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German Pages 393 [394] Year 2018
Musil-Forum
Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne
Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Norbert Christian Wolf und Rosmarie Zeller
Band 35 · 2017/2018
De Gruyter
Redaktion: Harald Gschwandtner Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Klaus Amann (Klagenfurt), Karl Corino (Tübingen), Walter Fanta (Klagenfurt), Christoph Hoffmann (Luzern), Alexander Honold (Basel), Inka Mülder-Bach (München), Birgit Nübel (Hannover), Wolfgang Riedel (Würzburg), Peter Utz (Lausanne), Karl Wagner (Zürich/Wien)
ISBN 978-3-11-057944-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058335-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-058203-1 ISSN 1016-1333 Library of Congress Control Number: 2018962691 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz und Druckvorlage: Martin Dieringer Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen www.degruyter.com
Inhalt
Themenschwerpunkt: »Poetik der kleinen Form« Harald Gschwandtner, Norbert Christian Wolf: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Dirk Göttsche: Realismus und Moderne in der Kleinen Prosa von Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten . . . . .
7
Birgit Nübel: Vom Vogel zum Querschnitt – der Essay als kleine Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Roland Innerhofer: Sichtbare und unsichtbare Bauten. Musils Architekturminiaturen als Paradigmen intermedialer Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
Barbara Neymeyr: Kulturkritik als »Gleichgewichtsstörung«. Subversive Strategien der »Unfreundlichen Betrachtungen« in Musils Nachlaß zu Lebzeiten (Triëdere – Der bedrohte Ödipus – Denkmale) . . . . . . . . . . . .
62
Tanja Kevic: Kurzprosa als geometrische Form: Inflation
.
99
Dominik Müller: Hundekatastrophe. Das Untypische an Robert Musils Feuilletontext Die Durstigen . . . . . . .
113
Walter Fanta: Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132
Peter Utz: Schreib- und Liebesexperimente im Tageblatt. Zur Affinität von Brief und Feuilleton bei Marieluise Fleißer, Robert Walser und Robert Musil . . . . . . . . . . . . .
155
Paul Keckeis: Zum »Lebensparallelismus« der kleinen Form. Feuilletonistische Produktivierungsstrategien bei Robert Walser (mit Blick auf Franz Kafka und Robert Musil) . .
174
VI
Inhalt
Claudia Öhlschläger: Spielplatz, Festung, Insel. Randzonen der Geschichtsreflexion in Prosaminiaturen und Reisefeuilletons von Franz Hessel, Joseph Roth und Robert Musil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
Abhandlungen Jan Knobloch: »Meister des innerlich schwebenden Lebens«. Essayismus bei Michel de Montaigne und Robert Musil .
211
Archiv/Miszellen Karl Corino: »Herr Musil wird niemals ein ordentlicher Ingenieur«. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß als Produkt der Stuttgarter Langeweile . . . . . . . . . . . . .
236
Harald Gschwandtner: Briefwechsel Robert Musil – Richard Schaukal (1925). Text und Kommentar, mit neuen Materialien zum »Fall Bettauer« und Schaukals Essay Das freie Wirken des Schriftstellers . . . . . . . . . . . . . .
245
Internationale Robert-Musil-Gesellschaft Rosmarie Zeller: Nachruf auf Philippe Chardin (1948–2017)
270
Stefan Imhoof, Dominik Müller: Die Musil-Gedenkstätte auf dem Genfer Ehrenfriedhof »Cimetière de Plainpalais«
272
Harald Gschwandtner: »war es dort in Abwesenheit der Kurgäste sehr schön«. Robert Musil in Bad Ischl . . . .
278
Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Musil zum Vergnügen. Hg. v. Fred Lönker (Rosmarie Zeller). . . . Wolfgang Paterno: Faust und Geist (Anne Fleig) . . . . . . . . . Wolfgang Lukas, Michael Scheffel (Hg.): Textschicksale (Eva HöfflinGrether) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Manojlovic, Kerstin Putz (Hg.): Im Rausch des Schreibens (Arno Rußegger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brett Martz, Todd Cesaratto (Hg.): Robert Musil’s Intellectual Affinities (Tobias Gnüchtel) . . . . . . . . . . . . . . . . .
285 287 291 296 300
VII
Inhalt
Philipp Alexander Ostrowicz: Schreibweisen der Unschärfe (David Wachter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert M. Solis: Robert Musil in Polen (Ewa Wojno-Owczarska) . . Johanna Bücker: Das Meer und der andere Zustand (David Wachter) Anastasia Chournazidi: Literatur als Beobachtungssystem (Gunther Martens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leopold Federmair: Musils langer Schatten (Florens Schwarzwälder) Tobias Gnüchtel: Narrative Argumentation (Olav Krämer) . . . . Jürgen Kaizik: Musils Mörder (Harald Gschwandtner) . . . . . . Niklaus Largier: Zeit der Möglichkeit (Mandy Dröscher-Teille) . . . Birgit Nübel, Norbert Christian Wolf (Hg.): Robert-Musil-Handbuch (Maren Lickhardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rebekka Schnell: Natures mortes (Sabine Schneider) . . . . . . . Wilhelm Voßkamp: Emblematik der Zukunft (Clemens Peck) . . . David E. Wellbery: Das leiblich Imaginäre (Daniel Ehrmann) . . . Oliver Böni, Japhet Johnstone (Hg.): Crimes of Passion (Peter C. Pohl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alice Bolterauer: Zu den Dingen (Tobias Wilke) . . . . . . . . . Kyle Frackman: An Other Kind of Home (Wolfgang Müller-Funk) . Regina Schaunig: Robert Musils »Achillesroman« (Walter Fanta, Rosmarie Zeller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günther Fleck, Walter Feigl, Ursula Hamersky (Hg.): Robert Musil. Der Mann mit Eigenschaften (Helmut Kuzmics) . . . . . . . Massimo Salgaro (Hg.): Robert Musil in der Klagenfurter Ausgabe (Thorsten Ries) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sophie Djigo: La Raison vivante (Rosmarie Zeller) . . . . . . . .
Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger
305 308 312 314 317 320 325 331 333 338 341 346 350 354 358 360 364 366 371
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375
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
378
Redaktioneller Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglen
Harald Gschwandtner Norbert Christian Wolf
Einleitung Im Weihnachtsfeuilleton der Hamburger ZEIT dazu aufgefordert, ein biographisches ›Erweckungsmoment‹ aus dem Bereich der Kunst zu beschreiben, wählte der Theaterkritiker Peter Kümmel im Dezember 2016 Robert Musils kurzen Prosatext Das Fliegenpapier aus, der ihm, so der emphatische Untertitel des Artikels, »das Wunder des Lesens vor Augen« geführt habe.1 Im »Schatten« eines »Giganten«, des voluminösen Mann ohne Eigenschaften, habe er in der örtlichen Stadtbibliothek eine Ausgabe des Nachlaß zu Lebzeiten, »dünn und handlich«, entdeckt und gleich im ersten, nur drei Absätze umfassenden Text des Bandes mit wachsender Faszination den vorderhand nüchternen Bericht vom »Todeskampf« gewöhnlicher Fliegen gelesen: »Dass Musil das Vergehen des Lebens anhand übel beleumundeter, als lästig und ekelhaft geltender Tiere beschrieb, nahm mich für ihn ein – und für die Fliegen auch.«2 Mit Ausnahme der Novelle Die Amsel, die den Nachlaß zu Lebzeiten (1936) als vierter und letzter Teil beschließt, hat wohl kein anderer Text der Sammlung die Musil-Forschung so anhaltend beschäftigt und irritiert wie Das Fliegenpapier.3 Musils eigenwillige Beschreibung, an deren Ende die Fliegen – seltsame Vorausdeutung in der erstmals Anfang 1914 als Römischer Sommer (Aus einem Tagebuch) publizierten Prosaminiatur – nicht nur an »gestürzte Aeroplane«, sondern auch an »krepierte Pferde« erinnern (GW II, S. 477), fordert bis heute zu neuen Deutungen heraus – und offenbart ihr ästhetisches Potential erst bei der wiederholten minutiösen Lektüre: 1 2 3
Peter Kümmel: Man soll auf die Fliegen achten. Ein kleiner Text von Robert Musil führte mir das Wunder des Lesens vor Augen, in: DIE ZEIT (21. 12. 2016), Nr. 53, S. 44. Ebd. Vgl. etwa, um nur die ausgewiesenen Einzeluntersuchungen jüngeren Datums zu nennen, Alexander Honold: Auf dem Fliegenpapier. Robert Musil im Ersten Weltkrieg, in: Literatur für Leser 20 (1997), H. 4, S. 224–239; Thomas Hake: Das Fliegenpapier, in: ders.: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998, S. 17–46; Ewout van der Knaap: Musils filmischer Blick. Notsignale auf dem Fliegenpapier, in: Poetica 30 (1998), H. 1/2, S. 165–178; Heinz J. Drügh: Im Textlabor. Der deskriptive Dialog mit dem Bildmedium in Robert Musils Fliegenpapier, in: Musil-Forum 27 (2001/2002), S. 167– 188; Katharina Grätz: Die Erkenntnis des Dichters. Robert Musils Fliegenpapier als Modell seines poetischen Verfahrens, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 48 (2004), S. 206– 230; Christoph Leitgeb: Schwirren statt Schweben. Der ironische Tod österreichischer Fliegen, in: Musil anders. Neue Erkundungen eines Autors zwischen den Diskursen. Hg. v. Gunther Martens, Clemens Ruthner u. Jaak De Vos. Bern u. a. 2005, S. 111–136.
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Harald Gschwandtner, Norbert Christian Wolf
Ich kann sagen, dass ich, gebeugt übers Fliegenpapier, das Lesen so plastisch erfahren habe wie nie zuvor: Die Insekten hoben sich, während ich las, aus dem Papier, Schriftzeichen krümmten sich zu Chitinpanzern und Flügelpaaren, mein Blick hielt das Gewimmel, das dem Untergang überlassen war, am Leben. / Seitdem suche ich beim Lesen (und beim Schreiben) genau das – den Fliegenpapier-Moment. Die Sekunde, in der etwas mindestens Dreidimensionales, ein vor Widerstand und Übermut berstendes Bild, aus dem Text entsteht.4
Nicht zuletzt angesichts solcher emphatischen Lektüreerlebnisse war es längst an der Zeit, auch seitens der IRMG Robert Musils »Poetik der kleinen Form« einmal genauer in den Blick zu nehmen. Die Kategorie ›Kleiner‹ oder ›Kurzer Prosa‹ ist in den vergangenen Jahren als »Experimentalform der literarischen Moderne«,5 die sich um 1900 als »strahlkräftiges Alternativmodell zu den literarischen Großgattungen« profiliert habe,6 generell verstärkt in den Fokus der Philologie gerückt.7 Mit dem aktuellen Schwerpunkt soll das Musil-Forum dieser Entwicklung Rechnung tragen. Ein Ziel war es dabei, rezente Positionen der Kurzprosa- und Feuilleton-Forschung für die Lektüre und Interpretation der Musil’schen Texte fruchtbar zu machen, um die ästhetische »Sprengkraft«8 dieses vergleichsweise wenig erforschten Textkorpus in Musils Œuvre neu zu perspektivieren. Ein besonderes Anliegen der hier versammelten Beiträge, die auf den Vorträgen einer 2017 in Kooperation mit dem Stefan Zweig Zentrum abgehaltenen Tagung an der Paris-LodronUniversität Salzburg basieren, besteht darin, Musil mit anderen Kurzprosaund Feuilletonautorinnen und -autoren seiner Zeit (Marieluise Fleißer, Franz Kafka, Joseph Roth, Robert Walser u. a.) in Beziehung zu setzen, um sowohl die Zeittypik als auch die Spezifik seines Schreibens herauszuarbeiten. Die detaillierte Beschreibung und Diskussion der generischen Charakteristika von Musils Kurzprosa im dynamischen Gattungsgefüge der deutschsprachigen Literatur 1900–1945 bildet einen zentralen Ansatzpunkt des aktuellen Schwerpunkts. Einschlägige literaturwissenschaftliche Definitionen haben die Kurzprosa der klassischen Moderne wiederholt als »außerhalb des 4 5 6
7
8
Kümmel: Man soll auf die Fliegen achten (Anm. 1), S. 44. Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006, S. 20. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort Kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne, in: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. v. T. A., W. B. u. D. G. Tübingen 2007, S. IX – XXVII, hier S. XXI . Vgl. als eine der ersten wichtigen Stationen der Forschungsgeschichte Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1960. Tübingen 1994. – Gegenwärtig beschäftigt sich das DFG-Graduiertenkolleg »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« an der Humboldt-Universität zu Berlin in dezidiert interdisziplinärer und kulturwissenschaftlich ausgerichteter Herangehensweise mit diesem Themenfeld. Vgl. Bernhard Böschenstein: Die Sprengkraft der Miniatur. Zur Kurzprosa Robert Walsers, Kafkas, Musils, mit einer antithetischen Eröffnung zu Thomas Mann. Hildesheim u. a. 2013.
Einleitung
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Gattungskanons« stehend beschrieben;9 »in ausdrücklicher Wendung gegen die Tradition« erprobe sie – so Moritz Baßler im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft – »neue Texturen« und umfasse als »Restkategorie« literarische Formen, »die sich der Zuordnung zu definierten Genres entziehen«.10 Dirk Göttsche hat in diesem Zusammenhang als Gemeinsamkeit der »einzelnen Spielarten« der modernen Kurzprosa ausgemacht, »dass sie traditionelle Gattungsgrenzen und Literaturbegriffe unterlaufen und in Frage stellen, dass sie Merkmale anderer, vor allem älterer Gattungen experimentell in neue Schreibweisen überführen und solche (bildhaften, reflexiven, narrativen) Verfahren vielfältig modellieren und kombinieren.«11 Musil hat in der Literarischen Chronik vom August 1914 festgehalten, die im Band Geschichten versammelte Texte Robert Walsers seien »nicht geeignet«, »einer literarischen Gattung vorzustehn« (GW II, S. 1468). Auch Musils Kurzprosa selbst ist nicht ohne den distinktiven, indes oft ironischen Bezug zum etablierten System literarischer Gattungen zu denken. Indem etwa in seinen ›Tiergeschichten‹ wie Die Maus, in Kann ein Pferd lachen? oder in Die Affeninsel, »[d]as allegorisierende Modell der traditionellen Tier-Fabel [. . .] variiert und unterlaufen wird«,12 bleibt dieses dennoch ex negativo sichtbar. Gerade in der literarischen Faktur seiner Kurzprosa erweist sich Musil als gattungsästhetisch hochgradig sensibler Autor, zumal er – ähnlich wie Walser – deren »ästhetische Komplexität« nicht selten »hinter der Fassade eines simplen Sprachgestus« verbirgt.13 Zuletzt stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von ›großen‹ und ›kleinen‹ Prosaformen bei Musil, d. h. nach dem Verhältnis von augenblicksorientierter Kurzprosa und raumgreifendem Erzählen, das gleichwohl durch die charakteristische Kapitelgliederung und -gestaltung selbst stets eine innere Spannung zwischen ›großer‹ und ›kleiner‹ Textur impliziert, sowie nach der Plausibilität und Trennschärfe einer editorischen Unterteilung in »Essays«, »Feuilletons«, »Kritiken«, »Erzählungen« oder »Glossen«.14 Im Kontext von Musils fortdauernder, in Notizen und publizierten Beiträgen gleichermaßen dokumentierter poetologischer (Selbst-)Reflexion ist seine Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Autoren und Positionen aus dem Bereich der Kurzprosa von zentraler Bedeutung. Mit der bereits zitierten Sammelrezension zu Robert Walser und Franz Kafka, die 9 10 11 12 13 14
Moritz Baßler: Kurzprosa, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. hg. v. Harald Fricke. Bd. II : H–O. Berlin, New York 2007, S. 371–374, hier S. 371. Ebd., S. 371 f. Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (Anm. 5), S. 18. Arno Rußegger: Die Wirklichkeit der Vorstellung der Wirklichkeit. Bemerkungen zu Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Macht Text Geschichte. Lektüren am Rande der Akademie. Hg. v. Markus Heilmann u. Thomas Wägenbaur. Würzburg 1997, S. 95–111, hier S. 96. Althaus/Bunzel/Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume (Anm. 6), S. XVI . Zur Kritik daran zuletzt Birgit Nübel: Essays, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. B. N. u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 341–381.
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Harald Gschwandtner, Norbert Christian Wolf
1914 im Rahmen einer periodisch erscheinenden Literarischen Chronik in der Neuen Rundschau gedruckt wurde, liegt nicht nur ein prägnantes Beispiel von Musils literaturkritischer Praxis vor; die Besprechung zeigt außerdem das für diesen Autor charakteristische Zusammenspiel von kritischer Sichtung zeitgenössischer Positionen und poetologischer Standortbestimmung pro domo. Musils wiederholte Neuansätze für ein Vorwort zum Nachlaß zu Lebzeiten sind dabei auch vor dem Hintergrund früherer Anstrengungen zu verstehen, Formen pointierter Selbstreflexion zu entwickeln (z. B. in Über Robert Musil’s Bücher, 1913). Die einzelnen systematischen Beiträge des 2016 im de Gruyter Verlag erschienenen Robert-Musil-Handbuchs dokumentieren die breit gestreuten Interessensfelder des Musil’schen Schreibens und Denkens. Viele dieser Felder, etwa Architektur, Mode und Geometrie, spielen in den Texten des Nachlaß zu Lebzeiten sowie in Musils verstreut erschienener Kurzprosa eine wichtige Rolle. Auch an diesem Punkt setzen einige der vorliegenden Beiträge an, um bislang weniger intensiv beforschte Aspekte der Musil’schen Kurzprosa in konzisen Relektüren und close readings herauszuarbeiten und deren diskursive Kontexte und zeithistorische Bezugspunkte zu erhellen. Darüber hinaus gilt ein Augenmerk der Aufsätze textgenetischen und kompositorischen Fragen: Von Interesse sind dabei erstens die konkreten Entstehungsprozesse einzelner Texte, die in manchen Fällen von ersten Entwürfen in Notiz- und Arbeitsheften bis zum Druck rekonstruierbar sind (etwa anhand der Fassungen von Slowenisches Dorfbegräbnis, die sich in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus befinden). – Zweitens umfasst dieser Bereich den Nachvollzug der mehr oder weniger tiefgreifenden Überarbeitungen, die Musil bei der Zusammenstellung des Nachlaß zu Lebzeiten an den zuvor im Feuilleton gedruckten Beiträgen vorgenommen hat und die – so Klaus Zobels Beobachtung am Beispiel von Fischer an der Ostsee – in vielen Fällen »Stimmigkeit und sprachliche Prägnanz des Textes« erhöhten.15 Gudrun Brokoph-Mauch hat in diesem Zusammenhang ein »vertiefendes Interesse des Dichters an grammatikalischem Schliff« konstatiert.16 – Drittens stellt sich, jenseits des Einzeltextes, auch die Frage nach der »Komposition« des Nachlaß zu Lebzeiten, der eben nicht nur als bloße »nachträgliche Feuilletonsammlung[ ]«, sondern in seiner Struktur auch als »Ausdruck« einer »immanenten Poetologie« zu begreifen ist.17 Schon Hel15
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Klaus Zobel: Robert Musil: Fischer an der Ostsee, in: ders.: Textanalysen. Eine Einführung in die Interpretation moderner Kurzprosa. Paderborn u. a. 21990, S. 225–232, hier S. 229. Dazu etwa am Beispiel von Die Maus Walter Weiss: Musils Sprachstil – an einem Beispiel seiner Kurzprosa – mit Ausblick auf eine Sprachstilgeschichte, in: Grammatik, Wortschatz und Bauformen der Poesie in der stilistischen Analyse ausgewählter Texte. Hg. u. neu bearb. v. Hans Wellmann. Heidelberg 1998, S. 37–49. Gudrun Brokoph-Mauch: Robert Musils Nachlass zu Lebzeiten. New York u. a. 1985, S. 237. Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (Anm. 5), S. 79.
Einleitung
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mut Arntzen hat in seinem Musil-Kommentar von 1980 auf die »bewußte Strukturierung des Buches« hingewiesen, der man »nicht gerecht« werde, »wenn man es als Zufallssammlung von Gelegenheitsarbeiten betrachtete«.18 Gerade die »Beziehungs- und Spiegelungsverhältnisse«,19 in die die Einzeltexte durch die Architektur des Nachlaß zu Lebzeiten treten, sind von besonderer Relevanz für die Beschreibung und Analyse der – mit Ausnahme der Rede Über die Dummheit (1937) – letzten eigenständigen Buchpublikation Musils. Schließlich nehmen zahlreiche Beiträge des Schwerpunkts auch eine mediengeschichtliche Dimension kurzer Prosa in den Blick, indem sie nicht nur die Überarbeitung vom Erstdruck in Tageszeitungen, Zeitschriften oder Almanachen zur späteren Buchfassung, sondern auch den ursprünglichen »publizistischen Ort«20 selbst ins Zentrum des Interesses stellen. Das Feuilleton als Musil’sches Publikationsmedium und das ästhetisch-intellektuelle Profil Musils als Feuilletonist werden im Zuge dessen stärker als bisher akzentuiert.21 In der »Vorbemerkung« zum Nachlaß zu Lebzeiten hat der Autor nachdrücklich betont, gerade die »Unfreundlichen Betrachtungen« und die »Geschichten, die keine sind« trügen »die Zeit ihrer Entstehung sichtbar an sich«; »denn sie sind für Zeitungen geschrieben worden, mit ihrem unaufmerksamen, ungleichen, dämmerig-großen Leserkreis, und hätten ohne Frage anders ausgesehen, wenn ich sie, so wie meine Bücher, für mich allein und für meine Freunde geschrieben hätte.« (GW II, S. 474) Damit stellt sich, zumal im Kontext eines ›feuilletonistischen Zeitalters‹,22 erneut die Frage nach dem Verhältnis von monumentaler, gleichwohl fragmentarischer Romanform und sprachlich verdichteter, zunächst ›unter dem Strich‹ erschienener Miniatur. Den Mitte der 1930er Jahre angesichts der für ihn besorgniserregenden Zeitläufte problematischen Status einer Sammlung von kurzen Prosatexten, erzählerischen Miniaturen und pointierten Feuilletons, die zu großen Teilen im Laufe der 1920er Jahre erschienen waren, hat Musil in der »Vorbemerkung« des Nachlaß zu Lebzeiten selbst hellsichtig und mit dem ihm eigenen Witz beschrieben: 18 19 20 21
22
Helmut Arntzen: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1980, S. 142. Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (Anm. 5), S. 23. Baßler: Kurzprosa (Anm. 9), S. 373. Vgl. zuletzt die Ansätze von Dominik Müller: Robert Musil, Joseph Roth und das Feuilleton. Nachlaß zu Lebzeiten: Von der Zeitung zum Buch, in: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 239–254; ders.: Feuilletons und kleine Prosa, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 14), S. 396–414. – Als ertragreiche Kontextualisierung Peter Utz: »Sichgehenlassen« unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons, in: Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Hg. v. Kai Kauffmann u. Erhard Schütz. Berlin 2000, S. 142–162. Vgl. Erhard Schütz: »Du brauchst bloß in die Zeitung hineinzusehen«. Der große Roman im »feuilletonistischen Zeitalter«. Robert Musils Mann ohne Eigenschaften im Kontext, in: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 7 (1997), H. 2, S. 278–291.
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Harald Gschwandtner, Norbert Christian Wolf
Inmitten einer donnernden und ächzenden Welt bloß kleine Geschichten und Betrachtungen herauszugeben; von Nebensachen zu reden, wo es so viele Hauptsachen gibt; seinen Ärger an Erscheinungen zu haben, die weit vom Schuß zurückliegen: ohne Zweifel, es mag manchem als Schwäche erscheinen, und ich will gern gestehn, daß auch mir der Entschluß zur Herausgabe allerhand Sorgen bereitet hat. Aber erstens hat immer schon ein gewisser Größenunterschied zwischen dem Gewicht dichterischer Äußerungen und dem Gewicht der unberührt von ihnen durch den Weltraum rasenden zweitausendsiebenhundert Millionen Kubikmeter Erde bestanden und mußte irgendwie in Kauf genommen werden. Zweitens darf ich mich vielleicht auf meine Hauptarbeiten berufen, denen es an den zusammenziehenden Kräften, die man hier vermissen könnte, am wenigstens fehlen dürfte; die weiterzuführen, aber gerade eine solche Zwischenveröffentlichung verlangte. Und schließlich: als mir dieses Buch vorgeschlagen wurde und die Teilchen, aus denen es zusammengesetzt werden sollte, wieder vor mir lagen, glaubte ich zu bemerken, daß sie doch eigentlich zeitbeständiger gewesen seien, als ich befürchtet hatte. (GW II, S. 473 f.)
Musils finanzielle Erwartungen in diese »Zwischenveröffentlichung« einer Auswahl seiner Feuilletons und anderer Zeitungstexte haben sich bekanntlich nicht erfüllt,23 während ihr literarischer Rang mittlerweile unbestritten ist. Die besonderen (literatur)historischen, politischen und medialen Bedingungen, Implikationen sowie textuellen Ausdrucksformen von Musils kurzer Prosa werden im hier vorgelegten Schwerpunkt des Musil-Forums anhand von exemplarischen Einzeluntersuchungen genauer beleuchtet, wobei auch die von Musil selbst beschworene »Zeitbeständigkeit« (GW II, S. 474) der behandelten Texte augenfällig wird.
23
Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1218–1220.
Dirk Göttsche*
Realismus und Moderne in der Kleinen Prosa von Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten Abstract: This study proposes a new approach to Robert Musil’s engagement with the tradition of (German) Realism. It shifts the focus from his novellas and his novel Der Mann ohne Eigenschaften to the short prose of his Nachlaß zu Lebzeiten (1936) while also developing a conceptual framework for the analysis of (legacies of) »Realism in Modernism«. In the first part of the essay a critical review of the 1970/80s debate about Musil’s realism paves the way for a reassessment of the relationship between Realism and Modernism in German literature in general and in Musil’s work in particular. The second part discusses Musil’s Nachlaß zu Lebzeiten as an example of the function of elements of Realism in modernist short prose while also suggesting a rereading of the history of literary Realism from the perspective of the 19th century prose sketch and recent research in comparative literature.
Bei der Frage nach Robert Musils Verhältnis zur Tradition des deutschen und europäischen Realismus stößt man zunächst auf einen widersprüchlichen Befund. Trotz der neuen Konjunktur der Realismusforschung seit den 1990er Jahren,1 die sich insbesondere auch für das Verhältnis von Realismus und Moderne interessiert, scheint das Thema in der Musil-Forschung heute keinen Ort zu haben. Das große und so hilfreiche Robert-Musil-Handbuch enthält keinen einschlägigen Artikel und liefert auch kaum Anknüpfungspunkte für Musils Verhältnis zu den Hauptvertretern des Realismus im 19. Jahrhundert.2 Die lebhafte Diskussion der 1970er und frühen 1980er Jahre über Musils Realismus, in der z. B. Rosmarie Zeller immerhin behauptet hatte, Musil habe sich »mit keinem anderen Verfahren so sehr auseinandergesetzt wie mit dem realistischen«,3 scheint Geschichte zu sein.4 Allerdings hat Norbert Chris* 1 2
3 4
ORCID: 0000-0002-7196-5163 Vgl. die Forschungsüberblicke in den in Anm. 34 genannten Handbüchern sowie einführend weiterhin: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Hg. v. Christian Begemann. Darmstadt 2007. Vgl. Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016. Das Handbuch widmet Musils Verhältnis zu vorangegangenen literarischen Epochen oder Strömungen keine eigenen Artikel, und die wenigen Registereinträge zu VertreterInnen des deutschen und europäischen Realismus im 19. Jahrhundert bieten – bis auf Flaubert – wenig Anschlusspunkte für die Realismusfrage. Rosmarie Zeller: Musils Auseinandersetzung mit der realistischen Schreibweise, in: MusilForum 6 (1980), S. 128–144, hier S. 128. So auch Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011, S. 21 f.
8
Dirk Göttsche
tian Wolf diese Debatte in einer »Nachlese« 2007 wieder aufgegriffen und auf eine neue Grundlage gestellt,5 und es finden sich in der neueren MusilForschung diverse Zuordnungen seiner Schreibweise und seines Literaturverständnisses zu unterschiedlichen Realismusbegriffen. Um einige Beispiele herauszugreifen: Thomas Hake sieht in den »Bildern« des Nachlaß zu Lebzeiten einen »nicht-veristischen Realismus« am Werk, der »realistisch[e] Erzählmuster [. . .] durch die integrierten Vergleiche und Metaphern gleichsam ›umgepolt‹« habe.6 Arno Rußegger spricht für Musils Kleine Prosa in ähnlicher Argumentation von »eine[m] ›anderen‹ Realismus (sozusagen ›zweiten Grades‹)«, der – nach dem Vorbild des Films – »Realität« als »Schauspiel« begreife und vermittels literarischer Bildlichkeit auf ein neues begriffliches Wirklichkeitsverständnis ziele.7 Friedrich Wallner bringt den Mann ohne Eigenschaften aus philosophischer Perspektive mit einem »konstruktiven Realismus« epistemologischer Ausrichtung in Verbindung.8 Monika Ritzer hat mit Blick auf die Vereinigungen gezeigt, wie Musils vieldiskutierter ›AntiRealismus‹ auf die konstruktive ästhetische und ethische Auseinandersetzung mit der modernen Lebenswirklichkeit bezogen bleibt und sich darin sowohl gegen den vermeintlich naiven Realismus des 19. Jahrhunderts als auch gegen den Subjektivismus der frühen Avantgarden wendet.9 Wolf erkennt in seiner kritischen Revue der älteren Diskussion in Musils »Überwindung des Realismus« ebenfalls Anschlüsse an »das realistische Projekt«, und zwar im Sinne der »für die Moderne ›charakteristischen Spannung zwischen dem mimetischen Anspruch der Literatur und dessen Überwindung/ Infragestellung‹«.10 Kurt Krottendorfer argumentiert analog, »Musils Abneigung gegen den Realismus [des 19. Jahrhunderts; D. G.] richt[e] sich nicht gegen eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit« – diese bleibt vielmehr der Ausgangspunkt seines kritisch-utopischen Schreibens –, »sondern gegen eine sie [i. e. die Wirklichkeit] vereinfachende, verkürzende Beschrei5 6 7 8 9
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Norbert Christian Wolf: »Die reale Erklärung des realen Geschehens interessiert mich nicht«. Robert Musil und der Realismus – eine Nachlese mit Forschungsperspektiven zum Mann ohne Eigenschaften, in: Kwartalnik Neofilologiczny 54 (2007), H. 2, S. 115–135. Thomas Hake: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 2), S. 320– 334, hier S. 328, mit Bezug auf ders.: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998, S. 88. Arno Rußegger: Die Wirklichkeit der Vorstellung von Wirklichkeit. Bemerkungen zu Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Macht, Text, Geschichte. Lektüren am Rande der Akademien. Hg. v. Markus Heilmann u. Thomas Wägenbaur. Würzburg 1997, S. 96–111, hier S. 98 f. Friedrich G. Wallner: Konstruktiver Realismus – der Ausweg aus dem Chaos. Erkenntnistheoretische Reflexionen für Dichter und Schriftsteller, in: Chaosforschung in der Literaturwissenschaft. Hg. v. Roman Mikuláš u. Karin S. Wozonig. Wien u. a. 2009, S. 81–97. Monika Ritzer: Spiegelungen. Zur Relativierung von ›Realität‹ in der Kurzprosa Kafkas, Musils und Brochs, in: Kafka und die kleine Prosa der Moderne/Kafka and Short Modernist Prose. Hg. v. Manfred Engel u. Ritchie Robertson. Würzburg 2010, S. 267–291, hier S. 279– 286. Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 127.
Realismus und Moderne in der Kleinen Prosa von Musils Nachlaß zu Lebzeiten
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bung, gegen eine Literatur, die sich in der Wiederholung bekannter Muster ergeht«.11 Die Frage nach Musils Verhältnis zum literarischen Realismus ist also weiterhin relevant und führt ins Zentrum seiner modernen Poetologie – sowohl in ihrer essayistischen Ausformulierung als auch in der literarischen Praxis seines Erzählens. Das ermutigt zu dem Versuch, diese Problemstellung noch einmal neu aufzugreifen und sie im Lichte neuerer (teils komparatistischer) Realismusforschung sowie im Blick auf Grundfragen im Verhältnis von Realismus und Moderne voranzutreiben. Im Mittelpunkt der Forschungsdiskussion zu Musils Realismus haben bislang der Mann ohne Eigenschaften und die Vereinigungen gestanden, was neben fachhistorischen sicher auch gattungsgeschichtliche Gründe hat. Romane und Novellen stehen in der Realismusforschung seit langem im Vordergrund, und Musils Novellen setzen sich unweigerlich mit dieser Gattungstradition in ein Verhältnis,12 so wie sein unvollendetes Romanprojekt auf eigenständige Weise an die Synthese von panoramatischem Gesellschaftsroman und Individualroman anknüpft, die den deutschsprachigen Roman in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts geprägt hat.13 Mit seinem Nachlaß zu Lebzeiten hat Musil aber auch einen herausragenden Beitrag zur Kleinen Prosa der Moderne geleistet, also zu jenem heterogenen Feld kleiner Prosaformen, die traditionelle generische Zuordnungen gezielt unterlaufen, indem die Texte ganz unterschiedliche lyrische, bildhafte, reflexive und narrative Schreibweisen miteinander verbinden und so um und nach 1900 (im Anschluss an das europäische Prosagedicht und an deutsche Traditionen des Feuilletons und der Prosaskizze) zu einem wirkungsvollen Experimentalmedium der literarischen Moderne werden.14 Die Frage, was ›Realismus‹ im hybriden und experimentellen Gattungsfeld der Kleinen Prosa heißen kann, ist bislang allerdings weder von der Forschung zur Kleinen Prosa noch von der Realismusforschung erkundet worden. Die vorliegende Studie zum Verhältnis von Realismus und Moderne in Musils Nachlaß zu Lebzeiten ist daher zugleich ein Beitrag zu Möglichkeiten und Grenzen der Realismusforschung mit Blick auf ein scheinbar marginales Gattungsfeld. Im Folgenden soll es in einem ersten Schritt um die Forschungsdiskussion über Musils Verhältnis zum Realismus und Grundprobleme der literarhistorischen Relation von Realismus und Moderne gehen. Im zweiten Teil wende 11 12 13 14
Kurt Krottendorfer: Versuchsanordnungen. Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft in Robert Musils Drei Frauen. Wien, Köln 1995, S. 22. Vgl. Kathleen O’Connor: Robert Musil and the Tradition of the German Novelle. Riverside, CA 1992. Vgl. Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert. München 2001. Vgl. Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006; Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. v. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel u. Dirk Göttsche. Tübingen 2007.
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ich mich dann dem Nachlaß zu Lebzeiten zu, um über Realismus im Format der Kleinen Prosa nachzudenken und Ansätze zu einer neuen Analyse von Musils Aufnahme und Transformation bestimmter Elemente realistischer Poetik zu entwickeln. Auf andere Weise als Marcel Proust, James Joyce oder Hermann Broch belegt Musils Schreibweise (auch) in den kleinen Prosatexten einen Realismus in der Moderne, der in der literarischen Praxis – weniger im literaturkritischen bzw. literaturtheoretischen Diskurs der Zeit – Kontinuitäten noch in der Differenz signalisiert. Dieser Realismus in der Moderne wird insbesondere in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung oft noch nicht als interessantes Phänomen erkannt, da er geläufige Epochengrenzen unterläuft, die gleichwohl ihre Berechtigung haben. Mit Literaturen wie der englischen oder französischen, in denen die Übergänge fließender sind – man denke an Joseph Conrad, D. H. Lawrence oder Marcel Proust –, tun sich die Literaturwissenschaften da leichter.
1. Die Debatte um Musils Realismus und das Verhältnis von Realismus und Moderne Es ist im Rückblick deutlich erkennbar, dass die ältere Debatte um Musils Realismus, die Wolfgang Freese 1974 mit seinem Aufsatz Robert Musil als Realist angestoßen hat,15 an jenen produktiven Schub in der Realismusforschung der 1960/70er Jahre anschließt, für den Namen wie Fritz Martini, Richard Brinkmann, Wolfgang Preisendanz oder Hubert Ohl16 stehen und der beispielsweise in der Wilhelm-Raabe-Forschung zu einem völlig neuen, in vielem bis heute maßgeblichen Verständnis realistischen Erzählens im späteren 19. Jahrhundert geführt hat.17 Freese knüpft mit seiner Doppelkritik an Verabsolutierungen des Forschungskonsenses zu Musils ›Anti-Realismus‹ und an den marxistischen Realismusdebatten zur literarischen Moderne unmittelbar an Brinkmann an, um dann in weit ausgreifenden Werk- und Kontextanalysen zu zeigen, dass Musils sprach- und erkenntniskritische Auseinandersetzung mit der Erfahrungswelt und den Diskursen seiner Zeit als eine moderne, durch skeptischen Rationalismus geprägte Form des Realismus 15 16
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Wolfgang Freese: Musil als Realist. Ein Beitrag zur Realismus-Diskussion, in: Literatur und Kritik (1974), H. 89, S. 514–544. Vgl. u. a. Fritz Martini: Deutsche Literatur im bürgerlichen Realismus 1848–1898. [1962] Stuttgart 41981; Richard Brinkmann: Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des Neunzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1957; Wolfgang Preisendanz: Humor als Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. München 21976; Hubert Ohl: Bild und Wirklichkeit. Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes. Heidelberg 1968. Vgl. historisch: Raabe in neuer Sicht. Hg. v. Hermann Helmers. Stuttgart 1968; vgl. auf heutigem Stand: Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Dirk Göttsche, Florian Krobb u. Rolf Parr. Stuttgart 2016, v. a. S. 40–51.
Realismus und Moderne in der Kleinen Prosa von Musils Nachlaß zu Lebzeiten
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zu verstehen sei. Sein Kontrahent Ulrich Karthaus, der gegen die Realismusthese Musils analogische und poetologische »Bildersprache« und deren »utopische[n] Impetus«18 ins Feld führt, bezieht sich ebenfalls ausdrücklich auf die »Aufwertung«, »die Fontane, Keller und Raabe in den letzten Jahren in der deutschen Germanistik erfahren« hätten.19 Seiner Kritik der Realismusthese legt er dann allerdings ein stark verkürztes, von Julian Schmidt aus entwickeltes Realismusverständnis zugrunde und sucht (in einem zweiten Beitrag) überraschenderweise ausgerechnet den problematischen Verklärungsbegriff des poetischen Realismus für Musils Poetik fruchtbar zu machen.20 Die intendierte Aufwertung der Poiesis gegenüber der Mimesis21 führt darüber hinaus in einer typologischen statt literarhistorischen Entgegensetzung von Realismus und Romantik zu der steilen These, Musils utopisch-essayistisches und bildlich-konstruktivistisches Denken und Schreiben sei im Sinne von Friedrich Schlegels und Novalis’ Athenaeums-Fragmenten »romantisch«, nicht »realistisch«;22 Musil vertrete den »Typus des romantischen Poeten« und stelle sich gegen die angeblich von Descartes ausgehende Tradition des Realismus und seiner (von Karthaus behaupteten) »erkenntnistheoretischen Naivität«.23 Ein solch selektiver und in der Übertragung auf Musil anachronistischer Romantikbegriff ist für die literarhistorische Analyse jedoch ebenso untauglich wie der verkürzte und überholte Realismusbegriff. Mit seinem Rückgang auf Friedrich Gaedes Realismusbuch von 197224 bleibt Regine Fouries Wiederaufgreifen der Frage »Musil als Realist?« Anfang der 1990er Jahre trotz der stärkeren Betonung von Musils Sprach- und Erkenntnisskepsis denselben Forschungsgrundlagen verpflichtet wie die älteren Diskussionsbeiträge.25 Rosmarie Zellers vielversprechender, semiotisch und werkgeschichtlich orientierter Diskussionsbeitrag richtet den Blick dagegen auf Musils Auseinandersetzung mit dem Erbe des Realismus in der Entstehungsgeschichte seiner avancierten Poetik, wie sie sich in seinen kritischen Reaktionen auf das Missverständnis des Törleß als eines realistisch-psychologischen Romans und in der Arbeit an den Vereinigungen zeigt, in denen der Autor später seinen »Schritt vom ›Realismus zur Wahrheit‹« gesehen haben 18 19 20 21 22 23 24 25
Ulrich Karthaus: War Musil Realist?, in: Beiträge zur Musil-Kritik. Hg. v. Gudrun BrokophMauch. Frankfurt a. M. u. a. 1983, S. 13–24, hier S. 16. Ebd., S. 14. Ulrich Karthaus: Robert Musil und der poetische Realismus, in: Philologie und Kritik. Klagenfurter Vorträge zur Musilforschung. Hg. v. Wolfgang Freese. München 1981, S. 223–245. Vgl. zur Kritik Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 122. Vgl. ebd., S. 121. Karthaus: War Musil Realist? (Anm. 18), S. 18. Karthaus: Robert Musil und der poetische Realismus (Anm. 20), S. 234 u. 224. Vgl. Friedrich Gaede: Realismus von Brant bis Brecht. München 1972. Regine Fourie: Musil als Realist?, in: Musil-Forum 19/20 (1993/1994), S. 132–143; dazu Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 136.
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will.26 Wie so viele der in der Debatte zitierten Musil’schen Werkstatt-Formulierungen adaptiert diese Formel allerdings eine charakteristische Denkfigur der realistischen Literaturkritik im 19. Jahrhundert, und das gilt umso mehr für das Musil-Zitat, mit dem Zeller anschließend die Überzeugung des Autors von der spezifischen Erkenntniskraft des Ästhetischen unterstreicht: »Die Dichtung hat nicht die Aufgabe das zu schildern, was ist, sondern das was sein soll; oder das, was sein könnte, als eine Teillösung dessen, was sein soll.« (GW II, S. 970)27 Auch diese Umformulierung aristotelischer Poetik lässt sich unmittelbar auf den poetischen Realismus zurückführen, und zwar auf seine programmatische Variante nach der gescheiterten Revolution von 1848, in der realistisches Erzählen zugleich ein Programm bürgerlicher Selbstbehauptung angesichts der Reaktion war – eine bürgerlich-didaktische Spielart, der Musil zweifellos denkbar fern stand. Norbert Christian Wolf hat bereits darauf hingewiesen, dass Musil diesen Quasi-Zitaten realistischer Poetik deutliche Relativierungsgesten vorausschickt,28 die zeigen, dass er die richtige Sprache zur begrifflichen Vermittlung seines Hinausgehens über den Realismus noch nicht gefunden hatte. Problematisch ist darüber hinaus in Zellers Aufsatz die Arbeit mit einem ausdrücklich ahistorischen Realismusbegriff, der gesetzt wird, ohne ihn historisch abzuleiten, und der daher für eine literarhistorische Analyse des Verhältnisses von Realismus und Moderne nach 1900 wenig zielführend ist. Gleichwohl weist Zellers Untersuchung der Art und Weise, wie Musil sich im Nachdenken über sein literarisches Werk an Elementen realistischer Poetik abarbeitet, einen Weg zu einer Neueinschätzung seines Verhältnisses zum Realismus des 19. Jahrhunderts und dessen Erbe in der frühen Moderne. Es fehlt hier jedoch noch an jener Neuausrichtung des Realismusverständnisses, die sich im Gefolge der methodologischen Impulse von Poststrukturalismus, Systemtheorie und kulturwissenschaftlicher Wende seit den 1990er Jahren vollzogen hat. So unterschiedlich die Positionen und Ansätze im Einzelnen bleiben, so wichtig ist in unserem Zusammenhang doch die breite Anerkennung nicht nur des europäischen, sondern auch des deutschsprachigen Realismus als einer eigenständigen literarischen Antwort auf Modernisierungserfahrungen im Gefolge der »Verzeitlichung« aller Wissens- und Erfahrungsbereiche seit der »Sattelzeit« um 1800 (Koselleck).29 Damit wird der Realismus nun als ein Phänomen der europäischen Moderne im weiteren Sinne begriffen. Gerhard Plumpe und Edward McInnes haben in der Vorbemerkung ihres Bandes der Hanser-Sozialgeschichte, Bürgerlicher Realismus und Gründer26 27 28 29
Zeller: Musils Auseinandersetzung (Anm. 3), S. 137, mit Bezug auf GW II, S. 969. Vgl. ebd. Vgl. Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 123. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 19 u. passim.
Realismus und Moderne in der Kleinen Prosa von Musils Nachlaß zu Lebzeiten
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zeit 1848–1890 (1996), wesentliche Ansatzpunkte dieses neuen, epistemologisch geschärften Realismusverständnisses auf den Punkt gebracht: Anscheinend hat der Realismus des 19. Jahrhunderts eine Option geschaffen, der sich die Literatur in der modernen Gesellschaft seither zu stellen hat: das imaginative Durchspielen und Variieren von Wirklichkeitskonstruktionen, die die Gesellschaft ernsthaft beschäftigen, d. h. die Simulation von Alternativen gerade da, wo üblicherweise Unausweichlichkeit vermutet wird. [. . .] Die Literatur des Realismus im 19. Jahrhundert ist [. . .] gerade darin spezifisch modern gewesen, daß sie ihre »Realität« selbst entwarf und nicht importierte oder sich gar oktroyieren ließ [. . .].30
Naive Abbildtheorien sind damit ebenso obsolet wie ein universaler Realismusbegriff Erich Auerbach’scher Prägung31 oder das Missverständnis des deutschen Romans als provinzieller Abweichung von der Entwicklung europäischer Literatur zwischen den Jahrhundertwenden 1800 und 1900.32 Im Mittelpunkt des Interesses steht dann allerdings nicht mehr die Theorie des Realismus im 19. Jahrhundert, die bis zuletzt – und bis in den deutschsprachigen Naturalismus hinein – im Banne des philosophischen Idealismus der Goethezeit verharrte,33 sondern die literarische Praxis insbesondere der Erzählkunst, deren Darstellungs- und Reflexionsleistung über die Rahmensetzungen der je zeitgenössischen Ästhetik und Literaturkritik weit hinausreicht. Das gilt schon für die Frühformen des Realismus bei Autoren wie Wilhelm Hauff, Willibald Alexis oder Adalbert Stifter, in unserem Zusammenhang jedoch v. a. auch für den deutschen Spätrealismus bei Theodor Fontane, Wilhelm Raabe oder C. F. Meyer und natürlich für die heute kanonischen AutorInnen des europäischen Realismus wie Balzac, Tolstoi und Flaubert, für die Musil sich stärker interessiert zu haben scheint.34 Aus der Problematisierung traditioneller Literaturgeschichtsschreibung und ihrer Epochenbegriffe ergeben sich für die Realismusforschung heute darüber hinaus eine Reihe von Differenzierungen, die analog auch für die 30 31 32 33 34
Edward McInnes, Gerhard Plumpe: Vorbemerkung, in: Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848–1890. Hg. v. E. M. u. G. P. München 1996 (= Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 6), S. 7–15, hier S. 7–9. Vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. [1946] Bern, Stuttgart 81988. Vgl. exemplarisch den Sprung von der Romantik zur Moderne bei Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992. Vgl. Dirk Göttsche: Poetiken des 19. Jahrhunderts (Realismus), in: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität. Hg. v. Ralf Simon. Berlin 2018, S. 175–200. Zugänge zu diesem neuen Bild der AutorInnen des deutschen Realismus finden sich nicht zuletzt in aktuellen Handbüchern, z. B. Fontane-Handbuch. Hg. v. Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger. Stuttgart 2000; Gottfried-Keller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Ursula Amrein. Stuttgart 2016; Raabe-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Dirk Göttsche, Florian Krobb u. Rolf Parr. Stuttgart 2016; Stifter-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Christian Begemann u. Davide Giuriato. Stuttgart 2017; Storm-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Christian Demandt u. Philipp Theisohn. Stuttgart 2017.
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literarische Moderne relevant und daher für eine Neubewertung von Musils Verhältnis zu Traditionen des Realismus von methodologischer Bedeutung sind: 1. Literaturtheorie bzw. Literaturkritik und literarische Praxis operieren trotz aller ersichtlichen Bezüge in unterschiedlichen Diskurszusammenhängen, wie sich in der Literaturpolitik des programmatischen Realismus der 1850/60er Jahre einerseits und im Theorieverzicht der deutschen Spätrealisten andererseits besonders deutlich zeigt. Musils gelegentliches Spiel mit Denkfiguren der Realismustheorie ist in unserem Zusammenhang ein interessanter Aspekt seiner Werkstattreflexionen, besagt jedoch wenig über Bezüge seiner Erzählverfahren zu avancierten Formen realistischen Erzählens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. 2. Trotz der erstaunlichen Kontinuität des »Literatursystem[s] des Realismus«35 von den 1840er bis zu den 1890er Jahren ist die Geschichte des deutschen literarischen Realismus zwischen seinen Anfängen in der frühen Restaurationsepoche und der Gleichzeitigkeit mit der anbrechenden Moderne um 1900 von durchaus unterschiedlichen Phasen und innerhalb dieser Phasen von konkurrierenden Ansätzen geprägt, die nach literarhistorischen Differenzierungen verlangen. Analoges gilt bekanntlich für die literarische Moderne, deren Zusammenhang die Forschung aus der Vielzahl der teils sukzessiven, teils gleichzeitigen Strömungen erst hat extrapolieren müssen.36 Für den Nachlaß zu Lebzeiten ist eine solche Historisierung besonders relevant, da einige der Einzeltexte bekanntlich im Kontext der frühen Moderne um 1900 vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, dann aber für die Buchausgabe 1936 überarbeitet und mit neueren Texten kompiliert wurden, zu einem Zeitpunkt also, als sowohl der Realismus des 19. Jahrhunderts als auch die frühen Avantgarden bereits historisch geworden waren.37 3. Erst in jüngster Zeit hat die Forschung erkannt, in welchem Maße Elemente romantischer Poetik und romantischer Erzählverfahren in 35 36
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Marianne Wünsch: Das Literatursystem des Realismus (1850–1890), in: dies.: Realismus (1850– 1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Mit Beiträgen v. Jan-Oliver Decker u. a. Kiel 2007, S. 93–359. Vgl. die Anfänge dieser Syntheseanstrengung bei Wolfdietrich Rasch: Aspekte der deutschen Literatur um 1900, in: ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1967, S. 1–48; vgl. in jüngerer Zeit die Diskussion und Handhabung dieses Problems in den entsprechenden Bänden der von Helmut de Boor und Richard Newald begründeten Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart: Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. München 1998, v. a. S. 122; ders.: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004; Helmuth Kiesel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918– 1933. München 2017. Beide Autoren allerdings vermeiden die Verwendung von Stilbegriffen und orientieren sich stattdessen an der Gattungsgeschichte, wobei Kleine Prosa als zentrales Gattungsfeld der literarischen Moderne nicht erkennbar wird. Vgl. Ritzer: Spiegelungen (Anm. 9), S. 280.
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Theorie und Praxis des bürgerlichen bzw. poetischen Realismus im 19. Jahrhundert fortleben, und zwar nicht (oder nicht nur) als Fortschreibung literarischer Moden – das gibt es natürlich auch – oder zum Zweck der Abgrenzung (wie in Gustav Freytags Programmroman Soll und Haben), sondern in poetologisch zentralen Funktionen, z. B. in der Ausgestaltung des Verklärungsanspruchs, in den verstörenden Binnenerzählungen realistischer Rahmennovellen, in der Gestaltung bürgerlicher Subjektproblematik oder in der Kritik herrschender Wissensdiskurse und Epistemologien – Storms, Kellers, Raabes und Fontanes Werke liefern dafür zahlreiche Belege.38 Die Einsicht in die Romantik im Realismus wirft daher für die nächste Epochenschwelle die analoge Frage nach einem Realismus in der Moderne auf. Die Frage nach Elementen realistischer Poetik im Werk von Autoren der Klassischen Moderne wie Musil darf sich also von dem modernistischen Aufbruchspathos um 1900 und den entsprechenden literaturpolitischen Abgrenzungsgesten nicht irritieren lassen. Hilfreich ist zunächst die heuristische Unterscheidung unterschiedlicher Nachgeschichten des Realismus in der Literatur zwischen 1890 und 1945: Es gibt zweifellos in der Unterhaltungsliteratur – etwa im Kolonialroman oder im historischen Roman der Zeit – einen fortlaufenden Realismus neben der Moderne, dessen anhaltende Resonanz im literarischen Markt Musil in der Rezeption seines Törleß erlebt hat.39 Dieses Textkorpus kommt heute zwar gelegentlich in thematisch-kulturwissenschaftlichen Perspektiven in den Blick, ist realismusgeschichtlich aber ebenso wenig vermessen wie die weiterführende Frage der Historizität realistischer Erzählverfahren in der populären Belletristik des 20. und 21. Jahrhunderts. Im Vordergrund der Forschung stehen stattdessen die unterschiedlichen Spielarten eines Realismus nach der Moderne, wie er sich in der Neuen Sachlichkeit, in Brechts Werk oder im Sozialistischen Realismus findet.40 Da handelt es sich um realistische Literaturprogramme, die poetologisch auf neue politische, sozial-, kultur- und mediengeschichtliche Herausforderungen der Industriegesellschaft und darin zugleich auf ästhetische Innovationen und epistemologische Differenzierungen der frühen Moderne 38 39 40
Vgl. Realism and Romanticism in German Literature/Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Dirk Göttsche u. Nicholas Saul. Bielefeld 2013. Vgl. zur Rezeption des Törleß zusammenfassend Dorothee Kimmich: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 2), S. 102–112, hier S. 103 f. Vgl. z. B. Fredric Jameson: The Antinomies of Realism. London 2013, S. 163, der von »Realism after Realism« spricht; Steve Giles: Realism after Modernism. Representation and Modernity in Brecht, Lukács and Adorno, in: Aesthetics and Modernity from Schiller to the Frankfurt School. Hg. v. Jerome Carroll, Steve Giles u. Maike Oergel. Oxford, Bern 2012, S. 275–296; Devin Fore: Realism after Modernism. The Rehumanization of Art and Literature. Cambridge, MA 2015; Realismus nach den europäischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit. Hg. v. Claudia Öhlschläger, Lucia Perrona Capano u. Vittoria Borsò. Bielefeld 2012.
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reagieren. Die These eines Realismus in der Moderne richtet sich dagegen auf Spuren und Umfunktionalisierungen von Elementen realistischen Erzählens im Werk von Autoren, die – wie Musil – in diesen Jahrzehnten das Projekt der literarischen Moderne vorantreiben, dessen Ausgangspunkt um 1900 der Bruch mit der Epistemologie und Poetik des 19. Jahrhunderts war. ›Realismus in der Moderne‹ meint also keine Spielart des Realismus als literarische Richtung, sondern einen Aspekt der literarischen Moderne. In seiner kritischen Revue der älteren Diskussion zu Musils Realismus hat Wolf hier bereits entscheidende Markierungen gesetzt: Musils »Überwindung des Realismus« sei »nicht mit einem vollkommenen Verzicht auf das realistische Projekt gleichzusetzen«, sondern durch das »scheinbar paradoxe Programm« einer »Integration nicht-rationaler (bildlicher, mystischer etc.) Redeweisen und essayistischer Schreibverfahren in eine durchaus noch als realistisch zu bezeichnende erzählerische Grundhaltung« geprägt, die am »programmatischen Erkenntnisanspruch« und der »kritisch-rationale[n] und empirische[n] Einstellung« des Realismus festhalte.41 Nun erinnert die aus einer Tagungsausschreibung übernommene Formel des »realistischen Paradoxons« für diese Form moderner Realismusverarbeitung an Fredric Jamesons These, der europäische Realismus seit dem 19. Jahrhundert sei durch konstitutive Antinomien definiert, durch die paradoxe Gleichwertigkeit von Gegensätzen wie Erzählen und Beschreiben, narrative Chronologie und ekphrastische Gleichzeitigkeit, Handlungslogik und Affekt, ohne deren unendliche Dialektik realistisches Erzählen sein charakteristisches Profil verlöre.42 Es ist daher vielleicht gar nicht so überraschend, dass manche der von Wolf angeführten Beispiele für Punkte, an denen Musil über den Realismus hinausgeht, sich in anderer Gestalt doch auch schon im Spätrealismus finden. Die »metafiktionale Reflexion des Erzählers, in der [Musil] sich [im Mann ohne Eigenschaften] explizit von der realistischen Mimesis-Tradition abgrenz[e]«,43 ist, wenngleich natürlich in anderer Diktion, z. B. geradezu ein Markenzeichen Wilhelm Raabes und seines diskursiven und selbstreflexiven Erzählens, das gegen naive Mimesiserwartungen von Anfang an die Perspektivität und Konstruiertheit aller Wirklichkeitsentwürfe und Wertungen ausstellt. Musils »Überblendung unterschiedlicher Erzählebenen und Erzählperspektiven«44 entsprechen bei Fontane die Polyphonie seines dialogischen Erzählens, bei Raabe epistemologisch begründete Polyperspektivität und die kontrapunktische Gegeneinanderführung gegensätzlicher Perspektiven und Erzählerstimmen. Es finden sich bei Raabe z. B. auch extensive Intertextualität, Ironie und Ansätze zu einer »experimentelle[n] Er41 42 43 44
Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 127. Jameson: The Antinomies of Realism (Anm. 40), v. a. S. 6–11. Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 129. Ebd., S. 133.
Realismus und Moderne in der Kleinen Prosa von Musils Nachlaß zu Lebzeiten
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zählhaltung«,45 etwa in Drei Federn oder Altershausen. Und dennoch kann ja kein Zweifel bestehen, dass zwischen Raabes Erzählen und jenem Musils Welten liegen. Dass es bei Raabe, Fontane, Keller oder dem späten Spielhagen keine moderne Montage, kein »radikale[s] Aufbrechen der ›linearen‹ Erzählordnung«, keine Flaubert’sche »impassibilité« gibt,46 das sind einige der stilistischen Indikatoren der poetologischen Differenz, hinter der wissensund kulturgeschichtlich jene »gewaltige Umwälzung« steht, »welche der moderne Geist« einem programmatischen Aufsatz in der Modernen Rundschau von 1891 zufolge »in unserer ganzen Anschauungswelt hervorgerufen« hat.47 Damit sind wir bei der schon lange und kontrovers diskutierten Frage nach Übergängen zwischen dem Spätrealismus und der gleichzeitig ansetzenden Moderne im deutschsprachigen Raum. Da Modernität immer auch (und immer noch) ein Distinktionsmerkmal ist, während der Realismus des 19. Jahrhunderts oft fälschlich als verstaubt gilt – Musil oder noch Ingeborg Bachmann wäre angesichts des Raabe-Bildes ihrer Zeit wohl kaum eingefallen, ernsthaft dessen Werke zu lesen –, gibt es einerseits die Tendenz, Ansatzpunkte der literarischen Moderne chronologisch zurückzuverlegen und bereits im Vormärz, bei Büchner oder Stifter, oder im Spätrealismus, bei Fontane oder Raabe, zu entdecken.48 Andererseits aber hat die Einzelforschung deutlich gemacht, dass die Autoren des Spätrealismus sich zwar durchaus an die Problemstellungen der anbrechenden Moderne annähern, im Einzelfall (wie bei Spielhagen, Fontane und Raabe) sogar literarisch auf Texte der literarischen Moderne reagieren, in ihren literarischen Modellbildungen und Erzählverfahren aber gleichwohl den Paradigmen des 19. Jahrhunderts verpflichtet bleiben.49 Raabes letzter Text Altershausen (1902) blieb nicht zuletzt deshalb Fragment, weil es dem »Schriftsteller a. D.«, wie er sich im Alter nannte, nicht gelang, seinem Schreibprogramm noch einmal jene neue 45 46 47 48
49
Ebd. Ebd., S. 133 u. 131. Zit. nach: Gotthart Wunberg: Einleitung, in: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hg. v. G. W. unter Mitarbeit v. Johannes J. Braakenburg. Stuttgart 1981, S. 11–79, hier S. 23. Zur Diskussion dieser Frage bei den genannten Autoren vgl. Sabine Schneider: Epochenzugehörigkeit und Werkentwicklung, in: Stifter-Handbuch (Anm. 34), S. 196–205, hier S. 196 f., mit besonderem Bezug auf Christian Begemann: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart, Weimar 1995; Gerhard Oberlin: Der Wahnsinn der Vernunft. Georg Büchners Lenz: Die Krise des Subjekts in der Moderne. Ein literaturwissenschaftlicher Essay. Würzburg 2014; Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Hg. v. Ursula Amrein u. Regine Dieterle. Berlin, New York 2008; Michael Scheffel: Die Literaturkritik im 20. Jahrhundert und der aktuelle Forschungsstand, in: Fontane-Handbuch (Anm. 34), S. 927–964, hier S. 955; Dirk Göttsche, Florian Krobb, Rolf Parr: Wissenschaftliche Rezeption, in: Raabe-Handbuch (Anm. 34), S. 40–51, hier S. 46 f. Vgl. Isabel Nottinger: Fontanes Fin de Siècle. Motive der Dekadenz in L’Adultera, Cécile und Der Stechlin. Würzburg 2003; zu Spielhagen Dirk Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik im Werk Wilhelm Raabes. Würzburg 2000, S. 170 f.; Marianne Wünsch: Moderne, in: RaabeHandbuch (Anm. 34), S. 366–369.
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Dirk Göttsche
Wendung zu geben, nach der die epistemischen und erzählerischen Brüche der Eröffnungssequenz eigentlich verlangten.50 In systemtheoretischer Ausrichtung hat Moritz Baßler daher davon gesprochen, die AutorInnen des Realismus führten »das eigene programmatische Modell« – nämlich den aporetischen Versuch, »Realismus und Verklärung«, »Metonymisierung« und »Symbolisierung« miteinander zu vereinbaren – »ohne strukturale Lösung, aber durchaus mit literarischem Gewinn [. . .] immer wieder gegen die Wand, die undurchdringlich zwischen Poetischem Realismus und literarischer Moderne steht. So etwas wie Übergänge finden sich nicht«51 – d. h. nicht bei den Autoren des Realismus selbst. Zumeist thematisch-motivisch ausgerichtete Vergleichsanalysen z. B. zu Robert Walser und Raabe, zu realistischer und moderner Traumdichtung um 1900, oder zur Auseinandersetzung spätrealistischer Autoren mit der Décadence haben immer wieder den Abstand gezeigt, der die Werke der frühen Moderne von entsprechenden Werken des Spätrealismus trennt.52 Baßler hat mit seinem verfahrensgeschichtlichen Ansatz allerdings auch ein neues Phasenmodell für die Nachgeschichte des Realismus zwischen den 1890er und 1930er Jahren entwickelt, in dem die fortdauernde Präsenz »realistische[r] Prämissen [. . .] um 1900« mit dem Aufbruch der Moderne vermittelt wird: Auf das »semiotische Modell des Poetischen Realismus« folgt demnach zwischen 1890 und 1910 (bei so unterschiedlichen Autoren wie Hermann Sudermann, Paul Scheerbart, Heinrich und Thomas Mann, Arthur Schnitzler sowie im Kontext von Naturalismus und Décadence) die Verselbständigung je unterschiedlicher Elemente realistischen Erzählens in experimentelle, »personale Routines«, die im dritten Schritt nach 1910 von den Texturen der emphatischen Moderne überholt würden, bevor sich »nach 1920 [. . .] wieder realistische Erzählverfahren durch[setzten]«.53 Auch wenn man dem semiotischen Ansatz nicht in allen Punkten folgen möchte, ist damit ein Weg zur literarhistorischen Rekonstruktion des Realismus in der Moderne gewiesen. Für Musil unterscheidet Baßler allerdings schärfer als plausibel zwischen den »emphatisch modernen Texten« (wie den Vereinigungen und dem Nachlaß zu Lebzeiten) und dem Mann ohne Eigenschaften, den er der Neuen Sachlichkeit 50 51 52
53
Vgl. Göttsche: Zeitreflexion und Zeitkritik (Anm. 49), S. 153–171. Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin 2015, S. 89 u. 56. Vgl. z. B. Florian Krobb: »kurios anders«. Dekadenzmotive in Wilhelm Raabes Die Akten des Vogelsangs, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2010), S. 107–123; Peter Sprengel: »Der gute Tag«. Raabes Traumdichtung im Kontext ihrer Epoche, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft (2013), S. 73–93; Lucas Marco Gisi: Barbaren, Kinder und Idioten. Von Wilhelm Raabes Abu Telfan und Altershausen zu Robert Walsers Jakob von Gunten, in: Jahrbuch der RaabeGesellschaft (2014), S. 103–125. Moritz Baßler: Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne, in: Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Hg. v. M. B. Berlin, Boston 2013, S. 3–21, hier S. 20 f.
Realismus und Moderne in der Kleinen Prosa von Musils Nachlaß zu Lebzeiten
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zuordnet und damit in der Tradition des Realismus sieht, nicht zuletzt weil der Roman in der »paradox-poetologische[n]« ›Verschränkung‹ von »Objektund Metasprache«, »Diegese und Bedeutungsebene« genau das zentrale »Problem modernen realistischen Erzählens« zum »Inhalt des Romans« mache.54 Wir wären dann bei jenem Realismus »zweiten Grades«, den Arno Rußegger auch in der Bildersprache des Nachlaß zu Lebzeiten erkennt.55
2. Realismus in der Moderne in der Kleinen Prosa des Nachlaß zu Lebzeiten In seiner »Vorbemerkung« hat Musil seine Sammlung »kleine[r] Geschichten und Betrachtungen« (GW II, S. 473) u. a. mit dem Hinweis auf die Erkenntniskraft eines Blicks gerechtfertigt, der »an kleinen Zügen, wo es sich unachtsam darbietet, das menschliche Leben beobachtet und sich den ›wartenden‹ Gefühlen überläßt, die [. . .] scheinbar ›nichts zu sagen haben‹ und sich harmlos in dem ausdrücken, was wir tun und womit wir uns umgeben« (GW II, S. 474). Auf die Abteilung der »Bilder« in der Sammlung bezogen ist dies auf einer Ebene das Programm einer realistischen Aisthesis, die in der geduldigen Beobachtung des Alltäglichen und Nebensächlichen das Wesentliche und Interessante zu entdecken sucht. Man erkennt in moderner Radikalisierung Grundzüge jener realistischen Poetik wieder, die Stifter in der Vorrede seiner Bunten Steine entwickelt hat, indem er dort seine Aufmerksamkeit auf »das Kleine« und Alltägliche richtete, das in Wahrheit »groß« sei und der »Beobachtung« Einblick in den »Zusammenhang« der Dinge gebe.56 Natürlich gibt es im Kontext der Moderne kein »sanfte[s] Gesetz«57 mehr, so befremdlich dieses Gesetz in Stifters Welt mit ihren geologischen Zeitkategorien auch bereits ist. Zugleich aber verweist der Topos der Beobachtung des Unscheinbaren in Verbindung mit einer Poetik literarischer »Bilder« auf ein zentrales Moment in der Kleinen Prosa der frühen Moderne: die Rolle von Beobachtung und Wahrnehmung als visuellem Brennpunkt einer neuen Epistemologie und Poetik, wie sie sich schon den Titeln nach in Peter Altenbergs Sammlung Wie ich es sehe (1896) oder Franz Kafkas Betrachtung (1912) zeigt. Hierin schließt die Kleine Prosa der Moderne – und mit ihr Musils Nachlaß zu Lebzeiten – unmittelbar an die Tradition der Prosaskizze seit dem frühen 19. Jahrhundert an,58 die – und das hat die Literaturgeschichts54 55 56 57 58
Baßler: Deutsche Erzählprosa (Anm. 51), S. 338. Rußegger: Die Wirklichkeit der Vorstellung von Wirklichkeit (Anm. 7), S. 99. Adalbert Stifter: Bunte Steine und Erzählungen. Mit einem Nachwort v. Fritz Krökel u. Anmerkungen v. Karl Pörnbacher. München 1979, S. 7 f. Ebd., S. 10. Vgl. Martina Lauster: Sketches of the Nineteenth Century. European Journalism and its Physiologies, 1830–50. Basingstoke 2007; Dirk Göttsche: Epistemology, Poetics and Time
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Dirk Göttsche
schreibung noch nicht deutlich genug herausgestellt – durch ihren neuen, unverstellten und doch zugleich kondensierenden Blick auf moderne wie traditionale Lebenswelten in der englischen, französischen und deutschen Literatur sowohl als realistische Wahrnehmungsschule, mithin als Katalysator des Realismus, fungiert als auch herkömmliche Sehgewohnheiten und epistemische Ordnungen in Frage stellt und dadurch die literarische Moderne vorbereitet. Eingebettet in die breitere Konjunktur der Bildprosa im 19. Jahrhundert59 und die entsprechenden mediengeschichtlichen Umbrüche (v. a. das Wachstum des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens und ihrer Leserschaft) führt eine Linie realistischen Schreibens, die Erzählen und bildhaftes Beschreiben verbindet (wenn auch anders als von Jameson für den Roman konzipiert), von den physiologischen Skizzen des Vormärz über die Feuilletons der zweiten Jahrhunderthälfte in die Kleine Prosa der Moderne. Diese Linie stiftet verborgene Verbindungen zwischen Realismus und Moderne, die durch die Tatsache verdeckt werden, dass die kanonischen Autoren des deutschen Realismus sich im Feld der Kleinen Prosa keinen Namen gemacht haben. Mit anderen Worten, eine gründliche Neuvermessung des Realismus in seinen Entwicklungssträngen im 19. Jahrhundert verändert auch den Blick auf das Verhältnis von Realismustradition und Moderne nach 1900.60 Damit ist auch bereits eine Teilantwort auf die m. W. in der Forschung noch nicht geklärte Frage gegeben, in welchem Sinne in dem hybriden Feld der Kleinen Prosa mit ihren autorspezifischen Verbindungen von lyrischen, narrativen, reflexiven, essayistischen, ekphrastischen usw. Schreibweisen sinnvoll von Realismus die Rede sein kann, da sich Theorie und Forschung zum Realismus ja überwiegend auf Erzählliteratur und Drama konzentrieren, bzw. – im Dialog mit der Kunstgeschichte – auf die bildende Kunst, während es an Forschung zum Realismus in der Lyrik (im Unterschied zur epochengeschichtlichen Frage nach der Lyrik im Zeitalter des Realismus) oder gar in essayistischem oder aphoristischem Schreiben fehlt. Sieht man von den »Unfreundlichen Betrachtungen« ab, sind die Stücke des Nachlaß zu Lebzeiten jedoch weithin von Erzählen und Beschreiben bestimmt, wobei die »Bilder« unmittelbar an die genannte Tradition der Prosaskizze anschließen, während die »Geschichten, die keine sind« der charakteristischen experimentellen Minimalisierung des Erzählens folgen, die von den
59 60
in Modernist Short Prose around 1900, in: Time in German Literature and Culture, 1900–2015. Between Acceleration and Slowness. Hg. v. Anne Fuchs u. Jonathan J. Long. Basingstoke 2016, S. 71–92. Vgl. Darstellungsoptik. Bild-Erfassung und Bilderfülle in der Prosa des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Thomas Althaus. Bielefeld 2018. Der vorliegende Beitrag entstand im Zusammenhang des vom Leverhulme Trust geförderten Netzwerk-Projekts »Landscapes of Realism: Rethinking Literary Realism(s) in Global Comparative Perspective« (2016–2018), das auf einen Band in der ICLA-Reihe »Comparative History of Literatures in European Languages« (Verlag: John Benjamins) zielt.
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Kalendergeschichten der Restaurationszeit über Altenbergs Prosagedichte und Doderers Kürzestgeschichten bis zur Twitterprosa der Gegenwart eine weitere Grundlinie Kleiner Prosa ausmacht. Zugleich dürfen Musils Einteilungen nicht allzu wörtlich genommen werden, denn die Stücke der einzelnen Abteilungen rücken jeweils lediglich bestimmte der gemeinsamen Stilzüge in den Vordergrund. In einem letzten Schritt sollen nun die vier Teile des Nachlaß zu Lebzeiten anhand weniger Beispiele hinsichtlich ihrer Verarbeitung von Elementen und Traditionen realistischen Schreibens untersucht werden. In der Gruppe der »Bilder« fällt zunächst auf, dass einige der in der Forschung weniger diskutierten Prosaskizzen (wie Sarkophagdeckel und Hellhörigkeit), in denen Musils Bildsprache nicht so ausgeprägt ist, unmittelbar an die Skizzentradition des 19. Jahrhunderts anschließen und stilistisch gar nicht so weit entfernt sind etwa von den Wiener Zeitbildern (1897) des österreichischen Realisten Eduard Pötzl.61 Sarkophagdeckel (GW II, S. 485 f.) ist als Reiseskizze aus der Villa Borghese bei Rom angelegt und wendet die bildliche Feier der Ehe auf der beschriebenen Grabkunst in gattungstypisch emblematischer Weise ins Sinnbildliche. Hellhörigkeit (GW II, S. 490) hat die Form einer verdichteten autobiographischen Aufzeichnung über das gesteigerte Hörvermögen eines fiebrig Erkälteten, der das Leben seiner Partnerin aus dessen akustischen Spuren imaginiert. Die skizzentypische rahmende Wiederholung des Fiebermotivs unterstreicht das poetologische Thema der Wahrnehmungsund Erkenntnisschule. In diesem Fall gewinnt die emblematische Pointierung des Erlebnisses durch die Musil’sche Bildsprache allerdings eine über realistische Beschreibung hinausführende Richtung: »und wie das stumme Gebaren der Tiere vom Morgen bis zum Abend ragst du breit, mit unzähligen Griffen, von denen du nichts weißt, in etwas hinein, wo du nie einen Hauch von mir gehört hast!« (GW II, S. 490) Vertrautheit schlägt augenblicklich in eine Fremdheitserfahrung um. Dies verbindet die Skizze mit den bekannteren »Bildern« wie Das Fliegenpapier und Die Maus, in denen, wie Thomas Hake gezeigt hat, die Entautomatisierung moderner Wirklichkeitswahrnehmung und die Eröffnung komplexer Reflexionszusammenhänge sich »realistischer Erzählmuster« bedient, »die durch die integrierten Vergleiche und Metaphern gleichsam ›umgepolt‹« und für Musils »transzendental-poetische[s] Programm« refunktionalisiert werden.62 Die Forschung hat ausführlich diskutiert, wie die Heterogenität und Vielbezüglichkeit von Musils dichter Vergleichs- und Bildersprache in Texten wie Das Fliegenpapier und Die Maus durch das Überangebot von Anschau61 62
Eduard Pötzl: Wiener Zeitbilder. Ausgewählte Humoresken und Skizzen. Stuttgart 1897. Vgl. hierzu Dirk Göttsche: ›Zeitbilder‹ zwischen Kleiner Prosa und Zeitroman. Zur Modellierung zeitgeschichtlichen Erzählens im 19. Jahrhundert, in: Darstellungsoptik (Anm. 59), S. 247–266. Hake: Nachlaß zu Lebzeiten (Anm. 6), S. 328, mit Bezug auf ders.: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« (Anm. 6), S. 88.
