnis gelangt Salsabil, als sie nach dem Abitur die Heimat ihres Vaters besucht und dort ein Jahr lebt, um ihrer »Identität auf die Spur zu gehen« (Z. 62), wie sie sagt. Dort werden Salsabil ihr Deutschsein und ihre Bindung zu Deutschland besonders bewusst. Nachdem sie festgestellt hat, dass das Ägyptische sie wenig beeinflusst habe und sie mehr deutsch sei, verfestigt sich die Familienerzählung bei ihr. Sie kehrt einfach »wieder« (Z. 65) zu dem von ihren Eltern vermittelten Familiennarrativ zurück, dass das Nationale »sowieso gar nicht so wichtig« (Z. 9
Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Referat Wissenschaftlicher Nachwuchs, wissenschaftliche Weiterbildung: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes durchgeführt durch HIS Hochschul-InformationsSystem, Bonn, Berlin 2010.
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65) sei. Diese Relativierung der Herkunft durch ihre Eltern scheint Salsabil zu entlasten, wodurch sie ihre fehlende Identifikation mit dem Ägyptischsein erklären und annehmen kann. Außerdem fällt Salsabils Frage nach der eigenen Identität in dieselbe Phase, in der die meisten jungen Erwachsenen in Deutschland nach einer beruflichen Orientierung suchen und sich in diesem Zusammenhang fragen, wer sie sind. Das Zusammenfallen dieser Orientierungsphasen begünstigt vermutlich, dass ihre Identitätssuche nicht krisenhaft wird. Schließlich kann Salsabil schnell und eindeutig für sich ihre Zugehörigkeit klären, damit bleibt diese nicht prekär. Sie verknüpft für sich einfach ihr Deutschsein mit ihrem Muslimsein. Ihre Hinwendung zu ihrer deutschen Seite ist nachvollziehbar. Während das Muslimsein für Salsabil über ihre Mutter auf selbstverständliche Art mit ihrer deutschen Herkunft verbunden und von Geburt an widerspruchsfrei erlebbar ist, fehlt ihr dagegen der Bezug zu ihrer ägyptischen Seite. Vermutlich besteht kein enges Verhältnis zur Familie des Vaters in Ägypten. Ihr Vater habe ihr weder die ägyptische Kultur noch die arabische Sprache beigebracht, erzählt Salsabil. Er wäre, so berichtet sie weiter, sogar stolz gewesen, aus Ägypten den »Absprung geschafft« (Z. 47) und als Arzt in Deutschland den sozialen Aufstieg erreicht zu haben. Das Wort »Absprung« betont den Aufstieg, den der Vater durch die Migration aus Ägypten nach Deutschland erlangt hat. Die Auswanderung aus Ägypten wird somit zu einem Zurücklassen von Perspektivlosigkeit. Die Zuwanderung nach Deutschland hingegen wird von Salsabils Vater selbst als eine (außergewöhnliche) Leistung und als Erfolgserlebnis betrachtet und den Kindern als Anlass zum Stolzsein vermittelt. Im Vergleich zu seiner ägyptischen Herkunft scheint für ihren Vater seine Religionszugehörigkeit einen wesentlich höheren Stellenwert zu haben. Deshalb hat er wohlmöglich diese Bindung zum Islam auch an seine Tochter weitergegeben. Salsabil vereint schließlich das Muslimsein mit dem Deutschsein, beides ist für sie ineinander verwoben und natürlich widerspruchsfrei. Diese grundsätzliche Vereinbarkeit von ihren Zugehörigkeiten äußert sich auch in Salsabils ehrenamtlichem Engagement bei der Muslimischen Jugend Deutschland (MJD).10 Die Gruppe MJD als solche soll hier nicht thematisiert werden, weil es den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde. Nur in Zusammenhang mit der Person Salsabil ist die Gruppe von Relevanz und soll ausschließlich in diesem Kontext erörtert werden. In dieser Hinsicht zeigt bereits die Namensgebung des Vereins, dass dieser sich von den meist ethnisch-religiösen Kulturvereinen unterscheidet. Die 10 Weitergehende Informationen zur MJD u. a. bei: W. Schiffauer: Der unheimliche Muslim, S. 127ff.; und vgl. Gerlach, Julia: Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Berlin: Christoph Links Verlag, 2006, hier S. 140-152.
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MJD wurde 1994 von Muslimen der zweiten Generation aus unterschiedlichen Herkunftskulturen gegründet und hat zumindest den Anspruch, Deutsch- und Muslimsein kombinieren und widerspruchsfrei gestalten zu wollen. Der Verein verortet sich mit der Namensgebung ausdrücklich in Deutschland, er unterstreicht die geteilte Religionszugehörigkeit seiner Mitglieder als gemeinsames Attribut und relativiert ihre unterschiedlichen Herkunftskulturen. Damit entspricht dieses Selbstverständnis des Vereins genau Salsabils Familienerzählung, es verstärkt vermutlich so ihre Bindung zu der Gruppe MJD und unterstützt ihre persönliche Selbstwahrnehmung, deutsch und muslimisch zugleich sein zu können. Salsabil tritt in die MJD ein, als sie 13 Jahre alt ist. Als Motivation für ihren Eintritt in die MJD nennt Salsabil schlicht die Suche nach Freunden. Zu diesem Zeitpunkt beginnt sie auch, das Kopftuch zu tragen. Sie benennt das 13. Lebensjahr so ausdrücklich, als sei danach etwas Einschneidendes eingetreten, das einen Unterschied zum bis dahin üblichen Umgang mit ihr darstellt. Sehr wahrscheinlich hat ihr Umfeld auf das Aufsetzen des Kopftuches reagiert. Mit dem Aufsetzen des Kopftuches wird ihre Religionszugehörigkeit für alle öffentlich sichtbar. Die sonst phänotypisch deutsch aussehende Salsabil – sie hat eine helle Hautfarbe und bräunliche Augen und vermutlich braune Haare – wird dadurch erstmals erkennbar in ihrer Andersartigkeit, welche zugleich ihre Differenz zur Mehrheitsgesellschaft aufzeigt. Obwohl Salsabil aufgrund ihrer Kopfbedeckung mit keiner offensichtlichen Diskriminierung konfrontiert wird, gerät sie fortan in Erklärungsnot bzw. in einen Rechtfertigungsdruck. In ihrer Jugend, so berichtet sie, fand sie sich häufig in Situationen wieder, in denen sie ständig ihre bikulturelle Herkunft und Religionszugehörigkeit erklären musste. Ihr wird nicht schnell geglaubt, dass sie Muslima und Deutsche zugleich sei und sogar einen ägyptischen Hintergrund habe. Sie empfindet diesen Umstand als anstrengend und als Zwang, sich rechtfertigen zu müssen, wie es in ihren Aussagen deutlich wird. Die ständige Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen bezüglich ihrer Herkunft erlebt sie als negativ und das erstaunte Nachfragen erweckt bei ihr das Gefühl, »ja ich bin ich bin anders als die« (Z. 79-80).11 Sie wird immer wieder auf ihre Andersartigkeit angesprochen und fühlt sich eben auch anders. Gerade an dieser 11 Von einer gänzlich konträren Erfahrung berichtet der iranisch-stämmige Soziologe Navid Kermani. Er beschreibt in seinem Werk Wer ist wir. Deutschland und seine Muslime (München, 2009), wie er in seiner Schulzeit die Aufmerksamkeit bezüglich seiner Herkunft und das Exotendasein genossen habe. Während Kermanis Kindheit waren allerdings der Islam und die Muslime keine negativ besetzten Themen in der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit. Anders ist die Situation zu Salsabils Jugendzeit nach dem 11. September.
