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German Pages [322] Year 2013
Musiktheater in der DDR Szenische Kammermusik und Kammeroper der 1970er und 1980er Jahre
KlangZeiten – Musik, Politik und Gesellschaft
Katrin Stöck
Musiktheater in der DDR
KlangZeiten
Musik, Politik und Gesellschaft Band 10 Herausgegeben von
Detlef Altenburg Michael Berg Helen Geyer Albrecht von Massow
Musiktheater in der DDR Szenische Kammermusik und Kammeroper der 1970er und 1980er Jahre von
Katrin Stöck
2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Mitglieder der Gruppe „Neue Musik Hanns Eisler“ während einer Aufführung der missa nigra von Friedrich Schenker. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Evelyn Richter Archivs der Ostdeutschen Sparkassenstiftung im Museum der bildenden Künste Leipzig. Foto: Evelyn Richter, ERA 1278. © 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20878-3
Inhaltsverzeichnis Vorwort............................................................................................................................................7 1. Einleitung .............................................................................................................................. 10 2. Forschungsstand – Begriffe – Methodik ......................................................................... 14 2.1 Darstellung des Forschungsstandes ..................................................................... 14 2.1.1 Primärliteratur und Quellenlage ................................................................... 14 2.1.2 Sekundärliteratur ............................................................................................. 15 2.2 Begrifflichkeiten und Definitionen....................................................................... 27 2.2.1 Diskussion des Begriffs Gattung und seine Anwendung auf Szenische Kammermusik und Kammeroper........................................ 27 2.2.2 Szenische Kammermusik und Kammeroper im Kontext von Kammermusik, Oper, Musiktheater ............................................................. 31 2.2.3 Szenische Kammermusik und Kammeroper als Phänomene des Musiktheaters in der DDR ............................................................................. 34 2.2.4 Theatralität ........................................................................................................ 37 2.2.5 Postdramatisches Theater – Anwendung des theaterwissenschaftlichen Begriffs auf Musiktheater ................................. 47 2.3 Methodik der Interviews ........................................................................................ 63 2.3.1 Befragte Komponisten und Methodik der Interviews............................... 63 2.3.2 Oral History als eine Arbeitsgrundlage ........................................................ 66 3. Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik ............................................ 70 3.1 Einleitung: Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater ......... 70 3.2 Die Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre ....................................................... 72 3.2.1 Chronologische Übersicht über die Kulturpolitik ...................................... 72 3.2.2 Bitterfelder Weg und Sozialistischer Realismus .......................................... 81 3.2.3 Die Musikkongresse und –konferenzen des Komponistenverbandes ... 94 3.3 Zwanzig Jahre Kulturpolitik in der DDR: Zwei Versuche der Einschätzung .................................................................................................... 111 3.3.1 Die heutige Sicht der Komponisten auf den kulturpolitischen Verlauf der Jahre 1971-1989/90.................................................................. 111 3.3.2 Ein alternativer Interpretationsansatz: Zementierung – Avantgarde – Zementierung der Avantgarde ..................................................................... 122 3.4 Zusammenfassung .................................................................................................. 136
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Inhaltsverzeichnis
4. Allgemeine Voraussetzungen für das Entstehen von Szenischer Kammermusik und Kammeroper .................................................................................... 138 4.1 Kammermusik in der DDR .................................................................................. 139 4.2 Oper in der DDR ................................................................................................... 141 4.3 Musik und Theater in Westdeutschland und Westeuropa ............................... 143 4.4 Klassische Avantgarde in Theater und Musik ................................................... 145 4.5 Zeitgenössische osteuropäische Avantgarde...................................................... 148 4.6 Theateravantgarde in der DDR............................................................................ 149 4.7 Liedertheater............................................................................................................ 155 4.8 Zusammenfassung .................................................................................................. 155 5. Szenische Kammermusik und Kammeroper – Theorien und Beispiele.................... 157 5.1 Szenische Kammermusik und Kammeroper: Beweggründe der Komponisten für die Auseinandersetzung mit den Gattungen ............... 157 5.2 Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper in der DDR ............. 165 5.2.1 Facetten musikwissenschaftlicher Diskussion über Szenische Kammermusik und Kammeroper ............................................................... 165 5.2.2 Diskussion der Begrifflichkeiten ................................................................. 176 5.3 Analysen einzelner Beispielwerke der Szenischen Kammermusik und Kammeroper........................................................................ 180 5.4.1 Szenische Kammermusik durch Bewegung im Raum ............................. 181 5.4.2 Von den Instrumentalisten selbst ausgeführte text- und/oder bewegungsbedingte Szene ............................................................................ 193 5.4.3 Von Sängern, Schauspielern, Tänzern und/oder Pantomimen ausgeführte text- und/oder bewegungsbedingte Szene .......................... 223 5.4.4 Handlungsorientierte Szenische Kammermusik....................................... 254 5.4.5 Avancierte Kammeroper .............................................................................. 263 6. Zusammenfassung .............................................................................................................. 291 7. Literaturverzeichnis ............................................................................................................ 296 7.1 Primärliteratur ......................................................................................................... 296 7.2 Sekundärliteratur ..................................................................................................... 297 7.3 Notenmaterial.......................................................................................................... 317
Vorwort
Vor nunmehr über zehn Jahren begann ich meine Untersuchungen zu kleinen Musiktheaterformen aus den letzten zwanzig Jahren des Bestehens der DDR, angetrieben von meiner Begeisterung für das Musiktheater allgemein, seinem Formenreichtum und seinen vielfältigen Möglichkeiten der Darstellung. Die Literatur hierzu war damals spärlich und widmete sich mit wenigen Ausnahmen nicht der Szenischen Kammermusik und Kammeroper, sondern allgemeineren Fragestellungen. Die anfangs bereits vermutete Vielfalt der Werke fächerte sich zu einem schier unüberschaubaren Reservoir an Stücken und deren Autoren auf, das – wie anfangs gedacht – im Moment keinesfalls vollständig erfasst werden kann, was teilweise auch dem Umstand geschuldet ist, dass solche Werke auch aus aktuellem Anlass entstanden und danach zum Teil wieder in den Schubladen verschwanden. Im Laufe der Untersuchungen zeigte sich auch, dass das Interesse der Komponisten an der Arbeit mit kleineren Musiktheaterformen viel breiter war als ursprünglich vermutet. Zusätzlicher Antrieb zur Bearbeitung eines Themas aus der Musikgeschichte der DDR war die Chance, mit vielen der Beteiligten selbst zu sprechen zu können. Diese Gespräche am Anfang der Arbeit gaben mir faszinierende Einblicke in Mechanismen des DDR-Musiklebens, in Komponistenbiografien, in Schaffensweisen und unterschiedliche Auffassungen von Musiktheater. Obwohl nun einige Zeit vergangen ist, die mir verschiedene andere Aufgaben an den musikwissenschaftlichen Instituten in Halle (Saale) und Leipzig mit spannenden Lehrverpflichtungen auch auf dem Gebiet der DDR-Musik – und die Geburt meiner Kinder – brachte, zeigt sich beim Blick auf die inzwischen erschienene Literatur, dass das Thema nach wie vor ein weitgehend unbeachtetes Kapitel der DDR-Musikgeschichte ist, das keinesfalls an Aktualität eingebüßt hat. Die vorliegende Arbeit nimmt sich daher vor, einen differenzierten Einblick in diese Entwicklungen zu gestatten. Auch die wenigen neueren Aufsatzsammlungen und Abhandlungen zur DDR-Musikgeschichte befassen sich nur in Ausschnitten mit Musiktheater und auch hier nicht mit den kleinen Formen. Ein Grund dafür ist sicher die unübersichtliche Materiallage. Was mit der Begeisterung für das Musiktheater begann, wurde durch die eingehendere Beschäftigung mit den kulturpolitischen Gegebenheiten in der DDR allgemein und durch Zuhilfenahme theaterwissenschaftlichen Handwerkszeugs erweitert und fundiert. Auch weiterhin steht die Aufgabe einer Aufarbeitung der Musikgeschichte der DDR, obwohl in der jüngeren Zeit einige Dissertationen zum Thema erschienen sind. Die Musikgeschichte der DDR erscheint leider zu vielen Musikwissenschaftlern neben derjenigen der Bundesrepublik immer noch als ein scheinbar übersichtliches und ideologisch leicht einzuordnendes Feld, das aber bei näherer Beschäftigung ein ebenso differenziertes und vor allem vielfältiges musikalisches Gebilde war, das zu erforschen sich weiterhin lohnt.
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Vorwort
Während der Arbeit an meiner Dissertation haben mich viele Menschen unterstützt und mich mit ihren Anregungen zu neuen Erkenntnissen geführt. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken bei:
meinem Doktorvater Prof. Dr. Wolfgang Ruf für seine permanente Unterstützung und kritische Begleitung, dem Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt für die Gewährung eines Graduiertenstipendiums in der Anfangsphase der Arbeit, ohne das die Durchführung der Interviews und die Archivbesuche nicht hätten realisiert werden können, Herrn Prof. Dr. Klaus Mehner für die Unterstützung am Beginn der Forschungsarbeit, den Mitarbeiterinnen des Dresdner Zentrums für Zeitgenössische Musik/später Europäisches Zentrum der Künste Hellerau, hier besonders Frau Marion Demuth und Frau Brigitte Schwäbe, die mich durch die Möglichkeit zur Einsicht in Dokumentensammlungen, die Nutzung der Bibliothek sowie unkomplizierte Noten- und Tonträgerausleihe unterstützten, den vielen Gesprächspartnern, vor allem den Komponisten, für stundenlange intensive Gespräche, das Zur-Verfügung-Stellen von unveröffentlichten Partituren und anderen Materialien, sowie für die Erlaubnis zum Abdruck von Notenbeispielen aus unveröffentlichten Manuskripten, dem Deutschen Musikarchiv der Deutschen Bücherei in Berlin, Frau Dr. Bettina von Seyfried und Frau Barbara Murach, den Mitarbeitern des Archivs der Akademie der Künste in Berlin für die Unterstützung bei der Akteneinsicht und die Erlaubnis zum Abdruck der Zitate daraus, den Mitarbeitern des Sächsischen Staatsarchivs Leipzig sowie Herrn Norbert Molkenbuhr für die Erlaubnis der Einsichtnahme in das dort befindliche Archiv des Verlags Edition Peters, Leipzig, dem Archiv der Dresdner Musikfestspiele, dem Evelyn-Richter-Archiv im Museum der Bildenden Künste Leipzig für die Erlaubnis, eine Fotografie von Evelyn Richter für den Buchumschlag zu verwenden, den Verlagen für die Erlaubnis zum Abdruck der Notenbeispiele, bei den Herausgebern der Reihe KlangZeiten, besonders bei Prof. Dr. Albrecht von Massow, für die Aufnahme in die Reihe, bei der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Musiktheater in der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, besonders bei PD Dr. habil. Christa Brüstle, Dr. David Roesner und Prof. Dr. Clemens Risi für das Eröffnen weiterer theaterwissenschaftlicher Horizonte,
Vorwort
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meiner Korrekturleserin und Anspornerin Dr. Annette van Dyck-Hemming, meiner geduldigen und immer interessierten Familie und hier besonders bei meinem Mann Gilbert, der mir nicht nur als Diskussionspartner auf der Basis seiner eigenen Forschungen zur DDR-Musikgeschichte wichtig war, sondern mich auch in jeder Situation im Fortführen und vorläufigen Abschließen meiner Forschungen bestärkte.
Halle an der Saale, im Februar 2013
Katrin Stöck
1.
Einleitung
Anfang der siebziger Jahre entdeckten in der DDR verschiedene Komponisten unabhängig voneinander ein Genre für die DDR – die Szenische Kammermusik. Gleichzeitig nahm auch die Auseinandersetzung mit der Kammeroper zu. Einige dieser Komponisten hatten schon Ende der sechziger Jahre begonnen, sich frei von ideologischen Einengungen mit avancierten Kompositionstechniken ausgehend von Schönberg und Webern zu beschäftigen und – vor allem durch Partituren, Rundfunk und Reisen zu Festival wie dem Warschauer Herbst – Einflüsse aus Westeuropa aufzunehmen. Das 1971 mit der Machtübernahme Erich Honeckers von Walter Ulbricht einsetzende kulturpolitische Tauwetter in der DDR ermöglichte es diesen Komponisten, mit ihren Techniken auch öffentlich zu werden und begünstigte die Entstehung der Szenischen Kammermusik in der DDR. Die damals jüngeren Komponisten, zu denen besonders Georg Katzer, Friedrich Schenker, Friedrich Goldmann, Paul-Heinz Dittrich, Reiner Bredemeyer, aber auch Siegfried Matthus und andere gehören, interessierten sich wenig für die Postulate des Sozialistischen Realismus, sondern mehr für Entwicklungen in Westdeutschland und holten jetzt nach, was ihre Lehrer ihnen während ihres Studiums meist vorenthielten und womit sie oft als Meisterschüler an der Akademie der Künste zum ersten Mal in Berührung gekommen waren. Schönberg wurde zwar erst ab 1974 auch von den Kulturpolitikern der DDR offiziell und endgültig nicht mehr als persona non grata verdrängt, aber bereits wesentlich früher beschäftigten sich diese (und andere) Komponisten mit seinen Kompositionstechniken und den folgenden Erscheinungen. Auch am Ende der sechziger Jahre waren allerdings Aufführungen der entstandenen Werke eher problematisch und wurden häufig von heftigen Diskussionen in den Komponistenverbänden begleitet. Sie wurden mit den Veränderungen Anfang der siebziger Jahre in größerem Umfang möglich. In der Kammermusik wurde die Entwicklung auch durch die Gründungen von Kammermusikensembles beschleunigt, die sich schwerpunktmäßig mit neuer Musik beschäftigten, wie zum Beispiel die Berliner Bläservereinigung oder die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, deren Mitbegründer 1970 Friedrich Schenker war. Die oben genannte Gruppe von Komponisten wurde, obwohl sie sowohl altersmäßig als auch stilistisch keine homogene Gruppe darstellte, besonders in den siebziger Jahren als d i e Avantgarde der DDR-Musik rezipiert. Dies unterstützten auch das Erscheinen des Buches Momentaufnahme von Frank Schneider 1979 sowie anderer Publikationen einzelner Musikwissenschaftler.1 Wenn also von so genannter Avantgarde in der DDR 1
Vgl. Nina Noeske, Des Schenkers Schneider, des Schneiders Geißler: Anmerkungen zur musikalisch-ästhetischen Gruppenbildung in der DDR der 70er und 80er Jahre, in: Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, hrsg. v. Matthias Tischer, = Musica Berolinensia 13, Berlin 2005, S. 185–206.
Einleitung
11
gesprochen wird, ist diese Gruppe von Komponisten gemeint und die Tatsache, dass sie es hauptsächlich waren, die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre vehement zur Verwendung avancierter Kompositionstechniken vorstießen und diese auch öffentlich vertraten. Dabei muss festgestellt werden, dass die genannten Komponisten sich selbst nicht als Gruppe verstanden und auch nicht als Gruppe zusammengearbeitet haben. Die Orientierung dieser Komponisten am avanciertesten Stand der Kompositionstechnik und die Aneignung dieser Techniken für die Musikszene in der DDR barg aber auch ein Risiko. Die Schwierigkeiten, diese Kompositionstechniken durchzusetzen und ihnen Anerkennung zu verschaffen, sie gegen die Anwürfe der Vertreter der Ästhetik des Sozialistischen Realismus zu verteidigen waren groß. Mit dem Aufkommen der so genannten Neuen Einfachheit in der DDR lief die Befürchtung einher, im Zuge dieser Veränderungen könnte die dogmatische Version des Sozialistischen Realismus wieder an Bedeutung gewinnen und die eben errungenen Freiheiten in kompositionstechnischer Hinsicht beschneiden. In diesem Moment versuchten verschiedene Protagonisten der so genannten Avantgarde-Generation ihre Positionen im Komponistenverband und in der Akademie der Künste auszunutzen, um ein Wiedererstarken des Sozialistischen Realismus zu verhindern. Dies wird hier als „Zementierung“ der Avantgarde beschrieben und im genannten Kapitel näher erläutert. Diese Arbeit entstand unter anderem aus dem Interesse heraus, der recht gut bekannten Opernlandschaft der DDR eine Darstellung der durch die beschriebenen Entwicklungen entstandenen kleinen, meist außerhalb der Institution Oper aufgeführten Musiktheaterformen hinzuzufügen. An den Ausführungen zum Forschungsstand lässt sich ablesen, dass auch im Bereich der Oper in der DDR noch viel aufgearbeitet werden muss, der Aspekt des kammermusikalischen Musiktheaters aber bisher, wenn überhaupt, dann nur in kurzen Überblicken oder für Einzelwerke betrachtet wurde. Die Möglichkeit, die Musikgeschichte der DDR durch die Abschaffung der DDR als eigenständigen Staat als abgeschlossen zu betrachten und die Gelegenheit, noch mit vielen der Komponisten ins Gespräch kommen zu können, lässt die gegenwärtige Situation günstig für eine solche umfassende Betrachtung erscheinen. So bilden Gespräche mit Komponisten von kleinen musiktheatralischen Formen in der DDR eine der Grundlagen dieser Arbeit. Da Musiktheater sich neben seinen musikalischen Komponenten auch durch die enthaltenen theatralen Aspekte definiert, ist es notwendig, theaterwissenschaftliche neben musikwissenschaftlichen Methoden in die Analyse der Werke einzubeziehen. Im Vorwort zum Tagungsbericht Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft2 resümiert Hans-Peter Bayerdörfer die Situation von Musikund Theaterwissenschaft und stellt fest, dass das Musiktheater bisher kein gleichwertiges
2
Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, hrsg. von Hans-Peter Bayerdörfer, = Theatron 29, Tübingen 1999.
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Einleitung
Paradigma der Theaterwissenschaft und eine Annäherung zwischen Theater- und Musikwissenschaft bisher nur bedingt erfolgt sei.3 Weiter führt er aus: „Europäisches Musiktheater ist nach wie vor überwiegend die Domäne der Musikwissenschaft, die ihrerseits – geschichtlich gesehen – ihre wichtigsten Fragen und Methoden aus der Beschäftigung mit der reinen, der ‚absoluten‘ Musik gewonnen und entwickelt hatte, ehe sie sich mit programmatischer Energie jenseits musikhistorischer Fragen auch mit den theatergeschichtlichen Bedingungen des Musiktheaters befaßt hat. Trotz verstärkter Bemühungen in theaterspezifischen Fragen und einer Vielzahl von Forschungsergebnissen, die in den letzten Jahren erbracht worden sind, hat das Gesamtbild der Beziehungen zwischen den beteiligten Disziplinen nur wenige neue Züge aufzuweisen. Einer der Gründe dafür ist wohl, daß es an übergreifenden Diskussionen zu methodologischen Fragen fehlt.4 [...] Denn mit dem zweiten, theatergeschichtlich orientierten Blick wird deutlich, daß man den geschichtlichen Theaterverhältnissen eher wenig gerecht wird, wenn man von den alten Sparten Schauspiel- oder Sprechtheater, Musik-, Tanz- und Figurentheater als ‚reinen‘ Genres ausgeht, um dann die häufig als ästhetisch minderwertig eingeschätzten Misch- oder Übergangsformen aufzuspüren und zuzuordnen. Diese verdienen theaterwissenschaftlich gleiche Aufmerksamkeit.“5
Zudem seien die Mischformen auch möglicherweise durch ihre Heterogenität besonders geeignet, um als Beispiel für die Erarbeitung von Methoden zu dienen, die sowohl aus Erkenntnissen der Musik- als auch der Theaterwissenschaft gespeist würden.6 Szenische Kammermusik als Begriff wird im Laufe der Arbeit genauer inhaltlicher und definitorischer Klärung unterzogen, ebenso wird seine Herkunft beschrieben sowie die Gründe dargelegt, warum er als Oberbegriff der verschiedenen Ausprägungen kammermusikalischen Musiktheaters in der DDR dienen kann. Erst mit der Darstellung der verschiedenen Stücke wird der Begriff endgültig gefüllt. Einem Bericht zum Stand der Forschung auf dem skizzierten Themenfeld folgt die Beantwortung der Frage, ob Szenische Kammermusik als Gattung bezeichnet werden kann. Danach werden die Begriffe Szenische Kammermusik und avancierte Kammeroper erläutert. Anschließend werden zwei für die weitere Arbeit an den einzelnen Werken mit entscheidende Diskussionslinien der Theaterwissenschaft, zum Begriff der Theatralität und zum postdramatischen Theater aufgenommen und in ihrer Bedeutung für diese Arbeit bestimmt. Es schließen sich einleitende Erläuterungen zur Methodik der Interviews sowie zum Problemfeld der Oral History an, die sich durch die Arbeit mit Interviews ergeben.
3 4 5 6
Ebda., S. VII. Ebda., S. VIIf. Ebda., S. VIII. Ebda., S. XI.
Einleitung
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Für die Entstehung der Szenischen Kammermusik in der DDR spielten bestimmte politische, und vor allem kulturpolitische Konstellationen eine große Rolle, so dass die Darstellung der kulturpolitischen Gegebenheiten während der siebziger und achtziger Jahre in der DDR als Grundlage für die Untersuchung der musikalischen Phänomene wichtig ist. Hier sind nicht nur offizielle Verlautbarungen der jeweiligen kulturpolitischen Verantwortlichen, die Doktrin des Sozialistischen Realismus und weitere vom Apparat gesteuerte Diskussionen von Bedeutung. Es soll auch die Sicht der Komponisten auf diese zwanzig Jahre thematisiert, ihr unterschiedlicher Bezug zur Kulturpolitik beleuchtet werden. Vorangehende und parallele Entwicklungen in Theater und Musiktheater der DDR, Ost- und Westeuropas werden unter dem Blickwinkel ihres möglichen Einflusses auf die Szenische Kammermusik und Kammeroper in der DDR sowie im Hinblick auf Gemeinsamkeiten betrachtet. Das Hauptkapitel der Arbeit versucht den Werken Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper über verallgemeinerbare Merkmale und über beispielhafte Analysen nahe zu kommen. Ausführlich werden die unterschiedlichen Gründe der einzelnen Komponisten untersucht, sich mit Szenischer Kammermusik auseinanderzusetzen, wobei sich Gemeinsamkeiten einiger Komponisten, die mit der institutionellen Situation des Musiktheaters zusammenhängen, herauskristallisieren, sich aber genauso sehr spezifische und persönliche Gründe finden. Natürlich spielen hier auch die Intentionen der Komponisten mit Szenischer Kammermusik eine Rolle, wobei dem Aspekt der gesellschaftlichen Relevanz eine besondere Bedeutung zukommt. Danach schließt sich ein Überblick über die offiziellen Diskussionen zu Szenische Kammermusik in der DDR an. Die Systematisierung der unterschiedlichen Formen Szenischer Kammermusik ist Thema der weiteren Untersuchungen, bevor diese Formen im abschließenden Kapitel anhand von Einzelanalysen ausgewählter Werke näher beschrieben werden. Anhand der Komponistengespräche, anhand von musikalischen und theatermäßigen Untersuchungen werden dabei die Strukturen von Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper in der DDR aufgezeigt.
2.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
2.1
Darstellung des Forschungsstandes
2.1.1
Primärliteratur und Quellenlage
Das Spektrum der Primärliteratur spannt sich vom Noten- und Tonmaterial der einzelnen Stücke über unterschiedlichste Texte zum Thema, die, verfasst von Musikwissenschaftlern und den Komponisten selbst, aber auch von (Kultur-)Politikern, während der DDR-Zeit erschienen, bis zu den mit den Komponisten geführten Interviews.1 Oft führte nur der Weg über die Komponisten bei der Suche nach dem Noten- und Tonmaterial – letzteres ist oftmals auch überhaupt nicht vorhanden – zum Erfolg. Sehr wenige der infrage kommenden Stücke sind im Druck erschienen, manche Werke liegen bei Verlagen als Leihmaterial, sehr viele Stücke befinden sich aber in den „Schubladen“ der Komponisten, und einige sind – teilweise aufgrund ihres Ereignischarakters – auch dort nicht auffindbar. Oft sind entsprechende Werke nur einmalig aufgeführt worden, sind aber deshalb nicht zwangsläufig von geringer Wirkung auf das Musikleben der DDR gewesen, hier sei nur das Beispiel des „audiovisuellen Gesamtkunstwerks“ Interferenzen (Dresden 1979) genannt. Materialien, die für die vorliegende Untersuchung ausgewertet wurden, waren vor allem im Deutschen Musikarchiv zu finden, ferner im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik, in der Deutschen Bücherei, in der Leipziger Musikbibliothek und weiteren Städtischen Bibliotheken in Berlin und Halle (Saale), der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden und in den Archiven der Verlage Peters und Breitkopf & Härtel, hier auch der Bestand des ehemaligen Deutschen Verlages für Musik. Die bisher meist unveröffentlichten Akten des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR2, die in der Stiftung der Akademie der Künste BerlinBrandenburg lagern und einsehbar sind, stellen ebenso einen Teil der Primärliteratur dar – besonders für die Beschäftigung mit den kulturpolitischen Aspekten des Themas. Eingesehen wurden vor allem die Unterlagen zu den beiden Musikkongressen 1964 und 1972, wobei besonders der II. Musikkongress für die Entwicklung der Szenischen Kammermusik im Speziellen und für das Aufblühen der Avantgarde im Allgemeinen von Bedeutung war. Weiterhin interessierten unter anderem Akten zu den Verbandskommissionen Kammermusik und Musiktheater, Werkkarteien usw.
1 2
Zu Erläuterungen zu den Interviews siehe Kap. 2.3. Die Bezeichnung Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler (VDK) wurde 1972 in Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler (VKM) geändert.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
15
Verschiedene Veröffentlichungen von Politikerreden aus der DDR-Zeit sind ebenso als Primärliteratur zu betrachten. Aber auch Artikel aus Musik und Gesellschaft sowie anderen Zeitschriften, ebenso verschiedene Bücher, die unten genauer besprochen werden, gehören als Dokumente der DDR-Musikgeschichte in diesen Kontext und liefern damit unter anderem auch Informationen über das Eingebundensein von Musikwissenschaftlern in den Diskurs und ihre Stellung im kulturpolitischen Gefüge, so zum Beispiel in der Diskussion über die Avantgarde der 1970er Jahre3. Zu nennen sind Frank Schneiders Momentaufnahme4 ebenso wie die beiden Interviewbände Komponieren zur Zeit5 und Musik für die Oper6 sowie zusammen gestellten Texte der Dokumentation Musik im geteilten Deutschland7. Gleichzeitig sind diese Veröffentlichungen als Sekundärliteratur anzusprechen, da sie Informationen über die Stücke liefern und sich mit ihnen wissenschaftlich auseinandersetzen.
2.1.2
Sekundärliteratur
Für die DDR der 1970er und 1980er Jahre, wie für die ganze Zeit des Bestehens dieses Staates, existiert bisher keine umfassende Darstellung kleinerer Musiktheaterformen. Auch zur Oper in der DDR selbst sind bisher meist Spezialabhandlungen erschienen.8 In einigen bedeutenden Publikationen zu Musik in der DDR finden sich aber trotzdem unverzichtbare Hinweise auch zu diesem Thema. So ist Frank Schneiders Buch Momentaufnahme9 – die erste umfassende Vorstellung der Avantgarde-Generation der 1970er Jahre mit ihren Biographien und Werken – nicht nur für die Auseinandersetzung mit dieser Avantgarde von Bedeutung, es ist inzwischen auch selbst ein musikgeschichtliches und kulturpolitisches Dokument für den Umgang mit dieser Avantgarde.10 Der Band Komponieren zur Zeit, herausgegeben von Mathias Hansen11, sammelt Gespräche verschiedener Musikwissenschaftler mit einigen der wichtigsten Komponisten der DDR zu ihren Kompositionstechniken und ausgewählten Werken. Hier interessieren besonders diejenigen Gespräche mit Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann und Georg Katzer, mit Friedrich Schenker ist leider kein Gespräch enthalten.
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Vgl. Kap. 3.3. Frank Schneider, Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR, Leipzig 1979. Komponieren zur Zeit. Gespräche mit Komponisten der DDR, hrsg. v. Mathias Hansen, Leipzig 1988. Musik für die Oper? Mit Komponisten im Gespräch, hrsg. v. Gerd Belkius u. Ulrike Liedtke, Berlin 1990. Neue Musik im geteilten Deutschland, 4 Bände, hrsg. v. Ulrich Dibelius u. Frank Schneider, Berlin 1993-1998. Zur einzigen Überblicksdarstellung, dem Handbuch von Sigrid und Hermann Neef, siehe unten. Schneider, Momentaufnahme, 1979. Vgl. Kap. 3. Hansen (Hrsg.), Komponieren zur Zeit, 1988.