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Dirk Göttsche
ungsmodellen gegenläufig geradezu Unanschaulichkeit hervorbringt.63 Der intensive und als einseitige Methode doch zugleich erkenntniskritisch ausgestellte Blick auf das Kleine und Unscheinbare in Das Fliegenpapier produziert eine Art Hyperrealismus, der geläufige Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien in Frage stellt; die Inversion von oben und unten, Festem und Flüssigem, Lebendigem und Totem in Die Maus erinnert an die Verfremdungen des Surrealismus. Der mittlere Bereich des geläufigen Wirklichkeitsund Weltverständnisses, auf den der bürgerliche Realismus auch in der Wahl exzentrischer Perspektiven, existentieller Abgründe und kontrapunktischer Modellierungen immer noch bezogen bleibt, wird in Musils Prosaskizzen Gegenstand einer relativierenden Dekonstruktion, die den Konstitutionsbedingungen von Wahrnehmung und Darstellung nachforscht. Die Beobachtung und Darstellung jugendlichen Karussellfahrens in der Prosaskizze Inflation (GW II, S. 481) mit ihrer Verquickung deskriptiver, narrativer und reflexiver Elemente bietet ein besonders eindringliches Beispiel dafür, wie soziale und historische Interessen – an der Geschichte der Massenunterhaltung und an jugendlichen Erlebniswelten – sich mit der epistemologischen Reflexion von Wahrnehmungsgesetzen – hier v. a. das in Flächigkeit und Abstraktion umschlagende Bewegungsbild – verbindet.64 Elemente realistischen und modernen Schreibens gehen hier eine gattungsspezifische Synthese ein. Bezüglich der »Unfreundlichen Betrachtungen« ist zunächst die Strukturanalogie zu bedenken, die zwischen einem kritischen Realismus, der im Sinne Georg Lukács’ hinter den Erscheinungen die vermeintlich wahre Wirklichkeit aufdecken will,65 und dem Aufdeckungsgestus satirischen Erzählens besteht. Wenngleich seine Formen historisch variabel sind, ist satirisches Erzählen natürlich viel älter als der literarische Realismus, um den es hier geht, und gerade die namhaften Autoren des deutschen Realismus im 19. Jahrhundert haben (anders als die Feuilletonisten der Prosaskizze) auf das Satirische weithin verzichtet. Die reichhaltige Forschung zu Musils poetologischem Schlüsseltext Triëdere hat gezeigt, wie dessen Textur die scheinbar realistische Unterscheidung der Erzählstimme zwischen den »romantischen« und den »richtigen« »Beziehungen« des Beobachters zu seinen Beobachtungsobjekten (GW II, S. 521), zwischen »gewohnten« und vermeintlich »wirklichen« »Zusammenhängen« (GW II, S. 522) gerade unterläuft, indem sie das »verwickelte[ ] moralische[ ] Kreditverhältnis« (GW II, S. 521) zwischen Mensch und Umwelt selbst zur Disposition stellt. Die Satire richtet sich nicht nur auf den Schlendrian hinter den Fassaden des Beamtentums, auf den Funk63 64 65
Vgl. z. B. Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 120; Katharina Grätz: Die Erkenntnis des Dichters. Robert Musils Fliegenpapier als Modell seines poetischen Verfahrens, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 48 (2004), S. 206–230, hier S. 226. Vgl. Göttsche: Kleine Prosa (Anm. 14), S. 80–82. Vgl. Georg Lukács: Probleme des Realismus. 3 Bde. Bielefeld 1965–1971 (= Werke, Bde. 4–6).
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tionalitätsanspruch des modernen Verkehrswesens, für das die Straßenbahn steht, oder den Kontrollverlust des so effizienten modernen Körpers, die der vermeintlich »unbestechliche[ ] Blick des Triëders« vermittels ironischer »Isolierung« an Passantinnen entdeckt (GW II, S. 520), sondern gegen den quasiwissenschaftlichen Anspruch dieses Blicks selbst, dem das Entscheidende, die epistemologische Ungesichertheit moderner Wirklichkeitskonstruktion, gerade entgeht. In charakteristischer metakritischer Wendung geht es um die Möglichkeit angemessener Wahrnehmung und Darstellung, also gewissermaßen um die Bedingung der Möglichkeit realistischen Schreibens, dessen epistemologische Voraussetzungen aber in Frage stehen. Diese satirische Dekonstruktion eines realistischen Gestus kann als Beispiel für die Funktion gelesen werden, die Elemente realistischer Poetik in dieser modernen Prosa behalten. In diesem Fall spielt der zitierte realistische Topos die Rolle einer Folie modernistischer Reflexion; an anderen Stellen agieren realistische Elemente als Grundlage der literarischen Modellbildung oder zumindest als »Korrektiv« oder »Reaktion«, wie Musil selbst es in einer von Wolf angeführten Notiz formuliert.66 Ein kurzer Blick auf die beiden verbleibenden Abteilungen der Sammlung bestätigt die bisherigen Ergebnisse. Die »Geschichten, die keine sind« unterscheiden sich von den beiden vorherigen Abteilungen durch die Fokussierung auf narrative Verfahren sowie dadurch, dass die unterschiedlichen Formen der experimentellen Minimalisierung des Erzählens – durch welche die Geschichten gewissermaßen zu nichts kommen, also »keine sind« – mit Baßler als je unterschiedliche formale ›Routines‹ gelesen werden können. Musil spielt jeweils ein bestimmtes Erzählformat durch, wobei der Grad der Dekonstruktion allerdings nicht so weit geht wie bei seinem Zeitgenossen Franz Kafka – man denke an die viel radikalere Selbstaufhebung des Erzählens in der Skizze Wunsch, Indianer zu werden des Bandes Betrachtung67 – oder später z. B. bei Ror Wolf, dessen serielle ›Routines‹ die groteske Verfremdung bekannter Erzählmuster in Reautomatisierungen umschlagen lässt: Das Experiment wird dort vorhersehbar.68 Demgegenüber spielt Musils Minimalisierung des Erzählens mit überraschenden Grenzgängen zwischen bekannten Mustern aus den Traditionen der Novelle und der Prosaskizze des 19. Jahrhunderts und deren Aushöhlung und Umformung für ein modernes Erzählen im Medium der Kürzestgeschichte. So lässt sich beispielsweise der Text Ein Mensch ohne Charakter als ironische und zeitkritische ›Umpolung‹ der Charakterskizze bzw. des ›Lebensbildes‹ lesen, einer beliebten Form der Prosaskizze im 19. Jahrhundert, deren 66 67 68
Wolf: »Die reale Erklärung« (Anm. 5), S. 135. Vgl. Göttsche: Kleine Prosa (Anm. 14), S. 75 f.; Barbara Neymeyr: Betrachtung, in: KafkaHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Manfred Engel u. Bernd Auerochs. Stuttgart 2010, S. 111–126, hier S. 117. Vgl. Göttsche: Kleine Prosa (Anm. 14), S. 44 f. u. 112.
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kulturgeschichtliche Substanz, das bürgerliche Subjektverständnis, welches realistisches Erzählen im 19. Jahrhundert trug, aber gerade in Frage gestellt wird. Auf einer ersten Ebene entwickelt diese Skizze in Abbreviatur die Biographie eines Mannes, der von Kind an auf der vergeblichen Suche nach seiner Identität ist, bevor er diese Verletzlichkeit schließlich hinter der Fassade gesellschaftlichen Erfolges und eines dicken Körpers versteckt; die Performanz eines ›Charakters‹ im Sinne der herrschenden bürgerlichen Verhaltensnormen ersetzt dann den Mangel an personaler Identität, der zuvor in diversen Rollenspielen kompensiert wurde. Auf einer zweiten Ebene dient diese in bild- und metaphernreicher Sprache entwickelte Biographie als anschauliche Fallstudie einer Gesellschaftskritik, die den Begriff ›Charakter‹ und dessen Verwendung im alltäglichen Sprachgebrauch – von der Kindererziehung bis zur Berufswelt – hinterfragt, um so – teils schon satirisch pointiert – zur Reflexion bürgerlicher Grundwerte anzuregen. Auf einer dritten, für Musils epistemologische Poetik besonders charakteristischen Ebene wird der widersprüchliche Befund – der herrschende Charakter-Begriff versagt und doch ist der »Mensch ohne Charakter« gesellschaftlich erfolgreich – auf die Ebene einer kulturgeschichtlichen Metareflexion gehoben: Die einleitend in gespielter Naivität zitierte kulturkritische Formel, der modernen Welt mangele es an »Charakteren«, wirft die gegenläufige Frage auf, ob der »Mensch ohne Charakter« »nicht am Ende so etwas wie ein Pionier oder Vorläufer« sei (GW II, S. 534). Angedeutet wird eine ähnliche kulturgeschichtliche Dialektik wie in der Modellierung des ›untergegangenen Kakanien‹ als Experimentalraum moderner Problemstellungen im Mann ohne Eigenschaften. Musils Prosaskizze transformiert die Geschichte eines Lebens, das doppelt sowohl als (inneres) Scheitern wie auch als (äußerer) Erfolg gelesen werden kann, also nicht nur in ein ironisches ›Zeitbild‹ der modernen Gesellschaft, sondern schreibt ihr zugleich eine anthropologische Grundfrage ein: Was ist ›Charakter‹ jenseits obsoleter bürgerlicher Normen des 19. Jahrhunderts, und welche Rolle spielt er für die Ausbildung personaler Identität in der modernen Welt? Der erste Text der Abteilung »Geschichten, die keine sind«, Der Riese Agoag, schließt durch die satirische Desavouierung einer Märchen- und Heldengeschichte an die vorangehenden »Unfreundlichen Betrachtungen« an. Die Kindergeschichte spielt in ihren ironischen Schematisierungen noch deutlicher mit Märchenelementen, und die Geschichte aus drei Jahrhunderten mit ihrer Konstellation dreier motivisch-thematisch aufeinander verweisender Episoden zur Infragestellung der bürgerlich-patriarchalischen Geschlechterordnung durch Mythisierungen weiblicher Überlegenheit weist strukturell auf die abschließende Novelle Die Amsel voraus, die – als metafiktionale Variation der Tradition der Rahmennovelle – schon ihrer Form nach am deutlichsten an realistische Erzähltraditionen anschließt. Mit Hugo Aust könnte man sagen, »daß sich der Realismus in der novellistischen Form am prägnan-
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testen verwirklicht hat«.69 Schon realistische Erzähler wie Storm (Der Schimmelreiter), Keller (Die Berlocken) oder Raabe (Im Siegeskranze, Zum wilden Mann) verwenden die Form der Novelle mit Rahmenerzählung zur Darstellung von Grenz- und Verstörungserfahrungen, doch geht Musil in den drei Erinnerungen seines Binnenerzählers Azwei hier einen deutlichen Schritt weiter und adaptiert sowohl das epistemologische als auch das metafiktionale Potential der Rahmennovelle für eine entschieden moderne Problemstellung. Schon in avancierten Erzählungen des Realismus kann Erzählen epistemologische Funktion gewinnen – im Sinne des Satzes von Azwei: »Ich will dir meine Geschichten erzählen, um zu erfahren, ob sie wahr sind« (GW II, S. 553) –, schon dort steht dem Anspruch auf »Zusammenhang« (GW II, S. 553) und »Sinn« (GW II, S. 562) oft die Erfahrung der Sinnlosigkeit oder der Subjektivität, Beliebigkeit und Fragilität von Sinnsetzungen gegenüber. Dennoch ist Musil zweifellos auch hier radikaler, indem die ekstatischen Grenzerfahrungen, in welche die Episoden münden, die Topologie der Moderne und ihrer den Wandel des Weltbildes um 1900 indizierenden Epiphanien in das adaptierte novellistische Erzählformat der »unerhörten Begegnung« (Goethe) einführen und es dadurch von innen her umgestalten, während die doppelte Rahmung – durch das Gegenüber Aeins sowie durch den Ich-Erzähler der Eröffnungssequenz – analog das metafiktionale Potential der Rahmennovelle auf eine im Realismus des 19. Jahrhunderts nicht denkbare Ebene der Modellhaftigkeit hebt. In für Musil charakteristischer Weise werden Brüche in der PsychoLogik der Alltagswelt zum Ausgangspunkt einer philosophischen Reflexion mit ethischen Implikationen und offenem Ende.
3. Literarhistorische Differenzierungen als Forschungsaufgabe Realismus in der Moderne ist – auch bei Musil – kein Neo-Realismus wie der Sozialistische Realismus oder der Magische Realismus lateinamerikanischer Prägung. Vielmehr geht es um die Adaptierung und Umfunktionalisierung bestimmter Elemente realistischer Erzählverfahren im Rahmen einer modernen Poetik. Die Leitfrage der älteren Forschungsdiskussion – ›war Musil Realist?‹ – war insofern falsch gestellt, da sie einfache literarhistorische Unterscheidungen und fachpolitische Frontstellungen impliziert, die der Gemengelage literarischer Entwicklungen im frühen 20. Jahrhundert ebenso wenig gerecht werden wie Musils anspruchsvoller Poetik. Ein gegenüber der Realismusdebatte in der Musil-Forschung der 1970/80er Jahre differenzierteres Realismusverständnis und die Berücksichtigung der in der Realismusforschung vernachlässigten Kleinen Prosa können dazu beitragen, zu einer neuen Einschätzung der Rolle zu gelangen, die das Zitieren, Dekonstruieren 69
Hugo Aust: Literatur des Realismus. Stuttgart 3 2000, S. 87.
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Dirk Göttsche
und Transformieren von Aspekten der Realismustradition in Musils Beitrag zur literarischen Moderne besitzen. Dies jedoch gilt nicht nur für die etablierten Formen der Novelle und des Romans, sondern auch für die Kleine Prosa, wie sie im Nachlaß zu Lebzeiten vorliegt.
Birgit Nübel
Vom Vogel zum Querschnitt – der Essay als kleine Form Abstract: All literary forms which Robert Musil used went through the feuilleton or even emerged from it. Not only does Musil’s feuilleton work process and convey contemporary knowledge, but the ›small forms‹ in the feuilleton themselves oscillate between fiction and non-fiction as well as narration and reflection. Their classification into ›essays‹ and ›reviews‹ is a historically determined matter of edition. So far no convincing distinction between ›short prose‹ or ›small prose‹ and ›epic tale‹ on the one hand and the designation ›essay‹, ›review‹, ›commentary‹ and ›gloss‹ on the other hand could have been made. This article proposes the assumption of a common essayistic texting-structure from one of the early texts up to The Man Without Qualities.
1. Der Feuilletonist als »Vogel im Ei« Leider zwang sie Herr Herczeg, viel mehr zu sagen; sie mußte in den dringendsten Augenblicken der Liebe lange Feuilletons sprechen, und das schläferte ein wie das sinnlose Hinrollen eines balzenden Kanarienvogels, der nie, nie enden wird.1
Nicht nur der »Kritiker Musil«, sondern auch der Feuilletonist Musil »wurde gemeinsam mit dem Dichter geboren«:2 »Der junge Mensch«, so wird es Musil 1931 in Literat und Literatur vom Biographischen ins Allgemeine wenden, »beginnt als Literat und nicht als Dichter oder gar gleich als Dramatiker, Historiker, Kritiker, Essayist und so weiter« (GW II, S. 1204). In einem frühen Briefentwurf aus der Brünner Zeit bietet der 21-jährige Robert Musil sich der Leipziger Familien-Wochenzeitschrift Die oberen Zehntausend als Feuilleton-Mitarbeiter an.3 Er sei »in der Lage« – so der »Maschinenbaustudent mit 1 2 3
Robert Musil: Tilla-Konstantin, in: Prager Presse [Morgenausgabe], 12. 2. 1922 (KA/Lesetexte/ Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken). Oliver Pfohlmann: Literatur- und Theaterkritik, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 414–429, hier S. 417. Vgl. Musil an die Die oberen Zehntausend [Brünn, nach 17. 5. 1902], in: Br I, S. 4. Es handelt sich bei dem »geschätzten Blatte« (ebd.) um eine Leipziger Wochenschrift, die 1902 im 1. Jahrgang von Heft 1–30 unter dem Titel Die oberen Zehntausend erschien (ab Heft 31 etwas populärer unter dem Titel Welt und Haus), genauer: um eine Familienzeitschrift, die 1943, also ein Jahr nach dem Tod Musils, eingestellt wurde.
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Birgit Nübel
literarischen Ambitionen«4 – »über verschiedene Gebiete mit der erforderlichen Sachkenntnis zu schreiben«: Literarische Themen jeden Charakters – außerdem jedoch auch orientirende Aufsätze über ethische u. ästhetische Gebiete – populäre Darstellung philosophischer Fragen, würde mir wol in erster Linie zusagen, jedoch bin ich vermöge meiner Stellung als Ing[enieur] [. . .] auch befähigt in ebensolcher Weise technische Fragen mit dem nöthigen Einblick zu behandeln. In dritter Linie Plaudereien über sportliche Gegenstände[,] wobei ich mir zu bemerken erlaube, daß ich selbst als Sportsmann bekannt bin und in diesen Kreisen Verbindungen habe. Als Probe meiner Art – solche Gebiete zu behandeln[,] lege ich ein Feuilleton bei[.] (Br I, S. 4)
Der noch völlig unbekannte Autor präsentiert sich als Philosoph, Ingenieur, Sportsmann und Feuilletonist. Es ist nicht bekannt, ob Musil seine Bewerbung tatsächlich abgeschickt hat und welche ›Proben‹ er beigelegt haben könnte. Der »vertikal durchgestrichene[ ], mehrfach korrigierte[ ]« Bogen enthält neben dem Briefentwurf auch einen »kurzen philosophischen Exkurs« sowie einen »lyrischen Versuch« (Tb II, S. 816).5 Der feuilletonistische Vogel, der sich hier noch »im Ei« befindet, ist offenbar nicht nur Ingenieur und Sportsmann, sondern auch Dichter, Lyriker. Eine Nachlassnotiz gibt Hinweise auf die frühe literarische Produktivität Musils in seiner ›vormodernen‹ Phase avant »Mr. le vivisecteur«: Die Anlage tendiert nach verschiedenen Richtungen. Wie der Vogel im Ei. Man drückt Gemütslagen aus. Jugendliche Melancholie. [. . .] Paraphrasen. [. . .] / Ich weiß nicht, woher ich die Selbstsicherheit genommen habe; wahrscheinlich aus dem Körper.6
Aus der Brünner Zeit liegen uns neben einer autodiegetisch-parodistischen Geisterbeschwörung7 kapriziöse Geschwisterstimmungsbilder – eine InzestPrelude (mit einem »Schwesterlein fein – Schwesterlein fein«) –,8 Rezensionen aus den Bereichen Literatur und Sachbuch/Politik und ein verbaleroti4 5 6
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Pfohlmann: Literatur- und Theaterkritik (Anm. 2), S. 417. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/2/112 sowie die »Paderewski-Phantasie«, »Da trat unter uns der Mann mit den träumenden Händen« und »Schwarz über den Dächern« (IV/2/113). KA/Lesetexte/Bd. 14 Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Aphorismen aus dem Nachlass/ Rapial oder Aufzeichnungen eines Schriftstellers/Ausführung 1 (Herv. B. N.); zu den dichterischen Anfängen heißt es weiter: »Viele und untiefe Einflüsse fremder Formen, Form der Gedanken.« und »Am stärksten Denkeinflüsse (Nietzsche, Emerson, Maeterlinck). In gewisser Abspaltung davon der Einfluß Schaukals.« Richard Schaukal war dem Kreis der JungBrünner Dichter laut Gustav Donath »Vorbild«, »Inbegriff eines Dichters und vornehmer Lebensgestaltung« (zit. nach: Karl Dinklage: Musils Herkunft und Lebensgeschichte, in: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hg. v. K. D. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 187–264, hier S. 210). Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Brünner Veröffentlichungen 1898–1902/Eine spiritistische Séance; der Text ist nicht nur mit »Robert« gezeichnet, einer der Teilnehmer der Séance heißt auch »Robert«. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Brünner Veröffentlichungen 1898–1902/In der Dämmerung.
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sches Variété-Geflüster mit einer gewissen Valerie vor;9 darüber hinaus noch »Lachende Gedanken«, die eher ›männlich‹ »[i]n den Bart [l]ächeln« (MoE, S. 301) als überaus tiefschürfend zu denken geben. Handelt es sich bei letzteren um einen bloßen Effekt der feuilletonistischen Witze- und Rätselecke oder gar um frühe aphoristisch-selbstreflexive Formen à la Rapial? Die im Brünner Feuilleton veröffentlichten Texte zeugen (von ihrer autorspezifischbiographischen und textgenetischen Bedeutung abgesehen) weder von dichterischem Höhenflug noch von geistigem Tiefgang – dennoch: »Der Strich, unter dem geschrieben wird, kann oft nicht genug tief sein.«10 Laut Kommentar der Klagenfurter Ausgabe differenziert »[d]ie Edition der Musilschen Zeitungsbeiträge« in der Tat »unser Bild des Autors. Sie dokumentiert, wie früh und entschieden Musil als Verfasser von Feuilletonartikeln an die Öffentlichkeit trat.«11 – Oder, um mit Blick auf den späten Nachlaß zu Lebzeiten (1936) einen weiteren ›lachenden Gedanken‹ des weitsichtigen Feuilletonisten Robert Musil zu zitieren: »Mancher Autor täte gut, sein Werk zu verlegen[,] bevor er es verlegt.«12 1923/1924, also zu einer Zeit, in der Musil zahlreiche Texte in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hat, wird der nunmehr über Vierzigjährige im Kontext des geplanten Essaybuchs »Versuche einen andren Menschen zu finden« in einer essayistischen Autofiktion rückblickend seinen hybriden Zwischenzustand rekapitulieren: Man stelle sich den Helden dieser Gedanken als einen Mann vor, welcher das Gymnasium durchlaufen hat, aber dann Ingenieur wurde, und eigentlich ein Philosoph oder ein Dichter sein möchte, weshalb er weder von der Philosophie, noch von der Dichtung, noch von seinem Beruf befriedigt ist, wie das ja bei den meisten Menschen so ist.13
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also zu Beginn von Musils literarischer Karriere, ist der Ort des hybriden Dichter-Ingenieurs weder die Universität noch die Maschinenfabrik oder der zeitgenössische Parnass der DichterAkademie: Es ist die Zeitschrift, das Feuilleton. Noch in seiner exterritorialexzentrischen Selbstwahrnehmung als ›freischwebender Intellektueller‹ unterliegt auch Musil der ›Seinsgebundenheit‹14 des Literaturbetriebs. Immer 9 10 11 12 13 14
Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Brünner Veröffentlichungen 1898–1902/Variété; es handelt sich um einen kurzen Text, der durch den »Mann mit den komischen Augen« auf Grauauges nebligster Herbst sowie auf das »Mädchenmörder«-Narrativ verweist. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Brünner Veröffentlichungen 1898–1902/Lachende Gedanken. KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik. KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Brünner Veröffentlichungen 1898–1902/Lachende Gedanken. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Versuche einen andren Menschen zu finden. Vgl. Karl Mannheim: Wissenssoziologie, in: Handwörterbuch der Soziologie. Hg. v. Alfred Vierkant. Stuttgart 1931, S. 659–680.
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wieder unterscheidet er nachdrücklich zwischen seiner dichterisch-literarischen Arbeit einerseits und seiner journalistischen Tätigkeit im weiteren Sinn als »Geldverlegenheit« (Br I, S. 397) bzw. ›Nebentätigkeit‹ in Bezug auf die dichterische »Hauptarbeit« (GW II, S. 949) andererseits. Aber Musil ist eben nicht nur Dichter, nicht nur »Nur-Literat« (GW II, S. 1203), sondern auch Teil des von ihm vielfach kritisierten Literaturbetriebs und somit selbst Produkt des ›feuilletonistischen Zeitalters‹, das ihn als ›Dichter‹ erst hervorbringt. Die Unterscheidung zwischen einer Kunst/Literatur, wie sie sein könnte bzw. sollte, und dem zeitgenössischen Kunst- und Literaturbetrieb ist vielen seiner Texte als Leitdifferenz eingeschrieben. Von Beginn seiner literarischen Tätigkeit an hat Musil nicht nur versucht, eine anerkannte (und damit auch bezahlte) Autorenposition als ›Dichter‹ – als Verfasser des Törleß (1906), der Vereinigungen (1911), der Schwärmer (1921) und zuletzt des Mann ohne Eigenschaften (1930/1932) – zu erringen, sondern zugleich auch als Rezensent, als Theaterkritiker und Essayist, kurz als Feuilletonist. Diese Form der Publizität ermöglichte es ihm zugleich, als Literat im Literaturbetrieb Fuß zu fassen und seine ästhetischen Positionen einem größeren Publikum zu vermitteln.15 Bereits Peter Henninger,16 Thomas Hake,17 Dominik Müller18 und Oliver Pfohlmann19 haben darauf hingewiesen, dass die ›Niederungen‹ des Feuilletons nicht allein »literarischer Broterwerb« waren (Br I, S. 183), wie Musil es in seinen Selbstinszenierungen als ›Dichter‹ vielfach beteuert hat. Offenbar haben diese feuilletonistischen »Plaudereien« (Br I, S. 4), satirischen Texte, literarischen Bilder und Reflexionen sowie ›methodologischen Erzählungen‹20 in Weiterentwicklung und Abkehr von den wenig erfolgreichen literarischen Experimenten Vereinigungen sowie den Schwärmern auch einen entscheidenden Beitrag zur Herausbildung des essayistischen Stils von Der Mann ohne Eigenschaften geleistet.
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Vgl. Nicole Streitler: Musil als Kritiker. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 12), S. 21, sowie Pfohlmann: Literatur- und Theaterkritik (Anm. 2), S. 418. Vgl. Peter Henninger: Die Wende in Musils Schaffen: 1920–1930 oder Die Erfindung der Formel, in: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hg. v. Gudrun Brokoph-Mauch. Tübingen 1992, S. 91–103. Vgl. Thomas Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998, sowie ders.: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 2), S. 320–334, hier S. 321: »Durch den ›Hausierhandel mit Feuilletons‹ (GW II, 515) war es ihm nicht nur gelungen, ›vielmals 50 M.‹ (an Franz Blei, 4. April 1924, Br I, 338) zu verdienen, er hatte sich beim Schreiben auch ›Impulse‹ und ›Schwung‹ für den Roman geholt«; vgl. ebd., S. 332. Vgl. Dominik Müller: Feuilletons und kleine Prosa, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 2), S. 396–414. Vgl. Pfohlmann: Literatur- und Theaterkritik (Anm. 2). Vgl. Hermann Brochs Eine methodologische Novelle (1918).
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2. Gattungsfragen oder: »das Reich nicht der notwendigen, wohl aber der hinreichenden Gründe«21 Das ist kein Roman?! Mein Gott, wie schwer ist es zu sagen, das ist kein Schäferhund.22
An der Schnittstelle von Musil- und Feuilletonforschung stellen sich die Fragen: Welche kategorialen Differenzen, welche Gemeinsamkeiten lassen sich zwischen ›Kurzprosa‹, ›Essay‹, ›Kritik‹ und ›Glosse‹ ausmachen? Warum werden die frühen Texte Musils aus Der lose Vogel der Gattung ›Essay‹ zugeordnet, die im Roland und im Querschnitt publizierten Texte als ›Glossen‹ kategorisiert und die im Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommenen Bilder/Reflexionen wiederum als ›Kurzprosa‹? Zum einen ist die Einteilung in ›Essays‹ einerseits und ›Kritiken‹ andererseits im Falle Musils nicht zuletzt auch editionsgeschichtlich bedingt. Denn als Adolf Frisé 1954 von Valerie Petter-Zeis ein Konvolut Kritiken und Feuilletons von und über Musil zur Verfügung gestellt worden ist, war der »Band 2 mit den Essays, darunter die kritischen Essays zu Büchern Rathenaus, Spenglers, Béla Balázs’ [. . .] längst abgeschlossen, im Druck.« (Komm. Frisé in GW II, S. 1848) In der Frisé-Ausgabe von 1978 sind die ›kleinen Formen‹ teils unter »Erzählungen«, teils unter »Kleine Prosa«, teils unter »Essays« oder unter »Glossen« rubriziert, ohne dass diese Gattungseinteilung in Bezug auf Umfang, Stil, Inhalt, Form oder Publikationskontext begründet würde. Zum anderen werden wiederum durch die Werkeditionen – also neben Frisés Gesammelten Werken die digitale Klagenfurter Ausgabe sowie die derzeit bei Jung und Jung erscheinende hybride Gesamtausgabe – faktische Zuordnungen mit vergleichbar hoher Halbwertszeit geschaffen. So liegt der DVD-Fassung der Klagenfurter Ausgabe von 2009 noch Frisés Unterscheidung zwischen ›Erzählungen‹ und ›Glossen‹ in der Rubrik »Verstreute kleine Prosa« zugrunde. Von den »Essays« (Bd. 12) und »Kritiken« (Bd. 13) einerseits und dem »Nachlaß zu Lebzeiten« (Bd. 8) andererseits unterschieden, ist das »wissenschaftliche[ ] Feuilleton« den »Wissenschaftlichen Veröffentlichungen« (Bd. 10) zugeordnet, während Bd. 11 »unter dem Titel ›Kleine Prosa‹ Erzählungen und Glossen aus Zeitungen und Zeitschriften sowie die Musil zugeschriebenen Texte aus den Brünner Jahren und der ›Tiroler Soldatenzeitung‹ versammelt«.23 Im Update der Klagenfurter Ausgabe von 2015 ist Bd. 11 nun mit »Publizistik« überschrieben: »Der Oberbegriff ›Publizistik‹ wurde für Musils Zeitungsveröffentlichungen zwischen 1898 und 1932 gewählt, um eine Gruppe verstreut publizierter Texte zu cha21 22 23
Robert Musil: Literarische Chronik [August 1914], in: GW II, S. 1465–1471, hier 1466. KA/Transkriptionen/Mappe VII/8/123. Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Beiheft der DVD-Version. Klagenfurt 2009, S. 29.
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rakterisieren, die der Autor [. . .] nicht in seine Buchausgabe des Nachlaß zu Lebzeiten von 1936 aufgenommen hat.«24 Die »Publizistik Musils« lasse sich – laut Kommentar der Klagenfurter Ausgabe (2015) – »insgesamt als eine Einheit verstehen«.25 Der 11. Band umfasst nun neben den »Brünner Veröffentlichungen« die Beiträge der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und Heimat sowie das »Feuilleton (1913–1932)« und hebt so die Einteilung »Glossen« (1921–1932) und »Kleine Erzählprosa« (1923–1932) der DVD-Version von 2009 in »chronologischer Anordnung«26 auf. Auch »die Scheidelinie zu den Essays [Bd. 12] und besonders zu den Kritiken [Bd. 13], die Musil zu einem großen Teil in denselben Organen veröffentlichte«, sei »nur eine künstliche«.27 Allerdings werden die Texte, die später in den Nachlaß zu Lebzeiten (1936) aufgenommen werden, auch im Kommentar der Klagenfurter Ausgabe (2015) – mit Ausnahme der Erzählung Die Amsel – weiterhin durchgängig als ›Kurzprosa‹ (insg. 32 Mal) bezeichnet, alle anderen entweder als ›Erzählungen‹,28 ›Prosaskizzen‹29 oder ›Glossen‹ (insg. 143 Mal)30 – und somit die Zuordnungen der Frisé-Ausgabe weitergeführt. Die Unterscheidung zwischen ›Kurzprosa‹ (Schwarze Magie, Der Malsteller, Denkmale u. a.) und ›Glosse‹ (Geschwindigkeit ist eine Hexerei, Als Papa Tennis lernte, Blech reden u. a.) ist jedoch weder distinktiv noch begründet, sondern vielmehr – in Hinblick auf den Nachlaß zu Lebzeiten, der von Frisé unter »Kleine Prosa« rubriziert worden ist – teleologisch. Zudem wird erneut eine Leitdifferenz – nämlich ›Literatur‹ vs. ›Wissenschaft‹ – etabliert, denn Bd. 10 »Wissenschaftliche Veröffentlichungen« enthält neben der Dissertation und den »Wissenschaftlichen Beiträgen«31 die »Kulturchroniken« und – davon gesondert – das »Wissenschaftliche Feuil24 25
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KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik. KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/Feuilleton 1914–1932/Charakteristik; vgl. ebd.: »Von Adolf Frisé unter der Sammelbezeichnung ›Verstreute kleine Prosa‹ herausgegeben [. . .] und in ›Erzählungen‹ und ›Glossen‹ unterteilt, bildet die Kurzprosa, Kurzepik oder Kleine Prosa, oder wie immer man die Untergattung bezeichnen mag, die Musil in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte, gemeinsam mit den ›Vorstufen zum Nachlass zu Lebzeiten‹ [. . .] jedoch intentional wie formal eine Einheit.« Ebd. Ebd. Siehe: Der Vorstadtgasthof, Die Durstigen. Siehe: Brief[e] Susannens, Kleine Lebensreise, Ausgebrochener Augenblick, Quer durch Charlottenburg. Darüber hinaus lauten die Kategorisierungen mit jeweils nur einer Nennung: ›Bericht‹ (Die Sturmflut auf Sylt), ›Märchen‹ (Das Märchen vom Schneider) sowie ›Feuilletonbeitrag‹ (Tagebuchblatt). Siehe: Die Kraftmaschinen des Kleingewerbes, Die Beheizung der Wohnräume sowie Psychotechnik und ihre Anwendung [!] im Heere; die drei Beiträge sind im ursprünglichen Publikationskontext mit der Angabe »Von Ing. Dr. phil. Robert Musil« versehen, die ersten beiden mit der Ortsangabe »Berlin« und der letzte mit der Position »Fachbeirat im Bundesministerium für Heerwesen« (Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek b. Hamburg 1980).
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leton«.32 Für die Einteilung in ›literarisches‹ oder aber ›wissenschaftliches Feuilleton‹ scheint wiederum der Autorname »Robert Musil« gegenüber der anonymen Veröffentlichung oder dem Pseudonym (bzw. dem Kürzel »ma.«) ausschlaggebend zu sein.33 Gehen wir jedoch von dem Begriff ›Feuilleton‹ aus, der keine Gattung (im Sinn von Feuilleton2 ),34 sondern einen Publikationszusammenhang innerhalb einer Zeitschrift (im Sinn von Feuilleton1)35 bezeichnet, so sind sämtliche literarischen Formen, derer sich Robert Musil bedient, durch das Feuilleton gegangen, wenn sie sich nicht gar aus diesem generiert haben: Dies betrifft Lyrik und Dramatik ebenso wie Prosa in engerem Sinn, also literarische Erzählungen und – mit Ausnahme der Dissertation – auch die Wissenschaftsprosa. Verstehen wir die im zeitgenössischen Feuilleton abgedruckten ›kleinen Formen‹ nicht als gattungs-, sondern als publikations- und somit ko(n)textbezogen im Sinne von Feuilleton1, so lassen sich eine Reihe von Textformen Musils als feuilletonistische Kurz- bzw. »Strapazprosa« (GW II, S. 1159) bezeichnen: Das gilt für Umfragen und Interviews, Theaterkritiken, Essays und Berichte von Kunstausstellungen, Rezensionen, Berichte aus dem Bereich von Literatur, Film, Gesellschaft, Politik, Lebensstil, Mode, Sport, Philosophie, Technik, Medizin, Wirtschaft und Astronomie, kleine Erzähltexte sowie Vorab- und Teildrucke aus den größeren Erzählungen oder dem Mann ohne Eigenschaften. Musils Feuilletons, also die Texte, die zu seinen Lebzeiten in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt worden sind, können als zeitgenössische Kultur- und Gesellschaftskritik, als moderne Poetik und Kulturtheorie der Moderne in Fragmenten gelesen werden: Sie sind, wie die Essays auch, »Skizzen in der Art von Denkmale über die verschiedenen Erscheinungen des 32
33 34 35
Die insg. 24 mit dem »Pseudonym Matthias [Rychtarschow]« (Kürzel »ma.«) unterzeichneten »[p]opulärwissenschaftliche[n] Artikel« (KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 10 Wissenschaftliche Veröffentlichungen) sind von April bis Juli 1923 in der Prager Presse erschienen und werden in den Gesammelten Werken wie in der Klagenfurter Ausgabe unter den Überschriften der »Kulturchronik« (»Philosophie«, »Aus dem Reiche der Technik«, »Aus der neueren medizinischen Literatur«, »Aus dem Reiche der Technik/Schiffbau«, »Astronomie«, »Aus der Begabungs- und Vererbungsforschung« und »Wirtschaftsfragen«) abgedruckt; doch während die Texte von Frisé unter »Referate und Hinweise« in chronologischer Reihung abgedruckt worden sind (GW II, S. 1687–1705), macht die Klagenfurter Ausgabe die separate Rubrik »Wissenschaftliches Feuilleton« für die beiden unter ›Vermischtes‹ stehenden neurologisch-medizinischen »Tagesbericht[e]« Der Nervenchok und Scheinbar schwere Tuberkulose, auf; diese sollte in der Hybridedition (Gesamtausgabe bei Jung und Jung sowie www.musilonline.at) zugunsten einer chronologischen Anordnung wieder aufgelöst werden. Wobei die Beiträge in Franz Bleis Zeitschriften Der lose Vogel (1912/1913) und Roland (1925), die bei Frisé den »Essays« bzw. den »Erzählungen« bzw. »Glossen« zugeordnet werden, wiederum anonym publiziert worden sind. Vgl. Moritz Baßler: Feuilleton2 , in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. hg. v. Harald Fricke. Bd. II . Berlin, New York 1997, S. 584–587. Vgl. Jörg Drews: Feuilleton1 , in: ebd., S. 582–584.
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heutigen Lebens«.36 Musils Feuilletons nehmen inhaltlich literarische oder wissenschaftliche Publikationen, sportliche oder modische Erscheinungen oder aber das Verhältnis der Geschlechter in den Blick und erproben erzähltechnisch eine neue, zeitgemäße, ›moderne‹ Form des Schreibens zwischen Beschreiben und Erzählen, Narration und Reflexion. Wie aber lässt sich der Unterschied zwischen ›Erzählung‹, ›kleiner Erzählprosa‹ und ›Kurzprosa‹ einerseits und zwischen ›Glosse‹, ›Kommentar‹, ›Kritik‹ und ›Essay‹ andererseits bestimmen? Macht es bei der Verwendung des Oberbegriffs Feuilleton1 überhaupt Sinn, wiederum von einzelnen Untergattungen auszugehen, also die Probleme nur (weiter nach unten) zu verlagern, die man auf einer gattungshöheren Hierarchieebene nicht hat lösen können? Wie bzw. auf welcher Grundlage ließe sich ein im Feuilleton publizierter Prosatext Musils näher bestimmen? Es bieten sich folgende Herangehensweisen an, die sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern vielmehr ergänzen und die hier nur skizziert, nicht aber systematisch entwickelt werden können: Zunächst ist der Publikationskontext, also die Rubrik, in welche die Texte ›unter dem Strich‹ eingebettet sind, zu berücksichtigen. Beispielsweise wird der von Musil selbst als »Aufsatz« (Br I, S. 237) bezeichnete Metatext Wege zur Kunstbetrachtung, bei dem es sich nicht bloß um eine Rezension zu Gustav Johannes von Alleschs gestaltpsychologischer Ästhetik handelt, sondern in dem zugleich auch allgemeine Fragen wie das Verhältnis von Bild und Reflexion, von Kunst und Kritik verhandelt werden, 1921 im Neuen Merkur unter ›Glossen‹ abgedruckt. In Frisés Edition und in der Klagenfurter Ausgabe wird der Essay37 in die Rubrik ›Kritik‹, und zwar unter »Buchrezensionen«/»Sachbuch« eingeordnet. Des Weiteren übernehmen auch die Textklassifikationen im Titel Ordnungsfunktionen; diese sind allerdings – (nicht nur) im Falle Musils – vielfach irreführend oder gar parodistisch und können selbst Teil der Fiktionalisierungsstrategie sein. Zu nennen sind hier beispielsweise Politisches Bekenntnis eines jungen Mannes (in Die Weißen Blätter, 1913), Das Märchen vom Schneider (in Der Tag, 1923), die Brief[e] Susannens (in Roland, 1925), Interview mit Alfred Polgar (in Die literarische Welt, 1926), Tagebuchblatt (in Berliner Tageblatt, 1927) oder Robert Musil an ein unbekanntes Fräulein (in Berliner Tageblatt, 1930). Aufschlussreich sind auch die verwendeten Gattungszuordnungen, die der Autor selbst in Paratexten, also in brieflichen Äußerungen, Interviews sowie Arbeitsheftnotizen, vornimmt. Durch narratologische Analysen könnten darüber hinaus Kriterien der Fiktionalität bzw. Narrativität herausgearbeitet werden: Liegt eine Rahmenerzählung vor? Werden ein oder mehrere Erzähler oder Erzählerinnen bzw. 36 37
KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Hefte 1928–1942/I . Wien/Berlin (1927–1939)/31: Verschiedene Notizen (1930–1940); Eintrag vom »6. April 1930«. Vgl. Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 220–225.
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textinterne Sprecher oder Sprecherinnen und/oder Figuren eingeführt? Liegen Formen von Poly- bzw. Multiperspektivität vor? Gibt es eine Handlung auf der Ebene der histoire? Markieren Inquit-Wendungen explizit Formen des Erzählens, Berichtens oder Reflektierens auf der discours-Ebene? Nicht zuletzt spielt Kürze, also »Verknappung [. . .] als strukturbildendes Merkmal«,38 eine zentrale Rolle bei der Abgrenzung der feuilletonistischen ›kleinen Formen‹ von längeren Textsorten. Doch auch hierbei handelt es sich bekanntlich um eine relationale Größe. Alfred Polgar – wie Robert Musil, Franz Blei, Egon Erwin Kisch und Arne Laurin Teil des großhabsburgisch kommunikativ-(para-)militärischen Männernetzwerks Kriegspressequartier – hält in seinem Metatext zu An den Rand geschrieben (1926) ein Plädoyer für Die kleine Form (quasi ein Vorwort): Ich halte episodische Kürze für durchaus angemessen der Rolle, die heute der Schriftstellerei zukommt. [. . .] / Das Leben ist zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane [. . .].39
»Die Dichtung der Zukunft wird etwas von der Prosa der Zeitung haben«, heißt es dementsprechend auch in Musils Hommage an Alfred Polgar, welche die Bezeichnung »Interview« im Titel trägt, aber eigentlich eine Parodie dieser Feuilletonform – eine Rezension oder vielmehr ein Essay zu An den Rand geschrieben (1926) – und zugleich eine poetische Bestimmung der ›kleinen Form‹ ist: Wenn Leben in der Moderne »keinen Text« mehr habe, »sondern nur Zusätze, Einschränkungen, Durchführungsbestimmungen und jeden Tag neue Novellierungen«, dann sei die »Seele des zeitgenössischen Menschen« nicht mehr im Zentrum, in der durchgestrichenen Mitte, sondern in »kleine[n], unpathetische[n] Bemerkungen«, »in der Randkorrektur, den Fußnoten«, eben an den ›Rändern‹ zu finden und wie die Poesie dort vor der allgemeinen »Auflösung« und Zerstreuung bewahrt und somit ›aufgehoben‹ (GW II, S. 1159).40 Was aber unterscheidet die sogenannte ›Kurzprosa‹ vom ›Essay‹ bzw. von der ›Glosse‹ oder der ›Kritik‹? Die 1936 im Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommenen Einzelveröffentlichungen, die zwischen 1914 und 1927 in Wiener, Berliner und Prager Zeitschriften, den Heidelberger Argonauten, dem Quer38 39 40
Anja Saupe: Kurzprosa, in: Metzler Lexikon Literatur. Hg. v. Dieter Burdorf u. a. Stuttgart, Weimar 3 2007, S. 416–417, hier S. 417. Alfred Polgar: Die kleine Form (quasi ein Vorwort), in: ders.: Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarb. mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1984, S. 369–373, hier S. 372. Dies könnte auch ein Hinweis darauf sein, warum die »literarischen Bilder« und »Reflexionen« aus dem Nachlaß zu Lebzeiten in den örtlichen Peripherien (vgl. Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« [Anm. 17], S. 222; Müller: Feuilletons und kleine Prosa [Anm. 18], S. 407), in den Übergängen vom Tier-/Mensch-Sein angesiedelt sind. Hier lassen sich zweifelsohne Gemeinsamkeiten mit der essayistischen, der sog. ›Minimalprosa‹ Georg Simmels, Walter Benjamins und Theodor W. Adornos aufzeigen.
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schnitt und der Magdeburgischen Zeitung erschienen waren, werden – mit Ausnahme der als ›Erzählung‹ ausgewiesenen Experimentalnovelle Die Amsel – in der Klagenfurter Ausgabe nun einheitlich als ›Kurzprosa‹ bezeichnet.41 Ist ›Kurzprosa‹ eine Art kondensierter, ›verdichteter Essay‹?42 Laut Kommentar der Klagenfurter Ausgabe bildet z. B. die »Kurzprosa Kunstjubiläum [. . .] ursprünglich den Bestandteil eines größeren essayistischen Komplexes zu Fragen der Literaturkritik (›Einige Schwierigkeiten der Dichtkunst‹) und trägt in dem fragmentarischen Konvolut den Titel ›Die Literatur der Zukunft‹«: »Musil entwickelt darin die für seine Reflexionen über Kunst typischen Themen von Genie, Epigonentum, Zeitlosigkeit und Mode, die er auch in seinen Essays [!] Symptomen-Theater, Blech reden, Stilgeneration und Generationsstil und Mode darstellt.«43 Blech reden sowie Stilgeneration und Generationsstil und der nachgelassene Mode-Text werden jedoch im Kommentar zu Bd. 11 nicht als ›Essays‹, sondern als ›Glossen‹ bezeichnet. Einerseits wird dort hinsichtlich der »Publikationen aus der Zeit von Musils Redakteurstätigkeit« bei der Neuen Rundschau im Jahr 1914 »ein[ ] fließende[r] Übergang zwischen kulturpolitischen bzw. literaturkritischen Arbeiten, Kritiken und Essays« konstatiert,44 andererseits – in Bezug auf das Nachlassfragment Randglossen zu Tennisplätzen (in Der Querschnitt, 1931) – von einem »für eine Glosse relativ umfangreiche[n] Beitrag« gesprochen.45 Nun sind die frühen Essays – angefangen von Das Unanständige und Kranke in der Kunst (in Pan, 1911) über die neun in Der lose Vogel (1912/1913) erschienenen Texte und das Politische Bekenntnis eines jungen Mannes (in Die Weißen Blätter, 1913) – alle vor 1914 veröffentlicht worden. Wären diese Texte nicht in Bezug auf den Publikationskontext ›Zeitschrift‹ (Feuilleton1) sowie die Gattung ›(Kurz-)Prosa‹ (Feuilleton2 ) ebenso unter die Rubrik ›Feuilleton‹ aufzunehmen?46 Die problematische Abgrenzung zwischen ›Essay‹ einerseits und ›Kritik‹ andererseits lässt sich auch nicht dadurch beheben, dass Mu41 42
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Darüber hinaus noch der Beitrag Aus der Geschichte eines Regiments aus der »Literarischen Beilage« der Soldaten-Zeitung vom 26. 7. 1916. Vgl. KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd.11 Publizistik/Feuilleton 1914–1932/Unter Dichtern und Denkern/Übersicht Nachlass/Textgenese und Kommentar: »Die direkte Vorlage für die ›Unfreundliche Betrachtung‹ Unter lauter Dichtern und Denkern, die am 13. November 1926 in der Prager Presse [. . .] erscheint, bilden die ersten beiden Abschnitte des Essays Bücher und Literatur I [. . .]. In der Fassung des Nachlaß zu Lebzeiten hat Musil den Text gegenüber den Zeitschriftendrucken nochmals verdichtet.« KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/Feuilleton 1914–1932/1925–1927/Einige Schwierigkeiten der schönen Künste. KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik. KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/Feuilleton 1914–1932/1928–1932/Als Papa Tennis lernte/Textgenese und Kommentar. Beim Essay handelt es sich – laut Metzler Lexikon Literatur – um eine Prosaform, »die nicht eindeutig von Aufsatz, Abhandlung, Traktat und Feuilleton abzugrenzen ist« (Irmgard Schweikle, Kai Kauffmann: Essay, in: Metzler Lexikon Literatur [Anm. 38], S. 210–211, hier S. 210).
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sils Beiträge aus dem literarischen Beiheft der Neuen Rundschau, S. Fischers Mitteilungen über neuere Literatur von 1914,47 nun in die Rubrik ›Essays‹ ›upgegradet‹ worden sind. In der Rubrik ›Kritik‹ verbleibt dagegen offenbar die ebenfalls in der Neuen Rundschau abgedruckte Literarische Chronik, die neben dem programmatischen Text »Die Novelle als Problem« u. a. Besprechungen von Kafkas Betrachtung (1913) und Robert Walsers Geschichten (1914) enthält. Beide Textsammlungen werden von Musil einer neuen, noch zu benennenden metaleptisch-metafiktionalen Gattung zugeordnet, in der die Figuren schweigen und die »Geschichte rede[t], als wäre sie eine Figur« (GW II, S. 1468). Problematisch ist die Gattungszuordnung auch in Bezug auf Der mathematische Mensch, der 1913 in der letzten Nummer des Losen Vogels erschienen ist. Denn dieser einseitige, durchgängig als Essay rubrizierte Text wird 13 Jahre später, am 12. Juni 1926, unter dem Pseudonym Mathias Rychtarschow in der Morgenausgabe der Prager Presse, nunmehr in der »Kulturchronik«, erneut abgedruckt. Bislang konnte weder in der Feuilleton-Forschung noch in der MusilForschung eine überzeugende Abgrenzung zwischen der ›Kurzprosa‹ bzw. ›kleinen Prosa‹ und der ›Erzählung‹48 einerseits sowie den Bezeichnungen ›Essay‹, ›Kritik‹, ›Kommentar‹ und ›Glosse‹ andererseits getroffen werden. Wie lässt sich angesichts der für Musil bezeichnenden verwickelten Textverhältnisse begründet und distinktiv im Kontext Feuilleton zwischen ›Kurzprosa‹, ›Essay‹ und ›Glosse‹ unterscheiden? Welche Differenzkriterien können in Bezug auf diese feuilletonistischen Textsorten expliziert werden? – das jeweilige Zeitschriften-Ressort? die Länge? Literarizität, Narrativität oder Fiktionalität? Ist es, wenn wir im Falle Musils von einer immanenten Poetik der ›kleinen Form‹ ausgehen, überhaupt sinnvoll bzw. zweckmäßig, zwischen den »kleinen Arbeiten« (GW II, S. 474) tagesjournalistischer Aktualität und ihrer ›Verdichtung‹ zum Großen = Allgemeinen zu unterscheiden? Schließlich hat Musil in der »Vorbemerkung« zum Nachlaß zu Lebzeiten (1936), also drei Jahre nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, eine Gewichtung zwischen den dort versammelten wiederabgedruckten, also nicht mehr aktuellen, aber nur scheinbar veralteten, »für Zeitungen geschrieben[en]« (GW II, S. 474) Texten über »Nebensachen« (GW II, S. 473) einerseits und der Relevanz, »dem Gewicht dichterischer Äußerungen« (GW II, S. 473) in Bezug auf die Größe der Welt bzw. die aktuelle Weltlage anderer47
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Deren »besondere Aufgabe« ist es erklärtermaßen, »das Interesse literaturfreundlicher Kreise für solche Verfasser und Werke zu gewinnen, denen die üblichen Wege der Ankündigung wenig zu nützen vermögen« (KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1908–1914/Beiträge in S. Fischers Mitteilungen/Zur Einführung). Unter die Rubrik ›Erzählungen‹ fallen in der von Adolf Frisé herausgegebenen Werkausgabe u. a. die Brief[e] Susannens (1925) und der Nachlaß zu Lebzeiten (1936) – im Unterschied zu den unter »Glossen« eingeordneten Texten, wie z. B. Als Papa Tennis lernte (1931) und Kunst und Moral des Crawlens (1932).
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seits vorgenommen. Und zwar zuungunsten des Feuilletons wie der Dichtung. Moritz Baßler diskutiert nicht allein Musils Nachlaß zu Lebzeiten (1936), sondern auch Rilkes Malte Laurids Brigge (1910) als ›Texturen der literarischen Moderne‹ unter dem Terminus ›Kurzprosa‹.49 Dominik Müller schlägt, wenn auch nur »versuchsweise«, vor, Musils Mann ohne Eigenschaften (1930/ 1932) »als eine Feuilletonsammlung zu lesen, die die kleine journalistische Form mit der Großform des Romans vermittelt.« Hinzu komme, »dass viele von Musils Feuilletons auch thematisch oder als poetologische Reflexionen auf den MoE vorausweisen«.50 Statt nun Rilkes Roman als ›Kurzprosaform‹ oder Musils Roman als ›Feuilletonsammlung‹ zu lesen, erscheint es sinnvoll, von einer den frühen Texten bis zu Der Mann ohne Eigenschaften gemeinsamen essayistischen Vertextungsstruktur auszugehen, für die sich auch im Nachlass, nicht nur zu Lebzeiten, zahlreiche Belege finden. Essayismus in diesem Sinn ist weniger eine separate Gattung noch ein Lebensprogramm oder eine philosophische Haltung, sondern ein intertextuelles, interdiskursives, interauktoriales und auto-intratextuelles Verweissystem, welches für die Texte, die unter dem Autornamen »Robert Musil« firmieren, konstitutiv ist. In seinen para- und metatextuellen Interviews, Nachlasstexten und Essays – zum Beispiel in Über Robert Musil’s Bücher (1913) – entwickelt Musil ein poetisches Konzept, welches die Einteilung in Narration und Reflexion, Bild und Begriff, Fiktion und Nicht-Fiktion, essayistisch-diskursiv und narrativ-fiktionalisierend in Frage stellt und unterläuft.51 Die Annahme eines gattungsübergreifenden, gattungstraversierenden und -auflösenden essayistischen Vertextungsprinzips entwickelt eine enthierarchisierende Perspektive und lässt die Option einer chronologischen Anordnung der zu Lebzeiten Musils unselbstständig veröffentlichten Feuilletontexte, die bislang als ›Erzählungen‹, ›Kurzprosa‹, ›Glossen‹, ›Kritiken‹ und ›Essays‹ rubriziert worden sind,52 zumindest als erwägenswert, wenn nicht gar als geboten erscheinen.
49 50 51 52
Vgl. Moritz Baßler: Kurzprosa, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II (Anm. 34), S. 371–374, hier S. 373; vgl. ders., Christoph Brecht, Dirk Niefanger, Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996. Müller: Feuilletons und kleine Prosa (Anm. 18), S. 399. Vgl. Nübel: Robert Musil (Anm. 37), S. 182–216. Vgl. hierzu KA/Kommentare/Bibliographie: Hier wird unter »Veröffentlichungen Robert Musils« zwischen den beiden Rubriken 1.) »Selbstständige Publikationen zu Lebzeiten: 1906–1938 in chronologischer Anordnung nach Jahren«, 2.) »Unselbstständige Publikationen: 1898–1938 in chronologischer Anordnung nach Jahren« unterschieden.
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3. Versuche der »Pilotierung«:53 Der Dichter klassifiziert seine Texte Musil selbst hat den Begriff ›Kurzprosa‹ nicht verwendet, dieser war damals generell noch kaum gebräuchlich.54 In Bezug auf den Publikationskontext Feuilleton ist die Bezeichnung ›kleine Formen‹, die sich nicht auf Prosa beschränkt, adäquater; zumal der Prosabegriff, auch wenn er weder Fiktionalität noch Handlung voraussetzt, immer wieder dazu führt, mit Formen des fiktionalen Erzählens identifiziert zu werden. In seinen Briefen und Notizen in den Arbeitsheften spricht Musil in Bezug auf seine (natur-)wissenschaftlichen, mathematischen und philosophischästhetischen Texte in der Regel von ›Abhandlungen‹, darüber hinaus scheint er aber die Begriffe ›Essay‹ und ›Aufsatz‹ synonym zu verwenden. Dabei subsumiert er interessanterweise sowohl seine technischen, in Natur und Kultur publizierten Schriften, also Die Kraftmaschinen des Kleingewerbes55 und Die Beheizung der Wohnräume,56 ebenso unter der Rubrik ›Aufsatz‹ wie Texte, die in den Werkausgaben als ›Essays‹ bestimmt sind, also z. B. Das Unanständige und Kranke in der Kunst (in Pan, 1911),57 Der mathematische Mensch (in Der lose Vogel, 1913),58 Skizze der Erkenntnis des Dichters (in Summa, 1918), Geist und Erfahrung (in Der neue Merkur, 1921), Symptomen-Theater (in Der neue Merkur, 1922/1923),59 Der »Untergang« des Theaters (in Der neue Merkur, 1924) sowie Interview mit Alfred Polgar (in Die literarische Welt, 1926). Aber auch Beiträge aus der Prager Presse,60 wie Wege zur Kunstbetrachtung (1921) und das »Gerichtsfeuilleton[ ]«61 Das verbrecherische Liebespaar (1923), werden von Musil als ›Aufsätze‹ bezeichnet (vgl. Br I, S. 295). Im Curriculum vitae (1931) gibt Musil an, dass – in chronologisch umgekehrter Reihenfolge – viele seiner »Essays in der Neuen Rundschau, 53 54 55 56 57 58 59 60
61
Robert Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters [1918], in: GW II, S. 1025–1030, hier S. 1027. Im Nachlaß zu Lebzeiten lauten die Rubriken »Bilder«, »Unfreundliche Betrachtungen« und »Geschichten, die keine sind«. 1904 in mehreren Folgen in Natur und Kultur. Zeitschrift für Jugend und Volk erschienen. 1904/1905 in Natur und Kultur mit dem neuen Untertitel Zeitschrift für Schule und Leben publiziert. Vgl. GW II, S. 977: »Der Verfasser dieses Aufsatzes ist der Dichter jenes psychologisch so fesselnden Buches, das vor mehreren Jahren als sein Erstlingswerk erschien und von der ernsten Kritik aufs höchste gerühmt wurde.« Vgl. Robert Musil an Arne Laurin, 10. 5. 1923 (Br I, S. 295). Es handelt sich – so Musil an Otto Pick am 24. 5. 1922 – um seinen »prinzipiellen Aufsatz über Theaterfragen« (Br I, S. 261). Vgl. Robert Musil an Arne Laurin, 17. 7. 1927: »Das Prager Tagblatt hat wieder einen Aufsatz von mir abgedruckt, ohne mich zu fragen; ich weiß selbst nicht welchen, habe bloß freundlich ein zu geringes Honorar erhalten. Es wäre gut, wenn Sie feststellen ließen, ob es ein Aufsatz ist, den ich Ihnen geschickt habe, und in diesem Fall beim Tagblatt gegen das Vorgehn protestierten.« (Br I, S. 420) Müller: Feuilletons und kleine Prosa (Anm. 18), S. 399.
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im Neuen Merkur, in der Summa, im Losen Vogel, im Pan u. a.« erschienen seien.62 Auch die Grenze zwischen ›Rezension‹ und ›Essay‹ ist bei Musil keine unverrückbare. So heißt es in einem Brief an Efraim Frisch über Ansätze zu neuer Ästhetik (in Der neue Merkur, 1925): Ich hatte eine Rezension von Balázs’ wirklich außerordentlich interessanter [. . .] Filmdramaturgie »Der sichtbare Mensch« versprochen, aber unter der Arbeit ist mir ein Essay daraus geworden, der nur noch dem Vorwand nach eine Besprechung ist und in Wirklichkeit eine Abhandlung wichtiger Kunstfragen [. . .]. (Br I, S. 370 f.)
In diesem Sinne wird auch die Rede Über die Dummheit (1937) von Musil – wie Literat und Literatur (in Die Neue Rundschau, 1931) – sowohl als »Aufsatz«63 als auch als »größere[r] Essay« (Br I, S. 759; vgl. auch Br I, S. 1306) bezeichnet.
4. »Nur Literat«64 sein oder Auch Motten leben nicht von Papier allein Nur Literatur bezeichnet so etwas wie Mottenseelen, die um künstliche Lichter flattern, während draußen der Tag scheint.65
Die Entscheidung des Autors, »sein [ursprünglich geplantes] Essaybuch in einzelnen Essays [zu] schreiben; da die Zeitschriften gut zahlen«, also im Feuilleton zu ›verscherbeln‹, wie es Martha Musil ihrer Tochter Annina Marcovaldi 1924 berichtet (Br I, S. 352), ist Ausdruck der finanziellen Situation der Zwischenkriegszeit, wie Musil auch in Curriculum vitae (etwa 1938) ausführt: »Nach dem Krieg [. . .] verliert Musil [. . .] durch die Inflation das gesamte Vermögen. Er wird, neben seiner Hauptarbeit, Theaterkritiker, schreibt Essays u. a.« (GW II, S. 949)66 Ab 1921 wird vor allem in der Prager Presse,67 aber auch in anderen Zeitschriften (Der Neue Tag, Prager Tagblatt u. a.) teils als Erst-, teils als Wiederabdruck eine Reihe von Texten veröffentlicht, die später 62 63 64 65 66 67
KA/Lesetexte/Bd. 14 Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Selbstkommentare aus dem Nachlass/Curriculum vitae; die Prager Presse wird in dieser Reihe nicht genannt. KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Hefte 1928–1942/II . Schweiz (1938–1942)/35: Der Sechste November (1939–1941). Im Eintrag vom »9. Februar 1940« ist die Rede vom »›Dummheit‹-Aufsatz«. Robert Musil: Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu [1931], in: GW II, S. 1203–1225, hier S. 1203. Robert Musil: Bücher und Literatur [1926], in: GW II, S. 1160–1170, hier S. 1164. Vgl. hierzu Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 593– 626. Vgl. Pfohlmann: Literatur- und Theaterkritik (Anm. 2), S. 418: »Dank der Unterstützung von Arne Laurin beschäftigte ihn die Prager Presse über ein Jahr lang als ihren Theater- und Kunstreferenten für Wien.«
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in den Nachlaß zu Lebzeiten (1936) aufgenommen worden sind. Allein in den Jahren 1921 und 1922 erschienen von Musil in der Prager Presse 60 Texte, zum Teil bis zu drei Theaterkritiken pro Woche, zudem noch Buchrezensionen, Essays und Kurzprosatexte. Oliver Pfohlmann resümiert: »Die harten tschechischen Kronen, mit denen seine Beiträge honoriert wurden, waren in den Inflationsjahren für ihn und seine Frau überlebenswichtig.«68 Dabei war es in Bezug auf die Honorarfrage durchaus entscheidend, ob ein Beitrag »oberhalb des Feuilletonstriches« platziert wurde; das »höchste Honorar« belief sich, so ist einem Brief Arne Laurins von 1926 an Musil zu entnehmen, auf 200 Kronen für die »gewöhnliche[ ] Spalte ohne Feuilleton [. . .], d. h. je nach Schrift 80–100 Zeilen« (Br I, S. 405). Ursprünglich war offenbar vereinbart, dass Musil »pro Monat: 1 erz.[ählerische] Sache f.[ür] Dichtung und Welt, 2 Feuill.[etons], X Lokalteilbeiträge, 2 Kulturchroniken« liefert (Br I, S. 295). Doch Musil, der sich selbst in einem Brief an Franz Blei als »Wiener Kulturberichter« bezeichnet,69 fällt es offenbar »schwer [. . .], jeden Monat eine Dichtung zu haben«, seine »Feuilletons« würden nicht immer gedruckt, »und mit Lokalbeiträgen« sei er, so Musil in einem Brief an Laurin vom 10. Mai 1923, »nicht flink genug«: »Die Hauptsache ist also die Kulturchronik [. . .]. Ich muß davon 4mal monatlich schicken; das ist auch nötig, um halbwegs rund herum zu kommen. Ich [. . .] hoffe, daß es sich u. U. auf 5–6 steigern läßt.« (Br I, S. 295 f.)70 Nun ist aber die »Kulturchronik«, die kritische Besprechung von technischen, medizinischen, physikalischen und nationalökonomisch-soziologischen Themen im Feuilleton der Prager Presse, nicht nur eine finanzielle Notwendigkeit, es macht Musil, wie es wiederum in einem Brief an Laurin heißt, erklärtermaßen auch »viel Spaß über dieses Divertissement von Wissenschaften zu schreiben«: »Nur im Anfang brauche ich ein wenig Nachsicht, bis ich mich in sämtlichen Bibliotheken Wiens, die ich dazu ja brauche, häuslich 68
69 70
Ebd., S. 418; vgl. Müller: Feuilletons und kleine Prosa (Anm. 18), S. 400: »Dass Musil zeitweise als Wiener Kulturkorrespondent der Prager Presse tätig war, erleichterte die Publikation von Texten, die nicht dem vertraglich festgelegten Typus entsprachen, erforderte aber trotzdem Verhandlungen von Fall zu Fall.« Vgl. Robert Musil an Franz Blei, 22. 12. 1923: »Weshalb Laurin mich nicht wieder als Wiener Kulturberichter angestellt hat, ist mir nicht verständlich.« (Br I, S. 330) Vgl. Br I, S. 296: »Ich grase die Gegenstände, die Herr Magr mit mir vereinbart hat, der Reihe und dem jeweils erreichbaren Material nach ab und stelle komplette Chroniken zusammen, die möglichst als Ganze [›zur Gänze‹, KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz] ins Blatt kommen. Muß trozdem [sic] etwas davon zurückbleiben, so sehe ich es nach dem Beleg und beziehe es bei der nächsten Runde ein. / Voraussetzung dafür ist nur, daß Sie meine Sachen möglichst nicht mit fremden Beiträgen untermischen lassen, so daß ich meine Chroniken immer unter irgendeinem Gesichtspunkt zusammenstellen kann, der sich mir gerade ergibt. Ich möchte das ausbaun und könnte die Zahl meiner Beiträge steigern.« Mit »fremden Beiträgen untermisch[t]« erschienen die beiden – von der Klagenfurter Ausgabe unter die Rubrik »Wissenschaftliches Feuilleton« zusammengeführten – Einzeltexte Der Nervenchok und Scheinbar schwere Tuberkulose im Mai 1923.
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eingerichtet habe.« (Br I, S. 288) Hier spricht weder der junge Maschinenbaustudent mit literarischen Ambitionen noch Musils literarische Figur General Stumm von Bordwehr,71 hier spricht der Literat, der Dichter und Essayist – der Feuilletonist Robert Musil, der in seinem fragmentarischen Roman Der Mann ohne Eigenschaften auf eine Vielzahl von zeitgenössischen Materialien, Wissensordnungen und Diskursen zurückgreifen wird, um – wie es in einem Interview mit Oskar Maurus Fontana heißt – »Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt« zu geben (GW II, S. 942). Und das kann jemand, der nicht nur ›Papiermotte‹ ist, sondern sich auch mit Verbrennungsmotoren auskennt, besser. Bereits 1922 hatte Musil dem »Feuilletonismus«, der »selbst bei den höchsten Honoraren kaum das Schreibmaterial kompensier[e]«, Publizistik als Form des Wissens gegenübergestellt: Dagegen denke ich mir, daß Zeitungen doch immer für ›Wissenswertes‹ aus den verschiedenen Gebieten Interesse haben, und da ich davon aus Natur- und Geisteswissenschaften ziemlich viel kenne, wäre hier vielleicht eine Möglichkeit für Aufsätze gegeben, die den Zeitungen passen und für mich eine nicht zu abseits liegende Tätigkeit sind.72
Aber Musils feuilletonistische Tätigkeit verarbeitet und vermittelt nicht nur zeitgenössisches Wissen, sondern die ›kleinen Formen‹ im Feuilleton entwickeln zudem eine ›kleine Literatur‹, die sich im Changieren zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, Narration und Reflexion wiederum kritisch gegenüber den Prozessen der Modernisierung verhält.73 In Bücher und Literatur (in Die literarische Welt, 1931) legt Musil seine Vorstellung von Kritik ausgehend vom frühromantischen Konzept der progressiven Universalpoesie als eine der Literatur immanente selbstreflexive Funktion dar: »Kritik in diesem Sinn ist nichts über der Dichtung, sondern etwas mit ihr Verwobenes.« (GW II, S. 1169) Die Übereinstimmung mit der 1920 veröffentlichten Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der Romantik von Walter Benjamin, der wie Musil Beiträger in den Wochen- und Monatsschriften Die Argonauten, Die literarische Welt, Vers und Prosa, Der Querschnitt und Maß und Wert war, ist frappierend. Während die moderne Literatur selbst zur Kritik wird und Kritik zu Literatur, lässt sich ein komplementärer, aber nicht notwendig kausaler Prozess konstatieren, in dem Kunst/ Literatur zur schlecht verkauften Ware degeneriert, so dass in der Folge – so 71 72 73
Vgl. das 85. Kapitel des Mann ohne Eigenschaften: »General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilverstand zu bringen« (MoE, S. 370–380). KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Musil an Carl Seelig, 31. 12. 1922. Es stellt sich zudem die Frage, inwiefern das von Deleuze/Guattari entwickelte Konzept einer ›kleinen Literatur‹ für Musils ekstatische Tier/Mensch-Blicke, den ›anderen Zustand‹ als Auflösung zum Anorganischen und ›Schizoanalytischen‹ und für den Essayismus als (text-) parasitäre, rhizomartige Struktur fruchtbar gemacht werden könnte; vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. [1975] Frankfurt a. M. 9 2014.
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Musil – von »zehn bedeutenden Schriftstellern neun sich nur durch den Hausierhandel mit Feuilletons ernähren« können (GW II, S. 515). Das Feuilleton1 aber avanciere zur Kunstform: Der tätige Mensch fühlt sich durch ihre Unruhe [»der Mottenseelen«, die ›nur Literatur‹ schreiben; B. N.], belästigt, und wer hätte ihn noch nicht kurz entschlossen erklären hören, daß er in Gerichtssaalberichten, Reisebeschreibungen, Biographien, politischen Reden, geschäftlichen Aussprachen, in den Erfahrungen am Krankenbette, auf Bergfahrten oder in der Fabrik mehr Poesie und Erschütterung findet als in der zeitgenössischen Literatur. Von da bis zu der Überzeugung, daß in dieser ›raschlebigen und von großen Vorgängen erschütterten Zeit‹ eigentlich nur das kleine Zeitungsentrefilet oder Feuilleton wirklich lebendige Kunst sei, ist es nicht mehr weit. (GW II, S. 1164 f.; Herv. B. N.)
Allerdings scheint das Ich, das hier so zeitungs- bzw. feuilletonkritisch spricht, weder selbst Dichter, noch anspruchsvoller Leser zu sein; zumindest gibt es zu Beginn von Bücher und Literatur an, weder etwas vom »literarische[n] Flurschützenamt des Kritikers« zu verstehen, noch selbst gerne Bücher zu lesen (GW II, S. 1160). Dieses Ich ist auch hier nicht »Ich«,74 sondern ein Anderer, das heißt einer der textinternen Vertreter des Autors, der die Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz zwischen dem Subjekt der Aussage (Autor) und dem Subjekt des Ausgesagten (essayistisches Ich) zum Ausdruck bringt. Es ist österreichischer Autor und »deutsche[r] Leser« (GW II, S. 1161) zugleich, sein Status ist hybride. Denn zwischen dem Dichter, der vom zeitgenössischen Leser/der zeitgenössischen Leserin nicht mehr gelesen wird, und dem Feuilletonisten steht der Essayist, jener Mann, dessen »Reich« zwischen Dichtung und Feuilleton, zwischen Kunst und Wissenschaft, »zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre« liegt (MoE, S. 253). Sein Schicksal im zeitgenössischen Literaturbetrieb, der ›Nur-Literatur‹ nicht vermarkten kann, wird in Der Mann ohne Eigenschaften am Beispiel Platons ebenso satirisch wie selbstironisch beschrieben. So muss auch der – nach Georg Lukács – »größte[ ] Essayist[ ], der je gelebt und geschrieben hat«,75 im modernen Kakanien für die »Unterhaltungsbeilage« eines »Blattes ein hübsches Feuilleton [. . .] schreiben (aber möglichst locker und flott, nicht so schwer im Stil, mit Rücksicht auf den Leserkreis)« (MoE, S. 325). 74
75
Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Essayistische Fragmente/Das Essaybuch (1923–1927)/Versuche einen andren Menschen zu finden: »[. . .] ich, der ich weder ein Gelehrter, noch ein Charakter bin, noch in diesem Fall Dichter sein will, [kann] meinen Gedanken nur einen Ich-Zusammenhang geben; so will es die Sache, nicht ich. Dieses Ich bin nicht ich, wie man wohl sieht, aber es wird auch keine Figur sein, denn ich will fiktiv-biografisch nur soviel unterlegen als dienlich ist um gewisse Gedanken auf kürzerem Weg verständlich zu machen.« Vgl. Georg Lukács: Über Wesen und Form des Essays. Ein Brief an Leo Popper, in: ders.: Die Seele und die Formen. Essays. Darmstadt 1971, S. 7–31, hier S. 24.
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Das »Zeitungsentrefilet«, die Glosse wie das Feuilleton2 , unterscheiden sich vom literarisch, philosophisch und menschlich ›Bedeutenden‹ bzw. ›Allgemeinen‹ durch ihren Kontext, durch die Tatsache, dass sie in einer Zeitschrift publiziert worden sind, ggf. durch ihre Aktualität, ihre Kürze und bestenfalls Würze sowie durch den nicht zu vernachlässigenden Umstand, dass sie bezahlt werden,76 nicht aber durch vermeintlich textinterne Kriterien wie Stil, Dichte oder Fiktionalität. Vor allem die Glosse, der eingeschobene, prägnant formulierte Kurzkommentar in Zeitungen – in der Kochkunst das kurzgebratene Fleischgericht vom Lendenstück, Schwein oder Rind –, eignet sich in Bezug auf Musils Texte weder im Kontext Feuilleton noch in Bezug auf die Neue Sachlichkeit dazu, eine ausreichend distinkte (editorische) Rubrizierung in ›Kurzprosa‹, ›Essay‹ und ›Kritik‹ zu treffen. Zum einen, da sich von den frühen Brünner Veröffentlichungen, über den Losen Vogel bis hin zum Nachlaß zu Lebzeiten und dem Mann ohne Eigenschaften (inkl. Nachlasskonvolut) durchaus Texte heraussondern lassen, die ›glossenhaft‹ sind, also einen vorgängigen Prätext kommentieren, Wortspiele und Sprachkritik enthalten. Zum anderen sind Texte wie Geschwindigkeit ist eine Hexerei (in Vossische Zeitung, 1927), Blech reden (in Prager Presse, 1931), aber auch Türen und Tore (in Sport im Bild, 1928) ebenso charakteristisch für das zeitgenössische Feuilleton wie für zahlreiche Texte Musils – und zwar nicht nur für die im Feuilleton veröffentlichten. In Musils Œuvre befinden sich einzelne Formulierungen, Figurenreden, Zitate, ganze Textpassagen in einem essayistischen Vertextungszusammenhang, dessen Interferenzen sich zwar bestenfalls textgenetisch und somit chronologisch bzw. intra- und intertextuell bestimmen, aber eben nicht in bestimmte Gattungsformen unterscheiden lassen: hier Tagebuchaufzeichnung, da ›Kurzprosa‹, hier ›Essay‹ und dort ›Glosse‹ oder ›Kritik‹. Gehen wir aber von einem Oberbegriff ›Literatur‹ aus, wie ihn Musil in Literat und Literatur (1931) vertreten hat, der sowohl ›Dichtung‹ als auch das Feuilleton in all seinen Sparten inkludiert, dann ist ›Dichtung‹ im emphatischen Sinn das, was sich in Form der ›Glosse‹, der ›Kurzprosa‹, nicht sagen77 bzw. sich nicht verkaufen lässt.