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Stelle zeigt sich deutlich, wie Fremdwahrnehmung die Selbstwahrnehmung prägt. So entsteht bei Salsabil schon in jungen Jahren das Bewusstsein über eine Differenz zur Mehrheitsgesellschaft – eine »Wir-Die-Differenz« bildet sich heraus. Das führte dazu, dass sie sich in ihrem Heimatort, einer Kleinstadt in Nordwestdeutschland, in der sie aufgewachsen ist, stets unwohl fühlte. Sie habe immer so ein »Gefühl von Anderssein« (Z. 78) verspürt, erzählt Salsabil. Sie erinnert sich, sich dort »nie wirklich zu Hause gefühlt« (Z. 79) zu haben. Hauptsächlich rührt Salsabils Gefühl des Unwohlseins und Andersseins daher, dass ihre Zugehörigkeit immer erklärungsbedürftig bleibt. Ihre Mitschüler und andere Dorfbewohner ließen sich aufgrund ihres Kopftuches nur schwer und nur durch Salsabils hartnäckiges Insistieren davon überzeugen, dass sie eine deutsche Muslima mit ägyptischem Hintergrund ist. Aufgrund der Religionszugehörigkeit und der damit verbundenen Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft gerieten die Besonderheit des familiären Hintergrundes von Salsabil, ihre Leistungen und Errungenschaften völlig aus dem Blick. Der soziale Aufstieg ihres Vaters, der Anlass zum Stolzsein für die Familie darstellt, wird übergangen und auch Salsabils eigene Leistungen werden verkannt: den Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium problemlos geschafft, später die Hochschulreife erreicht und das Studium aufgenommen zu haben. Salsabil ärgert sich über das Unverständnis bezüglich ihrer Mehrfachzugehörigkeit und sucht bewusst ihren Freundeskreis bei der MJD in einer anderen nächstgelegenen größeren Stadt. In der MJD hingegen wird ihre Mehrfachzugehörigkeit unhinterfragt akzeptiert. Dort ist sie kein Sonderling, keine Exotin. Sie ist eine unter vielen, die alle eine bi-kulturelle oder schlicht andere kulturelle Herkunft haben, in Deutschland sozialisiert sind und muslimische Religionszugehörigkeit besitzen. und das war dann auch mein Fr Freundeskreis=also ich hab mich (I: mhm) ehrlich ge ehrlich gesagt schon immer (.) mit Muslimen identifiziert=also (I: mhm) das war schon sehr (.) sehr früh so dass ich einfach da so meine Identität gefun(d)en habe und mich da einfach wohl gefühlt habe. (Z. 107-109).
Aus dem Zitat wird ersichtlich, dass es Salsabil – anders als den Gleichaltrigen in ihrem Heimatort – leichter (»einfach«, Z. 108) gelingt, zu den Jugendlichen in der MJD eine Verbindung aufzubauen. Sie wird ohne anstrengende Erklärungen in die Gruppe aufgenommen. Folglich identifiziert sie sich auch mit den muslimischen Jugendlichen in der Gruppe, fühlt sich dort aufgehoben. Interessant ist in diesem Zusammenhang Salsabils Formulierung. Sie spricht von »Identität finden«, also von einem Suchprozess, der erst abgeschlossen ist, als sie von ihrem Gegenüber – den muslimischen Jugendlichen – unhinterfragt samt ihrer Mehrfachzugehörigkeiten akzeptiert wird. Salsabil fühlt sich erst in der MJD ange-
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kommen und angenommen. Sie fühlt sich nicht nur dort verstanden, sondern erkennt sich in den Mitgliedern auch wieder. Sie begründet diese für sie natürliche Bindung und Affinität zu den MJD-Mitgliedern so: »weil das mich einfach ausmacht« (Z. 113). Auch diese Aussage verweist erneut darauf, wie sehr das Selbstbild durch die Fremdwahrnehmung mitgestaltet und die eigene Verortung bei der Identitätsbildung beeinflusst. Hinzu kommt, dass Salsabil in der MJD viele Aspekte wiedertrifft, die sie aus ihrem Elternhaus kennt. So wird auch in der MJD die gemeinsame Religion zu einem zentralen, einheitsstiftenden und gemeinsinnstärkenden Element. Zugleich wird die Passung Deutsch- und Muslimsein harmonisiert ausgelebt und als völlig normal und unproblematisch angesehen. Salsabil scheint diesen Anspruch verinnerlicht zu haben, Deutschlands muslimische Jugend sein zu wollen. Sie hält diesen Ansatz für sehr fortschrittlich und integrationsfreundlich und sieht darin ein Alleinstellungsmerkmal der MJD. Salsabil ist überzeugt: »Wir verbinden die deutschen Werte mit den muslimischen und daraus machen wir was Neues und das (.) widerspricht sich nicht gegenseitig, sondern kann sich ergänzen im positiven Sinne« (Z. 841-843). Salsabils Äußerung und besonders ihre Erzählweise bestätigen und bekräftigen, dass nach gesellschaftlichem Diskurs diese Komposition ihrer Zugehörigkeiten als nicht miteinander vereinbar und widersprüchlich erachtet wird. Darauf deutet die Tatsache hin, dass Salsabil im Interview ihre Mitgliedschaft in der MJD erst erwähnt, als sie begründen will, dass sich für sie beide Zugehörigkeiten nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Debatten, die die muslimische Zugehörigkeit zu Deutschland als krisenhaft und unvereinbar problematisieren, ist es für Salsabil sogar ganz unkompliziert. Sie schöpft aus dieser Verbindung ihrer Zugehörigkeiten etwas kreatives Neues. Für Salsabil sind die deutschen Tugenden »sogar förderlich für