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Forschungsstand
Das Verdienst der vierbändigen Dokumentation Musik im geteilten Deutschland von Ulrich Dibelius und Frank Schneider12 ist es, Texte nach verschiedenen thematischen Bereichen, die für jeweils ein Jahrzehnt der geteilten Musikgeschichte der beiden deutschen Staaten wichtig waren, zu ordnen. Dadurch sind die Dokumente leichter auffindbar und besser vergleichbar, obwohl es sich zum großen Teil, jedenfalls was die DDR-Seite betrifft, um ohnehin publizierte Texte, so unter anderem aus Musik und Gesellschaft handelt. Komplettiert werden diese Textzusammenstellungen von Kommentaren beider Musikwissenschaftler, die die historische und kulturpolitische Einordnung der angesprochenen Komponisten, Stücke und Debatten bringen. Eine Arbeit, die sich ähnlich wie die vorliegende hauptsächlich auf Interviews stützt, hat Daniel zur Weihen über die erste junge Komponistengeneration der DDR bis 1961 vorgelegt.13 Allerdings überschneidet sich der zeitliche Rahmen seiner Arbeit nicht mit dem dieser Untersuchung. Ein methodischer Unterschied im Umgang mit den Komponisteninterviews besteht zudem darin, dass zur Weihen seine Interviews vollständig veröffentlicht hat, was für die vorliegende Arbeit von vornherein nicht vorgesehen war.14 Ebenso mit Gesprächen arbeitete Gilbert Stöck in seiner Dissertation Neue Musik in den Bezirken Halle und Magdeburg zur Zeit der DDR. Kompositionen – Politik – Institutionen15, die sich auch auf der Basis von Archivmaterial ausführlich mit dem Musikleben der genannten Bezirke auseinandersetzt und hier Strukturen bis hin zum Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit intensiv beleuchtet. Weitere zur Musikgeschichte und zum Musikleben in der DDR entstandene Arbeiten, die sich allerdings mit anderen Schwerpunkten als dem des Musiktheaters befassen, sind hauptsächlich Dissertationen. So ordnet Nina Noeskes Buch Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusk in der DDR16 diese Instrumentalmusik in musikästhetische und soziologische Zusammenhänge ein. Ebenso befasst sich auch Christiane Schwerdtfeger in Musik unter politischen Vorzeichen. Parteiherrschaft und Instrumentalmusik in der DDR seit dem Mauerbau17 mit der Instrumentalmusik der DDR und liefert unter anderem breite Analysen und ebenfalls Einblicke in musikpolitische und –ästhetische Zusammenhänge des Musiklebens der DDR. Auch in dem von Matthias Tischer herausgegebenen Band
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Dibelius/Schneider (Hrsg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, 1993–1998. Daniel zur Weihen, Komponieren in der DDR. Institutionen, Organisationen und die erste Komponistengeneration bis 1961. Analysen, Köln u. a. 1999. Vgl. Kap. 2.3. Gilbert Stöck, Neue Musik in den Bezirken Halle und Magdeburg zur Zeit der DDR. Kompositionen – Politik – Institutionen, Leipzig 2008. Nina Noeske, Musikalische Dekonstruktion. Neue Instrumentalmusk in der DDR, = KlangZeiten 3, Köln 2007. Christiane Schwerdtfeger, Musik unter politischen Vorzeichen. Parteiherrschaft und Instrumentalmusik in der DDR seit dem Mauerbau, Saarbrücken 2007.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates18 werden vor allem soziologische Fragestellungen erörtert. Noch weiter vom Thema der vorliegenden Arbeit entfernt, aber zu den weiterhin spärlichen Veröffentlichungen zur Musik der DDR gehörend, sind die Arbeiten von Maren Köster19 und Bettina Hinterthür20. Ausführlichere Publikationen, die sich konkret mit dem Musiktheater beschäftigen, thematisieren fast ausnahmslos die Oper, auch wenn einzelne Werke der Szenischen Kammermusik erwähnt werden. Dies betrifft unter anderem das Handbuch von Sigrid und Hermann Neef21, das – von einem informativen und ausführlichen Vorwort, das die Situation der Oper in der DDR und Grundlinien ihrer Entwicklung beschreibt, abgesehen – ein Opernführer ist, da alphabetisch einzelne Komponisten und ihre Werke vorgestellt werden. Vereinzelt sind hier Einschätzungen größerer Werke Szenischer Kammermusik eingeflossen, so von Paul-Heinz Dittrichs Szenischen Kammermusiken, die unter dem Aspekt der offenen Form betrachtet werden. Besonders hilfreich ist dieser Band aber durch seine Darstellungen von Opern, so auch von einigen avancierten Kammeropern. Weiterhin existiert ein Interviewband von Gerd Belkius und Ulrike Liedtke22, ebenfalls zum Thema Oper in der DDR, in dem die maßgeblichen Opernkomponisten zu Wort kommen. Szenische Kammermusik wird hier aber themengemäß nur teilweise und nur am Rande thematisiert. Einige Publikationen, meist in der DDR entstandene Dissertationen, thematisieren einzelne Komponisten, Einzelfragen oder Komponistengruppen, so Heike Vieths Dissertation 23 über Katzers szenisches Werk. Besonders ihre Systematisierung der szenischen Werke Katzers wird für die Systematisierung der Szenischen Kammermusik allgemein noch diskutiert werden.24 Hermann Neefs Dissertation25 über szenische Werke von Friedrich Schenker, PaulHeinz Dittrich, Thomas Heyn und Friedrich Goldmann verdeutlicht die Kritik dieser Komponisten an der zeitgenössischen Oper und ihre Versuche, die dramaturgischen Möglichkeiten des zeitgenössischen Musiktheaters zu erweitern. Bei Friedrich Goldmann geht Neef besonders ausführlich auf den Begriff und das Instrument der Pose ein. 18
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Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, hrsg. v. Matthias Tischer, = Musicologica Berolinensia 13, Berlin 2005. Maren Köster, Musik–Zeit–Geschehen. Zu den Musikverhältnissen in der SBZ/DDR 1945-1952, Saarbrücken 2002. Bettina Hinterthür, Noten nach Plan. Die Musikverlage in der SBZ/DDR, Stuttgart 2006. Sigrid u. Hermann Neef, Deutsche Oper im 20. Jahrhundert. DDR 1949-1989, Berlin 1992. Musik für die Oper? Mit Komponisten im Gespräch, hrsg. v. Gerd Belkius u. Ulrike Liedtke, Berlin 1990. Heike Vieth, Szenische Musik im Konzert. Ihre Auswirkungen auf den Kommunikationsprozeß in den Werken Georg Katzers, Diss. Leipzig maschr. 1991. Vgl. Kap. 5.2. Hermann Neef, Der Beitrag der Komponisten Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Paul-Heinz Dittrich und Thomas Heyn zur ästhetischen Diskussion der Gattung Oper in der DDR seit 1977, Diss. Halle maschr. 1989.
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Forschungsstand
Bei Friedrich Schenker stehen dessen Sprachbehandlung im Mittelpunkt, sowie sein politischer Impetus und seine Zitattechnik. Paul-Heinz Dittrichs Arbeiten werden besonders durch ihren spezifischen Umgang mit Literatur und deren Sprache gekennzeichnet, Neef nennt Dittrichs Verfahrensweise mit Maurice Maeterlinck „Dialog zweiten Grades“. Thomas Heyn als Beispiel der jüngeren Generation wird besonders in seiner Übernahme von dramaturgischen Ansätzen der älteren Kollegen betrachtet und Neef analysiert Heyns daraus erwachsende eigene dramaturgische Ansätze. Weiterhin erschien in der Reihe Material zum Theater ein Band von Heike Hoffmann zu Schenkers Missa nigra und zu Grundlagen und Tendenzen grenzüberschreitender Kunstproduktion in der DDR.26 Die Autorin setzt sich sehr ausführlich mit einigen Einflüssen auf Schenkers Kammerspiel und möglichen Vorläufern auseinander, um dann Schenkers Stück intensiv zu analysieren. Einzelne Artikel, vorwiegend aus Musik und Gesellschaft, aus dem Bulletin des Musikrates der DDR und aus Beiträge zur Musikwissenschaft befassen sich mit speziellen Fragen Szenischer Kammermusik, Kammeroper und szenischer Musik, so zum Beispiel Texte von Gerd Rienäcker27, Gerd Belkius28 und Frank Schneider29. So diskutiert Gerd Rienäcker in seinem 1984 erschienenen Aufsatz Musizieren als szenische Aktion. Marginalien zur Kammeroper30 Merkmale von Kammeroper wie 26
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Heike Hoffmann, Darstellende Kunst als Integral grenzüberschreitender Kunstproduktion – historische Voraussetzungen und Tendenzen in der DDR am Beispiel von Friedrich Schenkers Missa Nigra, = Material zum Theater 208, Reihe Musiktheater 35, Berlin 1987. Z. B.: Musizieren als szenische Aktion. Marginalien zur Kammeroper, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 20–23; Kammeroper – intensiver Dialog mit dem Publikum. Zu Kurt Dietmar Richters „Der verlegene Magistrat“, in: Musik und Gesellschaft 29, 1979, S. 204–210; R. Hot von Friedrich Goldmann – Auseinandersetzung mit Problemfeldern der Gattung?, in: Funktion von Kammermusik heute, hrsg. v. Hans-Jürgen Zobel, = Wissenschaftliche Beiträge der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1990, S. 49–54; Musiktheater in der gesellschaftlichen Umwälzung, in: Bulletin des Musikrates der DDR, 1978, H. 1, S. 43ff und H. 2, S. 3ff. Z. B. Beobachtungen zur gesellschaftlichen Funktion der DDR-Kammermusik am Beginn der 80er Jahre, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 26, 1984, S. 256–264; Aufführungsbedingungen und Funktion neuer Kammermusik, in: Zobel, Funktion von Kammermusik heute, 1990, S. 24–30; Weites Spektrum der Themen und Funktionen. DDR-Kammermusik in der Mitte der achtziger Jahre, in: Musik und Gesellschaft 36, 1986, S. 352–356; Kammermusik und Aktion. Formen des instrumentalen Theaters in der DDR, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 341–345. Z. B. Neues am Rande der Szene. Opernschaffen der DDR, in: Musiktheater im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Constantin Floros u. a., = Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 10, Laaber 1988, S. 271– 283; „Die Verwandlung“. Szenische Kammermusik von Paul-Heinz Dittrich. Frank Schneider im Dialog mit dem Komponisten, in: Musik und Gesellschaft 33, 1983, S. 663–667; Interpreten als Mitschöpfer neuer Musik, in: Zobel, Funktion von Kammermusik heute, 1990, S. 37–42; Souveränität grenzenlos? Gespräch über Grenzveränderungen im Gefüge musikalischer Genres mit den Komponisten Reiner Bredemeyer, Georg Katzer und dem Musikwissenschaftler Frank Schneider, in: Bulletin des Musikrates der DDR, 1979, H. 2, S. 34ff; Kammermusik in der DDR. Eine Skizze, in: Bulletin des Musikrates der DDR, 1979, H. 3, S. 14ff. Gerd Rienäcker, Musizieren als szenische Aktion. Marginalien zur Kammeroper, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 20–23.
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„Transportabilität und Spezialisierung“ sowie das Auseinandertreten von Werk und Institution. Gleichzeitig stellt er fest, dass trotzdem meist die „konventionelle Apparatur“ sowie das „Kommunikationsgefüge ‚Großer Oper‘„ vorherrschen, was zu einer „limitierten Variabilität“ führt. Weiterhin konstatiert er Unschärfe im Verhältnis der einzelnen Parameter: So würden Kammerensembles häufig nur als Ersatz für eine größere Besetzung fungieren oder auch eine bestimmte Raum- und Besetzungsgröße nicht zwangsläufig zu spezifischer Materialbehandlung führen. Die Spezialisierung des Ensembles ist nicht durch Eingrenzung zu erreichen, sondern muss erarbeitet werden.31 Rienäcker fordert sodann, dass bei der „Umwälzung des Musiktheaters [...] das Kammertheater Modell-Funktion“ haben soll und nennt als Parameter die „Besonderheiten des Raums“, die „Variabilität quantitativ-qualitativer Besetzung“, die „Synopsis von Errungenschaften verschiedenartiger Gattungen“, „Musizieren als soziales Verhalten“32, den Bedarf an „individueller Parteinahme“, die „Differenziertheit seines Publikums“ sowie als Problem die „technische Exklusivität“33. Rienäcker sieht zusammenfassend die Kammeroper als Laboratorium für ein „dialektisches Theater“34. In seiner angehängten kleinen Beispielsammlung ist erkennbar, dass er alle Arten der Szenischen Kammermusik ausspart und sich ausschließlich auf die Kammeroper bezieht. Auch Frank Schneider thematisiert in seinem Aufsatz Neues am Rande der Szene. Opernschaffen der DDR35 das Kammeropernschaffen und konzentriert sich dort hauptsächlich auf Goldmanns R. Hot und Dessaus Leonce und Lena. Schneider problematisiert vor allem die Musik- und Theaterszene in der DDR in Bezug auf die Möglichkeiten, avanciertes Musiktheater durchzusetzen. Artikel von Armin Köhler36 sowie Evelyn Hansen und Gisela Nauck37 können als Beispiele für die Auseinandersetzung von Musikwissenschaftlern mit Werken Szenischer Kammermusik und anderen multimedialen Kunstformen genannt werden, in denen auch Werke jüngerer Komponisten, hier unter anderem von Ralf Hoyer und Steffen Schleiermacher besprochen werden. In seinem Abriss der Kammermusik in der DDR. Eine Skizze38 konstatiert Frank Schneider für die Kammermusik der 1970er Jahre, dass sich durch die geänderten kulturpolitischen Bedingungen in der DDR eine Vielfalt von Formen und Ensemblemi31 32 33 34 35
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Alle Zitate ebda. S. 20. Alle Zitate ebda. S. 21. Alle Zitate ebda. S. 22. Ebda. S. 23. Neues am Rande der Szene. Opernschaffen der DDR, in: Floros, Musiktheater im 20. Jahrhundert, 1988, S. 271–283. Armin Köhler, Experimente im Konzertleben. Erfahrungen der 80er Jahre, in: Bulletin des Musikrates der DDR, 1988, H. 1, S. 11–18. Evelyn Hansen u. Gisela Nauck, Junge Komponisten – Positionen und Werke, in: ebda. S. 19–29, zuerst in: Musik und Gesellschaft 37, 1987, S. 282–288. Frank Schneider, Kammermusik in der DDR. Eine Skizze, in: Bulletin des Musikrates der DDR, 1979, H. 3, S. 14ff.
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schungen mit zum Teil unkonventionellen Materialstrukturen und Genrevorstellungen ausmachen ließe. Schneider sieht zwei unterschiedliche Herangehensweisen der Komponisten: Entweder streben die Komponisten „im Rahmen der überkommenen Gestaltungs- und Besetzungskonventionen nach ‚interner‘ höchstmöglicher Verfeinerung, Intensivierung und Subjektivierung des klanglichen Ausdrucks“ oder sie suchen die „Überwindung alter Genre- und Handwerksgrenzen“ und wollen klanglich Neues und Individuelles gestalten. Dabei öffne sich die Kammermusik oft gesellschaftlich relevanten und oft auch politischen Sujets. Als weitere Merkmale führt Schneider an die „Integration vokaler Elemente, von musikalischen Dokumenten, Zitaten oder nichtkünstlerischem akustischem Material, fixierten und aleatorisch-improvisatorischen Spielweisen, Tonband und Syntheziserklängen, szenischer Konkretisierung, Zusammenspiel von traditionellen Kammermusikformationen mit Jazz- und Beatgruppen.“39 In seinem Aufsatz Beobachtungen zur gesellschaftlichen Funktion der DDR-Kammermusik am Beginn der 80er Jahre40 kennzeichnet Gerd Belkius die Kammermusik als „Bereich zur Austragung großer gesellschaftlicher und individueller Problemstellungen und Konflikte und als Experimentierfeld für die Bewältigung kompositionstechnischer Fragen“41. Entweder sei direktes politisches Engagement spürbar gewesen oder man habe sich mit musikimmanenten Problemstellungen auseinandergesetzt, außerdem habe es eine Fülle von Kammermusik als Spielmusik gegeben. Für die Szenische Kammermusik, die er als „Kammermusik mit Ambitionen zur szenischen Darstellung“42 bezeichnet, beschreibt Belkius die Umfunktionierung der „Kammer“ zu einer „gesellschaftlichen Tribüne“43. Gerhard Müller diskutiert in Wiedergeburt einer Gattung? Anmerkungen zu neuen Melodramen44 eine Ausprägung Szenischer Kammermusik45 unter dem Aspekt des Melodramas. Er bezieht sich hier auf Szenische Kammermusiken, die neben dem Instrumentalspiel Texte einbeziehen und teilweise auch Aktionen der Instrumentalisten und sieht diese Szenischen Kammermusiken als Wiedergeburt des Melodrams, wobei er die Unterschiede zur traditionellen Gattung deutlich macht, die besonders in der Nichtprofessionalität der Sprecher lägen und auch darin, dass die Musik gegenüber den Texten häufig eine autonome Position einnehme und sie oft in Frage stelle.46 Als Beispiele nennt Müller Stücke von Katzer, Hertel, Neubert, Dittrich und stellt fest, dass die von ihm so genannte „neue melodramatische Gattung“ im Vergleich zur alten eine weitere Dimen-
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Alle Zitate S. 14. Gerd Belkius, Beobachtungen zur gesellschaftlichen Funktion der DDR-Kammermusik am Beginn der 80er Jahre, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 26, 1984, S. 256–264. Ebda. S. 259. Ebda. S. 262. Ebda. S. 263. Gerhard Müller, Wiedergeburt einer Gattung? Anmerkungen zu neuen Melodramen, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 135–138. Vgl. Kap. 5.2. Vgl. a. a. O. S. 136.
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sion erhalte, nämlich die szenische.47 Allerdings sind die Unterschiede des alten und neuen Melodrams, die Müller beschreibt, nicht dazu angetan, die Bezeichnung Melodram für Ausprägungen der Szenischen Kammermusik in Betracht zu ziehen. Die unzähligen Aufsätze über einzelne Werke Szenischer Kammermusik und vor allem der Kammeroper werden im Zusammenhang mit den besprochenen Werken im Kapitel 5.3 diskutiert. Natürlich existiert ebenso eine große Anzahl von Kritiken über Aufführungen einzelner Werke oder ganzer Konzerte, die unter einem entsprechenden Motto standen, in den genannten Zeitschriften, ebenso zahlreich sind Programmhefteinführungen oder einzelne Besprechungen in Musik und Gesellschaft zu den aufgeführten Werken.48 Eine Gesamtsicht auf das Musiktheater unter Einbeziehung der kleineren und außerinstitutionellen Formen wurde aber, wie eingangs schon festgestellt, bisher nicht versucht. Eine Aufstellung von Werken szenischer Musik in der DDR hat Heike Vieth in ihrer Dissertation zusammengetragen49. Sie ist aber als Beispielsammlung gedacht und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ähnliches gilt für das Buch Kammermusik in der DDR von Manfred Vetter50, das zwar mit differenziertesten Unterteilungen der Besetzungsmöglichkeiten, innerhalb dieser Unterteilungen aber ebenfalls nur mit Einzelbeispielen arbeitet, wobei die Kapitel zur Kammeroper und zur Szenischen Kammermusik einen denkbar kleinen Raum einnehmen und keine Definitionen der Gattungen bzw. Beschreibungen der Werke geliefert werden.51 Dieser Überblick über die zum Thema vorhandene Literatur zeigt, dass eine Darstellung der Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Formen Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper in der DDR bisher nicht vorliegt. Gleichzeitig kann sich eine solche Arbeit aber auf die vielfältigen Einzeluntersuchungen stützen, muss aber eine eingehende Begriffsdiskussion der Begriffe Szenische Kammermusik und Kammeroper ebenso leisten, wie die Analyse der entsprechenden Werke und der Beweggründe der Komponisten für die Komposition sowie die Gesamtdarstellung des Phänomens Szenische Kammermusik mit allen seinen kulturpolitischen, gesellschaftlichen und musik- und theatermäßigen Implikationen. Auch eine Einordnung der Szenischen Kammermusik in der DDR in die europäische Musiktheaterentwicklung des 20. Jahrhunderts stellt sich als bisher unerfüllt Aufgabe heraus: Häufig werden Musikgeschichte und Musiktheatergeschichte der DDR in Gesamtdarstellungen zu deutschen bzw. europäischen Entwicklungen eher marginal behandelt. Bezeichnend dafür ist der Abschnitt Komponieren in der DDR aus dem Kapitel Musik als Botschaft. Orchestermusik als Träger von Ausdruck und Bedeutung von Gregor
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Vgl. ebda. S. 137. Ein Aufzählen der einzelnen Texte würde hier zu weit führen; die für die Arbeit wichtigen Kritiken sind im Literaturverzeichnis im Anhang zu finden. Vieth, Szenische Musik im Konzert, 1991, S. 125f. Manfred Vetter, Kammermusik in der DDR, Frankfurt am Main 1996. Ebda., S. 161f.
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Schmitz-Stevens im Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert.52 Auf kürzestem Raum werden hier krasse Fehleinschätzungen und historisch unrichtige Behauptungen mit einer oberflächlichen Beschreibung verbunden. So verwechselt der Verfasser die ältere und mittlere Generation der Komponisten in der DDR und kommt dabei zu einer fehlerhaften Darstellung der so genannten Avantgarde-Generation: „Auch hier ist zwischen der älteren Generation (Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker, Udo Zimmermann) und den Jüngeren (Nicolaus Richter de Vroe, Jakob Ullmann, Steffen Schleiermacher, Helmut Zapf) zu unterscheiden. Für die Älteren, die den Großteil ihres Werkes vor 1989 schufen, war die postulierte ‚Generallinie von Verständlichkeit, Formbeherrschung, klarem Ausdruck, konkretem Inhalt und optimistischer Perspektive‘ weitgehend, zumindest als Ausgangspunkt, verbindlich. Man knüpfte eher an die klassizistischen und expressionistischen Tendenzen der Vorkriegszeit an als an die zeitgenössischen Entwicklungen und Tendenzen der westlichen Avantgarde, die verfemt und nur teilweise bekannt waren.“53
Die „ältere Generation“, die der Autor hier nennt und zu beschreiben glaubt, zeigt sich – falls die Generationeneinteilung für die DDR in dieser scharfen Abgrenzung überhaupt verwendbar ist – als die mittlere, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass sie diese „zeitgenössischen Entwicklungen und Tendenzen der westlichen Avantgarde“ zur Kenntnis nahm und in ihren Werken seit Ende der sechziger Jahre verstärkt verarbeitete. Fast alle dieser genannten und andere Vertreter dieser Altersgruppe widmeten sich auch der Komposition Szenischer Kammermusik, ihre differenzierten Kompositionstechniken – Dodekaphonie, Serialität, Aleatorik usw. einschließend – sind Gegenstand der Analysen in Kapitel 5. Jene Generation, die der Verfasser hier tatsächlich beschreibt, ist die Väter- und Lehrergeneration der Genannten, so beispielsweise Hanns Eisler, Paul Dessau, Rudolf Wagner-Régeny, Leo Spies, Fritz Geißler, um nur einige Namen zu nennen. Aber auch diese Komponisten zeichnet ein variantenreicher Umgang mit aktuellen Kompositionstechniken ihrer Zeit aus – zu denken ist hier beispielsweise an die Verwendung von Zwölftontechnik durch Hanns Eisler und Paul Dessau. Auch diese Komponisten lassen sich nicht unter Stichworten wie Klassizismus und Expressionismus subsumieren. Deshalb ist dem zweiten Satz von Schmitz-Stevens’ Zusammenfassung dieses kleinen Kapitels uneingeschränkt zuzustimmen: „Die Vielfalt der Einflüsse und die Unterschiedlichkeit der individuellen Hintergründe lassen eine generalisierende Typisierung für den hier zur Debatte stehenden Zeitraum kaum mehr zu. Eine
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Gregor Schmitz-Stevens, Musik als Botschaft. Orchestermusik als Träger von Ausdruck und Bedeutung, in: Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert 1975-2000, hrsg. v. Helga de la Motte-Haber, = Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 4, Laaber 2000, S. 80. Ebda.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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Musikgeschichte der DDR, die die Entwicklung des Komponierens unter ihren gesellschaftlichen und historischen Bedingungen detalliert analysiert, muß noch geschrieben werden.“54
Das Kapitel Musiktheater am Ende des 20. Jahrhunderts im genannten Handbuch55 beschäftigt sich nicht mit den in dieser Arbeit behandelten Phänomenen. Ebenso enttäuschend gestaltet sich die Lektüre des Bandes Experimentelles Musik- und Tanztheater desselben Handbuches56. Der Fokus liegt auch hier eindeutig auf westdeutschen (-europäischen) und nordamerikanischen Komponisten und deren Werken. Die facettenreiche ostdeutsche (-europäische) experimentelle Musiktheaterlandschaft ist praktisch nicht vertreten. Wenn doch scheinbar in Einzelbeispielen von ihr die Rede ist, werden Werke und Komponisten genannt, die eher der traditionellen Oper oder dem großen Musiktheater zuzurechnen sind, wie die Opern von Paul Dessau, Siegfried Matthus, Udo Zimmermann und Rainer Kunad. Weder die mit ihren Werken auch im Westen wirksamen Komponisten wie Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Schenker, Reiner Bredemeyer oder Georg Katzer, noch andere Komponisten experimentellen Musiktheaters in der DDR werden hier genannt geschweige denn näher beschrieben. Insgesamt fällt auf, dass der Schwerpunkt auch in diesem Band auf Aspekten der Inszenierung und anderen theatralen Merkmalen liegt, die in die Tiefe gehende musikalische Analyse aber vermieden wird. Sicher hat Musikwissenschaft es bisher häufig versäumt, sich musiktheatralen Werken auch vom theaterwissenschaftlichen und aufführungsanalytischen Ansatz her zu nähern. Zugunsten dieser Blickwinkel nun aber den musikwissenschaftlichen zu vernachlässigen, wird ebenfalls nicht zum Erfassen der Komplexität solcher Werke führen können. Auch im Band Musiktheater im 20. Jahrhundert des Handbuchs der musikalischen Gattungen57 werden lediglich einzelne Werke – wie Georg Katzers Der Schlaf – genannt, und auch diese werden nicht in den in dieser Arbeit angestrebten Kontext gestellt. Außerdem finden ausschließlich Opern von Friedrich Schenker, Friedrich Goldmann und Paul Dessau Erwähnung, ansonsten konzentriert sich die Darstellung auf das Musiktheater Westdeutschlands. Seit den neunziger Jahren fanden einige Tagungen zum zeitgenössischen Musiktheater statt, die ebenfalls teilweise Musiktheater in der DDR thematisierten. So enthält der Bericht über das Mainzer Kolloquium 199458 auch drei Aufsätze über R. Hot von Fried-
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Ebda. Frieder Reininghaus, Musiktheater am Ende des 20. Jahrhunderts, in: de la Motte-Haber, Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert 1975-2000, 2000, S. 99ff. Experimentelles Musik- und Tanztheater, hrsg. v. Frieder Reininghaus u. Katja Schneider in Verbindung mit Sabine Sanio, = Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 7, Laaber 2004. Musiktheater im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Siegfried Mauser, = Handbuch der musikalischen Gattungen 14, Laaber 2002. Musiktheater im Spannungsfeld zwischen Tradition und Experiment, hrsg. v. Christoph-Hellmut Mahling u. Kristina Pfarr, = Mainzer Studien zur Musikwissenschaft 41, Tutzing 2002.
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Forschungsstand
rich Goldmann59, Die Verwandlung von Paul-Heinz Dittrich60 sowie Paul Dessaus Einstein61. Demgegenüber erfuhr auf der Tagung Musiktheater heute, die 2001 in Basel stattfand62, das Musiktheater der DDR wiederum keine Erwähnung und Einordnung in größere deutsche und europäische Kontexte. Auch in Überblicksreferaten, die die deutsche und europäische Opern- und Musiktheaterentwicklung beleuchteten, wurden entsprechende Werke nicht thematisiert.63 Aufgrund ihrer Ausrichtung am Zentrum für zeitgenössische Musik in Dresden64 umfasste die Tagung Musiktheatralische Konzepte im neuen Jahrtausend im Oktober 2003 in Dresden auch Referate zum Musiktheater in der DDR bzw. zu ostdeutschen Komponisten nach der Wende (Katzer und Voigtländer), die aufgrund einer regen und engagierten Diskussion auch in den Gesamtkontext eingeordnet wurden.65 Unter dem Titel MUSIK MACHT PERSPEKTIVEN – Neue Musik in der DDR im europäischen Kontext66 fand 2001 in Weimar ein weiteres Symposion statt, auf dem weniger spezielle Musiktheaterwerke besprochen, sondern die gesamte kulturpolitische, ästhetische und gesellschaftliche Situation in der DDR beleuchtet wurde. Verstärkt kamen auch Zeitzeugen zu Wort, so der Komponist Siegfried Thiele und der Musikwissenschaftler Frank Schneider. Der einzige dezidiert dem Musiktheater gewidmete Text bringt eine detaillierte Analyse von Reiner Bredemeyers Oper Candide67. Die komplizierte Quellensituation und die für die Szenische Kammermusik selbst spärliche Literaturlage legen nahe, zusätzlich Literatur zur allgemeinen Geschichte und Kulturpolitik der DDR und theaterwissenschaftliche Fachliteratur zur genaueren Beschreibung der Grundlagen und Ausprägungen Szenischer Kammermusik heranzuziehen.