76 77
Vgl. Karl Corino: Robert Musil, in: Genie und Geld. Vom Auskommen deutscher Schriftsteller. Hg. v. K. C. Reinbek b. Hamburg 1991, S. 424–447. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/23 zu einem Beitrag von Hugo Kesten in der »Aktion IV/21«: »›Die einzig mögliche Ausdrucksform ist für uns das Gedicht u[nd] die Glosse.‹ / Keine Ahnung von dem, was Gedicht oder Glosse nicht ausdrücken können. Gehört auch zum metaphysischen Zeitalter.«
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5. Auf den Hund gekommen – das Feuilleton als Eigenschaft ohne Gattung Das gemiedenste aller Haustiere ist der Hund, auf den man kommt.78
»Anfang Dezember« 1910, also noch bevor 1911 Das Unanständige und Kranke in der Kunst in Alfred Kerrs Pan erscheint und er 1912/1913 an den beiden Jahrgängen von Franz Bleis Der lose Vogel mitarbeiten wird, notiert Musil: Im Streben nach Verdienst nach Möglichkeiten gesucht, für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben. Der Feuilletonismus, selbst der in der Neuen Rund.[schau] oder im Pan ist mir zu ekelhaft. Wenn irgend ein mir ähnlicher Unbekannter meinen Namen so unter der u.[nd] jener Unnotwendigkeit fände, ich würde mich schämen. (Tb I, S. 230)
Robert Musil spaltet sich in der Folge nicht nur namentlich auf: einerseits in den Dichter, der unter seinem bürgerlichen Eigennamen »Robert Musil« den Törleß (1906) oder die Vereinigungen (1911) veröffentlicht, und andererseits in den Essayisten und Kritiker, der seine »Handelsartikel« (GW II, S. 1465) nur mit Vornamen oder Kürzel, mit fremdem Namen oder eben gar nicht zeichnet. Musil, der moderne Platon im Literaturbetrieb, publiziert von September bis Dezember 1922 für die Deutsche Zeitung Bohemia und ab 1923 verstärkt auch in Wiener Zeitungen Theaterkritiken.79 Doch bereits Ende 1923 kündigt er in einem Brief an Franz Blei an, sein »Verhältnis« mit dem Feuilleton – »ungeachtet der effektiven Lebensgefahr, die das für mich heute bedeutet« – »wieder [zu] lösen«: Denn ich habe einen Monat lang den Versuch gemacht, mich beim »Abend« als Theaterkritiker und Glossist zu verdingen, und bin dabei geistig auf einen Hund gekommen, der meinen Kopf als sein Strohlager fordert. Besonders das Glossenschreiben, wenn es nicht aus dem Übermut einer Gemeinschaft hervorgeht wie einstens unser Loser Vogel, ist blödestes Pfotensaugen. (Br I, S. 329 f.)
Die ›Glossen‹, auf die Musil sich hier offenbar bezieht, sind Beiträge, die 1912/1913 anonym in Franz Bleis Zeitschrift Der lose Vogel veröffentlicht worden sind. Acht von ihnen (Erinnerung an eine Mode, Penthesileiade, Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik, Politik in Österreich, Über Robert Musil’s Bücher, Moralische Fruchtbarkeit, Der mathematische Mensch) – inklusive des nur einseitigen Textes Analyse und Synthese – sind in den Werkausgaben unter ›Essays‹ rubriziert, nur Gabriel Schillings Flucht 78 79
KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Brünner Veröffentlichungen 1898–1902/Lachende Gedanken. Vgl. Pfohlmann: Literatur- und Theaterkritik (Anm. 2), S. 418.
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in die Öffentlichkeit wird – mit immerhin dreieinhalb Druckseiten in der Edition Frisés – den ›Kritiken‹ zugeordnet. Es handelt sich um einen Verriss des Dramentextes Gabriel Schillings Flucht von Gerhart Hauptmann,80 den Musil 1912 in Bezug auf die ›klassische‹ Konstellation – männlicher Protagonist zwischen zwei Frauen, einer älteren Ehefrau und der jüngeren ›neuen Frau‹ – auf den unsentimental-›synthetischen Begriff‹ von »Menschen, die an Hühneraugen leiden«, bringt: »Er [i. e. der Begriff] enthält die Atmosphäre eines kleinbürgerlichen Schuhinnern vermengt mit echter Sensibilität.« (GW II, S. 1441) Es ist zugleich das Bild, das Musil einerseits für die Mehrzahl der zeitgenössischen Dichter im ›reizbaren‹ (Karl Lamprecht), ›nervösen Zeitalter‹81 verwendet und als »Mann im Exil« mit bitterer Polemik auf sich selbst beziehen wird, wenn er sich 1942 in einem Brief an Rolf Langnese als »Büffel« beschreibt, »dem an der Stelle seiner gewaltigen Hörner ein anderes Hautgebilde, nämlich zwei lächerlich empfindliche ›Hühneraugen‹, entstanden ist« (Br I, S. 1388). Die frühe, 30 Jahre zuvor erschienene, Rezension zu Hauptmanns Drama aber spielt die Themen an, die auch für seine anderen in Der lose Vogel (1912/ 1913) publizierten Texte sowie sein weiteres literarisches Œuvre relevant sind: das Verhältnis der Geschlechter sowie eine Kritik zeitgenössischer Männlichkeit. Denn im ›Fall Schilling‹ wird die »männliche Anständigkeit« und das »Sauberkeitsbedürfnis« des »gesunde[n], deutsche[n] Mann[es]« mit »Leichendornkrone« als »Schwäche« gedeutet, die in Hauptmanns Drama auf dem »Niveau [. . .] feuilletonistische[r] Weibchenpsychologie« bleibe (GW II, S. 1142). Zugleich wird Gabriel Schillings Flucht von Musil – wiederum in brillanten Formulierungen – im Spannungsfeld von Décadence, Naturalismus und Symbolismus als Künstlerdrama gelesen, das die Vorlage für eine grundsätzliche Kunstkritik bietet: Die programmatische Wirklichkeitsdarstellung (»der Enveloppe«), welche im naturalistisch-symbolistischen Drama Ibsens und Hauptmanns die agierende Idee »hinter« bzw. »über dem Stück« oder in den Figuren verstecke, sei selbst »Ideologie«: In der Kritik an »Programm-Musik«, »Pantomime in Worten« und »Kopien von Kopien« (GW II, S. 1444 f.) aber ist bereits die Unterscheidung zwischen einem bloß illustrativ-unterhaltenden und einem neuen, schöpferischen Theater enthalten.82 Statt die Figuren »unter den Händen des Dichters verenden [zu lassen] wie 80
81 82
Gerhart Hauptmann: Gabriel Schillings Flucht, entst. 1905/1906; Uraufführung nach der Publikation von Musils Text im Losen Vogel in Lauchstädt am 14. 6. 1912; vgl. KA/Kommentare/ Werkkommentare/Bd. 13 Kritiken/Buchrezensionen/Literatur/Gabriel Schillings Flucht in die Öffentlichkeit/Textkommentar: »Anlass für Musils Rezension ist nicht die Aufführung, sondern ein Vorabdruck von Gerhard [sic] Hauptmanns Stück Gabriel Schillings Flucht [. . .] im Januar-Heft 1912 der Neuen Rundschau.« Vgl. Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München 1998. Vgl. Nachwort zum Moskauer Künstlertheater (1921) (GW II, S. 1526–1529) sowie Der Schwärmerskandal (1929) (GW II, S. 1189–1193).
Vom Vogel zum Querschnitt – der Essay als kleine Form
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Meerschweinchen« (GW II, S. 1443), geht es Musil darum, ingenieursmäßig Ideen zu konstruieren, um diese in der literarischen Darstellung bzw. figurativen Inszenierung von ›Weltanschauungen‹ zu relationieren und jenseits von ›gesund‹ und ›krank‹, ›männlich‹ und ›weiblich‹ neue Möglichkeiten – menschliche wie dichterische – aufzuzeigen.83 Nun ist Musils Metatext zu Gabriel Schillings Flucht, wenn nicht durch seine Länge, so doch durch seinen Anlass von den als Essays rubrizierten Texten unterschieden. Dies kann aber ebenso für Anmerkungen zu einer Metapsychik (in Die Neue Rundschau, 1914), Geist und Erfahrung (in Der neue Merkur, 1921), Wege zur Kunstbetrachtung (in Der neue Merkur, 1922)84 sowie Ansätze zu neuer Ästhetik (in Der neue Merkur, 1925) geltend gemacht werden, also für jene Texte, die – mit Ausnahme von Wege zur Kunstbetrachtung – als Essays klassifiziert werden. Musil beginnt nicht erst »bei der Neuen Rundschau, über das Medium der problemorientierten Sammelrezension seine ästhetischen Positionen in das Literatursystem einzuspeisen«85 und somit die Grenze zum Essay zu überschreiten – vielmehr bildet sich sein Konzept von Literaturkritik in der ›kleinen Form‹ des Essays bereits vor 1914 im Kontext des Losen Vogels heraus. Wenn nun alles Feuilleton ist, was im Feuilleton erscheint, sollte ›Kritik‹86 dann als Oberbegriff zu ›Essay‹ und ›Feuilleton2 ‹ fungieren? Mein Vorschlag lautet, statt vom Gattungs- bzw. Textsortenbegriff auf der einen Seite oder aber von einer feuilletonistischen, essayistischen, glossistischen usw. Schreibweise auf der anderen Seite von einem essayistischen Vertextungsprinzip auszugehen. Dieses hinterfragt die andauernden literaturwissenschaftlichen ›Pilotierungsanstrengungen‹ und überschreitet die traditionelle ontologische – und in Bezug auf die Formen moderner Prosa überholte – Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion, Narration und Reflexion, in Buchform vs. im Feuilleton publiziert etc., ohne textspezifische (die ›kleine Form‹) und auf den jeweiligen Publikationskontext (das Feuilleton) bezogene Differenzen einzuebnen. Denn es geht nicht nur um einen inhaltlich zu bestimmenden »Komplex essayistischer Fragestellungen«,87 sondern auch um ein modernes, intra-, inter- und metatextuell hochgradig komplexes Konstruktions- und Vertextungsprinzip.
83 84 85 86 87
Vgl. hierzu Über Robert Musil’s Bücher (in Der lose Vogel, 1913) (GW II, S. 995–1001) sowie Skizze der Erkenntnis des Dichters (in Summa, 1918) (GW II, S. 1025–1030). Erstabdruck am 16. 10. 1921 in der Prager Presse. Pfohlmann: Literatur- und Theaterkritik (Anm. 2), S. 417. Bd. 13 (»Kritik«) der Klagenfurter Ausgabe enthält die Rubriken »Buchrezensionen«, »Theaterkritiken«, »Kunstkritiken«, »Kulturberichte«, »Theaterglossen«, »Antworten auf Umfragen«. KA/Kommentare/Werkkommentare/Bd. 11 Publizistik/Feuilleton 1914–1932/Stilgeneration oder Generationsstil/Textgenese und Kommentar.
Roland Innerhofer
Sichtbare und unsichtbare Bauten Musils Architekturminiaturen als Paradigmen intermedialer Differenz Abstract: Short prose texts and narratives such as Slowenisches Dorfbegräbnis, Triëdere, Türen und Tore, or Der Vorstadtgasthof unfold a spectrum of perception of architecture that ranges between scopophilia, corporal experience, and critical reflection. Likewise, these texts challenge the traditional symbolic function of architecture. This function is superseded by an awareness of the differences between the languages and media of architecture and literature. As a consequence, architecture in Musil’s texts no longer stabilises sense and leaves the reader in an uncomfortable precarious situation. However, by bursting traditional constructions of order, these texts offer a critical commentary on contemporary aesthetics and ways of life, while opening new possibilities.
1. Unverfügbare Architekturen In Musils Kurzprosa sind Thematisierung und Inszenierung von Architektur Experimentierfelder der Intermedialität. Das intermediale Verhältnis von Literatur und Architektur ist schon deshalb komplex, da beide Künste und kulturellen Praktiken auf Medienverbünden beruhen. So bildet die Schrift ein von Literatur und Architektur geteiltes Medium, weil der sprachliche Kommentar einen wesentlichen Bestandteil des Medienverbundes Architektur bildet. Doch von den drei wichtigsten Medien der Architektur, dem Bau, der bildlichen Darstellung als Zeichnung oder Modell und der Sprache, sind es die Bauten selbst, von denen eine besondere Herausforderung für Musils Schreiben ausgeht. Zwar hat sich Musil nachweislich mit architekturtheoretischen Schriften seiner Zeit auseinandergesetzt,1 seine literarische Imagination wird jedoch besonders durch die mediale Andersartigkeit und Distanz zwischen Literatur und gebauter Architektur angespornt. Was ihn an der Architektur interessiert, sind nicht die Übereinstimmungen, sondern die Dissonanzen zwischen den Wahrnehmungsweisen, Wissensordnungen und Praktiken von Literatur und Architektur.2 Musils Auseinandersetzung 1 2
Vgl. Hans-Georg von Arburg: Architektur, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 691–695. Anja Gerigk: Architektur liest Literatur. Intermediale Diachronien vom 19. ins 20. Jahrhundert. Würzburg 2014 (= Literatur – Kultur – Theorie, Bd. 20), plädiert dafür, auch in der
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mit Architektur ist vom Bewusstsein der Fremdheit des architektonischen Mediums, der Bauten in ihrer Materialität geprägt: Die physische Raumerfahrung, welche gebaute Architektur vermittelt, kann im symbolischen System der Sprache nur heraufbeschworen, die fremde Materialität der Bauten nur sprachlich umkreist werden. Die etablierte Symbolik architektonischer Strukturen wird verabschiedet: Sie erscheinen zunehmend als unzugänglich, rätselhaft und bedrohlich. Indem die architektonischen Symbole und Metaphern destabilisiert und mehrdeutig, ihre Deutungen multipliziert werden, tritt die Fremdheit der Architektur hervor, die sich nicht vollkommen literarisch absorbieren lässt. Dabei erweist sich die Auseinandersetzung mit dieser spannungsvollen intermedialen Beziehung als ein Vehikel der ästhetischen und zeitkritischen Positionierung von Musils Schreiben. Nicht zuletzt als Kontrapunkt gegen die heroischen Narrative der Baumoderne beharrt Musils Architekturdarstellung auf dem Widerstand des Konkreten und Partikularen. Musils Texte entfalten ein Spektrum detaillierter, partikularer Architekturwahrnehmungen zwischen Schaulust, leiblicher Erfahrung und kritischer Reflexion. Die in der Kurzprosa erkennbare Fokussierung auf einzelne architektonische Phänomene bleibt auch in der Großform des Romans Der Mann ohne Eigenschaften erhalten. Das architektonische Ensemble der Großstadt, das den Schauplatz des Romans bildet, exemplifiziert jedoch, was für die Wahrnehmung von Architektur grundsätzlich gilt: Obschon für diese die »unmittelbare Anschauung« und das »Erleben mit allen Sinnen« unverzichtbar sind, liegen solcher Anschauung Informationen, Kontexte und Relationen zugrunde, in die Architektur eingebunden ist: »soziologische Fragen, urbane Zusammenhänge, Strukturen, Typologien und Zeichen«.3 Eben um diese Kontexte und Relationen geht es, wenn Der Mann ohne Eigenschaften Wohnungen, Häuser, Gärten, Plätze und Straßen in der Großstadt inszeniert. Dabei fügen sich die einzelnen Beobachtungen keineswegs zu einem Ganzen. Die Stadterfahrung erscheint vielmehr als eine Erfahrung des Undurchsichtigen, Unverfügbaren, Kontingenten und Fragmentarischen, die sich im Labyrinth, im chaotischen Gewirr der Verkehrs- und Kommunikationsströme manifestiert. In ihrer komplexen Verworrenheit ist die Stadt ein Modell für die Struktur des Romans. »[A]ls ein in sozialer Diversität entfalteter Handlungsraum« gibt sie, wie Alexander Honold schreibt, »eine verdichtete Vorstellung der Prozesse von Arbeitsteilung, Entfremdung, beschleunigtem Umschlag und Austausch von Gütern sowie wachsendem Bewegungsbedarf und Verkehr.«4 Die Teleologie einer zielgerichteten Entwicklung der Individualität,
3 4
Theorie die intermediale Differenz zwischen Literatur und Architektur nicht vorschnell einzuebnen. Friedrich Achleitner: Von der Unmöglichkeit, über Architektur zu schreiben?, in: GAM – Graz Architecture Magazine 11 (2015), S. 9–25, hier S. 18. Alexander Honold: Stadt, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 1), S. 587–593, hier S. 587.
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die der Bildungsroman in der Wegmetaphorik abbildete, wird durch Entwürfe komplex verwobener Zusammenhänge in der Stadttopographie ersetzt. An die Stelle der Zielstrebigkeit tritt »die Abschweifung, die ziellose Bewegung in der Fläche des Stadtgebiets«.5 Der Mann ohne Eigenschaften führt vor, was für das Verständnis moderner Stadterfahrung fundamental ist: die Einbindung der Stadt und ihrer Architektur in ein Geflecht von kulturell bedingten, historisch wandelbaren Wahrnehmungsweisen und Wertungssystemen, die ihrerseits von architektonischen Strukturen geprägt werden. Denn die Architektur stellt Wahrnehmungsdispositive bereit, rahmt und steuert Handlungen; sie bildet Machtstrukturen ab, kanalisiert ihre Verfahren und modelliert ihre Funktionsweisen. Musils Kurzprosa richtet ihr Interesse zum einen auf die Effekte der Architekturwahrnehmung, zum anderen auf die leibliche Erfahrung von Architektur. Beide sind eingebunden in einen historischen Rahmen. Musils Texte zeigen die pragmatischen und epistemischen Relationen, von denen Produktion und Rezeption von Architektur ebenso wenig abstrahieren können wie die von Literatur: »Architektur ist viel weniger eine Zweck- als eine weit vernetzte Kontextkunst.«6 Kontext ist in diesem Verständnis nicht etwas Vorgegebenes, sondern er entsteht in einem dynamischen Wechselverhältnis von Gegebenem und Neuem. Ein Effekt solcher Kontextualität ist der Verlust verbindlicher Repräsentationsschemata, deren Unzulänglichkeit vorzuführen Musils Texte nicht müde werden. Türen und Tore, die zweite »Unfreundliche Betrachtung« im Nachlaß zu Lebzeiten,7 handelt von der Obsoletheit der titelgebenden architektonischen Elemente. Weder technisch noch sozial haben Türen in der Gegenwart eine unverzichtbare Funktion. Die repräsentative Bedeutung der Tür ist mit der des Hauses unzeitgemäß geworden: Der Mensch früherer Zeiten, Schloßherr wie Städter, lebte in seinem Haus; seine Stellung im Leben zeigte sich darin an, speicherte sich dort auf. Man empfing noch in der Biedermeierzeit bei sich; heute macht man das bloß nach. Das Haus hat dem gedient, was man scheinen wollte [. . .]; heute sind aber andere Dinge da, die diesen Zweck erfüllen: Reisen, Automobile, Sport, Winteraufenthalte, Appartements in Luxushotels. (GW 7, S. 505)
Mit der Unzeitgemäßheit häuslicher Repräsentation geht das Veralten architektonischer Symbolik einher: »[U]nter dem Diktat der technischen Funk5 6 7
Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 311. Gerd de Bruyn, Wolf Reuter: Das Wissen der Architektur. Vom geschlossenen Kreis zum offenen Netz. Bielefeld 2011, S. 181. Der Text erschien zuerst in Sport im Bild (1928), in der Prager Presse (1929) und in Der Wiener Tag (1931).
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tion gerät eine andere Funktion, nämlich die symbolische, unter die Räder.«8 Die Sprache hält an etwas fest, was es in der zeitgenössischen Realität nicht mehr gibt: Der Türrahmen hat durch die bautechnischen Neuerungen seine Funktion verloren, er wird zum aufgeklebten Ornament. An die Stelle einer Realsymbolik sind Klischees getreten. Dieser Verlust der Realsymbolik eines architektonischen Elements ist Symptom der verlorengegangenen sozialen Funktion traditioneller Architektur. Architektonische Repräsentation hat ihre gesicherten, allgemeingültigen, von allen geteilten Bedeutungen verloren. Mobilität ist an die Stelle der Stabilität und Massivität des symbolischen Baukörpers getreten. Musil vertritt eine durchaus ironische Haltung zu den Bestrebungen des funktionalistischen ›Neuen Bauens‹, wie es etwa Le Corbusier propagierte, ebenso wie zu einer nostalgischen Rückkehr in eine vormoderne Zeit, in der Türen noch eine in der Realität verbürgte symbolische Funktion hatten:9 »[Solche Ironie] deckt die Aporien sowohl einer autoritären Moderne als auch ihrer imaginären Alternative [. . .] schonungslos auf.«10 Besonders die historische Ablösung des alten durch den neuen Mittelstand zeigt sich in den veränderten Wohnverhältnissen. Im 19. Jahrhundert herrschte noch das von Wilhelm Heinrich Riehl entworfene Konzepts des ›ganzen Hauses‹, nach dem, in den Worten Nacim Ghanbaris, »das Haus die ›natürlichen‹ sozialen Bande der Familie und Verwandtschaft sowie die freiwilligen Bande des Arbeits- und Dienstverhältnisses in sich vereinigt.«11 Wenn dieses Konzept schon im 19. Jahrhundert Reflex einer realen Erosion der (klein-)bürgerlichen Hauswirtschaft war,12 so wird es mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vollkommen obsolet. An seine Stelle treten Wohnformen im Kondominium. Solche sind der Schauplatz einer Episode in Die Amsel: nämlich die Berliner Hinterhöfe, in denen die architektonische Anordnung der Wohnungen und ihre Grundrisse die Lage der verschiedenen Räume und Funktionen wie Küche, Bad, Schlafzimmer, Toilette und deren Einrichtung genau festlegen. Diese etagenweise vorgegebene rationale Anordnung der architektonischen Elemente lässt einer individuellen Lebensgestaltung kaum Platz: Liebe, Schlaf, Geburt, Verdauung, unerwartete Wiedersehen, sorgenvolle und gesellige Nächte liegen in diesen Häusern übereinander wie die Säulen der Brötchen in einem Automatenbüfett. Das persönliche Schicksal ist in solchen Mittelstands8 9 10 11 12
Hans-Georg von Arburg: Türen und Tore. Hermeneutik und Hermetik bei Robert Musil und Le Corbusier, in: Poetica 43 (2011), S. 319–354, hier S. 325. Vgl. ebd., S. 326–328. Ebd., S. 352. Nacim Ghanbari: Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte, 1850–1926. Berlin, Boston 2011 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 128), S. 5. Saskia Haag: Auf wandelbarem Grund. Haus und Literatur im 19. Jahrhundert. Freiburg i. Br. 2012 (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae, Bd. 141), zeigt anhand von Texten Stifters, Goethes, Kellers u. a. die Krise der sozialen wie der repräsentativen Funktionen des Hauses.
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wohnungen schon vorgerichtet, wenn man einzieht. Du wirst zugeben, daß die menschliche Freiheit hauptsächlich darin liegt, wo und wann man etwas tut, denn was die Menschen tun, ist fast immer das gleiche; da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man auch noch den Grundriß von allem gleich macht. (GW 7, S. 550)
Die Architektur steuert die Wahrnehmung und bestimmt deren Perspektive. Diese Vorgaben sorgen für Stabilität, Regelmäßigkeit und Einförmigkeit des Lebens ihrer Bewohner. Azwei erzählt seine Geschichte auf dem Balkon der Wohnung von Aeins: einer Mittelstandswohnung, die vermutlich ihrerseits ebenso standardisiert ist wie die Wohnungen des »Automatenbüfetts« in den Berliner Hinterhöfen. Diese sind für Azwei Ausdruck eines »gekauften« Lebens, dem er das von den Eltern »geschenkte« entgegenstellt (GW 7, S. 551). Das eine ist Ergebnis ökonomischer Rationalität, das andere Zeichen der Unregelmäßigkeit, Unberechenbarkeit, des Geheimnisses. Azwei strebt nach einem ungewohnten Leben. Wenn Azwei ein Aeins entgegengesetztes biographisches Paradigma darstellt, so evozieren die Wohnverhältnisse von Aeins ein »gewohntes Leben«,13 wie es Walter Benjamin skizziert. Ein solches Leben ist durch die Wohnung und ihre Möblierung in der Immobilität erstarrt. »[D]er Begriff ›gewohnten Lebens‹ [. . .] geht vom Wohnen als Lebensform aus. Im ›gewohnten Leben‹ hat der ›Raumsinn‹ zum Beispiel in Form von Einrichtungsgegenständen ein materiales Fundament.«14 Benjamin bezeichnete das »Wohnen als Transitivum«, das darin bestehe, »ein Gehäuse uns zu prägen«, als Merkmal des »wohnsüchtigen« 19. Jahrhunderts: »Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken konnte, wo das Instrument mit all seinen Ersatzteilen in tiefe, meist violette Sammethöhlen gebettet, daliegt.«15 Das bürgerliche Interieur ist nach Benjamin nicht nur Spiegel der Gewohnheiten des Bewohners, es bringt vielmehr Gewohnheiten hervor.16 Eben aus solchen Gewohnheiten, dem geordneten Haushalt mit Ehefrau und geregeltem Arbeitsleben, bricht Azwei aus. Die »Wohnsucht« wird durch eine »Wohnangst« konterkariert, die auf das, was Benjamin als bürgerliches »Gehäusewesen«17 bezeichnete, mit einem Fluchtreflex reagiert. 13
14
15 16 17
Walter Benjamin: Das Passagenwerk. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1983, S. 292. Vgl. Detlev Schöttker: »Gewohntes Leben«. Walter Benjamins Erkundungen zu Städten und Architekturen, in: Walter Benjamin: Über Städte und Architekturen. Hg. v. D. S. Berlin 2017, S. 263–277, hier bes. S. 265 f. Detlev Schöttker: Raumsinn und gewohntes Leben. Walter Benjamins Erkundungen zu Städten und Architekturen, in: Text-Architekturen. Die Baukunst der Literatur. Hg. v. Robert Krause u. Evi Zemanek. Berlin, Boston 2014 (= linguae & litterae, Bd. 38), S. 206–222, hier S. 208 f. Benjamin: Das Passagenwerk (Anm. 13), S. 292. Vgl. Walter Benjamin: Erfahrung und Armut [1933], in: ders.: Über Städte und Architekturen (Anm. 13), S. 182–186, hier S. 185. Benjamin: Das Passagenwerk (Anm. 13), S. 292.
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Musil weist immer wieder auf die stabilisierende Funktion von Architektur hin. »Man wird das, was man tut« (GW 7, S. 867), ist ein Grundsatz, der in verschiedenen Varianten in Musils Texten wiederkehrt. Auf die Architektur bezogen bedeutet dies, dass die einmal entwickelten architektonischen Formen in der Regel permanent reproduziert oder nur geringfügig verändert werden. Die bauliche Tätigkeit schafft damit Modelle, die die weitere Bautätigkeit bestimmen, und die daraus resultierenden Bauten regeln ihrerseits die Lebensweise ihrer Bewohner und Benutzer. In dieses Wechselspiel zwischen eingeschliffenen, automatisierten Wahrnehmungsformen und Bauweisen greift die literarische Reflexion störend ein und vermag es, Konventionen aufzubrechen. In dem Essayentwurf Der deutsche Mensch als Symptom (1923) äußert Musil dazu: Man wird aber nahe an die Wahrheit herankommen (ein kleiner Rest mag Anlage und Erbmasse sein), wenn man als das variativ, die Besonderheiten Bildende die Gesamtheit der Rückwirkungen ansieht, welche der Mensch von dem erfährt, was er selbst geschaffen hat. Das klingt unmöglich oder dumm, die Aktivität so zugunsten der Reaktion zu eliminieren, aber tatsächlich baun doch die Häuser die Häuser und nicht die Menschen; das 100. Haus entsteht weil und wie die 99 Häuser vor ihm entstanden sind und wenn es eine Neuerung ist, so geht diese statt auf ein Haus auf eine literarische Diskussion zurück. / M. a. W. ist das der Gemeinplatz, daß die Entwicklung am Leitfaden der Tradition und behutsamer Abbiegung der Richtung erfolgt. (GW 8, S. 1369)
Ein Effekt der Gewöhnung ist es, die Architektur der bewussten Wahrnehmung zu entziehen; die Aufgabe der Literatur in der Sicht Musils dagegen, dem Betrachter die Augen zu öffnen: »Dem Physiognomiker der Moderne liefert die repetitiv agierende Architektur lediglich das Schema, die kritisch reagierende Literatur dagegen das Individuationsprinzip spezifisch moderner Erscheinungsformen und Typen.«18 In seinem kurzen Essay Denkmale, der dritten »Unfreundlichen Betrachtung« im Nachlaß zu Lebzeiten,19 liefern die Denkmäler ein Beispiel für das Unsichtbarwerden des Gewohnten: »Alles, was die Wände unseres Lebens bildet, sozusagen die Kulisse unseres Bewußtseins, verliert die Fähigkeit, in diesem Bewußtsein eine Rolle zu spielen.« (GW 7, S. 507) Diese Invisibilisierung verhält sich im Falle der Denkmäler ironischerweise gegenläufig zur intendierten Funktion, Aufmerksamkeit zu erregen: »Sie verscheuchen geradezu das, was sie anziehen sollten.« (GW 7, S. 507) Erst der literarische Text macht die Denkmäler wieder sichtbar, indem er den Vorgang ihres Verschwindens in die Unsichtbarkeit exponiert und reflektiert. Dabei wird aber nicht eine intermediale Allianz erneuert, in der die Literatur auf die Repräsentationsfunktion der Denkmäler – seien es Plastiken oder Gedenktafeln – 18 19
von Arburg: Architektur (Anm. 1), S. 694. Der Text erschien zunächst in der Prager Presse (1927), in Die Bühne (1928), in der Magdeburgischen Zeitung (1928) und in der Tageszeitung Der Wiener Tag (1936).
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rekurriert und sich auf sie stützt, um eigene Repräsentationsfunktionen zu stärken und Sinnangebote zu beglaubigen. Architektonische Elemente oder Plastiken dienen in der Literatur nicht mehr der symbolischen Veranschaulichung; vielmehr sind die symbolischen Bedeutungen im Zuge der modernen Repräsentationskrise fragwürdig geworden. Im Gegenzug schreibt Musil der Literatur die Aufgabe zu, die in der Repetition und Gewöhnung abgestumpfte Wahrnehmungsfähigkeit für die gebaute Umwelt zu schärfen und sie so in ihrer Materialität wieder sichtbar zu machen. Im Vergleich mit der Architektur kommt der Literatur dabei ihre größere Beweglichkeit zugute.
2. Destabilisierung der Ordnungen Musil ist in seinen Texten weniger daran interessiert, architektonische Erneuerungen anzustoßen, als bestehende Architekturen anders zu sehen. Slowenisches Dorfbegräbnis, im Nachlaß zu Lebzeiten in der Abteilung »Bilder« enthalten,20 inszeniert eine Beobachtungssituation. Der Ich-Erzähler sieht dem titelgebenden Begräbnis aus dem Fenster eines gemieteten Zimmers zu. Die Erzählung demonstriert das, was in Die Amsel als Grundsatz formuliert wird, nämlich dass die menschliche Freiheit darin liegt, »wo und wann man etwas tut« (GW 7, S. 550). Demgemäß wird zunächst das Zimmer dargestellt, in dem der Erzähler seine Zuschauerposition einnimmt. Es wird mit dem Attribut »sonderbar« (GW 7, S. 490) versehen. Diese Sonderbarkeit äußert sich nicht in generellen Eigenschaften, sondern offenbart sich einem mikroskopischen Blick, der etwa den Staub in den »Risse[n] und Fugen« der Möbel (GW 7, S. 490) wie unter der Lupe genauestens beschreibt. Der Geruch des Hauses (nach toten Mäusen), das Gerümpel im Vorraum, die Farben der Wände und Vorhänge, all dies verdichtet sich zu einer räumlichen Atmosphäre, die, fern aller Symbolik, leiblich erfahren wird. Die Beschreibung betont den Zufall und die Vernachlässigung. Sie schafft eine atmosphärische Grundlage für die Wahrnehmung der schwer fassbaren und widersprüchlichen Vorgänge während des beobachteten Begräbnisses. Die Fremdheit der Vorgänge ist dabei engstens mit der Fremdheit des Beobachters in dem von ihm beobachteten Milieu verquickt. Die Instabilität der beobachteten Umwelt und der beobachteten Vorgänge entspricht der Instabilität des seelischen Zustands des Beobachters: »Einfach so ängstlich voll von Tatsachen, die nicht recht feststanden, war alles wie ein Porzellanschrank.« (GW 7, S. 492) Die Angst des Zuschauers korrespondiert mit der Verunsicherung des Lebens, das sich in den fremden Begräbniszeremonien äußert. Die Fremdheit und Verwahrlosung des vom Erzähler gemieteten Zimmers ist dabei aber keines20
Zuerst unter dem Titel Begräbnis in A. in der Prager Presse (1921), dann unter dem Titel Slowenisches Begräbnis in der Vossischen Zeitung (1922), in Der Tag (1923) und in der Magdeburgischen Zeitung (1926) erschienen.
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wegs ein Spiegel der Vermieterinnen: Im Gegenteil, die beiden Lehrerinnen zeichnen sich durch eine natürliche Güte und Empathie aus. Am Ende beobachtet der Erzähler, wie die Hand eines der ergriffenen Trauergäste unbewusst mit dessen Hund spielt: »Das rückte mir die Seele wieder ins Lot, ohne daß es ein ausreichender Grund war.« (GW 7, S. 492) Nicht aus dem Arrangement der Gegenstände, sondern aus einer flüchtigen Geste bezieht der Erzähler sein Gleichgewicht. Die stabilisierende Funktion der gebauten Umwelt ist dagegen von ihrer kulturellen Verbindlichkeit abhängig. Beide haben für den fremden Beobachter ausgedient. Über den voyeuristischen Erzähler in Slowenisches Dorfbegräbnis erfährt man kaum etwas anderes als seine räumliche Beobachterposition. Das beobachtende Subjekt erscheint eingebettet in ein dynamisches Feld wechselnder Vektoren und Attraktoren, wie es die von Musil rezipierte topologische Psychologie Kurt Lewins beschreibt.21 In solchen allein durch Erfahrungen sich konstituierenden, nicht durch Repräsentation festzulegenden Wegräumen werden disparate Praktiken und disziplinäre Wissensbestände aneinander gemessen und unentwegt umgestellt, verrückt, relativiert. Radikal subjektive, von der Beobachterposition abhängige Raumkonzeptionen werden dabei poetologisch fruchtbar gemacht. In den Entwürfen zu den Erzählungen [»Hof« der Wiener Vorstadt] (nach 1920; GW 7, S. 779 f.) und Archivar (vermutlich 1922/1923; GW 7, S. 785– 787) bilden architektonische Dispositionen den Ausgangspunkt, aus dem sich die Figuren und das Geschehen herausbilden. Der architektonisch strukturierte Raum erscheint als Dispositiv, in dem sich aus bestimmten Positionen die Figuren und deren Interaktionen entfalten. Diese Positionen zeigen in Archivar soziale und bürokratische Hierarchien an, die den Spielraum der Figuren beschränken und regulieren. Der Protagonist dieser Skizze arbeitet im »Zeitungsausschnittsarchiv« (GW 7, S. 787) des Pressedepartements des Außenministeriums am Wiener Minoritenplatz. Wenn schon die Zimmer der Journalisten im Vergleich zu denen der Diplomaten schlechter eingerichtet sind und auf einen »düsteren Hof« (GW 7, S. 785) gehen, ist das Archiv ein »verächtlich untergebrachte[s] Hilfsamt« (GW 7, S. 787). Der Archivar arbeitet mit der Schere in »einer geräumigen bürokratischen Hundehütte« (GW 7, S. 785). Ihm unterstehen zwei weibliche Hilfskräfte, die die Zeitungsausschnitte einkleben. Die in der räumlichen Situierung sich manifestierende Einengung des Handlungsspielraums wird gerade durch aussichtslose Ausbruchsphantasien verschärft: So stellt sich der Archivar im Umgang mit seiner Gehilfin vor: »Wir könnten den ganzen Tag Dinge tun, die mehr Spaß machen als Zeitungsausschnitte. Sicher denken wir beide daran wie die Stummen.« 21
Vgl. Sabine A. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999 (= Explicatio); Roland Innerhofer, Katja Rothe: Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), H. 4, S. 365–381.
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(GW 7, S. 786) Und angesichts des »Hilfsämterdirektor[s] mit seiner Talmifreundlichkeit« fantasiert er: »Ich werde ihm einmal diese Scheere [sic] in den Bauch rennen.« (GW 7, S. 787) Dass sich architektonische Disposition, Figurenkonstellation und Handlungsführung nicht unbedingt passgenau decken, zeigen weniger diese Skizzen als eine ausgeführte Erzählung wie Der Vorstadtgasthof (1924).22 Der titelgebende Gasthof am Rande der Stadt ist ein liminaler Ort, der zunächst eine traditionelle Form der Normüberschreitung verspricht, nämlich für die Frau das Abenteuer eines einmaligen Ehebruchs mit einem geheimnisvollen Unbekannten. Für diese Frau handelt es sich um eine konventionelle Transgression, die die Norm der bürgerlichen Ehe mehr bestätigt als in Frage stellt. Die Architektur scheint zunächst den Schauplatz für ein solches romantisches amouröses Abenteuer bereitzustellen: ein schäbiger Gasthof am Straßenrand, in den das Paar kurz vor der Sperrstunde um Mitternacht eintritt. Es wird von einer missmutigen Magd durch dunkle, fensterlose, über Ecken und Treppen führende Gänge in ein kerzenbeleuchtetes Zimmer geführt. Die Fliesen sind gelockert, die steinernen Treppen »von vielen Füßen ausgemuldet« (GW 7, S. 630). Im unzureichend beleuchteten Zimmer herrscht vollkommene Stille. Die Dame erwartet das diesem Schauplatz entsprechende Abenteuer: »›Oh wie schauerlich! Huh, wie romantisch!‹ hatte die Dame mehr als einmal ausgerufen [. . .].« (GW 7, S. 630) Doch nicht das durch die Raumbeschreibung scheinbar vorbereitete Geschehen ereignet sich, sondern ein aus dieser Vorbereitung nicht ableitbares, abrupt und schockhaft eintretendes: Der Mann beißt der Frau beim Küssen die Zunge ab. Schon zuvor ist das schaurig-romantische Narrativ Störungen ausgesetzt, wenn der Text die Perspektive der »störrischen und stumpfen« (GW 7, S. 630) Magd, die das Verhalten der Dame im mittleren Alter missbilligt, zur Sprache bringt. Hauptsächlich sind es aber das Verhalten und die als erlebte Rede wiedergegebenen Gedanken des Mannes, welche den Erwartungen der Dame und wohl auch der Leser der Monatsschrift Vers und Prosa und des Feuilletons der Prager Presse, wo die Erzählung zuerst erschien, widersprechen. Das Gäste- und Schlafzimmer, in das das Paar durch einen langen dunklen Gang gelangt, verwandelt sich vom Ort der Liebe in einen der Gewalt. Während die Liebesvereinigung sowohl sprachlich als auch körperlich an der Unfähigkeit und Weigerung des Mannes, die eingeschliffenen Formen und Praktiken zu vollziehen, scheitert, wird die Beziehung zwischen Architektur und Körper auf vollkommen unerwartete Weise neu und invertiert inszeniert. Der Vorgang des Eindringens in die dunkle Gästekammer wird auf körperlicher Ebene als Eindringen der Zunge der Frau in den Mund des Mannes variiert. 22
Erschienen zuerst in Vers und Prosa (1924), dann in der Prager Presse (1926) und in der Reihe Pandora-Drucke (Heft 18): Robert Musil: Der Vorstadtgasthof. Illustrationen v. Richard Ziegler. Berlin 1931.
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»Und dann dauerte es lange, bis seine Zähne ganz durch ihre Zunge kamen.« (GW 7, S. 634) Konnte der Gasthof an der Stadtgrenze eine sinnvolle Bedeutung als Ort des Abenteuers vermitteln, so stellt das gewaltsame Abbeißen der Zunge eine vollkommen neu- und andersartige Analogie zum »abgeschiedenen Ort« her. Das dunkle Zimmer wird zur hermeneutischen Leerstelle: Das Handeln des Mannes, der Ausbruch der Gewalt wird nicht erklärt und bleibt unerklärlich. Auch die traditionelle Symbolik der ›dunklen Kammer‹ und des finsteren, engen, verschlungenen Ganges als Ort der Initiation, wie sie etwa in der Freimaurerei üblich war, spielt im Vorstadtgasthof keine Rolle. Der Text bricht mit der grausamen Tat ab: »Der Sturm einer großen Tat wirbelte ihn [i. e. den Mann] empor. In seinen Kreiseln riß er die weiße, blutende, in einer Zimmerecke um sich schlagende, um einen hohen, heiser kreischenden Ton, um den taumelnden Rumpf eines Lauts sich drehende Masse der unglücklichen Frau hinweg.« (GW 7, S. 634) Die Zimmerecke greift nochmals das Bild des Verborgenen auf, das beim Betreten des Zimmers evoziert wird: »Das Licht der Kerze hatte noch nicht Zeit gefunden, in alle Winkel des elenden Zimmers zu kriechen.« (GW 7, S. 631) Nunmehr, am Ende des Textes, wird der geschlossene Raum mit seinen versteckten Winkeln gesprengt und leergefegt. Auch dieses Bild einer gewaltsamen Sprengung des geschlossenen Raumes, der zugleich als Raum des Leibes und des Lebens erscheint, wird nach dem Eintritt in die Kammer gedanklich vorweggenommen: Ihr Kleid war hochgeschlossen, ihr Haar kunstvoll: Das öffnen, war, die unvorstellbare Höhle eines Lebensinneren, die Tür eines Gefängnisses aufschließen. In der Mitte stand ein Tisch; daran saßen die Dinge ihres Lebens; in Hausschuhen, mit Gesichtern. Er beobachtete es feindselig und ängstlich. Sie wollte ihn fangen; ihre Hand drückte die seine unaufhörlich gegen die Klinke. Zum Schluß würde nur übrigbleiben, wie eine Granate hineinzuspringen und die Tapeten in Fetzen von den Wänden zu reißen! (GW 7, S. 631)
Die »große Tat« am Ende sprengt mit ihrer unmittelbaren Gewalt und Grausamkeit auch alle Sinnzusammenhänge. Nicht zuletzt die symbolische Bedeutung von architektonischen Raumstrukturen wird damit restlos »hinweggerissen«. Das dunkle Zimmer ist auch in dem von Musil als »Bild« bezeichneten kurzen Prosastück Der Erweckte im Nachlaß zu Lebzeiten23 der Ort einer Wahrnehmung von Architektur als Szenerie, die deutlich romantische Züge trägt. In diesem Text spricht ein Ich, das sich für einen Augenblick als von Gott geweckt empfindet: »Gott hat mich geweckt.« (GW 7, S. 483) Doch sogleich wird dieser Indikativ von der konjunktivischen Form des »Als ob« relativiert, indem der Blick des in einem ekstatischen Übergangszustand 23
Varianten dazu erschienen unter dem Titel Der Erwachte im Berliner Tageblatt (1924) und unter dem Titel Der Gläubige in Die Lebenden. Flugblätter (1924) und in den Zeitungen Der Tag (1926) und Prager Presse (1926).
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zwischen Schlaf und Wachheit befindlichen Wahrnehmenden zwischen zwei Fenstern wechselt: Das eine liegt auf der Nachtseite, der Fensterausschnitt erscheint als »ein Wasserspiegel«, in dem die Mondsichel »zart wie eine goldene Augenbraue auf dem blauen Blatt der Nacht« liegt, während sich im Fenster auf der Morgenseite schon »die faden rötlichen Streifen des Sonnenaufgangs« zeigen (GW 7, S. 483). Aus diesem Kontrast nährt sich eine Ironie, welche die Theatralität des romantischen Schauspiels exponiert: »So überzeugt ist sie [i. e. die Mondsichel] von der Wirklichkeit ihrer Magie, als ob sie Theater spielte. [. . .] Links pulst schon die Straße, rechts probt die Mondsichel.« (GW 7, S. 483) Der romantische Fensterblick und die mit ihm verbundene Unendlichkeits- und Sehnsuchtsmotivik fungieren nur mehr als entwertete Zitate. Die architektonischen Einzelheiten, die der »Erweckte« wahrnimmt, Dächer, Schornsteine, elektrische Leitungen, haben ihre Magie, den Zauber einer ganzheitlichen Empfindung, verloren: »Ich bin jetzt ganz wach, aber wohin ich mich auch wende, gleitet der Blick um Fünfecke, Siebenecke und steile Prismen: Wer bin dann ich?« (GW 7, S. 484) Angesichts dieser bedeutungslosen Formen hält sich das ›zerfallende Ich‹24 am klischeehaften Ornament fest: »Die Amphore am Dach mit eisengegossener Flamme, tagsüber eine lächerliche Ananas, verächtliches Geschöpf schlechten Geschmacks, stärkt in dieser Einsamkeit mein Herz wie eine frische Menschenspur.« (GW 7, S. 484) Diese Spur verläuft sich ins Nichts, wenn der »Erweckte« ins tägliche Leben eintritt, in dem »die Seele [. . .] schon in Zucht genommen« ist und er »nichts mehr mit ihr zu tun haben« will (GW 7, S. 484). Auch in dem 1932 im Berliner Tageblatt erschienenen Feuilleton Quer durch Charlottenburg registriert der unbefangene Blick im Stadtraum vornehmlich abstrakte Formen und Farbenspiele. Die meteorologischen Lichtverhältnisse prägen die Wahrnehmung einer Architektur, die sich der Bedeutungszuschreibung entzieht. Selbst die Wirkung ihrer Beschriftung wie das »Suum cuique« (GW 7, S. 656) über dem Eingang zum Landesgericht ändert sich je nachdem, ob sie von einem Unbescholtenen oder Verurteilten gelesen wird. Architektur erscheint als Kontextkunst: So kann das im Text beschriebene monumentale Siemens-Werkgebäude, »das schöne Riesenkind der Technik und des Aktienkapitals«, das »seinen athletisch ebenmäßigen Leib dem Himmel« zeigt, seine Wirkung nur im Kontrast zum dahinter liegenden »Siemensstädtchen« entfalten: »ein bescheidenes Wesen für sich, deutsche Kleinstadt anno 90, mit Lohengrinarchitektur und neueren Zusätzen.« (GW 7, S. 656) Wenn Musils Kurzprosa Architektur thematisiert, so geht es weniger darum, die sichtbaren Phänomene zu beschreiben, als das Unsichtbare in den Lücken des Sichtbaren zu evozieren. Der Essay Triëdere, eine weitere 24
Von »Ichzerfall« spricht in diesem Zusammenhang Thomas Hake: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 1), S. 320–334, hier S. 327.
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»Unfreundliche Betrachtung«,25 führt vor, wie durch Dekontextualisierung und Isolierung scheinbar vertraute Gegenstände und Phänomene anders gesehen werden können. Die Gegenstände werden aus ihren gewohnten Zusammenhängen herausgelöst, damit andere, aussagekräftigere zutage treten können. Wieder ist die Beobachtung aus dem Fenster einer Wohnung die Ausgangssituation, wobei der Beobachtende einen »abgeschirmten Beobachtungsstandpunkt«26 einnimmt. Der Beobachtende ist nicht Teil des beobachteten Geschehens, mischt sich nicht unter die beobachteten Objekte, Phänomene und Vorgänge. Die Verfremdung erfolgt durch Benutzung eines Fernglases. Helmut Lethen bringt diesen Vorgang in Zusammenhang mit dem vom russischen Formalismus der Literatur zugeschriebenen Effekt einer »Entautomatisierung« von Wahrnehmungsmustern. Das »kleine optische Instrument [. . .] ›isoliert‹ die Dinge aus dem Horizont der Bedeutungen, von denen sie in der Lebenswelt umschlossen sind. [. . .] Will man die Phänomene darunter sichtbar machen, muß der lebensweltliche Horizont, der sie einrahmt, dekonstruiert werden.«27 Dem Mann am Fenster mit seinem »Habitus des schärfer Blickenden«28 wird bei der Betrachtung des Amtsgebäudes das, was das »unbewaffnete[ ] Auge« zu korrigieren strebt, deutlich: das »Verschwinden der Linien« (GW 7, S. 519), die perspektivische Verkürzung, die in der Malerei der Renaissance entdeckt wurde. Auch hier steht der Übergang von der Statik der Architektur zur Dynamik ihrer Wahrnehmung im Zentrum des Interesses. Folgerichtig verschiebt der Text sodann seine Aufmerksamkeit auf die Beobachtung bewegter Objekte wie der Straßenbahn und der Passanten. Am Beispiel einer Straßenbahn, die sich in einer S-förmigen Schleife auf den Beobachter zubewegt, zeigt der Text die Deformation vertrauter Objekte durch die urbane Bewegungsdynamik und den technisierten Blick: »Die plötzliche Zerstörung eines vertrauten Bildes, der unvermittelte Fortfall eines mehr oder weniger lieb gewordenen Kontextes, prägt die spezifische Wahrnehmung mit dem Trieder.«29 Das technische Instrument des Prismen-Fernrohrs ermöglicht eine Durchbrechung der Sehgewohnheiten. Das ›kalte‹, distanzierende und isolierende Betrachten von Körpern und Architekturen bewirkt wie in Slowenisches Dorfbegräbnis eine Entautomatisierung der Wahrnehmung. Wenn die Objekte der Wahrnehmung, insbesondere die architektonischen, zugleich Produkt dieser Wahrnehmung sind, so 25 26 27 28 29
Zuerst veröffentlicht im Berliner Tageblatt (1926, unter dem Titel Triëdere!), in Der Tag (1926) und in der Prager Presse (1927). Dominik Müller: Feuilletons und kleine Prosa, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 1), S. 396– 414, hier S. 407. Helmut Lethen: Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann, in: Robert Musils »Kakanien« – Subjekt und Geschichte. Hg. v. Josef Strutz. München 1987 (= Musil-Studien, Bd. 15), S. 195–229, hier S. 201. Ebd., S. 208 (Herv. im Original). Ulrich Stadler: Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Würzburg 2003, S. 198.
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restituieren die in den Texten beschriebenen Wahrnehmungsexperimente dem Wahrnehmenden eine Subjektivität, die in der eingeschliffenen, unbewussten Alltagswahrnehmung verloren gegangen ist. Denn erst die (literarische) Reflexion auf die Voraussetzungen und Bedingungen der Wahrnehmung ermöglicht es, den Schematismen und unbewussten Prägungen der historisch jeweils vorherrschenden Wahrnehmungsformen zu entkommen. Die Funktion des Triëderns, die Wahrnehmung zu schärfen, wirkt auf den Betrachtenden zurück und hat einen erkenntniskritischen Effekt, indem es, wie Ulrich Stadler bemerkt, einen »unvermuteten Zerfall aller bislang geltenden Sinnzuweisungen« und der »sinnhaltigen Objektwelt«30 hervorruft. Dieser Befund ist zugleich ein poetologischer: Der Text versucht ihm in seiner essayistischen Form gerecht zu werden, indem er eine alle Textelemente synthetisierende Deutung verwehrt. Stattdessen möchte er »das Besondere, das Lebendige, das sich in der Begegnung eines Subjekts mit einem Einzelfall bekundet«, aufzeigen und »den Einzeltatsachen Geltung verschaffen, indem er ihr Einmaliges, Unverwechselbares anerkennt«.31 Damit richtet sich die Skepsis Musils nicht nur gegen Ordnungsmodelle, die architektonisch, sondern auch gegen solche, die sprachlich konstituiert werden: eine Sprache, die einheitliche Deutungen vorgibt oder allgemeingültige, die Widerstände des Einmaligen, Unverwechselbaren, Partikularen einebnende Urteile fällt. Solche kritische Reflexion resultiert aus den in Musils Texten aufscheinenden Störungen, Brüchen und Widersprüchen im intermedialen Verhältnis von Literatur und Architektur. Indem Musils literarische Architekturdarstellung ständig »zwischen wörtlicher und figuraler Ebene«32 umschaltet, treten Raum- und Sinnordnung, Materialität und Sinn, Funktion und Interpretation auseinander. Dieser Widerstand gegen die Annahme einer einfachen Übersetzbarkeit der ›Sprachen‹ von Literatur und Architektur geht mit einer Erosion traditioneller symbolischer Bedeutungen von Architektur einher. Gerade darin erblickt Musil den Vorsprung einer Literatur, die auf ihr eigenes Medium reflektiert und ihren Sinnangeboten skeptisch gegenübersteht. Dagegen werden die innovativen Impulse, die von der Architektur ausgehen könnten, bei der Errichtung realer Bauten durch ihre materialen, ökonomischen und technischen Voraussetzungen und ihre kontextuellen Vorgaben gedämpft und eingeschränkt. Eine Literatur, die den Regeln und der Deutungsmacht des Sprachsystems misstraut, löst zugleich die Verbindlichkeit und Festigkeit, die reale Bauten vorgeben, auf und dekuvriert die Beliebigkeit, Kontingenz, ja Sinnwidrigkeit bestehender Architektur. Damit entlässt Musil seine Leser in die unbequeme und ungesicherte Lage, in der sich widersprüchliche Sinnangebote gegenseitig annullieren, in der sich aber auch 30 31 32
Ebd., S. 200. Ebd., S. 205 f. Gerigk: Architektur liest Literatur (Anm. 2), S. 230.
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Räume des Möglichen öffnen, welche die bestehenden Formen verflüssigen und die vertrauten Ordnungen, seien sie sprachlich oder architektonisch begründet, sprengen.
Barbara Neymeyr
Kulturkritik als »Gleichgewichtsstörung« Subversive Strategien der »Unfreundlichen Betrachtungen« in Musils Nachlaß zu Lebzeiten (Triëdere – Der bedrohte Ödipus – Denkmale) Abstract: After an introduction that aims to provide context, this article first compares Robert Musil’s »Unfreundliche Betrachtungen« with Franz Kafka’s short prose collection Betrachtung. It then subjects Triëdere and the texts Der bedrohte Ödipus and Denkmale, which have not yet been made accessible by previous research, to detailed analyses that concentrate on motivic structures, cultural-critical reflection, and strategies of subversive design. The texts Kunstjubiläum, Sarkophagdeckel, and Der Erweckte from Musil’s Nachlaß zu Lebzeiten are also briefly considered. In particular, the article focuses on connections between Musil’s experimental epistemological prose and Sigmund Freud’s psychoanalytic concepts as well as the critique of historicism in Nietzsche’s writing Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, the second of his Unzeitgemässe Betrachtungen.
1. Strukturprinzipien und Binnendifferenzierungen in Musils Nachlaß zu Lebzeiten Musils Prosa-Sammlung Nachlaß zu Lebzeiten, die Ende 1935 mit der Jahreszahl 1936 im Humanitas-Verlag Zürich erschien (vgl. GW II, S. 1744), ist in vier Teile von unterschiedlichem Valeur gegliedert. Während Die Amsel als einzige Erzählung größeren Umfangs hier einen Sonderstatus hat, sind den drei Kapiteln »Bilder«, »Unfreundliche Betrachtungen« und »Geschichten, die keine sind« vierzehn, elf und vier Kurzprosa-Texte zugeordnet. Die Titel dieser drei Teile haben bloß eine tentative Gliederungsfunktion. So enthält der Komplex »Bilder« nicht allein sinnlich pointierte Konzentrate auf der Basis optischer Wahrnehmung, sondern auch Prosaminiaturen, die in narrativer Linearität »Geschichten« entwickeln. Dies gilt etwa für Das Fliegenpapier, Die Affeninsel, Kann ein Pferd lachen? und Hasenkatastrophe. An das erzählerisch Entfaltete knüpfen hier jeweils ›freundliche‹ oder ›unfreundliche‹ Betrachtungen an, die das Dargestellte reflexiv vertiefen. Grenzüberschreitungen vollzieht auch das Kapitel »Unfreundliche Betrachtungen« selbst, indem es eine oft satirisch pointierte Kulturkritik mitunter an bildhafte Konzentrate oder an ein narrativ entfaltetes Geschehen anschließt. Durch zahlreiche moti-
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vische Vernetzungen zwischen den Einzeltexten bilden die »Unfreundlichen Betrachtungen« gleichsam facettenreiche Spiegelflächen aus, deren Bruchkanten den gedanklichen Duktus kunstvoll zersplittern lassen, so dass sich die Erkenntnisperspektiven vervielfältigen. Mitunter können luzide Bilder durch anschauliche Prägnanz Gedanken brennglasartig bündeln, so dass die expressiv versinnlichte Reflexion neue kulturkritische Denkimpulse generiert. Insgesamt erscheint Musils Nachlaß zu Lebzeiten als facettenreiches Spielfeld eines experimentellen Denkens, das durch alltägliche oder außergewöhnliche Beobachtungen stimuliert wird und sich mit vielfältigen assoziativen Vernetzungen entfaltet. Die kulturkritischen Reflexionen, die im Kapitel »Unfreundliche Betrachtungen« dominieren, berücksichtigen auch Themen wie Genie-Ideologien, Kunst-Konzepte, Historismus-Syndrom, Individualismus, Kollektivismus und Kulturpessimismus, die zuvor bereits in Musils Essays und seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften Eingang fanden. Solche Aspekte kritischer Zeitdiagnose beschränken sich im Nachlaß zu Lebzeiten nicht auf die »Unfreundlichen Betrachtungen«, sondern wirken passagenweise auch in das Kapitel »Bilder« hinein, etwa in den Text Hasenkatastrophe. Und in den »Geschichten, die keine sind« ironisiert Ein Mensch ohne Charakter Symptome des modernen Kollektivismus durch eine trivialisierte Variante zum Konzept des ›Mannes ohne Eigenschaften‹. Zugleich führt Ein Mensch ohne Charakter die Desavouierung traditioneller Vorstellungen von »Charakter« weiter, die sich in den »Unfreundlichen Betrachtungen« schon in Triëdere andeutet (GW II, S. 521). Erstaunlicherweise steht der Nachlaß zu Lebzeiten bis heute im Windschatten der Musil-Forschung. So konnte Thomas Hake in seiner Dissertation noch 1998 eine »nach Art und Umfang eher dürftig« erscheinende Forschungslage zu dieser »Erkenntnisprosa« Musils konstatieren, die über lange Zeit unterschätzt worden sei.1 Seither sind noch einzelne Aufsätze zum Nachlaß zu Lebzeiten erschienen, allerdings ohne am Forschungsdesiderat zu den »Unfreundlichen Betrachtungen« Wesentliches zu ändern.2 Während einige Texte, vor allem Das Fliegenpapier und Die Amsel, schon wiederholt analysiert wurden, fehlen genauere Untersuchungen zu den »Unfreundlichen Betrachtungen« (mit Ausnahme von Triëdere) bis heute. Zu Recht betont 1
2
Thomas Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998, S. 6 u. 163. Vgl. auch Hakes kritisch pointierten Forschungsbericht (ebd., S. 6–11). Albert Berger sieht »die ›Unfreundlichen Betrachtungen‹ wie überhaupt Musils kleine satirische Prosa« eher als »Nebenprodukte, Vorstudien« und »Fingerübungen« an, als »Vorformen von Musils Essays« und seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (Albert Berger: Zur Satire in Robert Musils »Unfreundlichen Betrachtungen«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 89 [1970], S. 560–576, hier S. 574 u. 576). Vgl. den aktualisierten Forschungsbericht von Thomas Hake: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 320–334 (Bibliographie: S. 333).
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Hake das breite Spektrum von thematischen Orientierungen und poetischen Gestaltungsweisen, zu dessen »kunstvolle[r] Auffächerung« im Nachlaß zu Lebzeiten auch »die variantenreiche, bald essayistische, bald parodistische Kulturkritik« der »Unfreundlichen Betrachtungen« gehört.3 Während Hake selbst in seiner Dissertation auf Das Fliegenpapier, Die Amsel und Triëdere ausführlich eingeht, thematisiert er Texte wie Kunstjubiläum, Der bedrohte Ödipus und Denkmale nur en passant. Im Folgenden werde ich Musils »Unfreundliche Betrachtungen« zunächst mit Kafkas Betrachtung vergleichen. Die anschließenden Kapitel analysieren drei exemplarische Texte aus Musils »Unfreundlichen Betrachtungen«: Triëdere, Der bedrohte Ödipus und Denkmale, beziehen selektiv aber auch andere Prosaminiaturen aus dem Nachlaß zu Lebzeiten mit ein (Kunstjubiläum, Sarkophagdeckel und Der Erweckte), um die literarischen Gestaltungsprinzipien evident zu machen, die das subversive Erkenntnispotential dieser Texte konstituieren und sie teilweise wie Essays en miniature erscheinen lassen: durch assoziative Gedankenführung, ein variationsreiches Umkreisen von Themenkomplexen und ironische Pointen oder paradoxe Zuspitzungen, die satirische Provokation auch mithilfe origineller Analogien und Metaphern inszenieren.4 Bei der Analyse der von der Forschung kaum berücksichtigten Texte Der bedrohte Ödipus und Denkmale erweitere ich den Horizont über Musils Kulturkritik hinaus, indem ich relevante Konzepte von Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche miteinbeziehe.
2. Musils »Unfreundliche Betrachtungen« im Vergleich mit Kafkas Betrachtung Lange vor Musils Nachlaß zu Lebzeiten von 1936 enthält schon Kafkas erste Veröffentlichung, die 1912 publizierte Betrachtung,5 Prosaminiaturen, die literarische Gattungsgrenzen transzendieren. In einer Rezension attestierte Musil dem Schriftsteller-Kollegen Franz Kafka ausdrücklich »sehr große künstlerische Herrschaft über sich« und wies zudem auf Analogien und Diffe3 4
5
Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« (Anm. 1), S. 13. Zu Musils poetologischen Konzepten (einschließlich seiner Essay-Theorie) vgl. Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays. Heidelberg 2009 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 265), S. 19– 66; dies.: Experimente im »Ideenlaboratorium«. Musils avantgardistische Literaturtheorie, in: Sprachkunst 41 (2010), H. 2, S. 203–219. Die Prosasammlung Betrachtung, Kafkas erste Buchpublikation, erschien im Dezember 1912 (mit der Jahreszahl 1913) im Verlag Ernst Rowohlt. Zuvor hatte Kafka schon im März 1908 acht dieser insgesamt achtzehn Prosaminiaturen in der von Franz Blei und Carl Sternheim herausgegebenen Zeitschrift Hyperion veröffentlicht. Vgl. weitere Detailinformationen in Barbara Neymeyr: Betrachtung, in: Kafka-Handbuch. Hg. v. Manfred Engel u. Bernd Auerochs. Stuttgart, Weimar 2010, S. 111–126, hier S. 111. Gesamtcharakterisierungen vgl. ebd., S. 112–118.
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renzen zwischen Kafka und Robert Walser hin.6 Anders als Musil legte Kafka Wert auf den Singular Betrachtung, der das Potential von Außen- und Innenperspektive zugleich ins Blickfeld rückt, weil er den Aspekt der optischen Wahrnehmung stärker zur Geltung bringt als die Pluralform ›Betrachtungen‹. Letztere lässt ja eher an theoretische Erörterungen oder essayistische Reflexionen wie Nietzsches Unzeitgemässe Betrachtungen oder Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen denken. Kafkas Titel Betrachtung hingegen impliziert das spezifische Potential von sinnlicher Wahrnehmung und abstrakter Reflexion7 gleichermaßen. Zudem kann Kafkas Betrachtung als Konvergenzfeld heterogener Kurzprosa gerade durch den Verzicht auf Kohärenz eine Affinität zur zeitgenössischen Krise der Identität schaffen, die sein Frühwerk Beschreibung eines Kampfes durch Ich-Dissoziation und phantastische Entgrenzung bis zur Fragmentierung des Ich-Erzählers in gegensätzliche Projektionsfiguren radikalisiert.8 Sowohl in Kafkas Kurzprosa-Sammlung Betrachtung als auch im Kapitel »Unfreundliche Betrachtungen« in Musils Nachlaß zu Lebzeiten werden Perspektivenwechsel inszeniert, die mit Erfahrungen von Destabilisierung experimentieren. Kafkas Betrachtung entfaltet suggestive Szenerien, die ein isoliertes Ich als Perspektivfigur zeigen und Spannungsfelder zwischen Dynamik und Statik, Energie und Lethargie schaffen. In Musils »Unfreundlichen Betrachtungen« hingegen dominiert die reflexive Dimension kulturkritischer Überlegungen, die eine spezifische »Gleichgewichtsstörung des Wirklich6
7
8
Vgl. Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912–1924. Hg. v. Jürgen Born. Frankfurt a. M. 1979. S. 34. Als Redaktionsmitglied der Neuen Rundschau kontaktierte Musil Kafka bereits 1914 und versuchte dort dessen Verwandlung zu publizieren, fand aber keine Mehrheit für sein Votum. Vgl. Karl Corino: Fortgesetzte Nachlese. Neu aufgefundene Korrespondenz Robert Musils, in: Musil-Forum 34 (2015/2016), S. 260–274, hier S. 264. – Philip Payne erklärt dazu: »Musil bewunderte Franz Kafkas Werk. [. . .] Kafkas Kurzprosa hat nach meiner Überzeugung Musils Schreiben mitgeformt« (Philip Payne: Ironie in Musils Tagebüchern und Prosaskizzen – Rückblicke in die Antike und Seitenblicke auf Freud, Kafka und den Nationalsozialismus, in: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 209–224, hier S. 220). Vgl. dazu Gerhard Kurz: Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung. Zu Kafkas Betrachtung, in: Franz Kafka. Sonderband Text + Kritik. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1994, S. 49– 65, hier S. 58 f. Max Brod berichtete, dass sich Kafka nach einem Teilabdruck seiner Betrachtung durch die Prager Zeitung Bohemia über den pluralischen Titel Betrachtungen ärgerte, weil dieser seiner Intention nicht entsprach. Vgl. Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes. Die zwei Fassungen. Parallelausgabe nach den Handschriften. Hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Max Brod. Textedition v. Ludwig Dietz. Frankfurt a. M. 1969 (Nachwort S. 148–159, hier S. 150): »Ich entsinne mich noch genau, wie Kafka diese Eigenmächtigkeit gesprächsweise übel vermerkte.« Zur Phantastik von Kafkas Beschreibung eines Kampfes, in der Destabilisierung und Identitätsdiffusion unter Einfluss philosophischer, sprachkritischer und psychiatrischer Diskurse über die ›multiple Persönlichkeit‹ zum strukturbildenden Grundprinzip werden, vgl. die erstmalige umfassende Analyse und kulturhistorische Kontextualisierung in Barbara Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes. Heidelberg 2004 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 206).
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keitsbewußtseins« entfalten (GW II, S. 1140). Dreizehn Jahre bevor Musil diese metaphorische Formulierung 1925 im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films verwendete, integrierte bereits Kafka in mehrere Partien seiner Betrachtung Aspekte einer analogen Verunsicherung und Desorientierung – so etwa in die Schaukelszene des Textes Kinder auf der Landstraße, die einen Balance-Verlust expressiv gestaltet: »Dann flogen Vögel wie sprühend auf, ich folgte ihnen mit den Blicken, sah, wie sie in einem Atemzug stiegen, bis ich nicht mehr glaubte, daß sie stiegen, sondern daß ich falle, und fest mich an den Seilen haltend aus Schwäche ein wenig zu schaukeln anfing.«9 Andere Texte in Kafkas Betrachtung geben der ›Gleichgewichtsstörung‹ einen psychologischen Akzent, etwa durch die Destabilisierung des Erzähler-Ich in Der Kaufmann: »dann wirft sich meine am Morgen weit vorausgeschickte Aufregung in mich, wie eine zurückkehrende Flut, hält es aber in mir nicht aus und ohne Ziel reißt sie mich mit.«10 Und zur Freiheitseuphorie in Der plötzliche Spaziergang bildet die aporetische Resignation in Entschlüsse und Unglücklichsein einen markanten Kontrast. Wiederholt inszeniert Kafka dabei räumliche Verhältnisse von Enge und Weite als Indikatoren psychischer Befindlichkeiten. Gemeinsam ist Kafkas Betrachtung und Musils »Unfreundlichen Betrachtungen« allerdings die Intensität motivischer Vernetzungen in den Textkorpora, die durch elaborierte stilistische Gestaltung, suggestive Bildersprache und kalkulierte Verfremdungsstrategien zu intensiver mikroskopischer Lektüre herausfordern. Dabei tragen perspektivische Experimente mit ambivalenten Konstellationen zu erkenntnisfördernden Destabilisierungen der Leser bei. In Kafkas Betrachtung sind die Texte Der plötzliche Spaziergang, Entschlüsse und Die Vorüberlaufenden11 durch Spannungsfelder zwischen Energie und Lethargie, Hybris und Resignation vernetzt, während in Musils »Unfreundlichen Betrachtungen« oft abstrakter angelegte motivische Korrespondenzen dominieren: So sind in den Texten Eine Kulturfrage, Unter lauter Dichtern und Denkern, Kunstjubiläum und Der Malsteller Sujets wie Dichter und Maler, Künstler-Ideologien und Genie-Topoi, Originalitätsanspruch und kulturelle Prägung, Individualismus und Kollektivismus, Anachronismus und Modernität sowie Moden, Mentalitäten, Kunstrichtungen und epigonale Imitation, ästhetische Produktion, Rezeption und Wertung 9 10 11
Franz Kafka: Betrachtung, in: ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt a. M. 1994 (= F. K.: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe), S. 7–40, hier S. 9. Ebd., S. 22. Vgl. ebd. auch S. 23 u. 32. Vgl. dazu Neymeyr: Betrachtung (Anm. 5), S. 111–126. Vgl. dort exemplarische Analysen zu fünf Texten aus Kafkas Betrachtung: »Die Bäume«, »Der plötzliche Spaziergang«, »Entschlüsse«, »Die Vorüberlaufenden« und »Kinder auf der Landstraße« (ebd., S. 118–125). Die Prosaminiatur »Die Bäume« inszeniert durch paradoxe Zuspitzung und parabolische Verdichtung sogar eine hermeneutische Aporie.
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relevant.12 Kunstjubiläum ist mit Triëdere partiell durch kulturkritische Perspektiven auf Mode, Mentalität, Gewohnheit und Fortschrittsidee verbunden. Das Kleider-Motiv, das in Triëdere zur Hinterfragung sozialer Konventionen anregt, weil es die Modethematik auch auf Gender-Aspekte, Rollenspiel und Maskerade hin transparent macht, findet sich bereits in Kafkas Betrachtung. Dort lässt der Text Kleider sogar das Gesicht als »einen natürlichen Maskenanzug« erscheinen.13 Einen metaphorischen Transfer des Kleider-Motivs vollzieht Musils Text Der Malsteller, der »Gedanken« mit dem zeitgenössischen »Sprachkleid« korreliert (GW II, S. 510). Während in Musils »Unfreundlichen Betrachtungen« schon der Titel eine programmatische Negativität exponiert, die allerdings satirische Komik mit einschließt, enthält Kafkas Betrachtung ›freundliche‹ und ›unfreundliche‹ Valeurs. Irritierende Erlebnisse eines leicht zu verunsichernden Ich-Erzählers, der über seine fehlende Existenzgewissheit nachdenkt und sich soziale Anbindung erhofft, bestimmen Kafkas Texte Entschlüsse, Das Unglück des Junggesellen, Der Fahrgast, Das Gassenfenster und Unglücklichsein. Positivere Akzente setzen Der Nachhauseweg und Kinder auf der Landstraße. Der plötzliche Spaziergang entfaltet sogar Impulse zu energischer Selbstbehauptung. Eine humoristisch pointierte Szene bestimmt Die Vorüberlaufenden; phantastische Kuriositäten dominieren in Der Ausflug ins Gebirge und Wunsch, Indianer zu werden. Das Spektrum in Kafkas Betrachtung reicht von narrativer Vitalität (in Kinder auf der Landstraße) und parabolisch inszenierter Hermetik (in Die Bäume) über aporetische Resignation (in Unglücklichsein) bis zu surrealer Verspieltheit (in Der Ausflug ins Gebirge). Einerseits unterscheiden sich die achtzehn Prosaminiaturen in Kafkas Betrachtung von Musils elf »Unfreundlichen Betrachtungen« durch stärkere Konzentration auf szenisch entfaltete Anschaulichkeit, andererseits durch semantische Brüche und kryptische Elemente (wie in Der Ausflug ins Gebirge).
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Der Text Unter lauter Dichtern und Denkern spielt ironisch auf ein Deutschland-Klischee an und betreibt Kulturkritik, indem er den skurrilen Geniekult in »hermetisch gegeneinander abgedichtet[en]« Miniatur-Kollektiven hinterfragt (GW II, S. 515), die ohne Kenntnis der kulturellen Gesamtszene die Apotheose jeweils eines berühmten »Soundso« mit angeblichem Erlöserpotential betreiben (GW II, S. 1164). In seinem Text Bücher und Literatur exponiert Musil 1926 konträre, zwischen naiver Euphorie und Kulturpessimismus changierende Ansichten von Zeitgenossen, die auch das Fehlen von Genies beklagen (vgl. GW II, S. 514), durch die konträren Kapiteltitel: »Es gibt heute kein Genie« und »Es gibt nur noch Genies« (GW II, S. 1162 f.). – Und Eine Kulturfrage entlarvt Inszenierungsmechanismen des in hyperbolischem Leerlauf erstarrten Kulturbetriebs anlässlich modischer Umfragen nach dem Motto »Wen halten Sie gegenwärtig für den größten Dichter?« (GW II, S. 511) und kaschiert durch superlativisch forcierte Berufung auf »größte, bedeutendste, echteste, anerkannteste und gelesenste« Dichter das ungelöste Rätsel, »was ein Dichter ist« (GW II, S. 511). Mit der traditionellen Aura des Dichters verbindet dieser Text die Patina des Anachronistischen: »›Urgroßvater, zu deiner Zeit soll es ja noch Dichter gegeben haben. Was ist das?‹« (GW II, S. 512) Kafka: Betrachtung (Anm. 9), S. 28 f.