die die islamische Charakterbildung« (Z. 804-806) und Lebensweise. In Salsabil erwächst die Motivation – sowohl als MJD-Vertreterin als auch als Privatperson – am Integrationsdiskurs teilzuhaben. Sie will für die Mehrheitsgesellschaft als muslimische Ansprechperson und Verhandlungspartnerin fungieren. Ihren Anspruch begründet sie aus ihrer Biografie und ihrer Kompetenz heraus, beide Zugehörigkeiten problemlos miteinander vereinbaren zu können. Sie ist überzeugt, im Hinblick auf Integration ein gutes Vorbild zu sein, und will daher zwischen der gesellschaftlichen Mehrheit und Minderheit vermitteln. So sagt Salsabil: »[I]ch denke schon, dass wir anders sind, dass wir integrierter sind […] als viele andere Muslime […] also ja, dass wir auch richtungsweisend sind« (Z. 836-838). Aus dieser Ambition heraus, bemüht sich Salsabil (im Kreise der MJD) fast schon programmatisch mit der Mehrheitsgesellschaft »Dialog [zu] machen« (Z. 826), um die Differenzen zwischen der muslimischen Minderheit und der Mehrheit zu überwinden. Doch
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trotz aller Aufklärungsarbeit ihrerseits über Islam und Muslime meint sie, unerwartet festgefahrenen Vorurteilen zu begegnen. Anstelle eine Annäherung zu erreichen, wird sie, wie sie es sagt, mit »gewisse[n] Vorwürfen« (Z. 827) ihrer Dialogpartner konfrontiert, die aus ihrer Perspektive ihre »Arbeit unheimlich schwer machen« (Z. 828). Folglich entfaltet sich der Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft aus ihrer Perspektive zu einer anstrengenden Angelegenheit, die sie zusätzlich belastet. Sie beansprucht, in den Debatten um Islam und Integration zu partizipieren und will das Bild der Muslime mitbestimmen. Sie reagiert umso enttäuschter, als ihr von ihren Dialogpartnern aus der Mehrheitsgesellschaft diese Deutungshoheit über die Selbstbeschreibung der Muslime nicht zugestanden wird. Ihrer Meinung nach bleiben auf diese Weise die Diskussionen um Islam und Integration weiterhin von Akteuren aus der Mehrheitsgesellschaft und ihren Interpretationen dominiert, ohne dass Muslime eine Chance auf Selbstbeschreibung hätten. Salsabil beklagt, aufgrund von prinzipiellem Misstrauen gegenüber Muslimen und dem Islam aus den Diskursen ausgeschlossen zu werden. Ihre Kränkung ist in ihren Worten deutlich zu spüren. Inzwischen nimmt sie den Dialogversuch und den Integrationsprozess seitens der Mehrheitsgesellschaft als unehrlich wahr, als »nich wirklich aufrichtig« (Z. 830). Salsabil zweifelt die Bereitschaft und den Willen der Mehrheit an, überhaupt Muslime als zugehörig zu betrachten.12 Folglich werde die harmonische Ko-Existenz der Zugehörigkeiten durch die »Probleme von außen« (Z. 825) aus der Gesellschaft gestört, die an die Muslime herangetragen werden, meint Salsabil. Dieses Außen wird von einem Innen abgegrenzt. Sie bezeichnet damit allgemein die Mehrheitsgesellschaft, zu der sie sich anscheinend nicht zählt, während das Innen die Gemeinschaft der MJD einschließt. Indem sie mit diesem Außen konfrontiert wird, entstehen ihrer Ansicht nach Schwierigkeiten. An dieser Stelle wird eine »Wir-Die-Differenz« zwischen der muslimischen Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft aufgestellt. Als Salsabil den gesellschaftlichen Blick auf die Muslime, also die Fremdwahrnehmung, wiedergibt, bildet sich diese Unterscheidung erst heraus. Salsabil ist von der Ablehnung und Zurückweisung der Mehrheitsgesellschaft zweifach betroffen: einmal als Vertreterin der MJD, aber auch als Privatperson. Sie ist im Grunde genommen stetig bemüht, sich von den scheinbar typischen negativen Bildern türkischer und arabischer Einwanderer zu unterscheiden und 12 Die mögliche Zurückweisung des Dialogversuches und Salsabil entgegengebrachtes Misstrauen seitens einiger Vertreter der Mehrheitsgesellschaft sind durchaus im Kontext der MJD-Mitgliedschaft zu erörtern. Die Gruppe ist zeitweise vom deutschen Verfassungsschutz aufgrund einiger judenfeindlicher Zitate beobachtet worden und leidet seit dem unter dem Imageschaden. Vgl. W. Schiffauer, W.: Der unheimliche Muslim, S. 127ff.
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sich zu distanzieren. Sie behauptet nachdringlich, »anders« zu sein, »integrierter« (Z. 837) als »viele andere Muslime« (Z. 838). All diese Bemühungen Salsabils werden seitens der Mehrheit schlicht übersehen und verkannt und lösen bei ihr große Enttäuschung und Trauer aus. Salsabil kritisiert, dass in Deutschland kein selbstverständliches Miteinander zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen gäbe, wie sie es in anderen Ländern erfahren hat. Während eines Praktikums bei der Zeitschrift EMEL, einem Lifestyle-Magazin für Muslime, hat sie in London gelebt und berichtet:13 in London ja (.) ja also ich hab einfach gemerkt es waren wieder so ganz unterschwellige Sachen wo ich gemerkt habe ja es lässt sich als Muslim einfach leichter leben, du wirst vi:iel selbstverständlicher angesehen als viel selbstverständlicher betrachtet (Z. 894-897).