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Ingeborg Allihn, „Behaltet Euren Himmel für Euch“. Bemerkungen zu Friedrich Goldmanns Opernphantasie R. Hot bzw. die Hitze, in: ebda., S. 235–245. Kathrin Eberl, Aspekte der Sprachbehandlung in Paul-Heinz Dittrichs szenischer Kammermusik Die Verwandlung (1982/83), in: ebda., S. 185–194. Gerd Rienäcker, Hanswurstiaden am Abgrund – Notizen zu den Intermezzi der Oper Einstein von Carl [sic] Mickel und Paul Dessau, in: ebda., S. 221–228. Musiktheater heute. Internationales Symposion der Paul Sacher Stiftung Basel 2001, hrsg. v. Hermann Danuser u. Matthias Kassel, = Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung 9, Mainz 2003. Vgl. v. a. Rudolf Kelterborn, Musiktheatermusik in unserer Zeit, in: ebda., S. 33–46, Wulf Konold, Oper – Anti-Oper – Anti-Anti-Oper, in: ebda., S. 47–60. Seit 1.1.2004 Europäisches Zentrum der Künste Hellerau. Vgl. darin (Band im Druck): Gerd Rienäcker, Tradition als Neuerertum – Was lässt sich aus den Debatten über neues Musiktheater im der DDR heute lernen?; Katrin Stöck, Strukturen und Intentionen Szenischer Kammermusik in der DDR; Brigitte Kruse u. Ulrike Liedtke, Aktuelle Werke szenischer Kammermusik in Rheinsberg. Zwischen Macht und Freiheit – Neue Musik in der DDR, Kongressbericht Weimar 2001, hrsg. v. Michael Berg u. a., = KlangZeiten. 1, Köln 2004. Nina Noeske, Die beste aller möglichen Welten: Bredemeyers Candide (1981/82), in: ebda., S. 141–155.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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Standardwerke, die einen Überblick über Geschichte oder Kulturpolitik der DDR geben, stellen vor allem für das 3. Kapitel, das sich allgemeiner mit wichtigen Grundzügen der Kulturpolitik der DDR und mit der Musikgeschichte der DDR beschäftigt, eine wichtige Grundlage dar und dienten als Basis für die Auseinandersetzung mit der Kulturpolitik in der DDR. Für die Darstellung der Geschichte der DDR wurde vor allem Hermann Webers Geschichte der DDR68 verwendet. Zu verschiedensten Begrifflichkeiten konnte das Lexikon des DDR-Sozialismus69 herangezogen werden. Eine Sammlung von Dokumenten zu unterschiedlichsten Bereichen der DDR-Geschichte, die auch Dokumente zur Kulturpolitik in der DDR enthält, hat Matthias Judt in DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse70 zusammengetragen. Manfred Jägers Darstellung der Kulturpolitik der DDR71 stützt sich hauptsächlich auf die Entwicklungen die die Literatur betrafen, selten thematisiert er diejenigen der Malerei, Musik wird praktisch nicht berücksichtigt. Dies entspricht auch der Wertung der verschiedenen Künste durch die Kulturpolitik in der DDR selbst. Aus dem Bereich der theaterwissenschaftlichen Literatur sind ebenfalls verschiedene Abhandlungen von Bedeutung für die Überlegungen dieser Arbeit sowohl im begrifflichen Bereich als auch im theatergeschichtlichen und –phänomenologischen Bereich. Das große Thema der Theatralität, das auch in der Musiktheaterwissenschaft zunehmend Beachtung findet72, stellte vor allem Erika Fischer-Lichte73 in ihren Publikationen dar. Weiterhin bestimmte und definierte Rudolf Münz74 Theatralität als Begriff. In Kapitel 2.1.4 wird der Begriff Theatralität grundlegend und auf seine Anwendbarkeit für die Musiktheaterwissenschaft sowie die Untersuchung Szenischer Kammermusik betrachtet. Petra Stubers Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater75 führte die geschichtliche und kulturpolitische Diskussion des DDR-Theaters weiter und beschäftigte sich besonders mit der Formalismusdebatte sowie mit wie Szenische Kammermusik ebenfalls 68 69
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Hermann Weber, Geschichte der DDR, München ²1999. Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, 2 Bde., hrsg. v. Rainer Eppelmann u. a., Paderborn ²1997. DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, hrsg. v. Matthias Judt, = Forschungen zur DDR-Gesellschaft, Berlin 1997. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, Köln ²1995. Vgl. Tim Becker, Raphael Woebs u. Martin Zenck, Theatralität. Inszenierungsstrategien von Musik und Theater und ihre Wechselwirkungen, in: Die Musikforschung 56, 2003 S. 272–281 sowie http://www.unibamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/ppp_professuren/musikwissenschaft /theatral.pdf (30.05.2012). Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters, 3 Bände, Tübingen 1983; Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen 2001. Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, mit einem einführenden Beitrag von Gerda Baumbach, hrsg. v. Gisbert Amm, Berlin 1998, vgl. darin v.a.: Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Konzeptionelle Erwägungen zum Forschungsprojekt „Theatergeschichte“, S. 66– 81. Petra Stuber, Spielräume und Grenzen. Studien zum DDR-Theater, = Forschungen zur DDR-Gesellschaft, Berlin 1998.
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Forschungsstand
dem postdramatischen Theater zuzurechnenden Autoren und Regisseuren wie Benno Besson, Heiner Müller, Frank Castorf und der Gruppe Zinnober als freier Theatergruppe in der DDR der 1980er Jahre. Eine Chronik zum Theater in der DDR76 enthält auch einen Essay von Ralph Hammerthaler, der sich unter anderem kritisch mit Funktionen von Theater in der DDR auseinandersetzt. Weitere Ausführungen zum Theater in der DDR bietet der Band Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 199077. Diese genannten Bücher werden im Kapitel zu den musik- und theatergeschichtlichen Voraussetzungen Szenischer Kammermusik und Kammeroper herangezogen.78 Eine weitere aus theaterwissenschaftlichem Blickwinkel gewonnene Vorgehensweise kann die Untersuchung Szenischer Kammermusik und Kammeroper vervollständigen: Die Ähnlichkeiten von postdramatischem Theater und Szenischer Kammermusik ermöglichen die Untersuchung der Werke Szenischer Kammermusik auf Merkmale postdramatischen Theaters. Die Begrifflichkeit und Definition des postdramatischen Theaters79 prägte besonders Hans-Thies Lehmann mit seinem Buch Postdramatisches Theater80 und der Aufsatzsammlung Das Politische Schreiben81.
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Theater in der DDR. Chronik und Positionen, hrsg. v. Christa Hasche, Traute Schölling u. Joachim Fiebach mit einem Essay von Ralph Hammerthaler, Berlin 1994. Durch den eisernen Vorhang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis 1990, hrsg. v. Henning Rischbieter, Berlin 1999. Vgl. Kap. 4. Vgl. Kap. 2.2.5. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main 1999. Hans-Thies Lehmann, Das Politische Schreiben, = Theater der Zeit Recherchen 12, Berlin 2002, darin u. a.: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 11–21.
2.2
Begrifflichkeiten und Definitionen
2.2.1
Diskussion des Begriffs Gattung und seine Anwendung auf Szenische Kammermusik und Kammeroper
Am Anfang einer Begriffsdiskussion, die neben dem viel diskutierten und schwer fassbaren Begriff Musiktheater vor allem die für die Darstellung entscheidenden Begriffe Szenische Kammermusik und Kammeroper eingehend beleuchtet, muss die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gattung und seiner Anwendbarkeit auf die zu behandelnden Phänomene stehen.1 Der Begriff der Gattung selbst wurde immer wieder diskutiert und neu definiert. Hier soll nun nicht der Begriff der Gattung grundsätzlich neu befragt werden, dies ist in diesem Rahmen nicht zu leisten, außerdem sind gerade in letzter Zeit umfassende Veröffentlichungen zum Thema erschienen2. Trotzdem muss die Anwendbarkeit des Gattungsbegriffs auf Szenische Kammermusik und Kammeroper geprüft werden, dabei werden ausschließlich Ansätze aus dem 20. Jahrhundert berücksichtigt. Im 20. Jahrhundert wird der Gattungsbegriff zunehmend weit gefasst, man geht von der tradierten Ansicht ab, eine Gattung müsse auch durch ein gemeinsames Formschema und durch einen einheitlichen Stil gekennzeichnet sein. Stattdessen werden Aspekte wie Funktion, Besetzung usw. als möglicherweise gattungsbildend beschrieben. So nennt Carl Dahlhaus im Neuen Handbuch der Musikwissenschaft3 Kriterien für die Konstituierung einer Gattung, betont aber gleichzeitig, dass dieser Kriterienkatalog nicht starr sei, sondern dem jeweiligen Thema und Erkenntnisinteresse angepasst werden müsse. Gattungen seien sowohl durch soziale Funktionen als auch durch stilistischkompositionstechnische Kriterien bestimmbar. Als Kriterien nennt Dahlhaus Besetzung, Form, Satzstruktur, Stillage, Stellung im Ensemble der Gattungen, Sozialcharakter, institutionelle Lokalisierung sowie den Typus von Historizität.4 Wilhelm Seidel stellt fest, dass die jüngere Gattungstheorie vom Einzelwerk ausgehe und die Gattung als Summe tradierter Momente begreife, die eine Werkgruppe kennzeichnen. Er führt weiter aus, dass die Komposition diesen tradierten Momenten frei und selbstbewusst begegne und die Bedeutung eines neuen Werkes mit von der Distanz abhänge, die es zu seiner Gattung gewinne. Damit gehe einher, dass eine Gruppierung 1
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Die Kammeroper wird zur Gattung Oper gehörend verstanden, wobei für avancierte Kammeroper die Grenzen zwischen Oper und Szenischer Kammermusik fließend sind. – Siehe unten. Siegfried Mauser, Geschichte der Gattungstheorie, = Handbuch der musikalischen Gattungen 15, Laaber 2003; Wolfgang Marx, Klassifikation und Gattungsbegriff, = Studien und Materialien zur Musikwissenschaft 35, Hildesheim 2004. Carl Dahlhaus, Zur Theorie der musikalischen Gattungen, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft 10: Systematische Musikwissenschaft, hrsg. v. Carl Dahlhaus u. Helga de la Motte-Haber, Laaber 1982, S. 109–124. Ebda., S. 118.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
der Kompositionen nach Gattungen hinter der nach Techniken und Strukturen zurücktrete.5 Wulf Arlt6 fasst Leo Schrades7 Auffassung von der musikalischen Gattung – die als Mittler zwischen dem Werk und seinem Urheber einerseits und der Umwelt andererseits gesehen wird – zusammen und nennt fünf entscheidende Aspekte. Erstens sei für Schrade die Bedeutung der Gattung für „die Begegnung zwischen dem schaffenden Künstler und seiner Umwelt“ ausschlaggebend, zweitens die Rolle der Tradition als konstituierendes Moment der Gattung, drittens das Phänomen ihrer Funktion, viertens der Zusammenhang einer Gattung mit bestimmten „Formen und Strukturelementen“ sowie fünftens der Zusammenhang einer Gattung mit „Epochen und ihren Stilen“8. Wulf Arlt formuliert darauf aufbauend vier Fragen, „die sich jedem Versuch, eine musikalische Gattung zu beschreiben, stellen: 1. Wie künstlerische Eigenart die Gattung bestimme und von ihr wiederum bestimmt werde, 2. welche gesellschaftlichen Bindungen, welche Funktion sie erfülle, 3. welche künstlerischen Formen, welche Strukturen ihr eigen seien, 4. in welcher Weise sie einer Epoche, wie weit einem besonderen Stil verbunden sei oder das Gepräge gebe.“9
Stefan Kunze stellt in Überlegungen zum Begriff der „Gattung“ in der Musik10 fest, dass der Terminus Gattung ein Sammelbegriff zu sein scheine, „für ein Allgemeines, das in einer Gruppe von Einzelwerken hervortritt“.11 Gleichzeitig gebe aber dieser Sammelbegriff diesem Allgemeinen keine gleichartige Strukturierung. Nach Kunze konstituieren sich Gattungen durch Einzelwerke, die in ihrem Aufbau eine Reihe wesentlicher Gemeinsamkeiten aufweisen, wobei für die Entstehung von Gattungen entscheidend sei, dass die Konstellation der Satzelemente Stabilität und Verbindlichkeit besitzen muss. Gattungen sind nach Kunze beschreibbar als bestimmte Konstellationen solcher durch Tradition gegebener Elemente, als da sind: musikalischer Satz als Kompositionsverfahren, Anlage (Konstruktion), Besetzung. Einen weiteren Aspekt stellt für Kunze die Geschichtlichkeit der Gattungen dar.12 5
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Wilhelm Seidel, Art. Gattung, in: Metzler Sachlexikon Musik, hrsg. v. Ralf Noltensmeier, Stuttgart 1998, S. 329–331. Wulf Arlt, Einleitung. Aspekte des Gattungsbegriffs, in: Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen. Gedenkschrift Leo Schrade, hrsg. v. Wulf Arlt u. a., Bern 1973, S. 11–93. Vgl. ebda., S. 12–15. Ebda., S. 89. Ebda., S. 89f. Stefan Kunze, Überlegungen zum Begriff der „Gattung“ in der Musik, in: Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens, = Kieler Schriften zur Musikwissenschaft 26, hrsg. v. Friedhelm Krummacher u. Heinrich W. Schwab, Kassel 1982, S. 5–9. Ebda., S. 7. Alles ebda., S. 7.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
29
Da die Kriterien der Gruppierung von Werken nach Gattungen nicht feststehen, plädiert Kunze dafür, Gattungen in ein jeweils höheres Allgemeines einzubinden, ihren Begriff aus der Aufeinanderbezogenheit von musikalischem Satz und Anlage (als zentrale Elemente) zu entwickeln und diese Konstellationen mit den historischen Bedingungen in Verbindung zu bringen, in die die Gattungen eingebettet erscheinen. Dabei sei zu beachten, dass die Konstellation der Elemente, die eine Gattung konstituiere, im Laufe der Musikgeschichte wechsele.13 Eben diese Konstellation müsse aber Zeitlang relativ stabil sein und für Publikum und Komponisten verbindlich, damit von Gattung gesprochen werden kann. Dabei gebe es aber auch in stabilsten Gattungen durch einzelne Werke stete Veränderung.14 Wulf Arlt definiert in seinem Aufsatz Gattung – Probleme mit einem Interpretationsmodell der Musikgeschichtsschreibung15 „Gattung als eine Merkmalskonstellation, bei der es primär um den Zusammenhang zwischen musikalischer Struktur und Funktion (sowie gegebenenfalls um einen bestimmten Zweck) in einem an Konventionen faßbaren Erwartungshorizont geht, der mit einer abgrenzbaren (historischen) Begrifflichkeit verbunden ist.“16 Die Gattung Szenische Kammermusik ist durch folgende allgemeine Merkmale bestimmt, die sich in Anwendung eines weit gefassten Gattungsbegriffes sowie aus den Untersuchungen der einzelnen Stücke ergeben. In Kapitel 5 finden sich genauere Beschreibungen der Faktizität von Szenischer Kammermusik und die hier dargelegten Kriterien werden dort anhand der Werke verdeutlicht. Bezüglich der Besetzung kann auf dem Gebiet Szenischer Kammermusik insofern Einheitlichkeit festgestellt werden, als es zwar sehr verschiedene Besetzungen Szenischer Kammermusik gibt17, sich diese allerdings nur im Rahmen der immer gegebenen solistischen und kammermusikalischen Besetzung unterscheiden. Noch heterogener zeigt sich die Szenische Kammermusik in Bezug auf die Form, bei der keine Gemeinsamkeiten ausgemacht werden können, da Szenische Kammermusiken durchkomponiert oder in Nummern konzipiert sein, gereihte oder entwickelnde Formen aufweisen sowie sich mit traditionellen Formschemata auseinandersetzen können, nicht zuletzt mit denen traditionellen Musiktheaters. Ähnlich kann die von Dahlhaus so genannte Stillage nicht zur Konstitution der Gattung Szenische Kammermusik herangezogen werden, da von spätromantischen Ansätzen über dodekaphone und serielle bis zu an Cage aber auch am Jazz geschulten Konzepten eine große Bandbreite kompositorischer Techniken genutzt wird. Die Stellung Szenischer Kammermusik im Ensemble der Gattungen, zwischen Kammermusik und Musiktheater stellt ein einheitliches Kriterium dar, das neben ande13 14 15
16 17
Alles ebda., S. 8. Alles ebda., S. 9. Wulf Arlt, Gattung – Probleme mit einem Interpretationsmodell der Musikgeschichtsschreibung, in: Krummacher/Schwab, Gattung und Werk in der Musikgeschichte Norddeutschlands und Skandinaviens, 1982, S. 10– 19. Ebda., S. 18. Vgl. dazu die Ausführungen zu den einzelnen Besetzungsgruppen in Kap. 5.3.
30
Begrifflichkeiten und Definitionen
ren als gattungskonstituierend angesehen werden kann, obwohl natürlich diese Stellung je nach Werk einmal mehr in der Nähe der Kammermusik und einmal mehr in der Nähe des Musiktheaters zu suchen ist. Auch der soziale Zusammenhang Szenischer Kammermusik stellt sich recht einheitlich dar, konnte doch fast immer ein ähnliches, exklusives Publikum von Spezialisten und Insidern angesprochen und erreicht werden. Die von Dahlhaus geforderte institutionelle Lokalisierung der Gattung kann am ehesten durch eine Beschreibung ex negativo geleistet werden, da die Szenische Kammermusik sich von der Institution Oper löst und sich neue Räume sucht, also durch eine kritisches Haltung zur Institution gekennzeichnet ist. Die geschichtliche Einbindung von Szenischer Kammermusik spielt insofern eine gattungskonstituierende Rolle, als dass Kammermusik und Oper diese Geschichtlichkeit besitzen und diese auch für die Szenische Kammermusik teilweise als Referenzobjekt Bedeutung gewinnt. Gleichzeitig entsteht die Szenische Kammermusik erst am Anfang der siebziger Jahre in der DDR, beruft sich aber zum Teil auf bestehende Traditionen instrumentalen Theaters und szenischer Musik in Westdeutschland und Westeuropa, in Einzelfällen auch in Osteuropa.18 Für die konventionelle Kammeroper in der DDR wirken zum Teil andere Komponenten gattungskonstituierend. Allerdings treffen auf die hier betrachteten avancierten Kammeropern ähnliche Merkmale wie für die Szenische Kammermusik zu. Dies gilt besonders für die Besetzung, weiterhin für die soziologische Zuordnung und die institutionelle Einbindung, die von den entsprechenden Komponisten nicht als erstrebenswert angesehen wird, sondern in Bestrebungen außerinstitutioneller Arbeit mündet. Die Schwierigkeiten bei der konkreten Beschreibung von Unterschieden bestimmter Formen von Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper verweisen auf eine gemeinsame Gattungszugehörigkeit. Als gattungskonstituierende Aspekte der Gattung Szenische Kammermusik können somit die kammermusikalische und solistische Besetzung, der Sozialcharakter Szenischer Kammermusik, sowie die institutionelle Lokalisierung, hier vor allem das Ausbrechen aus festgefügten Institutionen genannt werden. Gleichzeitig ist auch der Umgang der jeweiligen Komponisten mit Text, insofern vorhanden, und Szene, im weitesten Sinne, ein spezifischer und unterschiedlich dem in Oper und Kammermusik. Prinzipiell lässt sich sagen, dass sich die Gattung Szenische Kammermusik auch zu einem großen Teil durch ihre Unterschiede zu Kammermusik und Oper/Musiktheater und ihre Auseinandersetzung mit diesen Gattungen bzw. Gattungskomplexen definiert. Die hier dargelegte Gattungsdefinition bildet den Hintergrund für die sich besonders in Kapitel 5 anschließenden Analysen einzelner als beispielhaft betrachteter Werke Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper. Durch das Verstehen beider Musiktheaterphänomene als Gattungen ist es möglich, die vielen entstandenen Werke
18
Vgl. Kap. 4.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
31
trotz ihrer stilistischen Vielfalt auf einer gemeinsamen Basis zusammenzufassen und auf der Grundlage gemeinsamer Gattungsmerkmale die charakteristischen Unterschiede und Besonderheiten aufzuzeigen.
2.2.2
Szenische Kammermusik und Kammeroper im Kontext von Kammermusik, Oper, Musiktheater
Die Definition der Begriffe Szenische Kammermusik und Kammeroper muss, wie oben bereits erwähnt, in engem Zusammenhang mit Kammermusik, Oper und vor allem Musiktheater gesehen werden. Diese Begriffe werden oft ohne konkrete Bestimmung verwendet, auch weil sie durch die Jahrhunderte häufig ihre Bedeutung und Inhalte geändert haben. Daher wird kurz auf die Faktur von Kammermusik, Oper und Musiktheater im 20. Jahrhundert eingegangen, um dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den behandelten Gattungen darzulegen. Das 20. Jahrhundert brachte der Kammermusik eine tief greifende Wandlung des Gattungsgefüges, eine Erweiterung des Spektrums der Klangmittel, so die Kombination vielfältiger und zum Teil ungewöhnlicher Instrumente und ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Kammermusik und Nicht-Kammermusik, das mit der „Kammermusikalisierung“19 großer Teile der Musikproduktion einherging. Der Hauptantrieb dieser Entwicklung war die Absicht, sich von der spätromantischen Ästhetik abzusetzen. Ein aus der Kammermusik abgeleiteter Reduktionsansatz wurde nun in ästhetischer, kompositions- und besetzungstechnischer Hinsicht auf weitere Bereiche übertragen, so auch auf die Oper mit der Entstehung der Kammeroper.20 In die bisher unbefriedigend geklärte Situation des Begriffs Kammeroper bringt nun Sieghart Döhring21 etwas Licht, indem er lexikalisch vorgeht und die vorhandenen Definitionen vergleicht und abwägt. Zuerst stellt Döhring fest, dass die Kammeroper zwar einen hohen Stellenwert in der aktuellen Musiktheaterlandschaft einnehme, die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr aber nicht adäquat dazu stattfinde und keine Theorie der Kammeroper existiere.22 Der vermutlich erste Eintrag finde sich in der 11. Auflage des Riemann-Musiklexikons 1929 und der Begriff Kammeroper sei am Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Während im Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, in Musik in Geschichte und Gegenwart sowie im New Grove Dictionary of Music and Musicians keine oder nur eine oberflächliche Beschäftigung mit dem Begriff stattfinde,23 19
20 21
22 23
Nicole Schwindt, Art. Kammermusik, in: Die Musik und Geschichte und Gegenwart 2, Sachteil Bd.4, hrsg. v. Ludwig Finscher, Kassel u. a. ²1996, Sp. 1649. Ebda. Sieghart Döhring, Kammeroper – Annäherung an einen gattungsspezifischen Begriff, in: Reininghaus/Schneider, Experimentelles Musik- und Tanztheater, 2004, S. 56–60. Vgl. ebda., S. 56. Vgl. ebda., S. 57.
32
Begrifflichkeiten und Definitionen
wird Döhring in der Enciclopedia dello spettacolo fündig, die die „Opera da camera“ mit dem Zusatz „tedesco Kammeroper“ versieht und nicht als dramatische Gattung mit individuellen Merkmalen versteht, sondern beschreibt „als vielmehr ein eher unbestimmtes Werkprofil aufgrund theaterspezifischer Kriterien wie: beschränkter instrumentaler und szenischer Apparat, begrenzte Zahl an Darstellern, knapp gefaßte Handlung, geeignet für Aufführungen in intimen Räumen für eine geringe Zuschauerzahl und mit kleiner Spielfläche.“24
Igor Strawinskys Histoire du soldat ist nach Döhring das Werk, das „wie kein anderes den Typus ‚Kammeroper‘ als episches Musiktheater avantgardistischen Zuschnitts für das gesamte 20. Jahrhundert modellhaft festgelegt hat.“25 Döhring nennt als Merkmale von Kammeropern nach diesem Vorbild „die Auflösung der Handlung in eine Folge von Stationen; die Einführung eines kommentierenden Sprechers, der aber auch in die Handlung eingreift und dadurch Personen und Situationen multiperspektivisch verfremdet; die Einbeziehung von Pantomime und Tanz; die Schaffung eines spezifischen musikalischen ‚Sounds‘ von lakonischer Härte, erzeugt von einem samt Dirigenten sichtbar auf der Bühne postierten Ensemble aus sieben Spielern, unter denen der Schlagzeuger besonders hervortritt.“26
Weiterhin hebt Döhring den Charakter der Kammeroper als Zeitstück und ihre damit häufig politischen Implikationen hervor.27 Daneben stellt Döhring eine traditionalistische Linie der Kammeroper, deren Hauptrepräsentant Gian Carlo Menotti sei, die sich dadurch auszeichne, dass sie Formmodelle der älteren Oper mit Tendenzen aktuellen Musiktheaters verbinde.28 Döhring resümiert schließlich: „Dem schillernden Phänomen und dem unscharfen Begriff ‚Kammeroper‘ wird man wohl am ehesten gerecht, wenn man darunter nicht eine Gattung versteht, sondern ein Ensemble vorwiegend aufführungsbezogener Merkmale, die in verschiedenen Gattungen auf unterschiedliche Weise ausdifferenziert erscheinen, wobei die ‚große Oper‘ jeweils den Bezugspunkt bildet, von dem sich ‚Kammeroper‘ kontrastierend absetzt. Was ‚Kammeroper‘ bedeutet, ließe sich demnach nicht apriori bestimmen, sondern stets nur im musiktheatergeschichtlichen Kontext.“29
In der Kammermusik des 20. Jahrhunderts bildeten sich vollkommen neuartig zusammengesetzte Kammermusikensembles, die Sing- und Sprechstimme wurde zunehmend 24 25 26 27 28 29
Ebda., S. 57. Ebda. Ebda., S. 58. Ebda. Ebda., S. 59. Ebda., S. 60.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
33
häufiger hinzugezogen, räumliche und elektronische Effekte spielten eine Rolle. Der Übergang zum Musiktheater zeigt sich dort als fließend, wo auch die Szenische Kammermusik anzusiedeln ist. Die Grenze zwischen Oper und Musiktheater ist im 20. Jahrhundert zunehmend schwer zu bestimmen, und es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, sie letztgültig zu ziehen. Doch um die Relationen von Szenischer Kammermusik und Kammeroper zu den Referenzgattungen verdeutlichen zu können, wird im Folgenden unter Oper eher das dem Dualismus von Musik und Drama verpflichtete musikalische Bühnenwerk gesehen, unter Musiktheater aber dasjenige Bühnenwerk, das weniger Musik oder Text im Vordergrund sieht als vielmehr das Theater. Musiktheater als Bezeichnung für die Inszenierungsform von Opern im 20. Jahrhundert spielt für die folgenden Überlegungen keine Rolle. So definiert Jürgen Schläder den Begriff Musiktheater wie folgt: „Sofern Musiktheater eine dem 20. Jahrhundert eigene Entwicklungsstufe szenisch-musikalischen Komponierens meint, in dem das theatralische Element gleichberechtigt neben das musikalischsprachliche tritt, fungiert der Begriff als Gattungsbezeichnung, um diese zeitgenössischen Kompositionen von der traditionellen Oper abzuheben.“30
Und Wolfgang Ruf sieht Musiktheater „in einem engeren Sinne als Sammelbegriff für musikalisch-szenische Verbindungen des 20. Jh., die als Überwindung der Oper und des Musikdramas oder als ihr Gegensatz konzipiert sind und sich nicht oder nicht primär als für und in Musik gesetzte Schauspiele, sondern als durch Musik herbeigeführtes Theater verstehen.“31
Auch die von Ruf konstatierte Unabhängigkeit des Musiktheaters vom literarischen Text und die Möglichkeit der Regulierung des szenischen Ablaufs durch die Musik32 sind Merkmale, die auf verschiedene Werke der Szenischen Kammermusik zutreffen. Ruf sieht Kammeroper gemeinsam mit Einakter und Kurzoper als charakteristische Erscheinungen des ersten Jahrhundertdrittels und führt als deren Merkmale die knappe Form, die Reduziertheit der Besetzung und die Eignung für kleine Bühnen und Räume an.33 Die Verbindung zu den in Rede stehenden Gattungen Szenische Kammermusik und Kammeroper in der DDR stellt sich dort her, wo Ruf die Möglichkeiten avantgardistischen Musiktheaters beschreibt. Er konstatiert eine
30
31
32 33
Jürgen Schläder, Musikalisches Theater, in: Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, hrsg. v. Renate Möhrmann, Berlin 1990, S. 140. Wolfgang Ruf, Art. Musiktheater, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 2, Sachteil Bd. 6, hrsg. v. Ludwig Finscher, Kassel ²1997, Sp. 1690. Ebda. Ebda., Sp. 1699.