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3. Strategien zur Durchbrechung von Denkkonventionen: Denkmale und Kunstjubiläum Bildhafte Prägnanz verbindet Musil mit kulturkritischem Reflexionspotential, wenn er in Denkmale eine Vitalisierung statuarischer Starrheit und in Kunstjubiläum eine Mortifikation des Lebendigen inszeniert. So entlarvt der Text Denkmale die pseudodynamische Pose des aufgebäumten Pferdes im Reiterstandbild als ridikülen heroischen Gestus: Ein »mit sprühenden Nüstern zum Sprung« ansetzendes Pferd, »auf den Hinterhufen« stehend (GW II, S. 508), ist hier gleichsam zur Skulptur erstarrt, wird dann jedoch satirisch revitalisiert: »starr vor Staunen« sei das Pferd über die desinteressierte Umgebung (GW II, S. 508). Der Versuch, die skulpturale Statik imaginär in den Fluss des Lebens zu reintegrieren, spielt mit dem Pygmalion-Motiv, nutzt den surrealen Effekt aber zugleich für kulturkritische Pointierung und rückt dabei das Obsolete der Denkmalskonvention im städtischen Ambiente selbst in den Blick. Während Denkmale das statisch-punktuelle Zugleich des Reiterstandbilds in narrativer Dynamik verzeitlicht14 und die inszenierte Pose dabei als lächerlich erweist, ist Kunstjubiläum von einer gegenläufigen Strategie bestimmt. Denn die Vorstellung wiederholter Lektüre wird hier durch eine überraschende Analogie mit dem Fluidum gespenstisch-grotesker Komik aufgeladen: »Aber eine Dichtung, die man wiedersieht, ist wie eine Jugendgeliebte, die zwanzig Jahre in Spiritus gelegen hat: Nicht ein Härchen ist anders, und nicht ein Schüppchen der rosigen Epidermis hat sich verändert. Ein Schauer faßt dich an!« (GW II, S. 516) Der bizarre Vergleich mit der bloß scheinbaren Vitalität der chemisch konservierten »rosigen Epidermis« bringt einen Gruseleffekt hervor, den der Text auch auf die ästhetische Erfahrung beim Wiederlesen bezieht: Unterstellt wird dabei, dem Werk sei nach jahrzehntelanger Lagerung »in Spiritus« ebenfalls jeder Lebensfunke und jede Chance auf vitalen Esprit ausgetrieben. Diese maliziöse Vorstellung trägt dem programmatischen Titel »Unfreundliche Betrachtungen« Rechnung und 14
Motivische Korrespondenzen mit Denkmale zeigt Kunstjubiläum durch die Inszenierung einer unentrinnbar vorwärtsschreitenden Zwangsgemeinschaft von Pferd und Reiter, die kulturgeschichtlich akzentuiert wird: als bildhaftes Konzentrat eines enthemmten Fortschrittselans von alptraumartigem Valeur: »Man möchte sich gern über den Fortschritt freuen, wenn er bloß ein Ende hätte. Man möchte gern einen Augenblick anhalten und vom hohen Roß zur Vergangenheit sprechen: Sieh, wo ich bin! Aber schon geht die unheimliche Entwicklung weiter, und wenn man das einigemal mitgemacht hat, so beginnt man sich jämmerlich zu fühlen, mit vier fremden Beinen unter dem Bauch, die unentwegt fortschreiten.« (GW II, S. 517) Im Essay Das hilflose Europa formuliert Musil die Diagnose: »Die Welt ist voll eines unbändigen Willens zum Neuen, voll einer Zwangsidee des Andersmachens, des Fortschritts!« (GW II, S. 1078) Weder fatalistischer Defätismus noch zwanghafter Fortschrittsimpetus bieten Aussicht auf Krisenbewältigung. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus. Zur Ambivalenz der Gesellschaftskritik in seinen Essays, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), S. 576–607.
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zeigt zugleich deren dekonstruktives Potential. Denn im Sinne von Schwarze Magie zielt hier auch Kunstjubiläum darauf, »geistige Ordnungen« sowohl »zu zerstören« als auch »zu schaffen« (GW II, S. 503): durch frappierende Phantasien im Medium der Satire. Verdankte sich der Pygmalion-Effekt von Denkmale einer Dynamisierung skulpturaler Statik, so wird in Kunstjubiläum der Prozess ästhetischer Rezeption in ein visuelles Zugleich gebannt und mit dem Fluidum unheimlicher Lebensferne aufgeladen. Wenn ein Leser gemäß Kunstjubiläum befürchten soll, durch Relektüre mental in einen status quo ante zurückkatapultiert zu werden, trägt der antike Prokrustes-Mythos maßgeblich zur drastischen Negativität dieser Imago bei: »Nun sollst du wieder sein, der du warst, der Schein besteht auf seinem Schein: das ist eine Streckfolter, bei der die Sohlen an ihrem Platz geblieben sind, aber der übrige Körper tausendmal um die sich drehende Erde gewickelt worden ist!« (GW II, S. 516) Diese hyperbolische Entgrenzung des Mythos vom Prokrustes-Bett weist eine interessante Strukturanalogie zu Kafkas seit 1904 entstandenem Erstlingswerk Beschreibung eines Kampfes auf. Dort scheint eine phantastische Szene den Begriff ›Extremitäten‹ wörtlich zu nehmen: »Aber meine Beine, doch meine unmöglichen Beine lagen über den bewaldeten Bergen und beschatteten die dörflichen Thäler. Sie wuchsen, sie wuchsen! Schon ragten sie in den Raum der keine Landschaft mehr besaß, längst schon reichte ihre Länge aus der Sehschärfe meiner Augen«.15 – Den in beiden Texten ironisch pointierten Exzess einer maximalen Körperstrapaze kann man als Sinnbild für mentale Stagnation auch mit kulturanthropologischen Implikationen lesen, wenn man das Bild von den fixierten Sohlen des Lesers auf traditionelle Vorstellungen von einer stabilen Subjekt-Identität bezieht. Der Schock angesichts der intertemporalen Konstanz eines Ich erscheint dann als kritischer Reflex auf das Statische mortifizierender Identitätskonzepte, die unweigerlich zum Verlust jeglicher Entwicklungschance führen. Oft erhält Musils kulturkritische Reflexion durch eine kreative »Logik des Analogischen« (GW II, S. 1050), die an Vertrautem »plötzlich« neue Seiten eröffnet (GW II, S. 981), ihre spezifische Brillanz.
4. Fernglas-Mikroskopie: Triëdere als Paradigma eines subversiven Perspektivismus In den »Unfreundlichen Betrachtungen« erhält der Text Triëdere durch kalkulierte Beobachtungsstrategien seine paradigmatische Bedeutung: Durch 15
Kafka: Beschreibung eines Kampfes (Anm. 7), S. 126 u. 128. Im Nachwort (ebd., S. 148–159) berichtet Max Brod, er habe das von Kafka erbetene »Manuskript« der von ihm »heißgeliebten ›Beschreibung‹« erst im »August 1935« wiedergefunden (ebd., S. 154). – Zur Bedeutung der Extremitäten-Expansion innerhalb des Antagonismus, der die Phantastik der Erzählung konstituiert, vgl. Neymeyr: Konstruktion des Phantastischen (Anm. 8), S. 201–204.
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Vergrößerung, Fragmentierung und Isolation verfremdet er konventionelle Wahrnehmungsweisen. Gemäß Musils Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst treten auch hier »plötzlich unerwartete Beziehungen zu oft ganz anderen Gegenständen« hervor, weil sich die »gewohnheitsstarren« Zusammenhänge auflösen (GW II, S. 980). Sein besonderes Potential gewinnt der Text, indem er beim Changieren zwischen Beobachtung und Reflexion subversive Strategien mit sinnlicher Evidenz und ironischer Pointierung verbindet. Ausgehend von Alltagsimpressionen, die das Triëder als optisches Instrument mitunter auf groteske Weise verfremdet, avanciert das Perspektivische zu einer Erkenntnisstrategie sui generis, die kulturkritische Überlegungen anregt. Retrospektiv beschreibt Triëdere den Selbstversuch16 der Reflektorfigur, die im Text neutral als »der Beobachter« bezeichnet wird (GW II, S. 519). Die Anfangspassage in Triëdere nimmt den Verfremdungseffekt als Resultat des Wahrnehmungsexperiments vorweg, thematisiert anstelle der makroskopischen Perspektive eines Fernrohrs aber zunächst die »Zeitlupenaufnahmen« des Films (GW II, S. 518).17 Der »Zauber« dieser neuartigen Erfahrung hängt auch damit zusammen, »daß sich der Zuschauer zwischen den Dingen des Lebens gleichsam mit offenen Augen unter Wasser umherschwimmen sieht« (GW II, S. 518 f.). Indem sich die durch Zeitlupeneffekte verfremdete Welterfahrung des Films mit einer partiellen Selbstbeobachtung des Wahrnehmenden verbindet, weist dessen Status über eine distanzierte Beobachterposition hinaus. Anschließend führt der Text verschiedene Etappen einer paradox wirkenden Fernglas-Mikroskopie vor, die auch an vertrauten Phänomenen groteske oder unheimliche Aspekte hervortreten lässt. Die Dekontextualisierung der Objekte führt zu Erkenntnisprozessen, die sinnliche Eindrücke mit kulturkritischen Dimensionen vermitteln. Exposition und Quintessenz im ersten und letzten Absatz des Textes umschließen sieben weitere Abschnitte, die mit dem »unbestechlichen Blick des Triëders« (GW II, S. 520) experimentieren und den Beobachter destabilisieren. Schon zu Beginn erscheint die Magie der »Zeitlupenaufnahmen« im Kino durch den Vergleich mit der Wahrnehmung verlangsamter Bewegung 16
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So argumentiert auch Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« (Anm. 1), S. 127. Birgit Nübel hingegen erklärt: »Das Experiment mit der (De-Automatisierung der) Wahrnehmung ist kein Selbstexperiment« (Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 486). Arno Rußegger charakterisiert den »Zauber« von »Zeitlupenaufnahmen« in Triëdere als »nicht mehr durch das Ästhetische widergespiegelte, sondern sich im Ästhetischen spiegelnde Wirklichkeit« (Arno Rußegger: Kinema mundi. Studien zur Theorie des »Bildes« bei Robert Musil. Wien u. a. 1996 [= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 40], S. 80). – Nübel: Essayismus als Selbstreflexion der Moderne (Anm. 16), S. 477 f., vergleicht Musils Triëdere mit Béla Balázs’ Text Der Geist des Films von 1930 und betont Musils Rekurs »auf Béla Balázs’ Filmästhetik Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films von 1924« (ebd., S. 481 f.).
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»unter Wasser« (GW II, S. 518) verfremdet. Diese Erfahrung lässt an Musils Essay Ansätze zu neuer Ästhetik denken, der die »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins« durch »jedes Kunstwerk« betont (GW II, S. 1140). Dabei stellen die Rezipienten die verlorene Balance selbst wieder her, indem sie »nach einer anderen Richtung ausgleichen und – die amputierten Beziehungen fortlassend – den Text zu einem neuen Ganzen, das Abnorme zur neuen Norm, das gestörte zu einem anderen Seelengleichgewicht ergänzen« (GW II, S. 1140). Ähnliches mag für die Leser von Triëdere gelten, wenn sie den Titel des Textes, den Musil ursprünglich durch ein Ausrufezeichen eindeutig als Imperativ markiert hatte (vgl. GW II, S. 578 u. 1751), als Handlungsimpuls begreifen. Eine Irritation durch Balance-Verlust bestimmt schon die Anfangspassage von Triëdere, die Stummfilm-Wahrnehmung, UnterwasserSicht und Fernglas-Blick so korreliert, dass die fremdartigen Konstellationen neue Perspektiven eröffnen (vgl. GW II, S. 518 f.). Das provokative Fazit, dass dieses »Fernglas« gerade »die gewohnten Zusammenhänge auflöst und die wirklichen entdeckt« (GW II, S. 522), lässt das Habituelle als Täuschung erscheinen, die zur Aufdeckung der »richtigen optischen« anstelle der »romantischen Beziehungen« erst nötigt (GW II, S. 521). So verbindet sich mit der sinnlichen Präsenz verfremdender Triëder-Beobachtung zugleich ein erstaunlicher Wahrheitsanspruch (vgl. GW II, S. 520 f.). Zum Experimentierfeld von Triëdere gehören Verfremdung durch Isolation, Vergrößerung bis zur Bizarrerie und Neukombination des Segmentierten sowie überraschende Gedankensprünge und assoziative Verknüpfungen. Wenn suggestive Impressionen das Gewohnte als das Unwirkliche (vgl. GW II, S. 522) und das Exzeptionelle als das Eigentliche erscheinen lassen, rückt zugleich auch der Beobachter selbst in den Fokus. Der subversive Trick in Triëdere zielt darauf, ausgerechnet den Evidenzeffekt perspektivischer Verzerrung mit einem Wahrheitsanspruch auszustatten. Beim Blick auf die statische Palais-Architektur gewinnt die vertraute Fluchtpunktperspektive durch optische Vergrößerung eine so suggestive Dynamik, dass sie im Betrachter sogar einen horror vacui auslöst. Dabei wird der Schein zum Sein verabsolutiert. Was dem Beobachter bislang bloß »eine grauenvolle Malersage vom Verschwinden der Linien« (GW II, S. 519), mithin bloßes Phantasieprodukt zu sein schien, erhält nun erschreckende Evidenz. Mit dem Gewinn an Detail-Präzision verbindet sich Irritation durch Destabilisierung. Und die Faszinationskraft des perspektivischen Scheins veranlasst den Betrachter dazu, auch dem Leser zu suggerieren, »daß die Welt so ist« (GW II, S. 519). Anschließend gerät ihm die Bewegungsdynamik der fahrenden Straßenbahn in den Blick, die sich bei ihrer Fahrt »in S-förmiger Schleife« durch die »unerklärliche Gewalt« (GW II, S. 520) optischer Täuschung vorübergehend fast zur Zweidimensionalität zusammenfaltet. Während der Betrachter durch sein Protokoll der perspektivischen Verfremdung zumindest um chronologische »Ordnung« ringt (GW II, S. 520), stellt sich
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die Dreidimensionalität der Bahn von selbst wieder her. Dabei wird die Experimentalsituation erneut so inszeniert, dass der Primat des Perspektivischen jedes heuristische Vorwissen über physikalische Gesetze der Optik zu eskamotieren scheint. Wurde in Triëdere eingangs die Vertikale der Filmleinwand mit der horizontalen Wasseroberfläche und dem Tiefenraum unter ihr korreliert, so entfaltet das »Bild« Der Erweckte beim Spiel mit zwei- und dreidimensionalen Wirklichkeitsdimensionen analoge Verfremdungsstrategien, die hier allerdings die raumzeitliche Desorientierung eines zu mystischem Erleben disponierten Ich-Erzählers spiegeln: Eine quasi-kubistische18 Abstraktion der Architektur zu quantifizierbaren geometrischen Formen wird um poetische Verfremdung durch kühne Vergleiche ergänzt, die zudem dreidimensionale Räumlichkeit auf die Zweidimensionalität einer Fläche reduzieren: »Die Mondsichel liegt zart wie eine goldene Augenbraue auf dem blauen Blatt der Nacht.« (GW II, S. 483) Wenn die horizontale Wasserfläche allerdings den dreidimensionalen Luftraum im vertikalen Fensterausschnitt substituiert, dann erzeugt der radikale Kippeffekt auf innovative Weise räumliche Desorientierung: »Ein mildes Dunkel liegt im Fensterausschnitt des harten Zimmerdunkels wie ein Wasserspiegel im viereckigen Bassin.« (GW II, S. 483) Verfremdung der Wirklichkeit durch kühne Metaphern und extravagante Vergleiche spiegelt im »Bild« Der Erweckte die Destabilisierung des Ich-Erzählers wider, der sich im epiphanischen Augenblick mystischer Erweckung mental aus dem Fluss des Lebens herausgehoben fühlt und Entgrenzung erfährt: »losgerissen [. . .] wie ein Blatt aus einem Buch« (GW II, S. 483). Dem mentalen Ausnahmezustand entspricht die poetische Gestaltung. In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften denkt sich der Protagonist Ulrich das »Gleichnis« als traumartige Synthese von Vorstellungen, als »die gleitende Logik der Seele« (MoE, S. 593). Die ambivalente Schock-Lust des Beobachters in Triëdere lässt an das Faszinosum jener »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins« denken (GW II, S. 1140), die Musil im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik als Charakteristikum ästhetischer Erfahrung exponiert. Sie entspringt einem dekonstruktiven Denken, das gemäß Schwarze Magie auf ein ›Zerstören‹ und ›Schaffen‹ »geistige[r] Ordnungen« zielt (GW II, S. 503). Der fünfte Absatz von Triëdere erprobt perspektivische Verfremdung an lebenden Subjekten und vertieft die Reflexion individual- und sozialpsychologisch. Indem der Beobachter an Frauen zuerst die »unverwüstliche Bedeutung menschlichen Kuppelbaus« und dann die durch Bewegungen, »aufgeregt von jedem 18
Eine besondere Wahrnehmungssituation schafft Der Erweckte durch die Vogelperspektive auf die geometrischen Formationen von Gebäuden und Dächern, die Musil übrigens nach einem Besuch bei Alfred Polgar als eine »Landschaft für Rauchfangkehrer, Katzen und Kubisten« charakterisierte (GW II, S. 1160).
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Schritt«, sich öffnenden und schließenden »wispernde[n]« Kleiderfalten19 wahrnimmt (GW II, S. 520), greift er durch Bewegungsdynamik und das Statische der Architektur-Metaphorik auf Themen des zweiten und dritten Absatzes zurück. Dabei überkreuzen sich inverse Metaphorisierungsstrategien: die Verdinglichung des weiblichen Körpers zum ›Kuppelbau‹ und der Anthropomorphismus der »wispernde[n]« Kleiderfalten. Das Spannungsfeld von archaischer Natürlichkeit und etablierten Kleidungsnormen lenkt den Blick auf die konventionelle Sexualmoral und ein symptomatisches hysteron proteron: Denn die in der Fernglas-Wahrnehmung erkennbare Bewegungstendenz substituiert aus der Perspektive des Voyeurs vermeintlich schon die Tat: »in Vergrößerung gesehn, werden Impulse zur Ausführung« (GW II, S. 520). Einerseits bildet der Effekt mentaler Zeitraffung beim Blick auf die Kulturgeschichte von Moden und Mentalitäten einen Gegensatz zum Zeitlupeneffekt zu Beginn. Andererseits gilt das Interesse des Betrachters »den ureinfachen Hügeln« am weiblichen Körper, »aus denen die ewige Landschaft der Liebe besteht« (GW II, S. 520). Weibliche Personalität und kulturelle Formierungen lösen sich hier in der Imago einer archaischen Naturszenerie auf, so dass Geschichtlichkeit in ahistorischer Zeitlosigkeit untergeht. Suspendiert erscheint die Sexualmoral durch Freilegung libidinöser Möglichkeiten jenseits gesellschaftlicher Normen, die den Beobachter faszinieren. Ein tertium comparationis verbindet die architektonische Geometrie des »menschlichen Kuppelbaus« mit archaischer Naturlandschaft in Gestalt von »ureinfachen Hügeln« am weiblichen Körper (GW II, S. 520): Über die Korrespondenz geometrischer Formen hinaus bilden apersonale Triebhaftigkeit und abstrakte Gegenständlichkeit einen Kontrast zur Vorstellung menschlicher Individualität. Da in Triëdere schon Mode- und Gender-Thematik einer Entindividualisierung Vorschub leisten, liegt es nahe, später auch den »Charakter« zu problematisieren (GW II, S. 521). Anschließend leitet der Beobachter aus seinen Wahrnehmungsexperimenten eine »Theorie« ab: »Isolierung« erscheint ihm als probate Strategie (GW II, S. 520), um Vertrautes zu verfremden. Dann vermittelt ihm die Autarkie monumentalisierter Details »in der glashellen Einsamkeit« (GW II, S. 521) den Eindruck archaischer Urtümlichkeit. Im Sinne der dekonstruktiven Doppelfunktion des Denkens, die Musil 1913 in Analyse und Synthese propagiert (vgl. GW II, S. 1008), ermöglicht die Zerstörung gewohnter Ordnungen kreativen Freiraum. Wird etwa der Hut als »nervöses Gebilde« (GW II, S. 521)20 19
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Helmut Lethen deutet diese suggestive Metaphorik als Sexualsymbolik. Vgl. Helmut Lethen: Eckfenster der Moderne. Wahrnehmungsexperimente bei Musil und E. T. A. Hoffmann, in: Robert Musils »Kakanien«. Subjekt und Geschichte. Festschrift für Karl Dinklage zum 80. Geburtstag. Hg. v. Josef Strutz. München 1987 (= Musil-Studien, Bd. 15), S. 195–230, hier S. 216. In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften wird der Hut ironisch als »hinausgestülpte dritte Gehirnhälfte« charakterisiert (MoE, S. 1600). Vgl. dazu Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« (Anm. 1), S. 145 f.
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nicht als banales Requisit wohlsituierter Bürgerlichkeit in Dienst genommen, wie es Jakob van Hoddis im Gedicht Weltende karikiert, so entbindet der Verlust rationaler Ordnung ein Potential von irrationaler Faszinationskraft. Nicht nur »ursprünglicher«, sondern auch »dämonischer« geworden, können die Dinge dann sogar die Aura von »etwas Wahnsinnähnlichem« gewinnen (GW II, S. 521). Abstand zu »romantischen« Illusionen (GW II, S. 521) schafft der Triëder-Gebrauch, indem er den routinierten Alltags-Pragmatismus als Täuschung enttarnt: Obwohl die Isolation von Realitätselementen unter dem Triëder-Blick den Eindruck ›wahnsinnsähnlicher‹ Dämonie erzeugt, wird suggeriert, gerade sie stelle die »richtigen optischen« Beziehungen her (GW II, S. 521). So wird die Relation von Schein und Sein, von Illusion und Desillusionierung invertiert (vgl. GW II, S. 519 f.). Die kritischen Perspektiven auf Modephänomene werden dann auf Mentalitäten und Kulturgeschichte übertragen. Das jeweils Aktuelle löst sich im Seriellen auf, wenn der ›unfreundlich‹-entlarvende Blick im zeitraffenden Schnelldurchlauf konträre Mode-Strömungen Revue passieren lässt, die mit Aktualitätswahn und Aversion gegen das Unzeitgemäße gleichermaßen verbunden sind. Diese Kulturgeschichte modischer »Torheiten« erscheint als Analogon zu den gleichfalls passageren »Moden des Denkens, Fühlens und Handelns« (GW II, S. 521). Denn gemäß Triëdere und Kunstjubiläum folgen Kleidermoden, Mentalitäten und Kunstströmungen einer ähnlichen Entwicklungsdynamik (vgl. GW II, S. 521 u. 517). Kritisch beleuchtet Triëdere sodann ein fragwürdiges Herdenglück im Kollektivismus, der durch zwanghafte Mimikry gemäß dem Diktat der jeweils herrschenden Mode jeden Anspruch auf Individualität zum Verschwinden bringt: »so erscheint unsere Geschichte dem empfindlich gewordenen Auge kaum anders als ein Pferch, zwischen dessen wenigen Wänden die Menschenherde besinnungslos hin und her stürzt« (GW II, S. 521). Gewinnen die Kleider-Moden zunächst in sozialgeschichtlicher und sexualpsychologischer Hinsicht Bedeutung, so reduzieren sich dann auch Mentalitäten zu bloßen »Moden« (GW II, S. 521) und erscheinen insofern historisch relativierbar. Wenn sich das Individuum inmitten der »Menschenherde« mit quasi-animalischer Gedankenlosigkeit an Mode-Konventionen bindet, hat es den sozialen Anpassungsdruck bereits autosuggestiv internalisiert. Uniformität erzeugt hier das Bedürfnis nach Gruppenidentität. Wenn modischer Konformismus für Extravaganz und Eigensinn des Individuums keinen Raum lässt, dominiert herdenhafte Gleichförmigkeit im kontingenten Wechsel konträrer Modeströmungen, so dass die Menschen »aussehen wie alle, und alle anders aussehen als gestern« (GW II, S. 521). Dabei erscheint die Tendenz zum Kollektivismus, den Triëdere als geistlosen Herdentrieb karikiert, auch deshalb grotesk, weil die bloß ephemere Aktualität der Mode dennoch stets mit Verbindlichkeitsanspruch gepaart ist. Das Spannungsfeld zwischen kollektivistischer Uniformität und obsoletem Individualitätskon-
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zept lässt an das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹21 denken, das Musil 1922/1923 in essayistischen Texten entwarf und auch dem Mann ohne Eigenschaften als anthropologisches Grundprinzip einschrieb. Ein Zusammenhang mit der modernen Identitätskrise besteht insofern, als Musil wie Nietzsche, Freud und Mach traditionelle Konzepte von Individualität verabschiedet. Das zeigt die ironische Desillusionierung in Triëdere: »Vielleicht befürchten wir mit Recht, daß unser Charakter wie ein Pulver auseinanderfallen könnte, wenn wir ihn nicht in eine öffentlich zugelassene Tüte stecken.« (GW II, S. 521) »Charakter« erscheint zum substanzlosen Etikett entwertet, wenn er als bloße äußere Hülle nur notdürftig die von Pulverisierung bedrohte Ich-Identität zusammenhält. Die Relation zwischen Mentalitäten und Moden in Triëdere entspricht der Metaphorisierung des Kleider-Motivs in Der Malsteller, das ebenfalls kulturhistorische Bedeutung erhält: »niemand in aller Welt kann seine Gedanken von der Art befrein, in der seine Zeit das Sprachkleid trägt« (GW II, S. 510).22 Nach den kulturhistorischen und sozialpsychologischen Betrachtungen werden zwei Individuen im Fokus der »etwas boshaften Ruhe des Triëderblicks« demaskiert (GW II, S. 520). Die isolierte Detailwahrnehmung der optisch ins Monumentale vergrößerten Bewegungen der beiden Männer durchdringt die Oberfläche glatt-gefälliger Selbstpräsentation und provoziert zu medizinischer und psychologischer Diagnose. Während der Beobachter den Gang des ersten Mannes als pathologisches Symptom mit perniziöser Perspektive deutet, meint er Bewegungen des zweiten Mannes nonchalant als Indiz für Egozentrik und inhumane Gesinnung interpretieren zu können. So verbinden sich psychologische Demontage, medizinische Diagnose und negative Zukunftsprognose. – Signifikanterweise lässt die Aussage über den optischen »Schnitt durch die Mitte, der die Beine auspräparierte« (GW II, S. 522), an die Arbeit des Mediziners im Seziersaal denken.23 Dieser analyti21
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Über Musils Anthropologie geben vor allem zwei Texte Aufschluss: sein Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste von 1922 (GW II, S. 1075–1094) und sein essayistisches Fragment Der deutsche Mensch als Symptom von 1923 (GW II, S. 1353–1400). Klaus Amann beschreibt das ›Theorem der Gestaltlosigkeit‹ »als Detektor, als Mikroskop, als Sezierbesteck« und als Prognoseapparat für Musils politische Analyse (Klaus Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, in: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. v. Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper u. Karl Wagner. Zürich 2011 [= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17], S. 237–254, hier S. 244). Zu den divergenten Ansätzen in Musils anthropologischen Konzepten, die prima vista homogener wirken, als sie de facto sind, vgl. die kritische Analyse von Neymeyr: Utopie und Experiment (Anm. 4), S. 129–169. Der Malsteller endet mit dem pointierten Diktum: »beim Schreiben verdrehn die Menschen beiweitem nicht so die Worte wie die Worte den Menschen« (GW II, S. 511). Vgl. dazu eine analoge Reflexion Schnitzlers: »Die Worte spielen mit seinem Geist, nicht der Geist mit Worten« (Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Hg. v. Robert O. Weiss. Frankfurt a. M. 1967, S. 250). Ergänzt wird die medizinische Metaphorik durch Gewalt-Assoziationen, wenn der TriëderBlick zu dem Eindruck führt: Die »Anmut einer Frau ist tödlich durchschnitten« (GW II,
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sche Pathologen-Blick erinnert an frühe Tagebuch-Notizen Musils, in denen er sich analog zu Nietzsche als ›monsieur le vivisecteur‹ verstand (vgl. Tb I, S. 1–3).24 Nietzsche gebraucht den Begriff »Vivisectionen« bereits 1874 in Schopenhauer als Erzieher, der dritten seiner Unzeitgemässen Betrachtungen:25 Hier entfaltet er eine Satire auf sterile Gelehrte, deren inselhaftes Spezialistentum ein pointillistisches Weltbild erzeugt. Denn »Scharfsichtigkeit in der Nähe, verbunden mit grosser Myopie für die Ferne und das Allgemeine« minimiert das »Gesichtsfeld« des Gelehrten: »Er zerlegt ein Bild in lauter Flecke, wie einer, der das Opernglas anwendet, um die Bühne zu sehen und jetzt bald einen Kopf, bald ein Stück Kleid, aber nichts Ganzes in’s Auge fasst« (KSA 1, S. 395 f.). Affinitäten zu Kleidermotiv und Theaterthematik in Musils Triëdere (vgl. GW II, S. 521 f.) könnten hier für eine intertextuelle Referenz sprechen.26 Während Nietzsche die Myopie-Imago in den Dienst seiner Satire auf sterile Gelehrte stellt, die er mit kreativen Genies kontrastiert (vgl. KSA 1, S. 400), bringt Triëdere gerade die Verfremdung der Weltwahrnehmung ironisch mit Schöpferpotential in Verbindung: als Surrogat für »das Genie oder [. . .] eine Vorübung dazu« (GW II, S. 522). Potentiell schließt diese Aussage auch kritische Perspektiven auf die Inflation der Genies mit ein (vgl. GW II, S. 514 u. 1163). Erkenntnisanspruch und Verrätselungseffekt als ambivalente Wirkung des Triëderblicks eröffnen hier ein Spannungsfeld von theatralischer Illusionserzeugung und realistischer Desillusionierung. Im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik von 1925 schreibt Musil der »Kunst die Aufgabe« einer »Erneuerung des Bildes der Welt« zu, »indem sie durch
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S. 521). Die Formulierung »mit unbewaffnetem Auge« (GW II, S. 519) erscheint via negationis als signifikant, weil die frühere Textversion Triëdere! von 1926 erwähnt, dass der Erzähler »noch aus der Kriegszeit ein Triëder besitze« (GW II, S. 578). Vgl. Gunther Martens: Die Moderne als Straßenbahn. Zum Verhältnis von Stil und Epistemologie in Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Musil anders. Hg. v. G. M., Clemens Ruthner u. Jaak De Vos. Bern u. a. 2005 (= Musiliana, Bd. 11), S. 229–257, hier S. 231 f. Rückblickend notierte Musil 1940/1941 in Stichworten zu den Aufzeichnungen eines Schriftstellers: »Dieser Spaltungsvorgang, die Selbstbeobachtung, wird etwas später besonders lebendig. Mr. le vivisecteur. Bei mir kam es überdies auch von der Zeitmode. À la Nietzsche: ein Psychologe« (GW II, S. 923). In den Schriften Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887) gebraucht Nietzsche Begriffe wie ›Vivisektion‹, ›Vivisector‹, ›vivisektorisch‹ wiederholt metaphorisch für die Sphäre des Geistes – etwa in Jenseits von Gut und Böse durch den Imperativ: »treibt Vivisektion am ›guten Menschen‹, am ›homo bonae voluntatis‹ . . . . . an euch!« (Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. München u. a. 1980, S. 9–243, hier S. 153) Im Folgenden wird diese Edition als »KSA« mit Band- und Seitenangabe zitiert. Sperrungen werden durch Kursivierung wiedergegeben. In Jenseits von Gut und Böse plädiert Nietzsche auch für »ein wenig Vivisektion der deutschen Seele« (KSA 5, S. 184), um dann in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral zu erklären: »Wir modernen Menschen, wir sind die Erben der GewissensVivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden« (KSA 5, S. 335). Vgl. außerdem: KSA 5, S. 106, 118, 166 u. 343. Friedrich Nietzsche: Schopenhauer als Erzieher, in: KSA 1, S. 335–427, hier S. 396. Das vermutet auch Lethen: Eckfenster der Moderne (Anm. 19), S. 223.
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ihre Erlebnisse die Formel der Erfahrung sprengt« (GW II, S. 1152) und ein »individuelles, ja anarchisches Erlebnis darbietet« (GW II, S. 1151). Denn »ohne präformierte stabile Vorstellungen« bleibt »nur ein Chaos« (GW II, S. 1146). Mit der Aussage, »die Einzelheit verdunkle das Ganze und wachse auf seine Kosten« (GW II, S. 1150), paraphrasiert Musil zustimmend eine »Formel« Nietzsches.27 Gemäß Schwarze Magie liegt eine dekonstruktive Doppelfunktion des Denkens darin, »geistige Ordnungen [. . .] zu schaffen. Auch zu zerstören.« (GW II, S. 503)28 – Triëdere führt gedankliche Dekonstruktion in actu vor, indem subversive Strategien eine stabile Realitätswahrnehmung aus der Balance bringen und dadurch zum Erkenntnisstimulans werden. Übrigens korrespondiert der in Triëdere inszenierte Perspektivismus mit Konzepten Nietzsches, der 1887 in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral feststellt: »Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹«.29 Als strukturbildendes Konzentrat wird Triëdere zum Nucleus von Musils Nachlaß zu Lebzeiten – auch insofern, als Verfremdung und Perspektivismus eine Basis literarischer Gestaltung bilden können. Die Geschlechterkonstellationen in Triëdere lassen an die Libido-Thematik im Text Der bedrohte Ödipus denken, dessen sexualpsychologischen Fokus bereits der Titel signalisiert. In einem kulturkritischen Reflexionsraum erschließen sich dem »unbestechlichen Blick des Triëders« (GW II, S. 520) elementare, von Kleidungskonventionen kaschierte Dimensionen an der Frau. Indem die Triëder-Perspektive bei der Wahrnehmung der Kleidung jene Weiblichkeitsklischees und Verhaltenskodizes durchbricht, die auf »das unantastbare Ansehen« der Frau zielen (GW II, S. 520), werden in einem retour à la nature imaginäre Wege zu einer urwüchsigen Libido gebahnt. So beginnt der Voyeur »die ewige Landschaft der Liebe« zu assoziieren (GW II, S. 520), deren Neuschöpfung er durch den lustvoll-subversiven FernrohrBlick betreibt. Die ins Monströse reichende projektive Vergrößerung durch 27
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Musil meint hier Nietzsches Diagnose der literarischen Décadence in Der Fall Wagner, derzufolge »das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt«; ein Teil »verdunkelt den Sinn« des Ganzen, »gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen«, so dass es zur »Anarchie der Atome« kommt (KSA 6, S. 27). Konträr zu diesem Anspruch entfaltet sich allerdings die subversive Pseudo-Logik des Textes Schwarze Magie, die von kurios-dubiosen Syllogismen bis zu humoristischen Überschlagungseffekten reicht und den Schein logischer Konsequenz satirisch zum Medium unsinniger Konklusionen zweckentfremdet. Am Ende schnurrt der Gedankengang zu den pseudo-mathematischen Leerformeln zusammen: »Leben = 3 × Kitsch und daher Kunst = 6 × Kitsch − Begriff« (GW II, S. 503), der die Kardinalfragen »was ist Kitsch?« (GW II, S. 502), »was ist Leben?« (GW II, S. 503), »was ist Kunst?« (GW II, S. 503) nonchalant an den Leser weiterreicht. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: KSA 5, S. 245–412, hier S. 365. – Zur Bedeutung von Nietzsches Experimentalphilosophie, Entlarvungspsychologie und Perspektivismus für Musil vgl. Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 2005 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 218), S. 324–326 u. 390–400. Zum Décadence-Diskurs vgl. ebd., S. 159–188.
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das optische Instrument30 suggeriert ihm sogar eine Transparenz der Außenansicht auf innere Dispositionen – im Sinne einer in erotischer Hinsicht verheißungsvollen Beschleunigung: Unter dem Eindruck »aufgeregt« wispernder Kleiderfalten werden ihm die optisch ins Monumentale vergrößerten »Impulse zur Ausführung« (GW II, S. 520). In diesem Zusammenhang spielt der Text ironisch auf eine berühmte alttestamentarische Voyeurismus-Erzählung im Buch Daniel an, die zahlreiche Maler inspirierte:31 Per analogiam erscheint dem Beobachter dann sogar »jede Frau« als »eine psychologisch belauschte Susanna im Bade des Kleides« (GW II, S. 520). – Man könnte meinen, dass sich in dieser Impression auch schon ein affirmatives Verhältnis zur Psychoanalyse ausspräche, stünde dem nicht die Diskreditierung ihrer Paratheorie entgegen, die Der bedrohte Ödipus vollzieht.
5. Der bedrohte Ödipus als satirische Demontage der Psychoanalyse Dieser Text betreibt eine ›unfreundlich‹ gemeinte, aber zugleich mit satirischem Lustgewinn durchgeführte Entmythologisierung der Psychoanalyse, und zwar durch die fröhliche Demontage dogmatischer Geltungsansprüche. Sie verdankt sich der Inszenierung doppelbödiger Perspektiven mit kulturkritischer Intention. Ein nur scheinbar ahnungsloses Ich bringt sich zunächst mit einem dezent-bescheidenen Verehrungsgestus ins Spiel, der allerdings ironisch grundiert ist: »Da ich selbst noch ohne Ödipus aufgewachsen bin, kann ich mich natürlich nur mit großer Vorsicht über diese Fragen äußern, aber ich bewundere die Methoden der Psychoanalyse.« (GW II, S. 529) Die Fortsetzung des Textes zeigt, dass dieses Ich de facto eine an Verfahren der Psychoanalyse geschulte Konterkarierung dieser Disziplin selbst betreibt und die künstlich forcierte Bewunderungshaltung dabei mit einem Knalleffekt verabschiedet. Diese Methode, die Inszenierung wirkungsvoll ad absurdum zu führen, weist übrigens Analogien zu radikalen Verfahren einer antiromantischen Desillusionierung bei Heinrich Heine auf, den Musil im Roman Der 30
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Einen Kontrast zur erkenntniskritischen Relevanz der Fernglas-Wahrnehmung in Musils Triëdere bildet deren pathologisch-phantastische Gestaltung in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann. Die projektive Überformung der Realität durch Fernglas-Blicke veranlasst die Hauptfigur zu imaginativer Verlebendigung der Automatenpuppe Olimpia und zur Illusion singulärer Liebe, bis die Schlusspartie durch einen Fernglas-Blick den finalen Wahnsinnsanfall der Figur einleitet und ihn mit phantastischer Entgrenzung verbindet. Vgl. Barbara Neymeyr: E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann. Braunschweig 2014 (= Schroedel Interpretationen, Bd. 27), S. 69–71 u. 87–92. Vgl. dazu das Buch Daniel 13, 1–64. Diese alttestamentarische Szene hat zahlreiche Maler zu künstlerischer Gestaltung inspiriert, etwa Albrecht Altdorfer, Rembrandt van Rijn, Peter Paul Rubens, Jacopo Tintoretto, Anthonis van Dyck, Lovis Corinth und die Malerin Artemisia Gentileschi.
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Mann ohne Eigenschaften sogar zitiert (vgl. MoE, S. 405 u. 434). Satirisch nimmt der Ich-Erzähler zunächst die Selbst-Imprägnierung der Psychoanalyse gegen Kritik aufs Korn, nämlich die Strategie, diejenigen, die es wagen, »die Unfehlbarkeit der Psychoanalyse« zu bezweifeln, mit der Behauptung in die Schranken zu weisen, »daß sie ihre Ursachen dazu hätten, die natürlich wieder nur psychoanalytischer Natur seien« (GW II, S. 529). Diese paratheoretische Methode suggeriert dem Patienten eine alternativlose Unentrinnbarkeit psychoanalytischer Deutungsschemata und praktiziert insofern einen sublimen Imperialismus, der nicht nur den Abwehrmechanismen der Patienten selbst gilt, sondern auch jede Kritik von außen vorsorglich durch Vereinnahmung unschädlich zu machen sucht. In seiner Schrift Konstruktionen in der Analyse rekurriert Freud 1937 genau in diesem Sinne auf »eine ebenso kränkende wie ungerechte Äußerung über unsere analytische Technik«, indem er zunächst aus der Perspektive der Kritiker zu argumentieren scheint: Wenn der Patient »uns zustimmt, dann ist es eben recht; wenn er aber widerspricht, dann ist es nur ein Zeichen seines Widerstandes, gibt uns also auch recht. Auf diese Weise behalten wir immer recht gegen die hilflose arme Person, die wir analysieren, gleichgiltig wie sie sich gegen unsere Zumutungen verhalten mag.«32 Freud konstatiert, dass »eine solche Entlarvung unserer Technik« von »den Gegnern der Analyse« als probates Mittel eingesetzt wird, um die Psychoanalyse grundsätzlich in Frage zu stellen. Allerdings wählt er eine differenziertere Strategie der Auseinandersetzung mit dieser Auffassung, indem er sie keineswegs pauschal bestreitet, sondern zunächst sogar die Annahme seiner Gegner bestätigt, »daß ein ›Nein‹ unseres Patienten uns im allgemeinen nicht bestimmt, unsere Deutung als unrichtig aufzugeben«.33 Erst anschließend zielt Freuds Argumentation darauf, eine solche Auslegung expliziter Negation als Zeichen impliziter Affirmation psychoanalytisch zu fundieren und dadurch zu legitimieren. Zwar erschien seine Schrift Konstruktionen in der Analyse erst 1937, also ein Jahr später als Musils Nachlaß zu Lebzeiten, aber Freud greift hier auf frühere Schriften zurück, in denen er das Spezifische von Negation und Konstruktion in der Psychoanalyse zuvor bereits mit analoger Aussagetendenz entfaltet hat, wie im Folgenden gezeigt werden soll. In der bisherigen Forschung wurde bereits betont, dass sich Musil in verschiedenen Schaffensphasen eingehend (und in vielerlei Hinsicht zustimmend) mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt hat und auch über differenzierte Kenntnis der Freud’schen Schriften verfügte.34 32
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Sigmund Freud: Konstruktionen in der Analyse [1937], in: ders.: Studienausgabe in zehn Bänden und einem Ergänzungsband. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik. Frankfurt a. M. 1982, S. 393– 406, hier S. 395. Ebd. Vgl. dazu den instruktiven Überblicksartikel von Oliver Pfohlmann: Psychoanalyse, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 2), S. 538–546. Sein Fazit lautet: »Musils Verhältnis zum psy-
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Eine symptomatische Divergenz zwischen der »intellektuelle[n] Funktion« und dem »affektiven Vorgang« beleuchtet Freud 1925 in seinem Text Die Verneinung, indem er einen prototypischen Dialog zwischen dem Patienten und dem Psychoanalytiker inszeniert: »›Sie fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist es nicht.‹ Wir berichtigen: ›Also ist es die Mutter.‹ Wir nehmen uns die Freiheit, bei der Deutung von der Verneinung abzusehen und den reinen Inhalt des Einfalls herauszugreifen. Es ist so, als ob der Patient gesagt hätte: ›Mir ist zwar die Mutter zu dieser Person eingefallen, aber ich habe keine Lust, diesen Einfall gelten zu lassen.‹«35 Freud diagnostiziert hier eine psychische Konstellation, in der ein »verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt« nur als negierter »zum Bewußtsein durchdringen« kann.36 Seine These lautet: »Die Verurteilung ist der intellektuelle Ersatz der Verdrängung, ihr ›Nein‹ ein Merkzeichen derselben, ein Ursprungszertifikat«.37 Dieser Entdeckung spricht Freud einen möglichen Pioniercharakter zu: »Das Studium des Urteils eröffnet uns vielleicht zum erstenmal die Einsicht in die Entstehung einer intellektuellen Funktion aus dem Spiel der primären Triebregungen.«38 Bestätigung findet Freud darin, »daß man in der Analyse kein ›Nein‹ aus dem Unbewußten auffindet«.39 – Gemäß seiner Schrift Konstruktionen in der Analyse hat weder das ›Ja‹ noch das ›Nein‹ des Patienten zu den Deutungen des Psychoanalytikers Verbindlichkeitscharakter: »Das ›Nein‹ des Analysierten ist ebenso vieldeutig und eigentlich noch weniger verwendbar als sein ›Ja‹. In seltenen Fällen erweist es sich als Ausdruck berechtigter Ablehnung; ungleich häufiger ist es Äußerung eines Widerstandes, der durch den Inhalt der mitgeteilten Konstruktion hervorgerufen wird«.40 Nach Freuds Ansicht »beweist« das ›Nein‹ zwar nicht deren »Richtigkeit«, verträgt »sich aber sehr gut mit dieser Möglichkeit«.41 »Garantien« dafür, »daß wir nicht irregehen«, gebe es zwar nicht; aber auch eine vorübergehende »unrichtige Konstruktion« bringe dem
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choanalytischen Theoriegebäude lässt sich auf die Formel bringen: grundsätzliche Anerkennung bei gleichzeitiger vorsichtig-differenzierender Skepsis und Ablehnung im Einzelnen. Der Bedeutung psychoanalytischer Schriften als Material und Quelle für sein Werk war sich der Autor wohl bewusst« (ebd., S. 538). Pfohlmann zählt Musil sogar »zu den besten Kennern der Tiefenpsychologie« unter den Autoren der literarischen Moderne, so dass sich bei ihm »viele einschlägige Termini« und »die Kenntnis psychoanalytischer Theorien« nachweisen lassen (ebd., S. 539). Schon bei der Konzeption des Törleß sei Musil der Zusammenhang von »Triebentwicklung, ödipalem Konflikt, Sexualsymbolik« bewusst gewesen (ebd., S. 540). Sigmund Freud: Die Verneinung [1925], in: ders.: Studienausgabe. Bd. III (Anm. 32), S. 371–377, hier S. 373. Ebd. Ebd., S. 374. Ebd., S. 376. Ebd., S. 377. Freud: Konstruktionen in der Analyse (Anm. 32), S. 400. Ebd.
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Patienten »keinen Schaden«: »Die Gefahr, den Patienten durch Suggestion irrezuführen, [. . .] ist sicherlich maßlos übertrieben worden.«42 So schreibt Freud der psychoanalytischen »Konstruktion« den Status einer zu überprüfenden »Vermutung« zu, für die man aber »keine Autorität« beanspruche; allein »die Fortsetzung der Analyse« entscheide über deren »Richtigkeit oder Unbrauchbarkeit«.43 Dass Freud ausdrücklich »keine Autorität« für die Deutungsarbeit des Psychoanalytikers beansprucht, schließt allerdings jenen sublimen Imperialismus noch keineswegs aus, den der Ich-Erzähler in Musils Text Der bedrohte Ödipus glaubt diagnostizieren zu können. Der argumentative Duktus in den obigen Freud-Zitaten zeigt ja, dass Musils Erzählerfigur das Konzept des ›Widerstands‹ in der Psychoanalyse zu Recht als das Verfahren exponiert, das es erlaubt, sogar Skepsis gegenüber einer »Unfehlbarkeit der Psychoanalyse« noch auf »Ursachen [. . .] psychoanalytischer Natur« zurückzuführen (GW II, S. 529). Wenn in diesem Sinne vorgeblich kein ›Außerhalb‹ existiert, sehen sich auch Kritiker durch die vermeintliche Unentrinnbarkeit psychoanalytischer Deutungsschemata wider Willen inkorporiert. Das Etikett »Unfehlbarkeit«, das in Musils Text Der bedrohte Ödipus mit polemischem Gestus »der Psychoanalyse« angeheftet wird (GW II, S. 529), lässt zudem an den Autoritätsanspruch des Papstes in der katholischen Kirche denken, ex cathedra christliche Dogmen mit dem Status der Unfehlbarkeit zu verkünden. Schon am Anfang von Musils Prosaminiatur inszeniert der Ich-Erzähler ein symptomatisches Aporie-Gefühl: Der Ausweglosigkeit zwischen Skylla und Charybdis gemäß antiker Mythologie entspreche in der Moderne eine analoge Zwangslage zwischen Wassermann und Ödipus44 (GW II, S. 528). 42
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Ebd., S. 399. Vgl. auch die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in denen Freud propädeutisch bei der möglichen Skepsis seiner Hörer ansetzt: »Nun werden Sie sagen, gleichgültig, ob wir die treibende Kraft unserer Analyse Übertragung oder Suggestion heißen, es besteht doch die Gefahr, daß die Beeinflussung des Patienten die objektive Sicherheit unserer Befunde zweifelhaft macht. Was der Therapie zugute kommt, bringt die Forschung zu Schaden. Es ist die Einwendung, welche am häufigsten gegen die Psychoanalyse erhoben worden ist [. . .]. Wäre sie aber berechtigt, so würde die Psychoanalyse doch nichts anderes als eine besonders gut verkappte, besonders wirksame Art der Suggestionsbehandlung sein [. . .]. So meinen es auch die Gegner; besonders alles, was sich auf die Bedeutung der sexuellen Erlebnisse bezieht, sollen wir den Kranken ›eingeredet‹ haben, nachdem uns in der eigenen verderbten Phantasie solche Kombinationen gewachsen sind. Die Widerlegung dieser Anwürfe gelingt leichter durch die Berufung auf die Erfahrung als mit Hilfe der Theorie« (Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916–1917 (1915–1917)], in: ders.: Studienausgabe. Bd. I [Anm. 32], S. 33–445, hier S. 434). Freud: Konstruktionen in der Analyse (Anm. 32), S. 402. Allerdings frappiert die Beobachtung, dass Freud hier sogar die »Wahnbildungen der Kranken« als »Äquivalente der Konstruktionen« in der psychoanalytischen Therapie ansieht (ebd., S. 405). Vgl. dazu die Anmerkung von Fred Lönker in: Robert Musil: Nachlass zu Lebzeiten. Hg. v. F. L. Stuttgart 2013, S. 155: »Wassermann: Gemeint ist wohl die sogenannte Wassermannsche Reaktion, die eine Syphilis-Erkrankung anzeigt.« – Der bedrohte Ödipus exponiert eine Aporie
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Auch Freud rekurriert in der Neuen Folge seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 1932/1933 explizit auf den Mythos von »Scylla« und »Charybdis«.45 Musil lässt seinen Erzähler gegen die Psychoanalyse rebellieren, weil »ohne Ödipus heute so gut wie nichts möglich ist, nicht das Familienleben und nicht die Baukunst« (GW II, S. 529). Durch eine Universalisierung des Ödipuskomplexes, die sich schon durch das abwegige Beispiel der Architektur als ridikül erweist, versucht er überzogene Geltungsansprüche dieses psychoanalytischen Theorems ad absurdum zu führen. Freuds Schriften zeigen, dass er tatsächlich von einer interkulturellen Allgemeingültigkeit des Ödipuskomplexes46 im Hinblick auf Persönlichkeitsstruktur, sexuelle Orientierung und Psychopathologie des Menschen ausging. Bei der Abwehr psychoanalytischer Erklärungsmuster, die Vorbehalte von außen unschädlich machen und Kritiker gegen deren Willen vereinnahmen können, greift der Ich-Erzähler strategisch auf hermeneutische Methoden der Psychoanalyse selbst zurück, indem er auf Erfahrungen aus einer früheren Lebensphase rekurriert. Mit subversiver Absicht nutzt er dabei die kurz zuvor ausgegrabenen47 Kindheitserinnerungen, die das Prinzip der beleidigenden »Retourkutsche« zutage gefördert haben: also einen Rachereflex aus purer Einfallslosigkeit. Nun sorgt diese ›Methode‹, die auf schlichter Umkehrung der Beleidigung gegen ihren Urheber beruht, für fröhliche Wiederentdeckung, eignet sie sich doch geradezu ideal dafür, analoge Verhältnisse bei der Psychoanalyse selbst aufzudecken: »ein schöner Beweis dafür, daß auch die wissenschaftlichen Methoden schon vor der Pubertät erworben werden« (GW II, S. 529) – so das süffisante Fazit des Ich-Erzählers. Strategien, die darauf zielen, Kritiker der Psychoanalyse durch Inkorporierung unschädlich zu machen, lässt er so als Symptom eines modernen Infantilismus erscheinen, ja sogar als präpubertäres Verhaltensmuster. Subversiv nutzt der Text dazu eine hermeneutische Rekonstruktion von Vergangenem, um den Kunstgriff
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des modernen Menschen insofern, als biologische Reproduktion einerseits aus medizinischen, andererseits aus psychologischen Gründen gefährdet erscheint: wenn nämlich die einzige Alternative zur syphilitischen Symptomatik im Ödipuskomplex besteht. Laut Freud hat die »Erziehung [. . .] ihren Weg zu suchen zwischen der Scylla des Gewährenlassens und der Charybdis des Versagens« (Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1932 (1933)], in: ders.: Studienausgabe. Bd. I [Anm. 32], S. 447–608, hier S. 578). Zum Ödipuskomplex vgl. den Überblick bei Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Bd. 2. Frankfurt a. M. 51982, S. 351–357. Sigmund Freud betrachtete es als zentrale Aufgabe jedes Menschen, in seiner Jugend »den Ödipuskomplex zu bewältigen«, mithin eine Lösung zu finden für die trianguläre familiäre Verstrickung (eifersüchtiger Hass des Kindes gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und Liebe zum gegengeschlechtlichen Elternteil). Scheitert dieser Versuch, dann entsteht der »Kernkomplex der Neurosen« (ebd., S. 352 f.). Bezeichnenderweise vergleicht Freud die »Konstruktion« bzw. »Rekonstruktion« des Psychoanalytikers mit der Arbeit des Archäologen. Vgl. Freud: Konstruktionen in der Analyse (Anm. 32), S. 396–398.
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satirisch zu entlarven, mit dem die Psychoanalyse auch ihre Kritiker seziert oder »psychotranchiert«.48 Aufschlussreich erscheinen Freuds seit 1915 entstandene Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Auf die Problematik pauschaler Aburteilung der Psychoanalyse durch ignorante Kritiker rekurriert er in der 34. Vorlesung der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933 [1932]). Die verbreitete Geringschätzung gegenüber dieser neuen Disziplin exemplifiziert er mit Romanautoren, die durch »spöttische Bemerkungen« über die Psychoanalyse »Belesenheit« oder »intellektuelle Überlegenheit« zu demonstrieren versuchen.49 Da Freud es für ein aussichtsloses Unterfangen hielt, seine Gegner argumentativ »zur Richtigstellung der offenkundigen Irrtümer über die Analyse« zu veranlassen (zumal in deren Pionierphase), wählte er eine andere Option: »ich machte die erste Anwendung der Psychoanalyse, indem ich mir das Benehmen der Masse als Phänomen desselben Widerstands aufklärte, den ich bei den einzelnen Patienten zu bekämpfen hatte, enthielt mich selbst der Polemik und beeinflußte meine Anhänger, als sie allmählich hinzukamen, nach derselben Richtung« – mit dem Erfolg, dass »jene ursprüngliche Ächtung der Psychoanalyse« sukzessive aufgegeben wurde.50 Im näheren Kontext dieser 34. Vorlesung argumentiert Freud erheblich differenzierter, als es die Polemik des Erzählers in Musils Text Der bedrohte Ödipus erwarten ließe. Dass Freud in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur von 1930 Religion als ›psychischen Infantilismus‹ charakterisiert, erscheint auch im Hinblick auf Musils Text Der bedrohte Ödipus als aufschlussreich. Denn von Freuds These aus lässt sich die Diskreditierung und Entmythologisierung der Psychoanalyse ergänzen, die der Text vorführt. In der Schrift Das Unbehagen in der Kultur sieht Freud die »Technik« der Religion darin, durch »Einschüchterung der Intelligenz« sowie »gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus und Einbeziehung in einen Massenwahn [. . .] vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen«.51 Wenn Musils Ich-Erzähler die strategische Funktion der Retourkutsche betont, um eine lustvolle Infantilisierung der Psychoanalyse zu betreiben, attestiert er einen »psychischen Infantilismus«, wie ihn Freud der Religion vorwirft, auch der Psychoanalyse selbst. Allerdings verschieben sich dabei die Implikationen: Während die Religion auf Gefühle ›transzendentaler Obdachlosigkeit‹ und Hilflosigkeit antwortet, indem sie sinnstiftende Orientierung suggeriert, die psychische Beheimatung verspricht, aber zugleich ein sacrificium intellectus erleichtert, ist es gemäß 48 49 50 51
Diesen Neologismus verwendet Musil 1926 im Interview mit Alfred Polgar humoristisch (GW II, S. 1155). Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Anm. 45), S. 566. Ebd., S. 566 u. 568. Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1930 (1929)], in: ders.: Studienausgabe. Bd. IX (Anm. 32), S. 191–270, hier S. 216.
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Musils Text Der bedrohte Ödipus ein mit theologischer Dogmatik vergleichbarer Unfehlbarkeitsanspruch der Psychoanalyse selbst, der den Ich-Erzähler zur Infantilismus-Diagnose veranlasst.52 Immerhin geht Musils Erzählerfigur nicht so weit, das von Freud auf die Religion bezogene Etikett »Massenwahn« auch der Psychoanalyse anzuheften, soweit sie sich zur Kompensation des Transzendenzverlusts im Zeitalter der Säkularisierung eignet. Nur ein Impuls in dieser Richtung deutet sich an, wenn Musils Ich-Erzähler an den Praktikern der Psychoanalyse nicht nur die Tendenz diagnostiziert, Patienten zu infantilisieren, sondern auch Strategien kompensatorischer Aufwertung feststellt, die Trost spenden und Ohnmachtsgefühle lindern können. Wer sich dem Anpassungsdruck und dem Tempo permanenter Veränderung in einer hochdynamischen Moderne nicht gewachsen sieht und sich durch die Überfülle innovativer Tendenzen sogar zum »Nichts« depotenziert fühlt (GW II, S. 530), kann in der Psychoanalyse ein Surrogat durch kompensatorische Geborgenheit und Sinnstiftung finden: durch mentale Regression in die »gute alte Zeit« (GW II, S. 529).53 Deren Atmosphäre entlastet von der Hektik der modernen Welt, die »an ihren mechanischen Energien« fast zu »zerplatzen« droht (GW II, S. 529): »Nun aber faßt die Psychoanalyse diesen verkümmerten Einzelnen bei der Hand und beweist ihm, daß er nur Mut haben müsse und Keimdrüsen.« (GW II, S. 530) Mit einem somatischen Reduktionismus verweist diese ironische Pointe auf psychoanalytische Libido-Konzepte, die übrigens ihre Kritiker von kirchlicher Seite in den 1920er und 1930er Jahren dazu veranlassten, der Psychoanalyse provokativ einen monomanischen Pansexualismus zu unterstellen.54 Ein solcher Vorwurf trifft allerdings nicht die erheblich differenzierteren LibidoTheorien Freuds.55 52 53
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Im Rigorismus der Kritik, die Musils Ich-Erzähler an der Psychoanalyse übt, könnte auch eine Reminiszenz an kindliche Allmachtsphantasien mitschwingen – wiederum Stoff für Psychoanalytiker. Im »Kakanien«-Kapitel von Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften werden regressive Tendenzen und vergangenheitsorientierte Ideologien ebenfalls mit einer nostalgischen Sehnsucht nach »der guten alten Zeit« korreliert (MoE, S. 32). Allerdings dominiert hier die historische Retrospektive auf das untergegangene Kakanien. Egon Friedell referiert diese Position so: Freud habe »eine Religion« gestiftet, die »heidnischen Charakters« sei: »Naturanbetung, Dämonologie, chthonischer Tiefenglaube, dionysische Sexualvergötterung« (zit. nach: Alfred Springer: Der weltanschauliche Streit um die Psychoanalyse. Bulletin – Zeitschrift der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung [1994], H. 3, S. 56–93, hier S. 70). Laut Freud liegt das Ziel der analytischen Therapie in der »Ichveränderung, welche sich unter dem Einfluß der ärztlichen Suggestion vollzieht. Das Ich wird durch die Deutungsarbeit, welche Unbewußtes in Bewußtes umsetzt, auf Kosten dieses Unbewußten vergrößert, es wird durch Belehrung gegen die Libido versöhnlich und geneigt gemacht, ihr irgendeine Befriedigung einzuräumen, und seine Scheu vor den Ansprüchen der Libido wird durch die Möglichkeit, einen Teilbetrag von ihr durch Sublimierung zu erledigen, verringert« (Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [Anm. 42], S. 437). Folglich intendiert er mit der Psychoanalyse, »das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen,
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Musils Text Der bedrohte Ödipus betont auch die Abkehr der Psychoanalyse von modernen Effizienzansprüchen, sofern sie »inmitten des Zeitmangels der Gegenwart zu einer gemächlichen Verwendung der Zeit erzieht, geradezu einer sanften Verschwendung dieses flüchtigen Naturprodukts« (GW II, S. 529). Eine Alternative zu der von Musil im Essay Geist und Erfahrung beschriebenen »Hast des Tages«, in der »die Vernunft in Tausenden von PS« tobt (GW II, S. 1054), bietet die Psychoanalyse durch die prononcierte Langsamkeit eines Aufdeckungsprozesses, der selbst banalen Details des Lebensalltags Bedeutsamkeit zugesteht und das Individuum lehrt, sich selbst »wieder als das Maß aller Dinge [zu] fühlen« (GW II, S. 530). Mit einer solchen Aufwertung des Subjekts verbindet sich philosophiegeschichtlich eine Anspielung auf den sophistischen Homo-mensura-Satz »Der Mensch ist das Maß aller Dinge [. . .]«, der Protagoras zugeschrieben wird.56 Einerseits beinhaltet dieses Diktum einen erkenntnistheoretischen Relativismus, weil die Erfahrung des Menschen stets von den Kategorien seines Erkenntnisvermögens abhängig bleibt und daher kein absolutes, sondern immer nur relatives Wissen ermöglicht. Ein solcher Relativismus lässt an die erkenntnistheoretischen Prinzipien der Kantischen Transzendentalphilosophie sowie an den Perspektivismus Nietzsches denken. Andererseits jedoch könnte man den Homo-mensura-Satz auch im Sinne eines Subjektivismus verstehen, der zu hybrider Selbstermächtigung des Subjekts führen und individuelle Willkür bis zum Autarkie-Bewusstsein forcieren kann. Eher in diese Richtung scheint Der bedrohte Ödipus zu weisen, wenn der Erzähler die kompensatorische Aufwertung des Menschen durch die Psychoanalyse betont. Korreliert man Musils Text Der bedrohte Ödipus mit Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, so lässt sich übrigens eine symptomatische Diskrepanz zwischen theoretischen Konzepten und praktischen Verfahren feststellen. Denn der von Musils Ich-Erzähler betonten Aufwertung des Menschen zum »Maß aller Dinge« (GW II, S. 530) durch die Psychoanalyse steht der radikale Bedeutungsverlust gegenüber, den Sigmund Freud auf eine dreifache narzisstische Kränkung des Menschen im Laufe der Kulturgeschichte zurückführte: nämlich durch den Heliozentrismus des Kopernikus, der die Vorstellung von der Erde als Mittelpunkt des Kosmos verabschiedet, durch die Evolutionslehre Darwins, die den Sonderstatus des Menschen
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sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden« (ebd., S. 516). Das Protagoras zugeschriebene Diktum lautet: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind« (Die Fragmente der Vorsokratiker. 3 Bde. Hg. v. Hermann Diels u. Walther Kranz. Berlin 61951. Vgl. hier 80 B1 [Platon, Theaitetos 152a]). – Versteht man ›den Menschen‹ aber nicht als Gattungswesen, sondern als Individuum, so ändert sich der Aussagegehalt, weil der erkenntnistheoretische Relativismus dann tendenziell zu einem Subjektivismus im Sinne individueller Willkür radikalisiert wird.
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als ›Krone der Schöpfung‹ negiert, und »durch die heutige psychologische Forschung«, die »dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht.«57 Angesichts dieser anthropologischen Prämissen erscheinen Tendenzen der Psychoanalyse, den Menschen zum »Maß aller Dinge« zu erheben (GW II, S. 530), ebenso hybrid wie obsolet – es sei denn, man verstünde den Homo-mensura-Satz nicht im Sinne narzisstischer Selbstüberschätzung, sondern bloß als Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Relativismus. Thematische Affinitäten lassen an die fulminante Satire auf den Gattungsnarzissmus des Menschen denken, die Nietzsche schon 1873 in seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne exponiert. In diesem sprach- und erkenntniskritischen Essay übt er Kritik an anthropomorphen Weltbildern: an der Tendenz eines Forschers, »den Menschen als Maass an alle Dinge zu halten, wobei er aber von dem Irrthume ausgeht, zu glauben, er habe diese Dinge unmittelbar als reine Objekte vor sich« (KSA 1, S. 883). Die narzisstische Dimension entfaltet Nietzsche im folgenden Szenario: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben.«58 – Möglicherweise hat sich Musil zum Titel des Nachlass-Kapitels »Atemzüge eines Sommertags« (MoE, S. 1324) in seinen späten Entwürfen zum Mann ohne Eigenschaften durch Nietzsches Metaphorik59 anregen lassen. Einen weltfremden Anthropomorphismus als ›Berufskrankheit‹ des Philosophen pointiert Nietzsche bei der Fernrohr-Wahrnehmung durch eine groteske Inversion der Blickrichtung: »wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und 57 58
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Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Anm. 42), S. 284. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: KSA 1, S. 875. In dieser Schrift pointiert Nietzsche die menschliche Hybris auch, indem er betont, der Mensch nehme seinen Intellekt »so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt« (KSA 1, S. 875). Dabei steigert die Verschränkung von Makro- und Mikroperspektive den Effekt der satirischen Diagnose: Die raumzeitliche Unermesslichkeit des Universums marginalisiert den Planeten Erde so sehr, dass ein frohgemuter Erkenntnisoptimismus des Menschen ebenso absurd erscheint wie sein Gattungsnarzissmus und sein anthropozentrisches Weltbild angesichts der Analogie zur Perspektive der Mücke. Vgl. dazu detaillierter Barbara Neymeyr: Sprache als Medium für die »verwegensten Kunststücke«. Nietzsches Experimental-Metaphorik, in: Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der Fröhlichen Wissenschaft zu Also sprach Zarathustra. Hg. v. Katharina Grätz u. Sebastian Kaufmann. Heidelberg 2016 (= Akademiekonferenzen, Bd. 25), S. 323–353.
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Denken gerichtet zu sehen« (KSA 1, S. 875 f.). Diese Metaphorik lässt den Anthropomorphismus des Philosophen als kuriosen Narzissmus erscheinen. Übrigens wird auch in Musils Triëdere die Blickrichtung umgekehrt: wenn der Betrachter angesichts »der steinernen perspektivischen Korrektheit« erschrickt, mit der die »Gesimse [. . .] zu ihm herüberblickten« (GW II, S. 519). Über die ironische Reverenz an den sophistischen Homo-mensura-Satz des Protagoras hinaus setzt Musil in Der bedrohte Ödipus einen weiteren satirischen Akzent: durch den nur scheinbar affirmativen Wunsch des IchErzählers für die Psychoanalyse: »Möge sie nie ein Ende finden!« Dessen eigentliche Botschaft enthüllt erst der Nachsatz: »Das ist mein Wunsch als Laie; aber ich glaube, er deckt sich mit dem der Sachverständigen.« (GW II, S. 530) Diese ironische Allusion auf Geltungsanspruch und Profitinteresse der Fachvertreter entlarvt den Bescheidenheitsgestus des vermeintlichen Laien abermals als bloße Attitüde eines durchtriebenen Kritikers. Angespielt wird dabei auf die essentielle Frage nach der notwendigen Dauer psychoanalytischer Therapieprozesse, über die Freud schon im Jahre 1900 in einem Brief an Wilhelm Fließ nachdachte: »Ich fange an zu verstehen, daß die scheinbare Endlosigkeit der Kur etwas Gesetzmäßiges ist und an der Übertragung hängt.«60 Freud, der nach eigenem Bekunden »nie ein therapeutischer Enthusiast« war und ausdrücklich betonte, die Psychoanalyse sei »eine Therapie wie andere auch« und habe »ihre Triumphe wie ihre Niederlagen«61 sowie »ihre sehr fühlbaren Schranken«,62 betrachtete die Ambitionen der Psychoanalyse auch in seiner Schrift Die endliche und die unendliche Analyse durchaus mit pragmatischer Nüchternheit.63 Dabei verband er »das technische Problem, wie man den langsamen Ablauf einer Analyse beschleunigen kann«, mit der tieferreichenden Frage, »ob es ein natürliches Ende einer Analyse gibt, ob es überhaupt möglich ist, eine Analyse zu einem solchen Ende zu führen.«64 Ungünstige Prognosen, die eine Analyse »ins Unabschließbare verlängern können«, gab Freud im Falle »konstitutionelle[r] Triebstärke« und einer »im Abwehrkampf erworbene[n] ungünstige[n] Veränderung des Ich«.65 Obwohl er es für »wünschenswert« hielt, »die Dauer einer analytischen Kur abzukürzen«,66 bezweifelte er selbst die Praktikabilität einer solchen »Abkürzung« angesichts der »gesteigerten Ansprüche an die analytische Kur«67 60 61 62 63 64 65 66 67
Zit. nach: Editorische Vorbemerkung, in: Sigmund Freud: Die endliche und die unendliche Analyse [1937], in: ders.: Studienausgabe. Ergänzungsband (Anm. 32), S. 355. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Anm. 45), S. 580. Ebd., S. 581. Vgl. ergänzend auch Freuds differenzierte Erläuterungen dazu ebd., S. 580–585. Vgl. Freud: Die endliche und die unendliche Analyse (Anm. 60), S. 355. Ebd., S. 360. Ebd., S. 361. Ebd., S. 370. Ebd., S. 364. Den »Vorwurf, daß die analytische Behandlung unverhältnismäßig lange Zeiten in Anspruch nimmt«, pariert Freud so: »psychische Veränderungen vollziehen sich eben nur
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und betonte zugleich, »welche Grenzen der Leistungsfähigkeit einer analytischen Therapie gesteckt sind«,68 die er in »akut krisenhaften Zuständen« für nahezu unbrauchbar hielt.69 Freud problematisierte auch die Hindernisse durch »Abwehrmechanismen«, die sich als »Widerstände nicht nur gegen die Bewußtmachung der Es-Inhalte, sondern auch gegen die Analyse überhaupt und somit gegen die Heilung« richten70 und dazu beitragen können, dass »die therapeutische Analyse am Kranken« zur »unendliche[n] Aufgabe« zu werden droht.71 Mit der Warnung vor »übertriebenen Erwartungen« verband Freud ein Plädoyer für pragmatisch sinnvolle Beschränkungen, um dem Eindruck entgegenzutreten, »daß die Analyse überhaupt eine Arbeit ohne Abschluß ist«.72 Vor dem Hintergrund Freud’scher Skepsis und Musil’scher Satire fällt schließlich auch ein bezeichnendes Licht auf den Titel Der bedrohte Ödipus selbst, dem ja keineswegs ein Plädoyer für ›Artenschutz‹ eingeschrieben ist. Aber erst die Schlusspartie bringt die Titel-Thematik explizit zur Sprache: Obwohl der Erzähler die zentrale Bedeutung des Ödipuskomplexes in der Psychoanalyse betont, prognostiziert er ihm nur noch eine kurz bemessene Zukunft von »ein bis zwei« Generationen (GW II, S. 530), und zwar angesichts der sich wandelnden Geschlechterverhältnisse: Da der mütterlichbergende und embryonale Rückkehr-Sehnsüchte weckende Frauentypus inzwischen durch die sportlich-moderne Frau mit pragmatisch-nüchternem Kleidungsstil abgelöst wurde, die zu regressiven Wünschen gerade nicht animiert, hinterfragt der Erzähler den Sonderstatus des Prinzips Mütterlichkeit, um als Ziel der Regression dann ironisch auch »den Schoß des Vaters« zur Disposition zu stellen (GW II, S. 530).73
68 69 70 71 72 73
langsam; wenn sie rasch, plötzlich eintreten, ist es ein übles Zeichen« (Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [Anm. 45], S. 584). Freud: Die endliche und die unendliche Analyse (Anm. 60), S. 371. Ebd., S. 372. Ebd., S. 379. Ebd., S. 389. Ebd. Die psychoanalytische Perspektive auf Libido-Problematik und Geschlechter-Konstellation legt einen Seitenblick auf Musils »Bild« Der Erweckte nahe, dessen Verfremdungsstrategien in einer surrealen Schlusspartie kulminieren. Im Zuge mystischer Entgrenzung erlebt der IchErzähler asexuelle Vereinigung als skurrilen Akt akustischer Penetration: »Endlich kommen zwei Beine durch die Nacht. Der Schritt zweier Frauenbeine und das Ohr: Nicht schauen will ich. Mein Ohr steht auf der Straße wie ein Eingang. Niemals werde ich mit einer Frau so vereint sein wie mit dieser unbekannten, deren Schritte jetzt immer tiefer in meinem Ohr verschwinden.« (GW II, S. 484) – Fragmentierung, Isolation, Vergrößerung und Dynamisierung werden hier auf extravagantere Weise wirksam als in Triëdere. Da Der Erweckte von mystischer Erlebnisintensität bestimmt ist, ergeben sich Affinitäten zum Totum simul im ›anderen Zustand‹ eines mystischen Eros in Musils Mann ohne Eigenschaften (vgl. dazu Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose [Anm. 29], S. 262–264 u. 291–314). Und wenn Musil im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik »ein geheimnisvoll schwellendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen Menschen« beschreibt (GW II, S. 1144), dann kon-
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Eine partielle Skepsis Musils gegenüber der Psychoanalyse geht übrigens aus autobiographischen Aufzeichnungen hervor, in denen er seine These »Forschung schafft Tatsachen« mit der Psychoanalyse exemplifiziert, um dann jedoch zu erklären: »Ich will dahingestellt sein lassen, wie groß ihr Wahrheitsgehalt ist [. . .], ich traue ihm nicht sehr, aber ich will annehmen, er sei groß: was folgt daraus für die Dichtung? Mußten wir nun ihre Symbole, Formeln, Ansichten u. abkürzenden Zusammenfassungen benutzen? Mit einem Worte, mußten wir, wo wir analysieren, psychoanalysieren? [. . .] Dichtung ist keine -logie. Was aber dann?« (GW II, S. 968) – Schließlich mündet Der bedrohte Ödipus in die ratlosen Fragen des Erzählers: »Was aber dann? / Werden wir statt des Ödipus einen Orestes bekommen? Oder wird die Psychoanalyse ihre segensreiche Wirkung aufgeben müssen?« (GW II, S. 530) Ob eine Substitution des Vatermörders Ödipus durch den Muttermörder Orest gemäß antiker Mythologie tatsächlich neue Impulse gäbe, darf indes bezweifelt werden. Konsequenterweise verzichtet der Text auf definitive Antworten und lässt den kritischen Diskurs ins Offene gleiten.
6. Kontraproduktive Memoria-Monumente: Die paradoxe Evidenz der Unsichtbarkeit in Denkmale Nicht nur die Literatur ist ein wichtiger Faktor im kulturellen Gedächtnis, indem sie zeitgenössische Ideen, Debatten, Mentalitäten spiegelt und etablierte Traditionen in Frage stellt oder produktiv transformiert. Ein solches Wirkungspotential kommt auch der bildenden Kunst und ihren MemoriaDokumenten oder Erinnerungs-Monumenten zu. Musil selbst betrachtet seine Prosaminiatur Denkmale im Tagebuch-Heft 31 (1930–1936) als exemplarischen Maßstab für künftige Arbeitspläne: »Essays: Skizzen in der Art von Denkmale über die verschiedenen Erscheinungen des heutigen Lebens, zb. Sport.« (Tb I, S. 818) Der Text Denkmale reflektiert den Status von Skulpturen, die im städtischen Ambiente als Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit vergiert mystisches Erleben auch mit künstlerischer Disposition und mentalen Zuständen in phylogenetischer Entwicklung und psychopathologischer Grenzerfahrung. – In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur reflektiert auch Freud Entgrenzungszustände in individual- und kulturpsychologischer Hinsicht und weist dabei auf erotische Verschmelzungserlebnisse und pathologische Phänomene hin (vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur [Anm. 51], S. 191–270, hier S. 197–200). Hier konstatiert er unter ontogenetischem Aspekt, »das Ich« setze sich »nach innen ohne scharfe Grenze in ein unbewußt seelisches Wesen« fort, »das wir als Es bezeichnen« (ebd., S. 198). Wenig später erklärt er in phylogenetischem Kontext: »Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines [. . .] allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach« (ebd., S. 200). Freud beschreibt es als »ein ›ozeanisches‹ Gefühl« mit Affinitäten zu Religion, Mystik, Trance, Ekstase (vgl. ebd., S. 204 f.), auch wenn er – anders als Musil – eine innere Distanz dazu bekennt: »Ich selbst kann dies ›ozeanische‹ Gefühl nicht in mir entdecken« (ebd., S. 198).