Der Unterschied im sog. Miteinander zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen ist für Salsabil – obwohl »unterschwellig« (Z. 895) – dennoch »einfach« (Z. 894), leicht bemerkbar und deutlich spürbar gewesen. Vor allem in der Wahrnehmung ihrer Person hat sie diesen Unterschied festgestellt. Sie hat den Eindruck gehabt, in London von ihren Mitmenschen anders betrachtet zu werden als in Deutschland. Dieser andersartige Blick auf ihre Person hat sogar bei ihr physisch vernehmbare Wirkungen hinterlassen. Im Gegensatz zu Deutschland hat sie in England ihr Dasein als Muslima, wie sie es ausdrückt, als »einfach leichter« (Z. 896) empfunden. Sie habe ihre Existenz, also ihr Leben, von der britischen Gesellschaft schlicht als »vi:iel selbstverständlicher angesehen« (Z. 896) und »selbstverständlicher betrachtet« (Z. 897) erfahren. Infolgedessen hat sie sich selbst wesentlich angenehmer und willkommener in der Gesellschaft gefühlt. Erstaunlich an dieser Sequenz ist, dass Salsabil hier unbewusst sehr deutlich und ausdrücklich auf das Fremdbild eingeht. Der Blick der Anderen in England auf ihre Person hat einen erleichternden, (er)lösenden Charakter. Er beeinflusst merklich ihr Wohlbefinden und lässt sie leichter leben. Anders formuliert, sie findet Raum für ihr Dasein. Diese Tatsache formt nachhaltig ihre eigene Wahrnehmung bezüglich ihrer Zugehörigkeit und Akzeptanz in der Gesellschaft, so dass sie sich in gesteigerter Form als »viel selbstverständlicher« (Z. 896) angenommen erachtet. Auf ihr Leben in Deutschland übertragen bedeutet diese Aussage Salsabils, dass die Blicke der Mitmenschen ihr alltägliches Leben erschweren. Sie empfindet vermutlich gerade das alltägliche einfache Dasein als Muslima schwer, weil ihre Existenz in Deutschland nicht als selbstverständlich betrachtet wird, sondern ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft in Frage gestellt wird. Die Leichtigkeit im Umgang miteinander bzw. die Selbstverständlichkeit 13 Vgl. http://www.emel.com vom 15. Mai 2014.
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zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen fehlt, weil Muslime ihrer Ansicht nach nicht zweifellos als Teil der Gesellschaft anerkannt werden. Schon unterschwellig ausgrenzende Blicke, wie z.B. im Falle Salsabils wegen ihres Kopftuches, aus der Mehrheitsgesellschaft genügen und lassen sie sich unwillkommen vorkommen. Obwohl sie deutsche Wurzeln hat, scheint sie, dieses Zugehörigkeitsempfinden allerdings in einer für sie bis dahin tatsächlich fremden englischen Gesellschaft erfahren zu haben, und hat sich dort als Muslima eher auf eine widerspruchslose Art akzeptiert empfunden.
FAZIT: I DENTITÄT UND Z UGEHÖRIGKEIT DURCH ANERKENNUNG
ENTSTEHEN
Die beiden Fälle Hibba und Salsabil beschreiben die Komplexität von Identität und Zugehörigkeit und zeigen, dass Zugehörigkeit und Anerkennung muslimischer Mitbürger in England und Deutschland auch sehr eng von der Perspektive der Mehrheit abhängig sind. In Salsabils und Hibbas Beschreibungen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften wird ihre Fremdwahrnehmung durch die jeweiligen Gesellschaften deutlich. Diese weisen darauf hin, wie das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit ausgestaltet ist, welches Integrationsverständnis und Selbstbild die beiden Gesellschaften von sich haben, wie sie Mehrfachzugehörigkeit betrachten und bewerten und welchen Einfluss diese Ansichten auf die Verortung der muslimischen Minderheit haben. Hibba zeichnet ein positives Bild der britischen Mehrheitsgesellschaft, die Möglichkeitsräume schafft und Gestaltungsfreiheiten zulässt. Dadurch glaubt Hibba die Leistungserwartungen der Mehrheit erfüllen zu können und an der Gesellschaft teilzuhaben. Salsabil beklagt hingegen, dass ihr aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit grundsätzlich Misstrauen entgegengebracht wird. Die Ursachen liegen ihrer Meinung nach in dem immer noch eng gefassten Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft. Diese Verengung schließt sie von der Teilhabe und Mitwirkung am gesellschaftlichen Selbstverständnis und Diskurs aus, obwohl sie die Leistungsanforderungen der Gesellschaft für Partizipation erfülle. In beiden Staaten finden ähnliche und ähnlich bewegte Debatten über die Zugehörigkeit der Zuwanderer – vor allem der muslimischen Minderheit – zu den jeweiligen Ländern statt. Dennoch unterscheiden sich die Diskurse grundsätzlich in ihrer Ausgangslage und der Art und Weise, wie diskutiert wird und von welchem Standpunkt aus die Zugehörigkeit der Zuwanderer verhandelt wird. Im Wesentlichen erscheinen hierfür die Selbstbilder der Mehrheitsgesellschaften verantwortlich, die ihrerseits aus den sozialhistorischen Kontexten der jeweiligen Gesellschaften resultieren.
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In Deutschland werden die gesellschaftlichen Integrationsdebatten immer noch vehement mit der Einstellung geführt, dass Deutschland keinesfalls ein Einwanderungsland sei. Die Zuwanderer werden entsprechend weiterhin als Fremdkörper und nicht als Teil der Gesellschaft betrachtet. Die Wahrnehmung spiegelt sich in den Ausführungen von Salsabil besonders deutlich. Aus ihrer Perspektive ist ihre Zugehörigkeit zu Deutschland unproblematisch. Salsabil bekennt sich, wie vielfach in den Integrationsdiskursen eingefordert, eindeutig zu Deutschland und verortet sich ausdrücklich in der deutschen Gesellschaft. Salsabil entscheidet sich in ihrer Selbstbeschreibung freiwillig für ihre deutschen statt ihre ägyptischen Wurzeln, aber auch für ihre islamische Religion. Im Gegenzug erwartet sie, von der deutschen Mehrheitsgesellschaft als gleichwertiges und gleichberechtigtes Mitglied akzeptiert zu werden. Prekär wird ihre Zugehörigkeit nur, weil sie durch die Mehrheit aufgrund ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit als prekär verhandelt wird und ihr die Anerkennung als (Voll-)Mitglied der Gesellschaft verweigert wird. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen ihrem Selbst- und Fremdbild. Salsabil fehlt somit außerhalb ihrer Familie und der MJD ein Umfeld, das sie unhinterfragt akzeptiert und ihre Selbstbeschreibung samt ihrer Mehrfachzugehörigkeiten annimmt. Vor allem weil Salsabil besonderen Wert auf ihre Mehrfachzugehörigkeit Deutschund Muslimsein legt, reagiert sie auf die Zweifel der deutschen Mehrheit sehr empfindlich. Sie fühlt sich vermutlich persönlich betroffen von den Vorwürfen der Islamisierung, der Integrationsverweigerung und von der Angst der Überfremdung. Aus dieser Betroffenheit heraus resultiert sicherlich die vielfach erwähnte und von Salsabil als schmerzhaft empfundene Kränkung und Trauer, die sich im Interview in deutliche Kritik an der Mehrheitsgesellschaft entlädt. Letztlich bleiben das Potential der Mehrfachzugehörigkeit und die Impulse hieraus für die gesellschaftlichen Integrationsdiskurse, für die politische Kultur und Teilhabe in Deutschland verkannt. Die Möglichkeiten und Vorteile einer Synthese, wie sie hier Salsabil verkörpert, werden in den Debatten immer noch viel zu selten aufgegriffen. Im Grunde genommen lässt sich das Integrationsverständnis in Deutschland als ein trügerisch-verheißungsvolles Leistungsprinzip beschreiben, das entlang eines Forderungskataloges an die Minderheit konstruiert ist. Demnach verspricht die Mehrheit der Minderheit, Zugehörigkeit zu erhalten, wenn sie sich z.B. zu Deutschland bekennt, Verfassungstreue schwört, der deutschen Sprache mächtig ist, am besten sogar den Bildungsaufstieg oder Berufseinstieg erreicht und schließlich an der Gesamtgesellschaft partizipiert. Gleichzeitig orientieren sich die Kriterien der Vollzugehörigkeit in gesellschaftlichen Diskursen nach wie vor zum Teil zwar latent und subtil aber durchaus beständig an Vorstellungen einer (ethnisch-)kulturell homogenen Gemeinschaft, so
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dass sie letztendlich nie vollständig von der Minderheit erfüllt werden können. Vor allem der Islam und somit die Muslime werden aus dem Selbstverständnis von einem Großteil der Gesellschaft ausgeschlossen. Der neue Religionsmonitor 2013 der Bertelsmann Stiftung bestätigt diese reservierte und ablehnende Einstellung der Mehrheitsgesellschaft bezüglich Muslimen.14 Darin heißt es, 50 Prozent der Deutschen seien davon überzeugt, dass der Islam nicht zu Deutschland passe und sehen diese Religion als Bedrohung. Gleichwohl ist politisch durch die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahre 2000 (§4 StAG; §29 StAG) formal-rechtlich eine Öffnung des Selbstbildes erfolgt. Das neue Gesetz erlaubt Kindern von Einwanderern den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Trotzdem diskutiert und verhandelt parallel die gesellschaftliche Mehrheit weiterhin ihre Zugehörigkeit, so dass die Integrationsdiskurse zum Teil schizophrene Züge tragen. Einerseits verlangt der deutsche Identitäts- und Zugehörigkeitsdiskurs von den Muslimen mit der Entscheidung für die deutsche Staatsbürgerschaft ein eindeutiges Bekenntnis und eine Positionierung zu Deutschland, andererseits wird ihnen im Diskurs die Anerkennung von vornherein aufgrund ihrer Religion vorenthalten. Die Gesellschaft bleibt folglich schuldig, den Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ernsthafte Verwirklichungsmöglichkeiten und Deutungsräume anzubieten, um ihre mehrfachen Zugehörigkeiten in Bezug zur deutschen Mehrheit tatsächlich gestalten zu können. Die gesellschaftliche Diskussion um Integration verweilt in der defizitorientierten Betrachtung der Zuwanderung im allgemeinen und bedient sich zur weiteren Befeuerung der Debatten an negativen Beispielen gescheiterter Integration aus »migrantischen« Communities. Schlagzeilen zu schlechten Sprachkenntnissen, Kopftuchzwang, Ehrenmorde, Islamismus oder Terrorismus werden bereitwillig als Legitimation für die ablehnende Haltung genommen, obgleich für die Mehrheit schlicht die Andersartigkeit als Begründung ihrer Verweigerung ausreicht. Entsprechend wird die Integrationsleistung vieler Menschen mit Migrationshintergrund völlig ignoriert. In diesem Zusammenhang wird ihr Bemühen oder wie Salsabils es ausdrückt das »Abstrampeln« für Akzeptanz über Spracherwerb, über Bildungsaufstieg oder berufliche Tätigkeit, aber auch über Teilhabeforderungen an die Gesellschaft, übersehen, weil Mehrfachzugehörigkeiten im Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft unerwünscht bleiben. Der Eindeutigkeitszwang von Zugehörigkeit wird trotz veränderter Lebensrealität vieler hierzulande lebender Menschen aufrechterhalten. Obwohl Integration in Deutschland nach dem Leistungsprinzip verhan14 Vgl. http://www.zeit.de/gesellschaft/2013-04/islam-bedrohung-studie/komplettansicht vom 27. April 2013 und vgl. auch http://www.bertelsmannstiftung.de/cps/rde/xbcr/SI D-BAEC7F5C-7223950E/bst/RelMo_Befunde_Deutschland_final_130428.pdf vom 28. April 2013.
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delt wird, wird die Leistung gerade der Bildungsaufsteiger und sogenannter Integrationswilliger durch eine solche Haltung verschmäht. Menschen wie Salsabil sind überzeugt, an unsichtbare gläserne Decken zu stoßen, und werden von der Einstellung der Mehrheit gegenüber der muslimischen Minderheit sogar entfremdet. Dabei können solche Menschen, wie das Beispiel von Salsabil in Deutschland und Hibba in England zeigt, oft eine Brückenfunktion oder Vermittlerrolle einnehmen und in beide Richtungen, der Mehrheit und Minderheit, zur Annäherung und Aussöhnung beitragen. In diesem Zusammenhang wird offenkundig, wie stark Zugehörigkeit in Deutschland vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig zu sein scheint. Zugleich werden die Migranten bei der Integration stets in Bringschuld gesehen. Die deutsche Gesellschaft hat immer noch Schwierigkeiten zu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein, wenn auch vor 15 Jahren das Staatsbürgerschaftsrecht geändert wurde. Entsprechend muss die Minderheit in Deutschland ihren Platz im Selbstbild der Gesellschaft noch aushandeln und erkämpfen. Anders sieht die Situation für Hibba in England aus. Wie für Salsabil ist auch für Hibba persönlich ihre Mehrfachzugehörigkeit unproblematisch und selbstverständlich. Obwohl sie ähnlichen Debatten um ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft ausgesetzt zu sein scheint wie Salsabil, ist Hibba jedoch in der Fremdwahrnehmung der britischen Mehrheit nicht völlig fremd. Stattdessen ist sie Teil des Mythos eines pluralen, ehemals imperialen Staates, der meist auf seinen Multikulturalismus stolz zu sein scheint und Toleranz als Teil der britischen Kultur auffasst. Auch das Bekenntnis zu beiden Zugehörigkeiten BritischMuslim ist für Hibba unkompliziert und bedarf keiner größeren Erklärung. Insofern befinden sich ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung im Einklang. Während in Deutschland Salsabil dem Eindeutigkeitszwang ihrer Zugehörigkeit ausgesetzt ist, wird Hibba durch die Möglichkeit der Mehrfachzugehörigkeit entlastet. Es stärkt sogar scheinbar ihre Bindung zur Mehrheitsgesellschaft, obgleich ihre Loyalität durchaus von rechtskonservativen Stimmen vor dem Hintergrund der Terrorismusgefahr infrage gestellt wird. Integration bedeutet in Großbritannien mutmaßlich, dass die Mehrheit zunächst mit Vertrauensvorschuss in Vorleistung tritt, indem sie Möglichkeitsräume schafft und kombinierte Zugehörigkeiten zulässt. Im Gegenzug besteht ihre Leistungserwartung an die Minderheit darin, zum einen Spracherwerb, Bildungsaufstieg, berufliche sowie gesellschaftspolitische Teilhabe zu realisieren und zum anderen eine »harmonisierte« Zugehörigkeit zur Gesellschaft zu entwickeln. Diese Leistungserwartung an die Minderheit geht einher mit einem Möglichkeitsprinzip, eine für die Minderheit realisierbare Passung für ihre Zugehörigkeiten zu finden. Der Akteur und Gestalter bleibt die Person selbst, aus den gegebenen Möglichkeiten zu machen, was sie kann. In-