34
Begrifflichkeiten und Definitionen „Vielzahl an avantgardistischen musiktheatralen Spielarten, für die es keinen einheitlichen Oberbegriff gibt, sondern eine Reihe von Bezeichnungen wie ‚Musikalisches Theater‘ (Stockhausen 1961), ‚Sichtbare Musik‘ (Schnebel 1966), ‚Visuelle Musik‘, ‚Audiovisuelle Musik‘, ‚Szenische Musik‘ (Dahlhaus 1975) oder Medienkomposition (H. R. Zeller 1978). Sie ergaben sich einerseits aus der Konsequenz seriellen Denkens, das alle Dimensionen des musikalischen Klanges einschließlich des Raumes zu erschließen suchte. Indem die Schallerzeugung und –verbreitung elektronisch und über Lautsprecher ohne personelle Darbietung erfolgte oder aber der Vorgang der konventionellen Klang- und Geräuscherzeugung präzise vorgeschrieben und als Aktion demonstrativ herausgestellt wurde, trat jenes latent szenische Moment ins Bewußtsein, das allem Musizieren von Instrumentalisten oder Sängern vor einem Auditorium anhaftet. Die Aktivierung der auf dem Zusammenspiel von Optischem und Akustischem beruhenden theatralen Qualität von Musik kam andererseits einer radikalen Umdeutung des Begriffs des musikalischen Werks entgegen, bei dem die Vorstellung vom fertigen, akustisch stets neu und doch annähernd identisch zu realisierenden Gebilde von der Idee der Komposition als Prozeß von Klangerzeugung mit unvorhersehbarem Ausgang und ‚offener Form‘ abgelöst und eine bewußte Wahrnehmung gefordert wurde.“34
2.2.3
Szenische Kammermusik und Kammeroper als Phänomene des Musiktheaters in der DDR
Szenische Kammermusik wird als Sammelbegriff für die Fülle von klein besetzten, Aspekte von Darstellung aufweisenden Formen benutzt, die sich seit Anfang der 70er Jahre in der DDR verbreiteten. Einige Komponisten, wie etwa Paul-Heinz Dittrich, René Hirschfeld und Ruth Zechlin verwendeten diese Bezeichnung für ihre Stücke, es waren aber auch andere Begriffe gebräuchlich, unter anderem Aktion, Szene(n) oder Spiel. Szenische Kammermusik diente daneben auch als Überschrift für Konzerte mit ausschließlich szenischen Werken zum Beispiel während der DDR-Musiktage oder der Dresdner Musikfestspiele. In Westdeutschland sind unter anderem die Begriffe Instrumentales Theater35, Musikalisches Theater36, Szenische Musik37, Sichtbare Musik38, Szenische Komposition39 34 35
36
37 38
Ebda., Sp. 1705f. Dieser Begriff wurde 1958 von Heinz-Klaus Metzger anlässlich eines Konzertes mit Cages Music Walk in Düsseldorf geprägt. 1963 beanspruchte Mauricio Kagel den Begriff dann als eigene Erfindung. Vgl. dazu: Barbara Zuber, Theatrale Aktionen in und mit Musik. Zum Handlungs- und Rollenbegriff in John Cages und Mauricio Kagels Musiktheater, in: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft, hrsg. v. Hans Peter Bayerdörfer, = Theatron 29, Tübingen 1999, S. 192. Diesen Begriff diskutiert u. a. Marianne Kesting, Musikalisierung des Theaters. Theatralisierung der Musik, in: Melos 36, 1969, S. 101–109. Carl Dahlhaus, „Szenische“ Musik, in: Melos 42, 1975, S. 258. Dieter Schnebel, „Sichtbare Musik“, in: Denkbare Musik, Köln 1972; hier zitiert nach: Dieter Schnebel, Anschläge – Ausschläge. Texte zur Neuen Musik, Wien 1993, S. 262ff.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
35
gebräuchlich geworden, die alle in der DDR eine untergeordnete Bedeutung hatten, auch wenn sie teilweise gleiche Inhalte bezeichneten. Relativ häufig wurde von den genannten Begriffen der des instrumentalen Theaters gebraucht, dann aber nicht in der von Metzger/Kagel eingeführten Weise, sondern eher im Sinne Szenischer Kammermusik allgemein. Instrumentales Theater wurde für diese Untersuchung auch deshalb nicht als Oberbegriff für die zu besprechenden Werke gewählt, da der Begriff nur Stücke einschließt, in denen die Instrumentalisten die musikalische Aktion ausführen. Sein Hauptthema ist die dem Musikmachen innewohnende theatralische Komponente. Da dieser Ansatz aber nur einen Teil der in Rede stehenden Stücke betrifft, bietet sich der Begriff hier nicht an. Wie bereits in der Einleitung erläutert, wird Szenische Kammermusik hier als kleine Musiktheaterform definiert, die meist durch ihre Aufführung außerhalb der Institution Oper, durch eine kammermusikalische Besetzung, durch Einbezug von Elementen der darstellenden Künste, durch Interaktionen der beteiligten Künste und neue Kommunikationsmöglichkeiten gekennzeichnet ist. Wie sich diese Interaktion der Künste und die Kommunikationsmöglichkeiten konkret darstellen, ist Gegenstand der im Kapitel 5 folgenden Analyse ausgewählter Stücke. Szenische Kammermusik ist aber nicht nur klein besetztes Musiktheater, sondern es entstehen ganz neue Strukturen. Genutzt wurden besonders die durch Aufweichen der Guckkastensituation entstehende Nähe zum Publikum und die Chance zu einer schnellen Reaktion auf politische, kulturpolitische und gesellschaftliche Fragestellungen als sie der institutionellen Oper möglich ist. Angesichts der solistischen Besetzung und der Gleichrangigkeit der Beteiligten, mag es naheliegen, Szenische Kammermusik vom Blickwinkel der Kammermusik aus zu definieren. Doch dabei kämen leicht die gattungskonstituierenden Merkmale einer theatralen Gattung aus dem Blick. Die beiden ein Bühnenwerk grundsätzlich bestimmenden Aspekte Performanz und Text können bei Szenischer Kammermusik unter Umständen sehr weit gefasst sein. So wird der performative Aspekt immer zum Tragen kommen, wenn Szene im weitesten Sinne gemeint ist, denn Agieren setzt immer das Vorhandensein eines wie auch immer gearteten performativen Rahmens voraus. Auch die Verwendung von Text geschieht hier nicht im Kontext von dramatischer Dichtung, sondern bedeutet häufig darzubietenden Text im weitesten Sinne. Die Textkomponente kann in der Szenischen Kammermusik aber auch vollkommen entfallen. Die im weitesten Sinne szenische Darstellung wiederum ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Szenischen Kammermusik von instrumentaler Kammermusik. So sind die Darsteller häufig keine Sänger, sondern die Instrumentalisten selbst bzw. auch Tänzer, Schauspieler oder Pantomimen übernehmen die entsprechenden Aufgaben. Wenn Oper oben als Bühnenwerk angesprochen wurde, das durch die Dualität von Drama und Musik gekennzeichnet ist, in dem also dramatische Dichtung, szenische 39
Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts, = Neues Handbuch der Musikwissenschaft 7, Laaber 1984, S. 366ff.
36
Begrifflichkeiten und Definitionen
Umsetzung und musikalische Gestaltung vereint sind, so soll Kammeroper als Bühnenwerk gesehen werden, das ebenfalls die genannten drei Aspekte vereint und dessen musikalische Gestaltung durch kleine Besetzung und größtenteils auch solistische Durchgestaltung des Orchesterparts gekennzeichnet ist. Diese Beschreibung gilt für Kammeropern allgemein. Behandelt wird hier aber nicht Kammeroper als bloße Reduktion der großen Oper, sondern avancierte Kammeroper, ein Begriff der zur Abgrenzung der hier interessierenden progressiven Formen von der Kammeroper als klein besetzter Oper im Allgemeinen verwendet wird. Avancierte Kammeroper verbindet mit der Szenischen Kammermusik die Möglichkeit der Erschließung neuer Kommunikationsstrategien. In Werken, die hier als avancierte Kammeroper bezeichnet werden, sind – im Gegensatz zu den meisten Opern und konventionellen Kammeropern – die Musiker sichtbar am Bühnengeschehen beteiligt und in das Spiel teilweise mit einbezogen. Der Aspekt der Performanz von Musikdarbietung spielt also auch hier eine größere Rolle. Die Guckkastenbühne wird als Spielort zugunsten der dramaturgischen Verbindung von Bühne und Zuschauerraum aufgegeben, dadurch entsteht auch eine größere Mobilität der Kammeroper, die nicht mehr auf traditionelle Bühnenräume – und damit auf die Institution Oper – angewiesen ist. Die avancierte Kammeroper kann so intensiver als die traditionelle Kammeroper mit ihrem Publikum kommunizieren, mit einem Publikum, das bisher häufig kein Musiktheaterpublikum, sondern ein Kammermusikpublikum war. Dies wiederum schafft unter anderem die Möglichkeiten für einen stärkeren Kontakt der Sänger und Instrumentalisten zum Publikum. Avancierte Kammeroper zeichnet sich zudem durch die Arbeit mit progressiven Dramaturgien aus. Dazu gehören die Vermeidung dramaturgisch ungebrochener Finali und die Verwendung strukturell offener Konzeptionen. Dies zielt darauf, das Publikum einzubeziehen, ihm Diskussionsgrundlage zu bieten und es zu eigenen Meinungen und Handlungen herauszufordern. Vielfach steht dahinter der Versuch, im Sinne Brechts beim Publikum Distanz und damit auch rationale Reaktionen hervorzurufen an Stelle von Einfühlung. Aktuelle Themen sind keine Bedingung für avancierte Kammeroper, genauso können traditionelle Stoffe und klassische Themen entsprechend interpretiert und aufbereitet werden. Ähnliches gilt auch für die Verwendung von avanciertem musikalischem Material. In der avancierten Kammeroper werden auch die darstellerischen Fähigkeiten der Sänger durch den intensiveren Publikumskontakt mehr und ganz anders gefordert, außerdem werden häufig solistische und darstellerische Fähigkeiten der Musiker benötigt.40 Nach dieser Definition von Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper werden beide Begriffe in der dargelegten Weise für die zu analysierenden Werke verwendet. Zusätzliche Blickpunkte für die Auseinandersetzung mit beiden Phänomenen können zwei Diskussionsfelder aus der Theaterwissenschaft – Theatralität und postdramatisches Theater – bieten. Ziel der Untersuchung dieser Begriffe ist die Einbettung der
40
Vgl. hierzu Sigrid Neef, Große Oper auf kleines Maß? Zu den Möglichkeiten von Kammeropern, in: Theater der Zeit 1978, H. 8, S. 41–43 und ausführliche Erläuterungen dazu in Kap. 5.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
37
beiden Musiktheatergattungen in die verschiedenen Entwicklungsstränge von Theater im 20. Jahrhundert sowie die Heranziehung theaterwissenschaftlicher Analysemethoden.
2.2.4
Theatralität
2.2.4.1
Theatralitätsbegriff und Theaterwissenschaft
Für eine Untersuchung zum Musiktheater ist die Auseinandersetzung mit dem Theatralitätsbegriff notwendig, um seine Verwendbarkeit innerhalb der Untersuchung zu ergründen und nicht in eine allgemeinsprachliche Überstrapazierung dieses Begriffes zurückzufallen. Theatralität ist ein in der Theaterwissenschaft seit den 1970er Jahren verstärkt diskutierter Begriff, der allerdings auch ein sehr strapazierter Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch ist, was zur Folge hat, dass er viel verwendet und häufig nicht definiert wird. Um dieser Inflation des Begriffes entgegenzusteuern und ihn für die Theaterwissenschaft wieder verwendbar zu machen, beschäftigte sich die Leipziger Theaterwissenschaft Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre mit einem Projekt zum Theatralitätsbegriff, das Rudolf Münz auf der Tagung der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 1994 präsentierte. So stellte er fest, Theatralität sei ein Begriff, „der seit etwa Mitte der 70er Jahre von der Berliner theaterwissenschaftlichen Schule – Fiebach, Kotte, Schramm u. a. – im internationalen Kontext unter verschiedenen Aspekten traktiert und zu systematisieren versucht worden ist: Theatralität – ein Begriff, der zu inflationieren droht, noch ehe seine Brauchbarkeit im Gewirr theaterwissenschaftlicher Termini erwiesen ist.“41
Mit Rudolf Münz ist aber festzuhalten, dass der Begriff Theatralität auch wegen seiner allgemeinen Strapazierung nur bei eingehender Definition auch sinnvoll verwendet und gegen andere Begriffe der „théa-Reihe“ abgegrenzt werden kann, die sonst ebenso an seine Stelle gesetzt werden könnten. Münz dazu: „Unter der Verwertung der Berliner Erfahrungen haben wir es in Leipzig vornehmlich mit der Aufstellung der »théa-Reihe« versucht, in der der übergreifende, »erfahrungsferne« Begriff Theatralität in Korrespondenz gesetzt ist zu der Vielfalt »erfahrungsnaher« Theaterbegrifflichkeit. Sie lautet: théa / theatrica / theatrum (mundi) / Theater / das Theatrale (inkl. theatral, theatergemäß, theatergerecht, szenisch etc.) / das Theatralische (inkl. theatralisch) / Theatralik (inkl. theatralisch) / Theatralisierung / Theatralität.
41
Rudolf Münz, Ein Kadaver, den es noch zu töten gilt. Das Leipziger Theatralitätskonzept als methodisches Prinzip der Historiographie älteren Theaters, in: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen, hrsg. v. G. Amm, Berlin 1998, S. 82–103, hier S. 84.
38
Begrifflichkeiten und Definitionen Der abstrakt-übergreifende Charakter des Begriffs Theatralität drückt sich formal darin aus, daß sich die Anwendung des bestimmten Artikels verbietet. Inhaltlich gesehen, läßt er sich nicht auf einen Teil beziehen bzw. davon ableiten, sondern maßgebend ist die ganze genetisch-historische Reihe.“42
Solange Theatralität scheinbar dasselbe bedeutet wie das Theatralische, Theatralik oder Theatralisierung, ist der Begriff auch verzichtbar bzw. trägt zur Begriffsverwirrung bei. Nur, wenn er auch abgrenzend definiert ist, kann er zur sinnhaften Beschreibung verschiedenster Phänomene herangezogen werden. In der intensiven Diskussion des Begriffs Theatralität in der Theaterwissenschaft zeichnen sich verschiedene Herangehensweisen ab, die den Begriff Theatralität unterschiedlich fassen und handhabbar machen. Auf der Basis von Erika Fischer-Lichtes Arbeiten kann die Diskussion des Begriffes Theatralität im 20. Jahrhundert kurz beschrieben werden. 1912 bzw. 1909 veröffentlichten Nikolaj Evreinov43 und Georg Fuchs44 ihre beiden höchst unterschiedlichen Theatralitätstheorien, die den Beginn der Auseinandersetzung mit dem Theatralitätsbegriff im 20. Jahrhundert markieren. Während Fuchs’ Ziel die Retheatralisierung des Theaters war, er seinen Theatralitätsbegriff rein ästhetisch ableitete, indem er das Theater von anderen Kunstformen genau abgrenzte und Theatralität als Gesamtheit aller Materialien bzw. Zeichensysteme definierte, die neben dem literarischen Text in einer Theateraufführung zum Tragen kommen,45 fasste Evreinov seinen Theatralitätsbegriff wesentlich weiter. Evreinov definiert Theatralität außerhalb von Theater und beschreibt sie „als das ‚allgemeinverbindliche Gesetz der schöpferischen Transformation der von uns wahrgenommenen Welt‘, das jeder künstlerischen Tätigkeit vorangeht“.46 In den 1970er Jahren griff die Theaterwissenschaft diese Überlegungen wieder auf. Elisabeth Burns definierte 1972 Theatralität als Wahrnehmungsmodus.47 Joachim Fiebach wies 1978 darauf hin, dass neben dem Aspekt der Wahrnehmung auch Verhaltens- und Ausdrucksweisen für Theatralität bestimmend sind.48 Allgemein kann festgestellt werden, dass gegenwärtig zwei verschiedene Tendenzen der Diskussion des Theatralitätsbegriffes in der Theaterwissenschaft einerseits bei Erika 42 43
44
45 46 47
48
Ebda., S. 87. Nikolaj Evreinov, Apologija teatral’nosti, in: Teatr kak takovoj, St. Petersburg 1912, zitiert nach: Erika Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen 2001, S. 278f. Georg Fuchs, Die Revolution des Theaters, München 1909, zitiert nach: Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 2001, S. 278. Vgl. ebda. Vgl. ebda. Elisabeth Burns, Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and in Social Life, London 1972, zitiert nach Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 2001, S. 279. Joachim Fiebach, Brechts ‚Straßenszene‘. Versuch über die Reichweite eines Theatermodells, in: Weimarer Beiträge 2, 1978, zitiert nach Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 2001, S. 280.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
39
Fischer-Lichte und andererseits bei Rudolf Münz und Andreas Kotte auszumachen sind, wobei Fischer-Lichte vom Theater ausgeht und den Theaterbegriff durch den Theatralitätsbegriff erweitert, wogegen Münz und Kotte von der Gesamtheit der Gesellschaft ausgehen und in den dort gewonnenen Theatralitätsbegriff das Theater mit einbeziehen. Das bedeutet, dass in ihrer Auffächerung Theater als institutionelles Theater nur eine von vier Daseinsformen von Theater insgesamt darstellt und alle diese Theaterformen als das Theatralitätsgefüge begriffen werden. Erika Fischer-Lichte definiert den Begriff Theatralität als Phänomen, das von der Aufeinanderbezogenheit von Theatralität und Performativität gekennzeichnet ist. Sie macht vier Aspekte aus, „die ihn [den Begriff Theatralität, K. S.] in ihrer Gesamtheit und in je wechselnden Konstellationen bestimmen 1. den der Performance, der als Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern gefaßt wird und das ambivalente Zusammenspiel aller beteiligten Faktoren beinhaltet 2. den der Inszenierung, der als spezifischer Modus der Zeichenverwendung in der Produktion zu beschreiben ist 3. den der Korporalität, der sich aus dem Faktor der Darstellung bzw. des Materials ergibt 4. den der Wahrnehmung, der sich auf den Zuschauer, seine Beobachtungsfunktion und –perspektive bezieht.“49
Fischer-Lichte betont, dass alle diese vier Punkte zusammen Theatralität konstituieren, sowie dass Theatralität und Performativität auf einander bezogen aber nicht deckungsgleich seien.50 Im Kontext des DFG-Schwerpunktprogramms „Theatralität als kulturelles Modell für die Kulturwissenschaften“ hat Fischer-Lichte mit unterschiedlichsten weiteren Forschern, hauptsächlich Geisteswissenschaftlern gemeinsam ein Theatralitätskonzept erarbeitet, in dem Theatralität als interdisziplinäres kulturwissenschaftliches Diskursmodell vorgestellt und etabliert wurde.51 Nach Fischer-Lichtes Definition sind für Theatralität die Komponenten Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung bestimmend. Inszenierung kann mit Fischer49
50 51
Theater seit den 60er Jahren. Grenzgänge der Neoavantgarde, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte, Friedemann Kreuder, Isabel Pflug, Tübingen 1998, darin: Fischer-Lichte, Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen, S. 21–91, hier S. 88. Ebda. Vgl. die bisher erschienenen Bände der Reihe Theatralität, die die in diesem Kontext stattgefundenen Tagungen dokumentieren, vor allem: Inszenierung von Authentizität, hrsg. v. E. Fischer-Lichte u. I. Pflug, = Theatralität 1, Tübingen 2000; Verkörperung, hrsg. v. ders. u. a., = Theatralität 2, Tübingen 2001; Wahrnehmung und Medialität, hrsg. v. ders. u. a., = Theatralität 3, Tübingen 2001; Performativität und Ereignis, hrsg. v. ders. u. a., = Theatralität 4, Tübingen 2003, Ritualität und Grenze, hrsg. v. ders. u. a., = Theatralität 5, Tübingen 2003; Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, hrsg. v. ders. u. a., = Theatralität 6, Tübingen 2004 usw.
40
Begrifflichkeiten und Definitionen
Lichte „als ein ästhetischer bzw. ästhetisierender Vorgang begriffen und ihr Resultat als ästhetische bzw. ästhetisierte Wirklichkeit“52 beschrieben werden. Den zweiten Aspekt erklärt die Autorin: „Theatralität als Körperlichkeit fokussiert den Körper als Darstellungsmittel, Ausstellungsobjekt und inszenierendes Subjekt.“, wobei gleichzeitig Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung berührt seien.53 Im Aspekt der Wahrnehmung werden Beobachterperspektive, Beobachtungsmodus, -funktion sowie Zuschauerverhalten zusammengefasst.54 Diese drei Komponenten wiederum konstituieren gemeinsam Performance.55 Im Unterschied zu Fischer-Lichte betont Münz den gesellschaftlichen Aspekt von Theatralität, der für ihn bestimmend sei und den Begriff der Theatralität gegenüber anderen Begriffen der théa-Reihe abhebe. „So kam die »théa-Reihe« in den Blick, an deren Abfolge sich mit etwas gutem Willen eine Genesis erkennen läßt, was die geringe, zeitlich je bedingte Bedeutungsexaktheit des jeweiligen Begriffes zumindest teilweise erklären dürfte. Dabei sind bezeichnenderweise für die Bedeutungsvarianten bzw. -wechsel bestimmte gesellschaftliche Normen verantwortlich zu machen – eine Wechselspiel, dessen historisierende Erhellung darüber entscheidet, ob Theatralität – was gegenwärtig noch umstritten, aber das Eigentliche der Sache ist – als ein gesellschaftskonstituierender Faktor angesehen werden kann. Ist sie das nicht, erweist sich der der Begriff in »rein« theaterwissenschaftlicher Verwendung – synonym mit Theatralik, Theatralisierung, Theatralisches – als rhetorisch-stilistisches Modewort und ist überflüssig.“56
So ist das Kunst-Theater für Münz eine von vier Komponenten eines Theatralitätsgefüges, bestehend aus „1. Nicht-Theater, 2. Theater = Kunst, Repräsentation, 3. »Theater« = Alltag, Straße und 4. >Theater< = »anderes Theater«, Anti-Theater“, wobei Münz „deren Verhältnis als Theatralität bzw. Theatralitätsgefüge“ begreift.57 Andreas Kotte, der zu den von Münz erwähnten Theaterwissenschaftlern in Berlin gehörte, die zuerst den Theatralitätsbegriff diskutierten, hat den von Münz so betonten gesellschaftskonstituierenden Aspekt von Theatralität in letzter Zeit weiter untermauert, so in seinem Aufsatz: Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater. Was kann Theaterhistoriographie leisten?58 Kotte formuliert „Leitfragen an die Theaterhistoriographie“: „Wie lassen sich Situationen und Vorgänge, die in Schauereignissen münden, strukturell unterscheiden? Wie treten sie aus dem alltäglichen Lebensprozeß heraus oder verschwinden wieder in 52 53 54 55 56 57 58
Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 2001, S. 285. Ebda., S. 286. Ebda. Ebda., S. 287. Münz, Ein Kadaver, den es noch zu töten gilt, S. 88. Ebda., S. 99. Andreas Kotte, Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater, in: Theaterwissenschaftliche Beiträge 2002, Beilage zu Theater der Zeit 2002, S. 2–9.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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ihm? Wie wären die verschiedenen Lebensbereiche zu bezeichnen, die für Vorgänge, die in Schauereignissen münden, relevant sind? Läßt sich das Verhältnis zwischen ihnen sinnvoll als Theatralität bestimmen? Wie verhält sich diese zu Theater?“59
Kotte schlägt als Formel für ein notwendiges historisierendes Herangehen vor: „Vorgänge formen Gesellschaft, Gesellschaft formt Theater“60. Sodann zeigt er überblicksartig das Verhältnis von Theater und Gesellschaft seit der griechischen Antike auf61, für das ein weites Theaterverständnis kennzeichnend gewesen sei, wogegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann ein enges Verständnis von Theater ausgeformt wurde. Nicht mehr Sehen und Gesehenwerden, sondern der Inhalt einer Theateraufführung wurde wichtig sowie die Möglichkeit der Einflussnahme mittels Theater auf Gesellschaft, so Kotte. Aus dieser Tradition des poetologischen Diskurses stammten alle gängigen Theatertheorien, die fast alle produktionszentrisch seien. Daneben gebe es einige rezeptionsorientierte Theorien, die die Wahrnehmung des Gezeigten durch den Zuschauer untersuchen. Kotte charakterisiert daher beide Verfahren als einseitig stellt fest, dass Aktion und Wahrnehmung, Akteur und Zuschauer den gleichen Stellenwert einnehmen sollten. Für die Arbeit mit dem Begriff Theatralität findet Kotte zwei unterschiedliche Theorieansätze, unterschieden nach ihrem Ableitungsmodus für den Begriff. Einmal wird der Begriff vom Theaterbegriff her als Einschränkung (Barthes) oder Ausweitung (Fischer-Lichte) abgeleitet, zum zweiten historisch aus Verhaltensweisen außerhalb des Theaters. Kotte konstatiert, dass allen bisher erwähnten Theater- und Theatralitätstheorien die Vorstellung vom bürgerlichen Guckkastentheater als gemeinsamer Ausgangspunkt eigen sei. Wenn Theatralität aus Theater deduziert würde, dann indem Merkmale und Mittel von Theater außerhalb oder innerhalb des Textes als Theatralität begriffen werden, was eine Rückübertragung von Theatermerkmalen auf sonstiges Verhalten ermögliche. Man müsse sich aber fragen, ob die Theatralisierung des Lebens im Vergleich zu ihrem Gegenteil nur von untergeordneter Bedeutung sei.62 „Dieses Gegenteil, nämlich auf die Schau bezogenes Verhalten des Alltags, würde die Hypothese lauten, generiere Theaterformen, vitalisiere Theater, und das in viel stärkerem Masse, als Leben durch Theater je theatralisiert wurde. [...] Wenn die weniger wichtige Theatralisierung des Lebens mittels eines aus dem Theaterbegriff hergeleiteten Theatralitätsbegriffes erfasst wird, der umgekehrte Prozess aber der entscheidende ist, weil er schon lange vor der Existenz institutionalisierten Theaters ähnlich wie heute ablief, dann müsste nach Möglichkeiten der Umkehrung der wissenschaftlichen Perspektive gesucht werden.“63
59 60 61 62 63
Ebda., S. 2. Ebda. Ebda., S. 3. Ebda., S. 4. Ebda.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
Kotte fordert von der zukünftigen Theatergeschichtsschreibung, dass sie erklären können müsse, wie auf Schau bezogenes Verhalten im Alltag Gesellschaft konstituiert, Gesellschaft dann Theater. Ihre Begrifflichkeit dürfte dabei nicht von Theater abgeleitet sein.64 „Vorgänge, die in Schauereignissen münden, sind strukturell zu unterscheiden und zu interpretieren, wenn sie sinnvoll konzipierten Bereichen zugeordnet werden sollen, deren Verhältnis vielleicht als Theatralität zu bezeichnen wäre.“65 Eine Einzelfallprüfung der unterschiedlichsten Vorgänge muss, so fordert Kotte weiter, fragen, wie diese Vorgänge aus dem alltäglichen Lebensprozess heraustreten oder wieder in ihm verschwinden. Entscheidende Kriterien hierfür sieht er in der von ihm so genannten örtlichen Hervorhebung und in einem unüblichen Körpergebrauch, was beides eine Abgehobenheit in einer bestimmten Umgebung erzeuge. Der Begriff der Hervorhebung bezieht dabei Aspekte wie Verlauf und Abgehobensein, Regel und Ausnahme, Hintergrund und Vordergrund etc. mit ein. Dabei ist das Kriterium der Hervorhebung nicht aus Theater sondern aus dem Lebensprozess abzuleiten. Wegen der Vielzahl der Situationen und Vorgänge schlägt Kotte vor, Untersuchungsbereiche festzulegen, und sich dabei an Münz’ Vier-Komponentenmodell zu orientieren: Alltag – (Festtag) – Kunst – Spiel – Verbot. In einem bestimmten Zeitraum kann nach Kotte ein Widerspruchsprozess dieser Bereiche beobachtet werde. Die „Schlacht“ zwischen ihnen macht daher die Theatralität eines Zeit/Raumes aus.66 Indem Münz nicht deduktiv von Theater und seinen Merkmalen ausgeht, legt er nahe, erst gesellschaftskonstituierendes Verhalten außerhalb des Theaters zu untersuchen und dann Theater als eine der spezifischen Arten solchen Verhaltens unter anderen zu betrachten. Stefan Hulfeld hat die von Münz festgestellten vier Komponenten auch „Lebenstheater, Kunsttheater, Theaterspiel und Nicht-Theater“67 genannt. Kotte definiert somit die Begriffe Theatralität bzw. Theatralitätsgefüge: „Vorgänge eines Zeit/Raumes, die untereinander verglichen werden, prägen in funktionalen Zusammenhängen besondere Verhältnisse aus, die als Theatralität bzw. Theatralitätsgefüge erforscht werden. So erscheint der Begriff Theatralität weder als Erweiterung noch als Reduktion eines Theaterbegriffes und auch völlig unabhängig von den Merkmalen des Theaters als etwas von diesem Geschiedenes: als Verhältnis.“68
Dabei bilden nach Kotte „Situationen oder Vorgänge, in denen mindestens ein Hervorhebungsmerkmal nachgewiesen wird“, die „notwendige Bedingung für ein Theatralitätsgefüge“.69 Als Kernfrage bezeichnet Kotte die Frage „Was wird wie hervorgehoben?“. Diese soll zur Erforschung eines Theatralitätsgefüges in vielen verschiedenen Bereichen 64 65 66 67 68 69
Ebda. Ebda. Ebda., S. 6. Vgl. ebda. Ebda. Ebda.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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der Gesellschaft gestellt werden: neben in dem Theater nahe liegenden Bereichen (institutionalisiertes Theater, Fest, Spiel, Ritual) auch in der Rechtssprechung, der Politik oder dem Erziehungswesen, wobei jeweils nach „Typischem und Besonderem“ unterschieden werden soll.70 Dabei bezeichnet der Begriff Theatralität das Verhältnis verschiedener Ausprägungen eines bestimmten Zeit/Raumes.71 Kotte betont außerdem die Notwendigkeit, nach den jeweiligen historischen Funktionen hervorgehobener Vorgängen und verschiedener Theaterformen zu fragen, wobei das Hauptaugenmerk nicht auf ein Nacheinander von Phänomenen sondern auf ein Nebeneinander gerichtet werden soll.72 2.2.4.2
Theatralitätsbegriff und Musikwissenschaft
In der Musikwissenschaft hat der Begriff der Theatralität lange Zeit keine eindeutig definierte Rolle gespielt, wiewohl er natürlich auch hier im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs verwendet wurde. Im Kontext des DFG-Schwerpunktprogramms „Theatralität als kulturelles Modell für die Kulturwissenschaften“73 hat sich nun die Bamberger Musikwissenschaft unter Leitung von Martin Zenck ausführlich in die interdisziplinäre Diskussion eingebracht und den Begriff für die Musikwissenschaft fruchtbar gemacht.74 Dabei orientiert sich Zenck an den Theatralitäts-Forschungen und –definitionen von Erika Fischer-Lichte und ihrem Umfeld. Zenck verwendet also den aus Theater entwickelten Begriff der Theatralität, nicht den weiter gefassten Theatralitätsbegriff von Münz/Kotte, der Theatralität als gesellschaftskonstituierend und Theater wiederum als eine Ausprägung dieser Gesellschaft sieht. Als Hauptergebnis der Untersuchungen Martin Zencks und seiner Mitarbeiter, Theatralität von Musik und vor allem von Musiktheater betreffend, kann die Erweiterung des Musiktheaterbegriffes beschrieben werden, die Zenck als Einbezug der „Theatralität der Realität, des Imaginären und der Ritualität“75 beschreibt: 70 71 72 73