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fungieren sollen, um prominenten historischen Persönlichkeiten eine Präsenz im kulturellen Gedächtnis zu sichern. Insofern verweist diese Prosaminiatur auf den Historismus-Diskurs, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Anlass bot, die erdrückende Überfülle des Geschichtlichen zu problematisieren. Musil selbst geht in Essays mehrfach auf die Historismus-Problematik ein und diagnostiziert Relativismus und Orientierungslosigkeit, Lethargie und Kulturpessimismus infolge fehlender intellektueller Verarbeitungskapazität als Symptome der zeitgenössischen Krisensituation (vgl. GW II, S. 1087, 1091 u. 1129).74 Avant la lettre lässt sich Musils Text Denkmale auch mit aktuellen kulturwissenschaftlichen Memoria-Debatten korrelieren, allerdings via negationis, weil der Anspruch von Denkmälern auf Präsenz im kollektiven Gedächtnis hier ironisch konterkariert wird. Als Stimulans der Memoria bewähren sich solche Denkmäler meistens gerade nicht, weil sie sich durch die Wahrnehmungsgewohnheiten der Passanten rasch zu jenem Hintergrund des Bewusstseins einebnen, der ihnen anstelle kollektiver Erinnerung allein das Vergessenwerden garantiert. Dies gilt dann auch für die von ihnen repräsentierten Persönlichkeiten der Vergangenheit. Als primäre Ursache dafür benennt der Text Denkmale allerdings nicht vorrangig naive Geschichtsblindheit oder gedankenlose Ignoranz der Öffentlichkeit, sondern bewusstseinspsychologische Konditionen: »Alles Beständige büßt seine Eindruckskraft ein«, und so verliert »die Kulisse unseres Bewußtseins [. . .] die Fähigkeit, in diesem Bewußtsein eine Rolle zu spielen« (GW II, S. 507). Infolgedessen erscheinen Statuen bedeutender Persönlichkeiten oder Reiterstandbilder aufgrund ihrer historischen Bezüge innerhalb moderner Architektur zwar isoliert, sofern sie vergangene Epochen repräsentieren. Aber da sie differenzlos mit dem Ambiente verschmelzen, verlieren sie mit der vitalen Präsenz im Jetzt auch ihre auf Integration von Vergangenheit zielende Brückenfunktion. Da den Prominenten von einst somit keine mentale Zukunft durch die Vergegenwärtigung im kulturellen Gedächtnis beschieden ist, erstarren sie zu Ewiggestrigen und erinnern den Erzähler sogar an »die schweren Melancholiker in den Nervenheilanstalten« (GW II, S. 508). Anstelle individueller Verdienste bleibt allenfalls das biologische Geschlecht der durch Standbilder geehrten Persönlichkeiten den Passanten in Erinnerung. Eine Ausnahme stellen nur die berühmten Denkmäler dar, die Touristen sogar »mit dem Baedeker in der 74
Im Spengler-Essay Geist und Erfahrung sieht Musil seine Epoche dominiert durch den »nicht mehr zu bewältigende[n] Reichtum an Inhalten, das angeschwollene Tatsachenwissen [. . .], das Unübersehbare, das Chaos des Nichtwegzuleugnenden« (GW II, S. 1045). Der Pluralismus heterogener Strömungen, zu denen auch Rationalismus und Antirationalismus, Individualismus und Kollektivismus gehören, führt gemäß Musils Essay Das hilflose Europa zu einer »unerhörten Einzelkrämerei« (GW II, S. 1087 f.). Im Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit attestiert er seiner Generation ein inneres »Vakuum« (GW II, S. 1062). Zu Musils kritischer Zeitdiagnose vgl. Neymeyr: Utopie und Experiment (Anm. 4), S. 95–127.
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Hand« suchen; Musil nennt hier exemplarisch »den Gattamelata oder den Colleone« (GW II, S. 507). Ganz anders gestaltet sich die Präsenz des Vergangenen in Musils »Bild« Sarkophagdeckel. Dieser Text fängt die Aura eines römischen Ehepaars der Antike ein, das sich auf den beiden zwischen Büschen in der Landschaft liegen gebliebenen Sarkophagdeckeln, »wie auf einer Landpartie« lagernd (GW II, S. 486), »zum letzten Andenken hat abbilden lassen« (GW II, S. 485). Dabei wirken die Figuren so, als wären sie »eben aus einem kleinen Schlaf erwacht [. . .], der zweitausend Jahre gewährt hat«: Ihre Blicke begegnen sich, und »sie lächeln einander an; lang, sehr lang. [. . .] Dieser treue, brave, bürgerliche, verliebte Blick hat die Jahrhunderte überstanden; er ist im alten Rom ausgesandt worden und kreuzt heute dein Auge« (GW II, S. 486). Das Fazit »sie werden nicht steinern dadurch, sondern menschlich« (ebd.) spielt en passant mit einer Verschränkung diametral entgegengesetzter Mythen, um die Alternative von Medusa- und Pygmalion-Motiv dann zugunsten des letzteren zu entscheiden. Evident ist die Differenz zur Szenerie in Denkmale: Denn das Mysterium authentischer Natürlichkeit75 in der skulpturalen Vergegenwärtigung liebevollen Verbundenseins schlägt im Nunc stans des Blickkontaktes eine überhistorische Brücke zum Betrachter, der als externer Dritter an der Intensität des Blicks partizipieren kann, weil die überzeitliche Vitalität des Eros hier die Endlichkeit menschlicher Existenz zu transzendieren scheint. Nicht zufällig wird das zunächst noch neutrale »Man« der Perspektivfigur im Text Sarkophagdeckel (GW II, S. 485) am Ende in ein suggestives »Du« transformiert (GW II, S. 486), das den implizit bleibenden Erzähler mit dem empathisch lesenden Rezipienten zur Wir-Einheit zusammenschließt. Im Kontrast zum Ausnahmeerlebnis gemäß Musils Sarkophagdeckel, dessen Intensität auch ein Zeitsprung über »zweitausend Jahre« (GW II, S. 486) nicht gefährdet, scheint im Text Denkmale gerade die Ewigkeitsprätention den pathetischen Gestus zur Banalität zu entwerten. Mit paradoxer Zuspitzung wird hier die Unsichtbarkeit der Denkmäler betont, die wie an der Wand hängende Bilder »gegen Aufmerksamkeit imprägniert« sind (GW II, S. 506) und im städtischen Ambiente zum gedankenlos hingenommenen »Teil der Straßenkulisse« verflachen (GW II, S. 507). Allenfalls übernehmen sie im Alltagsgetriebe noch triviale pragmatische Funktionen außerhalb kulturgeschichtlicher Memoria – etwa wenn Sockel von Standbildern durch Passanten ahnungslos »als Schutzinsel«, »als Kompaß oder Distanzmesser« in Dienst genommen werden (GW II, S. 507). Gerade der Verlust ihrer eigentlichen 75
In diesem Sinne betont Bernhard Böschenstein die Besonderheit der »ganz unprätentiösen Darstellung«, die »ohne Überhöhung [. . .], ohne ästhetische Stilisierung« auskommt: »Eine Momentaufnahme kann ewig dauern. Eine Ewigkeitspose stirbt spätestens nach einer Generation« (Bernhard Böschenstein: Die Zeit als Entlarverin falscher Gefühle in den Unfreundlichen Betrachtungen im Nachlaß zu Lebzeiten, in: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle [Anm. 6], S. 269–277, hier S. 271).
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Aufgabe disponiert sie zu banaler Zweckentfremdung. Jeder emphatische Anspruch wie etwa der, den Nietzsche in der zweiten seiner Unzeitgemässen Betrachtungen mit dem programmatischen Schlagwort vom ›Nutzen der Historie für das Leben‹ formuliert, wird dann durch Trivialisierung verhindert. Wenn Musils Prosaminiatur Denkmale dem Verlust der Aura im Kontext von Kulturkritik und Zeitdiagnose dennoch denkwürdige ironische Pointen abgewinnt, dann verdanken sich diese gerade dem Verzicht auf den ursprünglichen kulturellen Vermittlungsanspruch. Durch ein diagnostisches Potential, wie es zuvor bereits die Kulturkritik in Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen kennzeichnet, ist auch Musils »Unfreundlichen Betrachtungen« tendenziell eine ›unzeitgemäße‹ Gegenwartsdistanz eingeschrieben. Während Nietzsche 1874 in der zweiten seiner Unzeitgemässen Betrachtungen unter dem Titel Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben76 die Krisensituation seiner Epoche diagnostiziert, die aufgrund der Dominanz des Historischen das Eigenrecht gegenwärtigen Lebens missachte und dadurch das Zukunftspotential der Gesellschaft insgesamt gefährde, inszeniert Denkmale eine nonchalante Instrumentalisierung von Denkmälern im städtischen Getriebe und lässt pragmatische Funktionen an die Stelle eines kulturellen Memoria-Anspruchs treten. Liest man Musils Denkmale vor dem Hintergrund von Nietzsches drei »Arten der Historie« (KSA 1, S. 258), so liegt zunächst der Gedanke an die ›monumentalische Historie‹ nahe, die »das vergangene Grosse« als zur Nachahmung inspirierendes Vorbild und damit als Stimulans für die »Thätigen und Mächtigen« beim Ringen um eigene Größe nutzt (KSA 1, S. 259). Analogien und Differenzen zu Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben betreffen Förderung und Behinderung der Memoria. Ähnlich wie Nietzsche rekurriert auch Musil in den »Unfreundlichen Betrachtungen« auf kulturgeschichtliche Konstellationen, insbesondere in Denkmale und Kunstjubiläum. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Denkmäler als Monumente einer historisierenden nationalen Erinnerungskultur errichtet. So galt das Jubiläum zum 100. Geburtstag Schillers, das 1859 in großem Stil durch Gedenkfeiern und Schiller-Statuen gewürdigt wurde, als nationales Ereignis. Memoria im Sinne der ›monumentalischen Historie‹ betont Nietzsche etwa dort, wo er in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben die Gefühle Goethes »vor dem Denkmale Erwin’s von Steinbach« hervorhebt: »in dem Sturme seiner Empfindung zerriss der historische zwischen ihnen ausgebreitete Wolkenschleier« (KSA 1, S. 266). Hier deutet sich eine ähnliche Art empathischer Vergegenwärtigung des Vergangenen an, wie sie Musils »Bild« Sarkophagdeckel vorführt. Und in Denkmale werden die »über ganz Deutschland verbreiteten 76
Vgl. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: KSA 1, S. 243–334.
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Bismarckdenkmäler« zusammen mit anderen prominenten Denkmälern wie dem »Gattamelata« oder dem »Colleone« ironisch dem »Verein« der »energischen Denkmäler« zugerechnet (GW II, S. 507). Im Unterschied zum antiquarischen Sammeln und Historisieren sollen solche Monumente nach Nietzsches Auffassung historisch verbürgte ›Größe‹ inszenieren, um sie der Erinnerung künftiger Generationen zu überantworten, und zwar in der Überzeugung, »dass das Grosse ewig sein solle« (KSA 1, S. 259). Aufgrund seiner Präferenz für das ›große‹ Individuum, das Genie und den Helden imaginiert Nietzsche einen »Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende« (KSA 1, S. 259) und erhofft dadurch eine historische »Continuität des Grossen« (KSA 1, S. 260). Dabei erblickt er die Funktion der ›monumentalischen Historie‹ wesentlich in ihrem Zukunftspotential, also keineswegs nur in der gegenwärtigen Glorifizierung vergangener ›Größe‹.77 Laut Nietzsche ist eine produktive Wirksamkeit der ›monumentalischen Historie‹ allerdings dann gefährdet, wenn durch die »dumpfe Gewöhnung, das Kleine und Niedrige« der Weg blockiert wird, »den das Grosse zur Unsterblichkeit zu gehen hat« (KSA 1, S. 259). Während Nietzsche die Entfaltung von ›Größe‹ durch den Widerstand mediokrer Existenzen behindert sieht, betont Musils Denkmale wahrnehmungspsychologische Konditionen als Ursache für den Bedeutungsverlust der Denkmäler. Unsichtbar wirken sie trotz ihrer markanten Inszenierung, weil »sie einen wider unsere Natur gerichteten Anspruch an uns stellen« (GW II, S. 508). Gleichsam en passant, also ganz ohne eine von Ressentiments bestimmte Rebellion gegen ›monumentalische‹ Exzellenz-Ansprüche in Nietzsches Sinne vollzieht sich bei Musil demnach der Absturz der Denkmäler in geschichtslose Anonymität. Von einer Bedrohung vitalen Lebens und kreativer Zukunftsgestaltung durch ein Übermaß der ›monumentalischen Historie‹, wie sie Nietzsche befürchtet, kann gemäß Musils Text Denkmale mithin keineswegs die Rede sein. Folglich würden hier auch die Wertungsstrategien einer ›kritischen Historie‹ ins Leere laufen, die laut Nietzsche hypertrophe Geltungsansprüche der Geschichte auf Kosten des Lebens verurteilen und eine die Zukunftsenergien lähmende überstarke Affirmation historischer Traditionen verhindern soll. Dem ›Leben‹ trägt Musils Denkmale – anders als Nietzsches Historienschrift – nur ironisch Rechnung, sofern sogar die Zweckentfremdung 77
Zu Implikationen, kulturhistorischem Kontext, Quellen und Wirkungsgeschichte von Nietzsches Historismus-Kritik vgl. Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Berlin, Boston 2019 (= Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/2) [Druck in Vorb.]. Zu Problemen von Nietzsches Historienschrift vgl. dort das Kapitel II .9. – Zur Präsenz des Historismus in Literatur und Kulturkritik vgl. die Analysen von Katharina Grätz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, Keller und Raabe. Heidelberg 2006 (= Untersuchungen zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 225).
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von Standbildern zur Alltagsorientierung den Primat des Lebens gegenüber historischer Memoria signalisiert. Nicht relevant sind dabei die von Nietzsche reflektierten Konsequenzen einer ›antiquarischen Historie‹, die dem Individuum durch pietätvolle Haltung gegenüber geschichtlichen Relikten zwar eine identitätsstiftende kulturelle Tradition geben kann, aber auch ein »beschränktes Gesichtsfeld« (KSA 1, S. 267) und eine bornierte Mentalität fördert: eine unkritische Haltung aufgrund naiver Nostalgie, steriler Sammelleidenschaft und gelehrter Faktenhuberei ohne zukunftsweisende Perspektiven (vgl. KSA 1, S. 265–269). Keine Rolle spielt in Musils Text Denkmale eine solche ›antiquarische‹ Mentalität, die Nietzsche mit Unfähigkeit zu adäquater Bewertung und Gewichtung historischer Traditionen im Sinne der Zukunft sowie mit einer instinktiven Abwehr innovativer Impulse verbunden sieht, also mit Defiziten, die für die Historismus-Problematik des 19. Jahrhunderts insgesamt bedeutsam waren. Das Spezifikum von Musils Prosaminiatur liegt vielmehr darin, dass sie durch die wahrnehmungspsychologische Diagnose mit satirischem Gestus die Ansprüche von vornherein unterläuft, die Nietzsche der ›monumentalischen‹, ›antiquarischen‹ und ›kritischen‹ Historie zuschreibt.78 Dennoch teilt Musils Denkmale mit Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben mehr als nur den kritischen Blick auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge und die exorbitante Denkmalkultur des 19. Jahrhunderts. Denn in doppelter Hinsicht ergeben sich Affinitäten zwischen Nietzsche und Musil: Sie betreffen erstens ›das Unhistorische‹ und zweitens einen perfiden Umgang mit der ›monumentalischen Historie‹. Nietzsche schreibt dem »Glück«, vergessen zu können, ganz im Augenblick zu leben, mithin »unhistorisch zu empfinden« (KSA 1, S. 250), einen therapeutischen Entlastungseffekt zu – gerade angesichts der Überfülle historischer Relikte und der durch Geschichtlichkeit dominierten Mentalität seiner Epoche. In Musils Prosaminiatur hingegen liegt das Stimulans ironischer Reflexion im provozierenden Paradoxon einer ostentativen Unauffälligkeit der Denkmäler. Dabei wird die satirische Gegenwartsdiagnose bewusstseinspsychologisch fundiert: Die Denkmäler »entziehen sich unseren Sinnen« (GW II, S. 507) gerade durch ihre kontinuierliche Präsenz. Insofern ist die in kultureller Hinsicht relevante Geschichtsvergessenheit letztlich durch individualpsychologische Faktoren bedingt, die mit der conditio humana zusammenhängen. Ironisch pointiert Musil die Dysfunktionalität der Denkmäler trotz der auf Memoria zielenden Intention der Erbauer: Sogar »überlebensgroßen Standbildern« droht das Übersehenwerden, weil sie Aufmerksamkeit »verscheuchen« statt »anziehen« (GW II, S. 506 f.). 78
Nietzsche plädiert für eine moderate Nutzung aller drei Typen des Historischen und erhofft von einem kritisch-konstruktiven Umgang mit der Geschichte die Bewältigung der Überlast des Historischen. Dabei soll das Kriterium der Lebensdienlichkeit für künftige Generationen als entscheidendes Prinzip fungieren.
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Das Postulat, sich nach dem Vorbild greller Reklame gefälligst »mehr an[zu]strengen« (GW II, S. 508), zieht daraus die Konsequenz. Ein zeitkritischer Seitenhieb ist damit insofern verbunden, als die ironische Erzählerperspektive hier von Strategien der modernen Werbeindustrie infiziert zu sein vorgibt und superlativische Reklame oder eine auffallende Bewegungsdynamik scheinbar als Rezept empfiehlt, um Aufmerksamkeit zu wecken. Doch werden Überlegungen, wie sich die Standbilder dauerhafte Attraktion sichern könnten, in der Idee ad absurdum geführt, der Denkmal-Held solle sich durch Klopfen an Fensterscheiben bemerkbar machen (vgl. GW II, S. 508). Sofern der Memoria-Anspruch Musil zufolge schon im Vorfeld eines möglichen Geschichtsbewusstseins schlicht an wahrnehmungspsychologischen Konditionen scheitert, unterscheidet sich dieser Ansatz fundamental von der Grundtendenz in Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Nicht einmal die eingefrorene Bewegungsdynamik von Reiterdenkmälern bildet hier eine Ausnahme. Vielmehr wird die unfreiwillige Komik des Statuarischen gerade an diesem Denkmaltypus besonders evident, hat er doch die pseudodynamische Pose des aufgebäumten Pferdes durch serielle Inszenierung bereits allzu vertraut gemacht. Der Abnutzungseffekt des Wirkungspotentials durch inflationäre Präsenz zeigt sich an einer ironisch grundierten Phantasie, die das Pathos der heroischen Pose als hohle Pseudodynamik enttarnt. Durch den Hiat zwischen ostentativer Effekthascherei und gänzlicher Wirkungslosigkeit kippt die inszenierte Attitüde ins Lächerliche: Die Fahne flattert in der Hand, und es geht kein Wind. Das Schwert ist gezückt, und niemand fürchtet sich davor. Der Arm weist gebieterisch vorwärts, aber kein Mensch denkt daran, ihm zu folgen. Selbst das Pferd, das sich mit sprühenden Nüstern zum Sprung erhoben hat, bleibt auf den Hinterhufen stehen, starr vor Staunen darüber, daß die Menschen unten, statt zur Seite zu treten, ruhig ein Wurstbrot in den Mund stecken oder eine Zeitung kaufen. [. . .] Denkmalsfiguren machen keinen Schritt und machen doch immerwährend einen Faux pas. (GW II, S. 508 f.)
Vermutlich bezieht sich Musil hier auf die berühmte Reiterstatue von Erzherzog Carl, die in Wien auf dem Heldenplatz steht. Indem er die expressive Dynamik in der statischen Pose des Denkmals analog zu einem lebenden Bild inszeniert, bezieht er sie zumindest hypothetisch auf den Fluss des Lebens. Zugleich jedoch tritt die Differenz dadurch umso markanter hervor. Sie erzeugt ein Fluidum des Unheimlich-Grotesken und löst sogar ein »Gruseln« aus (GW II, S. 508). Die Summe einander überbietender satirischer Pointen lässt die Denkmalskonvention in der Schlusspassage von Musils Prosaminiatur so unbegreiflich wirken, dass schließlich nur eine maliziöse Absicht noch als Erklärung tauglich erscheint. Sie zieht prononciert ›unfreundliche‹ Konsequenzen aus dem Rätsel der Dysfunktionalität. Dass »gerade großen Männern Denk-
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male gesetzt werden«, erscheint nun wie das Resultat eines perfiden Racheakts. Die »ganz ausgesuchte Bosheit« – so die dialektische Schlusspointe in Denkmale – besteht nämlich darin, den Memoria-Anspruch ausgerechnet im Medium des Erinnerungskults durchzustreichen: Da man den berühmten Persönlichkeiten der Vergangenheit »im Leben nicht mehr schaden kann, stürzt man sie gleichsam mit einem Gedenkstein um den Hals, ins Meer des Vergessens« (GW II, S. 509). Eine solche Auflösung aller Memoria in der Lethe ewigen Vergessens erinnert an eine Pointe des Entlarvungspsychologen Nietzsche, der in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben die heimlichen Motive mediokrer Existenzen freilegt und damit ihr von »Ressentiment«79 bestimmtes Verhalten erklärt: Hinter der Maskerade einer vordergründigen Bewunderung für das vergangene Große verbergen sie einen Hass auf »die Mächtigen und Grossen ihrer Zeit« (KSA 1, S. 264). Und durch ihre Maxime »lasst die Todten die Lebendigen begraben« (KSA 1, S. 264) pervertieren sie zugleich das Wirkungsprinzip der ›monumentalischen Historie‹, die laut Nietzsche auf den »Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende« ausgerichtet ist (KSA 1, S. 259). So schaden sie der kulturellen Entwicklung in der Zukunft. Indem der Text Denkmale die Möglichkeit der Memoria schon im Vorfeld historischer Relevanz durch wahrnehmungspsychologische Gegebenheiten verhindert sieht, rückt er die Korrelation zwischen Erinnern und Vergessen zugleich auf besondere Weise in den Fokus. Und wenn in Musils Kunstjubiläum »das Vergessen« als »eine sehr schöpferische und inhaltsreiche Tätigkeit« erscheint (GW II, S. 518), dann treten sogar mehrere Parallelen zu Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben hervor, in der es heißt: »Zu allem Handeln gehört Vergessen«, wie auch »Glück« notwendigerweise »das Vergessen-können« voraussetzt, mithin die Fähigkeit, »unhistorisch zu empfinden« (KSA 1, S. 250). Insofern avanciert das Vergessen für Nietzsche zum Antidot »gegen die Ueberwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit« (KSA 1, S. 331). Nur diejenigen, die sich durch »die Kunst und Kraft vergessen zu können« in »einen begrenzten Horizont einzuschliessen« vermögen (KSA 1, S. 330), sind laut Nietzsche dazu imstande, kreativ zu werden, weil »jedes Lebendige [. . .] nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden« kann (KSA 1, S. 251). Vor dem Hintergrund der kulturellen Krisensituation der Epoche verweisen Postulate dieser Art auf die von Nietzsche betonte Epigonen-Problematik (vgl. KSA 1, S. 295, 307 u. 333), die auch in Musils Prosaminiatur Der Malsteller anklingt. Der Text Denkmale betont die Memoria indirekt, indem er sie unter Rekurs auf geschichtsvergessene Alltagswahrnehmung faktisch und hinsichtlich 79
Zu Nietzsches Kritik an den »Menschen des Ressentiment« (KSA 5, S. 282 u. 370) und ihrem Raffinement vgl. exemplarisch Zur Genealogie der Moral (KSA 5, S. 274, 278 f., 282 u. 368–370).
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bewusstseinspsychologischer Gegebenheiten sogar prinzipiell suspendiert. Diese Strategien schlagen dialektisch in ihr Gegenteil um, weil Denkmale das Potential der Memoria noch im Akt ihrer Negation behauptet. Indem der Text die Leser zum Nachdenken über das Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen animiert, macht er ihnen am Beispiel städtischer Denkmäler die paradoxe Evidenz der Unsichtbarkeit bewusst. Dadurch, dass Gedankenlosigkeit, Vergesslichkeit, Ignoranz und bewusste Verweigerung des Gedenkens mit subversiver Absicht als Varianten einer Mentalität vorgeführt werden, die Memoria verhindert, sensibilisiert Denkmale die Leser für bislang übersehene Phänomene ihres alltäglichen Umfeldes und für wahrnehmungspsychologische Konditionen. Anthropologische Aspekte verbinden sich insofern mit Erkenntniskritik und Kulturdiagnose. Auf diese Weise arbeitet Musils Text Denkmale unter dem Schein der Negation letztlich sogar an der Konstitution von kulturellem Gedächtnis.
7. Musils »Unfreundliche Betrachtungen« als Konzentrate ›emotio-rationalen‹ Denkens Mit ihrer experimentellen Kulturkritik ziehen die Prosaminiaturen der »Unfreundlichen Betrachtungen« auf vielfältige Weise poetische Konsequenzen aus Musils Auffassung, dass die Aufgabe des Künstlers in einer »Erweiterung des Registers von innerlich noch Möglichem« liegt (GW II, S. 981). Dieser Anspruch, den Musil schon 1911 im Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst formuliert und später auch in anderen Essays entfaltet, ist im Nachlaß zu Lebzeiten durch verschiedene Verfremdungsstrategien realisiert. Wenn Aspekte der soziokulturellen Realität aus ihren gewohnten Kontexten isoliert und in einer »glashellen Einsamkeit« präsentiert werden (GW II, S. 521), können unerwartete Seiten an ihnen zutage treten. Extravagante Bildlichkeit, phantasievolle Überformung, Stillstellung oder Dynamisierung tragen in den »Unfreundlichen Betrachtungen« zu jener »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins« bei (GW II, S. 1140), die Musil für ein zentrales Charakteristikum ästhetischer Erfahrung hält. Die Erschütterung der vertrauten Balance des Alltäglichen eröffnet neuartige Erlebnisdimensionen und Erkenntnisperspektiven. Sie schließen auch Affinitäten zwischen mystischem Erleben und poetischer Erfahrung mit ein, wenn aus dem »gewohnheitsstarren Zusammenhange [. . .] plötzlich unerwartete Beziehungen zu oft ganz anderen Gegenständen« entstehen (GW II, S. 980). In diesem Sinne erklärt Musil bereits in seinem Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst: »Etwas als Künstler lieben, heißt somit, erschüttert sein, nicht von seinem Wert oder Unwert im letzten, sondern von einer Seite, die sich plötzlich daran öffnet«; insofern ist Kunst »erobernd, nicht pazifizierend« (GW II,
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S. 981). Die pointierte Gestaltung solcher Erfahrungen verbinden Musils »Unfreundliche Betrachtungen« auch mit satirischer Zuspitzung und subversiver Infragestellung, bei der »Ironie« als »eine Form des Kampfes« fungieren kann (GW II, S. 941). Zudem bietet die Vermittlung von bildhafter Pointierung und essayistischer Reflexion der »schrankenlosen Kombinatorik« der Kreativität facettenreiche Experimentierfelder.80 Eine produktive Destabilisierung des Ich durch Suspendierung von Wahrnehmungskonventionen zeigen die »Unfreundlichen Betrachtungen« in Musils Nachlaß zu Lebzeiten durch Vermittlungen zwischen sinnlicher Erfahrung und kulturkritischer Reflexion. Von einer produktiven »Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins« (GW II, S. 1140) zeugt nicht allein die Prosaminiatur Triëdere, die auf paradigmatische Weise das Perspektivische der Erkenntnis vorführt. Entsprechendes gilt auch für die räumlichen Kippeffekte, die Der Erweckte mithilfe kühner Bilder und bizarrer Vergleiche auf literarisch innovative Weise inszeniert. Solche Gestaltungsweisen korrespondieren mit Musils ästhetischen Konzepten und verwirklichen in actu ein »emotio-rationales und senti-mentales Denken«, wie Musil es schon 1913 in Analyse und Synthese propagiert: als kreative Möglichkeit, um mit »Ähnlichkeiten und schrankenlose[n] Kombinationsmöglichkeiten« zu experimentieren (GW II, S. 1008). Im Essay Geist und Erfahrung führt Musil 1921 diese poetologische Programmatik weiter, indem er im Bereich des ›NichtRatioïden‹ an die Stelle »des starren Begriffs [. . .] die pulsierende Vorstellung« und schöpferische »Analogien« treten sieht (GW II, S. 1050). Affinitäten zum »Zustand der Erweckung« in mystischer Erfahrung zeichnen sich ab, wenn sich für den Betrachter unter dem Eindruck solcher »Gefühlserkenntnisse« die »Welt« selbst radikal »verändert« (GW II, S. 1018). Zusätzliche Intensitäten kann dabei der »irrationale Simultaneffekt sich gegenseitig bestrahlender Worte« generieren, den Musil im Essay Ansätze zu neuer Ästhetik betont (GW II, S. 1147). Auch für den Nachlaß zu Lebzeiten erscheint eine Aussage zutreffend, die Musil selbst auf seine Vereinigungen bezog: »Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt.« (GW II, S. 969)
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Vgl. dazu Neymeyr: Utopie und Experiment (Anm. 4), S. 19–94; dies.: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Konzept einer ›emotio-rationalen‹ Literatur im Kontext der Moderne, in: Literarische Moderne – Begriff und Phänomen. Hg. v. Sabina Becker u. Helmuth Kiesel. Berlin, New York 2007, S. 199–226.
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Kurzprosa als geometrische Form: Inflation Abstract: The article looks at Robert Musil’s relationship to geometrical patterns, but not in regard to the geometrical discourses of his time or the often-quoted principle of the shortest line. Instead, the author takes up the manifold use of geometrical aspects in Musil’s last book publication Nachlaß zu Lebzeiten (1935/1936) and shows how a text like Inflation gains its complexity through the entanglement of these aspects. By dynamising the model of the carousel, the text conveys temporal implications and gains a specific geometrical dimension.
1. In Bezug auf Musils Frühwerk sind Fragen nach der Rolle der Geometrie in der Forschung etabliert – man denke beispielsweise an die Deutungen der parallelen Schienenstränge zu Beginn der Verwirrungen des Zöglings Törleß oder der geometrischen Metaphorik der Kugel und des Kristalls in der Vollendung der Liebe. Die Texte wurden mit Bezug auf geometrische Diskurse der Zeit, insbesondere die Ablösung des euklidischen Parallelenaxioms durch die sphärische Geometrie Bernhard Riemanns gelesen. Aber es wurden auch bereits »quasi-relativistische Züge« bemerkt, wenn der Ministerialrat in der Vollendung der Liebe in Claudines Wahrnehmung den Raum um sich herum zu krümmen scheint.1 Ähnliche Interpretationsansätze stehen für die Kurzprosa des Nachlaß zu Lebzeiten, wenn ich richtig sehe, noch aus. Dafür bieten sich verschiedene Ansatzpunkte an. In einer ersten Annäherung ließe sich nach der Bedeutung des in geometrischer Terminologie formulierten, für Musil poetologisch richtungsweisenden »Prinzips der kürzesten Linie« (Tb I, S. 931) für seine Kurzprosa fragen – ein Gebiet, das sich hier nur flüchtig ausloten lässt. Musil beschäftigt sich mit dem ›Prinzip‹ in verschiedenen Zusammenhängen und über Jahrzehnte hinweg: zunächst im Umkreis seiner Notate zum Törleß, wo er dessen Stil als »Kürzeste Linie! Keine Brü1
Vgl. pars pro toto Jürgen Meyer: Musils mathematische Metaphorik. Geometrische Konzepte in Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und in Die Vollendung der Liebe, in: HofmannsthalJahrbuch 5 (1997), S. 317–345, hier insbes. S. 320 f., Zit. S. 340; weitere Hinweise und einschlägige Literaturangaben bei Dorothee Kimmich: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 101–112, u. Birgit Nübel: Vereinigungen (1911), in: ebd., S. 120–156.
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ckungen, Ausstopfungen udgl.« fasst.2 Diese Darstellungsweise bezieht er in einem Briefentwurf an Stefanie Tyrka vom 22. März 1905 insbesondere auf die Figurengestaltung: »Die Zeichnung der Charaktere ist stilisiert, alles auf die kürzeste Linie zusammengefaßt, keine vollen Menschen dargestellt sondern jeweils nur deren Schwerlinie.« (Br I, S. 13)3 In Aufzeichnungen zu zeitgenössischen Theateraufführungen von Ibsen und Wedekind erhebt Musil wenig später als Schlussfolgerung seiner Beobachtungen »zwei Forderungen«: »1. Kürzeste Linie. Tempo! Keine Schwätzereien! 2. Die schwerste Linie. Kein Nasenbohren. Sachliches oder Schönheit. (1 = 2).«4 Anders als im Brief an Tyrka ist hier die erste Forderung nach der ›kürzesten Linie‹ zunächst mit einer hohen Erzählgeschwindigkeit verbunden, während das zweite Postulat die ›schwerste Linie‹ davon abhebt und mit einer Konzentration auf das Wesentliche in Zusammenhang setzt. Dass dieser Versuch einer Systematisierung der Überlegungen letztlich nicht greift, zeigt die, ihrerseits in allerkürzester Form notierte, abschließende Formel »1 = 2«, welche die eben eingeführte Differenz wieder aufhebt. Wiederaufgegriffen wird das Prinzip Mitte der 1920er Jahre in einem Exzerpt von Kandinskys Buch Über das Geistige in der Kunst. Musil zitiert dort Kandinskys Überlegungen hinsichtlich der »innere[n] Notwendigkeit« eines Hervorgebrachten als ausreichende Grundlage für dessen Schönheit und sieht darin eine Übereinstimmung mit seinem eigenen Schaffen: »Es ist ungefähr das, was ich die kürzeste Linie genannt habe.«5 Und noch in den 1930er Jahren erscheint die Maxime im Rahmen dichtungstheoretischer Skizzen. So versucht Musil in der sogenannten »Ästhet. Hausapotheke/ Kochnische/« über die ›kürzeste Linie‹ retrospektiv eine Unterscheidung zwischen »›Interessant‹ und ›Klassisch‹« für sein Schreiben zu veranschlagen: Alles, was interessant ist, ist daseins- u darstellungsberechtigt, u: Stelle nur dar, was interess. ist. (Vorstufe des Prinzips der kürzesten Linie). Klassisch bedeutete dann, u. entwickelte sich später zu einem Quasi=Prinzip: Abgeschlossen, ohne Überflüssiges, dem Leben das Überlebensgroße, ev. auch bloß die konsequente Einseitigkeit entgegensetzend. (Tb I, S. 931)
Dabei verläuft die Trennlinie auch hier nicht scharf: Das ›Klassische‹ erscheint durch die ihm eigenen Aspekte (Verzicht auf Überflüssiges, innere Konsequenz) nicht klar vom ›Interessanten‹ und dem ›Prinzip der kürzesten Linie‹ geschieden. Aber auch unter seinen aphoristischen Schreibversuchen findet sich der Eintrag: »Stilprinzip der kürzesten Linie: Sich gerade ausdrücken« (Tb I, S. 902), und noch während der Korrektur der Druck2 3 4 5
KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/390. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/438 u. IV/3/116. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/156 f. KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/191.
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fahnenkapitel des Mann ohne Eigenschaften zu Beginn der 1940er Jahre ist die ›kürzeste Linie‹ das stilistische Ziel: »Als nächstes zu tun. 88·5.. ist mit Berücksichtigung des Vorstehenden fortzuführen u. eine kürzeste Linie anzustreben.«6 Anhand dieses knappen Überblicks über die breitgefächerten Zusammenhänge wird zweierlei deutlich: Zum einen geht es in all diesen Fällen, so verschieden oder ungeklärt sie sich im Detail auch ausnehmen, um ein textuelles Verfahren der Reduktion auf das zwingend Notwendige, um intellektuelle Dichte und innere Konsequenz. Ein Verfahren, das in manchen der Musil’schen Kurzprosatexte geradezu in Reinform zur Darstellung kommt: Sie lassen in ihrer Kürze und Dichte keinen Raum für kausal oder final funktionierende »Brückungen, Ausstopfungen udgl.« und verknüpfen die Gegenstände gemäß einer anderen, ›inneren‹, etwa auf Ähnlichkeit basierenden Logik. Allerdings fällt es schwer, die zuweilen überbordenden, mehrgliedrigen Vergleichsketten, die zahlreiche Miniaturen kennzeichnen, mit dem Bild einer geraden Linie in Einklang zu bringen. Zum anderen zeigt sich, dass Musil selbst die ›kürzeste Linie‹ nie auf seine Kurzprosa bezieht – ganz anders als Alfred Polgar in seiner gleichlautenden, auf die kleine Form gemünzten Forderung der »kürzeste[n] Linie von Punkt zu Punkt«.7 Über die ›kürzeste Linie‹ allein ließe sich die Kurzprosa so nur oberflächlich und unzureichend als geometrische Form ausweisen.
2. Mit Blick auf die Miniaturen selbst trifft man auf geometrische Formen in nicht zu übersehender Häufung. So wird in Die Maus eingangs behauptet, es handle sich um »gar keine Geschichte«, sondern um eine »einzige kleine Spitze« (GW II, S. 488). Der Erweckte sieht sich umgeben von »Fünfecke[n], Siebenecke[n] und steile[n] Prismen« (GW II, S. 484), die ›anders gesehenen Schafe‹ bilden zusammen einen »Strahlenkreis« (GW II, S. 485), die Beinkleider der Badegäste in der Hasenkatastrophe sind »wie mit Lineal und weißer Kreide entworfen« (GW II, S. 486) und der Beobachter aus Triëdere bemerkt die »je weiter seitlich, umso trapezförmiger, zusammengezogenen Fenster« (GW II, S. 519) – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ähnlich verhält es sich auch im kurzen, in der Erstausgabe des Nachlaß zu Lebzeiten von 1935 (im Impressum vordatiert auf 1936) knapp zweiseitigen Text Inflation, der zuerst 1922 unter dem Titel Die fliegenden Menschen 6 7
KA/Transkriptionen/Mappe V/1/63. Die Angabe ›88·5..‹ bezieht sich auf eine Stellenangabe des zu korrigierenden Manuskriptes. Alfred Polgar: Die kleine Form (quasi ein Vorwort), in: ders.: Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarb. mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1984, S. 369–373, hier S. 373.
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im Berliner Börsen-Courier erschienen ist.8 Er verbindet in kondensierter Form anthropologische mit historischen und ökonomischen sowie optische mit geometrischen Aspekten, von denen hier einige in ihrem Zusammenhang erhellt werden sollen. Die wenigen (meist älteren) Beiträge der Forschung verhandeln den Text hauptsächlich simplifizierend als Gegenüberstellung von (guter) alter und (schreckenerregender) neuer Zeit, dabei Musils aktives Interesse für Errungenschaften der Moderne komplett außer Acht lassend.9 Thomas Hakes Beobachtungen hinsichtlich der Überblendungen verschiedener Zeitebenen sowie der Stadt- und Dorfwelten sind aufschlussreich, zu diskutieren bleibt aber seine Zuspitzung hin auf eine anthropologische Konstante, die er in den jugendlichen Annäherungsritualen festzumachen meint – darauf wird noch zurückzukommen sein.10 Das Setting lässt sich fürs Erste in einem Koordinatensystem, das sich durch die beiden Paare neu/alt und Stadt/Dorf konfiguriert, fassen: In einer Rückblende wird zunächst eine ältere Karussellart eingeführt, bei der die Besucher »auf einem holzsteifen Pferdchen pedantisch wiederkehrend im Kreise« ritten. Scheinbar kontrastiv dazu folgt dann die Schilderung eines einzelnen Karussells modernen Typs, welches gegenüber dem älteren Modell seine Kreisform verdoppelt hat, indem es eine innere und eine äußere Fahrbahn aufweist. Außerdem gewährt es mehr Bewegungsfreiheit: Es handelt sich nicht um ein Figuren-, sondern um ein Kettenkarussell, das zwar auch kreist, sich »aber außerdem, wenn man will, aufwärts oder hinab, auswärts oder einwärts« bewegt, mit einem »zeitgemäß[en]« Motor, einem Orchestrion und »kalkweiße[n] Scheinwerfer[n]« ausgestattet ist. Die Gegensätzlichkeit von alt und neu wird aber im weiteren Verlauf nicht aufrechterhalten, vielmehr überlagern sich im modernen Karussell mehrere Zeiten. Dies wird spätestens in der Verlangsamungsbewegung manifest, die »wie ein altes Manegepferd« vom Galopp über Trab in Schritt fällt und somit auf eine noch ältere als die eingangs aufgerufene Form des Spiels rekurriert (GW II, S. 481).11 Eindeutig ist dagegen die Lokalisierung: Das Karussell steht auf einem Dorfplatz, nahe dem »Ehrenstein für die gefallenen Krieger; neben der alten 8 9
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Robert Musil: Die fliegenden Menschen, in: Berliner Börsen-Courier [Morgenausgabe], 24. 12. 1922, S. 11; GW II, S. 481. Abgesehen von der Titeländerung differiert die Buchversion vom Zeitungstext nur geringfügig auf der Ebene einzelner Satzzeichen. So Ingeborg Scholz: Studien zu Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bilder, Betrachtungen, Geschichten. Hollfeld 1978, S. 37; wesentlich in der gleichen Stoßrichtung Gudrun BrokophMauch: Robert Musils Nachlass zu Lebzeiten. New York u. a. 1985 (= New Yorker Studien zur neueren deutschen Literaturgeschichte, Bd. 4), S. 109–111. Thomas Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998, S. 312 f. u. 321–325. Vgl. weiter Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006, S. 78–82; Gerd-Theo Tewilt: Bewegung und Geschichte in Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: »die in dem alten Haus der Sprache wohnen«. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag. Hg. v. Eckehard Czucka. Münster 1991, S. 353–363. Ähnlich auch bei Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« (Anm. 10), S. 312 f.
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Linde, wo sonst die Gänse sind«. Dieser in mehrfacher Hinsicht signifikante Ort wird am Ende des Textes durch die Folie der Stadt kontrastiert: »[E]s kommen nicht wie in der Stadt ein paar Tage lang zu dem Ringelspiel wechselnde Menschen; denn es fliegen hier immer die gleichen«. Ein einzelnes Karussell erscheint aus dem, zumindest literarisch und filmisch eindeutig urban verorteten, Kontext von Lunapark oder Jahrmarkt herausgelöst und in eine neue, ländliche Umgebung versetzt. Die Kundschaft bildet nicht eine großstädtische Masse der Arbeiter oder Angestellten, sondern einige Mädchen und »Fischerjungen«. Sie suchen keine flüchtige Zerstreuung, sondern fahren jeweils volle »zwei bis drei Stunden« am Stück (GW II, S. 481). Vor diesem Hintergrund ließe sich das im Text verfolgte Verfahren als eines der Isolation und neuen Verknüpfung beschreiben: In der Unterbrechung der gewohnten syntagmatischen Verbindungen wird Platz geschaffen für eine alternative Sichtweise und eine Lenkung der Aufmerksamkeit auf die paradigmatischen Zusammenhänge allererst ermöglicht. So würde hier der verdeckte Anschluss des Kettenkarussells als einer geradezu hypermodernen Ikone an ein älteres und an ein uraltes Modell wieder sichtbar. Im Unterschied zu anderen Musil’schen Miniaturen, die deutlichere Perzeptionsfiguren in den Text installieren – man denke etwa an den Beobachter in Triëdere oder an den Forscher Quantus Negatus in der Geschichte aus drei Jahrhunderten –, wird hier größtenteils aus der Perspektive eines nicht näher bestimmten, inkludierenden ›man‹ erzählt, das als Figur höchstens implizit greifbar ist. Wird im Fall der Perzeptionsfigur die Perspektivität allen Beobachtens und Erkennens verhandelt, stehen in der hier vorfindlichen Anordnung grundsätzlicher die Bedingungen der Möglichkeit einer Trennung von Beobachter und Beobachtetem zur Debatte. Im ›man‹-Modus ist der Beobachter in das zu Beobachtende involviert und eine Außensicht folglich nicht denkbar. Nur momenthaft, bei höchster Drehgeschwindigkeit, scheint ein Perspektivenwechsel aufzublitzen. Mit deutlicher Ersetzung des davor und danach verwendeten ›man‹ heißt es: So schwingen sie alle durch die Kegel der Helle ins Dunkle und werden plötzlich wieder in die Helligkeit gestürzt; anders gepaart, mit verkürzten Leibern und schwarzen Mündern, rasend bestrahlte Kleiderbündel, fliegen sie auf dem Rücken oder auf dem Bauch oder schräg gegen Himmel und Hölle. (GW II, S. 481; Herv. T. K.)
Nicht zu übersehen ist dabei, dass die distanznehmende Änderung der Erzählperspektive auch den beobachteten Gegenstand affiziert: Die Vergnügungsmaschine wird in einen optischen Apparat umfunktioniert. In mancherlei Hinsicht erinnert die beschriebene Konstruktion an das Rotationstachistoskop, das Musil von der experimentellen Psychologie in Carl Stumpfs Labor her bestens vertraut war. Dort wurden mittels des Tachistoskops, das durch punktuelle Öffnungen in einer drehenden Scheibe eine zeitlich wie räumlich klar umrissene Exposition eines Gegenstandes erlaubt, Experimente zur
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Wahrnehmung von Buchstaben durchgeführt.12 Und auch hier werden die sich drehenden Menschen momenthaft in genau präparierten Feldern wahrgenommen, wobei im Fall des Karussells die Lichtquelle den sichtbaren Bereich selbst erst erzeugt und nicht wie beim Tachistoskop nach der Exposition zur Tilgung des Nachbildes eingesetzt wird. Der oben beschriebene Isolierungs- und Verknüpfungsvorgang wird so in der gleichsam apparatgestützten Zoom-in-Bewegung wiederholt, fokussiert wird nun nicht mehr die doppelte konzentrische Kreisform des einzelnen Karussells, sondern ein kegelförmiger Ausschnitt daraus. Was dabei passieren kann, haben die Probanden während der Berliner Exerzitien erfahren. Christoph Hoffmann berichtet in seiner Auswertung der Laborprotokolle von verstörten »Versuchspersonen, denen reziprok zur Schärfe ihrer Wahrnehmung das Verständnis für das Gesehene schwindet«.13 Dieser Verfremdungseffekt, der gerade aufgrund der zunehmenden Fokussierung des Blickes die Gegenstände als fassbare gleichsam auflöst, ist in Musils Kurzprosa allenthalben zu beobachten: Im detailgerichteten Blick, an den sich im Nachzeichnen der Choreographie kleinster Fliegenbeinchen plötzlich ganze imaginäre Bilderketten aus entfernten Bereichen anlagern (vgl. Das Fliegenpapier; GW II, S. 476 f.), genauso wie im Fall der karussellfahrenden Menschen, die als bewegliche, aus der Horizontale in die Schräglage gekippte Linien momenthaft in Geometrie übersetzt werden und auch als grell beschienene, perspektivisch verkürzte Bündel mit schwarzen Mündern nicht mehr einfach der ›Realität‹ entsprechen, sondern ins Gespenstische tendieren. Wie hier ist diese Verfremdung auch sonst meist mit Unheimlichkeit behaftet, in Triëdere wird sie etwa als »unverständlich und schrecklich« empfunden (GW II, S. 520). Nichtsdestotrotz geht es in Inflation nicht um eine reine Demonstration der Unverständlichkeit und Schrecken der abstrakten Moderne, wie dies ältere Beiträge insinuieren.14 Wenn man die in Inflation genannten geometrischen Formen sammelt, wird man ihrer Dichte gewahr: Auf kleinem Raum treffen eine sich fünffach überlagernde Kreisform, Ringe, Kegel und schräge Linien aufeinander. Zusammen bilden sie keinen harmonischen oder symmetrischen Körper; vor allem das Karussell neueren Datums erweist sich als ein seltsames, stilisiertes Gebilde, das planare Formen und dreidimensionale Körper vereint: Zwei konzentrische Kreisformen werden in einem schiefen Winkel von Kegeln gekreuzt und in der Nähe dieser Schnittstelle, im Innern der Kegel, finden sich schräge Linien, die sich wiederum an einem ganz anderen System auszurichten scheinen. Doch wie ist diese Überladung mit geometrischen Formen 12 13 14
Zur Funktionsweise des Tachistoskops vgl. Christoph Hoffmann: »Der Dichter am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997 (= Musil-Studien, Bd. 26), S. 67–72. Ebd., S. 70. Vgl. v. a. Scholz: Studien zu Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten(Anm. 9), S. 37.
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zu verstehen? Hat die Darstellung der von den Gegenständen abgelösten Linien und Kreise noch weitere Bedeutungen, oder folgt sie einem reinen Selbstzweck? Siegfried Kracauer registriert an Walther Ruttmanns Film Berlin – Die Sinfonie der Großstadt die »geschickte[n] Überblendungen« und »quere[n] Perspektiven«,15 die er aber in der Folge als reine ästhetische Spielerei abqualifiziert: »Hei [. . .] wie die Bildstreifen durcheinander rasen, damit nur jeder Provinzler [. . .] sich an der Raserei berausche, an der Konfusion, den Gegensätzen, den Maschinenteilen«;16 auch in Das Ornament der Masse attestiert er den »Muster[n] der Stadions und Kabarette« eine Zusammensetzung aus Teilen, »die nur Bausteine sind und nichts außerdem«.17 Der Befund könnte prima vista auch auf Musils Text zutreffen, erweist sich aber bei genauerer Auseinandersetzung mit seinen Liniengefügen als nicht haltbar. Zunächst ist festzustellen, dass der Zustand äußerster Abstraktion in Musils literarischer Bearbeitung mit Ansätzen zu neuen Erkenntnismöglichkeiten verbunden ist. Er führt nicht nur, wie in den Überlieferungen aus Stumpfs Labor, zu einer sich »vertiefenden Verständnislosigkeit« (GW II, S. 520), sondern erweist sich daneben geradezu als epistemologische Verheißung. Denn eben in diesem Zustand erscheinen die Dinge »anders gepaart« (GW II, S. 481), und es schließen sich Bereiche an, deren Reichweite die Ausgangsbeobachtung um ein Vielfaches ausdehnt. Besonders evident wird dies im transzendenten Moment, das ins Spiel kommt mit den »schräg gegen Himmel und Hölle« (ebd.) zeigenden Menschen, die in ihrer dominanten Diagonale zwischen oben und unten an endzeitliche Szenarien erinnern, wie man sie in Darstellungen der Seelenwägung antrifft. Noch deutlicher wird dieser Bezug im Tagebuch-Entwurf, wo von »Stellungen der Himmelfahrt oder des Höllensturzes« die Rede war (Tb I, S. 600).18 Als Kulminationspunkt der mehrfachen Isolierungsvorgänge und der dadurch in der Erzählbewegung aktiv erzeugten Geometrisierung des Gegenstandes resultiert ein Moment der Öffnung und des neuen räumlichen Bezugs.19 Die abstrakten Gebilde bleiben 15 16 17 18
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Siegfried Kracauer: Wir schaffens, in: ders.: Werke. Bd. 6.1: Kleine Schriften zum Film. 1921– 1927. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Unter Mitarb. v. Mirjam Wenzel u. Sabine Biebl. Frankfurt a. M. 2004, S. 411–413, hier S. 411. Ebd., S. 412. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse, in: ders.: Werke. Bd. 5.2: Essays, Feuilletons, Rezensionen. 1924–1927. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Unter Mitarb. v. Sabine Biebl u. a. Berlin 2011, S. 612–624, hier S. 613. Der Text erscheint dort (Heft 21) unter dem Titel Ringelspiel auf Usedom. Informationen und Bildbeispiele zu Darstellungen des Weltgerichtes und der Seelenwägung bei Wolfgang Kemp: [Art.] Seelenreise, Seelengericht, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 4: Allgemeine Ikonographie S–Z. Nachträge. Hg. v. Engelbert Kirschbaum u. a. Freiburg i. Br. 1972, Sp. 142– 145. Dieses Zusammenkommen von Abstraktion und Spiritualität erinnert in mancherlei Hinsicht auch an Worringers Abstraktionskonzepte. Claudia Öhlschläger: Abstraktionsdrang. Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne. Paderborn 2005, S. 40, beschreibt die abstrakte Form bei Worringer als ein entleertes Gefäß, »das mit transzendenten Sehnsüchten gefüllt werden
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nicht verriegelt und unzugänglich, sondern werden durchlässig und zeugen von einem methodischen Bewusstsein dessen, was Kracauer fünf Jahre später als einzig möglichen Weg der Vernunft beschreiben wird: »Der Prozeß führt durch das Ornament der Masse mitten hindurch, nicht von ihm aus zurück.«20
3. Geometrie steht in Inflation demnach zum einen im Dienst einer optischen Entautomatisierung, die vermeintlich selbstverständliche Einheiten auflöst, neu zusammensetzt und richtiger zu verstehen sucht – sie bildet damit einen Nukleus für die später in Triëdere explizit formulierte »Theorie« der »Isolierung« (GW II, S. 520) und Herstellung der »richtigen optischen« Beziehungen (GW II, S. 521).21 Klar wird dabei jedoch vor allem die verfolgte Methode, dagegen gestaltet sich der auf diese Weise erzielte Erkenntnisgewinn merkwürdig ambivalent. Besonders die in Form von »Himmel und Hölle« aufblitzende Setzung eines absoluten Oben und Unten wirkt anachronistisch, was beispielsweise vor der Folie Nietzsches deutlich wird. An einer Stelle der (von Musil rezipierten) Fröhlichen Wissenschaft heißt es: »Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?«22 Gleichen die beschriebenen Bewegungen zunächst jenen, welche die Menschen auf Musils Kettenkarussell ausführen, so unterscheiden sie sich doch wesentlich durch ihre Orientierungslosigkeit. Oder auch Kafkas »schief in der Luft«23 hängender Indianer, dem sich die Welt
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kann«. Anders als Worringer, der in den gotischen Linien bereits geometrisch konstruierte Gegenstände vorfindet, erzeugen Musils Texte jedoch die Abstraktheit selbst aktiv in ihrem Erzählverfahren. Siegfried Kracauer: Das Ornament der Masse (Anm. 17), S. 623. Neben diesen punktuellen Gemeinsamkeiten können auch zahlreiche Unterschiede benannt werden: So handelt es sich bei Musil, wie oben dargelegt, gerade um keine richtige ›Masse‹, und auch Kracauers teleologische, an der Vernunft orientierte Geschichtsauffassung ist hier konterkariert durch die Betonung der Kontinuität durch verschiedene Zeiten. Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (Anm. 10), S. 81, schließt diese spezifische Optik an »Modelle[ ] expressionistischer und kubistischer Malerei« an. Zu denken wäre insbesondere auch an Kandinskys konstruktivistische Formensprache der 1920er Jahre – eine Spur, die es an anderer Stelle zu verfolgen gilt. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 3: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft. Berlin, New York 1999, S. 481 (§125). Vgl. dazu Ulrich Beuttler: Gott und Raum – Theologie der Weltgegenwart Gottes. Göttingen 2010 (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, Bd. 127), S. 17. Franz Kafka: Wunsch, Indianer zu werden, in: ders.: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt a. M. 2002 (= F. K.: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe), S. 32–33, hier S. 32.
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auflöst: Auch er ist an keinem metaphysischen Raum ausgerichtet. Lassen sich die geometrisiert »gegen Himmel und Hölle« deutenden Menschen – wie ernsthaft, ironisch gebrochen oder kritisch auch immer – also gar zurückbeziehen auf abstrahierte Gottesdarstellungen, wie sie etwa aus dem 17. Jahrhundert bekannt sind? Oder ist doch, näherliegend, an einen von Musil im Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste so genannten »metaphysischen Krach« zu denken – das »menschliche Bedürfnis, von Zeit zu Zeit das Dasein zu zerreißen und in die Luft zu schleudern, sehend, wo es bleibe« (GW II, S. 1090)? Der Text gibt darauf keine Antwort, er skizziert nur die Methode und erste Ansätze. Zum andern rücken im Zusammenhang mit der Geometrie die fliegenden Menschen, und damit auch der ursprüngliche Titel von 1922, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dieser erste Titel legt trotz der Entstehungszeit des Textes inmitten der Hyperinflation einen Bezug zu wirtschaftlichen Prozessen nicht nahe, zumal auch im Text selbst ökonomisches Vokabular weitgehend fehlt. Gezeigt werden vor allem Menschen, die sich in nicht selbstgeformten Bahnen bewegen. Zwar wurde die zu rigide und nicht mehr passende Kreisform des älteren Karussells durch eine flexiblere ersetzt, in der man sich »aufwärts oder hinab, auswärts oder einwärts« bewegt – trotzdem steht außer Frage, dass auch hier die grobe Bewegungsrichtung von der Maschine diktiert wird. Explizit wird dies, wenn am Höhepunkt zusätzlich zum Wechsel in die Außensicht die zuvor betonte Eigenaktivität der Fliegenden durch eine passive Verbform konterkariert wird: »sie [. . .] werden plötzlich wieder in die Helligkeit gestürzt« (GW II, S. 481; Herv. T. K.). Das heißt: Gerade den Moment, in dem sie am stärksten in geometrische Muster gepresst werden, können sie als Beteiligte nicht wahrnehmen. Eine Denkfigur, die sich zugespitzt bei Kracauer findet, wenn er den für die Beteiligten bestehenden Entzug einer Gesamtansicht mit Blick auf die Tillergirls und Fabrikarbeiter ausführt.24 Gerade hier lässt sich ein Potential der spezifisch literarischen Bearbeitung festmachen, die einen Ausweg aus Kracauers visueller Ohnmacht gewährt: Sie bietet die Möglichkeit, probehalber oder momentweise eine distanzierte Außenperspektive einzunehmen, und wieder in das Geschehen einzutauchen – also einen Modus des zugleich Beteiligt- und Nichtbeteiligtseins. Eine Leerstelle im Text bleibt der Ursprung dieser die Eigenbewegungen überformenden Struktur. Wer oder was steht hinter der Maschine? Von abstrakten Agenten wie dem industriellen Kapitalismus, der dieses Vergnügen konzipiert,25 bis hin zu konkreten Personen wie dem Schausteller, der am Ende der Miniatur mit dem Zinnteller umhergeht, wäre Verschiedenes denkbar, eine Festlegung aber unterbleibt. 24 25
Vgl. Kracauer: Das Ornament der Masse (Anm. 17), S. 614. Vgl. zu dieser Deutung in Bezug auf Kracauers Geometrie Esther Leslie: Kracauers Weimar Geometry and Geomancy, in: New Formations 61 (2007), S. 34–48.
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Doch scheint mit Blick auf die Szenographie zumindest eine genauere Kontextualisierung dieser Formungsmaschine möglich. Sie wurde neben dem »Ehrenstein für die gefallenen Krieger« (GW II, S. 481) platziert, einem Ort also, der eine Verbindung zum 1922 erst vier Jahre zurückliegenden Krieg herstellt. Anders als Gerd-Theo Tewilt würde ich das lärmende Karussell aber nicht einfach als eine Allegorie des Krieges verstehen,26 sondern vielmehr in Bezug auf Musils Bewältigungsversuche der Kriegserfahrungen im Umkreis des »Theorem[s] der menschlichen Gestaltlosigkeit«.27 Die Frage, wie die menschlichen »Entartungen, welche der Krieg hat emporschießen lassen«, zu erklären seien, führte ihn schon in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1919 zum öfter zitierten Schluss, »daß der Mensch moralisch eine Ungestalt ist, eine kolloidale Substanz, die sich Formen anschmiegt, nicht sie bildet« (Tb I, S. 540 f.). Weitergeführt wird dieser Gedanke unter anderem in den Notizen vom Frühjahr 1923 zu Der deutsche Mensch als Symptom: »Der Mensch existiert nur in Formen, die ihm von außen geliefert werden. ›Er schleift sich an der Welt ab‹, ist ein viel zu mildes Bild; er preßt sich in ihre Hohlform müßte es heißen.« (GW II, S. 1370) Auch die Frage nach der Wahrnehmbarkeit bzw. des Beteiligt- oder Nichtbeteiligtseins passt in dieses Umfeld. So beginnt Musils Europa-Essay mit der Feststellung: »Zweifellos machen wir seit zehn Jahren Weltgeschichte im grellsten Stil und können es doch eigentlich nicht wahrnehmen« (GW II, S. 1075), und begründet dies in der Folge mit einer Problematisierung sowohl der Nah-Perspektive als auch derjenigen historischer Distanz (vgl. GW II, S. 1076). Die Geometrie als formgebende Struktur stünde also in Die fliegenden Menschen neben der epistemologischen Funktion auch in Zusammenhang mit zentralen anthropologischen Fragestellungen, die bei Musil in verschiedenen Bearbeitungen immer wieder darum kreisen, ob der Mensch essentialistisch als sich selbst gleichbleibendes »Substrat« (GW II, S. 1368) oder aber antiessentialistisch als ein reines »Anpassungswesen«28 zu verstehen sei. Anders als etwa in der Geschichte aus drei Jahrhunderten und als das von Hake behauptete »Humanum« suggeriert, scheint mir hier eindeutig der Aspekt der Formbarkeit des Menschen im Vordergrund zu stehen.29 So gesehen käme 26 27
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Tewilt: Bewegung und Geschichte (Anm. 10). S. 353. KA/Transkriptionen/Mappe VII/11/36. Für genauere Informationen zum ›Theorem‹ vgl. z. B. Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 64–80; Klaus Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹, in: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. v. Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper u. Karl Wagner. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 237–254; zuletzt Norbert Christian Wolf: Gestaltlosigkeit, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 1), S. 712–719. Amann: Robert Musil und das ›Theorem der menschlichen Gestaltlosigkeit‹ (Anm. 27), S. 239. Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen« (Anm. 10), S. 313. Hake schließt damit, allerdings ohne auf sie zu verweisen, an eine Jahrzehnte alte Diskussion in der Musil-
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neben dem Krieger-Denkmal ein zweites, temporär installiertes Denkmal zu stehen, das mit seinen geometrischen Strukturen ein Erklärungsmodell anbietet. Dieser Zusammenhang wird 1935 durch die Titelsetzung Inflation abgeschwächt. Überhaupt scheinen die Titelvarianten in ihrem Zeitbezug chiastisch angeordnet: Der Zeitungstext aus der Blüte der Inflationszeit kann über seinen Titel nicht in erster Linie mit deren Dynamiken kurzgeschlossen werden, während jener des Buchtexts aus den 1930er Jahren wiederum die Verbindung mit den gerade dann höchst aktuellen Massenformungsprozessen erschwert. Ein Verfahren, das eine Anbindung der Kurzprosa einzig an die Tagesaktualität verunmöglicht und so dazu beiträgt, der Miniatur eine »Transaktualität« zu verleihen.30 Verfolgt man die Titeländerungen vom konkret-deskriptiv anmutenden Ringelspiel auf Usedom im Tagebuch über Die fliegenden Menschen in den Zeitungstexten hin zu Inflation im Buchtext des Nachlaß zu Lebzeiten, dann zeigt sich ein fortschreitendes Abstraktwerden des Titels und damit einhergehend eine stärkere Deutungsbedürftigkeit in seinem Verhältnis zum Text. Deutungsbedürftig ist dabei insbesondere das ökonomische Moment der Entwertung, das der letzte Titel suggeriert. Am plausibelsten scheint ein Bezug zum Ende des Textes, wo das Karussell durch ein »Nachlassen der Lust« (GW II, S. 481) an Wert verliert und schließlich unrentabel wird.31 Dagegen reiht sich der Text über das Moment der beschleunigten Drehung, das im Titel ebenfalls mitschwingt, ein in die gängigen Darstellungsmuster der Inflation, wie sie beispielsweise in Hans Ostwalds Sittengeschichte der Inflation von 1931 greifbar werden. Dort ist zunächst die Rede von Bildern eines »Vergnügungstaumel[s]«, eines »grellbunte[n] Jahrmarkt[s] des Lebens«, eines »höllischen Karnevals«, das Feld wird dann aber auch ausgedehnt auf Dada, Jazz und Kino.32 Wie man an den Texten von Ostwald und
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Forschung an, die sich auf die Auslegung entsprechender Stellen der oben zitierten Essays Der deutsche Mensch als Symptom und Das hilflose Europa sowie des Mann ohne Eigenschaften stützt und mindestens seit Böhmes Kritik der »ungeschichtlichen Wesensbestimmungen des Menschen« geführt wird (Hartmut Böhme: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Kronberg i. Ts. 1974, S. 103). Vgl. dazu Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (Anm. 27), der eine Gegenposition dazu bezieht, bes. S. 64 f. u. 71 f. Vgl. zu diesem Begriff den Band: Transaktualität. Ästhetische Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit. Hg. v. Stefanie Heine u. Sandro Zanetti. München 2017. So Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart (Anm. 10), S. 81. Nicht überzeugend sind dagegen Ansätze, die einen Wertezerfall festzumachen meinen in der Aussage: »Heute trinken die Fischerjungen Sekt mit Kognak« (GW II, S. 481). So bei Tewilt: Bewegung und Geschichte (Anm. 10), S. 353, und Brokoph-Mauch: Robert Musils Nachlass zu Lebzeiten (Anm. 9), S. 111. Hans Ostwald: Sittengeschichte der Inflation. Ein Kulturdokument aus den Jahren des Marktsturzes. Berlin 1931, S. 7.
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Musil sieht, konnte der Inflationsbegriff in den 1930er Jahren von konkreten ökonomischen Prozessen abgelöst auftreten und gesamtgesellschaftliche Phänomene der Beschleunigung, des Wirbels oder der Maßlosigkeit bezeichnen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Titel Inflation im übertragenen Sinn auch auf das Funktionieren des Textes als eine ehemals in Zeitungen zirkulierende ›kleine Form‹ beziehen, die in immer schnelleren Abständen ihre Gültigkeit verliert: »Wer Feuilletons schreibt, bleibt in der Drehmühle gefangen, treibt die Rotationsmaschinerie der Zeitungen mit seiner eigenen menschlichen Energie an«, so versucht Peter Utz Aussagen von Egon Erwin Kisch, Robert Walser und Joseph Roth zu kombinieren33 – diese Medienreflexion wäre hier aber eine rückwärtsgerichtete und erfolgte erst zu einem Zeitpunkt, als die Umlaufbewegungen des Zeitungstextes bereits sistiert waren und die Buchform eine größere Zeitbeständigkeit in Aussicht stellte.
4. Vorläufig lässt sich also bilanzieren: Die geometrischen Darstellungen dienen im untersuchten Text keinem reinen Selbstzweck im Sinne der nur ästhetischen Faszination, naturwissenschaftliche Neuerungen auf textuelle Verfahren zu übertragen. Auch geht es nicht um die Ausführung eines Widerspruchs zur traditionellen euklidischen Geometrie durch Riemanns sphärisch konzipierten Raum – obwohl die konzentrischen Kreisformen, die denkbar sind als zu sich selbst zurückkehrende Linien auf verschiedenen Kugeloberflächen, daran erinnern. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass mittels Geometrie auch epistemologische und anthropologische Fragestellungen angegangen werden. Das Abstraktwerden ist hier durch einen aktiven, schaffenden, erkenntnisstrebenden Zugang gezeichnet. Dies stellt ein Spezifikum dieses Textes dar, das ihn beispielsweise von der Miniatur Der Erweckte unterscheidet, wo, ähnlich wie dies Simmel in Die Großstädte und das Geistesleben beschreibt, ein Abgleich gesucht wird zwischen dem Individuum und seiner abstrakten Umgebung.34 Das unterscheidet ihn auch von Konzeptionen wie derjenigen Wilhelm Worringers, 33
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Peter Utz: »Sichgehenlassen« unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons, in: Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung. Hg. v. Kai Kauffmann u. Erhard Schütz. Berlin 2000, S. 143–162, hier S. 153. Vgl. Egon Erwin Kisch: Elliptische Tretmühle, in: ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 6: Der rasende Reporter, Hetzjagd durch die Zeit, Wagnisse in aller Welt, Kriminalistisches Reisebuch. Hg. v. Bodo Uhse u. Gisela Kisch. Berlin 1993, S. 227–231. Vgl. dazu die folgende Stelle in Der Erweckte: »[W]ohin ich mich auch wende, gleitet der Blick um Fünfecke, Siebenecke und steile Prismen: Wer bin dann ich?« (GW II, S. 484) Vgl. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Jahrbuch der Gehe-Stiftung 9 (1903), S. 185–206.
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der in der Abstraktheit eine Bewältigung der »Unklarheit und Verworrenheit« und eine Möglichkeit der Befriedung des »beunruhigten Menschen« sieht.35 Die Besonderheit dieses Textes wird noch deutlicher mit Blick auf andere Prosaminiaturen der 1920er Jahre, in denen das Karussell eine Rolle spielt. In Kracauers Karusselle ist die Rede von einem »Jubellaut [. . .], wie wenn zwei Asymptoten sich schnitten«,36 und Benjamins Karussellfahrendes Kind nimmt die Bäume »in der Tangente«37 wahr. Auch hier erscheint das Karussell als ein besonders geometrieaffiner Gegenstand – eine Dimension, die übrigens in Rilkes lyrischer Bearbeitung Das Karussell von 1906, als dem für die Moderne prägenden Modell aller Karusselltexte, gänzlich fehlt. Während Kracauers und Benjamins Texte mit Rilke immerhin noch den Schauplatz des Figurenkarussells und das Thema der Kindheit gemein haben, ist Musils Inflation insgesamt als Distanznahme von Rilkes Folie zu werten: Das Figuren- wurde durch ein Kettenkarussell ersetzt, die Protagonisten sind eindeutig junge Erwachsene. Auch die Textgenese spiegelt diesen Befund. Die einzige an Rilke erinnernde Passage des Tagebuch-Entwurfes, nämlich die vorüberziehenden »Kleiderfetzen von Rot, Weiß« (Tb I, S. 600), wurde in den späteren Versionen getilgt. Während sich aber bei Kracauer und Benjamin die Geometrie vornehmlich auf der Ebene des verwendeten Vokabulars findet,38 gibt es in Musils Inflation über die auffällige lexikalische Verwendung hinaus auch einige nicht explizit genannte, sondern in der Struktur des Textes liegende zyklische Elemente, die durch die fehlende Gliederung in Absätze umso mehr zum Tragen kommen – die auf ältere Erzähltraditionen verweisenden, rahmenden Eingangs- und Ausgangsformeln: »Es gab einstmals eine bessere Zeit« am Anfang und »bis der Mann mit dem Zinnteller [. . .] eines Morgens weitergezogen ist« am Ende, sowie die einfassende Funktion der beiden älteren Karusselltypen, in deren Mitte die moderne Maschine erscheint (GW II, S. 481). Der Erzählgestus, der einleitend und ausleitend zum Zug kommt, wirkt, wie von Benjamin in seinem Erzähler-Aufsatz ausgeführt, als etwas damals 35 36 37 38
Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. [1908] München 1959, S. 54 f. Vgl. dazu Öhlschläger: Abstraktionsdrang (Anm. 19), S. 17. Siegfried Kracauer: Das Straßenvolk in Paris [Absatz »Karusselle«], in: ders.: Werke. Bd. 5.2 (Anm. 17), S. 575–579, hier S. 579. Walter Benjamin: Vergrößerungen [Absatz »Karussellfahrendes Kind«], in: ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 8: Einbahnstraße. Hg. v. Detlev Schöttker unter Mitarb. v. Steffen Haug. Frankfurt a. M. 2009, S. 40–44, hier S. 42. Siehe auch Miranda B. Hickman: The geometry of modernism. The vorticist idiom in Lewis, Pound, H. D. [= Hilda Doolittle], and Yeats. Austin 2005, S. XV, zum Vortizismus: »The preoccupation with geometric patterns [. . .] appears chiefly not in the formal structures of the texts of these modern writers [. . .] – but rather in the vocabulary with which they imagine and figure ideal cultural conditions, bodily states, philosophical attitudes and epistemological methods«.
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»bereits Entferntes«39 – ein Umstand, den der Text selbst durch die Feststellung »[d]iese Zeit ist vorbei« (GW II, S. 481), die sich auch auf den Erzählstil beziehen lässt, unterstreicht. Vergleichbar ist in dieser erzählerischen Hinsicht der Beginn der Maus, der in seiner stotternden Suchbewegung (»Diese winzige Geschichte, die eigentlich nur eine Pointe, eine einzige kleine Spitze ist, und gar keine Geschichte, ereignete sich im Weltkrieg«; GW II, S. 488) gut zu Benjamins Diagnose der sich ausbreitenden Verlegenheit, »wenn der Wunsch nach einer Geschichte laut wird«, passt.40 Wie in der Maus die »winzige Geschichte« schließlich durch »eine einzige kleine Spitze« ersetzt wird, findet auch in Inflation eine Absetzung vom älteren Erzählmodell statt, die sich als Modifikation des überlieferten Gestus und als Arbeit an einem Formproblem erweist. Diese Absetzung manifestiert sich weniger auf der Ebene der Satzstrukturen,41 sondern als Konfrontation einer syntagmatisch verfahrenden, an einem ›roten Faden‹ und zeitlichem Fortschreiten orientierten älteren Erzählhaltung durch eine paradigmatische, die zeitlich und sachlich sprunghafte Verbindungen gestattet. Dies zeigt sich an der oben beschriebenen zweistufigen Isolationsbewegung, durch die der Text wesentlich strukturiert ist, den in diesem Vorgang hergestellten geometrischen Formen und den sich daran anlagernden disparaten Bereichen, wie sie in den verschiedenen Zeitstufen des Karussells oder im Bild der Seelenwägung auftauchen. Fast scheint es, als würden auf diese Weise die geometrischen Formen eine Erzählweise verheißen, in der die einzelnen Teile frei und zeitendurchkreuzend kombinierbar wären. Vor diesem Hintergrund könnte man sagen, das Prosastück Inflation verhandle seine Gegenstände nicht nur in geometrischem Vokabular, sondern verfahre auch seiner Struktur nach teilweise geometrisch. Geometrie würde so gesehen in der Absetzung von älteren Erzählweisen eine alternative Möglichkeit andeuten – eine Möglichkeit, die in zahlreichen Stücken des Nachlaß zu Lebzeiten, probeweise und je anders, umgesetzt wird.42 39 40
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Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II .2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 438–465, hier S. 438. Ebd., S. 439. Außerdem findet sich in Pension Nimmermehr eine analoge Eingangsformel: »Es gab einmal eine deutsche Pension in Rom« (GW II, S. 494), und auch Die Amsel thematisiert das Erzählen ein- und ausleitend ausdrücklich. Darüber hinaus klingen in zahlreichen Texten des Nachlaß zu Lebzeiten ältere Gattungstraditionen wie Fabel, Parabel oder Märchen an – ein Gestus, der im Abteilungstitel »Geschichten, die keine sind« besonders explizit wird. Demnach stellt die Beschäftigung mit älteren Erzählkonventionen, auf die im Zusammenhang mit der Poetologie des Mann ohne Eigenschaften wiederholt hingewiesen wurde, auch ein wichtiges Merkmal Musil’scher Kurzprosa dar. Zwei kurze, parataktisch gefügte Sätze (»Das Orchestrion brüllt schluchzend. Die Eisenketten kreischen«; GW II, S. 481) sowie die zweimalige Verwendung von Semikola illustrieren zwar die maximale Drehgeschwindigkeit, finden sich aber auch andernorts im Text. Vgl. dazu meine in Kürze fertiggestellte Dissertation: Isolation und Verknüpfung. Robert Musils Nachlass zu Lebzeiten.