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tegration wird so zum Möglichkeitsraum und funktioniert nicht nach einem trügerisch-verheißungsvollen Leistungsprinzip, sondern eher nach einem Möglichkeitsprinzip mit realisierbaren Leistungserwartungen. Im Gegensatz zu Deutschland scheint der Diskurs in Großbritannien andersherum zu verlaufen. Die Muslime sind zumindest seit Jahrzehnten Teil der britischen Gemeinschaft und des Konstrukts der britischen Identität, die durch langjährige Staatsbürgerschaft ihre Position bekräftigt haben. Ihre Zugehörigkeit und Loyalität scheint jedoch aktuell auf dem Prüfstand zu stehen. Sie müssen daher ihre Loyalität (erneut) beweisen und ihre Zugehörigkeit erneut aushandeln. Sie haben jedoch die Chance, selbst am Bestätigen ihrer Zugehörigkeit mitzuwirken und sind scheinbar aktive Partner im Diskurs um »Britishness«. Vergleichsaspekte Integrationsverständnis und Diskurs
Selbstbild Mehrheit
Deutschland • Leistungsprinzip mit trügerisch-verheißungsvollem Forderungskatalog • unerfüllbare/eng gefasste Zugehörigkeitskriterien • Integration eher als Assimilation & Aufgabe kultureller Andersartigkeit • kein Bekenntnis, Einwanderungsland zu sein • Dominanz der Mehrheit am Diskurs um gesellschaftliche Selbstbeschreibung • kaum (Deutungs-) Raum für die Minderheit für Verwirklichungsmöglichkeit • Homogenitätsvorstellungen einer Abstammungsgemeinschaft • hartnäckiges Ablehnen der Einwanderungsgesellschaft
England • Möglichkeitsprinzip mit realisierbaren Leistungserwartungen • offene/erfüllbare Zugehörigkeitskriterien • Integration als Partizipation am gesamtgesellschaftl. Geschehen • Selbstverständnis als multikulturelles Einwanderungsland • Mitwirkung der Minderheit an der Gestaltung des gesell. Selbstbildes • Minderheit mit (Deutungs-) Raum für Verwirklichungsmöglichkeit • Toleranz, Vielfalt und Multikulturalismus als kulturelle Werte • positives Selbstbild als Einwanderungsgesellschaft
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Haltung Mehrheit
• (grundsätzliches) Misstrauen gegenüber Zuwanderern und Einwanderung • Bringschuld liegt stets bei der Minderheit
Mehrfachzugehörigkeit
Muslime/Migranten
• Beharren auf Eindeutigkeit der Zugehörigkeit & große Skepsis gegenüber Mehrfachzugehörigkeiten • (mehr) Objekte statt Akteure der Diskussionen
• Zugehörigkeit vom Wohlwollen der Mehrheit abhängig • enttäuscht, emotional entfremdet & z.T. angespanntes Verhältnis zur Mehrheit aufgrund ihrer ablehnenden Haltung • Mehrheit als hinderliche, intolerante & indifferente Größe, die Möglichkeiten einengt • Blick in die Zukunft skeptisch • aktueller Fokus auf Islam & Muslime als Problem für Integration & Partizipation Wir-Die-Differenz
• Entwicklung einer Abgrenzung von Wir Muslime und Die Mehrheit
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• Vertrauensvorschuss gegenüber Einwanderern mit neu aufkommenden Bedenken • Vorleistung der Mehrheit in Form v. Möglichkeitsräumen • Öffnung der Zugehörigkeit durch BindestrichIdentität und damit Einbeziehung der Mehrfachzugehörigkeiten • Akteure & (Mit-) Gestalter in Debatten um zukünftiges Bild der Gesamtgesellschaft • Gewährung von Vertrauensvorschuss in Vorleistung durch die Gesell. • solidarische und emotional positive Verbundenheit mit der Mehrheitsgesellschaft aufgrund ihrer grundsätzlich akzeptierenden Haltung • Mehrheit als unterstützende, tolerante & differenzierte Kraft, die Möglichkeiten gewährt • Blick in die Zukunft zuversichtlich • aktuelle Aufmerksamkeit zugleich eine große Chance für mehr Teilhabe & Einbindung in die Gesellschaft • keine starre Trennung in Wir und Die, sondern punktuell
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• Sicht als Wir auf die Gesamtgesellschaft fehlt Selbst- & Fremdbild
• Spannungsverhältnis
• Entwicklung von einem Wir als Gesamtgesellschaft • im Einklang
B IBLIOGRAPHIE Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Referat Wissenschaftlicher Nachwuchs, wissenschaftliche Weiterbildung: Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2009. 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, Bonn, Berlin 2010. Gerlach, Julia: Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Berlin: Christoph Links Verlag, 2006, S. 140-152. Kermani, Navid: Wer ist Wir. Deutschland und seine Muslime, München: C.H. Beck, 2009. Madood, Tariq: »New Forms of Britishness: Post-Immigration Ethnicity and Hybridity in Britain«, in: Rosemarie Sackmann/Bernhard Peters/Thomas Faist (Hg.): Identity and Integration. Migrants in Western Europe, Hants: Ashgate Publishing Limited, 2003, S. 77-90. Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968. Oberndörfer, Dieter: »Einwanderung wider Willen. Deutschland zwischen historischer Abwehrhaltung und unausweichlicher Öffnung gegenüber (muslimischen) Fremden«, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden: VS Verlag, 2010, S. 131-147. Rommelspacher, Birgit: »Islamkritik und antimuslimische Positionen – am Beispiel Necla Kelek und Seyran Ateş«, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden: VS Verlag, 2010, S. 447-470. Saleem, Shazia, »Die Umma – Wandel und Interpretationen eines Gemeinschaftskonzeptes«, in: Rüdiger Robert/Daniela Schlicht/Shazia Saleem (Hg.), Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion. Münster: Waxmann Verlag, 2010, S. 33-53. Schiffauer, Werner: »Der unheimliche Muslim - Staatsbürgerschaft und zivilgesellschaftliche Ängste«, in: Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan (Hg.):
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Konfliktfeld Islam in Europa, Soziale Welt Sonderband 17, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2007, S. 111-133.