74
75
Ebda. Ebda. Ebda. Erika Fischer-Lichte (Theaterwissenschaftliches Institut FU Berlin), zusammen mit den Initiatoren Hans-Georg Soeffner (Soziologie, Universität Konstanz), Klaus-Peter Köpping (Ethnologie, Universität Heidelberg) und Gerhard Neumann (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität München). Vgl. Tim Becker, Raphael Woebs u. Martin Zenck, Theatralität. Inszenierungsstrategien von Musik und Theater und ihre Wechselwirkungen, in: Die Musikforschung 56, 2003, S. 272–281; eine Publikationsliste siehe http://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/ fakultaeten/ppp_professuren/ musikwissenschaft/ theatral.pdf (30.05.2012), vgl. vor allem die Veröffentlichungen von Martin Zenck und seinen Mitarbeitern in: Theatralität 1-6, hrsg. v. E. Fischer-Lichte, u. a. Martin Zenck, Tim Becker, Raphael Woebs, DFG-Forschungsbericht Theatralität der Bamberger Historischen Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Inszenierungsstrategien von Musik und Theater und ihre Wechselwirkungen, siehe http://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/ppp_professuren
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Begrifflichkeiten und Definitionen
Martin Zenck erläutert seinen Ansatz als Reaktion auf ein Gespräch mit Wulf Konold über das Musiktheater der seriellen Avantgarde folgendermaßen: „Schlagartig wurde mir hier deutlich, dass die Musikwissenschaft cum grano salis Unterschiede zwischen impliziter und expliziter Theatralität, angewandtem und autonomem Musiktheater nicht zulässt, um gegebenenfalls einerseits die Spuren, die von der verdeckten Szene zur wirklichen führen, zu verfolgen, andererseits gerade unter der Konzeption von ‚Theatralität‘ ganz andere konstituierende Aspekte wie die der ‚Theatralität‘ der ‚Realität‘, der ‚Ritualität‘ und des ‚Imaginären‘ geltend zu machen, um dadurch auch zu einem veränderten Begriff auch des Musiktheaters zu gelangen.“76
Bei seiner Darstellung der Theatralität von Musik hebt Zenck vor allem auf den Aspekt der Rahmung ab: „Erst wenn eine mehrfache Rahmung aufgesucht wird, die sich zu einer Wirklichkeit hin öffnet, die ihrerseits in ihrer Konstitution als ‚imaginär‘ ausgewiesen werden kann, wird aus dieser dergestalt verfassten Realität rückwirkend eine Bestimmung der ‚Szene‘ möglich sein, die über das Scharnier eines doppelt ‚Imaginären‘ läuft.“77
Als weiteren Aspekt neben dem der Rahmung sieht er den des „performativen Grundzugs“ der Musik allgemein: „Neben dem Problem der ‚Rahmung‘ der Szene, ist auch das des performativen Grundzugs der Musik und der szenischen Musik zu wenig beachtet worden. Dieser wird nicht erst in der Aufführung wirksam, sondern geht als corporale Einschreibung in die Notation der Partitur ein. Wichtige Modelle sind hierfür etwa das Theater der Dichtung von Karl Kraus und die Zusammenarbeit zwischen der Schauspielerin Albertine Zehme und Arnold Schönberg im Pierrot Lunaire [...].“78
Diesen performativen Grundzug beschreibt Zenck in der Wechselwirkung zwischen der Notation eines Musikwerkes und seiner Aufführung: „Deutlicher als die Schrift macht [sic] die Notation und der Theatertext die Tatsache einsichtig, dass Partituren und Schauspieltexte eingefrorene Handlungen sind, die durch die Aufführung wieder zurück an den Körper der Spieler gerichtet und durch ihn verlebendigt werden (es wird im gewissen Sinne die performative Intention vor ihrer Verschriftlichung wiederhergestellt, auch wenn die Performance dann doch wieder etwas grundsätzlich Neues gegenüber der handlungsmäßig vorge-
76 77 78
/musikwissenschaft/theatral.pdf. (30.05.2012) (Der Bericht der Arbeitsgruppe in Die Musikforschung stellt nur einen kleinen Ausschnitt des Forschungsberichtes dar, weshalb dort nicht enthaltene Abschnitte direkt von der Homepage zitiert werden (Martin Zenck u. a. Forschungsbericht). Zenck u. a., DFG-Forschungsbericht, o. Pag. Becker u. a., Theatralität, 2003, S. 277. Zenck u. a., DFG-Forschungsbericht, o. Pag.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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stellten Inszenierung darstellt). In diesem performativen Grundzug der darstellenden Künste (Theater / Musiktheater, bildende Kunst und Skulptur, Choreographie, land- und performance art) werden also ganz alte Formen non-verbaler Kommunikation wirksam, die durch den Abstraktionsprozess der Schrift, welcher auch immer präskriptive Aktionsanweisung war, zunehmend verdeckt wurde.“79
So sieht Zenck den performativen Grundzug der Musik schon im Kompositionsprozess manifestiert, wodurch für ihn der Theatralitätsbegriff über denjenigen des performativen Grundzugs für eine wesentlich größere Breite von Musik wirksam wird, als für die unter dem bisherigen Musiktheaterbegriff gefasste. Ausgehend von der Betrachtung intertextueller Verfahren in der Literatur erinnert Zenck daran, „dass Musik nicht erst in einem[sic] performativen Kontext gerät, wenn sie gespielt und öffentlich in einem konzertanten oder theatralen Raum aufgeführt wird, (obwohl der Aufführungsort etwa des Theaters vor allem bei der Uraufführung Beethovenscher Sinfonien und Klavierkonzerte beispielsweise im Hofburgtheater oder im Theater an der Wien bereits bezeichnend ist), sondern dass dieser performative Grundzug durch das beim Komponieren relevante Körperwissen und Körpergedächtnis zum integralen Vorgang des Erfindens von Musik gehört (vgl. die Bedeutung des Klavierspielens bei Beethoven und bei Pierre Boulez für die Komposition ihrer Klavierwerke).“80
Anhand des Werks von Pierre Boulez stellt Zenck in seinem Forschungsbericht die Möglichkeiten der Untersuchung von musikalischen Werken unter dem Blickpunkt von Theatralität dar und nennt dabei Gesichtspunkte, die Theatralität kennzeichnen, wobei er, wie schon oben, implizite und explizite Theatralität unterscheidet: „Im Folgenden seien einige Werke von Boulez ausgewählt, um an ihnen explizite oder implizite Formen der ‚Theatralität‘ aufzuzeigen. Veräußerlichung und imaginäre Räumlichkeit und Beziehungen zu einschlägigen Theaterwerken stellen dabei nur mögliche Kriterien solcher ‚Theatralisierung von Musik‘ dar. Sie entsteht wesentlich auch durch die Gegenmaßnahme der ‚absoluten Musik‘, die losgelöst von vorgestellter und äußerer Wirklichkeit eine vollkommen eigene Wirklichkeit für sich zu sein behauptet.“81
Zenck sieht nicht nur Veräußerlichung, imaginäre Räumlichkeit sowie Beziehungen zu Theaterwerken als Zeichen einer impliziten Theatralität von Musik, sondern für ihn ist auch die demonstrative Absage „absoluter“ Musik an eine Vorstellung von Wirklichkeit
79 80 81
Becker u. a., Theatralität, 2003, S. 274. Zenck u. a., DFG-Forschungsbericht, o. Pag., ähnlich Becker u. a., Theatralität, 2003, S. 278. Zenck u. a., DFG-Forschungsbericht, o. Pag.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
ein Indiz für die Theatralität solcher Stücke, die mit dieser Loslösung eine eigene Wirklichkeit für sich behaupten, die aber ebenfalls wieder eine vorgestellte Wirklichkeit ist.82 2.2.4.3
Theatralitätsbegriff(e) und Szenische Kammermusik in der DDR
Die Darstellung der verschiedenen Ansätze der Theater-, und daran angelehnt der Musikwissenschaft zeigt, dass eine einheitliche Definition des Begriffes und Verwendung desselben nicht gegeben ist: Einerseits umfasst er ein Theatralitätsgefüge, das die gesamte Gesellschaft eines bestimmten Raumes und einer bestimmten Zeit betrifft, andererseits beschreibt er Theatralität und ihre Aspekte und wie sie zur Beschreibung der Eigenart konkreter Theater- und Musiktheaterformen fruchtbar gemacht werden können. Mit der Anwendung des Theatralitätsbegriffes von Kotte/Münz auf die gesamte DDR-Situation, lassen sich typische Elemente der Gesellschaft der DDR wie etwa Kulturpolitik und Szenische Kammermusik als Komponenten des Theatralitätsgefüges der 1970er und 1980er Jahre fassen. Es können ihre Wechselwirkungen verdeutlicht und die ständige Interaktion von Musikwissenschaft, -theorie und –ideologie, Komponisten und Musikern betrachtet werden. Musikkongresse, Komponistenverbandssitzungen, schriftliche und öffentliche Verlautbarungen gehören hier zu den durch Hervorhebung verdeutlichten Elementen der kulturpolitischen Interaktion. Kompositionen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, aber auch Auftritte auf Kongressen und anderes stellen Aktionsmöglichkeiten der Komponisten und Musiker dar. Kulturpolitik und praktische Musikausübung können also als Aspekte des Theatralitätsgefüges der DDR beschrieben werden, die die Gesellschaft der DDR mit konstituieren, die ihrerseits eine Theaterlandschaft hervorbringt, deren einer Bestandteil die Szenische Kammermusik als Ausprägung dieser Gesellschaft konstituierenden Theatralität ist. Ein besonderer Aspekt des Theatralitätsgefüges der Gesellschaft der DDR ist ihre eigenartige Medienlandschaft, die durch ungenügende Informationsmöglichkeit und –absicht das Theater zum Teil zu einem Informationsmedium werden ließ. Während der Theatralitätsbegriff von Münz/Kotte für die Darstellung von gesellschaftlichen Wechselwirkungen genutzt werden kann, soll dagegen für Beschreibungen der Szenischen Kammermusik und avancierten Kammeroper als besonderen Ausprägungen von Musiktheater und Theater der Theatralitätsbegriff im Sinne von FischerLichte/Zenck Anwendung finden. Fischer-Lichtes Definition von Theatralität, in dem der Begriff der Performance/Performanz große Bedeutung besitzt, betont in besonderem Maß die Ästhetisierung von Wirklichkeit, das ästhetisierende Subjekt und seine Wahrnehmung und ist daher besonders geeignet, auf ästhetische Objekte wie die Szenische Kammermusik 82
Auf die Aspekte des Doubles und der Figur, die Zenck für die Untersuchung des Werkes von Boulez fruchtbar macht, soll hier nicht eingegangen werden., vgl. ebda.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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angewendet zu werden. Folgerichtig müssen auch in Untersuchungen zur Theatralität Szenischer Kammermusik die Faktoren Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung immer wieder akzentuiert werden. Die Ergebnisse Martins Zencks und seiner Arbeitsgruppe können ebenso Erkenntnisgewinn für die Untersuchung Szenischer Kammermusik bringen. So kann versucht werden, den von Zenck definierten Begriff der Rahmung zur Abgrenzung Szenischer Kammermusik von rein instrumentaler Kammermusik zu verwenden. Gerade bei ‚reiner‘ Raummusik gestaltet sich diese Abgrenzung besonders schwierig. Hier wird ein Aufsuchen der Rahmung eine bessere Beschreibung des Szenischen ermöglichen. Auch der Aspekt des ‚performativen Grundzugs‘ lenkt den Blick auf den gesamten performativen Kontext eines Werkes.
2.2.5
Postdramatisches Theater – Anwendung des theaterwissenschaftlichen Begriffs auf Musiktheater
Hans-Thies Lehmann hat das postdramatische Theater in seinem gleichnamigen Buch83 eingehend beschrieben, eine zusammenfassende Kennzeichnung, die gleichzeitig eine Bezugnahme auf den politischen Aspekt postdramatischen Theaters bietet, brachte er in seinem Aufsatz Wie politisch ist postdramatisches Theater?: „Auszugehen ist von der einfachen Feststellung, dass Theater und Kunst zunächst nicht Politik sind, sondern etwas anderes. Genau darum stellt sich ja überhaupt nicht die Frage nach einem möglichen Zusammenhang des Politischen und seiner ästhetischen Praxis. Das ‚Wie‘ ist zu thematisieren, will man begreifen, wie es um das Politische im so genannten experimentellen Theater bestellt ist, das man oft postmodern nennt, experimentelles oder sogar noch Avantgarde-Theater, Pop-Theater, visuelles Theater, performance-nahes Theater, post-episches oder konkretes Theater. Diese Nomenklaturen treffen jeweils bestimmte Ausprägungen des neueren Theaters und können dem umfassenderen Terminus ‚postdramatisches Theater‘ zugeordnet werden, das zu verstehen ist als repulsiver, diskutierender Bezug des neuen Theaters zur dramatischen Tradition, als eine Fülle von ‚konkreten Negationen‘ des Dramatischen, die in den historischen Avantgarden und in der Neo-Avantgarde der 50er und 60er begonnen hat.“84
Die Verfahrensweise, Szenische Kammermusik vor der Folie des postdramatischen Theaters zu betrachten, ermöglicht es, Merkmale der Szenischen Kammermusik herauszuarbeiten, die auf den Feldern der Musik und des Theaters zu suchen sind, und gleichzeitig die Szenische Kammermusik als theatralisches und ästhetisches Phänomen in die (Musik)Theaterlandschaft einzuordnen. Gerade der politische Aspekt, den Lehmann hier betont, spielt für die Szenische Kammermusik in der DDR eine große Rolle. 83 84
Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999. Hans-Thies Lehmann, Wie politisch ist postdramatisches Theater?, S. 16.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
Postdramatisches Theater entwickelte sich nach Hans-Thies Lehmann85 seit den siebziger Jahren, also zeitlich parallel mit dem Aufkommen Szenischer Kammermusik in der DDR. Die nähere Untersuchung der Beziehungen zwischen Szenischer Kammermusik und postdramatischem Theater liegt dennoch nahe, und wie Vergleiche der Merkmale im Folgenden zeigen, kann die Szenische Kammermusik als Teilbereich des postdramatischen Theaters beschrieben werden. Im Schauspieltheater der DDR waren Merkmale des postdramatischen Theaters vor allem in Stücken und Inszenierungen von Heiner Müller – dessen Arbeiten Lehmann auch zur Erarbeitung seines Begriffs des postdramatischen Theaters heranzog –, Frank Castorf, Benno Besson und anderen zu finden.86 Die Zunahme entsprechender Konzepte und Aufführungen Ende der 1970er und in den 1980er Jahren ist ebenfalls durch die kulturpolitische Öffnung erklärbar, wobei auch immer mitgedacht werden muss, dass häufig schon längst bestehende Konzepte aufgrund dieser späten Öffnung erst zeitversetzt in die Öffentlichkeit traten, nichtsdestoweniger aber schon wesentlich früher entwickelt wurden, was beispielsweise auf das Werk Heiner Müllers zutrifft. In der DDR gab es prinzipiell wenige Möglichkeiten für experimentelles Theater, weil die Theater aus verschiedenen Gründen, vor allem in ihrer Eigenschaft als Staatstheater, traditionelle Wege gingen. Sowohl in der Oper als auch im Schauspieltheater finden sich nur wenige Theater mit unkonventionelleren Ansätzen. Auch im Schauspieltheater der DDR gab es daher Gruppen, die eine Unabhängigkeit von der Institution Theater anstrebten. Ein Beispiel, wohl auch das erste und bekannteste dafür, ist die Gruppe Zinnober in den 80er Jahren, die aber auch mit massiven Problemen in diesem nicht vorgesehenen und daher quasi rechtsfreien Raum kämpfen musste.87 Betrachtet man das Musiktheater der DDR, so kann die Szenische Kammermusik und mit ihr avancierte Kammeropern als d i e Ausprägung von postdramatischem Theater im Musiktheater der DDR beschrieben werden. Dies zeigen sowohl die Vergleiche abstrahierter Merkmale des postdramatischen Theaters und der Szenischen Kammermusik88 als auch die Analyse einzelner Werke Szenischer Kammermusik anhand der Merkmale postdramatischen Theaters.89 Dramatiker, Schriftsteller und Regisseure, die dem postdramatischen Theater in der DDR zugerechnet werden können, waren teilweise auch an der Entstehung oder Realisierung von Szenischen Kammermusiken in der DDR beteiligt.90 Szenische Kammermusik wurde ihrerseits auch für das Schauspieltheater bedeutsam, was unter anderem an den Aufführungen von entsprechenden Werken Paul-Heinz Dittrichs am Berliner Ensemble abzulesen ist.91
85 86 87 88 89 90 91
Vgl. Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, S. 13. Vgl. Kap. 4. Vgl. Stuber, Spielräume und Grenzen, 1998, S. 244–253. Siehe unten. Vgl. Kap. 5. Vgl. Kap. 5. Vgl. Kap. 5.3.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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Die Tatsache, dass Szenische Kammermusik größtenteils aus der Kammermusik heraus entstanden ist und nicht primär aus dem Theater (ausgenommen sind Einflüsse von Liedertheater, Schauspieleroper und Schauspielmusik) verkompliziert zwar bei bestimmten Merkmalen postdramatischen Theaters den Vergleich der beiden Gattungen, unterbindet aber, bei ständiger Vergegenwärtigung des Problems und Anpassung der Merkmale an den jeweiligen Gegenstand nicht die Vergleichsmöglichkeiten. Eine Diskussion der Merkmale, die Lehmann für das postdramatische Theater aufstellt, im Vergleich zur Szenischen Kammermusik kann dies zeigen. Lehmann beschreibt postdramatisches Theater als Theater der Zustände und szenisch dynamischer Gebilde92, das oft von aus der bildenden Kunst kommenden Künstlern gestaltet werde. Postdramatisches Theater ist für Lehmann charakterisiert durch die „Ersetzung der Handlung durch Zeremonie, mit der die dramatisch-kultische Handlung in ihren Anfängen einst untrennbar verschwistert war. Unter Zeremonie als Moment von postdramatischem Theater sei demnach verstanden die ganze Spielbreite des Ausagierens referenzloser, aber mit gesteigerter Präzision vorgetragener Abläufe; Veranstaltungen eigentümlich formalisierter Gemeinsamkeit; musikalisch-rhythmische oder visuell-architektonische Verlaufskonstrukte; pararituelle Formen sowie die (nicht selten tiefschwarze) ‚Feier‘ des Körpers, der Präsenz; das emphatisch oder monumental akzentuierte Ostentative der Darbietung.“93
Lehmann nennt weiterhin den Raum als „eigenständigen Mitspieler“94. Andere Aspekte von postdramatischem Theater können der „Entzug der Synthesis“, Traumbilder und Synästhesie sein. Lehmann stellt fest: „postdramatisches Theater ist nicht allein eine neue Art von Inszenierungstext (erst recht nicht nur ein neuer Typ von Theatertext), sondern ein Typ des Zeichengebrauchs im Theater, der diese beiden Schichten des Theaters von Grund auf umwühlt durch die strukturell veränderte Qualität des Performance Text: er wird mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr Prozeß als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als Information.“95
Lehmann betont, dass die von ihm aufgestellten und beschriebenen Merkmale des postdramatischen Theaters nicht überall gleich deutlich auftreten, dass sie aber aus vielen Theaterarbeiten herausgearbeitet werden können. Zu den Merkmalen des postdramatischen Theaters schreibt Lehmann: „Der ‚Stil‘ oder vielmehr die Palette der Stilzüge des postdramatischen Theaters läßt die folgenden charakteristischen Merkmale erkennen:
92 93 94 95
Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, S. 114. Ebda., S. 115, vgl. dazu vor allem Friedrich Schenker Missa nigra, siehe unten. Ebda., S. 128. Ebda., S. 146.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
Parataxis, Simultaneität, Spiel mit der Dichte der Zeichen, Musikalisierung, visuelle Dramaturgie, Körperlichkeit, Einbruch des Realen, Situation/Ereignis.“96 Um die Theorie des postdramatischen Theaters auf die Szenische Kammermusik anwenden zu können, müssen diese Merkmale dargelegt werden, Hans-Thies Lehmann hat sie in seinem Buch in elf Punkten zusammengefasst. Gleichzeitig mit dieser Darlegung werden Verbindungen zur Szenischen Kammermusik aufgezeigt.97 „1. Parataxis/Non-Hierarchie“98 Unter Parataxis beschreibt Lehmann die Enthierarchisierung der Theatermittel. Dabei sollen diese nicht nur keiner Rangfolge unterworfen werden, sondern sich in einem Theaterstück auch nicht in ihrer Aussage gegenseitig verdoppeln.99 Die verschiedenen Komponenten sollen, nach Heiner Goebbels100 jeweils eigene Aussagen treffen und trotzdem zusammenwirken. Nach Lehmann kann mit dieser Enthierarchisierung auch ein Wechsel in der Einstellung auf Seiten des Zuschauers erreicht werden, da es nicht darauf ankomme, sofort alle Aspekte einer Theateraufführung zu verstehen, sondern darauf, für Unerwartetes offen zu bleiben. Dadurch mache sich der Zuschauer ein aufschiebendes Speichern der Sinneseindrücke und damit eine „gleichschwebende Aufmerksamkeit“101 zu eigen. Die sich aufdrängende Frage nach dem Unterschied zwischen postdramatischem und epischem Theater kann dahingehend beantwortet werden, dass sich zwar in Brechts Beschreibungen epischen Theaters gleichfalls die Forderung nach der Gleichberechtigung der Schwesternkünste findet, aber bei genauerem Hinsehen deutlich wird, dass sich diese Forderung wirklich nur auf die von Brecht so genannten Schwesternkünste bezieht, die Fabel/Handlung aber als primär gesehen wird, der sich die anderen Komponenten zwar gleichberechtigt aber doch unterordnen. So schreibt Brecht zur Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny: „Der Einbruch der Methoden des epischen Theaters in die Oper führt hauptsächlich zu einer radikalen Trennung der Elemente. Der große Primatkampf zwischen Wort, Musik und Darstellung [...] kann einfach beigelegt werden durch die radikale Trennung der Elemente.“ 102 Die Unterordnung unter die Fabel wird auch in seiner allgemein bekannten Gegenüberstellung von „dramatischer“ und „epischer“ Oper deutlich:
96 97
98 99 100 101 102
Ebda. Für die Anwendung der erarbeiteten Merkmale postdramatischen Theaters auf konkrete Beispiele der Szenischen Kammermusik und avancierten Kammeroper vgl. Kap. 5.3. Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, S. 146. Ebda. Ebda., S. 147. Ebda., S. 149. Bertold Brecht, Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, in: ders., Schriften. Über Theater, hrsg. v. Werner Hecht, Berlin 1977, S. 108ff, hier S. 113.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik „Dramatische Oper Die Musik serviert Musik den Text steigernd Musik den Text behauptend Musik illustrierend Musik die psychische Situation malend Die Musik ist der wichtigste Beitrag zum Thema.“103
51 Epische Oper Die Musik vermittelt den Text auslegend den Text voraussetzend Stellung nehmend das Verhalten gebend
Auch im Kleinen Organon für das Theater betont Brecht die Unterordnung aller beteiligten Komponenten unter die Fabel: „Die Auslegung der Fabel und ihre Vermittlung durch geeignete Verfremdungen ist das Hauptgeschäft des Theaters. Und nicht alles muss der Schauspieler machen, wenn auch nichts ohne Beziehung auf ihn gemacht werden darf. Die Fabel wird ausgelegt, hervorgebracht und ausgestellt vom Theater in seiner Gänze, von Schauspielern, Bühnenbildnern, Maskenmachern, Kostümschneidern, Musikern und Choreographen. Sie alle vereinigen ihre Künste zu dem gemeinsamen Unternehmen, wobei sie ihre Selbständigkeit freilich nicht aufgeben.“104
Käthe Rülicke-Weiler formuliert in ihrer Dramaturgie Brechts noch einmal deutlich die hier dargestellte Sichtweise auf die auch von Brecht so genannten Schwesternkünste: „Die Schwesternkünste sollen ‚die gemeinsame Aufgabe in ihrer verschiedenen Weise fördern, und ihr Verkehr miteinander besteht darin, daß sie sich gegenseitig verfremden‘. In einer Inszenierung allen beteiligten Künsten Selbständigkeit zu verleihen und sie zugleich der vereinbarten Erzählweise der Fabel unterzuordnen, erfordert ein Zusammenspiel, das nur durch eine gemeinsame Arbeit – von der Vorbereitung der Inszenierung durch die Stückanalyse bis zur Premiere – und in produktivem Widerspruch zueinander verwirklicht werden kann.“105
Die von Lehmann festgestellte Enthierarchisierung der künstlerischen Komponenten im postdramatischen Theater auf die Szenische Kammermusik anzuwenden, erfordert zunächst eine grundsätzliche gedankliche Umorientierung, die ähnlich auch für die weiteren zehn Punkte gilt. Das von Lehmann beschriebene Schauspieltheater im weitesten Sinne, emanzipiert sich vom Primat des Textes bzw. der Fabel und von dieser Voraussetzung aus argumentiert Lehmann. Bei Anwendung auf die Szenische Kammermusik muss nun für dieses Modell immer die Musik als Ausgangspunkt gedacht werden. Deshalb kann eine Enthierarchisierung der Mittel hier vor allem von einer Gleichstellung anderer Mittel, beispielsweise des Textes und der Szene mit der Musik her gedacht wer-
103 104 105
Ebda., S. 114. Bertold Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: ebda, S. 452. Käthe Rülicke-Weiler, Die Dramaturgie Brechts. Theater als Mittel der Veränderung, Berlin 1968, S. 209.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
den, die das ursprüngliche, durch das Entstehen der Szenischen Kammermusik aus der Kammermusik gegebene Primat der Musik durchbricht. Aber nicht in allen Formen von Szenischer Kammermusik wird diese besondere Rolle der Musik gänzlich aufgegeben, dies wird bei der Untersuchung einzelner Stücke auf ihre Merkmale postdramatischen Theaters in die Überlegungen einbezogen. So bezieht sich die Forderung nach eigenen Aussagen der verschiedenen verwendeten Mittel, weniger darauf, dass andere Mittel vom Text unterschiedene Aussagen treffen können, was in der Musik häufig der Fall ist, sondern darauf, dass Text und Szene hier zu eigenen Aussagen gelangen können und so an Relevanz gewinnen. Dies muss anhand des einzelnen Werkes genau untersucht werden, nicht immer sind alle Elemente vorhanden und nicht immer sind sie gleichberechtigt. Häufig dominiert trotzdem die Musik, wie zum Beispiel im instrumentalem Theater, wo Szene aus der Musik erst entsteht. „2. Simultaneität“106 Die Simultaneität von Zeichen107 sieht Lehmann als weiteres Merkmal postdramatischen Theaters. Das Ziel sei eine Überhäufung des Zuschauers mit Zeichen, so dass er nicht alle gleichzeitig aufnehmen kann.108 Diese Überhäufung hat eine ausschnitthafte Wahrnehmung des Gebotenen als unvermeidliche Erfahrung109 des Zuschauers zur Folge. Dieses Merkmal postdramatischen Theaters besitzt auch für die Szenische Kammermusik Gültigkeit. So arbeiten Komponisten zum Beispiel mit mehreren Geräuschund Klangschichten, die eine vollständige Aufnahme durch den Zuschauer unmöglich machen. Auch mehrere Text- und Klangschichten, dazu szenische Abläufe tragen dazu bei, dass ausschnitthafte Wahrnehmung für den Zuschauer unvermeidbar wird, Beispiele sind hier Stücke mit elektroakustischer Musik, beispielsweise von Georg Katzer, oder auch Werke von Friedrich Schenker. Der Wunsch des Zuschauers nach geordneter Aufeinanderfolge wird nicht erfüllt, er muss zwangsläufig auswählen und dadurch selbst fragmentieren. „3. Spiel mit der Dichte der Zeichen“110 Eine weitere, dem eben Beschriebenen entgegen gesetzte Möglichkeit, den Zuschauer zum, mindestens geistigen, Mitvollziehen eines Stückes anzuregen ist die von Lehmann so genannte Strategie des Refus (Verweigerung), eine als Askese erkennbare Sparsamkeit der Zeichenverwendung111. Hier zielt die geringe Dichte der Zeichen auf die Aktivität des Zuschauers, Entzug funktioniert hier als Voraussetzung für eine neue Erfahrung, beispielsweise in Werken von John Cage.112 106 107 108 109 110 111 112
Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, S. 149. Ebda., S. 149. Vgl. Heiner Müllers Ansicht dazu Kap. 4. Lehmann, Postdramatisches Theater, 1999, S. 150. Ebda., S. 151. Ebda., S. 153. Ebda.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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Für die Szenische Kammermusik spielt hier, ähnlich wie bei Cage eine Abwesenheit von Musik primär eine Rolle, während eine Abwesenheit von Text oder Szene für ein musikalisches Werk keine Besonderheit darstellen würde. Letzteres wäre nur dann mit diesem Merkmal in Verbindung zu bringen, wenn eine gleichzeitige Abwesenheit von Musik verzeichnet würde. Merkmale von Minimal Music, die ja durch eine Reduktion verschiedener musikalischer Parameter gekennzeichnet ist, spielen in der Szenischen Kammermusik der DDR nur eine sehr untergeordnete Rolle. „4. Überfülle“113 Ein weiterer Aspekt wird von Lehmann als „Überfülle“ diskutiert, wobei Lehmann hier auch eine Auflösung der Bühnenzeit in Minimalsequenzen beschreibt, deren Ergebnis eine indirekte Vervielfältigung der Wahrnehmungsdaten ist. Bei diesem Merkmal kann unter anderem eine Verbindung mit der Kammeroper R. Hot oder die Hitze von Friedrich Goldmann gesehen werden, die mit ihren über einhundert Posen durch diese kleinste Untergliederung in Minimalsequenzen an diese Ästhetik anknüpft. „5. Musikalisierung“114 Lehmann konstatiert für das postdramatische Theater eine durchgängige Tendenz zur Musikalisierung nicht allein der Sprache, sondern auch zur Entstehung einer auditiven Semiotik. 115 Der Aspekt der Musikalisierung ist für eine jedenfalls zum Teil aus der absoluten Musik kommende Gattung wie die Szenische Kammermusik ein sehr schwer zu übersetzendes Merkmal. Auch hier muss wieder betont werden, dass von Musik anstelle von Text als Grundlage ausgegangen wird, hier also möglicherweise von einer „Szenisierung“ gesprochen werden könnte, um ein dem postdramatischen Theater ähnliches Merkmal zu erhalten und beide Phänomene vergleichbar zu machen. „6. Szenographie, visuelle Dramaturgie“116 Mit „visueller Dramaturgie“ beschreibt Lehmann die Tatsache, dass nach Auflösung der Hierarchie der Theatermittel die Möglichkeit besteht, anderen Ebenen als solchen des Textes eine Dominanz zuzuweisen, was häufig auf die visuelle Dimension zutrifft. Für die 1990er Jahre konstatiert er dann eine Wiederkehr des Textes. Für die Dominanz der visuellen Dimension benutzt Lehmann die Bezeichnung „Theater der Bilder“. Lehmann zieht hier Parallelen zu schon früher entstandenen Tendenzen anderer Künste, wie Serialität und Aleatorik in der Musik.117 Für die Szenische Kammermusik könnte hier wieder die Dominanz eines anderen Aspekts als der Musik eine Parallele bilden, so z. B. der Szene.