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Hundekatastrophe Das Untypische an Robert Musils Feuilletontext Die Durstigen Abstract: Published only once (1926 in the Berliner Tageblatt) and not included in the collection Nachlaß zu Lebzeiten (1935/1936), Musil’s narrative Die Durstigen has received little attention from research. The story is about a group of young men who are horrified to see their dog kill another. A comparison with the much more famous and thematically related Hasenkatastrophe works out the peculiarities of the narrative style which seem to have alienated Musil readers: obvious narrative pleasure (in contrast to Musil’s proclaimed »disgust at narration«), a detailed yet rudimentary depiction of persons and space (South Tyrol, where Musil served in the First World War) and an exciting plot. Die Durstigen appears as a surprising mixture of novella and short story.
1. Ein Stiefkind der Musil-Forschung Robert Musil hat als Feuilletonist contre coeur1 – anders als Vollblutfeuilletonisten wie Alfred Polgar, Kurt Tucholsky oder Joseph Roth – eine überblickbare Zahl von kurzen Zeitungstexten hinterlassen. Einer Auswahl daraus, die er in Nachlaß zu Lebzeiten selber noch einmal versammelte, wurde größte Aufmerksamkeit geschenkt, wenn auch – der listige Titel scheint mit dieser Eventualität zu spielen – nicht mehr zu Lebzeiten des Autors. Das Fliegenpapier, Der Erweckte, Hasenkatastrophe, Die Maus, Triëdere – um nur einige zu nennen – wurden Gegenstand intensiver interpretatorischer Interpellationen. Musil scheint dieser Versenkung in seine Prosastücke womöglich im etwas längeren Finaltext der Sammlung, Die Amsel, der zuerst nicht in einer Zeitung, sondern in einer Literaturzeitschrift erschienen war, schon selber den Weg gewiesen zu haben. Darin wird ja nicht nur vom Erzählen, sondern auch vom Deuten des Erzählten erzählt. Die Binnengeschichten, die Azwei vorträgt, stehen den einzelnen Stücken je näher, die man vorher in Nachlaß zu Lebzeiten zu lesen bekam, als die Erzählung als Ganze. Wird das Deuten dem Erzählen gar übergeordnet? Die Tatsache, dass derjenige, dem die Deutung zufällt, und nicht der Erzähler Aeins heißt, könnte ein Hinweis darauf sein. Dies käme einer Verbeugung vor den Lesenden gleich. 1
Vgl. den Abschnitt »Musils Selbstverständnis als Feuilletonist« bei Dominik Müller: Feuilletons und kleine Prosa, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 396–414, hier S. 398 f.
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Prosastücke, die nicht in den Nachlaß zu Lebezeiten aufgenommen wurden, hatten in der Musil-Forschung einen schweren Stand. Die kurze Erzählung Die Durstigen, die am 14. August 1926 im Berliner Tageblatt veröffentlicht wurde,2 ist dafür ein Beispiel. Die nachfolgenden Überlegungen dazu3 gelten einem Stiefkind von Musils Kurzprosaproduktion.4 Die Durstigen wurde, anders als die meisten anderen für die Zeitung verfassten Prosatexte Musils, auch in keinem anderen Organ nachgedruckt.5 Ob dies durch Bedenken des Autors oder das Missfallen der Redaktionen gerade an diesem Text verhindert wurde, ist heute nicht mehr zu eruieren. Das Prosastück Die Durstigen erzählt, salopp ausgedrückt, von einer Sauftour namenloser junger Männer. Nach einer Erklärung für den Titel braucht man also nicht lange zu suchen. Man nimmt dabei allerdings mit einer Erklärung »à la baisse« (vgl. MoE, S. 412 f.) vorlieb, der eine Erklärung »à la hausse« an die Seite zu stellen die Musil-Philologie sich nicht nehmen ließ – davon wird noch die Rede sein. Zu einer solchen baute der Text selber mit dem verallgemeinerbaren Titelwort eine Brücke. Zu fünft verlassen die Akteure, die offenbar immer wieder in der evozierten Gegend am Fuße des Gebirges unterwegs sind, ein Wirtshaus in einem Bergtal, steigen abseits der Wege über einen Schuttkegel eines Bachs, die »Torrente« (GW 7, S. 642),6 ins Haupttal ab, passieren eine kleine Stadt und gelangen an einen See. An dessen Flanke erreichen sie schließlich ihr Ziel, ein zweites Wirtshaus. Hier bedient sie eine schöne Wirtstochter namens Agnese. Weitaus am meisten zu reden gibt indes die zweite Figur, die neben Agnese in der Erzählung noch einen Namen trägt. Er beginnt ebenfalls mit dem Vokal A (Aeins und Azwei also auch in dieser Geschichte). Dieser Hauptakteur wird schon im ersten Satz des Textes erwähnt: »Er hieß Ali und hatte sich uns einige Zeit vor dem Mord freiwillig angeschlossen.« (GW 7, S. 642) Allein schon durch die Pronomen »er« und »uns« gibt sich dieser Textbeginn als ein Anfang medias in res zu erkennen. Es wird unterstellt, dass die Bezugspersonen schon bekannt sind. Weil sie auch im Folgenden nicht richtig eingeführt werden, entsteht der Eindruck, der eigentliche Anfang des 2 3 4
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Der Erstdruck ist verfügbar unter: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/ 27646518/?no_cache=1 (aufgerufen am 18. 1. 2018). Für die Anregung, ja gewissermassen für den Auftrag, mich mit diesem Text auseinanderzusetzen, danke ich Walter Fanta. Harald Gschwandtner: Ekstatisches Erleben. Neomystische Konstellationen bei Robert Musil. München 2013 (= Musil-Studien, Bd. 40), S. 128, einer der wenigen, die sich mit der Erzählung auseinandersetzten, stellte 2013 fest, dass sie »in der Musil-Philologie relativ wenig Aufmerksamkeit erlangt hat«, »wohl u. a. deshalb«, weil Musil sie nicht in den Nachlaß zu Lebzeiten aufnahm. Vgl. die Liste der »Abdrucke und Wiederabdrucke der Feuilletons Robert Musils« bei Müller: Feuilletons und kleine Prosa (Anm. 1), S. 409–412. Für die Wiederverwertung von Zeitungstexten sorgten in der fraglichen Zeit spezielle Agenturen. Musil verwendet den weiblichen Artikel für das Wort. Im Italienischen ist es männlich und bedeutet »Wildbach«.
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Textes sei unterschlagen worden, man habe es hier mit dem Ausschnitt aus einem längeren Text zu tun. Der Hinweis auf einen Mord lässt eine Kriminalgeschichte erwarten, doch wird sich bald herausstellen, dass die Annahme nicht zutrifft. Überhaupt hat das Erwecken falscher Erwartungen System und lässt die Lesenden auf eine ins Unterhaltsame abgemilderte Art an der Überrumpelung teilnehmen, von der auch dieses Musil’sche Kurzprosastück erzählt. Etwa nach zwei Seiten heißt der angekündigte Mord dann bloß noch ein »kleine[s] Unglück« (GW 7, S. 644). Vorher schon wartet der Erzähler mit einer noch weit überraschenderen Präzisierung auf: »Ali war im Unterschied von uns andern ein Hund, eine venetianische Bracke« (GW 7, S. 643). Ali ist vorher ja einfach mitgezählt worden, als es geheißen hat, man sei zu fünft unterwegs. Der Zusatz »im Gegensatz zu uns anderen« erzeugt in seiner Überflüssigkeit Komik; niemand zieht den Schluss, die vier anderen – einschließlich der Erzähler – seien auch Hunde, wenn Ali ein solcher ist. Ali ist der »Mörder«, und auch sein Opfer ist ein Hund, was die Bestimmungen »kleines Unglück« und »Mord« kompatibel macht. Es handelt sich dabei um ein kleines Hündchen [. . .], das aus dem Haus gestürzt war und den knurrigen Besitzer spielte, der sich groß macht und dem Fremdling durchaus keinen Platz anbietet, obgleich er sich hinter diesem üblichen Getu sichtlich als gern freundlich zu erkennen gab; ein völlig unadliges Köterchen, mit schmutzig weißblondem langem Haar, das vielleicht spielen wollte, wenn man es vorher nur seiner Pflicht als Mann und Hausvater genug tun ließ. (GW 7, S. 644)
Wenn Ali das weiße Hündchen dann kurzerhand totbeißt, bemerkt der Erzähler scheinheilig, das geschehe »gegen alle Sitten«. Aber wie soll dem Tier denn die Harmlosigkeit seines Gegners »sichtlich« sein? Dabei handelt es sich ja um eine Konstruktion des Beobachters, der menschliche Verhaltensmuster in das »Köterchen« hineinprojiziert. Der Todesbiss zieht eine Strafaktion nach sich, die für die vier Männer quälender zu sein scheint als für Ali. Sie wird später das Gespräch im Wirtshaus über dem See bestimmen.
2. Fragen und Hypothesen Ich bin nun schon mitten ins Nacherzählen und Erörtern des Textes geraten. Es ist mir aber nicht bloß darum zu tun. Ich möchte diese Kommentierung auch mit grundsätzlicheren Erwägungen über die Machart von Die Durstigen und über die Sonderstellung der Erzählung in Musils Kurzprosa-Œuvre verbinden. Leitend ist dabei die Hypothese, dass die Erzählung nicht nur deshalb so wenig beachtet wurde, weil sie in Nachlaß zu Lebzeiten fehlt,
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sondern auch, weil sie sich nicht recht in Einklang bringen lässt mit dem Erwartungsschema, das sich in der Rezeption der berühmten Sammlung aufbaute. Thomas Hake hat im Robert-Musil-Handbuch eine Typologie für die Musil’sche Kurzprosa vorgeschlagen, die von den Überschriften der drei ersten Abteilungen von Nachlaß zu Lebzeiten abgeleitet ist:7 »Bilder«, »Unfreundliche Betrachtungen«, »Geschichten, die keine sind«. Diese Überschriften heben unterschiedliche Texteigenschaften hervor, die für die Gattung des Feuilletons bestimmend sind und auch über Beiträgen eines Alfred Polgar oder Joseph Roth stehen könnten. Obwohl sich Musil von der Feuilletonproduktion seiner Zeit distanzierte, stand er damit in einem fruchtbaren Austausch. Hingegen zeigt sich die Sonderstellung von Die Durstigen fürs Erste schon einmal daran, dass dieses Prosastück sich keinem der Kapitel von Nachlaß zu Lebzeiten zuordnen lässt: Für ein »Bild« ist die Handlung viel zu bewegt, für eine »unfreundliche Betrachtung« fehlt die kritische Betrachterinstanz. Und schließlich gibt es auch keinen Grund, der Geschichte, die hier erzählt wird, abzusprechen, eine solche zu sein. Mein ungeduldiger Einstieg in die Besprechung von Die Durstigen mag darauf zurückzuführen sein, dass dieses Prosastück mit seinem Witz, seinen plastischen Darstellungen der Schauplätze und der Akteure und mit seinem spannenden Plot einen Leser unmittelbarer in Bann ziehen kann als andere Texte Musils. Dieser gilt als ein Autor, der eine distanziert reflektierte Herangehensweise an seine Texte erzwingt. Die Durstigen bestimmt dagegen ein gewisses erzählerisches Ungestüm, das mit dem Draufgängertum im Bunde zu stehen scheint, welches die Figuren am Anfang ihrer Geschichte an den Tag legen. Einer der vier ist ja auch der Erzähler. Statt »Ekel am Erzählen« (GW 8, S. 1315) strahlt der Text Lust daran aus. Dass die jungen Männer mit einem erheblichen Quantum an Ironie dargestellt werden, wirkt zudem entlastend und schirmt den Leser von der Beklommenheit ab, die sich der Figuren nach dem Hundemord bemächtigt. Die Anschaulichkeit verleiht der Erzählung einen realistischen Touch. Die Detailschilderungen und Digressionen bleiben aber merkwürdig lückenhaft und werfen mehr Fragen auf, als sie Erklärungen liefern. So gründet in dem, was das Realistische ausmacht, auch gleichzeitig die Irritation. Es entsteht der Eindruck, dem Text fehle jene erzählerische Ökonomie, welcher der Nachlaß zu Lebzeiten verpflichtet zu sein scheint. Den offenen Rändern steht dann aber die Tatsache gegenüber, dass der Hundemord das eindeutige Gravitationszentrum der Erzählung bildet, auf das am Anfang voraus- und am Ende zurückverwiesen wird. Neben der Zentrifugalkraft, die den Zusammenhang lockert, gibt es so auch eine zentripetale Kraft, wobei die beiden 7
Thomas Hake: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 1), S. 320–334, hier S. 322–325.
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Kräfte – so könnte man das Irritierende zu erklären suchen – sich hier, anders als in der Physik, nicht gegenseitig ausgleichen. Was damit vorerst einmal bildhaft umrissen ist, soll im Folgenden konkretisiert werden. Um das Untypische an den Durstigen herauszuarbeiten, wird ein Prosastück zum Vergleich herangezogen, das typisch ist für Musils Feuilletonbeiträge, aber ebenfalls von einem ›mordenden‹ Hund erzählt: Hasenkatastrophe. Anders als Die Durstigen, war es nach der Erstveröffentlichung im Prager Tagblatt am 24. Oktober 1923 mehrfach nachgedruckt worden und ging dann ein in die Abteilung »Bilder« von Nachlaß zu Lebzeiten. Der Titel, der etwas Schwerwiegendes durch einen Zusatz bagatellisiert, scheint in der zitierten Wendung »das kleine Unglück, der Mord« (GW 7, S. 644) seine etwas fahlere Entsprechung zu finden.
3. Das Tier als Mensch: Anthropomorphisierung In Die Durstigen wird vom Hundemord – dem Gravitationszentrum der Erzählung – folgendermaßen berichtet: Des Kleinen weißblonde Schweiffahne – behauptete später der Seidenspinner – hatte sich eben zur Seite bewegt, um zu wedeln, aber ehe sie noch die zweite Hälfte dieses Taktschlags vollenden und damit das hundliche Lächeln über den ganzen Hinterteil ausbreiten konnte, während der Vorderteil noch knurrte, biß Ali, gegen alle Sitte, wutzitternd, den Kleinen ins Genick, schleuderte ihn zweimal im Maul hin und her und spie ihn dann auf die Erde. (GW 7, S. 644)
In den von Adolf Frisé herausgegebenen Gesammelten Werken Musils umfasst die Erzählung 218 Zeilen. Das Kernereignisses, »biß Ali, gegen alle Sitte, wutzitternd, den Kleinen ins Genick« wird auf den Zeilen 108 und 109 vermeldet, also nicht einfach ungefähr, sondern haargenau in der Mitte des Texts.8 Die Rede von einem Gravitationszentrum hat so eine textgeometrische Fundierung. Während der tödliche Biss die Beobachter in Die Durstigen völlig überrascht, ist er in Hasenkatastrophe das absehbare Ergebnis einer »im Stil einer Sportreportage«9 geschilderten Verfolgungsjagd, die damit endet, dass das junge, noch wenig fluchterprobte Häschen erschöpft stehen bleibt und dem Hund seinen Nacken hinhält: »Der schlug seine Zähne hinein, schleuderte es ein paarmal hin und her, dann warf er es auf die Seite und grub sein Maul zwei-, dreimal in Brust und Bauch.« (GW 7, S. 488) Ein ähnlicher Vorgang wird in den beiden Erzählungen also mit ähnlichen Worten geschildert. Gleich ist die Bissstelle, gleich das Hin- und Herschleudern des Opfers, un8 9
Der symmetrische Aufbau der Erzählung fällt auf. Peter Utz, der in diesem Band ebenfalls mit einem Beitrag vertreten ist, verdanke ich aber die Idee, genau nachzuzählen. Herbert Kraft: Musil. Wien 2003, S. 222.
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terschiedlich, dass der Hund in Die Durstigen einen Namen hat und einen anderen Hund tötet. In beiden Fällen ereignet sich der Vorfall vor den Augen eines Zeugenkollektivs, das in der Hasenkatastrophe eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe von Urlaubsgästen auf einer Ferieninsel ist, in den Durstigen dagegen ein Trupp von – man ist verlegen um den passenden Ausdruck – Freunden, Saufkumpanen oder Schicksalsgenossen. Was die beiden Erzählungen verbindet, sind aber nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Gemeinsamkeiten. Auffallend ist vor allem die Verwendung von Vergleichen und Metaphern, die die zentralen Tierfiguren mit menschlichen Eigenschaften ausstatten. Diese anthropomorphisierenden Ausdrücke verunmöglichen es, dass man die Gewaltszenen als Naturvorgang lediglich mit einem »Achselzucken des Bedauerns« (GW 7, S. 644) quittiert. Ins Repertoire der Anthropomorphisierungen beider Texte gehört, dass die Laute der Hunde als ein ›Jauchzen‹ umschrieben werden.10 Beim Foxterrier, von dem der Erzähler vorerst ein »Schluchzen« (GW 7, S. 487) zu vernehmen glaubt, ist es das aufgeregte Atmen, das an ein Jauchzen erinnert. Durch die Metapher wird der tierische Jagdinstinkt als – moralisch anrüchige – Mordlust präsentiert. Ali dagegen stößt seine jauchzenden Schreie aus, wenn er mit seinen vier Kumpanen durch die »Torrente« tollt, lange vor der Begegnung mit dem Opfer. Aber die jungen Männer bringen dieses Hundejauchzen auch mit Jagd in Verbindung. Es lässt sie befürchten, Ali könnte ein weidendes Schaf »zerreißen«. Sie bleiben ihm deshalb auf den Fersen und »jauchzten ebenfalls«,11 eine Angleichung, die den Erzähler dann zur schon zitierten Richtigstellung veranlasst, Ali sei »im Unterschied von uns andern ein Hund« (GW 7, S. 643). Die Bezeichnung der Tötung als »Mord« ist Teil dieser Anthropomorphisierung. Es ist somit – das gilt es festzuhalten – die bildhafte Sprache, also eine Besonderheit der Erzählweise, die den Vorfall erst nachhaltig skandalisiert. Dass diese Versprachlichung und damit die Konzeptualisierung des Vorgangs ebenso zur Debatte stehen wie der Vorgang selber, unterstreicht eine Erzählerbemerkung in Hasenkatastrophe: »Eine schale Atmosphäre menschenfresserischer Worte umgab uns, wie ›Kampf ums Dasein‹ oder ›Grausamkeit der Na10
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Aufklärung über diese Metapher verspricht folgender kurzer, den Durstigen gewidmeter Beitrag: Siegfried Habicher: Kann ein Hund jauchzen?, in: Sprachästhetische Sinnvermittlung. Robert Musil Symposium, Berlin 1980. Hg. v. Dieter F. Farda u. Ulrich Karthaus. Frankfurt a. M., Bern 1982 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Bd. 493), S. 168–173. Habicher geht jedoch mit keinem Wort auf die in dessen Titel in Anlehnung an Musils Feuilleton Kann ein Pferd lachen? aufgeworfene Frage ein. In Kann ein Pferd lachen? vereinigen sich das »Campagnapferd« und der Bursche, der es striegelt, auch in den Lauten, die sie ausstoßen; dabei handelt es sich aber anders als in Die Durstigen um einen tierischen Laut, ein Wiehern (GW 7, S. 483). Vgl. dazu Ulrich Stadler: Rätsel und Witz, Hans und Pfungst. Robert Musil: Kann ein Pferd lachen?, in: Der Witz der Philologie. Rhetorik – Poetik – Edition. Hg. v. Felix Christen, Hubert Thüring u. Martin Stingelin. Basel, Frankfurt a. M. 2014, S. 232–244, hier insbes. S. 235.
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tur‹.« (GW 7, S. 488) Erst die Rede überführt den Vorfall unter Tieren in die menschliche Sphäre und provoziert ein Nachdenken über Gewalt unter Menschen. Während in Hasenkatastrophe die Anthropomorphisierung mit Diskursen namentlich des Vulgärdarwinismus in Zusammenhang gebracht und ironisiert wird, leitet sie sich in Die Durstigen folgerichtig aus dem besonders engen Verhältnis der Männer zu Ali ab. Sie ist somit in Hasenkatastrophe eher in der Reflexion, in Die Durstigen eher in der Fiktion verankert. Der Erzähler nutzt in der Ali-Geschichte jede Gelegenheit, dem Hund die Sympathie der Lesenden zu verschaffen. Mit umgekehrtem Ziel setzt er die gleiche Strategie ein, wenn er dem Opfer, diesem »völlig unadlige[n] Köterchen«, ein aufgeblasenes Imponiergehabe vorhält. Die Darstellungsweise diskreditiert das Opfer und lässt Alis »Mord« eigentlich als gerechtfertigt erscheinen. Der Erzähler suggeriert zudem, dass die Zugehörigkeit zu einer Rasse mit einem vornehm klingenden Namen, »venetianische Bracke«,12 für Ali spricht. Als den Überlegenen zeichnet der Erzähler Ali auch bei der Beschreibung der Bestrafung: »Diesem entfuhr während der Züchtigung kaum ein Laut des Schmerzes; er hatte sich zu ihrer Entgegennahme auf die Erde gelegt und duldete wie ein Krieger aus edlem Stamme.« (GW 7, S. 645) Die Art, wie Ali die Strafe hinnimmt, unterminiert das, was ihr Ziel zu sein scheint: die Bekräftigung der Dominanz des Menschen über das Tier.13 Die auffällige Wortwahl der Schilderung gibt aber auch Aufschluss über den Erzähler, der eine martialische, für Heroisierung anfällige, ja eine rassistische Weltsicht zu verraten scheint, die irritieren kann. Dies erinnert daran, dass es sich bei den Durstigen um Rollenprosa handelt, um einen Ich-Text also, der seinen Sprecher zur Figur macht und mit dieser auch das Erzählen problematisiert. Dass der Text dabei allerdings mit Informationen, die diese Figur einschätzbar machten, geizt, wird noch zu besprechen sein. Das Besondere an der Erzählerfigur ist, dass sie fast immer von einem handelnden Kollektiv berichtet, so dass hier ein erzählendes Ich auf ein erzähltes Wir bezogen ist. Das Pronomen »wir« tritt viermal häufiger auf als das Pronomen »ich«.14 12
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Habicher: Kann ein Hund jauchzen? (Anm. 10), S. 172, behauptet, es handle sich bei dieser Hunderasse um eine Erfindung Musils. Im Register der von der Fédération Cynologique Internationale aktuell anerkannten Hunderasse figuriert keine »venetianische Bracke«: http://www. fci.be/de/nomenclature/6-Laufhunde-Schweisshunde-und-verwandte-Rassen.html (aufgerufen am 9. 2. 2018). Die Hunderasse, die vielleicht heute einfach ausgestorben ist, wird auch in der Erzählung Grigia erwähnt (vgl. GW 6, S. 242). Solche Züchtigungen sind immer wieder Thema (literarischer) Hundedarstellungen, wie das aufgezeigt wurde von Hans-Joachim Jakob: Tiere im Text. Hundedarstellungen in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von ›Human-Animal Studies‹ und Erzählforschung, in: Textpraxis. Digitales Journal für Philologie 8 (2014), H. 1, https://www.uni-muenster.de/Textpraxis/sites/default/files/beitraege/ hans-joachim-jakob-tiere-im-text.pdf (aufgerufen am 1. 8. 2018). Gezählt wurden nur die Nennungen der Pronomen im Nominativ: neun Belege für »ich«, vierzig für »wir«.
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In Hasenkatastrophe ist der Erzähler zwar auch Teil eines Kollektivs, berichtet aber doch vorwiegend in eigener Sache.15 Über seine Person lässt er nichts verlauten, was seine Reaktionsweise erklären und seine Kommentare relativieren würde. Am stärksten exponiert er sich in seinen Äußerungen über die Hundebesitzerin. (Das Verhältnis eines Meisters zu seinem Hund wird hier von außen kritisch betrachtet, in Die Durstigen von innen mit Empathie miterlebt.) Der Erzähler in Hasenkatastrophe wird anfänglich gegen das mondäne Fräulein mit Pelzkragen ausfällig und macht es für den Übergriff ihres Hundes verantwortlich. Er wird sich aber der Unangemessenheit seines Ressentiments bewusst und ruft sich selber in die Schranken. Die Kommentierung des Vorfalls zeugt von einem differenzierten und selbstkritischen, ja selbstironischen Reflexionsvermögen. In Die Durstigen dagegen ist die Kommentierung nicht einfach Sache des Erzählers; sie wird vielmehr in der Kontroverse unter den jungen Männern mehrstimmig ausgefaltet. Dem ist nun noch im Detail nachzugehen.
4. Der Mensch als Tier Die ausführliche und geistreiche Kommentierung und Deutung eines isolierten Vorgangs oder eines Tatbestandes durch einen Beobachter ist konstitutiv für das Feuilleton als kleine Form. Auch Musil praktiziert dieses Muster, etwa in Türen und Tore, Der Malsteller oder Inflation. Die Spezialität der Musil’schen Feuilletontexte scheint jedoch zu sein, dass sie die Konfrontation mit einem Vorgang oder mit einem Tatbestand fiktionalisieren und erzählen, wie sie für eine Figur zu einem überraschenden, nicht selten gar einem existenzerschütternden Erlebnis wird. Musils Texte leisten die lustvolle Spracharbeit bei der Kommentierung nicht gleichsam in eigener Regie, sondern stellen sie in den Dienst einer Figur, deren Deutungsbemühungen sie nachzeichnet. Dass diesen ein so wichtiger Platz eingeräumt wird, verrät die Verbundenheit dieser Zeitungsbeiträge mit der Feuilletontradition. Während die Ich-Figur in Hasenkatastrophe dem gängigen FeuilletonIch noch nahesteht, das mit seinen Kommentaren die eiligen Zeitungsleser zum Innhalten verleiten möchte, ist die Kommentierung in Die Durstigen vollends zu einer Szene ausgefaltet, die erzählt wird. Bevor die beiden Texte aber damit beginnen, von der intellektuellen Verarbeitung der Vorfälle zu erzählen, kommen die spontanen emotionalen Reaktionen der Figuren zur Sprache, und zwar auf eine sehr bildhafte Art. Der Erzähler in Hasenkatastrophe spricht nur für sich und benützt eine Formulierung – »Ich fühlte mein Herz« (GW 7, S. 487) –, die fast farblos wirkt im Vergleich zu derjenigen 15
Neun Belege für »ich«, fünf für »wir«. Hinzu kommen fünf »man«, die auf ein noch umfassenderes, anonymes Kollektiv Bezug nehmen.
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des Erzählerkollegen in Die Durstigen: »Wir waren auf unser Herz getreten und ausgerutscht«. Die Metapher wird – durch Wörtlichnehmen – ironisiert, wenn das Herz in einer Weiterführung mit »einer Orangenschale« (GW 7, S. 646) gleichgesetzt wird. Dass die jungen Männer sich von dem Vorfall so stark berühren lassen, deuten sie als einen »Betriebsunfall«,16 als Unprofessionalität; Draufgängern dürften die Gefühle nicht derart in die Quere kommen. Die Kommentierung des Vorfalls ist in Die Durstigen nicht nur mehrstimmig, sondern – wie schon erwähnt – auch szenisch eingebettet. Erst im Wirtshaus sind die vier Männer dank »Mond und Wein und der zerschmelzenden Spannung des Tages« in Stimmung, dem »Gedenken an Alis Mord«, das sie »bis dahin voreinander versteckt hatten« (GW 7, S. 646), Worte zu verleihen. Die Aussprache der Abenteurer verdankt sich also – das trägt zur Ironisierung ihrer Hartgesottenheit bei – einer gewissen Weinseligkeit. Was nun an Argumenten zusammengetragen wird, ergibt eine knappe und systematische Auslegeordnung prinzipiell unterschiedlicher Erklärungsansätze, die immer emotionaler werden und so das Ziel der Diskussion immer mehr verfehlen: den Vorfall auf Distanz zu rücken. Der Eisenbahnassistent, »der auf Sport hielt«, beginnt, indem er das Anstößige des »Mordes« in der Ungleichheit des Kampfes zwischen einem großen und einem kleinen Hund ortet. Ein »anderer« erklärt es damit, dass ein Hund einen Hund und nicht zum Beispiel eine Katze angegriffen habe. Die juristische Formel »Totschlag im Affekt« wird mit der Begründung zurückgewiesen: »Man kann ein Tier nicht wie einen Menschen beurteilen.« Dies provoziert die Gegenfrage, »[w]eißt du das so genau?« Dazu bemerkt der Berichterstatter: »Da waren wir nun wieder dort, wo wir sein sollten.« (GW 7, S. 646) Dieser Einwurf wirkt deshalb so sybillinisch, weil man sich fragen muss, welcher Ort genau mit dem deiktischen »dort, wo« für erreicht erklärt wird. Am naheliegendsten scheint es zu sein, diesen Ort als die höhere Abstraktionsstufe zu identifizieren, auf welche die Diskussion hier rückt. Verhandelt wird jetzt nicht mehr der konkrete Vorfall, sondern – grundsätzlicher – das Verhältnis von Mensch und Tier, wobei die Gegenfrage eine »Unverschiedenheit von Tier und Mensch«17 in Betracht zieht. Der Autor scheint sich hier in einer Art von metaleptischem Witz selber ins Spiel zu bringen, denn wer anders als er könnte den Figuren vorschreiben, bestimmte Fragen zu erörtern? Er stellt diese Figuren als seine etwas renitenten, aber nun doch gefügigen Vollzugshelfer hin. Man kann daraus das selbstironische Eingeständnis des Autors heraushören, auch im vorliegenden Text zu einer Frage zurückzukehren, die ihn nicht nur in Hasenkatastrophe 16 17
Gschwandtner: Ekstatisches Erleben (Anm. 4), S. 130. Florentine Biere: Unter Beobachtung. Robert Musils Tierleben, in: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. v. Ulrich Johannes Beil, Michael Gamper u. Karl Wagner. Zürich 2011 (= Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, Bd. 17), S. 219–235, hier S. 227.
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beschäftigte. Dieser Selbstanzweiflung vermag der Text allerdings mühelos Paroli zu bieten, verhandelt er doch das Thema auf eine, wie gerade der Vergleich mit Hasenkatastrophe beweist, durchaus neue Art und Weise. Die Diskussion gewinnt durch das Eingeständnis an Erregtheit, dass man vom »unvergeßlich Abstoßenden« des Hundemords gerade »nicht abgestoßen« wurde. »›Man könnte selbst einen anderen ins Genick beißen und ihn zwischen den Zähnen totschütteln!‹« (GW 7, S. 646) Dieser letzte direkte Kommentar klingt wörtlich an die genau in der Mitte der Erzählung platzierte Schilderung des Tathergangs an. Der Erzähler versieht die Aussage mit der Bemerkung, dass der Seidenspinner, der sie formuliert, als einziger der Gruppe reich sei und aus der Kleinstadt stamme, in deren Umfeld sich die Geschichte zuträgt. Auf diesen Ort ist auch der letzte Satz bezogen, der von der Diskussion rapportiert wird und sich vom Vorfall ab- und den Kommentatoren zuwendet: »›Wie lange werden wir noch in diesem verdammten Winkel von Stadt aushalten müssen!?‹« Die Verweise auf den Schauplatz werden den letzten Voten wie Erklärungen nachgeschoben. Die Debatte und die szenische Einbettung werden so enggeführt, ohne dass ein kausaler Zusammenhang einsichtig würde. Das Gespräch scheint danach in der Betretenheit der vier Männer über das Eingeständnis ihres Gewaltpotentials zu erlöschen.18 Die Erzählung endet mit den beiden namentragenden Figuren, mit Ali und Agnese. Von der Wirtstochter heißt es, dass sie ihren Gästen zusieht wie »Tieren oder einer stummen Bewegung« (GW 7, S. 647), wobei unklar sei, ob sie deren Sprache verstehe. Der Erzähler geht offenbar davon aus, dass die Diskussion über das Verhältnis von Mensch und Tier die Debattierenden verwandelt habe, und unterstellt einer außenstehenden Beobachterin eine Beglaubigung dieser Verwandlung. Demgegenüber konstatiert der Schlusssatz, der sich in genauer Symmetrie zum Eingangssatz der Erzählung dem realen Tier, dem unter dem Tisch friedlich schlafenden Ali, zuwendet, die Differenz von Mensch und Tier: »Er schien mit seinem Tag zufrieden zu sein, und ich glaube, wir anderen beneideten ihn heimlich.« (GW 7, S. 647) Dem Zeugen der Hasenkatastrophe gelingt es besser als den Zeugen der Hundekatastrophe, die distanzierte Beobachterposition aufrecht zu erhalten. Ihm bietet sich der Vorfall auf der durch ihre Leere charakterisierten Insel wie auf einem Seziertisch zur Reflexion an. Was sich hier zuträgt, mutet im Vergleich mit der Kontrasterzählung an wie ein Laborversuch neben einer Feldforschung. Der irritierende Vorgang wird in der Ali-Geschichte zwar noch konsequenter ins Zentrum gerückt, aber wohl nur deshalb, weil das Drumherum eine viel größere Rolle spielt und sich mit dem Zentralereignis 18
Vgl. Marie-Louise Roth: Die Durstigen, ein unbekannter Text von Robert Musil und seine Deutung, in: Robert Musil. Studien zu seinem Werk. Im Auftrag der Vereinigung RobertMusil-Archiv Klagenfurt hg. v. Karl Dinklage, zusammen mit Elisabeth Albertsen u. Karl Corino. Reinbek b. Hamburg 1970, S. 71–81, hier S. 74: »Sie fürchten sich vor ihrer persönlichen Dämonie.«
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in keinen offensichtlichen Funktionszusammenhang bringen lässt. Die Versuchsanordnung ist gleichsam verunreinigt. Man kann deshalb auch gar nicht mehr behaupten, es gehe da einfach um das Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Von dem ganz bestimmten Tier und den ganz bestimmten Menschen kann nicht einfach abstrahiert werden. Das bestätigt auch der Agnese unterstellte Befund: Nicht die Menschen generell sind Tiere, sondern lediglich die vier jungen Männer. Sie vertreten nicht einfach die Menschheit, sind nicht Homo im Plural. Sie sind mit dem spezifischen Problem konfrontiert, dass sie das Ausleben ihrer Körperkraft, das der Text zu Beginn geradezu feiert, und ihre moralischen Ansprüche nicht unter einen Hut zu bringen vermögen. Und sie agieren an einem ganz spezifischen, durch auffällige Einzelheiten charakterisierten Schauplatz. Der Exempelcharakter der Erzählung liegt so viel weniger auf der Hand, als dies bei Hasenkatastrophe der Fall ist. Beiden Erzählungen ist aber gemeinsam, dass bei der »narrativen Verhandlung tierischer Archaik vor dem Hintergrund scheinbar menschlicher Zivilisiertheit«19 menschliche Projektionen und Redeweisen im Bezug auf Tiere problematisiert werden. Diese erweisen sich als eine tückische Form der Domestizierung. Besonders markant rückt das die Bemerkung ins Licht, Alis Hundemord erfolge »gegen alle Sitte« (GW 7, S. 644). Eine solche gibt es nur für Hunde, die sich die Menschen als Menschen denken.
5. Akteure und Schauplätze Es wurde hier aufgezeigt, wie in Die Durstigen die szenische Einbettung es verunmöglicht, die Geschichte zu verallgemeinern. Die Sache verkompliziert sich nun aber dadurch, dass diese szenische Einbettung, wie schon erwähnt, höchst rudimentär ist. Die Informationen sind zwar detailliert, aber oft auch auffallend lückenhaft, und die Details lassen sich in vielen Fällen auch nicht als ›sprechende‹ dechiffrieren. Schon der allererste Satz, der, wie bereits bemerkt, so tut, als würde er sich an eingeweihte Leserinnen und Leser wenden, nährt den Eindruck eines Informationsdefizits. Was die vier männlichen Akteure angeht, werden uns nicht nur die Namen vorenthalten. Es ist auch vollkommen unklar, was die Männer zu dem »wir« verbindet, das der Erzähler ständig im Munde führt. Es fehlt jede Erklärung, weswegen sie im Städtchen als Gruppe berüchtigt sind. Zwar spricht der Erzähler seine Gefährten mit ihren Berufen an – Seidenspinner, Lehrer und Eisenbahnassistent –, verliert aber kein Wort darüber, ob sie denn diese Berufe noch ausüben. Was sie als Gruppe herumtreibt, sei der »Zorn« (GW 7, S. 644); lediglich aus Unbeholfenheit – so das treuherzige Eingeständnis des Ich-Erzählers – sei aus ihnen keine Verbrecherbande geworden. Der Zorn 19
Gschwandtner: Ekstatisches Erleben (Anm. 4), S. 127.
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entspringt offenbar der Abwesenheit jeder Hoffnung, »jemals bei jungem Leib von hier loszukommen« (GW 7, S. 643). Wegen dieses rebellischen AnGrenzen-Stoßens kann man die Durstigen auch als »Suchende« verstehen, womit der Lektüre des Titels »à la baisse« endlich auch eine »à la hausse« an die Seite gestellt wäre. Entsprechend hat Marie-Louise Roth argumentiert, die den Text wiederentdeckte und als erste kommentierte. Für sie sind die jungen Männer – wie andere Helden Musils von Törleß über die Schwärmer bis zu Ulrich und Agathe – vom Wunsch beseelt, den Schematismen der eingerichteten Welt zu entfliehen.20 So setzt Roth alles daran, ihren Fund in Musils übriges Œuvre einzubetten, von dem ich ihn hier behutsam abzuheben versuche. Harald Gschwandtner hat zu Recht die Frage aufgeworfen, ob die vier Männer »wirklich nach dieser Veränderung dürsten oder diese nicht vielmehr unerwartet und erschreckend über sie hereinbricht«.21 Man sollte den Durst der Vier nicht zu schnell aus ihrem »jungen Leib« ins Geistige zu verschieben suchen und zu einem sublimierten erklären. Die jungen Männer, die Musil hier einer Überrumpelungserfahrung aussetzt, unterscheiden sich deutlich von den in einem bürgerlichen Leben stehenden Figuren, die ihm sonst meist als ›Testpersonen‹ dienen. Bemerkenswert ist auch, dass sie im Kollektiv auftreten. Ihre Körperbetontheit und ihre Verbundenheit mit Ali lassen sie sich als Naturburschen fühlen, bevor der »Mord« sie dann zwingt, diese Selbsteinschätzung und damit das Konzept des Naturburschentums zu überdenken. Dabei scheint mir ihr Durst, ihr sorgloses Herumtollen mit Ali als Ausdruck männlicher Vitalität etwas Erfrischendes zu haben.22 Dies ist für die Dynamik der Erzählung und für die Art, wie diese die Lesenden ins fiktive Geschehen verwickelt, ausschlaggebend. Deshalb scheint es mir auch verfehlt, die Erzählung mit Siegfried Habicher als eine satirische Entlarvung zu lesen, die hinter »heiterer Sorglosigkeit« den »mörderischen Ernst« sichtbar mache.23 Zur schillernden erzählerischen Ausgestaltung, die es schwer macht, hinter dem speziellen den allgemeinen Fall zu sehen, gehört die Schilderung der Topographie. Sie ist ebenfalls detailreich und lückenhaft zugleich. Der Weg der Fünf ist genau nachgezeichnet und passiert unterschiedliche, klar voneinander abgetrennte Räume, deren Semantik das Verhalten der Figuren immer neu konditioniert. Wenn sich die Männer dem Städtchen nähern, müssen 20
21 22
23
Vgl. Roth: Die Durstigen (Anm. 18), S. 72: »Der Titel ›die Durstigen‹ mutet seltsam an. Auf den ersten, flüchtigen Blick scheint er ohne Beziehung mit der Erzählung; aber im Grunde bildet er das Hauptthema des Inhalts; der Begriff wird zum Symbol der Sehnsucht jener vier Männer, einer Sehnsucht, die alle Helden Musils kennen [. . .].« Gschwandtner: Ekstatisches Erleben (Anm. 4), S. 129, Anm. 45. Es würde sich lohnen, Die Durstigen unter dem Aspekt der Männlichkeitsdarstellung zu untersuchen, etwa in Anlehnung an Ulrich Boss: Männlichkeit als Eigenschaft. Geschlechterkonstellationen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin, Boston 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 134). Habicher: Kann ein Hund jauchzen? (Anm. 10), S. 170.
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sie die »Wildheit« aus ihren »Gesichtern schleunigst verschwinden« (GW 7, S. 643) lassen. Es handelt sich nur bei der »Torrente« um einen eindeutigen Naturraum. Mit einer abfälligen Bemerkung über deren Kegelform tritt der Erzähler ein frotzelndes Gespräch los: »Überall wo die Natur in einfachen, geometrischen Formen auftritt, ist sie heimtückisch; kreisrunde Seen sind abgründig, Vulkane haben eine Kegelform . . .« – ich suchte weitere Beweise, aber mir fielen keine ein – »Gallensteine sind Würfel mit abgeschliffenen Ecken« – setzt der Seidenspinner hinzu. – »Schneebretter sind Tafeln«, ergänzte der Eisenbahnassistent, der drei Semester Jus studierte und dabei Skilaufen erlernt hatte. – »Und ihr seid Quadrattrottel«, schloß der Lehrer das Gespräch ab, »ihr vergeßt, daß die ganze Erde rund ist!« Er war der Kraftmensch. (GW 7, S. 642)
Die Dysfunktionalität dieses kurzen Gesprächs innerhalb der Erzählung lässt den Leser nach extratextuellen Bezügen Ausschau halten. So stellt sich dieser vielleicht – reichlich hilflos – die Frage, ob hier gegen die kubistische oder suprematistische Malerei Position bezogen werde. Was die Situierung des Schauplatzes angeht, so erwartet man vom Hinweis auf eine Europakarte nähere Aufschlüsse. Diese wird aber nur im Zusammenhang mit einem Gedankenexperiment erwähnt: Die feinste Nadel, die darauf zur Markierung der Provinzstadt eingesteckt würde, hinterließe einen Einstich, der weit über das Revier der vier Männer hinausginge. Immerhin wird damit – wie im Schlusssatz von Hasenkatastrophe – der Bezug zu Europa hergestellt. Das geschieht auch mit dem Hinweis, dass der Bergbach, der die »Torrente« aufschüttet, in einen »zivilisierten Fluß« münde, »der schon in seinen Anfängen einen europabekannten Namen führt« (GW 7, S. 642). Wie dieser Name lautet, behält der Erzähler für sich. Die Randstellung des Schauplatzes unterstreicht auch der Umstand, dass die Bewohner des Städtchens gerne eine größere Stadt in der Nähe besuchen. Von dort bringt dieser eine modische Krawatte, jener gar ein Auto nach Hause, das die vier frustrierten jungen Männer als »verjährtes« Modell mit Spott überziehen (GW 7, S. 644). Das Wissen über die Welt beziehen sie aus illustrierten Zeitungen: »Wolkenkratzer und 200 Kilometergeschwindigkeit, nackte Tänzerinnen und die Wäsche der vornehmen Dame, große Betrüger und Jagdausflüge nach Afrika, Selbstmörderinnen im Koksrausch und Hochzeiten der höchsten Gesellschaft.« (GW 7, S. 643) Mit diesem Hinweis thematisiert auch dieser Zeitungstext seinen eigenen medialen Kontext und vermisst seinen Abstand zu diesem. Die aufgezählten Themen der Illustrierten werden in den von Urbanität bestimmten Feuilletons der Tageszeitungen zwar nicht so opulent ausgebreitet, aber doch intensiv kommentiert – dank der Aufzählung nun auch im Text, den wir gerade lesen. Mit dem Verweis ironisiert das Prosastück eine populäre journalistische Zurichtung der Welt und unterstreicht seine Wahl eines peripheren Schauplatzes. Die Vorliebe für solche Schauplätze ist eines der Markenzeichen des
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Feuilletonisten Robert Musil.24 Dabei sind die Räume, die die Protagonisten unserer Geschichte durchstreifen, nicht alle gleich abgelegen. Es ist aber auffallend, dass unter den sehr rudimentären Raumangaben nie ein Hinweis darauf fehlt, was diese isolierten Räume mit größeren Hintergrundsräumen verbindet: Bei der »Torrente« ist es das Wasser, das in einen »europabekannten« (GW 7, S. 642) Fluss fließt, bei der Kleinstadt die Nachbarschaft zur »nächstgrößere[n] Stadt« (GW 7, S. 644), beim Wirtshaus über dem See die Passstraße, an der es liegt. Alle diese angrenzenden Räume sind für die Durstigen nicht erreichbar. Die ständigen Verweise auf größere Zusammenhänge passen zum Eindruck, bei dem Prosastück handle es sich um einige herausgelöste Seiten eines längeren Texts, etwa eines Romans. Solche Ausschnitte sind im Feuilleton (damit ist hier für einmal die Rubrik der Zeitung gemeint) ja durchaus zuhause, nämlich im Fortsetzungsroman. Das Fehlen einer verlässlichen Situierung des Schauplatzes vermittelt den Eindruck eines Schnappschusses, bei dem das, was neben dem Hauptsujet auch noch ins Bild kommt, dem Zufall unterworfen ist. Daraus ergibt sich ein effet du réel (Roland Barthes), weil die Kontingenz den Verdacht tilgt, es liege Konstruktion und Stilisierung vor. Wenn man davon ausgeht, dass »Selektion und Verdichtung« die Abbreviaturverfahren sind, die für literarische »Kleinformen« ausschlaggebend sind,25 kann man festhalten, dass Musil für Die Durstigen ausnahmsweise auf die Selektion setzt, während er sonst eher die Verdichtung bevorzugt. Wenn ich recht sehe, benutzte er dieses Verfahren zur Erzeugung einer Kleinen Form sonst nicht, oder jedenfalls nicht in so konsequenter Weise. Effets du réel waren nicht sein Ziel. Man kann die Besonderheit auch anhand der Art des Rätselratens zu fassen versuchen, das der Text auslöst. Es ist anderer Natur als das Rätselraten, das Aeins und Azwei in der Amsel den Musil-Interpreten vormachen. Es ist ein Rätselraten, das weniger um irgendeinen geheimen Kern kreist als um Peripheres, wo sich das Fragen kaum zu lohnen scheint: Wer ist der Erzähler? Was hat es mit den jungen Männern für eine Bewandtnis? Was führte sie zusammen? Was wirft man ihnen im Städtchen vor? Weshalb üben sie ihre Berufe nicht mehr aus? Gibt es »venetianische Bracken«?
6. Politische Lektüren Bei der Suche nach Auskünften darüber, was dieser Text uns so ostentativ vorenthält, konsultiert man natürlich lieber früher als später die MusilBiographie Karl Corinos. Diese kann auch in diesem Fall mit präzisen und 24 25
Vgl. Müller: Feuilletons und kleine Prosa (Anm. 1), S. 406 f. So zu lesen auf der Webseite des Berliner Graduiertenkollegs »Kleine Formen«, das im Frühjahr 2017 startete: http://www.kleine-formen.de/forschungsprogramm/ (aufgerufen am 27. 8. 2017).
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erstaunlichen Informationen aufwarten. Zum einen äußert Corino die Vermutung, dass Die Durstigen während Musils Rekonvaleszenz von einer Gallensteinoperation entstanden sind.26 Das würde eine textexterne Erklärung dafür liefern, warum in der Debatte über geometrische Formen in der Natur ausgerechnet von Gallensteinen die Rede ist und der Effekt der Bilder in den illustrierten Zeitungen mit verschluckten Edelsteinen verglichen wird, »die dann im Leib nicht vor und nicht zurück können« (GW 7, S. 643). Wichtiger ist der zweite Hinweis, dass Musil in Die Durstigen die Gegend um das Städtchen Pergine Valsugana (dt.: Fersen im Suganertal) am Ausgang des Fersentals in Südtirol darstelle. Er hatte es während seines Militäreinsatzes im Ersten Weltkrieg an der Isonzofront kennen gelernt und machte es schon zum Schauplatz von Grigia. Ortsnamen, die in Grigia eine Lokalisierung ermöglichen – Pergine wird mit »P.« abgekürzt (GW 6, S. 234) –, fehlen im Feuilleton, will man nicht aus der Formulierung, die vier Männer gäben beim Auftauchen der Besitzerin des getöteten Hündchens »Fersengeld« (GW 7, S. 645), einen Hinweis auf das Fersental heraustüfteln. Konsultiert man eine Karte der Gegend, dann glaubt man, darauf den Weg des Trupps von der Mündung des Fersentals über Pergine an die Hänge des Lago di Caldonazzo mühelos einzeichnen zu können. Die nahe gelegene größere Stadt kann man mit Trento, den Fluss mit »europabekanntem Namen« mit der Etsch identifizieren. Die Frage des Erzählers, ob Agnese dem Gespräch ihrer Gäste folgen könne, ließe sich mit dem Umstand in Zusammenhang bringen, dass zur Zeit von Musils Aufenthalt im Fersental Deutsch, am Lago di Caldonazzo dagegen Italienisch gesprochen wurde. Die verblüffende Passgenauigkeit, mit der diese Informationen in die Deutung integriert werden können, lässt die Lücken im Text, die nicht begradigten Abrissstellen, das Rudimentäre der Informationen aber nur noch deutlicher hervortreten. Das zeigt sich auch, wenn man Die Durstigen mit der Novelle Grigia vergleicht, wo eine Raumsemantik entwickelt wird, die aus sich heraus plausibel ist: Das abgeschlossene Bergtal verengt sich zur Höhle, wo einer ganz allein eine ganz persönliche Erfahrung macht. Es ist das Staunen eines Fremden über eine ihm rätselhaft, ja wunderbar erscheinende Gegend, die hier die Raumdarstellung leitet. Dagegen obliegt diese in Die Durstigen einem Ortskundigen. Für ihn ist die Gegend eine Selbstverständlichkeit, und eine systematische Beschreibung drängt sich ihm nicht auf. Die rudimentäre Raumdarstellung kann man so auch als ein Mittel abbuchen, die Erzählerfiktion zu verdeutlichen. Für Karl Corino steht hinter den Durstigen nicht nur die Erfahrung des Raums, sondern auch die Erfahrung des Kriegs. Musil folge auch hier »der Neigung [. . .], in den kürzeren Prosa-Texten der 1920er Jahre die Spuren des Kriegs möglichst zu tilgen. [. . .] All die Existenzfragen des Kriegs, der Mord 26
Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1617.
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am Artgenossen, der Totschlag im Affekt, tauchten larviert wieder auf, acht Jahre nach dem Ende der Kämpfe.«27 Der »Mord am Artgenossen« wird sowohl durch die Darstellung der Tötung eines Hundes durch einen anderen als auch durch die exzessive Verwendung anthropomorphisierender Metaphern exponiert, welche die Hunde zu »Artgenossen« der Menschen machen. Wichtiger als der Gewaltakt selber ist die Frage der Komplizenschaft mit dem Täter. Die Sympathieregie der Erzählung zugunsten Alis ist dabei von großer Bedeutung. Sie überträgt das affektive Verhältnis der vier Männer zu ihrem Hund auf die Lesenden. Auch dazu wird die Metaphorik eingesetzt. Wenn der Erzähler sagt, Ali erdulde seine Strafe »wie ein Krieger aus edlem Stamme« (GW 7, S. 645), dürfte er allerdings den Bogen überspannen. Es handelt sich hier um die einzige explizite Nennung des Kriegs. Sie ist aber von so legendenhaft-altertümlicher Art, dass die Assoziation mit dem modernen Weltkrieg eher gekappt als befördert und die Aufmerksamkeit auf den Erzähler gelenkt wird, der mit so altertümlichen Vorstellungen hantiert. Das passt zu Walter Fantas »Annahme, dass Robert Musil in seinem literarischen Werk [. . .] den Kriegsdiskurs seiner Zeit inszeniert«.28 An den Krieg kann aber nicht nur der Gewaltakt und die Frage von dessen Diskursivierung erinnern, sondern auch das verschworene und gleichzeitig zerstrittene Kollektiv der vier jungen Männer. Wenn es von ihnen heißt, dass sie sich beim Queren der »Torrente« »an den Handgelenken« halten, »um bei einem umfassenden Angriff gegen ein Gebüsch nicht zurückgeschleudert zu werden« (GW 7, S. 643), dann ist das eine Einladung, in den vier Freuden eine Gruppe Soldaten zu sehen. Musil würde damit in Ansätzen etwas darstellen, was er laut Kai Evers sonst ausklammert, »die Darstellung eines Gemeinschaft stiftende[n] Fronterlebnisses«.29 Bei all diesen Versuchen, Die Durstigen – gegen den expliziten Wortlaut des Textes – auf den Ersten Weltkrieg zu beziehen, handelt man sich jedoch nicht unbedeutende Probleme ein. Als eine verkappte Darstellung des Kriegs oder bestimmter Aspekte desselben müsste sich die Erzählung nämlich die Frage gefallen lassen, ob der Vorfall, in dem ein sympathischer Hund einen unsympathischen totbeißt, die Schrecken dieses Gegenstands nicht in einer geradezu proportionsblinden Weise verfehle. Laut Rosmarie 27 28
29
Ebd., S. 539. Walter Fanta: Musils bleibende Bedeutung als Militärkritiker und Anti-Bellizist, in: MusilForum 34 (2015/2016), S. 127–156, hier S. 130. Fantas Beitrag ist eine beherzigenswerte Aufforderung, bei der Auswertung von Aussagen zum Krieg die spezifische Lagerung des jeweiligen Texts (von den Musil bloß zugeschriebenen Artikeln der Soldatenzeitungen bis zu seinen literarischen Erzähltexten) in Betracht zu ziehen und diese Aussagen nicht voreilig mit der Meinung des Autors gleichzusetzen. Kai Evers: »Krieg ist das gleiche wie aZ«. Krieg, Gewalt und Erlösung in Robert Musils Nachkriegsschriften, in: Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. Hg. v. Hans Feger, Hans-Georg Pott u. Norbert Christian Wolf. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 227–250, hier S. 241.
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Zeller beschäftige Musil »ab einem gewissen Zeitpunkt« der Krieg nur noch als »Anlass für gewisse Beobachtungen der Umwelt, die möglich werden, weil der Mensch im Krieg aus den gewöhnlichen Lebenszusammenhängen herausgerissen wird, was die Voraussetzung für die besonderen Erlebnisse, die Musil interessieren, ist«.30 In Die Durstigen werden die Akteure allerdings nicht aus ›gewöhnlichen Lebenszusammenhängen‹ gerissen. Sie leben in einer Art Ausnahmezustand am Rand der Gesellschaft. So ist es auch fragwürdig, mit Harald Gschwandtner das Ausnahmeerlebnis hier als vorübergehende Störung einer »Ordnung« zu deuten,31 wie das etwa für Hasenkatastrophe angemessen ist. Probleme bergen auch die Deutungsversuche, die Die Durstigen auf politische Vorkommnisse der frühen 1920er Jahre beziehen. Herbert Kraft reiht die Erzählung ein unter Musils »duale Zeitbilder, Kippbilder: nach dem Ersten, vor dem Zweiten Weltkrieg«.32 »Das Prosastück [. . .] schildert, wie sich Kleinbürger aufführen, wenn sie sich zusammenrotten: der Lehrer, der Seidenspinner, der Eisenbahnassistent, ich und der Hund Ali – Intellektuelle, Handwerker, kleine Beamte, man selber und die Mörder.«33 Dass die ›Zusammenrottung‹ im Katzenjammer endet, nimmt ihr jedoch alles Bedrohliche. In der Isoliertheit, an der die vier jungen Männer mit ihrem Hund leiden, können sie schwerlich als Repräsentanten einer Massenbewegung herhalten. Siegfried Habicher sieht in der »politischen Prosa-Satire«34 eine Reaktion auf den Aufstieg Mussolinis, der die Öffentlichkeit 1926 natürlich beschäftigte. Als Sinnbild eines Gewaltherrschers ist Ali aber völlig ungeeignet, weil er ein Hund ist und wie ein solcher handelt. Was er tut, kann ihm nicht als eine Übertretung zur Last gelegt werden. Außerdem passt die Annahme, Musil habe den italienischen Diktator im Visier gehabt, nicht zur Tatsache, dass er bei der Aktivierung seiner Erinnerungen zur Zeichnung des Schauplatzes alles tilgte, was eindeutig auf Italien hinweist. In der Erzählung ein Gleichnis auf den Aufstieg des Faschismus sehen zu wollen, müsste – genau wie die Lektüre als Kriegsallegorie – darauf hinauslaufen, sie der politischen Blauäugigkeit zu überführen. Das heißt aber nicht, dass jede politische Lesart des Textes auszuschließen ist. Indem dieser erzählt, wie der körperliche und intellektuelle Bewegungsdrang von vier jungen Männern eingeengt und in den Leerlauf getrieben wird, klagt er an, auch wenn die Ursachen dieser Notlage zu dem gehören, was der 30 31 32 33 34
Rosmarie Zeller: Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text. Textgenetische Studien zu Musils Nachlass, in: Musil-Forum 34 (2015/2016), S. 59–78, hier S. 60. Gschwandtner: Ekstatisches Erleben (Anm. 4), S. 115 f., umreißt das Konzept, das etwa für Hasenkatastrophe vollkommen einleuchtet, zu Beginn des mit »Mystik | Ordnung II« überschriebenen Kapitels, in dem er Die Durstigen behandelt. Kraft: Musil (Anm. 9), S. 143. Ebd., S. 150. Habicher: Kann ein Hund jauchzen? (Anm. 10), S. 168.
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Text uns vorenthält. So kann man in den jungen Männern Soldaten sehen, denen ihre Armee abhanden gekommen ist, Arbeitslose, wie sie die Krise der 1920er Jahre zu Tausenden hervorbrachte, eine Peergroup, die auf dem Weg aus der Jugend ins Erwachsenenalter stecken geblieben, ehemalige Straftäter, deren Rückkehr in die Gesellschaft abgeschnitten ist. Was ihnen in der erzählten Geschichte mit ihrem Hund zustößt, ist nachvollziehbar und aus ihrer Lage heraus verständlich. Was diese Lage aber bestimmt und wer die Vier sind, bleibt offen und kann deshalb mit unterschiedlichen Inhalten besetzt werden.
7. Zwischen den Gattungen Bei der Prosaerzählung Die Durstigen handelt es sich um kein typisches Feuilleton und auch um kein typisches Musil’sches Feuilleton. Wenn man mit Sibylle Schönborn davon ausgeht, dass es die »Zwischenposition zwischen Reflexion und literarischer Fiktion« ist, die ein Feuilleton auszeichnet,35 dann ist zu konstatieren, dass sich hier die »Fiktion« die »Reflexion« ganz einverleibt hat. Eine gewisse Dominanz des Erzählerischen ist bei Musils Feuilletons generell zu beobachten, was bedeutet, dass auch die Reflexion häufig Gegenstand der Erzählung ist und nicht von außen an die Erzählinhalte herangetragen wird. Obwohl der Hundemord das zentrale Thema von Die Durstigen ist, gibt es darin auch noch viele gleichsam freischwebende Erzählinhalte, die keinen Reflexionen unterzogen und so auch nicht auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin durchleuchtet werden. Mit seinem Zentralereignis und seinem peinlich-symmetrischen Aufbau, mit dem Tier, das in das Zentralereignis involviert ist, mit der Ausstellung einer nicht gänzlich zuverlässigen Erzählerfigur und einer freilich nur rudimentären Milieudarstellung weist die Erzählung Züge einer Novelle auf.36 Das Ausschnitthafte dagegen, das mit dem Abgerundeten so befremdlich im Widerstreit liegt, passt eher zum Genre der Short Story, das sich im deutschen Sprachraum erst nach dem Zweiten Weltkrieg so richtig durchzusetzen begann.37 Man könnte Die Durstigen so gattungsmäßig als einen Text sehen, in dem eine alte Erfolgsgattung nachklingt, und eine neue sich ankündigt. So betrachtet, erscheint die Erzählung als ein eminentes literaturgeschichtliches Übergangsphänomen. 35
36 37
Sibylle Schönborn: ». . . wie ein Tropfen ins Meer«. Von medialen Raumzeiten und Archiven des Vergessens: das Feuilleton als ›kleine Form‹, in: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. v. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel u. Dirk Göttsche. Tübingen 2007, S. 197–208, hier S. 197. Zu Musils Verständnis dieser Gattung s. Birgit Nübel: Novelle, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 1), S. 663–669. Auch auf diese Zuordnungsmöglichkeit wies mich Peter Utz hin.
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Es käme durchaus einer »Unterlassungssünde«38 gleich, wenn man den Durstigen keine Beachtung schenkte. Bei allen Bemühungen, den Text zu erhellen, darf man sich das Staunen gestatten über die unvergleichliche und – bei Musil keine Selbstverständlichkeit – höchst gelassene Erzählkunst, die ein abschließendes Zitat nochmals vor Augen führen soll: Jenseits lagen die übermannshohen Kukuruzfelder. Wenn man hindurchstreift und etwas am Gewissen hat, wispern sie ganz erstaunlich. Und dann kam der See; der Weg, die Bergflanke hinauf. Durch den Wald von Edelkastanien. Und Ahorn. Der See sinkt immer tiefer. Aber keiner von uns war je über das Wirtshaus am Weg hinausgekommen, wo es Brotwecken gab und Wein. Die Hitze des Tages verglühte aus unsern Gesichtern, und die Hitze des Weins ging langsam in ihnen auf wie der Mond in Wolken. Unter den Bäumen dunkelte es; ein Windlicht wurde auf den Steintisch gestellt. (GW 7, S. 645 f.)
38
Habicher: Kann ein Hund jauchzen? (Anm. 10), S. 168, bringt, wie Gschwandtner: Ekstatisches Erleben (Anm. 4), S. 128, schon feststellt, selber gute Gegenargumente gegen seine Einschätzung, es könnte »von einer Unterlassungssünde kaum gesprochen werden«, wenn Die Durstigen von der »Musilexegese« »unbemerkt geblieben wäre«.
Walter Fanta
Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten Abstract: In Nachlaß zu Lebzeiten (Legacy In Lifetime; 1935/1936) Robert Musil (re-)edited texts written between 1913 and 1932 for various newspapers. Employing the category »text-genetic dossier« from critique génétique, the article records and analyzes evidence both of the book’s production and of the work on the earlier versions as found in Musil’s estate. The short prose texts in Nachlaß zu Lebzeiten are the product of several genetic processes during three writing phases: the draft of the texts, their editing for the feature page, and their revision for the book. The decisive question is: To what extent do the book and the newspaper versions differ from each other? Eventually, a new editorial approach is established: Vols. 8–9 of the new Gesamtausgabe (Complete Edition) will present all of Musil’s contributions to magazines and newspapers in their strict chronological order rather than according to genre.
1. Was ist ein textgenetisches Dossier? In den Worten von Almuth Grésillon, die an der Begründung dieser philologischen Methode maßgeblichen Anteil hatte, geht es der critique génétique um die Erforschung des Herstellungsprozesses von Texten anhand der Entstehungszeugnisse. Die Forschungsrichtung fokussiert zwei Gegenstände, den Akt des Schreibens einerseits, die Auseinandersetzung mit literarischen Manuskripten als Repräsentanten des unfertigen Werks andererseits. Die Objekte der Erforschung »sind geschriebene, im Allgemeinen handschriftliche Dokumente, die, in bestimmte Zusammenhänge eingeordnet, die ›Urgeschichte‹ eines Textes und die sichtbare Spur eines schöpferisches Prozesses darstellen«.1 Zweck und Ziel ist es, den Schaffensprozess mit induktiven Verfahren zu analysieren, um zu Erkenntnissen über das Schreiben zu gelangen, die über das Aufgabengebiet der Literaturwissenschaften hinausweisen, zu einer Kulturgeschichte des Schreibens beitragen, Erkenntnisinteressen der Kreativitätspsychologie und sogar der Pädagogik berühren, insofern als die Arbeitsweisen von Autorinnen und Autoren Modelle für den Unterricht liefern. Doch kann die critique génétique auch die Geschichte der Entstehung eines vom Autor/von der Autorin publizierten Textes aus seinem avant-texte dokumentieren; im Zusammenhang damit dienen ihre Instrumente besonders der Edition von Fragmenten, indem sich aus der Anwendung ihrer Unter1
Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Bern 1999 (= Arbeiten zur Editionswissenschaft, Bd. 4), S. 22.
Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten
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suchungskriterien auf nachgelassene Schriften auch ein neuer Editionstyp ableitet, die edition génétique, der es primär nicht um die Rekonstruktion und Präsentation des aus den Dokumenten abgeleiteten Werkes geht, sondern um die Präsentation der Dokumente selbst. Ohne weitere theoretische oder methodologische Implikationen zu erörtern,2 sei an dieser Stelle festgehalten, dass der textgenetische Diskurs einen offenen Textbegriff privilegiert. Das nur lückenhaft vorhandene Entstehungsmaterial zu einem abgeschlossenen Werk wird weniger häufig zum Forschungsobjekt gewählt als ein schwer abzugrenzender Manuskriptbestand, der als Schreibprojekt ein instabiles, fluktuierendes, fragmentarisches Textkontinuum repräsentiert. Je mehr und je deutlicher die Merkmale des Fragmentarischen zutreffen, desto angemessener erscheint die Einbeziehung textgenetischer Fragestellungen. Beim Nachlaß zu Lebzeiten handelt es sich äußerlich betrachtet nicht um ein Fragment, sondern um die geordnete Veröffentlichung eines literarischen Werks nach dem Willen des Autors. Robert Musil ließ sich im September 1935 von Otto Pächt davon überzeugen, die verstreuten Texte, die er in Zeitungen publiziert hatte, in einem eigenen Band zu sammeln; Ernst Polak stellte den Kontakt zu dem von Simon Menzel in Zürich eben erst gegründeten Humanitas-Verlag her, der sich bereit erklärte, den Nachlaß zu Lebzeiten zu drucken.3 Nach einer nicht ohne Kontroversen zwischen Autor und Verlag verlaufenden Vorbereitung erfolgte die Drucklegung im Dezember 1935, auf der Titelseite ist jedoch 1936 als Erscheinungsjahr angegeben. In dreifacher Hinsicht wirft der Nachlaß zu Lebzeiten Probleme auf, zu deren Lösung das Studium der Genese beitragen könnte: Erstens deutet sich bereits im Titel die Antizipation des Fragments an, in der »Vorbemerkung« erläutert der Autor, was damit gemeint sei, einen »Nachlaß [. . .] selbst bei Lebzeiten« herauszugeben; er habe »beschlossen, die Herausgabe des meinen zu verhindern, ehe es soweit kommt, daß ich das nicht mehr tun kann.«4 Damit verweist er in uneindeutiger, ironischer Weise auf sein noch unabgeschlossenes Haupt- und Gesamtwerk. In den Nachlassvorstufen zur »Vorbemerkung« wird die Verbindungslinie noch deutlicher, die Musil zwischen dem Nachlaß zu Lebzeiten und dem Torso des unvollendeten Romans in Gestalt des sich abzeichnenden tatsächlichen Nachlasses ziehen will. Der Nachlaß zu Lebzeiten dient ebenso wie die zeitgleiche Aphorismenproduktion, die Arbeit am Pariser Vortrag zum Verhältnis zwischen Kultur und Politik und die daraus erwachsende Rede Über die Dummheit auch dazu, der Krise durch die ständig verzögerte Publikation des Mann ohne Eigenschaften zu begegnen. Zweitens wirft das Zustandekommen der Textauswahl im Herbst 1935 editorische Fragen auf, darin gipfelnd, ob und wie Musils eigene Herausgeber-Entscheidungen in der 2 3 4
Vgl. dazu Grésillon (ebd., S. 24–44). Vgl. dazu die ausführliche Schilderung bei Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1211–1220. KA/Lesetexte/Bd. 8 Nachlaß zu Lebzeiten/Vorbemerkung/7.
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Walter Fanta
textkritischen Ausgabe seiner Produktion für das Feuilleton zu respektieren seien. Drittens ist das Verhältnis der den Texten zugrunde liegenden Zeitungsfassungen zur Buchfassung zu klären, wobei es oft zu einem Text mehrere Zeitungsfassungen gibt. Das vierte Thema in Verbindung mit der Textgenese reicht über Editionsfragen hinaus: Unterscheidet sich Musils Produktionsweise für das Feuilleton von der für den Roman? Es gelte die Behauptung in der »Vorbemerkung« zu prüfen, was man für »Umschreibungen späterer Zustände halten könnte«, sei »eher ein Vorausblick gewesen, getan in ein Fliegenpapier und in ein Zusammenleben von Affen«,5 das heißt, die Manuskriptvorstufen im Nachlass Musils im Vergleich mit den Zeitungsfassungen vor dem Horizont der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg zu begreifen. Der Nachlaß zu Lebzeiten ist nicht nur eine Publikation der Jahre 1935/1936, er steht an der Schnittlinie des Schreibens des frühen und des späten Musil, des Schreibens am Roman und des Schreibens für das Feuilleton.6 Die wichtigste Methode in der Werkzeugkiste der critique génétique bei der Rekonstruktion einer bestimmten Textgenese ist die Zusammenstellung eines dossier génétique. Damit meint Grésillon Folgendes: »Ein dossier génétique wird verstanden als die Summe der schriftlichen Dokumente, die der Genese eines bestimmten Schreibprojektes zugeordnet werden kann, unabhängig davon, ob diese zu einem vollendeten Werk geführt hat oder nicht.«7 Maßgeblich bei der Erstellung eines textgenetischen Dossiers ist die Identifizierung und Lokalisierung der zugehörigen Manuskripte, ihre kodikologische Erschließung, um zu Datierungen zu gelangen, die Herstellung einer chronologischen Ordnung und die Entzifferung. Wichtig aus der Sicht der critique génétique ist dabei die Feststellung von »Schreibspuren«, das betrifft die feststellbaren Textschichten am Manuskript, es geht darum, »graphischräumliche Spuren in textgenetisch-zeitliche Indizien zu verwandeln.«8 Von Anfang an ist die Erarbeitung des textgenetischen Dossiers darum bemüht, die Verhältnisse zu klären, die als Makro-Varianz bezeichnet werden, also das Problem der Fassungen zu lösen. Die aufgezählten Erschließungsschritte sind für Musils Nachlaß zu Lebzeiten in Verbindung mit editorischen Zielsetzungen verfolgt worden; beigetragen haben alle dem literarischen Nachlass Robert Musils geltenden bisherigen Editionsprojekte. Die Ergebnisse sind in der Klagenfurter Ausgabe zusammenfassend dokumentiert. Von dieser lässt sich sagen, dass sie die textgenetischen Dossiers zum Nachlaß zu Lebzeiten in Form digitaler Repräsentationen enthält, und zwar in einer speziellen, die Potentiale der Digitalität ausschöpfenden Weise. Geboten werden sie auf drei durch Hyperlinks verknüpften Präsentationsebenen: a) durch tabella5 6 7 8
KA/Lesetexte/Bd. 8 Nachlaß zu Lebzeiten/Vorbemerkung/10. Den Zusammenhang betont auch Thomas Hake: Nachlaß zu Lebzeiten (1936), in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 320–334. Grésillon: Literarische Handschriften (Anm. 1), S. 140. Ebd., S. 150.
Heft I/25 = 1 S. Heft II/7–9 = 3 S.
5
10 11 12 13 14 15
7 8 9
Heft 21/117–120 = 4 S. IV/2/193 = 1 S. IV/2/189–191 = 3 S. IV/2/191–193 = 3 S. III/3/13–16 = 4 S. III/3/17–34 = 18 S.
IV/2/197–198 = 2 S. IV/2/188 = 1 S. IV/2/199–201 = 3 S. IV/2/344–347 = 4 S. IV/2/194–195 = 2 S.
Heft I/23–24 = 2 S.
4
6
Heft 7/6 = 1 S. Heft 17/4 = 1 S. Heft 9/0c = 1 S.
Datierung
1919–1920 1919–1920 1919–1920 1919–1920 1919–1920
Hinter einem Sarg Tod von Vater und Mutter Reise in die Kindheit Die Amsel/Reise in die Kindheit Die Amsel »Alte Fassung« Die Amsel von Robert Musil
ab Januar 1924 1924–1927 1924–1927 1924–1927 1927 1927
Phase III: vor der Drucklegung
Ein Soldat erzählt Umarbeitung des Anfangs Der Laut Ein Soldat erzählt Fragment Anfang der 2. Gesch.
Phase II: in der Nachkriegszeit
Entwurf Entwurf Entwurf Entwurf Typoskript Typoskript
Entwurf Entwurf Entwurf Typoskript Entwurf
Notizen Notizen
Entwurf
22. 9. 1915 10. 10. 1915 1916
Entwurf Entwurf Entwurf
ManuskriptTyp
Juni 1913 Mai 1914 wohl 1914
Phase I: während des Kriegs Geburtstag des Toten Die Nachtigall Schlachtberichte: Singen des Schrapnells Das Schrapnellstück od. der Fliegerpfeil auf Tenna Laut des Geschosses Beschießung: Das Singen
Inhalt
Tab. 1: Überblick über das textgenetische Dossier der Amsel.
Nachlass-Pagina, Zahl der Manuskript-Seiten
1 2 3
Nr. Stufe
208 ff. 211 212 ff. 189 ff. 185 ff. 185 ff.
198 ff. 198 ff. 202 ff. 198 ff. 200
203
204 f.
195 194 201
Endtext-Bezug Seite Ausgabe 1935/1936
Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten
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rische Übersichten, b) durch Transkriptionen der Manuskriptfassungen im Nachlass mit den entsprechenden Meta-Daten (Seitendokumentation) und c) durch Bilddateien der Faksimiles. Die Amsel mag als Beispiel dienen: Der umfangreichste Einzeltext des Nachlaß zu Lebzeiten weist auch die größte Anzahl von Nachlassvorstufen (54 Manuskriptseiten) auf (Tab. 1).