I NTERNETQUELLEN http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-BAEC7F5C-7223950E/ bst/RelMo_Befunde_Deutschland_final_130428.pdf vom 28. April 2013. http://www.emel.com http://www.zeit.de/gesellschaft/2013-04/islam-bedrohung-studie/komplettansicht vom 27. April 2013.
Autorinnen und Autoren
Avon, Dominique, Professor of Modern History at the Université du Maine (Le Mans/France). He taught in Egypt (1992-1994), in Lebanon (2004-2005) and in the United States (2014). He is member of the CERHIO Research Center. His scientific and teaching profile comprises Religious phenomenon, intellectuals, history of ideas. Dominique Avon is co-director of the Institute of Religious Pluralism and Atheism (IPRA). He is also coordinator of the Academic community HEMED. Among his last publications are: »Hezbollah: A History of the ›Party of God‹« (2012) with A.-T. Khatchadourian, »Gamâl Al-Bannâ, L’islam, la liberté, la laïcité et Le crime de la tribu des ›Il nous a été rapporté‹« (ed. Dominique Avon and Amin Elias) (2013), »Sujet, fidèle, citoyen. Espace européen (XIe-XXIe siècles)« (2014). Boos-Nünning, Ursula studierte Soziologie in Köln und Linz/Donau. Nach der Promotion 1971 in Religionssoziologie und der Habilitation 1980 mit der Venia in Soziologie wurde sie in den Erziehungswissenschaften für das Fachgebiet Migrationspädagogik an die Universität Essen (heute Duisburg-Essen) berufen. 2009 wurde sie pensioniert. Seit 1971 leitete sie interdisziplinäre Forschungsprojekte im Bereich Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund und ihre Familien. Sie war in der Beratung zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Gruppierungen tätig. Von 1998 bis 2002 war sie Prorektorin und danach Rektorin der Universität Essen. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher und Aufsätze zum Thema Einwanderung, zuletzt in den Forschungsschwerpunkten Bildungsarbeit von Migrantenorganisationen, Migrationsfamilien, Religiosität in der Einwanderungsgesellschaft. Camic, Samir, erhielt in Sarajevo eine Medrese Ausbildung und arbeitete von 1996 bis 2001 in der Islamischen Gemeinschaft der Gemeinde Nahvioci in Bosnien und Herzegowina als Hatib und Muallim, sodann wurde er zum Hauptimam der islamischen Gemeinde Bijeljina durch den Mufti von Tuzla Husein ef. Ka-
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vazovic ernannt. Derzeit studiert er zusätzlich an der Fakultät für Islamwissenschaften in Sarajevo. Frye, Malte studierte Ethnologie und Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er ist Doktorand am Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind Anthropologie des Islams, Erinnerungsforschung, Raumtheorie und Ethnizität mit regionalem Fokus auf Südosteuropa. Zudem arbeitet er als Referent für bürgerschaftliches Engagement. Isik, Tuba studierte in Göttingen Rechtswissenschaften und Pädagogik und Islamische Religionslehre in deutscher Sprache in Osnabrück. Sie promovierte 2013 bei Prof. Klaus von Stosch an der Universität Paderborn, wo sie seit 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften ist. Lüsebrink, Hans-Jürgen, Studium der Romanistik und Geschichtswissenschaft an den Universitäten Mainz, Paris und Tours, seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Kulturwissenschaft und Interkulturelle Kommunikation an der Universität Saarbrücken, 1998-2004 Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs »Interkulturelle Kommunikation in kulturwissenschaftlicher Perspektive«, seit 2013 Stellvertretender Sprecher des Internat. DFG-CRSH-Grad.-Kollegs »Diversity. Negotiating Difference in transcultural Spaces« der Universitäten Trier, Montréal und Saarbrücken. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Interkulturellen Kommunikation, Deutsch-französische Kulturbeziehungen, Europäischaußereuropäischer Kulturtransfer, frankophone Literaturen und Medien außerhalb Europas (insbesondere in Afrika und Québec). Maréchal, Brigitte studierte an der Université catholique de Louvain (UCL) Politikwissenschaften, Islamwissenschaften und Soziologie. Seit 1999 verfügt sie außerdem über einen Abschluss des Institut Français d’Etudes Arabes in Damaskus. Seit 2008 ist sie Professorin für Soziologie und Leiterin des CISMOC (Centre Interdisciplinaire d’Etudes de l’Islam dans le Monde Contemporain) an der UCL. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen über den europäischen Islam, darunter auch zur Muslimbruderschaft und zu den Beziehungen zwischen Sunniten und Schiiten sowie zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Sie ist Mitherausgeberin des »Journal of Muslims in Europe« und Herausgeberin der Reihe »Islams contemporains«.