113 114 115 116 117
Ebda., S. 154. Ebda., S. 155. Ebda. Ebda., S. 158. Ebda., S. 159–60.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
„7. Wärme und Kälte“118 Dieses Merkmal postdramatischen Theaters, beschreibt nach Lehmann eine Entthronung der Sprachzeichen und die damit einhergehende Entpsychologisierung119 des Gezeigten sowie die damit verbundene Ausbreitung von „Kälte“, weil keine Darstellung psychologischer Erfahrungswelten mehr erfolgt120. Nach Lehmann ist umgekehrt aber auch Überhitzung und Bilderflut möglich. Dieses ist eines der Merkmale, die für die Untersuchung der Szenischen Kammermusik wenig zum Tragen kommen, weil einerseits bei Lehmann selbst die Abgrenzung zu anderen Merkmalen nicht ganz eindeutig ist und andererseits Szenische Kammermusik trotz aller Avanciertheit meistens, wenn auch rudimentären Handlungsstrukturen verpflichtet ist. „8. Körperlichkeit“121 Körperlichkeit ist eines der Hauptthemen des postdramatischen Theaters. Die Gegenwart und Ausstrahlung des Körpers werden stark betont, teilweise verabsolutiert das postdramatische Theater die Körperlichkeit, die dadurch alle anderen Diskurse vereinnahmt. Von Wichtigkeit ist dabei auch die Konfrontation des Publikums mit dem Körper durch Spielen vor zwischen und hinter ihm.122 Lehmann stellt fest, dass durch Gegenwart und Ausstrahlung des Körpers seine vieldeutige Zeichenhaftigkeit und teilweise auch unauflösliche Rätselhaftigkeit erreicht wird. Lehmann betont die Bedeutung des Tanztheaters für diese Entwicklung. Das Publikum werde durch Spielen vor, hinter, zwischen ihm mit dem Körper des Darstellers und auch mit seinem eigenen Körper konfrontiert.123 Lehmann beschreibt im postdramatischen Theater den „physischen Körper als Eigenrealität, der durch seine Präsenz sich als Einschreibungsort kollektiver Geschichte manifestiert“.124 Das Thematisieren des Musikmachens im instrumentalen Theater ist sehr eng mit einer Körperlichkeit der Musiker/Darsteller verbunden, die vorher nicht so deutlich gezeigt und bewusst gemacht wurde. Auch für die Szenische Kammermusik stellt die Konfrontation des Publikums mit seinem eigenen Körper ein herausragendes Moment dar, das bei vielen Werken zum Tragen kommt, in denen sich die Ausführenden um das oder hinter dem Publikum bewegen. Durch die Verkörperung von Musik in der Szenischen Kammermusik, vor allem im instrumentalen Theater, wird der Körper auch in Stücken zum Hauptthema, die auf den ersten Blick meist ganz andere Themen verhandeln.
118 119 120 121 122 123 124
Ebda., S. 161. Ebda. Ebda., S. 162. Ebda. Ebda., S. 163ff. Ebda., S. 165. Ebda., S. 166.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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„9. »Konkretes Theater«“125 Eine weitere Ausprägungsmöglichkeit von postdramatischem Theater nennt Lehmann „Konkretes Theater“: „Bei dem, was als ‚abstraktes‘ im Sinne von: handlungsloses Theater oder als ‚theatrales‘ Theater bezeichnet wird, geht das Überwiegen der formalen Strukturen so weit, daß Referenz kaum mehr als solche auszumachen ist. Man sollte hier von konkretem Theater sprechen.“126 Das Zeichen teile hier nur mehr sich bzw. seine Präsenz mit, somit sei die Wahrnehmung auf Wahrnehmung von Strukturen zurückgeworfen. Im nun „löchrig gewordenen Rahmen von Bedeutung tritt die konkrete, sinnlich intensivierte Wahrnehmbarkeit hervor“127, Lehmann benutzt auch den Begriff des „Theaters der Wahrnehmbarkeit“128. Dabei betone postdramatisches Theater das Unabgeschlossene und Unabschließbare des Dargestellten so sehr, dass es eine eigene „Phänomenologie der Wahrnehmung„ realisiere und dadurch die Prinzipien Mimesis und Fiktion überwinde.129 Für dieses Merkmal sind nur wenige Parallelen zur Szenischen Kammermusik zu sehen, was vor allem dadurch begründet ist, dass Szenische Kammermusik in der DDR durch ihre Intention der gesellschaftlichen Relevanz, die bei fast allen Stücken und Komponisten zum Tragen kommt, fast immer eine, wenn auch rudimentäre erzählende Ebene aufzuweisen hat, die dann meist mit den Prinzipien Mimesis und Fiktion arbeitet. Der von Lehmann in diesem Kontext angedeutete Fragmentcharakter, der durch die Ausstellung des Unabgeschlossenen entsteht, kann am ehesten für die Beschreibung Szenischer Kammermusik herangezogen werden. „10. Einbruch des Realen“130 Der Einbruch des Realen ist im postdramatischen Theater nicht nur Gegenstand der Reflexion, sondern der theatralischen Gestaltung selbst, erreicht vor allem durch eine bei den Basismitteln des Theaters einsetzende Strategie und Ästhetik der Unentscheidbarkeit. Deren Wirkung gehe hierbei von der Ununterscheidbarkeit und von der Gleichberechtigung von Realem und Fiktion aus.131 Indem der Zuschauer nicht weiß, ob er auf Fiktives oder Reales reagieren soll, wird das Zuschauen an sich problematisiert. Auch dies ist wieder eine Möglichkeit des Autors, den Zuschauer zum geistigen Mitagieren zu animieren. Für die Szenische Kammermusik spielt der Einbruch des Realen in das Theatergeschehen weniger eine Rolle, da die Szenische Kammermusik doch eher noch traditionelleren narrativen, an eine möglicherweise rudimentäre Fabel gebundenen Formen verpflichtet ist. Selten gibt es Fälle von Vermischung der beiden Ebenen, wie beispiels125 126 127 128 129 130 131
Ebda., S. 167. Ebda. Ebda., S. 169. Ebda. Ebda., S. 169f. Ebda., S. 170. Ebda., S. 177f.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
weise in Missa nigra von Friedrich Schenker. Die Konfrontation von Fiktivem und Realem findet im Theater der DDR und auch in der speziellen Form der Szenischen Kammermusik auch auf der Ebene der Kommunikation zwischen den Zeilen statt. Hier trifft der Text des fiktiven Geschehens auf reale politische oder gesellschaftliche Ereignisse, die dadurch ins Bewusstsein des Publikums gebracht sowie erhellt und diskutiert werden. „11. Ereignis/Situation“132 Das von Lehmann Situation/Ereignis genannte Merkmal schließlich betont vor allem die Verwandtschaft zu Happening und Performance133, die den Akt gegenüber dem Ereignis betonen. Der von den klassischen Avantgarden schon vielfach realisierte Übergang des Theaters in Fest, Debatte, öffentliche Aktion, politische Manifestation usw. repräsentiert hier nicht mehr die Forderung nach einer Veränderung der Welt, sondern will Ereignisse, Ausnahmen, Augenblicke der Abweichung herstellen. Die dargestellten Abläufe treten hinter Präsenz und die Chance zur Kommunikation zurück. Dies bezeichnet Lehmann auch als „Theater als soziale Situation“.134 Auch manche Szenische Kammermusik weist Verwandtschaft zu Happening und Performance Art auf. Es lassen sich Beispiele für die Nähe zu Fest oder Debatte finden. Ebenso wird vor allem im Instrumentalen Theater als Teilgebiet der Szenischen Kammermusik durch die Akzentuierung des Musik Machens ebenfalls der Akt gegenüber dem Ergebnis betont. Durch ihren Anspruch einer gesellschaftlichen Relevanz bleibt die Szenische Kammermusik in der DDR im Gegensatz zu postdramatischem Theater aber bei der Forderung nach Veränderung der Welt. Neben den genannten Aspekten spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls die besondere Kommunikationssituation für die DDR eine wichtige Rolle.135 Friedrich Schenkers Kammerspiel II Missa nigra – als Beispiel schon mehrfach genannt – kann als Demonstrationsbeispiel für die Anwendung ausgewählter Merkmale postdramatischen Theaters auf Szenische Kammermusik herangezogen werden. Die Vergleichsmöglichkeiten von Szenischer Kammermusik mit postdramatischem Theater und die durch diesen Vergleich hinzugewonnenen Beschreibungsmöglichkeiten werden hier an Schenkers Stück demonstriert. Schenkers Missa nigra, uraufgeführt 1979 im Alten Rathaus zu Leipzig durch die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, für die es auch komponiert wurde, enthält Aspekte von Kammermusik, Musiktheater und Performance, sowie der bildenden Kunst. Das Stück war eine der wichtigsten und erfolgreichsten Szenischen Kammermusiken in der DDR, sie wurde mehrfach auch im Ausland gespielt und für das Fernsehen aufgezeich132 133 134 135
Ebda., S. 178. Ebda., S. 179. Ebda., S. 183. Beispiele für alle Merkmale vgl. Kap. 5.3.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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net, ihre Rezeption gestaltete sich teilweise heftig und sehr kontrovers, ihr Einfluss auf andere Komponisten in der DDR war bedeutend. Der verwendete Text besteht aus Teilen des katholischen Messetextes, Texten von Alfred Polgar, Theodor Körner und freien Sprachassoziationen, wobei sich die neun Abschnitte an die traditionelle Gliederung des Requiems anlehnen. Die lateinische Textvorlage wird dabei zerlegt und allmählich wieder zusammengesetzt. Das Stück steht dem Titel entsprechend in der Tradition der Schwarzen Messen, einem Protestmittel häretischer Gruppen im Mittelalter. Die Profanierung und Pervertierung der Messe wird hier als kritisch-akzentuiertes Mittel, als Anklage verwendet.136 Im Vordergrund steht für Schenker und die anderen Beteiligten die politische Aussage des Werkes gegen Krieg und Gewalt aus aktuellem Anlass des Baus der Neutronenbombe. Schenker bezeichnete sein Stück als Todes-Theater, der Rezipient soll hier den Schock, der auch gegen den Automatismus der Wahrnehmung wirken soll, verarbeiten und Aufforderung zum Handeln für sich präzisieren.137 Im Programmheft zur Uraufführung schrieb Schenker dazu: „Die Entwicklung und der geplante Bau der Neutronenbombe, in Verantwortung des United-States-of-America-Imperialism, das ist schon ein großer Schock für die Menschheit, Grund genug für ein Todes-Theater. Hier werden Instrumente gespielt, es wird gesprochen, gesungen, geschrien, geschwiegen, es wird sich bewegt, es erscheinen Masken, Gewänder, Hüllen, Bilder, Objekte. Alles geschieht, um Hörende sehend und Sehende hörend zu machen. Es geht gegen den imperialistischen Krieg, seine Ideologie, seine Ideologen, seine Söldner, seine Waffen, seine Konstrukteure. Die Menschheit steht im Visier imperialistischer Abschußrampen, es ist bequemer, daran nicht zu denken ...!“138
Ein konsequenter Desillusionismus und das Mittel der Verfremdung sollen Einfühlung und Illusion verhindern. Vielmehr stellt Schenker den Zeichencharakter der Kunst heraus. Das Stück sprengt als Szenische Kammermusik die Konzertform, für Schenker ist diese Grenzüberschreitung vom Musikalischen zum Theatralischen von großer Bedeutung.139 Die textliche Vorlage erfuhr eine weitgehende szenische Verwirklichung unter Verwendung von Kostümen, Masken, Bühnenbild, Requisiten, Aktion usw. Die Gestaltung der musikalischen Parts aber auch der Aktionen ist genau auf die Musiker der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ abgestimmt, denn Schenker kannte als Mitbegründer und Mitglied die Gruppe sehr genau. An der szenischen Umsetzung war neben Schenker auch Hartwig Ebersbach, ein Leipziger Künstler beteiligt, wobei die Zusammenarbeit 136
137
138 139
Vgl. Mathias Hansen, Friedrich Schenker: Kammerspiel II, MISSA NIGRA, in: Musik und Gesellschaft 29, 1979, S. 418. Zitiert nach Stefan Amzoll, Vorwort, Abschnitt II, in: Friedrich Schenker, MISSA NIGRA. Partitur, Leipzig 1983. Zitiert nach ebda. Vgl. dazu Stefan Amzoll, ebda.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
der beiden eher als gegenseitiges Befruchten zu beschreiben ist, denn nicht immer war die Musik präexistent, sondern wurde teilweise auch zu Ideen von Ebersbach komponiert.140 Ebersbach lieferte die gesamte Ausstattung, war an der Inszenierung und auch direkt an den Vorstellungen beteiligt, er führte gemeinsam mit einem zweiten so genannten „Ordner“ verschiedene Aktionen aus. Die Besetzung der Missa nigra richtet sich nach der Zusammensetzung der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“. Es werden sieben Instrumentalisten verlangt, die Oboe, Englischhorn, Posaune, Violoncello, Kontrabass, Tasteninstrumente und Schlagzeug spielen, es finden Synthesizer und präpariertes Tonband Verwendung, weiterhin sind ein Schauspieler und ein Dirigent, der ebenfalls szenisch in Aktion tritt, vonnöten. Das Hauptmerkmal von Schenkers Kompositionstechnik sind die Montage und Collage von heterogenem musikalischem Material, das Klangelemente und gestisch verkürzte melodische Wendungen mit Zitaten und nachgebildeten Pseudo-Zitaten zu einem komplizierten und vielschichtigen Zeichengewebe verknüpft. Mathias Hansen konstatiert, dass Schenker keinen wohldosierten Steigerungsablauf gestaltet, sondern die Spannungsintensität ständig auf dem Siedepunkt hält.141 Wie schon an der Besetzung erkennbar, arbeitet Schenker mit dem Einsatz elektronischer Mittel zum Zwecke der Verfremdung. Die musikalische Gestaltung ist im melodischen Bereich meist durch eher lapidare Floskeln gekennzeichnet. Wäre die melodische Gestaltung so komplex, wie die rhythmische, wären auch die in dieser Darbietungsform versierten Musiker der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, die singen, spielen und agieren müssen, letztlich überfordert. Die rhythmische Seite der Komposition ist äußerst differenziert und prononciert organisiert.142 Text- und Stimmbehandlung sind durch ein sinnliches Verhältnis des Komponisten zur Sprache bestimmt, der Widerspruch zwischen dem existentiellen und dem profanen Umgang mit Sprache wird als dramaturgisches Moment verwendet. Schenker zerlegt die lateinische Vorlage in kleinste Einzelteile, in Silben und einzelne Laute, die sie vollkommen destruieren, um sie dann allmählich wieder zusammenzusetzen. Im Stück existieren drei verschiedene Sprachebenen: der Messetext, der Polgar/Körner-Text, sowie profanierende Wortassoziationen zum lateinischen Text, die diesen wiederum weiter demontieren, ironisieren und auch denunzieren. Aspekte des Theaters zeigen sich in den Kostümen, der Ausstattung, den Requisiten, und vor allem in den szenischen Aktionen innerhalb der Aufführung, die durch Regieanweisungen in der Partitur, die die Gestik, Mimik und Bewegung der Instrumentalisten und anderen Mitwirkenden auf der Bühne betreffen, geregelt werden, aber natürlich einer vorhergehenden Inszenierungsarbeit bedürfen. Kostüme, Ausstattung und Requisiten sind von Ebersbach blutbeschmiert gestaltet. Die verwendeten Halbmasken erinnern aber auch entfernt an die Commedia dell’arte. Auch das Bühnenbild ist von Blut 140 141 142
Gespräch der Autorin mit Hartwig Ebersbach, Leipzig 30.11.2000. Hansen, Friedrich Schenker: Kammerspiel II, MISSA NIGRA, 1979, S. 418. Vgl. ebda., S. 419.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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und Gewalt dominiert. So werden beispielsweise Fahnen mit Abbildungen von Toten herein gezogen, die in einer Aktion von den beiden „Ordnern“ mit „Blut“ übergossen werden. Die szenischen Aktionen bilden einen Bestandteil der Komposition und entstehen oft aus musikalischer Aktion heraus. Schenker arbeitet mit der provozierenden Funktion der szenisch-musikalischen Elemente. Er verwischt den Unterschied von musikalischer Interpretation und Aktion sowohl im sprachlichen bzw. stimmlichen als auch im instrumentalen Bereich. Das Stück ist nicht durch eine durchgehende Handlung, sondern durch die Aneinanderreihung einzelner Aktionen, die das Thema Gewalt beleuchten, gekennzeichnet. Die Anwendung von Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters auf das Beispiel aus der Szenischen Kammermusik der DDR lässt einige theatralische Aspekte des Stückes klarer erscheinen. Natürlich sind auch hier nicht alle Merkmale des postdramatischen Theaters auffindbar. Diejenigen, die herausgegriffen und beschrieben werden, sind Non-Hierarchie, Überfülle, Körperlichkeit, Ereignis/Situation und der Einbruch des Realen. Eine Hierarchie der Künste ist in diesem Stück nicht angestrebt, weder ein Primat der Musik noch eines des Textes ist das Ziel, und auch die bildende Kunst kommt zu eigenständigen Aussagen und wird nicht der Musik untergeordnet. Allen beteiligten Künsten wird innerhalb der Inszenierung eigener Raum verschafft und sie wirken dann aufeinander. So beginnt das Stück mit einer Prozession der Mitwirkenden zu ihrer Bühne oder ihrem Aktionsraum, hier erklingt außer Geräuschen keine Musik. Während dieser Prozession wird außerdem ein Stilleben aus den mitgeführten Requisiten errichtet.143 Eine weitere Kunstebene sind die in der Partitur gezeigten Skizzen des Künstlers Hartwig Ebersbach, die teilweise aber auch Regieanweisungen enthalten. Sie spielen in der Aufführung direkt keine Rolle, sondern bilden eine weitere Wahrnehmungsdimension für den Rezipienten der Partitur. (Vgl. Notenbeispiel 1) Ein weiteres Merkmal des postdramatischen Theaters, das Spiel mit einer Überfülle der Zeichen, ist ebenfalls an diesem Werk zu beobachten. Neben den Text- und Musikschichten tritt auch die bildkünstlerische Aktion häufig hinzu, sodass der Zuschauer zwischen verschiedenen Informationen auswählen muss. Weiterhin wird der Körper im Zusammenhang mit der Erzeugung von Klängen deutlich ausgestellt, der Fokus liegt auf dem körperlichen Aspekt des Musik Machens. Die Instrumentalisten haben neben ihren herkömmlichen musikalischen auch quasi schauspielerische Aufgaben. Stellenweise werden die Mitwirkenden auch vollständig auf ihren Körper reduziert, so am Anfang der Dirigent, der von den Ordnern herein getragen wird und dann vor Einsatz der Musiker vorgeschriebene Bewegungen vollführt, die ihn als Marionette kennzeichnen.144 143 144
Friedrich Schenker, MISSA NIGRA, 1983, S. 5. Ebda., S. 5f.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
Notenbeispiel 1: Friedrich Schenker, MISSA NIGRA, Partitur, Leipzig 1983, S. 5, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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Notenbeispiel 2: Friedrich Schenker, MISSA NIGRA, Partitur, Leipzig 1983, S. 37, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Begrifflichkeiten und Definitionen
Die Reduktion der Musiker auf ihren Körper wird an einigen Stellen so weit getrieben, dass sie die Musik nicht mehr mit ihrem Instrument spielen, sondern nur noch mit ihrem Körper darstellen. Ein Beispiel findet sich im dritten Teil des Werkes, wo über einem Schlagzeugsolo die anderen Musiker lautlos nur durch Körper- und Instrumentenbewegungen einen imaginären Marsch spielen.145 (Vgl. Notenbeispiel 2) Auch sein Verdecken akzentuiert einen Körper, so am Ende des dritten Teils, wenn der Akkordeonist zum Denkmal erhoben und dafür mit Zeitungspapier ganz und gar eingewickelt wird.146 Der Aspekt der Körperlichkeit des Musizierens wird häufig durch stereotype Bewegungen der Instrumentalisten und deren mehrfache Wiederholung betont. Dies ist sowohl im dritten Teil zu finden, wo der Eindruck einer gesprungenen Schallplatte oder einer Tonbandschleife erzeugt werden soll, als auch am Ende des Stückes in einer Art Sterbeszene der Musiker.147 Zum Merkmal der Körperlichkeit gehört ebenso die Kontaktaufnahme mit dem Publikum, in das sich die Mitwirkenden in verschiedenen Phasen des Stückes hineinbegeben und das sie direkt mit den Geschehnissen konfrontieren. So lassen die Musiker im dritten Teil des Stückes ein Schlachtengetümmel entstehen, das auch das Publikum mit in die Aktionen hineinzieht. Auffällig ist in diesem Stück ebenso die Komponente Ereignis/Situation. Die einem Happening bzw. einer Performance ähnliche Aufführungsweise steht dafür. Es muss andererseits festgehalten werden, dass das Stück konkret notiert ist und nicht die Freiheiten von Happening und Performance besitzt. Die Identität von Autor und Darsteller etwa, ist durch die Beteiligung der Autoren Schenker und Ebersbach gegeben. Happening-artig muten die Aktionen des Malers Ebersbach und des zweiten Ordners an, so das Erhängen von sprechenden und singenden Puppen am Ende des Werkes148 oder das Hereinziehen der Stofffahnen mit den Totenabbildungen und ihr Begießen mit Blut.149 Auch das Merkmal des postdramatischen Theaters, das sich mit „Einbruch des Realen“ beschreiben lässt, kann man an Schenkers Stück festmachen: die Konfrontation des Publikums mit Blut sowie mit Äußerungen von Sterbenden wie sie die Musiker an verschiedenen Stellen des Stückes äußern, Röcheln, Krämpfe etc. Für das Publikum ist vor allem anfangs schwer zu unterscheiden, ob hier echtes Blut und wirkliches Röcheln gezeigt werden, obwohl ja eigentlich deutlich ist, dass Theater stattfindet. Hier wurde die Komplexität des Werkes nur angedeutet, und erläutert, wie für dieses Werk vom Blickwinkel des postdramatischen Theaters vielgestaltige Facetten des Werkes deutlich werden, die mit rein musikwissenschaftlichen Analysemöglichkeiten nicht beschreibbar sind.
145 146 147 148 149
Ebda., S. 37. Ebda., S. 55. Ebda., S. 40 und 80. Ebda., S. 78. Ebda., S. 46.
2.3
Methodik der Interviews
2.3.1
Befragte Komponisten und Methodik der Interviews
Die durchgeführte Befragung der Komponisten ist insofern repräsentativ, als viele der für das zu untersuchende Thema, also für die Entwicklung der Gattungen Szenische Kammermusik und Kammeroper – und für die Musikgeschichte in der DDR überhaupt – bedeutendsten Komponisten interviewt werden konnten. Gleichzeitig stellen die von ihnen geschaffenen Stücke auch den größten Teil der insgesamt entstandenen Kompositionen dar. Befragt wurden 27 Komponisten und ein bildender Künstler (Hartwig Ebersbach), die zwischen 1909 und 1965 geboren wurden und am Ende der DDR zwischen 81 und 25 Jahren alt waren.1 Paul-Heinz Dittrich (*1930) – Berlin, 1.11.1999 Hartwig Ebersbach (*1940) – Leipzig, 30.11.2000 Bernd Franke (*1959) – Leipzig, 21.10.1999 Peter Freiheit (1940-2001) – Halle (Saale), 30.8.1999 Lutz Glandien (*1954) – Berlin, 2.11.1999 Friedrich Goldmann (1941-2009) – Berlin, 29.11.1999 Walter Thomas Heyn (*1953) – Berlin, 2.11.1999 René Hirschfeld (*1965) – Berlin, 28.2.2000 Ralf Hoyer (*1950) – Berlin, 29.2.2000 Wilhelm Hübner (1915-2004) – Dresden, 14.12.1999 Hans-Friedrich Ihme (*1940) – Berlin, 28.2.2000 Helge Jung (*1943) – Berlin, 1.11.1999 Georg Katzer (*1935) – Zeuthen bei Berlin, 29.2.2000 Wilfried Krätzschmar (*1944) – Dresden, 14.12.1999 Wolf-Günter Leidel (*1949) – Altscherbitz bei Schkeuditz, 28.8.1999 Eckehard Mayer (*1946) – Dresden, 14.12.1999 Christian Münch (*1951) – Dresden, 8.10.1999 Günter Neubert (*1936) – Leipzig, 30.10.1999 Kurt Dietmar Richter (*1931) – Halle (Saale), 30.8.1999 Gerhard Rosenfeld (1931-2003) – Potsdam-Rehbrücke 1.3.2000 Friedrich Schenker (*1942) – Berlin, 13.12.1999 Steffen Schleiermacher (*1960) – Leipzig, 21.10.1999 Kurt Schwaen (1909-2007) – Berlin, 29.1.2001 Karl Ottomar Treibmann (*1936) – Leipzig, 21.2.2000 Jan Trieder (1957-2006) – Halle (Saale), 13.9.1999 1
Die Interviews wurden relativ am Anfang der Arbeit an der Dissertation – nach einer entsprechenden Vorbereitungszeit – geführt. Einige der Befragten sind in der Zwischenzeit verstorben.