2. Integration oder Differenzierung? Es stellt sich die Frage, ob die Präsentationsform der textgenetischen Dossiers in der Klagenfurter Ausgabe für editorische Zwecke und für textgenetische Untersuchungen ausreicht. Die Qualität der Faksimiles lässt zu wünschen übrig,9 zudem ist es zweifelhaft, ob für bestimmte genetische Untersuchungen nicht überhaupt die Originale herangezogen werden müssen. Unklarheit bei der Abgrenzung ist zu vermeiden. Gehören die in unterschiedlichem Maß voneinander abweichenden Druckversionen der Zeitungsfassungen zum textgenetischen Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten? Grésillons Einführung ist auf Handschriften fixiert, erwähnt bestenfalls von den Autoren annotierte Druckfahnen als Bestandteile des dossier génétique; über im Druck Veröffentlichtes als Zeugnis eines durch die Publikation möglicherweise noch nicht abgeschlossenen Produktionsprozesses schweigt sie sich aus. Was ist überhaupt »ein bestimmtes Schreibprojekt«, wie es in der Definition von Grésillon als Bezugsgröße erscheint, statt des »vollendeten Werks«?10 Sollen auch alle Nachlassmanuskripte in das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommen werden, die (möglicherweise vorrangig) Genesen anderer Werke repräsentieren? Wie geht die critique génétique mit solchen Überschneidungen um, wie sie Musils Schreiben zeigt? Wie sind die Zeitungsfassungen einzuordnen? Handelt es sich bei ihnen jeweils um eigene Werke (im editorischen Sinn) und um eigene Schreibprojekte (im Sinn der critique génétique)? Die zentrale Antwort auf diese Fragen lautet: Die textgenetischen Dossiers bieten zweierlei Genesen, die der Zeitungsveröffentlichungen 1919–1932 und die der Buchveröffentlichung 1935/1936, die durch eine deutliche zeitliche Zäsur und eine markante Änderung des Publikationsziels voneinander getrennt sind. Die textgenetische und die editorische Erschließung könnten integrierend verfahren, indem sie die Zeugnisse der Herstellung der Zeitungsfassungen zu avant-textes der Buchfassung herabstufen, zu Varianten der Buchversion. Es wäre möglich, die Genesen aller Zeitschriften- und Zeitungs9
10
Vgl. Bernhard Metz: Bücher, nicht Texte: Warum wir Musil in der Klagenfurter Ausgabe nicht lesen können, in: Robert Musil in der Klagenfurter Ausgabe. Bedingungen und Möglichkeiten einer digitalen Edition. Hg. v. Massimo Salgaro. München 2014 (= Musil-Studien, Bd. 42), S. 197–217. Grésillon: Literarische Handschriften (Anm. 1), S. 140.
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Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten
Nachlass bei Tode (MoE)
Schreibprojekte 1935–1936
Über die Dummheit
Paris-Rede
Aphoristik
Nachlaß zu Lebzeiten
Zeitschriften- und Zeitungsfassungen Werk im Feuilleton
Textgenetische Dimension
Veröffentlichte Fassung
SelbstHerausgabe Editorische Dimension
Werk im Feuilleton
Veröffentlichte Fassung
NachlassFassungen
Abb. 1: Dimensionen der Genese des Nachlaß zu Lebzeiten.
veröffentlichungen, zu denen dann nicht nur die in den Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommenen zählen, zusammenfassend als ein Schreibprojekt zu sehen und Verfahren der textgenetischen Untersuchung und der Edition zu entwickeln, die auf das Studium und die Präsentation von Musils Arbeit für Zeitungen und Zeitschriften abstellen. Ebenso wäre es denkbar, differenzierender vorgehen, indem man jeden einzelnen Feuilleton-Beitrag Musils als eigenes Werk betrachtet, das dann auch als solches zu edieren wäre. Noch weiter wäre diese Differenzierung getrieben, wenn einzelne Publikationsfassungen gesondert behandelt werden würden, also zum Beispiel Römischer Sommer (Aus einem Tagebuch) (in Die Argonauten, 1914), getrennt von Römischer Sommer (Aus einem Tagebuch) (in Der Friede, 1918) und Fliegentod (in Prager Tagblatt, 1919) sowie schließlich von Das Fliegenpapier (in Vossische Zeitung, 1922). Der Fokus der textgenetischen Untersuchung und der Lektüre der Texte in einer Edition ist nach Belieben einzustellen, je nachdem, ob er auf Musils Arbeit für das Feuilleton liegt oder aber auf der Buchpublikation, die eine Resultante darstellt, im Sinne einer Betrachtung nach dem teleologischen Prinzip (textgenetisch) bzw. dem Prinzip der letzten Hand (editorisch). Nicht zu vergessen ist die geräumigere Perspektive der Gesamtintegration in ein einziges großes Schreibprojekt, den gesamten literarischen Nachlass Robert Musils als Werk, zu dem der Nachlaß zu Lebzeiten nur die Vorwegnahme eines kleinen Teils bildet. Die Grafik veranschaulicht die Komplexität dieser Beziehungen (Abb. 1).
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3. Das textgenetische Dossier der Buchfassung In das textgenetische Dossier zur Buchveröffentlichung Nachlaß zu Lebzeiten im engeren Sinn sind aus dem Nachlass Musils nicht mehr als einige wenige annotierte Zeitungsausschnitte mit »Korrekturbeiblättern« und das vergleichsweise umfangreiche Material zur »Vorbemerkung« aufzunehmen. Hinzu kommt aber ein Sonderfall, der aufschlussreiche kleine Bestand der Wienbibliothek im Rathaus zum Slowenischen Dorfbegräbnis. Man kann sich aus diesen Rudimenten ungefähr vorstellen, wie Musil bei der Textauswahl, der Textredaktion und der Zusammenstellung eines Druckmanuskripts vorgegangen ist. Die Druckvorlage für den Verlag ist, wie in den Fällen aller anderen Buchpublikationen Musils auch, nicht erhalten. Das hat damit zu tun, dass er die Verlagsmanuskripte seiner Bücher entweder nicht zurückverlangte oder sie 1938 nicht ins Schweizer Exil mitnahm, was die Deutung nahelegt, dass ihm die Entstehungszeugnisse seiner schon publizierten Werke nicht wichtig waren. Für die Klärung der Genese sind ergänzend zum erhaltenen textgenetischen Dossier einerseits biographische Dokumente wie die Korrespondenz mit Otto Pächt und Simon Menzel und der Bericht Otto Pächts hinzuzuziehen, andererseits kann eine exakte Ermittlung der textuellen Differenzen zwischen dem Gesamtkorpus der Feuilletonproduktion und dem Textkorpus des Nachlaß zu Lebzeiten wichtige Aufschlüsse geben. Damit wird das Konzept der critique génétique erweitert, die bewusst nahezu ausschließlich die Handschriften in den Blick nimmt – darauf beruht ja das Konzept des avant-texte (eben als Text vor der endgültigen Fassung, vor dem Drucktext). Die Erweiterung geschieht im Interesse einer Textgeschichte, die mehr ist als die bloße Rekonstruktion des Schreibprozesses. Pächts Bericht betont den bemerkenswert niedrigen Stellenwert, den der Autor selbst der Anthologie zubilligte: Als Sammlung von aus ihren Verstecken ans Tageslicht gebrachten literarischen Miniaturen konnte der Band ruhig den Anspruch erheben, als Neuerscheinung zu gelten. Ich persönlich vertrat den Standpunkt, der Reiz der knappen Form, der von Musils Kleinmalerei ausging, könnte vielleicht seinen Stil Leuten nahe bringen, die sich durch die Riesenmasse und Gedankenschwere des Hauptwerkes von seiner Lektüre hatten abschrecken lassen. Musil, in kleinen Dosen verabreicht, sollte die Aufnahmebereitschaft der Leserschaft für schwerere Kost erhöhen. Es war nicht leicht, Musil zur Herausgabe des Essay-Bandes zu bewegen. Er hielt nicht viel von diesem Plan und machte sich wenig Illusionen über die Erfolgschancen des kleinen Buches. Sein Pessimismus, der leider recht behielt, fand in der unnachahmlichen Prägung des Titels beredten Ausdruck. Die sozusagen praktische Verantwortung für die ›Zwischenveröffentlichung‹, wie er sie nannte, zu übernehmen, lehnte er ab.11 11
Otto Pächt: Zur Vorgeschichte des Buches Nachlaß zu Lebzeiten, in: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hg. v. Karl Dinklage. Reinbek b. Hamburg 1960, S. 386–387.
Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten
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Der Erinnerung des Förderers und Vermittlers entsprechen die Stellen in den Briefen Musils, in denen mehrfach Besorgnis über den Fortgang der Zusammenarbeit mit dem Züricher Verlag zum Ausdruck kommt. »Mein kleiner Schweizer Verleger macht mir große Sorgen, da er anscheinend nicht weiß, wie man ein Buch rechtzeitig herausbringt.«12 Der direkte Briefkontakt mit Simon Menzel belegt, dass Musil seinen Part am Zustandekommen des Buchs rasch und professionell erledigte und eben dies auch vom Verlag erwartete: Sehr geehrter Herr Doktor! Ich sende Ihnen morgen, so daß Sie es Montag Vormittag noch erhalten, den ersten Bogen und die drei Bogen Seite 145 bis 192 zurück. Mit der Korrektur Seite 17 und folgende kann ich leider solange nicht fortfahren, als Sie mir nicht meine erste Korrektur zurücksenden, die ich express erwarte. Auch habe ich noch keine Nachricht von Ihnen in der Frage des Umbruchs der ›Bilder‹. Ich will natürlich den Umbruch nicht zweimal korrigieren. Ich habe Ihnen telephonisch und schriftlich meine Einwände bekanntgegeben. Ich habe den Eindruck, daß Sie sich diesen nicht entziehen werden; sollten Sie aber doch die erste Form des Umbruchs beibehalten wollen, so werde ich mich dem natürlich nicht widersetzen, wenn ich es auch für sehr unglücklich hielte: aber in jedem Fall benötige ich auch diese Ihre Entscheidung, um fortzufahren oder die zweite Ausgabe des Umbruchs abzuwarten! An Kleinigkeiten wäre noch zu bemerken: Seite 10 befindet sich eine Auslassung, auf die ich Ihr Gedenken lenke. Seite 65 bis 80 fehlen. Der Satz ist häufig ziemlich krumm gerändert. Mit aufrichtigen Grüßen13
Insgesamt nahm die Vorbereitung des Buchs vom Abschluss der Vereinbarung Ende September bis zum Druck Anfang Dezember 1935 kaum mehr als zehn Wochen in Anspruch. Am Ende ging es dem Autor allerdings zu schnell, er verwahrte sich gegen den Druckbeginn vor dem von ihm selbst in aller Förmlichkeit ausgesprochenen Imprimatur: Sehr geehrter Herr Doktor! Heute habe ich durch eine Anfrage bei Dr. Polak erfahren, daß Sie das Buch ausdrucken. Die Maßnahme selbst kann ich mir durch den Zeitmangel erklären, warum Sie aber nicht mein Einverständnis eingeholt und nicht einmal meine Telegramme und Expreßbriefe beantwortet haben, ist mir völlig unverständlich. Es ist doch allgemein Gepflogenheit – und ich glaube sogar Verlagsrecht – daß das Imprimatur vom Autor erteilt wird; ebenso wie das erst auf Grund eines umbrochenen Abzugs geschieht, da sich erfahrungsgemäß beim Umbruch Fehler einschleichen und schließlich immer auch noch Kleinigkeiten zu besorgen sind, sowohl an Druckfehlern wie an Autorworten. Darum hätte ich im vorliegenden Fall, wenn ich auf die zweite Korrektur 12 13
KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Otto Pächt, 1. 12. 1935. KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Simon Menzel, 30. 11. 1935. Der Brief liegt nur als Entwurf in einer der Briefkonzepte-Mappen in Musils Nachlass vor (BK I/27), eine Unterschrift fehlt.
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Abb. 2: Das »Korrektur-Beiblatt zu Agoag« (Mappe II/1/67). verzichten sollte, zumindest darauf bestanden, daß am Ende Platz für ein Druckfehlerverzeichnis gelassen werde, falls an irgendeiner wichtigen Stelle ein Malheur passiert. Außerdem hatte ich vor, ein Verzeichnis meiner andern Bücher mit Ihrem Einverständnis ans Ende zu setzen. Ich werde mich also sehr freuen, wenn ich Sie zu Ihrem Handstreich beglückwünschen kann, fürchte aber bis dahin doch weit mehr, daß ein und das andre Unglück geschehen sei, über das es mich wenig trösten kann, daß ich es nicht zu verantworten habe. Ihren Nachrichten und nolens volens dem fertigen Buch baldigst entgegensehend, bleibe ich mit besten Grüßen Ihr ergebener14
14
KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Simon Menzel, 4. 12. 1935. Auch dieser Brief liegt nur als Konzept vor (BK I/30).
Seit diesem geistigen Verrat, der auf die geringere Verstandeskühnheit der Frau zurückzuführen ist, schränkte unser Held seine Fahrten etwas ein, und wenn er sie antrat, so geschah es ohne weibliche Begleitung. Ihm ahnte ein wenig von der männlichen Schicksalswahrheit, die in dem Ausspruch liegt: Der Starke ist am mächtigsten allein!
Daß der Starke am kräftigsten mächtigsten allein sei Nach diesem Erlebnis erkannte unser Held, daß Frauen der Schönheit des Abstrakten unfähiger sind als der Mann Nach diesem Erlebnis schränkte unser Held seine Fahrten etwas ein, u wenn er sie antrat, so tat er geschah es ohne weibliche Begleitung, denn er hatte erkannt, daß Frauen der kühnen Abstraktion des Mannes nie zu folgen vermögen nicht befähigt sind Abstraktionskraft entweder oder an den Frauen u er entschied daß das Frauenherz nicht in demselben Maße fähig sei wie das des Mannes sich über die Wirklichkeit zu erheben, / von der gemeinen Wirkl. abzusehn, wie das des Manns Er zweifelte daran, daß die Frau männlichen Gedanken zu folgen vermöge Nach diesem Erlebnis machte sich unser Held die Wahrheit des Ausspruchs die Wahrheit des Spruchs zu eigen daß sich die Leidenschaft der Frau nicht im selben Maße an . . . entzünden tröstete sich mit der echt männlichen Wahrheit: Der Starke ist am mächtigsten allein! Erlebnis, das ihn an der weiblichen Fassungskraft zweifeln ließ Seither Seit diesem geistigen Verrat sagte sich unser in seinem männlichen Gedankenflug gestörte | – Held: machte sich – zu eigen Die auf das die geringe Fähigkeit der Frau von der Wirklichkeit zu abstrahieren zurückzuführen ist ihre Gedanken über die Wirkl. zu erheben Ihm ahnte, daß nur ein Mann die volle Wahrheit des Ausspruchs versteht Damit ohne weibliche heroischen Ausspruchs Ihm ahnte die Grundwahrheit alles heroischen Geistes Geschehens: Ihm ahnte etwas von der heroischen Wahrheit, die in dem Ausspruch liegt:
Damals ahnte dem Entdecker des Omnibus, daß irgend etwas an seiner Entdeckung nicht stimme; aber wie das schon so ist, solche Ahnungen gehen vorüber.
Tab. 2: Der Riese Agoag – synoptische Textdarstellung.
Nur eine einzige ansehnliche Schöne hatte ihn einmal, und zu aller Überraschung, tieferer Teilnahme gewürdigt; aber sie liebte es, ihn mit zärtlichen Augen anzuschaun und dabei die Achseln zu zucken. Und nachdem sich das kurze Schwanken in der Wahl von Koseworten gelegt hatte, das gewöhnlich zu Beginn einer Liebe statt hat, nannte sie ihn: »Mein Eichhörnchen!«
Aber Und niemand nahm sich die Mühe Anteil an ihnen; und ja am wenigsten die Frauen, obwohlgleich sie ihn wegen seiner lebhaften Intelligenz achtungsvoll behandelten. Einmal würdigte ihn wohl eine ansehnliche Schöne, zu aller Überraschung, tieferer Teilnahme; aber sie liebte es, ihn mit zärtlichen Augen anzuschaun und dabei die Achseln zu zucken. Und als sich das kurze Schwanken in der Wahl der Koseworte gelegt hatte, das gewöhnlich zu Beginn einer Liebe statthat, nannte sie ihn: »Mein«
und als ihm einmal eine stattliche Schöne überraschend ihre Gunst schenkte, kam sie auf den Einfall, ihn »mein Eichhörnchen« zu nennen.
Buchfassung
Korrektur-Beiblatt
Zeitungsfassung
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In Musils Nachlass existiert nur ein einziger Splitter als Dokument direkt für den Überarbeitungsprozess an den Zeitungsfassungen, das »KorrekturBeiblatt zu Agoag«,15 eher zufällig als Rückseite in einem Konvolut mit Vorwort-Entwürfen überliefert, in dem Musil interessanterweise nicht nur die Entwürfe der »Vorbemerkung« zum Nachlaß zu Lebzeiten sammelte, sondern auch zum Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften von 1932 und zu dessen geplanter Zwischenfortsetzung von 1937. Das »Korrektur-Beiblatt« in der typischen Art der Schmierblätter mit Formulierungsexperimenten demonstriert, wie Musil aus der Version der Kurzerzählung Der Riese Agoag in der Vossischen Zeitung von 17. März 1927 die Buchversion fabrizierte, indem er den Anfang und das Ende, mit einer neuen Schlusspointe versehen, unter Berücksichtigung der Notizen umformulierte (Abb. 2; Tab. 2). Neben diesem Splitter ist ein zweites vollständiges textgenetisches Dossier zu einem Einzeltext erhalten, in diesem Fall von Musil selbst zusammengestellt, unter anderem mit den Zeugnissen der Umformung des am 18. Mai 1922 in der Vossischen Zeitung veröffentlichten Texts Slowenisches Begräbnis in Slowenisches Dorfbegräbnis im Nachlaß zu Lebzeiten. Musil schenkte das aus sieben Manuskriptblättern bestehende Dossier im Dezember 1935 den »Städtischen Sammlungen« der heutigen Wienbibliothek, in deren Archiv es sich erhalten hat, als Gegengabe für eine Unterstützung durch den Kunstbeirat der Stadt Wien.16 Er selbst nahm mit Rotstift eine Nummerierung mit römischen Ziffern vor, um die Stufen der Textentstehung zu suggerieren, damit wurde er nicht nur zum Buchherausgeber seiner Feuilletonbeiträge, sondern auch Redakteur einer exemplarischen textgenetischen Edition in eigener Sache. In ihrer Faksimileausgabe von 1992 veröffentlichte die Wiener Stadt- und Landesbibliothek (die heutige Wienbibliothek im Rathaus) neben dem handschriftlichen Ausgangsentwurf auch die Abbildung handschriftlicher Korrekturen Musils am Zeitungsdruck im Zuge der Adaption für den Nachlaß zu Lebzeiten.17 Die um den Schluss gekürzte Korrekturversion geht teilweise in eine andere Richtung als die schließlich im Nachlaß zu Lebzeiten abgedruckte Endfassung, auch wenn der Titel schon Slowenisches Dorfbegräbnis lautet. Nach neuerlicher Überarbeitung und endgültiger Titeländerung entstand die dreiseitige Typoskript-Fassung (Abb. 3 u. 4).18 Die sehr sporadischen Überbleibsel lassen für die Herstellungsarbeit am Druckmanuskript des Nachlaß zu Lebzeiten insgesamt folgende Schlussfol15 16 17
18
KA/Transkriptionen/Mappe II/1/67. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 19 Korrespondenz/Robert Musil an Hermann Reuther, 15. 8. 1935 u. 18. 12. 1935. Vgl. Robert Musil: Slowenisches Dorfbegräbnis. Faksimile der Handschrift und Druckvorlage. Hg. v. Herwig Würtz. Wien 1992, S. III . Vgl. auch in KA/Transkriptionen/Handschriften und Autographen aus weiteren Archiven und Beständen/Wiener Stadtbibliothek/Stadtbibliothek III . Vgl. Musil: Slowenisches Dorfbegräbnis (Anm. 17), S. IV .
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Abb. 3: Korrekturvorlage Vossische Zeitung, KA/Transkriptionen/ Handschriften und Autographen aus weiteren Archiven und Beständen/ Wiener Stadtbibliothek/Stadtbibliothek II .
gerungen zu: Musil arbeitete sehr rasch, sehr genau, um punktuelle, aber signifikante Änderungen vorzunehmen. Sein Verfahren gleicht jenem, das er auch bei der Arbeit an den Kapitelentwürfen des Romans verwendete. Wie er im Fall des Mann ohne Eigenschaften die alten Skizzen der 1920er Jahre bearbeitete, so zog er im Fall des Nachlaß zu Lebzeiten die Zeitungsausschnitte für die Bearbeitung mit verschiedenen Farbstiften heran, verwendete Schmierblattnotizen für die Neuentwürfe, die er unter fortgesetzten Korrekturen handschriftlich ins Reine schrieb und von Martha Musil abtippen ließ; schließlich korrigierte er noch die Druckfahnen des Verlags. Die Schreibszene Musils besteht grundsätzlich in der Überformung früher Stufen, als Schriftsteller ist er stets in erster Linie Redakteur seiner selbst. Was diesem Workflow zu fehlen scheint, sind die für die Arbeit am Mann ohne Eigenschaften charakteristischen konzeptionellen Notizen und die Reflexionen, die den Schreibprozess begleiten. Doch als Selbstkommentar zur Entstehungsgeschichte des Nachlaß zu Lebzeiten wertvoll ist das Entwurfsmaterial zur »Vorbemerkung«. In der ersten von vier Fassungen mit der Überschrift »Vorwort I« fasst Musil seine Intentionen folgendermaßen zusammen:
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Abb. 4: »Korrektur-Beiblatt«, KA/Transkriptionen/Handschriften und Autographen aus weiteren Archiven und Beständen/ Wiener Stadtbibliothek/Stadtbibliothek III .
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Was hier erscheint, hat dies überdies schon einmal getan; es ist nicht mehr zu verhindern, und ich habe mich nur bemüht, es ein wenig zu verbessern, ohne es entscheidend zu verändern. Ich habe erst nach dem Krieg und dem Verlust meines Vermögens diesen Versuch gemacht, manchmal kleine Arbeiten zu veröffentlichen, ungern, wie ich gestehen muß [. . .]. Ich habe dabei teils auf Notizhefte zurückgegriffen, und so sind die kleinen, wiedergeformten Eindrücke entstanden, die ich hier als Bilder zusammenfasse, teils die kleinen Geschichten, die keine sind, und die Betrachtungen, die sich in der Tat nicht gerade durch Freundlichkeit gegen das Leben (von) damals auszeichnen.19
Die Vorwort-Entwürfe unterscheiden sich sehr deutlich von dem als Prolog des Buches veröffentlichten Text. Stufe für Stufe nehmen sie immer mehr die Gestalt einer Rückschau auf die Geschichte des eigenen Schreibens an. Der Autor geht darin relativ ausführlich auf die Umstände der Entstehung seines Frühwerks – Törleß, Vereinigungen, Schwärmer – ein, kommt auch auf den Mann ohne Eigenschaften zu sprechen und verliert den Bezug zum Nachlaß zu Lebzeiten aus den Augen. Zur ausführlichsten und letzten Fassung »Vorwort IV« notiert Musil als alternativen Titel oder möglichen Untertitel »Theoretisches zu dem Leben eines Dichters«.20 Der Umschlag des Konvoluts ist von Musil mit »Selbstkritik und -biographie« beschriftet, Martha Musil hat auf einem weiteren Umschlag »Fallengelassene Vorreden (Vermächtnis)«21 hinzugefügt, da das Konvolut auch Prolog-Entwürfe zu Teilen des Mann ohne Eigenschaften enthält. In der Klagenfurter Ausgabe sind diese Texte in einer eigenen Abteilung (Bd. 10) mit poetologischen Schriften unter dem Titel »Selbstkommentare aus dem Nachlass« als Lesetexte konstituiert. Diese Zuordnung trägt dem genetischen und funktionalen Zusammenhang zwischen dem Nachlaß zu Lebzeiten und dem Mann ohne Eigenschaften insofern Rechnung, als Musil in der Schreibphase um 1936 seine Schreibprojekte unter einem integrierenden Gesichtspunkt zu betrachten begann, den er am Ende mit der Formel »Die Arbeit am Rapial ist gleichbedeutend mit der Liquidierung von Band I«22 zusammenfassend ausdrückte. Zur Vorgeschichte der Konzeption des Nachlaß zu Lebzeiten liegen zwei Ansätze vor: Unter dem Titel »Kleine Literaturgeschichte« wollte Musil im Sommer 1931 angesichts einer finanziellen Krise des Rowohlt-Verlags eine Entlastungsinitiative in Form einer Serie in der Berliner Zeitung am Mittag starten. Er erhielt für sechs Glossen von der Zeitung bereits einen Vorschuss. Ein Doppelblatt im Nachlass23 enthält den Plan und den Anfang des Einleitungstexts für das Projekt; in dem Plan vermerkt sind acht Vorhaben, zu fünf von ihnen existierten bereits veröffentlichte Texte: 19 20 21 22 23
KA/Transkriptionen/Mappe II/1/54. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/52. KA/Transkriptionen/Mappe II/1/68. KA/Transkriptionen/Mappe II/2/24. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/178–181. Vgl. auch Notizen dazu in Mappe III/3/37.
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1. Der Dichter. 2. Der Doppelmäzen. 3. Der Malsteller. 4. Der Duden. (Wa-a-grecht). 5. Die Krawatte (Rest des Aufhängers) die Vorsteckkrawatte, Röllchen udgl. stehen technisch höher als Binder – sind eigentlich Fortschritte. Ihre Beliebtheit hat recht. 6. Triëdere. 7. Ödipusfreie Mütter od. Prophylaxis der Neurose. Von Wr. Bädersommer ausgehn – sie crawlen – Kreuzbug. 8. Zeitalter nach Händen. Tote Hand – Starke H. Hohle H. (Göthe)24
Tatsächlich in der Berliner Zeitung am Mittag veröffentlicht wurde nur ein Text, nämlich Was ist ein Dichter? Eine unzeitgemäße Frage. Als »Der Dichter« sollte diese Glosse am Beginn der Serie stehen. Der Plan und der folgende einleitende Entwurf »Kleine Literaturgeschichte« von 1931 lassen sich als Vorstufenprojekt des Nachlaß zu Lebzeiten bezeichnen, den Nukleus dazu bildet jedoch bereits das Konzept für das »Tierbuch/Idyllen« von 1918/1919. Tierbuch/Idyllen: Das Fliegenpapier Tanglefoot. Eine Fliege stirbt. Der Feigenbaum am Caldonazzosee (zusammen mit S. Giuliano in der Hand des Mädchens). Das lachende Pferd. Die kleine Geisterkatze in Bozen. Pepi. Hunde in Palai. Schweineschlachten in Palai. Der Löwen Coitus in Schönbrunn (Gridschji). Die Affeninsel in Villa Borghese. Orang Utans (Das Liebespaar). Die Hunde auf der Fram. TierErkenntnis im Grunewald. (Tierbuch eines Menschen, der sich nie Tiere gehalten hat.) Eventuell: Du enthältst Mikroorganismen. Die junge Kuh in Villa Borghese. Krankheit und Gott (Lärchenwald, Wasserfall, Gridschi). Der heilige Berg (Colle di Lana. In der Val Sugana blühten damals schon die Veilchen.) Lawine und Hoblicht. Die Proprietäten des Toten. Der Deserteur. Gott am Isonzo.25
Als sich Musil von Juni bis August 1915 als Soldat im Fersental aufhielt, notierte er neben regionalen Sprachproben auch Naturbeobachtungen und Einzelheiten vom Frontalltag, Textelemente, die er später in die Novelle Grigia einfließen ließ. Motive wie »Hunde in Palai«, »Schweineschlachten in Palai« und der Name »Gridschi« werden 1918 als Stichworte zu einem »Tierbuch« aufgeführt. Wenig später notiert er unter dem Obertitel »Idyllen« Überlegungen zu einem Anfang für »Gridschi«, eine Erzählung, die er in der besonderen Landschaft von »P.« (Palai oder Pergine), »an der Grenze von Märchen«26 spielen lassen möchte. Die später zu Grigia und zur Portugiesin (»Die kleine Geisterkatze in Bozen«) wandernden Notizen dieser Schreibperiode erscheinen noch als Teil des »Idyllen«-Projektes, zu dem sich Musil auch den alternativen Titel »Geschichten ohne Anfang und Ende«27 überlegte. Darin deutet sich bereits der Abschnittstitel »Geschichten, die keine sind« im Nachlaß zu Lebzeiten an. Als konzeptioneller Prototyp der Buchveröffentlichung von 1935 ist das »Idyllen«-Projekt auch durch das Material der »Bilder«, die auf Musils Rom- bzw. Italien-Aufenthalte vor dem Ersten Weltkrieg zurückgehen (»Das lachende Pferd«; »Die Affeninsel in Villa 24 25 26 27
KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/178. KA/Transkriptionen/Heft II/55. KA/Transkriptionen/Heft II/64. KA/Transkriptionen/Heft II/54.
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Borghese«), und durch die Verbindung zu den Vorstufen der Amsel zu identifizieren. Die letzte auf Grigia bezogene Eintragung in das Kriegsheft stellt eine Verbindung der Tiergeschichten mit einem Protagonisten her, dem im Krieg ein Todesnähe-Erlebnis zuteilwird, ein Thema, das er in Die Amsel bearbeitete: Man könnte die Tierskizzen auch zu einer einzigen Erzählung machen. Dann wäre Hauptperson ein Mann, der sich vorher auch oft in Lebensgefahr begeben hat[.] (Im Gebirge, beim Schwimmen, Segeln, Autofahren[.]) Aber immer war ihm das nur ein Sportreiz. Im Krieg ist es die Erweckung. Und nachhause kommt er mit einer nicht mehr einschlafenden Angst vor dem Tode, weil er nicht weiß, wie es ist.28
4. Die Ermittlung der Unterschiede Der redaktionelle Prozess der Buchherstellung aus den Zeitungsfassungen kann nur indirekt erschlossen werden: Aus den spärlichen Dokumenten des rudimentären textgenetischen Dossiers wird die Antwort auf die Frage nach dem Wie abgeleitet. Für die Beantwortung der Frage nach dem Was empfiehlt sich als zweite, ergänzende Methode die abstrakte Ermittlung durch eine vergleichende Analyse der Buch- und Zeitungstexte. Was also hat Musil verändert? Der Autor nimmt bei der Zusammenstellung der Texte zum Teil noch erhebliche Änderungen vor, in immerhin zehn Fällen liegen in der Buchfassung auch neue Titel mit zumindest geringfügig geändertem Wortlaut vor, wobei es zu bedenken gilt, dass auch die Titel der Zeitungsversionen von ein und demselben Text zum Teil variieren. Ein exakter maschinengestützter Vergleich der Textkorpora der Zeitungsfassungen mit der Buchfassung und die Darstellung der Varianz in Form eines editorischen Markups stehen noch aus, die Klagenfurter Ausgabe weist nur die Varianten der Zeitungsfassungen untereinander, aber nicht die zwischen den Feuilletonbeiträgen und der Buchfassung aus. Sie darzustellen, wird Aufgabe von MUSIL ONLINE sein; künftige textgenetische Untersuchungen werden die Signifikanz der Veränderungen, die der Autor am Text vorgenommen hat, auf dieser Grundlage interpretieren. Das Beispiel der Zufallsüberlieferung des »Korrektur-Beiblatt[s] zu Agoag« vermittelt einen Eindruck von dem Potential derartiger Fragestellungen. Wie nahm Musil die Textauswahl vor? Dazu sind vier Fragen zu beantworten: a. Wo waren die Vorlagen publiziert worden? – Von insgesamt 90 Publikationen erfolgten zehn in Zeitschriften, der Rest im – überwiegend renommierten – deutschsprachigen Feuilleton. Der Anteil der in Wien, in Prag und in Berlin veröffentlichten Beiträge hält sich dabei ziemlich ge28
KA/Transkriptionen/Heft II/71.
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nau die Waage. Man kann aus den Häufigkeiten nicht ableiten, dass Musil seine Kurzprosa in einer bestimmten Zeitung bevorzugt veröffentlicht hätte, wenn man davon absieht, dass 1923/1924 ein mehr oder weniger fixes Arrangement mit der Prager Presse für Theater- und Kulturkritiken bestand. Doch bei der Entscheidung, welche Feuilletontexte in den Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommen wurden, spielte das Organ der VorVeröffentlichung keine Rolle. Teil- und Vorabdrucke aus der Buchfassung wurden 1935/1936 in Schweizer Zeitungen (Neue Zürcher Zeitung, Nationalzeitung Basel) und Anfang 1936 in Wien (Der Wiener Tag) abgedruckt. b. Wann waren die Vorlagen publiziert worden? – Aus ökonomischen Gründen publizierte Musil in drei Häufungsphasen verstärkt im Feuilleton: 1921–1924, 1926–1928 und 1931. In der Anordnung des Nachlaß zu Lebzeiten lässt sich ein chronologisches Muster erkennen: Die erste Abteilung »Bilder« beginnt mit den frühesten Erstveröffentlichungen (Das Fliegenpapier [1914, 1919]; Die Affeninsel [1919]), umfasst vorwiegend Publikationen der Phase 1921–1924 und schließt mit Feuilletonbeiträgen der Jahre 1927/1928 (Mädchen und Helden [1927]; Pension Nimmermehr [1928]). Die »Unfreundlichen Betrachtungen« und die »Geschichten, die keine sind« fokussieren Texte, die 1926–1928 erstmals veröffentlicht wurden, in diese Abteilungen sind die späten Beiträge von 1930/ 1931 eingestreut. Ohne also streng nach der Chronologie der Erstveröffentlichung vorzugehen, hat Musil bei der Zuordnung der Texte neben thematisch-motivischen Kriterien auch historisch-genetische walten lassen. c. Was hat Musil nicht aufgenommen? – Die Beantwortung dieser interessanten Frage könnte zu Spekulationen führen, ob die Textauswahl von Veränderungen des ideologisch gelenkten Lesergeschmacks beeinflusst war. Die Rahmenbedingungen hatten sich vom teilweise liberalen Klima der 1920er Jahre, der Weimarer Republik und des Roten Wien, zu staatlicher Zensur und öffentlicher Forderung nach völkischer Literatur verschoben. Musil ließ sich nicht in erster Linie von formalen Kriterien wie der Länge der Texte oder von Genre-Präferenzen leiten. Neben den enigmatischen »Bildern« und den pointiert kultur- und sozialsatirischen Texten nahm er Erzählerisches auf, schließlich auch Die Amsel. Ganz auf der Strecke blieben die Sportglossen; zur erzählenden Kurzprosa, die nicht in den Nachlaß zu Lebzeiten Eingang fand, zählt beispielsweise Die Durstigen; ebenso ausgeschlossen blieben die Briefe Susannens und Der Vorstadtgasthof. Möglicherweise bestimmte in diesen Fällen das Kriterium der Anstößigkeit die Auswahlentscheidung mit. Von seiner gesamten Kurzprosa-Produktion für das Feuilleton nahm Musil 40 % in den Nachlaß zu Lebzeiten auf.
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d. Was hat Musil nicht ganz aufgenommen? – Nur in zwei Fällen entschloss sich Musil dazu, die Integrität der Vorlagen aufzuheben und eine Segmentierung vorzunehmen. Von Wer hat dich, du schöner Wald . .? und Bücher und Literatur wurde nur ein Teil für den Nachlaß zu Lebzeiten verwendet.
5. Die textgenetischen Dossiers der Zeitungsfassungen Zu einem großen Teil der Zeitungsfassungen enthält der Nachlass interessante Manuskriptvorstufen; nur zu 7 % der Feuilletonbeiträge ist keinerlei für ein textgenetisches Dossier verwertbares Material aufzufinden. Zu etwa einem Viertel der im Nachlaß zu Lebzeiten vertretenen Texte existieren annotierte Zeitungsausschnitte, zu 70 % der Feuilleton-Veröffentlichungen sind in Musils Nachlass auch handschriftliche Materialien vorhanden. Im Fall von Das Fliegenpapier gehen erste Skizzen auf Herbst 1913 zurück. Während seines Rom-Aufenthaltes im November 1913 entstanden in Musils Tagebuch erste Notizen. Beim Besuch des Krankenhauses S. Spirito ging von »Tuberkulöse[n] in den letzten Lebensnächten« auf den Autor der »stärkste[ ] Eindruck«29 aus. In Heft 7 vermischt sich die Beobachtung der tuberkulösen Frauen mit der Beschreibung von Fliegen auf dem Fliegenpapier Tanglefoot, die auf derselben Seite beginnt. Musil wählt Formulierungen, die denen der veröffentlichten Fassungen sehr ähnlich sind. Sie stemmen sich hoch auf allen sechsen. Oder die Hinterbeine gestreckt, auf den Ellbogen gestemmt suchen sie sich zu heben. Eine liegt mit dem Kopf und die Arme hinausgestreckt draußen. Eine ganz starke vermag die Beine der Reihe nach zu heben. Sie geht. Aber sie kommt nicht mit allen zugleich ab. Manche wie friedliche Schläfer. Sie sinken zum Schluß fast immer mit dem Kopf voraus um.30
Der Rom-Aufenthalt 1913 stimulierte Musil zu weiteren Eintragungen, auf die er sich bei den Ausarbeitungen für die Prosaskizzen im Feuilleton der Nachkriegsjahre stützte, und zwar gilt das für folgende sechs Texte: Die Affeninsel, Schafe auf einer Insel, Hellhörigkeit, Sarkophagdeckel, Pension Nimmermehr und Kann ein Pferd lachen?. Die römisch inspirierten Sujets treten in Verbindung mit Motivkomplexen aus dem Kriegstagebuch 1915–1918; daraus gehen fünf erzählende Texte von unterschiedlicher Länge hervor: Grigia, Ein Soldat erzählt (weiter verarbeitet in Die Amsel), Die Maus auf Fodara Vedla und Begräbnis in A. Im Stadium von 1919 sind die Projekte unter dem Arbeitstitel »Tierbuch/Idyllen« zu einem Konzept, das als Proto-Nachlaß zu 29 30
KA/Transkriptionen/Heft 7/24. KA/Transkriptionen/Heft 7/24a.
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Walter Fanta
Die Amsel
1926−1931 kulturkritisches und sozialsatirisches Nachlassmaterial
1921−1923 Tierbuch / Idyllen 1918/19
Proto-Nachlaß-zu-Lebzeiten
Kriegstagebuch
1913
Tagebuch: Rom Abb. 5: Genese der Zeitungsfassungen.
Lebzeiten bezeichnet werden könnte, zusammengefasst, eine Verschmelzung »zu einer einzigen Erzählung«31 wird erwogen. Am besten charakterisiert das textgenetische Dossier von Begräbnis in A. die Produktionsweise Musils für das Feuilleton. Das Konvolut der Schenkung an die »Städtischen Sammlungen« im Wiener Rathaus dokumentiert alle Entstehungsstufen außer der ersten, die noch nicht auf Blättern, sondern in den Heftseiten von Musils Kriegstagebuch überliefert sind. Den biographischen Hintergrund bildet die Entlassung des k. u. k. Oberleutnants Musil aus der Redaktion der Bozener Soldaten-Zeitung und seine Versetzung nach Slowenien, wo er ab 28. April 1917 in Adelsberg/Postojna zur Kanzleiarbeit herangezogen wurde.32 Inmitten der »ganz ländlich[en], schön[en] Gegend«33 notierte er in seinen Heften einige Eindrücke, darunter am 24. Dezember 1917, dass Schreinerjungen auf einem Handschlitten einen Sarg zu einem Trauerhaus transportierten.34 Im gleichen Heft entstand kurz darauf eine Skizze mit dem auch bei der ersten Veröffentlichung in der Prager Presse vom 25. Dezember 1921 gewählten Titel Begräbnis in A.35 Dem Erstdruck liegt nicht die Handschrift zu Grunde, die er 1935 den »Städtischen Sammlungen« im Wiener Rathaus schenkte;36 sie bildet vielmehr eine frühere Entwurfsstufe, die noch ein Textelement enthält, welches allen späteren Fas31 32 33 34 35 36
KA/Transkriptionen/Heft II/71. Vgl. Corino: Robert Musil (Anm. 3), S. 568–575. KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Martha Musil an Annina Marcovaldi, 20. 5. 1917. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft II/46. Vgl. KA/Transkriptionen/Heft II/47f. Vgl. Musil: Slowenisches Dorfbegräbnis (Anm. 17).
Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten
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sungen fehlt, nämlich eine Reflexion zum Tod im vorletzten Absatz; »hier ist«, so Rosmarie Zeller, »noch die Nähe zum Krieg zu spüren«.37 Nach der Erstveröffentlichung in der Prager Presse wurde der Text noch drei Mal – und zwar stets unter dem Titel Slowenisches Begräbnis – gedruckt: in der Vossischen Zeitung am 18. Mai 1922, in Der Tag (Wien) am 24. Mai 1923 und schließlich in der Magdeburgischen Zeitung am 2. Oktober 1926. Von den 14 Abweichungen betreffen neun die Interpunktion und fünf das Wortmaterial, was wahrscheinlich auf die Initiative des Autors zurückging. Wesentlich länger ist die Druckgeschichte von Das Fliegenpapier. Auf den Erstdruck dieses ältesten Texts der Sammlung Nachlaß zu Lebzeiten im Januar 1913 in der Monatsschrift Die Argonauten unter dem Titel Römischer Sommer (Aus einem Tagebuch) folgten zu Lebzeiten des Autors insgesamt sieben Einzelveröffentlichungen, die nur geringfügig voneinander abweichen. Damit ist das Fliegenpapier der Spitzenreiter unter den Mehrfachabdrucken der Texte, die später in den Nachlaß zu Lebzeiten eingingen. So hoch die Wertschätzung der Kurzprosa Musils innerhalb der heutigen Leserschaft auch sein mag, so gering wurde die Feuilletonproduktion von Musil selbst geachtet. Ihm diente sie zum bloßen Gelderwerb, darum versuchte er jedes Stück so oft wie möglich zu verkaufen. Von 28 Texten, die mehrfach abgedruckt wurden, sind bei acht die Titel verändert. Auch wenn Musil nicht nur den Titel variierte, sondern stärker in den Text eingriff, die Bearbeitung für Nachdrucke stellt den nicht unwesentlichen letzten Schritt im schriftstellerischen Produktionsprozess dar. In diesem Sinn bilden die annotierten Zeitungsausschnitte im Nachlass einen Teil des textgenetischen Dossiers; darüber hinaus ist die Erforschung der Druckvarianten eine nicht zu vernachlässigende Methode bei der Erschließung der Textgenese. Die Varianten selbst sind in der Klagenfurter Ausgabe nachgewiesen, ihre Interpretation steht noch aus. Die textgenetischen Beziehungen zwischen allen zum Nachlaß zu Lebzeiten führenden Texten lassen sich folgendermaßen veranschaulichen (Abb. 5).
6. Potenzierte Edition Seit 2016 entsteht am Robert-Musil-Institut der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt eine Hybrid-Edition der Werke und nachgelassenen Schriften Robert Musils; sie wird die digitale Klagenfurter Ausgabe durch die zwölfbändige Gesamtausgabe im Verlag Jung und Jung in Salzburg und durch das Open-Access-Internetportal MUSIL ONLINE ersetzen. Für Frühjahr 2019 ist der siebte Band der Buchausgabe geplant; er wird die neun zu Lebzeiten 37
KA/Kommentare/Bd. 11 Publizistik/Feuilleton/1914–1924/Begräbnis in A./Textgenese und Kommentar (Rosmarie Zeller).
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Walter Fanta
veröffentlichten Bücher Robert Musils mit Ausnahme des im Rahmen der Gesamtausgabe bereits edierten Mann ohne Eigenschaften in der Reihenfolge ihrer Erstpublikation enthalten. Der Nachlaß zu Lebzeiten steht in dieser Anordnung an vorletzter Stelle zwischen zwei öffentlichen Vorträgen, die als selbstständige Publikationen in den Druck gelangt sind, der Rede zur RilkeFeier (1927) und dem Vortrag Über die Dummheit (1937). Die editorische Zielsetzung besteht darin, den Nachlaß zu Lebzeiten als Kostbarkeit für die literarische Lektüre durch ein breites Publikum in einer gediegenen Buchausgabe zugänglich zu halten. Die Konstituierung eines Lesetextes auf der Grundlage der Erstausgabe von 1935/1936 stellt keine besondere editorische Herausforderung dar; auf größere Schwierigkeiten stößt die Beantwortung der Frage, ob die Zeitungsfassungen ebenfalls, in ihrer Gesamtheit und in welcher Weise, als Lesetext zu edieren sind, und die Lösung der Aufgabe, für die komplexen textgenetischen Verflechtungen zwischen dem Buch, den Zeitungs- und den Nachlassfassungen eine adäquate Darstellungsform zu finden. Der Herausgeber hat sich dafür entschieden, in Band 8 und 9 der Gesamtausgabe die unselbstständigen Publikationen in der chronologischen Reihenfolge ihres Erscheinens angeordnet abzudrucken. Dies stellt einen entschiedenen Bruch mit der bisherigen Editionspraxis dar, welche nach Gattungskriterien verfahren ist und die ›Essays‹ (mit den Reden), die ›Kritiken‹ und die ›Kleine Prosa‹ voneinander getrennt präsentiert hat. Besonders der Essayistik wurde dabei gerne und wohl zu leichtfertig in Berufung auf den Musil’schen Terminus des ›Essayismus‹ ein Sonderstatus zuerkannt, den sie auch dadurch zu verdienen scheint, dass Musil selbst die ›Aufsätze‹, wie er seine Essays meist bezeichnete, großteils nicht im Zeitungsfeuilleton zu publizieren pflegte, sondern in Zeitschriften, vorzüglich in der Neuen Rundschau, und die Manuskripte dazu in eigenen Mappen ablegte. Die Theater- und Kulturkritiken Musils wurden zwar zum größten Teil im Feuilleton veröffentlicht, es besteht aber eine enge Verzahnung nicht nur mit der Kurzprosa, die dann in den Nachlaß zu Lebzeiten einging, sondern auch mit der Essayistik. Was als Besprechung begonnen hatte, konnte zu einem Essay mutieren, wie die ursprüngliche Spengler-Rezension Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921), oder Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925), Musils Auseinandersetzung mit der Filmästhetik von Béla Balázs. Die im Neuen Merkur erstveröffentlichten und in den bisherigen Editionen unter den Essays gereihten Aufsätze Symptomen-Theater I (1922) und SymptomenTheater II (1922/1923) beispielsweise setzen sich mit aktuellen Theaterereignissen und der Situation des Theaters auseinander und stehen dadurch in engem Zusammenhang mit den etwa zeitgleich im Feuilleton publizierten Theaterkritiken. Im Fall der ›Kleinen Prosa‹ führt allein schon der vage Gattungsbegriff zu Unklarheiten; Frisé operiert auch mit dem alternativen Terminus ›Kurzprosa‹ und bringt die ›Glosse‹ als Einteilungskategorie ins
Das textgenetische Dossier des Nachlaß zu Lebzeiten Leona (Aus der Vorarbeit zu einem Roman) Wiener Saisonbeginn Wiener Theatermesse Das feine Lustspiel »Der Meister« von Hermann Bahr Moissi-Gastspiel Der Dichter am Apparat Wege zur Kunstbetrachtung Wiener Nachträge Die Maus auf Fodara vedla Valutaspekulation oder: Von Molière über Sternheim zu Kaiser Der Komiker Nachwort zum Moskauer Künstlertheater Grigia »Madame Legros«. Anläßlich der Aufführung in Wien Georg Kaiser-Matinee in Wien Begräbnis in A. Jessner und Brand Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit
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1921 6. September 9. September 27. September 28. September 5. Oktober 14. Oktober 16. Oktober 21. Oktober 30. Oktober 8. November
Literaria-Almanach Prager Presse Prager Presse Prager Presse Prager Presse Prager Presse Prager Presse Prager Presse Prager Presse Prager Presse Prager Presse
15. November 25. November Dezember 4. Dezember
Prager Presse Prager Presse Der neue Merkur Prager Presse
23. Dezember 25. Dezember 28. Dezember Dezember
Prager Presse Prager Presse Prager Presse Die Neue Rundschau
Tab. 3: Verzeichnis von Musils unselbstständigen Veröffentlichungen August–Dezember 1921.
Spiel; außerdem hat er bestimmte Zeitungsfassungen nach nicht klar nachvollziehbaren Kriterien in seiner Ausgabe als ›Vorstufen zum Nachlaß zu Lebzeiten‹ ausgewählt und zusammengefasst ediert. Der chronologisch geordnete Abdruck von Musils unselbstständigen Veröffentlichungen unter Aufgabe des Gattungsprinzips wird der Leserschaft ein neues, anderes Lektüreerlebnis bescheren, kulturhistorische und thematische Kontexte sind durch die Synchronisierung besser erfassbar. Das Entlang-Lesen an der von außen aufgezwungenen Richtschnur der Form – ein Essay nach dem anderen, eine Kritik nach der anderen – tritt hinter ein Leseerlebnis zurück, in dem sich die Kontinuität der schriftstellerischen Reflexion und formale Abwechslung verbinden. Zu überlegen wäre, ob nicht auch die Vorabdrucke von Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften im Feuilleton in dieses Arrangement aufgenommen werden sollten und ob auch mehrfach Abgedrucktes unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. neuer Titel, markante Änderungen) Eingang finden könnte. Als Vorgeschmack sei hier ein exemplarischer Ausschnitt vorgestellt, das Inhaltsverzeichnis zu Musils Veröffentlichungen im Herbst 1921 (Tab. 3). In der neuen Konzeption der Musil-Edition ist die digitale Open-AccessVeröffentlichung der textkritischen Apparate einschließlich der textgenetischen Dossiers auf MUSIL ONLINE vorgesehen. Ein besonderes Augen-
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Walter Fanta
merk gilt dabei der Präsentation der Zeitungsfaksimiles; es sollte möglich sein, Musil digital blätternd im Feuilleton zu lesen. Ein interdiskursiver Online-Kommentar wird die intra- und intertextuelle Konstellation, in der der Nachlaß zu Lebzeiten steht, gemeinsam mit den Diskursen in der Rezeption abbilden.
Peter Utz
Schreib- und Liebesexperimente im Tageblatt Zur Affinität von Brief und Feuilleton bei Marieluise Fleißer, Robert Walser und Robert Musil Abstract: The upswing of the literary »feuilleton« in German-speaking newspapers of the first third of the 20th century also rekindled the literary form of the letter. Like the feuilleton, the letter addresses the reader directly in a short and personal way aiming to attract him or her and assure his or her loyalty. In this respect, the hidden matrix of a love letter lies behind every feuilleton. This is exposed in a large literary supplement of the Berliner Tageblatt of 1930 dedicated to the »Love Letter«, where nine well-known authors are published. This contribution examines the media-historical and paratextual conditions of these love-declaring feuilletons and analyses the very different meanings they take with Marieluise Fleißer, Robert Walser, and Robert Musil.
1. Kurz geschrieben soll er sein, der Brief, im lateinischen Wortsinn: »breve scriptum«, dafür aber persönlich gehalten und signiert. Die Distanz zum Adressaten soll er in Nähe verwandeln, indem er diesen mitentwirft, hineinholt in ein virtuelles Gespräch, das die monologische Struktur des Briefs und seine Schriftlichkeit vergessen macht. Der Brief darf ganz aus jenem Schreibmoment heraus entstehen, den er mit seinem Datum auch anzeigt; jeder Brief ist insofern ein »Tageblatt«. Und doch kann er aufbewahrt werden für die Ewigkeit; er ist Medium und Archiv der Kommunikation gleichzeitig. Darüber hinaus erlaubt der Brief auch Schreibexperimente, in denen auf kleinem Raum entworfen werden kann, was möglicherweise später in größere literarische Zusammenhänge hineinführt. Kurz geschrieben ist aber auch das literarische Feuilleton, jene Gattung kleiner Prosa, mit der sich in seiner Blütezeit von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts zahlreiche Autoren ihr tägliches Brot verdienen. Sein Raum »unter dem Strich« ist eng bemessen, das Themenspektrum dagegen desto breiter. Doch auch diese Prosa soll persönlich gehalten sein und so die Nähe zum Leser suchen. Denn sie soll einen persönlichen Gegenakzent zur Anonymität der Nachrichtenflut in der Zeitung setzen, den Leser direkt ansprechen. Darum erstaunt es nicht, dass das literarische Feuilleton in seiner Blütezeit den Brief als Formvorlage adoptiert, dass Feuilletons
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Peter Utz
also nicht selten als ›Brief‹ auftreten. Der Brief erblüht in feuilletonistischer Form in jenem mediengeschichtlichen Moment, in dem er als reales Kommunikationsmittel durch Telegraf und Telefon konkurrenziert wird und dadurch bereits historisch überholt erscheint. Darüber lamentiert Peter Panter alias Kurt Tucholsky 1918 wiederum in feuilletonistischer Form. Unter dem Titel Briefbeilagen diagnostiziert er in der Weltbühne den aktuellen »Verfall der Briefschreibekunst«: Mit der Kunst des Briefschreibens ist es ja ziemlich vorbei. So wie keiner mehr zuhören kann, sondern den andern nur noch als Wand benutzt, gegen die er monologisiert, so schreiben sich die meisten Leute unserer Zeit Briefe, die schlechter und unordentlicher sind als Geschäftsbriefe, aber ebenso sachlich.1
Besonders der »heutige Liebesbrief« sei bestenfalls noch ein »Lachkapitel«, meint Tucholsky, und zitiert als anekdotisches Beispiel einen »Aktuar«, der seiner Hulda erklärt: »Ich liebe dich leidenschaftlich«, und dann das letzte Wort mit dem Lineal unterstreicht. Dagegen versucht Tucholsky in seinem als Brief an eine ungenannte blonde Leserin gehaltenen Feuilleton den Beweis zu erbringen, wie sich im Brief ein kleiner Alltagsanlass zu einem »Geschichtchen« und zu einer Skizze auswachsen kann, die »zwischen Brief und Literatur angenehm die Mitte hält«. Sein Feuilleton demonstriert, wie aus dem Brief ein Feuilleton werden kann. In dieser Form wird Tucholskys Feuilletontext zum Beispiel, wie der historische Medienwandel den Brief, der scheinbar unzeitgemäß geworden ist, für literarische Schreibexperimente freisetzt, wie sie seinerseits, zeitparallel, auch das Feuilleton erlaubt. So erklärt es sich, dass sich in den 1920er Jahren zwar vielleicht weniger Briefe in den Briefkästen, dafür aber umso mehr in den kulturellen Rubriken der Zeitungen finden. Kaum einer der großen Feuilletonisten der Zeit, der nicht gelegentlich auch ein Feuilleton in Briefform an die Redaktionen der Zeitungen schickt. Die ursprüngliche Intimität des Briefs, sein sprichwörtliches »Geheimnis«, wird dabei allerdings nach außen gestülpt; der Feuilletonbrief ist immer schon an eine breite, anonyme Öffentlichkeit gerichtet, die aber je sehr persönlich, als Individuum, angesprochen wird. Diese Adressateninstanz wird – wie in Tucholskys Feuilleton – meist als ›weiblich‹ imaginiert. Denn nicht nur für die meist männlichen Feuilletonisten ist die Matrix des Feuilletons, auch dort, wo es nicht die explizite Briefform annimmt, der Liebesbrief. Tag für Tag findet der Zeitungsleser in der Rubrik unter dem Strich eine Liebeserklärung, damit er dann mit seinem Blatt auf Dauer eine Ehe eingehe, als Abonnent. Für das Feuilleton und die Briefkultur ist es darum gleichermaßen aufschlussreich, wenn diese verborgene Matrix 1930 vom Berliner Tageblatt an 1
Kurt Tucholsky [unter Pseudonym Peter Panter]: Briefbeilagen, in: Die Weltbühne 14/1 (13. 6. 1918), Nr. 24, S. 545; zit. nach: K. T.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. v. Mary GeroldTucholsky u. Fritz Raddatz. Bd. 1. Reinbek b. Hamburg 1975, S. 301–306, hier S. 301.
Schreib- und Liebesexperimente im Tageblatt
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Abb. 1: Berliner Tageblatt, Morgen-Ausgabe (25. 12. 1930), Nr. 607, 4. Beiblatt.
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Peter Utz
die Oberfläche ihrer Weihnachtsbeilage gehoben wird. Dieses präsentiert unter dem groß aufgemachten Titel »Liebesbriefe« auf zweieinhalb Zeitungsseiten neun Texte von Walter von Molo, Joachim Ringelnatz, Robert Musil, Joe Lederer, Robert Walser, Manfred Hausmann, Erich Kästner, Marieluise Fleißer und Ilse Faber (Abb. 1). In einer redaktionellen Einleitung wird dies folgendermaßen begründet: Wir haben eine Reihe deutscher Dichter gebeten, zu beweisen, dass das Briefeschreiben, insbesondere das Liebesbriefeschreiben, noch nicht ganz verschollen ist. Und dieser Beweis ist, wie der Leser sieht, keinem von ihnen schwergefallen. Und wenn diese Briefe auch nicht die Umständlichkeit und Empfindsamkeit des vorigen Jahrhunderts aufweisen, sondern höchst zeitgenössisch sind, so entbehren sie doch nicht jener Gefühlskraft, die den Liebesbriefen aller Zeiten innewohnt.2
Der Liebesbrief scheint fast »verschollen« – eine kulturpessimistische Diagnose, wie sie schon Tucholsky vorgetragen hat. Das Anliegen der Redaktion ist, trotzdem das »zeitgenössische« Überleben des Liebesbriefs zu »beweisen«. Sie definiert ihn über seine »Gefühlskraft«, die überzeitlich sei. Mit diesem Auftrag, einen gefühlsgeleiteten Liebesbrief auf Befehl zu schreiben, verstrickt sie die Autoren jedoch eigentlich in ein Paradox, für das die Kommunikationstheorie Beispiele vom Typus »Sei spontan!« oder »Du sollst mich lieben!« bereithält. Als Autor kann man dem nur entgehen, wenn man das Ganze als spielerische Stilübung und Schreibexperiment versteht. Aber selbst dann ist diese Schreibübung gemäß der feuilletonistischen Spielregel in der krypto-persönlichen »Ich«-Form auszuführen. So überlagert und potenziert sich hier der innere Widerspruch des feuilletonistischen Schreibens, dem eine subjektive, originelle und intime Schreibweise als seine letztlich fremdbestimmte Norm abverlangt ist, mit der inneren Spannung des Liebesbriefs, der selbst schon immer zwischen individuellem Ausdruckswillen und gesellschaftlicher Norm schwankt.3 All diese medialen Paradoxa klammert diese Einleitung der Tageblatt-Redaktion zwar aus. Sie finden sich jedoch, wenn auch versteckt, in den Texten selbst, ebenso wie die untergründige Affinität von Feuilleton und Liebesbrief. Die neun Texte zeigen zudem, wie weit der Fächer des feuilletonistischen Schreibens für literarische Experimente geöffnet ist. Diese medialen Aspekte des Tageblatt-Experiments sind jedoch bisher noch nicht näher beleuchtet worden. Anke Bennholdt-Thomsen hat es verdienstvollerweise 1991 überhaupt erst wieder zugänglich gemacht, mit einer Transkription aller Texte und einer kommentierenden Interpretation, die den Liebesbrief aber nur in2 3
Berliner Tageblatt, Morgen-Ausgabe (25. 12. 1930), Nr. 607, 4. Beiblatt. Vgl. Eva Lia Wyss: Fragmente einer Sprachgeschichte des Liebesbriefs. Liebesbriefe des 20. Jahrhunderts im Spannungsfeld von Sprach-, Kommunikations- und Mediengeschichte, in: Briefkommunikation im 20. Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Schmitz u. E. L. W. Duisburg 2002 (= Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, Bd. 464), S. 57–92.
Schreib- und Liebesexperimente im Tageblatt
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haltlich beim Wort nimmt.4 Dagegen beachtet sie den ganzen medialen und paratextuellen Kontext dieses Schreibexperiments nicht. Im Jahr 1991 war allerdings die Aufmerksamkeit auf diese mediengeschichtlichen Aspekte längst nicht so groß wie heute, und die Feuilletonforschung steckte erst in den Anfängen. Darum kann sich ein neuer Blick auf dieses Textkorpus und seine konkrete, mediale Erscheinungsform lohnen, auch als Beispiel dafür, wie wichtig diese Faktoren bei der Deutung von Literatur im Zeitungskontext sind. Schon an der paratextuellen Gestaltung der Zeitungsseiten lässt sich die Überlagerung von Brief und Feuilleton ablesen: Während ein Brief ja im Prinzip datiert und mit seinem Absenderort versehen ist, wird dieses formale Kennzeichen hier in den meisten Fällen zugunsten einer Kopfzeile aufgehoben, die den Autorennamen mit Doppelpunkt und dann, auf einer neuen Zeile, einen Titel setzt, wie dies für literarische Texte zu erwarten ist. Auch wenn sie im Tageblatt stehen, scheinen diese Texte nicht für einen bestimmten Tag geschrieben.5 Dafür rückt der Autor in den Vordergrund, erscheint gar in der Titelzeile selbst, wie bei: »Robert Musil an ein unbekanntes Fräulein« und: »Joe Lederer schreibt einen Abschiedsbrief«. Zweimal wird ein Zitat zum Titel erhoben: ein emblematisches: »Ich liebe Dich!« bei Joachim Ringelnatz und ein: »Denkst Du an mich?« bei Ilse Faber. Mit Ausrufe- und Fragezeichen wird so auch der Leser des Zeitungsfeuilletons, nicht nur die geliebte Person, direkt angesprochen. All dies deutet darauf hin, dass diese Titel erst von der Redaktion gesetzt wurden, wie dies ohnehin beim Feuilleton nicht selten ist.6 Erst durch diese Titel verwandeln sie sich äußerlich in literarische Texte und damit in Feuilletons. Dabei bleibt jedoch in fünf der neun Beispiele die Briefform mit der persönlichen Anrede an den Leser erhalten: »Mein verehrtes, wahrhaft verehrtes, gnädiges Fräulein« (Walter von Molo) »Unbekanntes kleines Fräulein!« (Robert Musil) »Lieber Charles« (Joe Lederer) »Lieber D. . .!« (Marieluise Fleißer) »Freund – « (Ilse Faber)
Ein ganzer Fächer von Adressierungen zwischen formaler Anrede an eine Unbekannte und vorausgesetzter, intimer Bekanntschaft wird hier sichtbar. Entsprechend wird damit auch der für die Briefkommunikation entscheidende Parameter von Nähe und Distanz eingestellt: Der Brief, und ganz 4 5 6
Vgl. Anke Bennholdt-Thomsen: Zur Geschichtlichkeit des Liebesbriefs. Eine dissonante Dokumentation aus dem Jahre 1930, in: Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes. Hg. v. Anita Runge u. Lieselotte Steinbrügge. Stuttgart 1991, S. 193–224. Nur bei Ilse Faber gibt es eine vage Datierungsangabe: »Anfang August«. Vgl. Peter Utz: Robert Walser: Stück ohne Titel, in: Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung. Hg. v. Wolfram Groddeck, Reto Sorg, P. U. u. Karl Wagner. München 2007, S. 49–60.
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besonders der Liebesbrief, überbrückt eine vorausgesetzte Distanz, indem er seinen Adressaten sprachlich ganz nahe heranholt; eine »Fernliebe« im spannungsvollen Wortsinn.7 Aber auch das Feuilleton lebt von dieser Spannung, insofern es seinen Adressaten rhetorisch in den Text hineinholt, ihn anspricht und umwirbt. Dabei ist dieser Adressat jedoch immer »unbekannt«. Doch gerade im Schutz dieser Anonymität, der die Anonymität jenes schreibenden »Ichs« entspricht, das sich in diesem Pronomen versteckt, kann das Feuilleton eine große Nähe zum Leser, oder besser: zur Leserin, herstellen. Zu ihr trägt auch die fingierte Mündlichkeit der Ansprache bei. Auch dies ist mediengeschichtlich signifikant. So eröffnet die junge österreichische Autorin Joe Lederer, Autorin des Erfolgsromans Das Mädchen George (1928), im Tageblatt mit der Anrede an den »Lieben Charles« ein schriftliches Alternativgespräch zum Telefon: Sie verabschiedet sich brieflich von ihrem offensichtlich pedantischen Charles, der jeden Tag um 17 Uhr telefoniert – halb Liebesgespräch, halb Kontrollanruf. In die Schreibzeit hinein klingelt denn auch das Telefon. Doch statt den Hörer abzuheben, schreibt das weibliche Ich den Brief zu Ende und besiegelt damit die endgültige Trennung. Der Brief, die Schrift, scheint die verbindliche Alternative zum vergänglich-unverbindlichen neuen Konkurrenzmedium des Telefons. Dies suggeriert auch der Titel: »Joe Lederer schreibt einen Abschiedsbrief«. Doch der Text selbst ist getränkt von ›Mündlichkeit‹, von Fragen und Verben des Sagens; er ist auf das Papier gesprochen. Das ist nicht nur symptomatisch für die potentielle ›Mündlichkeit‹ der Textsorte Brief, die sich hier genau an die Stelle des Fern-Gesprächs setzt. Das ist auch ein Merkmal, das Briefe mit dem Feuilleton teilen und das sie einander annähert. Denn diese ›Mündlichkeit‹ ist nicht nur Ausdruck der persönlichen Adressiertheit und Subjektivität der Aussage, sondern auch der Spontaneität, der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit. Als »sekundäre Oralität« erobert diese fingierte Mündlichkeit nicht zuletzt vom Brief und vom Feuilleton aus den Roman der Zeit.8 Ihre graphische Entsprechung ist die Handschrift. Auch diese wird ja in der gleichen Zeit sogar im Privatbrief allmählich durch die Schreibmaschine verdrängt, und darum kann sie nun erst recht zu einem bedeutungstragenden Merkmal der Individualität und der Intimität werden. Auch im Feuilleton ist eine eigene, unverwechselbare ›Handschrift‹ gefragt. Was in den Rotationsmaschinen der Massenpresse nur noch eine Metapher ist, wird hier vom Tageblatt gewissermaßen ›wörtlich‹ re-inszeniert, indem am Textende immer eine faksimilierte Autorenunterschrift einmontiert wird (Abb. 2). Sie soll of7 8
Bennholdt-Thomsen: Liebesbrief (Anm. 4), S. 204, sieht dies als symptomatisch für die von ihr untersuchten Geschlechterverhältnisse in den Briefen. Vgl. im Hinblick auf Robert Walser: Dieter Roser: Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift. Zur Sprachproblematik in Robert Walsers späten Texten. Würzburg 1994 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 133).
Schreib- und Liebesexperimente im Tageblatt
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Abb. 2: Unterschriften von Marieluise Fleißer, Manfred Hausmann, Robert Musil und Robert Walser.
fensichtlich die Signatur eines Briefs darstellen. Zu lesen sei hier also ein Brief, und nicht ein Feuilleton. Und diese ›handschriftlichen‹ Signaturen suggerieren die Identität des Briefschreibers mit der Autorin oder dem Autor und öffnen die Tür zu einer biographischen Lesart aller Texte. Dabei entstehen auch charakteristische Widersprüche. Der Text von Manfred Hausmann etwa, vermutlich von der Redaktion als »Ein hilfloser Liebesbrief« betitelt, richtet sich an eine vornehme Berliner Dame, mit der er nur aus dem Taxi heraus einen Blick gewechselt hat. Im Sinn von Baudelaires À une passante geht es um die Verbalisierung einer visuellen Zufallsbegegnung in der Großstadt. Das Brief-Ich spricht sie in ›mündlicher‹ Rede an, und bittet sie gleichzeitig beständig, weiterzulesen und den Brief nicht vorzeitig wegzuwerfen. Fast allzu deutlich ist dieser verbale Annäherungsversuch an die unbekannte Leserin auch die an die Feuilleton-Adressatin. Hausmann, zeitweise selbst Feuilleton-Redakteur, scheint die Spielregeln des Feuilletons genau zu kennen. So schreibt er einen Rollentext, bei dem sich das Ich von Anfang an in eine Ich-Anonymität hüllt, wie sie für das Feuilleton charakteristisch ist: »Bitte betrachten Sie diesen Brief nicht mit Misstrauen, verehrte gnädige Frau, auch wenn Sie die Handschrift nicht kennen, auch wenn am Schluss kein Name steht.«9 Der Drucktext suggeriert im Einklang mit der Schreibfiktion, die von der Redaktion vorgegeben ist, die ›Handschriftlichkeit‹ des Briefs. Der Satz jedoch, dass »am Schluss kein Name steht« wird auf dem Zeitungsblatt mit dem faksimilierten Namenszug »Manfred Hausmann« glatt dementiert – der Graphiker scheint den Text des Feuilletonisten nicht gelesen zu haben. So spannt diese graphische Oberfläche eine Skala auf zwischen ›Handschrift‹ und Druckschrift, die derjenigen zwischen ›Mündlichkeit‹ und ›Schriftlichkeit‹ entspricht. Das sind Parameter der Nähe und der Distanz, die in den verschiedenen Texten sehr unterschiedlich genutzt werden. Das 9
Der Text nach der Transkription bei Bennholdt-Thomsen: Liebesbriefe (Anm. 4), S. 220.
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Peter Utz
Schreib- und Liebesexperiment des Tageblatts – so könnte man vorläufig bereits bilanzieren – macht den hybriden Charakter der Texte zwischen Brief und Feuilleton deutlich. Dieser wird durch ihre paratextuelle Präsentation auf den Seiten des Tageblatts gespiegelt und noch potenziert. Dies ist aber nur möglich, weil zwischen den beiden Gattungen ein grundsätzlich osmotisches Verhältnis besteht. Auf diesen Seiten werden sie recht eigentlich verheiratet. Es ist deshalb eine heimliche Pointe dieser »Liebesbrief«-Präsentation, dass sich an sie auf der dritten Zeitungsseite der Weihnachtsbeilage die AnnoncenRubrik der »Heirats-Anzeigen« anschließt. Wie die Hybridität der Gattung und die Widersprüche dieses Schreibund Liebesexperiments auch in den Texten selbst zum Ausdruck kommen, wie unterschiedlich diese aber auch eingebettet sein können in Biographieund Werkzusammenhänge, das sei im Folgenden an drei Beispielen eingehender untersucht: an den Beiträgen von Marieluise Fleißer, Robert Walser und Robert Musil.
2. Marieluise Fleißers Text liegt auf der Mischungsskala von Brief und Feuilleton, wie sie die Tageblatt-Seiten zeigen, ganz auf der Seite des Privatbriefs. Die 29-jährige Autorin hat in Berlin eben mit dem Skandal um ihr Stück Pioniere in Ingolstadt auf sich aufmerksam gemacht, und in diesem Zusammenhang 1929 im Berliner Tageblatt auch einen offenen Brief nach Ingolstadt publiziert.10 Nun schickt sie auf die Aufforderung der Redaktion einen Brief ein, den erst diese vermutlich mit der Überschrift »An einen Kameraden« versieht (FGW 4, S. 52–55). Der Titel klingt männlich-burschikos; man könnte ihn aber auch vom etymologischen Wortsinn der geteilten ›Kammer‹ herleiten, denn von der konkreten Frage, wie die schreibende Frau und der »Liebe D. . .«, an den sich der Brief richtet, eine Wohnung mit zwei benachbarten »Zimmern« zusammen bewohnen, geht er aus. Die Frau hört, wie sich ihr Lebenspartner in der Nebenkammer bewegt und wie er dann, offenbar im Zorn, die Wohnung verlässt. Das wird ihr zum Anlass, über ihre Beziehung zu »D.«, an den sie sich schreibend auch richtet, nachzudenken. Zwar hofft sie auf eine »große und gelöste gemeinsame Liebe« (FGW 4, S. 53); die Beziehung jedoch, in die sich die Briefrede immer tiefer hineinschraubt, ist höchst asymmetrisch, das Gegenteil einer gleichberechtigten »Kameradschaft«. Denn die »Schwierigkeiten« in der Beziehung, die sie eingesteht, schreibt sie allein sich selbst zu, und ihr obliegt es, sie zu lösen. Dabei bindet sie sich nur umso stärker an ihn. Ihre Selbstachtung, die offenbar gelitten hat, will sie nur wieder 10
Marieluise Fleißer: Gesammelte Werke. Hg. v. Günther Rühle. Frankfurt a. M. 1994. Im Folgenden direkt im Text nachgewiesen mit der Sigle »FGW«, Bandnummer und Seitenzahl; hier FGW 4, S. 410 f.
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erlangen, damit sie von ihm geachtet werden kann. So werden ihr sogar die Verletzungen, die er ihr zufügt, zum Beweis ihrer eigenen Liebesfähigkeit: Wenn ich einen Menschen lieb habe, muß ich ihm jenes vornehme Vorrecht einräumen, mich von ihm verwunden zu lassen und die Härte des Augenblicks durch meine freudige Hingabe in etwas verwandeln, was meine Seele liebenswerter, der Liebe würdiger macht. (FGW 4, S. 53)
Wie soll man diese in ihrer Unterwürfigkeit fast schockierende Stimme verstehen, gerade aus dem Mund einer Autorin, von der man im Konzert der im Tageblatt versammelten Feuilletonbriefe gewiss viel weibliches Selbstvertrauen erwartet? – Anke Bennholdt-Thomsen und Hiltrud Häntzschel sind sich einig, dass es sich hier um ein direktes Zeugnis von Marieluise Fleißers Beziehung zu Hellmut Draws-Tychsen handelt.11 Mit diesem Journalisten, der in konservativen Zeitungen wie der Berliner Börsen-Zeitung oder der Germania schrieb und der als erfolgloser Schriftsteller 1929 nur gerade einen Lyrikband Mein Westpreußenland vorzuweisen hat, lebt sie seit diesem Jahr zusammen.12 Weil sie damit den Bruch mit Bertolt Brecht und seinem Kreis provoziert, erhält diese private Wendung der jungen Starautorin auch eine öffentliche Dimension. Ein indirektes Bekenntnis zu Draws-Tychsen ist schon das Gedicht An den Geisterseher, das sie 1929 ebenfalls im Berliner Tageblatt publiziert (vgl. FGW 4, S. 584). Im Liebesbrief der Weihnachtsnummer von 1930 bekennt sie sich, so diese biographische Lesart, ganz zu diesem »D. . .«, auch wenn durchscheinen mag, wie er sich als launischer, exzentrischer Machtmensch gebärdet. Man könnte die Veröffentlichung dieses Privatbriefs insofern auch als einen – allerdings sehr indirekten – Aufschrei verstehen, mit dem Marieluise Fleißer das Brief- und damit das Beziehungsgeheimnis bricht. Die Veröffentlichung des Privatbriefs, gerade nicht seine Verwandlung durch eine feuilletonistische Literarisierung, wäre dann seine Leistung. Zu einer solchen Literarisierung finden sich im Text nur einzelne Ansätze in metaphorischer Form. So stellt die Briefschreiberin etwa die Frage: »Sind wir denn Fische an einer Angel, die ganz stille halten, sich verstellen oder sich aufbäumen können, aber die eine höhere Gewalt zielbewusst ermüdet, da ihnen der unerbittliche scharfe Haken in der Kehle sitzt?« (FGW 4, S. 52 f.) Zwar ist die Antwort auf diese Frage im Brief noch ein explizites »Nein!«. Doch die Metapher vom Fisch und der Angel verweist auf die unveröffentlichten Skizzen unter dem Titel Der Tiefseefisch, in denen die Autorin in der gleichen Zeit die Beziehung zu Draws-Tychsen literarisch zu verarbeiten sucht (vgl. FGW 4, S. 103–132). Daraus wird ein Drama mit dem gleichen Titel, von dem aber in diesen Jahren nur Auszüge veröffentlicht werden (vgl. 11 12
Vgl. Bennholdt-Thomsen: Liebesbrief (Anm. 4), S. 199–201; Hiltrud Häntzschel: Marieluise Fleißer. Eine Biographie. Frankfurt a. M., Leipzig 2007, S. 230 f. Vgl. ebd., S. 203 ff.