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Martín Muñoz, Gema. PhD in Arabic and Islamic Studies and Professor of Sociology of the Arab and Islamic World at the Autonomous University of Madrid. She carried out postgraduate studies at Cairo University. She has been founding Director General of Casa Árabe and its Institute of Arabic and Muslim World Studies (2006-2012). Doctor Honoris Causa from University of Cuyo (Argentine). She has been visiting Professor in Harvard University, Roma Tre University, Colegio of Mexico, Universidad Nacional Tres de Febrero of Buenos Aires. Among her publications are: »Islam, Modernism and the West: Cultural and Political Relations at the end of the Millenium« (ed, 1999), »Mujeres Musulmanas en España. El caso de la inmigración femenina marroquí« (2004), »Marroquíes en España. Estudio sobre su integración« (2003), »Islam. From Phobia to Understanding« (co-ed, 2010). Rohe, Mathias studierte Rechts- und Islamwissenschaften in Tübingen und Damaskus. Nach der Promotion 1993 und der Habilitation 1997 in Tübingen wurde er an die juristische Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg berufen. 2009 gründete er dort das Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa. In ca. 200 Publikationen und bei Hunderten von wissenschaftlichen Vorträgen weltweit behandelt er im Schwerpunkt Fragen betreffend den Islam in Europa und moderne Entwicklungen in der islamischen Normenlehre (zuletzt: Rohe, Islamic Law: Past and Present, Leiden 2015). Saleem, Shazia studierte Politik-, Kommunikations- und Islamwissenschaften an der Universität Münster und an der Universität Exeter und promoviert an der Graduate School of Politics (GraSP) der Universität Münster. Sie hat 2010 den Sammelband »Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion« mitherausgegeben. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Islam, Islam in Europa, Migrations- und Integrationsforschung, Identitätspolitik, Islamismus und Terrorismus sowie Internationale Beziehungen – Naher und Mittlerer Osten. Von 2012 bis 2014 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Hans-Böckler-Stiftung tätig. Seit 2014 arbeitet sie als Referentin im nordrhein-westfälischen Landtag. Schmitz, Sabine studierte Romanische Philologie in Marburg, Brüssel und Madrid. Nach der Promotion 1998 und Habilitation 2007 in Marburg war sie Professorin für Romanische Philologie an der Universität Kassel, seit 2009 ist sie Professorin für Romanische Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Sie forscht über Dispositive muslimischer Identitäten in der Romania aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Sicht. Seit 2012 ist sie stellvertretende
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Vorsitzende des ZeKK (Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften) und forscht hier auf der Basis eines engen interdisziplinären Austauschs zwischen Theologien und Kulturwissenschaften zum Islam in Belgien, Frankreich und Spanien sowie in einer vergleichenden Perspektive zu Konstruktionen muslimischer Identitäten in Europa. Soliman, Asmaa studierte Kunst und Kultur an der Universität Maastricht. Im Anschluss daran erwarb sie ihren ersten Master in Medienkultur und ihren zweiten Master in Internationaler Politik an der City University London. In 2011 besuchte sie das Centre for Multidisciplinary and Intercultural Inquiry am University College London, wo sie in European Studies promovierte. Seit 2013 arbeitet sie als Forschungsassistentin für das vom Economic and Social Research Council finanzierte Projekt »Muslims, Trust and Cultural Dialogue«. Auch unterrichtet sie am University College London im Bereich Politikwissenschaften und Soziologie. Seit 2014 fungiert sie als Pathway Representative for Societies am University College London für Studenten des Arts and Sciences Programms. Ihr Schwerpunkt liegt bei Religion und Islam in Europa. Straub, Jürgen studierte Psychologie, Soziologie und Philosophie an den Universitäten Zürich und Erlangen; Promotion 1989, Habilitation 1995. Seit 2008 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie in der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr Universität Bochum (RUB). Seit August 2014 leitet er (mit Dr. Pradeep Chakkarath) das Hans Kilian und Lotte KöhlerCentrum für sozial- und kulturwissenschaftliche Psychologie und historische Anthropologie. In der RUB wirkt er außerdem mit in der Mercator Research Group »Spaces of Anthropological Knowledge: Production and Transfer«, im Research Department »Center for Religious Studies« (CERES) und im interdisziplinären »Center for Anthropoietic Studies« (CAS). Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Sozialpsychologie, Mikrosoziologie; interdisziplinäre Sozial- und Kulturtheorie; interkulturelle Kommunikation und Kompetenz; Handlungstheorie, Identitäts-, Gedächtnis-, Biographietheorie; Geschichtsbewusstsein, Gewalt in modernen Gesellschaften, Religion; Geschichte der Psychologie/Psychologisierung der soziokulturellen Welt; Optimierung des Selbst; qualitative Sozialforschung und Kulturanalyse. Tietze, Nikola studierte Politikwissenschaft in Berlin und Paris. 1999 promovierte sie in der Soziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und an der Universität Marburg. Im Jahr 2013 erfolgte ihre Habilitation an der Universität Hamburg. Seit 2000 ist sie Soziologin am Hamburger Institut
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für Sozialforschung und lehrte an den Universitäten Kassel, Hamburg und Bordeaux wie auch am Institut des études politiques de Paris. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u. a. »Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft« (2012) und »Islamische Identitäten. Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich« (2001). Vellenga, Sipco studied Sociology at the University Groningen and Sociology of Religion at the Free University in Amsterdam. Since he has finished his PhDstudy on the development of the evangelical movement in the Netherlands he is affiliated with the Department of Religious studies of the University of Amsterdam. He offers courses on Islam in Europe, Religion and the Public Domain and Religion and Conflict. He was several times guest professor at the University of Birmingham (2008-2012). He publishes on theoretical issues in the field of Sociology of Religion, Religion and Healing and Religion (in particular Islam) in the Public Debate. The focus of his current empirical research is on the relations between religious communities (Muslims, Jews, Christians etc.) in terms of cooperation and conflict in the context of secular European societies.
Globaler lokaler Islam Schirin Amir-Moazami Politisierte Religion Der Kopftuchstreit in Deutschland und Frankreich 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-410-2
Nilüfer Göle, Ludwig Ammann (Hg.) Islam in Sicht Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum 2004, 384 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-237-5
Florian Kreutzer Stigma »Kopftuch« Zur rassistischen Produktion von Andersheit (unter Mitarbeit von Sümeyye Demir) April 2015, 236 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3094-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Globaler lokaler Islam Abbas Poya Denken jenseits von Dichotomien Iranisch-religiöse Diskurse im postkolonialen Kontext 2014, 270 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2590-5
Thorsten Gerald Schneiders (Hg.) Salafismus in Deutschland Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung 2014, 464 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2711-4
Susanne Schröter (Hg.) Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt 2013, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2173-0
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Globaler lokaler Islam bei transcript Thorsten Gerald Schneiders (Hg.)
Salafismus in Deutschland Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung
2014, 464 Seiten, kart., 27,99 E, ISBN 978-3-8376-2711-4 E-Book: 24,99 €, ISBN 978-3-8394-2711-8
Was ist Salafismus? Das Buch bietet eine umfassende Einführung in das Thema und gibt Antworten auf alle zentralen Fragen zu dieser Form des islamischen Fundamentalismus in Deutschland. »[Das Buch] liefert umfassende Information zum Thema Salafismus mit dem klaren Ziel eines Weckrufs an die Gesellschaft, sich ernsthaft und ohne Panikmache mit den Gefahren des Salafismus auseinanderzusetzen.« Dieter Bach, www.lehrerbibliothek.de, 19.01.2015 »Wer mehr zu diesem Thema wissen will, kommt an diesem Buch [...] nicht vorbei.« Reinhard Pohl, Gegenwind, 316/1 (2015) »Einige interessante Erklärungsmodelle für die Radikalisierung deutscher Muslime und Konvertiten.« Anne-Beatrice Clasmann, dpa, 05.01.2015
www.transcript-verlag.de