64
Methodik der Interviews
Lothar Voigtländer (*1943) – Berlin, 11.4.2000 Johannes Wallmann (*1952) – Berlin, 26.1.2001 Hans-Jürgen Wenzel (1939-2009) – Halle (Saale), 13.9.1999 Weitere unterschiedlich intensive Kontakte, die aber nicht in Interviews mündeten, bestanden zu Annette Schlünz (*1964), Thomas Hertel (*1951), Ruth Zechlin (1926-2007) und Thilo Medek (1940-2006) sowie der Witwe von Rainer Kunad (1936-1995). Fast alle Befragten haben Komposition studiert, außer Kurt Schwaen ist keiner Autodidakt, allerdings gibt es einige Komponisten, die nicht über ein Kompositions-, sondern über ein Tonmeisterstudium und dann eine Meisterschülerzeit ihre Ausbildung absolvierten. Die meisten waren nach einem Kompositionsstudium in Berlin, Leipzig, Weimar oder Dresden Meisterschüler an der Akademie der Künste in Ostberlin. Dort wirkten in den sechziger und siebziger Jahren vor allem Rudolf Wagner-Régeny, Hanns Eisler, Paul Dessau, Leo Spies, Ruth Zechlin, in den achtziger Jahren dann vor allem Georg Katzer, Siegfried Matthus, Reiner Bredemeyer und Friedrich Goldmann. Alle befragten Komponisten haben in der DDR gelebt; in den Westen ausgereist sind Johannes Wallmann, Tilo Medek, Thomas Hertel und Rainer Kunad2. Einige der Komponisten hatten während der DDR-Zeit die Möglichkeit, ins westliche Ausland zu reisen, andere hatten diese Möglichkeit nicht. Dies wirkte sich auf die Rezeption der westlichen Entwicklungen durch die Komponisten weniger aus als auf die Rezeption ihrer eigenen Werke im Westen. Die Befragung der Komponisten wurde mit dem Mittel des offenen Interviews durchgeführt, teilstrukturiert durch einen vorher erarbeiteten Leitfaden. Die Verwendung eines Fragebogens stellte sich als nachteilig dar, da es bei der Befragung weniger um Fakten als um Sichtweisen, Ansichten, Meinungen, Handlungen der betreffenden Komponisten ging und, wie unten erläutert, im Leitfadeninterview die Möglichkeit bestand, auf die Individualität der Beteiligten einzugehen, was bei der Brisanz der besprochenen Themen und ihrer Bedeutung für die Komponisten ein nicht zu unterschätzender Vorteil war.3 Die Befragung lief als offene Befragung ab und war nicht standardisiert, auch dies aus Gründen des individuellen Einstellens auf den Gesprächspartner. Die Vorgehensweise war folgende: Zuerst wurde eine allgemeine Gesprächsskizze, die auf alle zu erwartenden Gesprächspartner zutraf, vorbereitet. Sie enthielt alle interes2
3
Rainer Kunad starb 1995, mit Johannes Wallmann konnte ein Interview geführt werden, mit Thomas Hertel fand ein kurzes Gespräch statt, und von Tilo Medek existiert ein Brief mit Antworten auf einzelne Fragen. Zur Methodik des Leitfadeninterviews vgl.: Barbara Friebertshäuser, Interviewtechniken – ein Überblick, in: Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, hrsg. von ders. und Annedore Prengel, Weinheim 1997, S. 371–395, hier S. 375–378; Franz-Josef Brüggemeier, Aneignung vergangener Wirklichkeit – Der Beitrag der Oral History, in: Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, hrsg. von Wolfgang Voges, Opladen 1987, S. 145–169, hier S. 150; Werner Fuchs, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, Opladen 1984, S. 179f.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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sierenden Themengebiete. So wurde der Betreffende zu Details seiner Biographie befragt, insofern sie Fragen zum Musiktheater betrafen. Dieser Fragekomplex gestaltete sich umso kürzer je bekannter und etablierter der Komponist war und ist, d. h. je mehr Literatur über ihn existiert. Weiterhin wurden Fragen zur Kulturpolitik in der DDR, hier besonders zur erlebten Kulturpolitik der siebziger und achtziger Jahre, zum Komponistenverband, zu ästhetischen Diskussionen, wie dem Sozialistischen Realismus und ähnlichen Themen gestellt. Auch die Situation der Komponisten in der DDR allgemein und ihr Umgang mit dem System spielten hier eine Rolle. Einen anderen Komplex bildeten Fragen zum Musiktheater und zur Szenischen Kammermusik in der DDR, zum Umgang des Komponisten mit den Gattungen und zu seinen Erfahrungen und Intentionen mit seinen entsprechenden Stücken. Den Abschluss des Gesprächs bildete meist die Diskussion über die einzelnen Werke des jeweiligen Komponisten. Vor jedem Interview wurden zu diesem allgemeinen Gesprächsgerüst spezielle Fragen zu dem betreffenden Komponisten ergänzt, hauptsächlich spezielle Fragen zur Biographie und zu Werken des Komponisten, die sich aus dem vorhergehenden Literaturstudium ergaben. Während der Interviews wurden die Fragen entsprechend der Vorbereitung gestellt, wobei dies keine starre Vorgehensweise bedeutete. Je nach Biographie und Werkgeschichte des Komponisten wurde ein anderer Einstieg in ein Interview gewählt und nahm dieses auch einen anderen Verlauf. Die offene Gestaltung der Interviews ermöglichte jederzeit ein Eingehen auf die Persönlichkeit und Verfassung des Komponisten, auf seine Gesprächsbereitschaft, die allgemein sehr gut war, aber auch ein Nachhaken bei bestimmten Stichworten. Über den Umgang mit den so entstandenen Bändern - drei der Komponisten sprachen sich gegen einen Mitschnitt aus, das Gespräch wurde dann in Stichworten schriftlich festgehalten – wurde auf Wunsch der Komponisten folgende Regelung getroffen: Die Bänder sind nur für den Gebrauch als Arbeitsgrundlage dieser Dissertation zu nutzen und nicht zu veröffentlichen, besonders nicht durch öffentliches Vorspiel des Bandes. Längere Zitate in der Arbeit sollen vor Veröffentlichung den meisten Komponisten noch einmal vorgelegt werden. Die Komponisten äußerten nicht den Wunsch, das ganze Interview noch einmal vorgelegt zu bekommen. Diese Umgangsweise mit den Komponisteninterviews, besonders der Nichtabdruck des vollständigen Interviews, stellt einen Unterschied beispielsweise zu Daniel zur Weihens4 Herangehensweise dar. Da dies am Anfang der Interviews jeweils geklärt wurde, besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Komponisten sich zum Teil offener in der Diskussion zeigten. Außerdem wird mit dieser Vorgehensweise auch klargestellt, dass in dieser Arbeit keine systematischempirische Interviewforschung und Auswertung betrieben wird, sondern dass die Interviews im Rahmen historischer Arbeit eine Quelle darstellen, an die ebenso wie an andere Quellen philologisch-kritisch herangegangen werden muss.5 4 5
Zur Weihen, Komponieren in der DDR, 1999. Die Interviews liegen bei der Autorin als Bänder bzw. in drei Fällen als Mitschriften, sowie als Transkriptionen vor. Im Frühjahr 2012 wurden den Komponisten die Textpassagen noch einmal
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Methodik der Interviews
Die Komponisteninterviews stellen einen Teil des Arbeitsmaterials für die vorliegende Arbeit dar und dienten nicht zuletzt auch der Beschaffung von Noten- und Tonmaterial. Sie bergen natürlich auch Risiken, denn bei dem Versuch, sich genau zu erinnern, entstehen häufig Verzerrungen. Auch spielen bewusst oder unbewusst immer heutige Ansichten und Interessen der Komponisten in ihre Antworten hinein. Aus diesen Gründen ist die Konfrontation des durch die Interviews gewonnenen Materials mit Sekundärliteratur, Material aus Archiven und Berichten einschlägiger Zeitschriften der fraglichen Zeit unerlässlich.6 Methodisch reflektiert, wie im folgenden Kapitel zur Oral History ausgeführt, stellen leitfadengebundene Interviews mit Zeitzeugen jedoch eine unverzichtbare Quelle für die historische Forschung dar.
2.3.2
Oral History7 als eine Arbeitsgrundlage
Aus dem Interesse heraus, die Entwicklung der Gattungen Szenische Kammermusik und Kammeroper in der DDR anhand eines möglichst großen Überblicks über die entstandenen Werke zu beschreiben, aufgrund der relativ spärlich vorhandenen Primärund Sekundärliteratur und angesichts des relativ kurzen zeitlichen Abstands zum untersuchten Geschehen wurde die Möglichkeit ausgeschöpft, mit den an der Entwicklung der Gattungen Beteiligten ins Gespräch zu kommen. Interviews mit den beteiligten Komponisten und anderen Zeitzeugen schienen das geeignete Mittel zu sein, um im Sinne einer Oral History eine Arbeitsgrundlage zu erstellen. Oral History als Methode der Geschichtsschreibung wurde zuerst in den angelsächsischen Ländern angewandt und ist gekennzeichnet durch den Versuch, schriftliche Quellen durch mündliche Überlieferung in Form von Befragungen betroffener Personen zu ergänzen. Sie wurde ursprünglich für die Untersuchung von Bevölkerungsschichten benutzt, die aus unterschiedlichsten Gründen wenig Eingang in schriftliche Geschichtsquellen fanden, weil das Hinterlassen von Schriftquellen entweder ein Privi-
6
7
vorgelegt. Dort, wo daraufhin noch Änderungen vorgenommen wurden, die über sprachliche Anpassungen hinausgehen, wurde dies in der Arbeit vermerkt. Leider zog Paul-Heinz Dittrich sämtliche Aussagen aus dem Gespräch zurück, sodass diese aus der Arbeit entfernt werden mussten, was außerordentlich bedauerlich ist. Vgl. dazu Brüggemeier, Aneignung vergangener Wirklichkeit, 1987, S. 145–169, der Autor führt dort auf S. 148 aus: „Es kann nicht überraschen, daß bei politikgeschichtlichen Fragstellungen eine gewisse Skepsis herrscht und daß den Interviews ein begrenzter Stellenwert zugeschrieben wird. Eine schriftliche Überlieferung zur Kontrolle der Aussagen ist unerläßlich, wobei die verbreitete Skepsis sich jedoch weitgehend aus unrealistischen Erwartungen erklärt. In den Interviews sprechen weder schmerzlich vermißte Heroen noch notorisch unzuverlässige Informanten zu uns, sondern Individuen oder Gruppen mit widersprüchlichen Erfahrungen, mit ambivalenten Einstellungen und Verhaltensweisen. Eben diese Prägungen werden mittlerweile verstärkt thematisiert und nicht als störende Faktoren oder gar als Enttäuschungen abgeheftet.“ Unter den verschiedenen möglichen Schreibweisen des Begriffes wurde Oral History ausgewählt.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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leg oder aber zensiert war. In Deutschland wurde die Oral History erst später als Methode der Soziologie und der Geschichtswissenschaften etabliert, was auf den Faschismus zurückgeführt wird.8 Unter anderem zur Erforschung der Lebensumstände und Denk- und Verhaltensmuster dieser Zeit wurde Oral History dann in Deutschland verwandt. Wesentliche Merkmale der Oral History beschreibt Gregor Spuhler. Er definiert Oral History als eine interaktive Forschungsmethode, deren Form die der Erzählung sei.9 Wichtig für den Umgang mit Oral History und den daraus entstandenen Dokumenten ist für Spuhler das Erfassen und Berücksichtigen der verschiedenen Techniken des Erinnerns und Vergessens, die hier zum Tragen kommen.10 Spuhler beschreibt Oral History als mikrohistorisches Forschungsverfahren, wobei er das Problem der Vermittlung von Mikro- und Makrogeschichte sieht.11 Je nach Forschungsziel und befragter Zielgruppe schlägt Spuhler eine Unterscheidung zwischen Oral History und Oralistik vor: „Wenn wir den theoretischen Standort von Oral History in dieser Weise bestimmen, so verknüpfen wir die Methode mit einem emanzipatorischen Anspruch und schlagen gleichzeitig eine Unterscheidung zwischen ‚Oral History‘ und ‚Oralistik‘ vor. Unter letzterem verstehen wir die Befragung vorwiegend bedeutender Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu einzelnen Aspekten ihrer Tätigkeit.“12 „Die Befragung von Entscheidungsträgern oder ihre Konfrontation mit anderslautenden Aussagen und schriftlichen Dokumenten kann hier dazu beitragen, daß allgemein zugängliche schriftliche Quellen ergänzt oder auch berichtigt werden, und sie kann Einblick in den der Verschriftlichung vorausgehenden Meinungsbildungsprozess geben. Oral History, wie wir sie verstehen, dient im Gegensatz dazu nicht bloss der Ergänzung schriftlicher Quellen und der Sammlung zusätzlicher Informationen. Vielmehr stehen die mündlichen Erzählungen im Vordergrund, während schriftliche Quellen zur Rekonstruktion des historischen Kontextes und zu punktuellen Ergänzungen beigezogen werden können. Das Interesse gilt dabei in der Regel den Erfahrungen der Interviewten und der Frage, auf welche Weise bestimmte Ereignisse und Prozesse zu ‚Erfahrungen‘ werden.“13
Aspekte beider von Spuhler beschriebenen Arten der Oral History treffen auf die Absichten und Ziele der Verwendung von Interviews in dieser Arbeit zu. Hier werden mit Hilfe der Interviews nicht historisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen erfasst, sondern eine bestimmte Gruppe von Menschen, die durch Ausübung einer bestimmten 8
9
10 11 12 13
Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der ‚Oral history‘, hrsg. v. Lutz Niethammer unter Mitarbeit v. Werner Trapp, Frankfurt am Main 1980, S. 11. Gregor Spuhler, Oral History in der Schweiz, in: Vielstimmiges Gedächtnis. Beiträge zur Oral History, hrsg. v. Gregor Spuhler u. a., Zürich 1994, S. 9. Ebda., S. 10. Ebda. Ebda. Ebda., S. 10f.
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Methodik der Interviews
Tätigkeit in einer bestimmten vergleichbaren Lebenssituation gekennzeichnet ist, gleichwohl aber durch ihre meistens doch erreichte Öffentlichkeit in andere Formen von Quellen Eingang fand. Schriftliche Quellen sollen ergänzt werden, es wird aber auch Wert auf die Erfahrungen der Interviewten gelegt und darauf, wie Ereignisse und Prozesse zu Erfahrungen werden. Eine Unterscheidung zwischen Oral History und Oralistik, wie Spuhler sie vorschlägt, wird deshalb in diesem Falle nicht für sinnvoll gehalten, weshalb der eingeführte Begriff Oral History beibehalten wird. Neben unbestreitbaren Vorteilen der Oral History und den in dieser Methode enthaltenen Chancen, existieren natürlich auch Probleme, die kurz diskutiert werden sollen. Die Tatsache, dass es sich bei Oral History um eine interaktive Forschungsmethode handelt, ist eines dieser Probleme, da die Interaktion zwischen den Gesprächspartnern auch zu einer Eigendynamik derselben führen kann. Dieser Aspekt muss vom Interviewer im Blick behalten und bei der Auswertung berücksichtigt werden. Ein weiterer diskutierter Aspekt ist die Wahrung des Interesses des Befragten.14 Spuhler vertritt die Meinung, dass der Befragte während des Interviews sein Interesse wohl zu wahren weiß, Schwierigkeiten ergäben sich dann bei der Auswertung. Die Steuerung des Gespräches durch den Interviewer ist ein weiterer zu bedenkender Aspekt, wobei es allerdings auch zum umgekehrten Fall kommen kann. Problematisch an der Verwendung dieser Interviews als eine Arbeitsgrundlage der Untersuchung, ist die Tatsache, dass die Komponisten sich mit ihren Aussagen im Moment des Interviews darstellen und die Erinnerungen nicht immer objektiv sein können, sondern notwendigerweise eine ganz individuelle Sichtweise der einzelnen Person bedeuten, die ihre Erfahrungen, die sie in der Zwischenzeit gemacht hat, ebenso einbringt wie eigene Interessen usw. Das kann bewusst oder unbewusst geschehen. So geht der Wissenschaftstheoretiker Helmut Seiffert davon aus, dass Aussagen von Zeitzeugen eher etwas über die Situation dieser Menschen zum Zeitpunkt der Befragung berichten als über ihre Situation zur interessierenden Zeit: „Die oral history geht von der auf den ersten Blick durchaus plausiblen Überlegung aus, daß das gesprochene Wort mehr sei als das geschriebene oder gedruckte Wort der historischen Dokumente, daß die Vergangenheit hier sehr viel unmittelbarer und lebendiger wiedergespiegelt würde, daß die interviewten Personen mehr, Genaueres und Feineres zu berichten hätten als jemals auf dem Papier festgehalten worden sei. Es kann gar kein Zweifel sein, daß die oral history in der Tat zahlreiche neue Erkenntnisse vermitteln und viel zusätzliches historisches Material erschließen kann. Trotzdem kann der kritische Betrachter kaum darüber hinwegsehen, daß der Gedanke der oral history in der Gefahr ist, einem wichtigen methodologischen Fehlschluß zu erliegen.
14
Ebda., S. 9.
Forschungsstand – Begriffe – Methodik
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Bei aller Hochschätzung der mündlichen ‚Kommunikation‘ (‚Der Buchstabe tötet, das Wort macht lebendig‘) darf man doch wohl eines nicht übersehen. Die oral history kann keine ursprünglichen Geschichtsquellen liefern, sondern nur nachträgliche Interpretationen.“15
Seiffert ist also der Meinung, dass der Befragte immer eine Interpretation der Geschichte aus seinem gegenwärtigen Bewusstsein heraus bietet und betont deshalb: „Für den methodisch strengen Historiker gilt ganz klar: Besser eine schriftliche Quelle aus der Zeit selbst als eine noch so interessante und detailreiche nachträgliche Erzählung.“16 Weiterhin muss natürlich auch in Rechnung gestellt werden, dass in einem offenen Interview die Gefahr der Provozierung bestimmter Antworten durch den Interviewer nicht immer völlig gebannt werden kann. Auch Seiffert weist auf dieses Problem hin und stellt fest, dass die Fehlerquelle in der Lenkung des Gesprächs durch den Interviewer besteht: „Schlimmstenfalls wird er also durch seine eigene Sicht der Dinge den Bericht noch zusätzlich verfälschen.“17 Seiffert stellt zusammenfassend fest, dass Oral History genau so viel oder so wenig Wert wie eine Autobiographie hat und deshalb besonders eingehender Kritik unterzogen werden muss. Aus den genannten Gründen können im Folgenden die Aussagen der Komponisten also nicht einfach übernommen werden, sondern müssen miteinander konfrontiert und mit der vorhandenen Literatur und den schriftlichen Quellen verglichen sowie in den Gesamtkontext eingeordnet werden. Die Bedenken gegenüber der Methode der Oral History erschienen aber nicht so entscheidend, als dass von ihrem Gebrauch abgesehen wurde. Dahinter stand die Überlegung, dass sie trotzdem viele Informationen liefern kann, denn oft ist sie die einzige Möglichkeit, über bestimmte Werke oder Komponisten, aber auch über kulturpolitische und gesellschaftliche Themen Informationen zu erhalten. Denn wie am Kapitel über den Forschungsstand abzulesen ist, beschäftigt sich die vorhandene Literatur nur mit einem kleinen Ausschnitt des Darzustellenden, vorwiegend mit der so genannten Avantgarde, aber auch hier ist die Literaturlage spärlich.
15 16 17
Helmut Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie 2, München 101996, S. 102. Ebda., S. 103. Ebda.
3.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
3.1
Einleitung: Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater
Wenn einleitend das Verhältnis von Gesellschaft, Kulturpolitik und Szenischer Kammermusik in der DDR in Relation mit Andreas Kottes Modell „Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater“1 gebracht wird, um Aspekte von Kulturpolitik in der DDR anzusprechen, muss betont werden, dass die hier folgenden Darlegungen einen Beitrag zur Erhellung dieses Theatralitätsgefüges liefern. Für eine eine vollständige Darstellung eines solchen Theatralitätsgefüges fehlen hier allerdings der Platz sowie die notwendigen umfassenden Untersuchungen anderer Bereiche. Die Gesellschaft der DDR, deren allgemeine Politik und Kulturpolitik im Folgenden zuerst schlaglichtartig beleuchtet wird, stand innerhalb eines bestimmten Theatralitätsgefüges, das auf sie einwirkte. Die gesamte Gesellschaft wirkte im Rahmen ihrer daraus resultierenden Kulturpolitik wiederum auf das Theater ein. Szenische Kammermusik und avancierte Kammeroper werden als Phänomene dieses Theaters beleuchtet. Kotte definiert ein Theatralitätsgefüge und seine Komponenten folgendermaßen: „Der Widerspruchsprozess der Bereiche [Kunst, Spiel, Alltag, Verbot, d. Verf.] ist mit ‚alle gegen alle‘ zu charakterisieren. Die Schlacht zwischen ihnen macht die Theatralität eines Zeit/Raumes aus. Im Ergebnis der Schlacht liegt ein Theatralitätsgefüge vor, das zu erforschen das vornehmste Ziel der Theaterhistoriographie bildet. Soweit ich sehe, geht bisher ausschliesslich Münz’ Ansatz nicht deduktiv von Theater und seinen Merkmalen aus. Er legt nahe, zunächst auf die Schau (théa) bezogenes gesellschaftskonstituierendes Verhalten ausserhalb von Theater zu untersuchen, um dann Theater als eine der spezifischen Arten solchen Verhaltens unter anderen zu betrachten.“2
Neben der Szenischen Kammermusik und Kammeroper, die hier den Aspekt der Kunst vertreten, beinhaltete die Kulturpolitik der Zeit Aspekte von Verbot sowie Alltag und beide gemeinsam, indem sie sich die Bälle jeweils zuspielten, auch den Aspekt des Spiels, der hier durchaus auch im Sinne von Kampf und allen dazwischen liegenden Schattierungen verstanden werden kann. Die Kulturpolitik der DDR entbehrte, wie alle Politik, nicht bestimmter Aspekte von Inszenierung: Zeitpunkte der Veröffentlichung von Anschauungen waren meist genau geplant, Kongresse und andere Tagungen wiesen Aspekte von Inszenierung und Per-
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2
Kotte, Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater, 2002, S. 2–9, vgl. die Ausführungen im Kap. 2.2.4. Ebda., S. 6
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
71
formativität durch die geplante Abfolge von Wortmeldungen, die musikalische Einleitung der Tagungstage, den Auftritt bestimmter Gruppen – z. B. Gruppen von Pionieren, die Lieder darboten –, die Verwendung bestimmter Requisiten dabei – z. B. Fahnen – und auch in der Vorbereitung und häufig vorherigen Absegnung der „Diskussionsbeiträge“ auf. Natürlich wäre die Sicht auf solche Referate und Diskussionsbeiträge eingeengt und nicht angemessen, wenn sie ausschließlich als Theatertext interpretiert würden, bestimmte Aspekte von Inszenierung und Performativität sind aber im oben dargelegten Sinne3 deutlich. Auch die Szenische Kammermusik nahm nicht nur als Theaterphänomen, sondern auch als weitere Möglichkeit der Komponisten, sich im politischen und kulturpolitischen Diskurs zu Wort zu melden, einen wichtigen Platz im Theatralitätsgefüge ein, vor allem mit ihrem teilweisen Rekurrieren auf kulturpolitische (Helge Jung: Sketch 5+1, Georg Katzer: Szene für Kammerensemble, Karl Ottomar Treibmann: 4. Sinfonischer Essay u. a.4) und dezidiert politische (Friedrich Schenker: Missa nigra, Wolf-Günter Leidel: Via crucis u. a.5) Aspekte. Komponisten konnten in diesem Theatralitätsgefüge verschiedene Rollen spielen. Teilweise waren auch absichtlicher oder unbeabsichtigter Rollentausch und beabsichtigtes oder unbeabsichtigtes Maskieren zu beobachten. Dies betrifft unter anderem das Dilemma der avancierten Komponisten ab den 1970er Jahren, das darin bestand, dass sie – im Gegensatz zu systemkonformen Komponisten – zunehmend im Westen aufgeführt und ihre Werke dort nachgefragt wurden, sie aber gleichzeitig auch als Aushängeschild einer im Inland restriktiven Kulturpolitik benutzt wurden. Der musikalischen Opposition wurde mit der Aufführung im Westen also, ob sie wollte oder nicht, von der DDRKulturpolitik die Rolle eines Vertreters des Systems in der DDR übergestülpt. Um sich und ihre Werke im Westen bekannt zu machen, mussten die Komponisten diese Doppelrolle in Kauf nehmen. Eine weitere, als Maskierung zu beschreibende Strategie des DDR-Kulturbetriebs war die von einigen Komponisten im Interview beschriebene beabsichtigte Diskrepanz zwischen eingereichtem Exposé für eine Komposition, das dann zum Beispiel für die Erteilung des Auftrags begutachtet wurde, und der tatsächlichen Komposition. Besonders diese Konstellationen changieren zwischen den verschiedenen Aspekten von Theatralität und beinhalten sowohl das latent mögliche Verbot oder zumindest die Nichtannahme eines Entwurfs, zudem ein gewisses Versteckspiel und natürlich auch den Alltags- sowie den Kunstaspekt. Das „Spiel“ tritt in den 1980er Jahren immer mehr in den Vordergrund, wenn, wie zu zeigen sein wird, sich die Kulturpolitiker auf die Begleitung und gelegentliche Kritik beschränken und nur noch selten die Begrenzung künstlerischer Entwicklungen durchzusetzen versuchen.
3 4 5
Vgl. Kap. 2.2.4.1 Vgl. Ausführungen zu den einzelnen Werken im Kap. 5.3. Vgl. Ausführungen zu den einzelnen Werken im Kap. 5.3.
72
Einleitung
Im folgenden Kapitel zur Kulturpolitik in der DDR wird zuerst ein Überblick über die kulturpolitischen Entwicklungen in der DDR der 1970er und 1980er Jahre gegeben, der auch Anmerkungen zum Sozialistischen Realismus als ästhetische Hauptkategorie einschließt. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Sicht der Komponisten auf diese Zeit, sowie auf der Darlegung einiger Ereignisse, die konkret die die Musik betreffende Kulturpolitik der DDR stärker ins Blickfeld rücken. Am Ende dieser Betrachtungen steht der Versuch, die interessierenden zwanzig Jahre in der Wechselwirkung von „Zementierung“ und Avantgarde zu beschreiben. Mit Hilfe mehrerer chronologischer Durchgänge wird eine Gesamtsicht auf die in Rede stehenden zwanzig Jahre Kulturpolitik und –leben in der DDR aus dem Blickwinkel avancierten Musiktheaters zusammengesetzt. Die Parallelität der beschriebenen Ereignisse soll aber stets mitgedacht werden.
3.2
Die Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre
3.2.1
Chronologische Übersicht über die Kulturpolitik
Die Entwicklung der Szenischen Kammermusik und der Kammeroper in der DDR ist eng verbunden mit der Kulturpolitik, die zur entsprechenden Zeit von den verantwortlichen Funktionären verfolgt wurde. Deshalb beinhaltet eine Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte der DDR auch immer die Auseinandersetzung mit den Wandlungen der Kulturpolitik. Folgerichtig steht vor der Darlegung der Entwicklung der Szenischen Kammermusik und Kammeroper die Beschäftigung mit den kulturpolitischen Debatten und Problemen. Deren Einfluss auf die interessierenden Musikgattungen war jeweils unterschiedlich und hing stark von den Persönlichkeiten der betreffenden Funktionäre aber auch von denen der entsprechenden Künstler ab. Trotzdem kann und soll eine ausführliche Darstellung der gesamten kulturpolitischen Entwicklungen und Stillstände in der DDR hier nicht gebracht werden. Stattdessen wird eine am Thema orientierte und für das Thema relevante kurze Übersicht über die Kulturpolitik der zur Debatte stehenden 1970er und 1980er Jahre geboten, wobei vor allem Initialzündungen und besondere Entwicklungen thematisiert werden. Hermann Weber teilt in seinem Buch Geschichte der DDR den fraglichen Zeitraum in folgende Abschnitte ein: „Anpassung an die UdSSR 1971-1975“, „Krisenhafte Entwicklung 1976-1980“, „Erstarrung der DDR 1981-1985“ und „Niedergang und Ende der DDR 1986-1990“1. Die häufige Benutzung von Begriffen, die negative und passive Bedeutungen haben, kennzeichnet nicht nur die Richtung der allgemeinen politischen Entwicklung, sondern kann auch auf die Kulturpolitik der DDR angewendet werden,
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Weber, Geschichte der DDR, ²1999.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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deren Entfaltung immer wieder durch hemmende Ereignisse und sich verhärtende Situationen gekennzeichnet ist. Der interessierende Zeitraum begann mit einem einschneidenden Ereignis in der Geschichte der DDR, das auch für die Kulturpolitik Bedeutung erlangte: mit der Machtübernahme durch Erich Honecker 1971. Honecker löste Walter Ulbricht ab, der durch seine Politik eine relative Stabilisierung der DDR am Ende der 1960er Jahre und eine wirtschaftlich starke Position der DDR im Ostblock erreicht hatte. Dies spiegelte sich unter anderem ideologisch wider, indem sich die SED als Vorbild für andere kommunistische Parteien darstellte.2 Ulbricht definierte am Ende der 1960er Jahre den Sozialismus als eigene geschichtliche Epoche und sah ihn nicht mehr als kurze Übergangsphase zum Kommunismus an, wie das vorher der Fall gewesen war. Er formulierte dazu: „Das ökonomische System des Sozialismus in der DDR ist, historisch gesehen, die volle Einstellung einer hochindustriellen Gesellschaft auf die inneren Vorzüge und Triebkräfte der Sozialistischen Produktionsweise und auf die Dynamik der wissenschaftlich-technischen Revolution.“3 Diese Neudefinition war besonders von pragmatischen Erwägungen geprägt, da eine klassenlose kommunistische Gesellschaft frei von Gewinn- und Profitstreben in weiter Ferne lag. Außerdem versuchten Ulbricht und die SED-Führung sich mit dieser Definition vom Führungsanspruch der UdSSR zu emanzipieren. Wenn Sozialismus nun eine eigenständige Entwicklungsstufe darstellte, dann befanden sich DDR und UdSSR per Definitionem auf derselben Entwicklungsstufe.4 Durch Einführung wissenschaftlicher Methoden in allen Gesellschaftsbereichen, versuchte die SED das Dilemma, in dem sie sich befand, zu lösen: So hatte sie einerseits die Aufgabe, eine effektive Wirtschaft für eine moderne Industriegesellschaft zu stabilisieren, andererseits wollte sie aber auch ihre politische Macht weiter ausbauen.5 Ulbricht prägte dabei das Bild der SED entscheidend, obwohl er, als Marionette Stalins eingesetzt und sich immer dessen und später auch Chruschtschows Absichten unterordnend, erst in den 1960er Jahren wirklich eigene Wege ging. Letztlich überschätzte er aber seine Position gegenüber der UdSSR und so führte diese ideologische Abgrenzungspolitik seine von der UdSSR unterstützte Ablösung durch Honecker herbei.6 Daneben war auch die geschwächte Wirtschaft der DDR ein weiterer Grund für Ulbrichts Absetzung. Mit seinen Ablösungsversuchen stand Ulbricht Leonid Breschnew entgegen, dessen Ziel es in dieser Zeit war, die Führungsrolle der UdSSR wieder zu festigen. Auf der Grundlage dieser Differenzen gelang es Erich Honecker, Ulbricht im Politbüro schrittweise zu isolieren, auch durch das Einverständnis Breschnews mit der Absetzung Ulbrichts, das durch eine Blitzreise des Mit-
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4 5 6
Vgl. ebda., S. 266. Walter Ulbricht, Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehre von Karl Marx für unsere Zeit, Berlin 1968, S. 39, zit. nach Weber, Geschichte der DDR, S. 266. Ebda., S. 267. Ebda., S. 268. Vgl. ebda., bis S. 274.