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FGW 1, S. 289–356). Von der Angel dieser Beziehung, an der sie zappelt, wird sie sich erst 1935 lösen können. In diesem Werk- und Lebenszusammenhang erscheint der Feuilletonbrief von 1930 als Brief, nicht als Feuilleton. Als Brief, gedruckt nach dem Berliner Tageblatt, wird er denn auch in eine Edition von Briefen der Autorin aufgenommen. Dort ist er auch mit »Marieluise Fleißer« gezeichnet, wohl nach der faksimilierten Zeitungsunterschrift, die auf diesem Weg nun erst recht die Authentizität dieses Briefes beglaubigt.13 Trotzdem hat er sich ein Stück weit auch als Feuilleton verselbständigt: 1931 erscheint er nachgedruckt in der Magdeburger Zeitung, in der Marieluise Fleißer schon früher publiziert hatte – übrigens neben Robert Walser oder Robert Musil.14 Marieluise Fleißer kürzt den Brief leicht und setzt selbst den neuen Titel Liebesbrief an einen Mann.15 Nun erst scheint der Text, paradoxerweise, zum feuilletonistischen »Liebesbrief« geworden, wo er nicht mehr, wie im Tageblatt, unter diesem Generaltitel auftreten muss.
3. Lässt sich der Feuilletonbrief von Marieluise Fleißer also kaum von der Biographie der Autorin lösen, so liefert umgekehrt bei Robert Walser die Autorenbiographie kaum direkte Aufschlüsse für die Textdeutung.16 Unter dem wiederum sehr wahrscheinlich von der Redaktion gesetzten Titel: »Der Gute schrieb . . .« (Abb. 3) rückt ein schreibendes Subjekt ins Zentrum, das sich selbst als ein »Guter« identifiziert und sich beim Schreiben in seiner Güte bestätigen will. Der Text beginnt mit den Sätzen: »Sicher bin ich ein Guter, d. h. ich scheine einer zu sein, der’s gut meint. Speziell mit Dir, Liebe, meine ich es gut.«17 Ist das sprechende Ich ein an sich »Guter«, oder scheint es dies nur? Und was wäre dann »gut sein«, und was das davon abgesetzte »es gut meinen«? – Der Text leitet in der Folge die ›Güte‹ des schreibenden Guten von der Begegnung mit der Geliebten ab. Von ihr erfahren wir nur wenig; 13 14 15
16 17
Vgl. Marieluise Fleißer: Briefwechsel 1925–1974. Hg. v. Günter Rühle. Frankfurt a. M. 2001, S. 103–106. Vgl. Häntzschel: Marieluise Fleißer (Anm. 11), S. 111. – Vgl. Marieluise Fleißer: Die List. Frühe Erzählungen. Hg. v. Bernhard Echte. Frankfurt a. M. 1995. Das Faksimile des von Marieluise Fleißer handschriftlich korrigierten Zeitungsabdrucks aus dem Berliner Tageblatt liegt folgender Publikation bei: »Diese Frau ist ein Besitz«. Marieluise Fleißer aus Ingolstadt. Zum 100. Geburtstag. Bearb. v. Hiltrud Häntzschel. Marbach a. N. 2001 (= Marbacher Magazin, Bd. 96). Den Hinweis verdanke ich Birgit Nübel. Bennholdt-Thomsen: Liebesbrief (Anm. 4), S. 198, hält ihn entsprechend für den »schwierigsten« Text der Sammlung. Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Bd. III/1: Drucke im Berliner Tageblatt. Hg. v. Hans-Joachim Heerde. Basel, Frankfurt a. M. 2013, S. 248–250. In der Folge als »KWA« mit Band- und Seitenzahl im Fließtext zitiert.
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Abb. 3: Robert Walser: Der Gute schrieb . . ., in: Berliner Tageblatt, Morgen-Ausgabe (25. 12. 1930), Nr. 607, 4. Beiblatt.
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sie erscheint zunächst als eine stereotype Idealfrau mit »Madonnengesicht«, was gleich aber ironisch ins Irdische hinuntergeschraubt wird mit der Apostrophe: »Himmlisch-schöne Ladentochter« (KWA III/1, S. 248). Ohnehin etabliert der Brief eine befremdliche Distanz zur Adressatin, auch wenn andeutungsweise von einem gemeinsamen »Kind« die Rede ist, einer »Frucht«, wie sich der Schreibende ausdrückt, die »zu Verbindlichkeiten verpflichtet«. Trotzdem kann er ihr »infolge meiner beruflichen Obliegenheiten« nur noch »von Zeit zu Zeit« »einen liebevollen, sorgfältigen Besuch« abstatten. Solche verklausulierten Formulierungen, die eher aus dem Register des Geschäftsbriefs stammen, machen auch stilistisch die Distanz deutlich, die zu dieser Geliebten herrscht. Tucholskys einleitend zitierter Aktuar hätte wenigstens noch eine explizite Liebesbeteuerung, mit dem Lineal unterstrichen, nachgeliefert. In Walsers Brief erwartet man sie vergeblich. Statt der Geliebten seine Liebe zu erklären, bezieht sich der Briefmonolog immer wieder auf das schreibende Subjekt selbst: »Mein Dir angehörendes Herz kommt mir nach wie vor kleinodhaft vor, und die Gutwilligkeit, womit ich mich geschmückt und ausgestattet sehe, scheint mir ein Juwel zu sein.« (KWA III/1, S. 249) Das »Kleinod« dieser Beziehung ist also nicht die Liebe, sondern nur die »Gutwilligkeit«, die sich der »Gute« von der Geliebten bestätigen lassen will. Das gipfelt in der Forderung fast am Schluss: »Ich bitte Dich, halte mich für gut und versichere mich dessen mit einigen beschwichtigenden Zeilen.« Die Liebeskommunikation soll eigentlich ausschließlich der Selbstbestätigung des schreibenden »Ich« dienen. Es muss offenbar an seiner eigenen »Güte« in dem Maß zweifeln, wie es sie an die Anerkennung durch die Geliebte bindet. Doch einen eigentlichen Liebesbeweis verlangt der »Gute« nicht von ihr, und seinerseits erklärt er ihr seine Liebe nicht. Ein Liebesbrief, wie ihn die Redaktion durch seine »Gefühlskraft« definiert, ist das nicht; eher eine Selbstdefinition der eigenen Existenz im Spiegel des andern. Ganz anders als Hausmanns verbaler Annäherungsversuch an die Leserin wirkt diese deklarierte Fernbeziehung für den Leser befremdlich. Dies umso mehr, als andere Brieffeuilletons, wie sie Walser in osmotischer Nähe zu seiner Korrespondenz mit Frieda Mermet oder Therese Breitbach verfasst hat, eine viel wärmere und persönlich-originellere Sprache sprechen.18 Mit solchen Brieffeuilletons hatte sich Walser auch beim Berliner Tageblatt längst profiliert. In manchen seiner Beiträge für diese Zeitung wird die enge Verschwisterung von Brief und Feuilleton schon im Titel angekündigt, so in Brief eines Europäers, Ein unartiger Brief, Klassischer Brief, oder im diesbezüglich emblematischen Brief für alle von 1926. Aus dieser bei Walser besonders großen Permeabilität von Brief und Feuilleton heraus ist es nur 18
Vgl. Peter Utz: Ausgeplauderte Geheimnisse. Die Verwandtschaft von Brief und Feuilleton am Beispiel Robert Walsers, in: Briefkultur. Transformationen epistolaren Schreibens in der deutschen Literatur. Hg. v. Isolde Schiffermüller u. Chiara Conterno. Würzburg 2015, S. 181– 199.
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folgerichtig, dass Eduard Korrodi für seinen wiederum im Berliner Tageblatt publizierten Geburtstagsartikel zu Walser vom 21. April 1928 die Briefform wählt, gerichtet an einen Autor, der in »wilder Ehe mit der Phantasie« lebe. Dabei würden sich die Feuilletonredakteure wegen Walsers »überwallender Höflichkeit in der Schrift und im Ton« gelegentlich sogar fragen, ob sie denn nicht eher den »Begleitbrief« als das »Manuskript« selbst publizieren sollen (KWA III/1, S. 368 f.). Tatsächlich druckt das Tageblatt ein Jahr später einen kleinen Brief Walsers mit einer sehr dezenten Honorarforderung an die Redaktion in der Feuilletonrubrik ab, weil dies ein Exempel sei für das »zarteste Deutsch«, wie es Walser schreibe, und für die »vorbildliche Höflichkeit« Walsers auch in Geschäftsangelegenheiten (KWA III/1, S. 373). Zuvor hatte die Redaktion des Tageblatts ihn allerdings 1927 gebeten, seine Zusendungen für ein halbes Jahr einzustellen, was Walser denn auch in eine fast existenzielle Krise stürzte (vgl. KWA III/I, S. 380). Walsers Antwort auf die Liebesbriefanfrage des Tageblatts von 1930, die ihn schon in der Heilanstalt Waldau erreicht hat, könnte man auf diesem Hintergrund nochmals neu lesen. Er ist nur insofern ein biographischer, als er die Existenzbedingungen des feuilletonistischen Schreibens grundsätzlich thematisiert, und dies in einem Auftragstext, in dem die Liebe zum Liebesbrief- und zum Feuilletonschreiben gleichzeitig unter Beweis gestellt werden soll. Davon hängt die Anerkennung ab, die sich der »Gute« mit seinem Schreiben im Feuilletonbetrieb verdienen kann. An diesen Feuilletonbetrieb, diese »himmlisch-schöne Ladentochter«, wäre dieser Brief dann eigentlich gerichtet; mit ihr »meint« es das Text-Ich speziell gut, und darum besucht er sie auch »von Zeit zu Zeit«, »liebevoll« und »sorgfältig«. Denn dieser Betrieb hat es »groß« gemacht, und vielleicht sogar auch »gut«. Erst »durch Dich verwandelte ich mich in einen Unalltäglichen, Bedeutenden«, wie es am Anfang heißt (KWA III/1, S. 248). So wird die Suche nach der Anerkennung seines Schreibens für den »Guten« zu einer existenziellen Frage. Im Rahmen der vom Tageblatt vorgegebenen Thematik kann sie gegen Schluss auch als eine nach der Liebe und dem Geliebtwerden formuliert werden: »Gewiß bin ich der, der meint, er vermöge nicht zu leben, ohne geliebt zu sein. Aus dem Geliebtsein hinauskomplimentiert zu werden, vermag ich nimmermehr zu fassen.« (KWA III/1, S. 249) Liebe ist auch hier, wie unter ganz anderen Voraussetzungen ebenfalls bei Marieluise Fleißer, eine Kategorie von Beziehungsmacht und Abhängigkeit. Auch Walser braucht das »Geliebtsein«, und sein »Liebesbrief« soll es sichern. Doch dieser gilt dem Feuilletongeschäft selbst, und entsprechend hält er sich in einem Geschäftston, wie Walser ihn auch in seiner realen Geschäftskorrespondenz anzuschlagen versteht. Das wäre Walsers Antwort auf den letztlich paradoxen Schreibauftrag der Redaktion des Tageblatts, in dem sich der ganze Widerspruch des feuilletonistischen Schreibens zeigt: Es muss nicht nur mit der Phantasie in »wilder Ehe« leben, wie Korrodi zu Walsers Geburtstag schreibt, sondern es muss auch das
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Medium, von dem es abhängt, lieben, will es weiterhin Tag für Tag kreativ Textkinder zeugen; es muss dies mit einer möglichst persönlichen Handschrift versuchen, die aber gleichzeitig durch die Typographie der Zeitung gerastert wird; es muss sich im vorgegebenen Kleinformat des Feuilletons die Anerkennung täglich neu erkämpfen. Und täglich droht ihm der Absturz aus den kulturellen Randspalten der Zeitung in die literarische und soziale Marginalität – im Prosamanuskript Für die Katz findet Walser in den gleichen Jahren ein emblematisches Bild für die kreative Kraft der feuilletonistischen Fremdbestimmung.19 Unter dem bezeichnenderweise höchstwahrscheinlich von der Zeitung gesetzten Titel »Der Gute schrieb . . .« versucht Walser so sich selbst und damit auch uns Lesern zu erklären, wie man unter diesen Umständen noch ein »Guter« sein und »gut« schreiben kann.
4. Bei Robert Musil, von dem abschließend und am ausführlichsten die Rede sein soll, liegt die literarische Leistung des feuilletonistischen Schreib- und Liebesexperiments nochmals anders. Es wird zum Durchgangs- und Verwandlungsstadium einer biographischen Erfahrung in das literarische Hauptwerk. Denn aus einer flüchtigen Blickbegegnung mit einer unbekannten jungen Frau, die er 1924 im Tagebuch festhält, wird 1930 ein Brief, den er im Tageblatt an sie richtet, um dann die gleiche Episode noch zweimal in späten Kapiteln des Mann ohne Eigenschaften zu erzählen. Diese insgesamt vier Versionen erlauben es zu beobachten, wie sich im jeweiligen medialen und generischen Kontext das gleiche Ereignis verwandelt. Die Feuilletonversion des Textes, die bisher – wie generell Musils Feuilletons20 – nur wenig beachtet wurde, soll dabei im Zentrum stehen, als Musils Beitrag zum Schreib- und Liebesexperiment im Tageblatt. Die erste Notiz zum Tageblatt-Feuilleton findet sich in Musils TagebuchHeften. Da notiert er im Heft 21, vermutlich 1924: Elektrische. Kleines Mädchen, vielleicht 12 Jahre alt, mit sehr jungem Vater oder älterem Bruder. Wie sie eintritt, sich setzt, dem Schaffner nachlässig das Geld reicht, ist sie ganz Dame, aber ohne jede Affektation. Sie ist wunderschön. Braun, volle Lippen, starke Brauen, eine etwas aufgebogene Nase. Vielleicht südslawisch. Die Züge ihres Gesichts sind ihren Jahren voraus, und doch ist es nicht das Gesicht einer zwergkleinen Frau, sondern das eines Kindes. Man kann sich leidenschaftlich in ein solches Mädchen verlieben, toll vom ersten Anblick an – Komponenten des Sexus, die keine Befriedigung gefunden haben. (A. in einem Moment des Zurückweichens vor der Ordnung) (Tb I, S. 632) 19 20
Vgl. dazu Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«. Frankfurt a. M. 1998, S. 358–368. Vgl. Dominik Müller: Feuilletons und kleine Prosa, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 396–414.
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Diese Notiz arbeitet Musil 1930 bei der Gelegenheit der Briefaktion des Tageblatts zu einem Brieffeuilleton aus. Inhaltlich ähnelt die flüchtige Blickbegegnung mit der Unbekannten dem Text von Manfred Hausmann, ebenso wie die Idee, diesen Blick in einen Briefmonolog zu verwandeln. Die Redaktion setzt jedoch über den Text: »Robert Musil an ein unbekanntes Fräulein«, und so wird er dann auch in den Editionen geführt (vgl. GW II, S. 650 f.).21 Der Name des Autors rahmt den Text ein, denn seine faksimilierte Unterschrift steht ja darunter. Diese redaktionellen Zusätze binden das Subjekt der Textrede sehr eng an die Autoreninstanz und setzen diese entsprechend auch unter Rechtfertigungsdruck – darauf wird noch zurückzukommen sein. Der Text beginnt mit: Unbekanntes kleines Fräulein! Weil ich Sie nicht kenne, schreibe ich Ihnen durch die Zeitung. Ja, indem ich mir die Umstände unserer Begegnung überlege, wird mir klar, daß ich an jemand schreibe, den es gar nicht mehr gibt oder doch nur in höchst schattenhafter Weise. (GW II, S. 650)
Mit dieser Anrede signalisiert Musil, wie sehr sich die angesprochene Person im Medium der »Zeitung« verwandelt: Der Zufall der Begegnung in der Straßenbahn wird durch die noch viel zufälligere Ansprache an das Fräulein in der Zeitung potenziert. Dabei wird es aber zu einer Schatteninstanz, denn das »Fräulein« ist als solches längst nicht mehr existent, wenn es diese nachträgliche Flaschenpost im Meer der Druckerschwärze überhaupt lesen sollte. Die räumliche Distanz, die zu jeder brieflichen Liebeskommunikation gehört, wird hier verdoppelt durch die Zeitdistanz. Trotzdem versucht der Text, die Präsenz dieser Begegnung heraufzubeschwören: Jene Begegnung vollzog sich aber unter sehr alltäglichen Umständen. Sie stiegen in einen Wagen der Straßenbahn ein, worin ich saß. Ich vermute, daß Sie mich unter den wenigen Fahrgästen bemerkt haben werden, denn Sie trugen ein ungemein gehaltenes Wesen zur Schau, ganz kleine Dame, die es fühlt, daß man sie betrachtet. (GW II, S. 650)
Anders als in der Tagebuch-Notiz und später dann auch im Mann ohne Eigenschaften will das Ich des Feuilletons vom Fräulein seinerseits bemerkt worden sein. Ihre Selbstinszenierung soll auch ihm gegolten haben; seine Briefrede gibt sich wie eine Antwort darauf. Der stummen Theatralität der Begegnung entsprechend beschreibt er dann ausführlich ihr damenhaftes Kostüm, an das sie sich auch noch erinnern möge. Diese Erinnerung will er mit ihr primär teilen, nicht unbedingt eine aktuelle Liebe. In die Annäherung werden gleichzeitig Distanzierungssignale eingebaut. Dazu projiziert sich der sprechende Betrachter des Feuilletons gleich selbst in die Straßenbahnszene, als Alter Ego des männlichen Begleiters des Fräuleins: 21
Die Ausgabe übernimmt sogar noch die faksimilierte Musil-Unterschrift aus dem Tageblatt.
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In Ihrer Gesellschaft befand sich ein Herr meines eigenen Alters, der mir auch gefiel; er konnte ein viel älterer Bruder sein, aber wenn er Ihr Vater gewesen sein sollte, so erwies er sich Ihnen in einer jugendlichen Weise gleichgestellt und gar nicht herrisch, und ich möchte vermuten, daß Sie seinen Gedanken in einer ähnlichen Weise schmeichelten wie den meinen. (GW II, S. 650)
Alles scheint hier darauf angelegt, dass das Ich als virtueller Vater oder Bruder in eine unverfängliche Beziehung zum Fräulein eintreten darf. Dazu wird es im folgenden Satz auch gegenüber dem Tagebuch um wichtige zwei Jahre älter gemacht: »Ich schätze, daß Sie damals höchstens vierzehn Jahre alt waren.« (GW II, S. 650) So wird der Verdacht der Pädophilie, der auf dieser Begegnung liegt, etwas entschärft. Dazu setzt der Ich-Briefschreiber in der Folge auch zu einer ganzen Reihe von Rechtfertigungsbehauptungen an: Vielleicht ist diese Ausrede falsch, aber jedenfalls gibt sie zu, daß meine Bewunderung unsachlich und in einem nicht ganz einwandfreien Sinne romantisch war, was auch ganz natürlich ist, denn die Möglichkeit, mich in Sie zu verlieben, lag ja gerade darin, daß ich nicht im vollen Bewußtsein der Wirklichkeit handelte, die mir das nicht erlaubt hätte. Lassen Sie uns das gute, alte Wort Traum dafür gebrauchen: dort begegnet man einem Menschen, erkennt, wer er ist, und weiß, daß er ein anderer ist [. . .]. (GW II, S. 650)
Die »Ausrede« ist gleichzeitig auch eine Literarisierung der »Bewunderung«; diese ist »unsachlich«, aber auch nicht ganz richtig »romantisch« und führt in einen anderen Bewusstseinszustand, der schon auf den ›anderen Zustand‹ verweist. Dafür gibt es hier nur erst »das gute, alte Wort Traum« als Chiffre, die er mit ihr teilen will, auch wenn man darin eben ein »anderer« ist – damit enthebt sich der signierende Musil seiner direkten Verantwortung gegenüber dem »unbekannten kleinen Fräulein«. In der Folge literarisiert er die Begegnung noch weiter und hebt sie in eine fiktionale Dimension. Denn immer schon hätten die legendären Kindfrauen die »Männer« bis zum »Märchenerfinden« gereizt; »es ist das offenbar eine Phantasie, die der Mannsperson aus vielerlei Gründen ans Herz geht.« (GW II, S. 651) Ein Gender-Argument oder eine Gender-Ausrede – jedenfalls darf die Frau als »Phantasie« des Mannes von diesem literarisiert werden. Unter dieser literarischen Lizenz erlaubt sich das Feuilleton Experimente im Liebesdiskurs. Dazu gehört auch das Erproben von ungewohnten Metaphern. Bei Marieluise Fleißer war dies etwa die Beziehungsangel, an der sie als Fisch zappelt. Musil dagegen erwägt hier ein florales Bild, hart an der weichen Grenze zum Kitsch, um es sich sogleich zu verbieten: Es fällt mir dabei ein, daß man Ihre Erscheinung auch ganz und gar nicht mit einer »Knospe« vergleichen durfte, denn die Form einer solchen ist zwar jugendlich, aber hart und entschieden, und der Liebreiz Ihrer verfrüht aufgeblühten Kindhaftigkeit glich eher einer Blume ohne Wurzel, ja, ohne Stiel. Mehr habe ich Ihnen eigentlich nicht zu sagen. (GW II, S. 651)
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Das romantische Repertoire, in das Musil hier greift, zerfällt unter seiner Hand und vor den Augen der Leserin und des Lesers. Dann wird das feuilletonistische Schreibexperiment abgebrochen – auf diese blumigen Bilder wird er auch im Mann ohne Eigenschaften in diesem Zusammenhang nicht mehr zurückgreifen. Das Feuilleton wird so zum Laboratorium, in dem Musil das verfängliche Blickerlebnis einerseits durch Literarisierung und andererseits durch Reflexion so zu objektivieren versucht, dass er es zugleich vergegenwärtigen und sich vom Leibe halten kann – schließlich zeichnet er ja mit dem eigenen Namen dafür. Bilanzierend heißt es gegen Schluss: »Und ich habe weder eine Moral noch eine Unmoral daraus abzuleiten: offenbar lag unsere Begegnung zwischen diesen beiden Möglichkeiten, und es sind ja auch schon über zehn Jahre seither ohne Folgen vergangen.« (GW II, S. 651) Mit einem deutlichen Nietzsche-Anklang wird die Begegnung als eine jenseits von Gut und Böse qualifiziert und nochmals der Zeitabstand zum »Fräulein« bestätigt. In einer subtilen Pointe wird dieser Zeitabstand am Schluss auf die Adressatin verschoben, die nun definitiv kein »kleines Mädchen« mehr ist: »Und anderseits frage ich mich, was wohl Sie noch von dem kleinen Mädchen wissen mögen, das es nicht erwarten wollte, Sie zu werden, und sicher jetzt ein wenig davon enttäuscht ist.« (GW II, S. 651) In dieser Pointe, als solche typisch für das Feuilleton, wird die Leserin des Textes nochmals als solche angesprochen. Die Strategie, mit der unbekannten Adressatin des Liebesbriefs auch gleichzeitig die virtuelle Adressatin des Feuilletons, die ›liebe Leserin‹, anzusprechen, teilt Musil mit Hausmanns thematisch verwandtem Text. Musil jedoch ist sich bewusst, dass sie sich als schattenhaftes Phantom höchstens für farbige Traumprojektionen eignet.22 Mit der schönen Volte vom Schluss des Tageblatt-Textes lässt Musil dieses Phantom elegant sterben, womit sein Text auch abbrechen muss. Anders als die meisten seiner Feuilletons hat er diesen Text auch nicht mittels Zweitverwertungen oder im Nachlaß zu Lebzeiten neu zum Leben zu erwecken versucht. Und doch bleibt das Erlebnis mit der Kindfrau für Musil weiter wirksam, ja es wird als ein Schlüsselerlebnis ins große Liebesexperiment des Mann ohne Eigenschaften hineinverwandelt. Das kann hier nur noch angedeutet werden. Im 28. Kapitel des Zweiten Buchs, das 1932, also zwei Jahre nach dem Brieffeuilleton erscheint, erzählt Ulrich seiner Schwester Agathe das Erlebnis aus dem Tagebuch ein erstes Mal, als Teil des Versuchs, ihre Geschwisterliebe näher zu bestimmen (vgl. MoE, S. 943 f.). Der Roman hält sich zunächst bis in die Formulierung nahe an der Tagebuch-Notiz, macht das Erlebnis Musils zu einem von Ulrich: 22
Musil reflektiert in einer nur im Nachlass erhaltenen Skizze über die Apostrophe der »schönen Leserin«, die aus der trivialen Romantik stamme, »wo die Dichter ihren Novellen u Aufsätzen die Form von Briefen an fingierte schöne Leserinnen gaben u.[nd] sich mit dieser schmachtenden Vorstellung ankurbelten.« (GW II, S. 801)
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Es ist auf der Straßenbahn geschehen. Da stieg ein junges Mädchen zu mir ein, vielleicht zwölf Jahre alt, in Begleitung ihres sehr jungen Vaters oder älteren Bruders. Wie sie eintritt, sich setzt, dem Schaffner nachlässig das Geld für beide reicht, ist sie ganz Dame; aber ohne jede Spur von kindlicher Geschraubtheit. (MoE, S. 943)
Auch wenn das Mädchen hier sogar »zu mir« in die Straßenbahn einsteigt, scheint sie doch nicht in der gleichen Weise für Ulrich bestimmt. Er sieht sich auch nicht als ihr Alternativvater. Ihre Fremdheit bleibt in dieser Version erhalten: »Vielleicht war sie Albanerin? Ich saß zu weit, um hören zu können, wie sie sprach.« (MoE, S. 943) Das Blickbegehren wird nun durch einen fremden Tonkanal unterlegt und konterkariert. Die Gefahr aber, die von dieser »Erscheinung« ausgeht, wird gegenüber dem Tagebuch verallgemeinert und gleichzeitig verschärft. Steht im Tagebuch: »Man kann sich leidenschaftlich in ein solches Mädchen verlieben, toll vom ersten Anblick an« (Tb I, S. 632), so heißt es nun im Roman: »Man kann sich leidenschaftlich in eine solche Erscheinung verlieben, tödlich, und eigentlich ohne Begehren.« (MoE, S. 943) »[O]hne Begehren«, aber desto tödlicher: eine solche »Erscheinung« bedroht mit dem Subjekt auch die »Ordnung«. Was sich im Tagebuch andeutet, wird nun konkretisiert: Ulrich berichtet, wie er sich scheu nach anderen Personen im Wagen umgesehen habe, »denn es war mir, als wiche alle Ordnung von mir zurück.« (MoE, S. 944) Im Kontext des Romankapitels wirkt die »Erscheinung« als eine Keimzelle jenes ›anderen Zustands‹, um den sich Ulrichs und Agathes Gespräche endlos zu drehen beginnen, ein letztlich irreversibler Ausstieg aus dem Alltag und den sozialen Beziehungskonventionen. In der »kleinen Erzählung« (MoE, S. 944), als welche die Episode in den Roman eingelegt ist, folgt Ulrich denn auch, anders als im Feuilletonbrief, der aus der Straßenbahn aussteigenden Kindfrau und verliert sie erst in der Menge. In dem nur als Druckfahne erhaltenen Kapitel »Das Sternbild der Geschwister Oder Die Ungetrennten und Nichtvereinten« setzt Ulrich ein zweites Mal an, mit der Schwester von diesem »Erlebnis« zu sprechen.23 Noch einmal wechselt es hier seinen Aggregatszustand; nun erscheint es ihm »wie ein geheimnisvoll vergangenes Liebesgedicht, dessen Andeutungen voll nie erlebter Seligkeit sind.« Die Erfahrung metaphorisiert und literarisiert sich damit doppelt. Doch gleichzeitig verkörperlicht sich die Kindfrauen-Phantasie: Das Mädchen ist hier wieder »etwa zwölf Jahre[ ]« alt, und Ulrich beginnt über die Beine und Schenkel von halbwüchsigen Mädchen allgemein zu phantasieren (MoE, S. 1338). Ulrichs Schwester Agathe, als hätte sie das Brieffeuilleton gelesen und die dort für die Zeitungsöffentlichkeit angelegten Rechtfertigungsstrategien durchschaut, fragt als Reaktion auf diese Schwärmereien nun direkt: »Und wider die Natur ist es gar nicht, solche Empfindungen an ein Kind zu wenden?« (MoE, S. 1339) Ulrich erklärt jedoch als Antwort, dass es hier eben 23
Dazu gibt es wiederum eine Tagebuch-Notiz (Heft 33, 1937–1941); vgl. Tb I, S. 932 f.
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nicht um »plump unmittelbares Begehren« gehe, sondern dass diese Erfahrung auf ein »übergroßes und überleidenschaftliches Verlangen nach Liebe« verweise. Erst darum könne die Geschichte »eine Vorstufe der Geschwisterliebe« sein (MoE, S. 1339). In einer langen Erweiterung führt anschließend der Erzähler Ulrichs Gedanken verallgemeinernd weiter, bis hin zur Frage, ob wir unser Leben eher mit einem Überschuss an Glück oder an Unglück führen. Im zweiten Anlauf scheint es damit gelungen, das Tagebucherlebnis, gerade weil es für Ulrich ein Beispiel von »Widerweltlichkeit« und »starker Widersetzlichkeit« des Liebesverlangens bleibt (MoE, S. 1339), dem Romanprojekt als Keimzelle einer neuen, anderen Form der Liebe anzuverwandeln. Dabei kann die provokative, körperliche Konkretheit von Musils Kindfrau schließlich in eine verbale Gedankenwolke hineinsublimiert werden. Das Brieffeuilleton dient dabei als experimentelle Zwischenstufe. Sie kann Musil bewusst machen, wie heikel es moralisch ist, dieses Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, und wie schwierig es ist, dafür ästhetisch überzeugende Formulierungen zu finden. Das Feuilleton ist dafür ein öffentlicher Prüfstand; hier adressiert man die privatesten Erinnerungen an jene anonyme Leserin, die Liebesobjekt und Repräsentantin aller Zeitungsleser gleichzeitig ist. So verschränken sich hier in extremer Weise Nähe und Distanz. Auf diesem Prüfstand kann man die Gefühle zwar hochdrehen lassen, muss sie dann aber wieder moralisch herunterbremsen, wenn man sie nicht fast provokativ, wie bei Fleißer, in die Öffentlichkeit hinausschreit. Oder man kann, wie Walser, der feuilletonistischen Fremdbestimmung selbst eine Liebe erklären, die dann jedoch die Form und den Stil einer Geschäftsbeziehung annehmen muss. Das Experiment des Tageblatts zeigt: Trotz ihrer engen Verwandtschaft lassen sich Brief und Feuilleton nicht ganz auf einen gemeinsamen Nenner bringen, gerade wenn dieser nicht der kleinste, sondern der größte, nämlich die Liebe, sein soll.
Paul Keckeis
Zum »Lebensparallelismus« der kleinen Form Feuilletonistische Produktivierungsstrategien bei Robert Walser (mit Blick auf Franz Kafka und Robert Musil) Abstract: This article focuses on the relationship between »small form« and the novel. The examples of Robert Walser, Kafka and Musil give evidence of the fact that the literary appeal of the »small form« to some extent rests in its capacity, at the turn of the century, to address and explore problems of realism, which by means of the novel appeared to be unanswerable. With regard to Walser’s Aufsätze and Kafka’s Betrachtung, the article argues that both writers affirm the subordination that comes with publishing in the feuilleton, because early on they know how to utilize the »small form« as a means to transcend canonical styles of writing which had been established in the novel of the 19th century and were reinforced by contemporary novelists. Walser’s Räuber and Musil’s Mann ohne Eigenschaften, however, show that the productive interrelation between »small form« and novel also depends on the novel’s capacity to reintegrate aesthetic strategies and styles of writing developed in the »small form«.
Im Brief an einen Besteller von Novellen (1928), einem zu Lebzeiten unveröffentlichten Text Robert Walsers, antwortet ein Schriftsteller auf die Anfrage eines Verlegers oder Herausgebers, der »spannende Novellen« einzuwerben hofft, er sei für dieses Ersuchen der falsche Adressat, nicht die »geeignete Persönlichkeit«, weil er »zeit [s]eines Lebens« nur »sehr wenig erlebt« habe (SW 20, S. 424 f.1 ). Schon die großen Novellisten des 19. Jahrhunderts, so der Schriftsteller, bildeten mit ihren berühmten Werken bloß eine Ausnahme; ihm scheine, »Tschechow- und Maupassant-Talentiertheiten seien in der nach und nach Wirklichkeit gewordenen Zivilisationszentralisation oder Gebildetheitsausgebildetheit, wie sie heute vorhanden ist, denkbar rar geworden.« Für das 20. Jahrhundert also sei die Novelle oder novellistische Schreibweise anachronistisch: »Wer lebt und liebt heutzutage noch spannend und packend? Wo begegnet einem Augen und Ohren aufmerksam Öffnenden, mit Novellen usw. Rechnenden irgendein menschliches Benehmen, das etwas Novellistisches an sich hätte oder aufwies?« (SW 20, S. 425) Am Beispiel der Novelle2 1 2
Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. 20 Bde. Hg. v. Jochen Greven. Frankfurt a. M. 1985–1986 (im Folgenden zit. als »SW« mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl). Walser rekurriert immer wieder auf die Novelle, vgl. dazu Peter Utz: Italianismen vom Kollegen Kartoffelstock. Robert Walsers Auseinandersetzung mit der Novellentradition, in: Bildersprache, Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser. Hg. v. Anna Fattori u. Margit Gigerl. München 2008, S. 33–48. Auch in Meine Bemühungen, einem Schlüsseltext
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wird eine weitreichende These über die kultur- und sozialhistorische Passung der literarischen Gattungen angedeutet, vor deren Folie Walsers Schriftsteller nun die Grundzüge seiner Poetik skizziert: Da sich das Leben, wie ich gesehen zu haben und fernerhin sehen zu können meine, gleichsam in etwas Versuchshaftes, vorsichtig Tastendes verwandelt hat, so geschah dies im Verlaufe der letzten Jahre mehr und mehr auch mit der Schriftstellerei, die ein Lebensparallelismus war und bleiben wird. Verfeinert sich das Leben, so wird auch die Kunst bedächtiger oder verantwortungsvoller, und die ruhige Erwiderung auf ihre Anfrage, ob ich packend zu sein imstande sei, fällt dem darin Ausgesprochenen entsprechend aus, was ich Sie freundlich bitte, feststellen zu wollen. (SW 20, S. 426 f.)
Dieses Wort vom »Lebensparallelismus« der Schriftstellerei hat indes nicht nur im Zusammenhang von Walsers fingiertem Brief einen zentralen Stellenwert, sondern benennt ein Grundthema seines Werks, dem gleichsam epochale Signifikanz zugerechnet werden darf; nicht als neusachliche Forderung nach einer dokumentarischen Literatur, oder gar im Sinne einer Wiederspiegelungsästhetik, aber doch, wie es schon in Walsers erstem Roman Geschwister Tanner (1907) heißt, in dem Sinn, dass »Kunstfragen bisweilen auch Lebensfragen« sind, »Lebensfragen [. . .] in noch weit höherem und edlerem Sinne Kunstfragen« (KWA I/2, S. 2683 ; SW 9, S. 289). Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kunst und Leben ist eines der zentralen Themen der poetologischen Diskussionen der Zeit; folgt man Walsers Brief an einen Besteller von Novellen, dann ist sie immer auch eine Gattungsfrage. Der Aufstieg der kleinen Form im frühen 20. Jahrhundert verdankt sich nicht zuletzt der Einschätzung vieler Autoren, dass sie der gesellschaftlichen Wirklichkeit in besonders produktiver Weise korrespondiere. Alfred Polgar schreibt in seinem ›Quasi-Vorwort‹ zur Feuilletonsammlung Orchester von Oben (1926), ähnlich wie dies zeitgenössisch immer wieder als Vorzug der Kurzprosa ins Treffen geführt wurde, das »Leben« sei »zu kurz für lange Literatur, zu flüchtig für verweilendes Schildern und Betrachten, zu psychopathisch für Psychologie, zu romanhaft für Romane, zu rasch verfallen der Gärung und Zersetzung, als daß es sich in langen und breiten Büchern lang und breit bewahren ließe.«4 Misst man die Literatur am Leben, spricht
3 4
der letzten Werkphase, wird die Novelle als jene Gattung konzipiert, die emblematisch steht für den Konflikt zwischen den Anforderungen des literarischen Markts und den Interessen des Schriftstellers; ungeachtet aller Fragen nach der ästhetischen Plausibilität oder (Un-)Möglichkeit der Gattung am Beginn des 20. Jahrhunderts (eine Diskussion, die intensiv geführt wird und an der sich auch Musil beteiligt) fordern die Verlage und Verleger von den AutorInnen Novellen ein, weil das Label am Buchmarkt weiterhin zu funktionieren scheint. Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Basel, Frankfurt a. M. 2008 (im Folgenden zit. als »KWA« mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl). Alfred Polgar: Die kleine Form (quasi ein Vorwort), in: ders.: Kleine Schriften. Bd. 3: Irrlicht. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarb. mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1984, S. 369–373, hier S. 372.
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tatsächlich einiges für den besonderen Stellenwert der kleinen Form: Das Feuilleton vermag wie kaum ein anderes Medium der Literatur mit der Gegenwart Schritt zu halten, wir befinden uns im ›feuilletonistischen Zeitalter‹ (Hesse), »[d]as ästhetische Gebot der Stunde«, so Polgar, heißt: »episodische Kürze«.5 Dabei sollte nicht übersehen werden, dass auch Polgars Variante des ›Lebensparallelismus‹ der Schriftstellerei – mit Pierre Bourdieu könnte man formulieren – ›Einsatz‹ im Spiel der Klassifikationen ist; immerhin bringt er die kleine Form gegen den Roman in Stellung. Auch die Literaturwissenschaft hat, wo sie darum bemüht war, die kleine Form aufzuwerten und endlich zu ihrem Gegenstand zu machen, deren Vorzüge oft gegen andere Gattungen, manchmal überhaupt gegen die Gattungen betont. Als »Experimentalform moderner Literatur«6 sei sie »strahlkräftiges Alternativmodell zu den literarischen Großgattungen«;7 oft artikuliere sich in der kleinen Form ein »distinktive[r], nicht selten ironischer Bezug zum etablierten System der literarischen Gattungen«,8 sie sei »außerhalb des Gattungskanons« situiert und entziehe sich »der Zuordnung zu definierten Genres«.9 Wenn die Literaturwissenschaft die kleine Form in Abgrenzung und Konkurrenz zu den etablierten Gattungen konzipiert, nimmt sie eine historische Perspektive auf, die durch die Selbstauskünfte vieler Protagonisten der Literatur ›unter dem Strich‹ gedeckt scheint. Die Frage nach poetologischen Wechselbeziehungen zwischen der kleinen Form und anderen Gattungen der Literatur – das ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Aufsatzes – ist mit dieser Abgrenzung, der auch eine Form der Inszenierung von Autorschaft zugrunde liegt,10 aber noch nicht beantwortet. Gerade der Roman der Zwischenkriegszeit, darauf wurde immer wieder hingewiesen, verdankt seine ästhetischen Innovationen nicht zuletzt der Integration feuilletonistischer Techniken und Schreibweisen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Attraktivität der kleinen Form für zentrale Autoren der Epoche auch schon 5 6
7 8 9 10
Ebd. Dirk Göttsche: Prosaskizzen als Denkbilder. Zum Zusammenspiel der Schreibweisen der kleinen Prosa der Gegenwart, in: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. v. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel u. Dirk Göttsche. Tübingen 2007, S. 283–302, hier S. 286. Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne, in: Kleine Prosa (Anm. 6), S. IX – XXVII, hier S. XXI . Ich zitiere aus dem Exposé zur Jahrestagung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft 2017, die dieser Publikation vorangegangen ist. Moritz Baßler: Kurzprosa, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Georg Braungart u. a. hg. v. Harald Fricke. Bd. II : H–O. Berlin, New York 2000, S. 371–374, hier S. 371. Für den Zusammenhang zwischen Gattung und Autorschaftsinszenierung siehe die Beiträge von Thomas Hübel, Paul Keckeis und Werner Michler in: Poetologien des Posturalen. Autorschaftsinszenierungen in der Literatur der Zwischenkriegszeit. Hg. v. Clemens Peck u. Norbert Christian Wolf. Paderborn 2017.
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zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders hoch ist, weil poetologische Fragen in ihrem Einzugsbereich liegen, die auch in der Romandiskussion des 19. Jahrhunderts verhandelt werden. Autoren wie Kafka, Musil oder Walser erkennen das Potential dieser Gattungskonstellation zu einem Zeitpunkt, da die Unzulänglichkeit realistischer Erzählverfahren im Roman offenkundig geworden war, aber noch nicht abzusehen ist, welche neuen Verfahren an ihre Stelle treten könnten. Der Aufstieg der kleinen Form, das ist eine leitende These der folgenden Überlegungen, verdankt sich nicht nur ihrer Konkurrenz zu den literarischen Großgattungen, sondern zugleich den Möglichkeiten der Kooperation, insbesondere zwischen kleiner und großer Form. Dabei wird sich zeigen, dass gerade ihr Spannungsverhältnis und die Inszenierung ihrer Konkurrenz das Fundament dieser produktiven wechselseitigen Beziehung bildet. Kafka, Musil und Walser sind hier auch deshalb besonders interessant, weil sie gewissermaßen im Zeichen dieser Gattungskonstellation zusammengeführt worden sind. In einem ersten Abschnitt wird gezeigt, dass die Frage nach dem »Lebensparallelismus« der Literatur schon die Romandiskussion des 19. Jahrhunderts dominiert; der poetologische Diskurs über die kleine Form kann als eine Fortsetzung dieser Diskussion gelesen werden, der die Hoffnung zugrunde liegt, sie könnte eine Fortführung des realistischen Projekts mit anderen ästhetischen Mitteln ermöglichen. Im zweiten Teil, der auf jene Episode rekurriert, da Musil als Redakteur der Neuen Rundschau versucht hat, Kafka als Beiträger anzuwerben, wird argumentiert, dass Kafka und Walser aus der Affirmation minoritärer Positionen im Kontext des Feuilletons eine Produktivierungsstrategie entwickeln, der auch in ihrer Romanarbeit eine zentrale Bedeutung zukommt. Im dritten Teil wird am Beispiel der Feuilletonsammlungen – Walsers Aufsätze (1913) und Kafkas Betrachtung (1912; im Impressum 1913) sind fast zeitgleich erschienen und nehmen Musils Nachlaß zu Lebzeiten (1936) in ihrer textübergreifenden kompositorischen Dichte vorweg – gezeigt, dass die Attraktivität der kleinen Form für diese drei Autoren ganz wesentlich an die Bedingung geknüpft ist, dass in ihr weiterhin auch die großen Zusammenhänge adressiert werden können. Im vierten Abschnitt steht eine Passage aus Walsers »Räuber«-Roman im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die dokumentiert, dass solche Verfahren, die aus der Dialektik zwischen kleiner und großer Form entstehen, schließlich auch im Roman produktiv werden. Zuletzt werden die Ergebnisse der Untersuchung noch einmal im Zusammenhang der Frage nach den Möglichkeiten eines »Realismus in der Moderne«11 perspektiviert.
11
Vgl. dazu den Beitrag von Dirk Göttsche in diesem Band.
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1. Realismus zwischen Roman und kleiner Form In Gattungen gesprochen lautet die Antwort auf die Frage, wie die Literatur ihren ›Lebensparallelismus‹ wahren könnte, zu Walsers Zeiten: mithilfe der kleinen Form. Zu bedenken ist an dieser Stelle allerdings, dass hinsichtlich der Frage, wie die Literatur jenseits tradierter Schreib- und Erzählweisen weiterhin am Leben, an der gesellschaftlichen Wirklichkeit teilhaben könnte, jedenfalls das ganze 19. Jahrhundert hindurch gerade auf den Roman größte Hoffnungen gesetzt wurden; das klingt in Polgars paradoxer Formulierung nach: »zu romanhaft für den Roman«. Johann Karl Wezels Bezeichnung des Romans als »bürgerliche Epopee«12 ist als Hegels »bürgerliche Epopöe«13 kanonisch geworden. Wofern er an die Stelle des Epos trete, vermöge der Roman, so Hegel, auf dem Boden einer »bereits zur Prosa geordnete[n] Wirklichkeit«14 der »Poesie ihr verlorenes Recht [wiederzuerringen]«.15 Die ganze romanpoetologische Diskussion des 19. Jahrhunderts laboriert an dieser Frage des »Lebensparallelismus« der Kunst, an der Frage, wie die Literatur ihr Recht auf die Wirklichkeit behalten könnte, ohne sich – das ist die entscheidende Relativierung – ihr ganz ergeben zu müssen. So antwortet Wilhelm Scherer auf die Kritik Friedrich Spielhagens, wonach George Eliot in Middlemarch (1871–1872/1874) an der Aufgabe, eine Welt zu schaffen, Zusammenhänge darzustellen, schlicht gescheitert sei, Eliot habe eine »zu große Herrschaft über die Mittel ihrer Kunst, als daß sie die lose zerstreute Composition nicht gewollt haben sollte.«16 Vielmehr, so Scherer, sei Eliots Roman Ausdruck einer »neuen Phase des Realismus«, die der Beobachtung Rechnung trage, »daß sich interessante Begebenheiten im Leben nie so abgerundet vollziehen, wie auf der Bühne oder im Roman«.17 Auch in Scherers Argumentation ist es aber gerade der Roman, der sich dieser Wirklichkeit, dem Leben, immer wieder neu anzunähern versteht, weil er nicht auf eine bestimmte Schreibweise verpflichtet ist. Scherer hält Eliot schließlich zugute, dass vielleicht im »Chaotischen das Lebenswahre«18 bestehe und dass sie selbst dort, wo es ihrem »echt künstlerische[n] Streben nach Totalität« nicht genüge, »nur abgerissene Erscheinungen aneinander zu reihen, wie das Leben oft launenhaft Trümmer mit Trümmern verbindet«, verstehe, 12 13 14 15 16 17 18
Johann Karl Wezel hat die Formulierung in der Vorrede zu seinem ›komischen Roman‹ Herrmann und Ulrike (1780) gestiftet: Johann Karl Wezel: Herrmann und Ulrike. Hg. v. Bernd Auerochs. Heidelberg 1997 (= Gesamtausgabe in acht Bänden. Jenaer Ausgabe, Bd. 3), S. 10. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1986, S. 392. Ebd. Ebd., S. 393. Wilhelm Scherer: George Eliot und das Judenthum, in: ders.: Kleine Schriften zur neueren Litteratur, Kunst und Zeitgeschichte. Hg. v. Konrad Burdach u. Erich Schmidt. Bd. 2. Berlin 1893, S. 124–141, hier S. 132. Ebd. Ebd., S. 133.
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die »Ahnung der Welt« als chaotischem Zustand »im Hintergrunde« präsent zu halten.19 Diese Linie der romanpoetologischen Diskussion bricht auch nach Scherer nicht etwa ab, sondern kann über Émile Zola und die Brüder Hart, Richard Moritz Meyer oder Samuel Lublinski, über Georg Lukács bis zu Michail Bachtin hinauf verfolgt werden. Bachtin attestiert dem Roman in seiner Methodologie der Romanforschung, er sei »das Formbare par excellence; er ist das ewig suchende, immer wieder sich selbst erforschende und alle seine konsolidierten Formen revidierende Genre.«20 Wenn Bachtin in einer Schlegel’schen Wendung »das Romanhaftwerden der Literatur« fordert, dann »bedeutet das ganz und gar nicht, daß den anderen Genres ein ihnen nicht wesenseigener, fremder Genrekanon aufgezwungen wird.« Der Roman, so Bachtin, »verfügt ja gar nicht über einen solchen Kanon. Er ist von seinem Wesen her nicht kanonisch. [. . .] So kann nur ein Genre beschaffen sein, das in der Zone des unmittelbaren Kontakts mit der im Werden begriffenen Wirklichkeit entsteht.«21 Folgt man also der These, dass die kleine Form ihre Konjunktur um 1900 nicht zuletzt der Eigenschaft verdankt, dass sie, wie Dirk Göttsche ausgeführt hat, »die moderne Dynamisierung von Lebenswelt, Wissen und Gesellschaft«22 besonders treffend zu reflektieren und literarisch produktiv werden zu lassen vermag, dann ist sie gerade darin dem Roman eng verwandt. Und wenn es auch stimmt, dass die Autoren der kleinen Form im frühen 20. Jahrhundert gegen die Großgattungen zu Felde ziehen, dann ist mit Bachtin anzunehmen, dass sie den Roman wenigstens mit im Gepäck haben. Walser, Kafka und Musil jedenfalls haben die Geschichte sowohl der kleinen als auch der großen Form entscheidend geprägt. Das Interesse dieser drei Autoren an der Kurzprosa steht dabei auch im Zusammenhang ihrer Auseinandersetzung mit der großen Form, die Qualität ihrer Romane verdankt sich ganz wesentlich den Erfahrungen, die sie auf dem Gebiet der kleinen Form gemacht haben. In dieser Beobachtung bestätigt sich aber nicht die alte, auch die Fachgeschichte lang bestimmende Hierarchie zwischen kleiner und großer Form; ganz im Gegenteil soll hier argumentiert werden, dass diese Autoren mit der kleinen Form auch das Romanschreiben noch einmal neu gelernt haben.
19 20 21 22
Ebd. Michail Bachtin: Zur Methodologie der Romanforschung, in: ders.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. v. Edward Kowalski u. Michael Wegner. Frankfurt a. M. 1989, S. 210–251, hier S. 250. Ebd., S. 250 f. Dirk Göttsche: Kleine Prosa in Moderne und Gegenwart. Münster 2006 (= Literaturwissenschaft. Theorie & Beispiele, Bd. 8), S. 8.
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2. Affirmation minoritärer Positionen Anfang 1914 versucht Musil, Kafka als Beiträger für die Neue Rundschau anzuwerben; auch wenn sein Geschmack gewiss »zu exklusiv« dafür sei, so Musil, könnte ihm eine Publikation in der Zeitschrift allein schon ob ihrer »großen Publizität« nützen: »Betrachten Sie bitte diese ›Zeitschrift‹ als ihr persönliches Organ für alles, was Sie in der Kunst oder damit zusammenhängenden Gebieten durchgesetzt wissen wollen. Vor allem sich selbst.«23 Musils Korrespondenz mit Kafka ist für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen kleiner und großer Form in zweifacher Hinsicht interessant. Einerseits scheint seine Bescheidenheitsgeste, die auch eine Eignung für den Redakteursposten verrät, in Übereinstimmung mit der offiziellen Gattungshierarchie der Zeit zu stehen. Musil selbst hatte im November 1910 in seinem Tagebuch notiert, auch wenn er »im Streben nach Verdienst« die Möglichkeit, in Zeitungen und Zeitschriften zu publizieren, in Betracht gezogen habe, sei ihm der »Feuilletonismus, selbst der in der Neuen Rundsch.[au] oder im Pan [. . .] zu ekelhaft«: »Wenn irgend ein mir ähnlicher Unbekannter meinen Namen so unter der u.[nd] jener Unnotwendigkeit fände, ich würde mich schämen.« (Tb I, S. 230) Andererseits wird hier deutlich, dass Musil zwischen dem Feuilleton als Publikationsort und feuilletonistischen Schreibweisen sehr genau unterscheidet. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung zeigt sich, dass er die zeitgenössische feuilletonistische Praxis nicht deshalb ablehnt, weil er das Feuilleton grundsätzlich nicht als literarisches Medium anzuerkennen bereit wäre, sondern weil er ihre literarische Reichweite bemängelt. Für Musil erhält die feuilletonistische Tätigkeit erst dort Legitimation, wo sie als genuin literarisches Projekt betrieben wird: »Was man so verstreut schreibt, muß Bruchstück, mindestens Abfall, eines breiten, nicht zufälligen Strebens sein.« (Tb I, S. 231) Musil dürfte Kafka auch deshalb zu einer Publikation seiner Arbeiten in der Neuen Rundschau eingeladen haben, weil er eine solche literarische Reichweite schon in dessen bisherigen feuilletonistischen Publikationen erkannt hatte. Tatsächlich hat Kafka den Zeitungen und Zeitschriften in seinem »Schema zur Charakteristik kleiner Litteraturen«24 sogar einen systematischen Ort zugewiesen. So verdanke die kleine Literatur ihr erstes Kennzeichen, ihre besondere »Lebhaftigkeit«, wie Kafka am 25. Dezember 1911 notiert, nicht zuletzt dem »Getriebe der Zeitschriften«.25 Gewiss, Kafkas Situation als Schriftsteller ist eine sehr spezifische, als deutschsprachiger Jude in Prag ist er in mehrfacher Hinsicht Außenseiter; schon Gilles Deleuze und Félix Guattari aber haben gesehen, dass Kafkas Idee einer ›kleinen Literatur‹ 23 24 25
KA/Lesetexte/Bd. 18 Korrespondenz/Robert Musil an Franz Kafka, 22. 2. 1914. Franz Kafka: Tagebücher. Hg. v. Hans-Georg Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley. Frankfurt a. M. 2002 (= F. K.: Schriften Briefe Tagebücher. Kritische Ausgabe), S. 326. Ebd., S. 313.
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mehr ist als die Beschreibung einer bestimmten sozialen und kulturellen Situation. In ihrer programmatischen Formulierung lautet die Definition der ›kleinen Literatur‹: »Eine kleine oder mindere Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient.«26 Deleuze und Guattari leiten aus Kafkas Notizen drei zentrale Merkmale ab: Erstens zeichne sich die kleine Literatur durch einen »starke[n] Deterritorialisierungskoeffizient[en]« aus, »der ihre Sprache erfaßt«27 (auf Kafkas Situation übertragen ist damit das Pragerdeutsch gemeint, als eine ›papierene‹ Sprache). Zweitens sei in ihr »alles politisch«,28 und drittens gewinne in der kleinen Literatur, die eben nicht »als eine Literatur der großen Meister«29 konzipiert sei, überhaupt »alles kollektiven Wert«.30 Ohne im Einzelnen auf diese Merkmale eingehen zu können, lässt sich absehen, dass gerade die zeitgenössische Geringschätzung des Feuilletons diesem Projekt einer ›kleinen Literatur‹ dienstbar gemacht werden könnte. Wer ›kleinen‹ Gebrauch von einer ›großen‹ Sprache machen will, der Sprache der deutschen Literatur etwa, findet im Feuilleton gerade aufgrund seiner Stellung in der Gattungshierarchie der Zeit besonders attraktive Bedingungen vor. Hier soll nicht darüber entschieden werden, inwiefern Walsers Situation in Berlin jener Kafkas in Prag vergleichbar ist;31 gerade wenn man die Unterscheide bedenkt, lässt sich aber argumentieren, dass sich am Beispiel Walsers die programmatische Dimension auch von Kafkas Konzept verdeutlicht. Bei Walser nämlich liegt eine ganz bewusste Affirmation einer solchen minoritären Position vor. Nachdem er bis dahin rund ein Dutzend Feuilletons vor allem in der Schaubühne publiziert hatte, stellt sich Walser im September 1907 im Berliner Tageblatt, der auflagenstärksten überregional erscheinenden Tageszeitung Deutschlands,32 mit dem Text Der Schriftsteller der deutschen literarischen Öffentlichkeit vor. Walsers »Held[ ] der Feder«, »[d]er Schriftsteller, wie er sein soll« (KWA III/1, S. 833 ), ist ein »Diener der Menschheit« und »willige[r] Freund der Armen«, den »ein geheimnisvolles Etwas [. . .] beständig [. . .] zur Selbstlosigkeit« (KWA III/1, S. 934 ) zwingt und der sich jede Form von Eitelkeit versagt: 26 27 28 29 30 31
32 33 34
Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a. M. 8 2012, S. 24. Ebd. Ebd., S. 25. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Vgl. dazu Michael Böhler: Vom Umgang der Literaturwissenschaft mit kulturtopographischen Aspekten der deutschsprachigen Literatur, in: Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Hg. v. M. B. Tübingen 2002, S. 11–44. 1907 hatte die Zeitung eine Auflage von 175 000 Exemplaren. Vgl. KWA III/1, S. 328. Der Text findet sich auch in der folgenden Ausgabe: Robert Walser: Der Schriftsteller, in: ders.: Feuer. Unbekannte Prosa und Gedichte. Hg. v. Bernhard Echte. Frankfurt a. M. 2003, S. 23–27, hier S. 24. Ebd., S. 25.
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Der Schriftsteller ist im Leben oft eine sogenannte lächerliche Person, jedenfalls ist er immer ein Schatten, er ist immer daneben, wo andere das unaussprechliche Vergnügen haben dürfen, mitten drin zu sein, er spielt nur mit der emsigen Feder in der Hand, also ganz im Verborgenen eine Rolle. So ungefähr sieht die Schule aus, in der er unter allerhand kränkenden Zurücksetzungen und Vorenthaltungen Bescheidenheit gelernt hat. [. . .] Er ist mit sich jedesmal fertig, wenn er das erste Wort schreibt, und wenn er den ersten Satz geformt hat, kennt er sich nicht mehr. Ich meine, das alles darf ihn empfehlen. . . (KWA III/1, S. 1035 )
Die Rolle des Außenseiters wird hier gleichsam in eine literarische Strategie übersetzt, wobei Walser mit solch freiwilliger Unterordnung oft genug kokettiert. Im Text Dinerabend, der im März 1908 in der Neuen Rundschau erscheint, beschreibt er, wie ein »Zeitschriftenlieferant[ ]« mit feuilletonistischem Blick durch einen Abend in nobler Gesellschaft navigiert: »O, in Gesellschaft zu gehen, das ist garnicht so ohne. Man zieht sich so hübsch an, wie es einem die Verhältnisse, in denen man vegetiert, gestatten und begibt sich an Ort und Stelle.« (KWA II/1, S. 30; SW 15, S. 73) Zwar scheint der Wechsel des sozialen Status im Moment des Empfangs durch einen Diener gesellschaftlich beglaubigt, im feuilletonistischen Duktus des Erzählers verrät sich dessen äußerliche Erscheinung aber als Verkleidung: »Der Diener öffnet die gastliche Pforte. Gastliche Pforte? Ein etwas feuilletonistischer Ausdruck, aber ich liebe es, mich im Stil kleiner Tagesware zu bewegen.« (KWA II/1, S. 30; SW 15, S. 73) So wird die implizite Sozialklassifikation eines Autors, der Zugang zur ›Gesellschaft‹ hat, durch den literarischen Klassifikationsakt, der die »gastliche Pforte« zum »feuilletonistische[n] Ausdruck« degradiert, auf die untergeordnete Stellung des Feuilletonisten im literarischen Feld hin durchsichtig gemacht. Gewiss, die Bereitschaft, an dieser Rolle Gefallen zu finden, mag höher sein, wenn man sich solchen Klassifikationen wieder entziehen kann. Walsers Affirmation minoritärer Positionen wird so auch als posture36 (Jérôme Meizoz) lesbar, die sich im Wechselspiel von kleiner und großer Form literarisch zudem als besonders produktiv erweisen sollte. Ähnlich scheint diese Affirmation minoritärer Positionen auch für Kafka ganz wesentlich an die Bedingung geknüpft, dass man selbst als literarischer Außenseiter immer noch am diskursiven Zusammenhang der großen Literatur teilhaben kann. Die kleine Literatur ist eben nicht, wie Deleuze und Guattari schreiben, »die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient«. Vor dem Hintergrund der steigenden Anerkennung der kleinen Form scheint es zunächst verwunderlich, dass die Feuilletonisten die Geringschätzung des Feuilletons 35 36
Ebd., S. 26 f. Siehe Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq, in: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hg. v. Markus Joch u. Norbert Christian Wolf. Tübingen 2005 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 108), S. 177–188.
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noch zu einem Zeitpunkt beklagen (zu denken wäre hier etwa an Joseph Roths Einbruch des Journalisten in die Nachwelt [1925]), als längst auch schon die etabliertesten Autoren dort publizieren. Gerade am Beispiel Walsers und Kafkas aber zeigt sich, dass diese Differenz zwischen kleiner und großer Literatur eine zentrale Voraussetzung dafür bildet, sich weiterhin im Modus einer kleinen Literatur in die großen Zusammenhänge einschreiben zu können. Eine Nivellierung der Gattungshierarchie liegt nicht in ihrem Interesse, weil sie die Affirmation minoritärer Positionen zu ihrem Programm gemacht haben.
3. Fragmentarisierung und Rekontextualisierung Musil, der die kleine Form nicht als Medium der Affirmation minoritärer Positionen aneignet und diese spezifische posture negiert, wollte seiner feuilletonistischen Tätigkeit zunächst also keine größere Bedeutung beimessen. Es verwundert deshalb nicht, dass sich sein Vorwort zum Nachlaß zu Lebzeiten (1936) ein wenig wie eine Rechtfertigung des erneuten Abdrucks dieser kleineren Arbeiten liest. Auch dort adressiert Musil Vorbehalte gegen die kleine Form, legitimiert sein Projekt wieder unter Hinweis darauf, dass es mit seinen größeren Arbeiten in Zusammenhang stehe: »Zweitens darf ich mich vielleicht auf meine Hauptarbeiten berufen, denen es an den zusammenziehenden Kräften, die man hier vermissen könnte, am wenigsten fehlen dürfte; die weiterzuführen, aber gerade eine solche Zwischenveröffentlichung verlangte.« (GW 7, S. 473 f.) Das mag auch ein ökonomisches Argument sein, aber es lässt sich nicht übersehen, dass Musil seinen kleineren Arbeiten durchaus eine gewisse poetologische Signifikanz beimisst: »[J]edermann werden solche Weissagungen gelingen, der an kleinen Zügen, wo es sich unachtsam darbietet, das menschliche Leben beobachtet und sich den ›wartenden‹ Gefühlen überläßt, die bis zu einer Stunde, die sie aufrührt, scheinbar ›nichts zu sagen haben‹ und sich harmlos in dem ausdrücken, was wir tun und womit wir uns umgeben.« (GW 7, S. 474) Auch für Musil also wird die kleine Form, nachdem sie ihm zunächst bloß Medium der Bruchstücke und Abfälle eines breiteren Strebens war, zu einem Erkenntnismittel eigenen Rechts.37 Schon mit Blick auf Kafka könnte man allerdings fragen, inwiefern kleine und große Form in einem literarischen Werk, das sich in Teilen gerade aus der Dialektik dieser Gattungskonstellation generiert, noch streng voneinander abzugrenzen sind. Kafka macht nicht nur kleinen Gebrauch von einer großen Sprache, seine minoritäre Schreibweise übersetzt sich auch in eine generische Strategie. Ich folge hier einer Interpretation von Gerhard Neumann, der Kaf37
Vgl. den Beitrag von Tanja Kevic in diesem Band.
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kas Betrachtung als Ergebnis von dessen intensiver Auseinandersetzung mit dem Roman liest, genauer, mit dem Bildungsroman. Dass auch in Kafkas Lesekanon der Roman an zentraler Stelle steht, ist, so wie seine Bewunderung etwa für Charles Dickens’ David Copperfield, gut dokumentiert.38 »Alle drei Romane«, so Neumann, »die [. . .] Kafka zu schreiben angefangen hat, suchen solche doppelten Karrieren von Individualität in einem sozialen Umfeld zu verwirklichen, eine Berufs- und eine Liebeskarriere.«39 Neumanns These lautet, dass schon Kafkas erstes Buch Betrachtung vor der Folie des Bildungsromans gelesen werden muss: Die Sammlung simuliere das »Schema eines solchen geplanten (Bildungs-)Romans, der die ›Betrachtung‹ der Welt inszenieren soll, indem er die Motive und Dispositive eines solchen Romanwerks als Kurztexte, gewissermaßen als Stichworte, um eine Achse gruppiert, die den Weg der im Roman angestrebten Karriere eines erlebenden Subjekts in Abbreviatur markiert.«40 Für Neumann ist Kafkas Betrachtung der »erste[ ] Versuch einer Experimentierreihe für das Romanschreiben mit den verschiedenen Wahrnehmungsschemata der Lebenswelt«, der »die Struktur eines Bildungsromans in Gestalt eines Texte-Schwarms – in strenger Skelettierung« modelliere, »gewissermaßen als durch Stichworte gestalteten Probelauf. Die achtzehn Kurztexte«, so Neumann weiter, »werfen spot-lights auf die einzelnen Bestimmungsmerkmale der Karriere des Protagonisten in einem solchen zu schreibenden Roman.«41 Die Plausibilität dieser Lesart verdeutlicht sich vor dem Hintergrund, dass sich Kafka im Umfeld von Betrachtung intensiv mit Goethes Dichtung und Wahrheit – man könnte auch sagen: mit Goethes ›autobiographischem Bildungsroman‹ – beschäftigt. Bei aller Bewunderung hadert Kafka mit Goethe auch deshalb, weil dessen Autorität sich für die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur als hinderlich erwiesen habe: »Goethe hält durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der deutschen Sprache wahrscheinlich zurück.«42 Kafka fasst den Vorsatz, ein »Verzeichnis jener Stellen aus Dichtung und Wahrheit« anzufertigen, die »durch eine nicht festzustellende Eigenheit einen besonders starken, mit dem eigentlich Dargestellten nicht wesentlich zusammenhängenden Eindruck des Lebendigen« erzeugten und beispielsweise »die Vorstellung des Knaben Goethe hervorrufen, wie er neugierig, reich angezogen, beliebt und lebhaft bei allen Bekannten ein38 39 40
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Vgl. Kafka: Tagebücher (Anm. 24), S. 168. Gerhard Neumann: Inszenierung des Anfangs. Zum Problem der sozialen Karriere in Franz Kafkas »Prozeß«-Roman, in: ders.: Kafka-Lektüren. Berlin, Boston 2013, S. 24–37, hier S. 26. Gerhard Neumann: Kulturwissenschaften. Zum Phänomen der turns in den Methoden der Literaturwissenschaft. Am Beispiel von Kafkas Betrachtung, in: Interpretieren nach den »turns«. Literaturtheoretische Revisionen. Hg. v. Claudia Liebrand u. Rainer J. Klaus. Bielefeld 2014, S. 15–35, hier S. 32 f. Ebd., S. 33. Kafka: Tagebücher (Anm. 24), S. 318.
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dringt, um nur alles zu sehen und zu hören, was zu sehen und zu hören ist.«43 In seiner Relektüre der Autobiographie Goethes kann Kafka solche Stellen aber nicht mehr finden: »[A]lle scheinen mir deutlich und enthalten eine durch keinen Zufall zu überbietende Lebendigkeit. Ich muß warten, bis ich einmal harmlos lesen werde, und dann bei den richtigen Stellen mich anhalten.«44 Neumann nun liest Kafkas Betrachtung als einen »Versuch«, selbst Momente höchster Lebendigkeit zu erzielen, nicht aber solche, die durch keinen Zufall zu überbieten, also in Goethe’scher Weise überkonstruiert sind. An Kafkas kurzer Prosa, das dürfte mit Neumann deutlich geworden sein, hat der Roman mitgeschrieben. Das gilt jedenfalls für den Band Betrachtung, der, wollte man ihn als Beispiel einer solchen kleinen Literatur auffassen, seine Teilhabe am Diskurszusammenhang der großen Literatur eben dadurch herstellt, dass er das klassische Schema eines Bildungsromans, in dem die »Dissonanzen und Konflikte des Lebens«, wie es bei Dilthey heißt, »als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie«45 erscheinen, in größtmöglicher Abstraktion präsent hält. Auch das nächste größere Projekt Kafkas, Der Verschollene, der deutlicher in der Tradition des realistischen Romans steht und im Verhältnis zu Betrachtung eine konventionellere Textur aufweist, kann als Bildungsroman gelesen werden, der den Konflikt verschiedener ›Wahrnehmungsschemata der Lebenswelt‹ inszeniert: Im Augenblick der Wahrnehmung der Welt wie der Wahrnehmung des anderen Menschen beginnen sich für Kafka von Anfang zwei gegensätzliche, kulturelle Bewältigungskonzepte wechselseitig zu blockieren: die kreative Neugier als Wahrnehmungs-Inszenierung, als improvisiertes Theater des Entdeckens einerseits; die lastende Gewalt des vor-gesprochenen, vor-geschriebenen Rituals, das Wahrnehmung und Darstellung durch das aufgedrungene Stereotyp organisiert, andererseits.46
Neumanns Lektüre soll an dieser Stelle nur durch den Hinweis ergänzt werden, dass Kafka etwa das Heizerkapitel aus dem Verschollenen separat publiziert hat; diese Beobachtung macht den Gattungszusammenhang ›Bildungsroman‹ aber nicht obsolet, vielmehr veranschaulicht die doppelte Verwendbarkeit dieser Texte die Produktivität der Gattungskonstellation, in der sie hervorgebracht worden sind. Walsers intensive Beschäftigung mit dem Roman nun ist allein schon durch seine drei Berliner Romane belegt. Auch diese Texte haben teil an den Problemen des Romans um 1900, auch sie stehen zu den kanonisch ge43 44 45 46
Ebd., S. 323. Ebd. Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Hg. v. Gabriele Malsch. Göttingen 2005 (= W. D.: Gesammelte Schriften, Bd. 26), S. 253. Gerhard Neumann: Ritual und Theater. Franz Kafkas Bildungsroman Der Verschollene, in: ders.: Kafka-Lektüren (Anm. 39), S. 159–183, hier S. 173.
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wordenen Exemplaren durchaus in einem gewissen Spannungsverhältnis.47 Und vor allem nach dem Misserfolg seines dritten Romans Jakob von Gunten hat Walser größten Wert darauf gelegt, die majoritären Positionen auch in der kleinen Form präsent zu halten, deutlicher noch, als dies bei Kafka der Fall zu sein scheint. Eine Strategie Walsers, um die Teilhabe seiner Texte an diesem Diskurszusammenhang der großen Literatur sicherzustellen, besteht neben der Übersetzung der kleinen Form vom ephemeren Medium Feuilleton ins Buch darin, die Literaturgeschichte als eine Geschichte der »Literatur der großen Meister«,48 wie es bei Deleuze und Guattari heißt, ins Feuilleton zu holen – man denke an seine zahlreichen Dichterportraits, an die vielen Texte, in denen er als Klassiker kanonisierte Autoren auftreten lässt: Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist, Brentano, Büchner, Stendhal, Dostojewski, Dickens, Tolstoi usw. Diese Feuilletons, in Walsers Prosasammlung Aufsätze wird das noch deutlicher, bilden ein Koordinatensystem, das auch die hierarchischen Verhältnisse im literarischen Feld, die Anerkennungsmechanismen des literarischen Marktes konturiert.49 Auch mit Blick auf andere, spätere Prosasammlungen Walsers wurde bereits gezeigt, dass er mit dem Arrangement seiner Kurztexte, ähnlich wie Kafka, mit der Übersetzung ins Buch, Korrespondenzeffekte zwischen den Texten herzustellen versucht, die die mediale Fragmentarisierung des Feuilletons überwinden sollen.50 Walser entwickelt dieses Verfahren zu einer Form der ›Werkpolitik‹ (Steffen Martus), die seine feuilletonistische Produktion immer wieder auch in die Nähe seiner Romane rückt. Umgekehrt dokumentiert schon Jakob von Gunten eine gewisse Durchlässigkeit zwischen kleiner und großer Form, etwa durch jene beiden eingelagerten, feuilletonistischen Großstadtepisoden (vgl. KWA I/4, S. 34 f. u. 41 f.; SW 11, S. 37–39 u. S. 46 f.), in welchen dasselbe Indefinitpronomen »man« als Diskursinstanz figuriert, das Walser in den etwa zeitgleich publizierten Stadtfeuilletons Guten Tag, Riesin!, Friedrichstraße oder Aschinger etabliert hat. In seinen letzten Texten forciert Walser diesen 47
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Moretti hat am Beispiel von Kafkas Der Verschollene, Joyces The Portrait of the Artist as a Young Man, Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Walsers Jakob von Gunten darauf aufmerksam gemacht, dass gerade der ›späte‹ Bildungsroman des frühen 20. Jahrhunderts gezeigt habe, wie die bürgerlichen Institutionen zwar die Integration des Individuums in das soziale System betrieben, dabei aber die notwendige Legitimation ebendieses Systems in der Wahrnehmung des Individuums vernachlässigt hätten. Vgl. Franco Moretti: The Way of the World. The Bildungsroman in European Culture. New Edition. London, New York 2000, hier S. 229 ff. Deleuze/Guattari: Kafka (Anm. 26), S. 26. Für eine detaillierte Analyse von Walsers Prosasammlung Aufsätze, die den Korrespondenzeffekten der Feuilletons im Buch Rechnung trägt, siehe Paul Keckeis: Robert Walsers Gattungen. Göttingen 2018, S. 227–240. Vgl. insb. Peter Utz: Erschriebenes Leben. Ist Robert Walsers Poetenleben eine »Autofiktion«?, in: »Ich beendige dieses Gedicht lieber in Prosa«. Robert Walser als Grenzgänger der Gattungen. Hg. v. Anna Fattori u. Kerstin Gräfin von Schwerin. Heidelberg 2011 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 288), S. 27–42.
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Zusammenhang zwischen Feuilleton und Roman – man denke an die vielzitierte Passage aus dem unveröffentlichten Text Eine Art Erzählung (1928/ 1929): »Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes IchBuch bezeichnet werden können« (SW 20, S. 322) – gerade weil sein Werk nicht nur in materieller Hinsicht fragmentarisiert ist, sondern auch, wie sich in einer Rekontextualisierung der Texte im Werkzusammenhang zeigt, weil es in seinem poetologischen Kalkül liegt.
4. Konjunktionen zwischen kleiner und großer Form Die Attraktivität der kleinen Form besteht für Walser, Kafka und auch Musil also nicht zuletzt darin, dass sie prädestiniert ist als Instrument dafür, etablierte Schreib- und Erzählweisen zu überwinden. Ausgehend von Bachtins Überlegungen, der dem Roman eine besondere Fähigkeit attestiert, sich immer wieder zu erneuern und seine konsolidierten Formen zu ›revidieren‹, scheint es naheliegend, dass sich die intensive Beschäftigung dieser drei Autoren mit der kleinen Form auch in ihren Romanen abbildet. Es war Musil, der in seinem Mann ohne Eigenschaften, im »Heimweg«Kapitel, eine paradigmatische Formulierung der zeitgenössischen Kritik am realistischen Roman des 19. Jahrhunderts gefunden hat. Für Musil stellt sich das Problem des Romans als ein Problem der Konjunktionen dar: »Wohl dem, der sagen kann ›als‹, ›ehe‹ und ›nachdem‹!« (MoE, S. 650)51 Weil die Erzählinstanz zu »Scheidungen und Abstraktionen [. . .], zu Lösungen und Bindungen, Analysen und Synthesen« nicht mehr fähig ist und »nicht mehr über jene grundlegende narrative Denkökonomie« verfügt, »die Zeit durch Temporalangaben [. . .] strukturiert«, so Inka Mülder-Bach, bleibt als »Ordnungsprinzip [. . .] einzig das ›hilflos aneinanderreihende >Und