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Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre
glieds des ZK der SED Werner Lambertz nach Moskau eingeholt wurde.7 Auf die von ihm so genannten „Querelen“ zwischen Ulbricht und Honecker, die er als „Machtkämpfe“ und „Cliquenintrigen“ bezeichnet, geht Weber nicht ausführlich ein, sondern verweist auf die Quellen.8 Unter Honecker setzte dann folgerichtig wiederum eine Anpassung an die UdSSR und die Anerkennung ihrer Führungsrolle ein.9 Ein neuer Freundschafts- und Beistandsvertrag wurde 1975 für 25 Jahre geschlossen, durch den die DDR rechtlich in noch größere Abhängigkeit zur UdSSR geriet.10 Auch die Absage der DDR an eine deutsche Nation und die Selbstdeklaration als sozialistische Nation dienten der weiteren Integration ins sozialistische Lager.11 Honecker setzte in den ersten Jahren seiner Regierung unter anderem außenpolitische Akzente: Stichworte sind hier der Grundlagenvertrag mit der BRD 1972 und die Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte 1975. Er errang für die DDR weitere internationale und damit diplomatische Anerkennung, so wurde sie 1973 gemeinsam mit der BRD in die UNO aufgenommen. Außerdem zeigten sich innenpolitische Veränderungen, unter anderem im sozialen Bereich durch die Beschlüsse des VIII. Parteitages der SED 1971. Auch kulturpolitisch setzte Anfang der 1970er Jahre eine Periode der Öffnung und der Lockerung verschiedener Dogmen ein. Erich Honeckers Machtantritt 1971 brachte eine strategische Umorientierung und begrenzte Reformen, die vor allem hinsichtlich der Wirtschaft die Macht der Parteiführung stabilisieren sollten. In der Kulturpolitik sind zeitweilig eine Beschränkung auf die Globalsteuerung kultureller Prozesse und damit der Versuch der Beseitigung von Spannungen zu verzeichnen. Die angestrebten Veränderungen geschahen allerdings alle von oben und waren eingebettet in das Dogma von der prinzipiell richtigen Politik, die nur nach den Notwendigkeiten der jeweiligen Entwicklungsetappe zu modifizieren sei. Insgesamt waren statt Fehlerdiskussionen eher stillschweigende Korrekturen mit dem Hauptziel eines Beruhigungseffekts auszumachen, die auch nur halb verwirklicht wurden, denn die Lockerungen wurden von einem Teil des Parteiapparats bereits für zu groß gehalten mit dem Effekt, dass Gegendruck erzeugt wurde.12 Aus diesen Lockerungen und dem jeweiligen Versuch der Rücknahme resultierte die unentschiedene Kulturpolitik der DDR der 1970er und 80er Jahre, auf die nun eingegangen wird, um das Umfeld für die Szenische Kammermusik und die Kammeroper zu verdeutlichen. Dabei werden auch die 60er Jahre berücksichtigt, um den Wechsel zu verdeutlichen, der Anfang der 70er Jahre eintrat. Der Aufbruchsstimmung, die kulturpolitisch in der DDR während der Zeit des Bitterfelder Weges herrschte, wurde 1965 durch das 11. Plenum des ZK der SED sehr hart Einhalt geboten. Besonders die Literatur und die Filmbranche, aber auch die so ge7 8 9 10 11 12
Ebda., S. 274. Ebda. Ebda., S. 290. Ebda., S. 291. Ebda. Vgl. Manfred Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, Köln 1985, ²1995, S. 139.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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nannte Beat-Musik wurden hart kritisiert und mit Verboten belegt.13 Während auf dem VI. Parteitag 1963 noch kritische Literatur von Erwin Strittmatter, Christa Wolf und Erik Neutsch gelobt worden war, nahm man die kulturpolitischen Freiheiten, die mit dem „Neuen Ökonomischen System“ einhergegangen waren, 1965 auf dem genannten Plenum wieder zurück. Die SED und besonders Erich Honecker in seinem Bericht des Politbüros kritisierten „schädliche Tendenzen“, „Skeptizismus und Unmoral“ besonders in verschiedenen Filmen und Theaterstücken. Es wurden auch einzelne Personen angegriffen, so Wolf Biermann, Stefan Heym und Robert Havemann.14 Für die Musik hatte in den 1960er Jahren die so genannte Materialdebatte große Bedeutung, die ausgehend von der Kritik an Konzerten der Leipziger Musikhochschule, organisiert von dem Leipziger Musikwissenschaftler Eberhard Klemm, geführt wurde.15 Die Diskussion über die Verwendung von Zwölftontechnik und anderen avancierten Materials begann 1962. Klingberg sieht die Debatte als weiteres Rückzugsgefecht, nachdem 1956 in einer kurzen Tauwetterphase schon einmal an Tabus der Doktrin des Sozialistischen Realismus gerüttelt wurde. Diese kurze Phase war aber sofort im Kontext der Entwicklungen in Ungarn wieder zu Ende. Damals hatten die dogmatischsten Vertreter der Theorie des Sozialistischen Realismus erstmals nachgegeben.16 Der Hauptvorwurf gegen Klemm und seine Programmgestaltung bezog sich auf den angeblichen Kult des musikalischen Materials. Das Problem bestand im Verhältnis zwischen sozialistischem Realismus und Dodekaphonie, wobei die musikästhetischen Dogmatiker Heinz Alfred Brockhaus bzw. Ernst Hermann Meyer für den Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler17 die Meinung vertraten, dass diese Technik einseitig sei und den jüngeren Komponisten nichts nütze. Hansjuergen Schaefer nutzte die Diskussion und die Tatsache, dass Klemm in diesem Zusammenhang Hanns Eislers Verwendung der Zwölftontechnik zur Sprache gebracht hatte, für einen überaus hämi-
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Vgl. Kahlschlag. das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, hrsg. v. Günther Agde, Berlin 1991, sowie: Andreas Trampe, Kultur und Medien, in: DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, hrsg. v. Matthias Judt, Berlin 1997, S. 299. Vgl. Weber, Geschichte der DDR, ²1999, S. 249. Vgl. Lars Klingberg, Die Kampagne gegen Eberhardt Klemm und das Institut für Musikwissenschaft der Universität Leipzig in den 60er Jahren, in: Berliner Beiträge zur Musikwissenschaft 9, Beiheft zu H. 3/1994 der Neuen Berlinischen Musikzeitung, S. 45–51. Vgl. Lars Klingberg, Die Debatte um Eisler und die Zwölftontechnik in der DDR in der 1960er Jahren, in: Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, hrsg. v. Michael Berg, Albrecht von Massow u. Nina Noeske, = KlangZeiten 1, Köln 2004, S. 39–61, hier S. 39f. Der Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR (VKM) hieß seit seiner Gründung Verband Deutscher Komponisten und Musikwissenschaftler (VDK) und wurde 1972 umbenannt. Im Weiteren werden im Hinblick auf eine bessere Lesbarkeit die Bezeichnungen Komponistenverband oder Verband verwendet.
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Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre
schen Leitartikel in Musik und Gesellschaft, der die örtliche Leipziger Diskussion in den Komponistenverband trug.18 Der weitere Verlauf der Debatte sah unter anderem ein Positionspapier, für den Komponistenverband erarbeitet von Günter Mayer unter der Ägide von Harry Goldschmidt, in dem nicht das Material für die Progressivität eines Stückes als entscheidend angesehen wurde, und man argumentierte, dass die Verwendung konventionellen Materials zum Teil auch die Aussageabsicht der Komponisten in ihr Gegenteil verkehren könne.19 Auf das Papier folgten mehrere Aussprachen und Mayers Thesen wurden daraufhin vom Verband nicht übernommen. Während Mayer und Goldschmidt ihre Position konkretisierten und für die Aneignung des jeweils historisch fortgeschrittensten Materialstands plädierten20, warnten die Vertreter des Komponistenverbandes in ihrer Entschließung zum Musikkongress 1964 vor „Modernistischen Auffassungen“ und „spätbürgerlicher Dekadenz, ihren weltanschaulich-ästhetischen Positionen und den daraus resultierenden doktrinären Kompositionsmethoden“21. Den weiteren Debattenverlauf, unter anderem die von der Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag 1963 ausgehende Diskussion über die Formulierung eines „Realismus ohne Ufer“ des französischen Philosophen Roger Garaudy, stellt Klingberg in seinem Aufsatz ausführlich dar.22 Das auf der Delegiertenkonferenz des Komponistenverbandes 1968 von Brockhaus geforderte Ende der aus seiner Sicht „abstrakten Material-Diskussion“23, bildete dann überraschend Erich Honeckers 1971 verkündete Meinung, dass es in „Kunst und Literatur keine Tabus“ geben solle.24 Natürlich begann die Aneignung neuer Techniken nicht erst Anfang der 1970er Jahre, sondern bereits Mitte/Ende der 1960er Jahre. Gerade zwölftönige Kompositionsweisen wurden schon länger von einzelnen Komponisten benutzt, neben Eisler und Paul Dessau bedienten sich ihrer auch Komponisten, die weniger im Rampenlicht standen, wie Gerhard Wohlgemuth und Heinz Röttger. Die Komponisten probierten diese Techniken nicht nur experimentell aus, sondern brachten entsprechende Werke auch zur Aufführung.
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Hansjuergen Schaefer, Um unsere sozialistische Kunst, in: Musik und Gesellschaft 13, 1963, S. 130, vgl. die Ausführungen von Lars Klingberg dazu in: Die Debatte um Eisler und die Zwölftontechnik in der DDR in der 1960er Jahren, 2004, S. 42. Dargestellt ebda., S. 44. Günter Mayer, Zur Dialektik des musikalischen Materials, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 7, 1965, S. 371. Unser Lebensgefühl zum Klingen bringen. Entwurf der Entschließung zum Musikkongreß, in: Sonntag 19, Nr. 36, 6.9.1964, S. 15; vgl. dazu ausführlich: Klingberg, Die Debatte um Eisler und die Zwölftontechnik, 2004, S. 48f. Ebda., S. 55. Vgl. ebda., S. 57. Vgl. Fußnote 31.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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Trotzdem war die Materialdebatte in den 1970er Jahren nicht abgeschlossen und die Diskussion augenscheinlich nicht unnötig geworden. Dies geht aus Wortmeldungen und Diskussionen auf den Kongressen und Tagungen hervor, die in den Akten der Musikkongresse und Delegiertenkonferenzen des Komponistenverbandes festgehalten sind.25 Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 stand die Kulturpolitik neben anderen hauptsächlich sozialen und wirtschaftlichen Themen sogar im Zentrum. Angriffe auf Künstler und Kunstwerke, wie sie in der Vergangenheit immer wieder auf der Tagesordnung standen, wurden vermieden. Auch kulturpolitisch setzte Anfang der 1970er Jahre eine Periode der Öffnung und Lockerung verschiedener Dogmen ein. Abzulesen ist dies beispielsweise an Honeckers Rede auf der 4. Tagung des ZK der SED im Dezember 1971: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die Fragen dessen, was man künstlerische Meisterschaft nennt.“26 Diese Ausführungen sind unter dem Schlagwort von der „Weite und Vielfalt“ der Kunst allgemein bekannt geworden, das aber tatsächlich von Kurt Hager stammt. Er sagte auf der 6. Tagung des ZK der SED im Juli 1972: „Wenn wir uns entschieden für die Weite und Vielfalt aller Möglichkeiten des Sozialistischen Realismus, für einen größeren Spielraum des schöpferischen Suchens in dieser Richtung aussprechen, so schließt das jede Konzession an bürgerliche Ideologien und imperialistische Kunstauffassungen aus.“27 Die mit diesen Aussagen erfolgte, aber möglicherweise von Honecker gar nicht gemeinte Umorientierung – Jäger verweist ausführlich auf die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten und auf den Textcharakter besonders von Honeckers Aussage –, wurde erst nach entsprechender publizistischer Auswertung richtig deutlich.28 Auf diese vage Formulierung, die zudem alles auf die „feste Position des Sozialismus“29 gründen wollte, konnte man sich nur kurze Zeit berufen, und wenn dann nur mit entsprechender Entschiedenheit. Der Satz erlaubte, besonders aufgrund der genannten Formulierung, auch eine restriktive Auslegung, denn hier erfolgte keine Preisgabe prinzipieller Standpunkte, wie der Kampf gegen Modernismus und sonstige bürgerliche Einflüsse, sondern Hager spricht im Gegenteil praktisch wieder eine Warnung in dieser Richtung aus. Lediglich der Rahmen des Zulässigen erweitert sich etwas, und die politisch-ideologischen Einflussmöglichkeiten auf die komplizierten Kunstprozesse werden jetzt realistischer eingeschätzt. In dieser Zeit herrschte also ein offenerer Kulturbegriff als vorher, und somit erweiterten sich auch die Ausdrucksmöglichkeiten Anfang der siebziger Jahre beträchtlich. Im Raum stand aber immer die Mahnung zu ‚Verantwortungsbewusstsein‘, die nichts anderes als die Aufforderung zur Selbstzensur bedeutete.
25 26 27 28 29
Vgl. Kap. 3.2.3. Zit. nach Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, ²1995, S. 140. Ebda., S. 140. Vgl. ebda. Vgl. ebda.
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Diese hier für den Anfang der siebziger Jahre skizzierte Situation hielten viele Künstler für den Anfang weiterer positiver Entwicklungen, für die SED-Führung war es allerdings schon das äußerste Zugeständnis, wie sich bald zeigen sollte. Die Partei gab auch in dieser Zeit das Recht auf Genehmigung und Kontrolle nie auf, nur eine liberale Ausübung dieser Kontrolle war möglich. Das politische Kalkül der neuen Kulturpolitik setzte auf begrenzte Konzessionen an wichtige meinungsbildende Schichten und ermöglichte damit kontroverse Debatten unter Spezialisten, die dazu dienen sollten, Unmut abzulassen und die Unzufriedenheit zu kanalisieren. Trotz aller Behauptungen, ‚Weite und Vielfalt‘ zulassen zu wollen, wurden die Künste weiterhin funktional definiert wie in der Zeit des Bitterfelder Weges und den Anfängen des Sozialistischen Realismus.30 Erste Warnungen gegenüber Künstlern, die sich zu große Freiheiten erlaubten, waren schon auf dem 9. ZK-Plenum 1973 zu vernehmen, es handelte sich zuerst aber noch um vage Drohgebärden.31 Jäger begründet die Mitte der siebziger Jahre wieder eintretende Verhärtung kulturpolitischer Ansichten mit Problemen der DDR, die außerhalb der Kulturpolitik lagen, aber auf diese zurückwirkten. Er sieht hier vor allem die Schwierigkeiten auf den Gebieten innere Sicherheit und Wirtschaft.32 Einen der Tiefpunkte dieser zwischen Lockerung und Einengung schwankenden Kulturpolitik bildete die Affäre um die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, die eine Welle der Ausreisen von Künstlern, hauptsächlich Schriftstellern, Regisseuren und Schauspielern nach sich zog.33 Die Zunahme der ökonomischen Belastungen und die zu langsame Verbesserung des Lebensstandards führten ebenso zu Spannungen wie die durch den Abschluss des Grundlagenvertrages mit der BRD erweiterten Besuchsregelungen, die auch intensivere Kontakte der Künstler mit dem Westen nach sich zogen. Das Projekt einer großzügigeren Handhabung der kulturpolitischen Kontrollen wurde in diesem Zusammenhang abrupt abgebrochen, was Jäger auch damit begründet, dass im Apparat weiterhin genügend Personen vorhanden waren, die die restriktive Kulturpolitik für die bessere Lösung hielten.34 Es herrschte eine zunehmende politisch weltanschauliche Unsicherheit, die Verbindlichkeit und Überzeugungskraft der kulturpolitischen und ästhetischen Leitsätze ließ immer mehr nach. Administrative Maßnahmen wurden nicht begründet. Der Emanzipationsprozess der Künstler von kulturpolitischen Dogmen war indes soweit fortgeschritten, dass er durch ideologische Leitlinien nicht mehr zurückgeholt werden konnte.35
30 31
32 33 34 35
Vgl. die Aussagen Ulbrichts dazu unten Kap. 3.2.2. Jäger beschreibt dies u. a. für den Schriftstellerkongress 1973. Die Drohgebärden waren v. a. an Volker Braun und Ulrich Plenzdorf gerichtet, vgl. Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, ²1995, S. 161f. Vgl. ebda., S. 162. Vgl. die Ausführungen Jägers, ebda., S. 163–167. Vgl. ebda., S. 163. Vgl. ebda., S. 178f.
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Öffentliche Debatten wurden allerdings meist mit der Begründung abgelehnt oder unterdrückt, dass sie durch den politischen Gegner ausgenutzt werden könnten.36 In den 1980er Jahren gestaltete sich die Kulturpolitik der DDR als ein „Konglomerat unterschiedlichster Einzelaktionen“ und ebenso als „ein Durcheinander von Drohungen und Konzessionen“.37 Machtkämpfe innerhalb der SED-Führung wurden auch auf diesem Gebiet ausgetragen, aber meist nicht in der Öffentlichkeit.38 Die Versuche, die Diskussion zu beruhigen bzw. Probleme auszusitzen, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kulturpolitik auch in den achtziger Jahren ein schwieriges Feld voller ungelöster Probleme war. Die Machthaber beabsichtigten, Kunst und Künstler vollständig zu kontrollieren, weil sie sich damit abfinden mussten, dass diese sich nicht alle auf die herrschende Ideologie einschwören ließen. Stattdessen wurde versucht, ein Öffentlichwerden von Auseinandersetzungen zu vermeiden. Man bewegte sich von Fall zu Fall, und in Abhängigkeit von den jeweils entscheidenden Personen kam es zu harten oder konzilianten Entscheidungen, sodass wegen der herrschenden Willkür, die keine Argumentationsmöglichkeiten zuließ, auch keine Sicherheit über die jeweilige Diskussionsrichtung aufkommen konnte. Diese Unberechenbarkeit legte sich der Staatsapparat als seine Stärke und Taktik aus. Die eigenen Medien hatten die Machthaber unter ihrer Kontrolle, sodass ihr weiteres Ziel jeweils darin bestand, dass westliche Medienvertreter nicht in den Besitz brisanter Informationen gelangten oder diese nicht verwenden konnten, ohne ihre Quellen aufzudecken. Eines der schwersten Vergehen, das sich Künstler in der DDR zuschulden kommen lassen konnten, war die Nutzung westlicher Medien, also der Medien des Klassenfeindes, ein weiteres, keine oder ungenügende Selbstzensur zu üben.39 Manfred Jäger stellt fest: „Letztlich reduzierte sich die öffentlich verkündete Kulturpolitik in der ersten Hälfte der achtziger Jahre auf Ermahnungen, die im Tonfall einer eher väterlichen Strenge vorgebracht wurden.“40 Seit der Biermann-Ausbürgerung hatte die SED-Führung erkannt, dass sie bei offenen und öffentlichen Diskussionen über kulturpolitische Themen nur den Kürzeren zog, weshalb sie darauf verzichtete und nur noch allgemeinste Verlautbarungen zu Kulturpolitik herausgab. Umso mehr waren die niedrigeren Instanzen des Machtapparats gefragt, entsprechende Diskussionen im Keim zu ersticken der wenigstens unter Kontrolle zu halten.41 Es gab aber Vertreter der SED-Führung, denen dieser Kurs zu weich war, wie z. B. den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin Konrad Naumann. Auf der FDJ-Kulturkonferenz 1982 kamen auch seine Auffassungen zum Tragen. Zum auf Einschüchterung zielenden Tenor der Konferenz gehörte die Andeutung, dass die momentane unbefriedigende Situation für die Künstler auch noch wesentlich unangenehmer sein könnte. 36 37 38 39 40 41
Vgl. ebda., S. 182. Ebda., S. 187. Vgl. die Beispiele dazu bei Jäger, ebda., S. 192. Vgl. ebda., S. 197. Ebda. Ebda., S. 198.
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Allerdings richteten sich alle Vorwürfe an eine scheinbar verschwindend kleine Minderheit, die Benennung von vielen „Missständen“ wäre als Schwäche der Machthabenden ausgelegt worden. 42 Ebenso wurde in der öffentlichen Diskussion unterstellt, es werde noch am Sozialistischen Realismus festgehalten, was bei der Mehrzahl der Künstler entweder nie oder längst nicht mehr der Fall war. Jäger meint, die fortlaufende Argumentation mit der Doktrin des Sozialistischen Realismus könne „als Beleg dafür gelten, wie realitätsfremd in den oberen Etagen gedacht wurde. Näher liegt jedoch die Vermutung, daß auch höhere Funktionäre mit den gewohnten Versatzstücken arbeiteten, weil der ideologische Fundus andere nicht bereithielt. Der Verzicht auf das gewohnte »Argumentationsmodell« wäre selbst erklärungsbedürftig gewesen.“43
Der Kurs von 1971/72 wurde in den folgenden Jahren nur deshalb nicht zurückgenommen, weil ohne kulturpolitische Umorientierungen kein Eingeständnis von Fehlern möglich gewesen wäre.44 Stattdessen wurde versucht, die Probleme auszusitzen und Grundsatzdiskussionen zu vermeiden. Verlautbarungen zum Thema bestanden, wie zum Beispiel auf dem Musikkongress 198745, einmal mehr nur noch aus Floskeln und Ritualen. Erkannt hatte die DDR-Führung auch, dass qualitativ hoch stehende Werke und ihre Wirkung zunehmend im Kontrast zur verbreiteten Ideologie standen, weshalb man immer mehr auf eine Politisierung der Künste verzichtete und ihre Bedeutung relativierte. So stellte beispielsweise Kurt Hager fest, dass die Künste und damit die Künstler nicht für den gesellschaftlichen Entwicklungsstand zuständig seien.46 Diese Auffassung steht in krassem Gegensatz zu der der sechziger Jahre, wo Kunst und Künstler noch als entscheidende Triebkräfte für die Entwicklung der Wirtschaft und der Gesellschaft allgemein gesehen wurden.47 Nun wurde versucht, sie auf Spielwiesen abzudrängen und damit einen Störfaktor auszuschließen oder zumindest zu verringern, was aber nur teilweise gelang.48 In den 1980er Jahren musste sich die SED-Führung auch eingestehen, dass die geplante Erziehung einer so genannten „jungen Intelligenz“, die durch ihre Sozialisierung in der DDR das ideologisch richtige Bewusstsein erworben haben sollte, keinen Erfolg gehabt hatte. Im Gegenteil war die entstandene junge Intelligenz dem Staat noch nicht einmal durch Restsolidaritäten verbunden, wie ältere Künstler, die ihre Hoffnungen in die DDR gesetzt hatten. Viele jüngere Künstler, die in der DDR und ihrer Starre und 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. ebda., S. 198. Ebda., S. 193. Ebda., S. 195. Vgl. unten, Kap. 3.2.3. Vgl. Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, ²1995, S. 199. Vgl. die Aussagen Ulbrichts dazu Kap. 3.2.2. Vgl. Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, ²1995, S. 199 und Vgl. die Meinungen der Komponisten Kap. 3.3.1.
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Sterilität aufgewachsen waren, standen ihr äußerst reserviert und kritisch gegenüber, was sie auch in Differenz zu ihren älteren Kollegen brachte.49 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass besonders die Kulturpolitik der achtziger Jahre sich als undifferenziert darstellt und ohne erkennbares Ziel blieb. Ein ständiges Hin und Her von Möglichkeiten zwischen Öffnung und deren Rücknahme auf immer unverbindliche und unberechenbare Art und Weise. Die folgenden Untersuchungen, vor allem die Einschätzungen der Komponisten selbst, werden diese Brüche weiter verdeutlichen und zeigen, welche Auswirkungen sie für die einzelnen Komponisten hatten.
3.2.2
Bitterfelder Weg und Sozialistischer Realismus
3.2.2.1
Der Bitterfelder Weg
Drei große ästhetische Debatten prägten die Kulturpolitik der DDR, von denen zwei eher zeitlich begrenzt waren und vor der hier betrachteten Zeitspanne lagen: die Formalismus-Debatte und die Ästhetik des Bitterfelder Weges. Die Debatte um die dritte ästhetische Komponente der Kulturpolitik in der DDR, das Postulat des Sozialistischen Realismus, zog sich in unterschiedlicher Intensität durch alle vier Jahrzehnte und wurde – mindestens von den Funktionären – auch in den 1980er Jahren noch geführt. Auch die Formalismus-Debatte der frühen fünfziger Jahre und der Versuch der Etablierung einer eigenständigen Kulturpolitik in der DDR in Form des Bitterfelder Weges stehen im Kontext des Sozialistischen Realismus. Auf eine Darstellung der Formalismus-Debatte wird hier aber verzichtet, da sie nur noch wenig Einfluss auf die Diskussionen der siebziger und achtziger Jahre hatte und außerdem eine sehr ausführliche und exzellente Studie von Petra Stuber zu diesem Thema vorliegt, die zwar hauptsächlich theaterwissenschaftlich orientiert ist, trotzdem aber eine umfassende Darstellung dieser Debatte liefert und auch verschiedene Dokumente beinhaltet.50 Verschiedene Ideen des Bitterfelder Weges wirkten dagegen durchaus noch in den 1970er und 80er Jahren weiter, vor allem betrafen sie Auffassungen von der Funktion der Künste. Der Bitterfelder Weg stellte – so Petra Stubers Einschätzung – 1959 zum ersten und letzten Mal eine Kulturkonzeption der SED-Führung in unverwechselbarer Gestalt und gleichzeitig den diszipliniertesten Entwurf seit Anfang der DDR dar.51 Nach Bestrebungen auf der Kulturkonferenz 1957 und dem V. Parteitag der SED 1958, die künstlerischen Moderne und die so genannte westliche Dekadenz auszuschließen, vollzog die SED-Führung den letzten konsequenten Schritt auf der Bitterfelder Konferenz. Das neue Konzept kennzeichnete nicht nur die Abgrenzung gegen den Westen, 49 50
51
Vgl. Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, ²1995, S. 227ff. Vgl. in: Stuber, Spielräume und Grenzen, 1998 – Die folgende Darstellung verdankt sich hauptsächlich ihren Untersuchungen. Ebda., S. 192.
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Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre
sondern es sollte eine eigene unverwechselbare DDR-Kultur befördern und die Hauptrolle bei der Verwirklichung des Sozialismuskonzeptes spielen.52 Die Kunst und die Künstler wurden ausdrücklich in den Dienst der politischen und wirtschaftlichen Planziele gestellt. Verschiedene Äußerungen von Walter Ulbricht zu diesem Thema verdeutlichen das: „Ich sage offen: wie gut und wie schnell es bei uns vorwärts geht, das hängt in einem hohen Grade von Ihrer zielstrebigen und guten Arbeit ab, von Ihren Romanen und Dramen, Gedichten und Liedern, Bildern und Skulpturen.“53 „Arbeit und Kultur sind in unserem Leben keine Gegensätze mehr, sie verschmelzen zunehmend zur organischen Einheit.“54 „Die Kunstwerke dienen der moralischen Veränderung der Menschen im Geiste des Sozialismus. Sie regen zu großen Taten für den Sozialismus an, erwecken in ihnen die Liebe zur Arbeit, bereichern das geistige Leben des Volkes, bilden die rationellen und emotionalen Fähigkeiten des Menschen der sozialistischen Gemeinschaft und erziehen ihn zu großer Lebensfreude.“55
Ulbricht verkündete den Fortschritt in der Kunst, an dessen Ende die Kunst des Sozialismus und Kommunismus stehen werde. Insofern sei die DDR beispielhaft für den anderen Teil Deutschlands. Ideen von einer deutschen Nationalkultur waren bereits in der Moskauer Emigration erarbeitet worden. Ideale Gestaltungen der deutschen Klassik sollten beibehalten und nur ihre Stoffe ausgetauscht werden, die unmittelbare Realität sollte auf ideale Weise bearbeitet werden.56 An eine Veränderung der künstlerischen Produktionsweise war im Bitterfelder Weg nicht gedacht, Experimente sollten vermieden werden. Intendiert war „eine massenhafte und leistungsstimulierende Bildungsbewegung“, die als Gegenmodell zur bürgerlichen Kunstelite etabliert werden sollte. Die Bitterfelder Konzeption sah ebenso keine Emanzipation der modernen und proletarischen Traditionen vor.57 Die Ziele von Bitterfeld waren hauptsächlich eine eindeutige Zuordnung der Künstler zur kulturpolitischen Konzeption der DDR und ihre deutliche und möglichst öffentliche Abgrenzung von Westdeutschland. Dabei krankte die Ideologie des Bitterfelder Weges v. a. an einem Aspekt, nämlich der Tatsache, dass von Laien produzierte Gebrauchstexte, -kunst und musik statt von Künstlern geschaffener Kunstwerke propagiert wurden und damit die
52 53
54 55 56 57
Vgl. ebda., S. 192f. Walter Ulbricht, Über die Entwicklung einer volksverbundenen sozialistischen Nationalkultur, in: Zweite Bitterfelder Konferenz 1964. Protokoll der von der Kommission beim Politbüro des ZK der SED und dem Ministerium für Kultur am 24. und 25. April im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld abgehaltenen Konferenz, Berlin 1964, S. 71–150, hier S. 84. Ebda., S. 91, kursiv im Original. Ebda. Vgl. Stuber, Spielräume und Grenzen, 1998, S. 195. Ebda., S. 196f.
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Berufskünstler eine deutliche Abwertung erfuhren. Dies wurde schon Mitte der siebziger als Fehler angesehen.58 Auf der zweiten Bitterfelder Konferenz April 1964 wurde die Forderung der SEDFührung nach affirmativer und idealisierender Kunst wiederholt. Ulbricht stellte in seiner oben bereits zitierten Rede fest, dass der Bitterfelder Weg den Typus der sozialistischen Künstlerpersönlichkeit präge. Weiter forderte er, dass die Grundlage des Könnens die Weltanschauung sein muss. Das Weltbild sei nicht nur Angelegenheit des Kopfes, sondern auch tiefer Emotionen. Wichtig sei nicht die Feststellung der (ohnehin dialektischen) Widersprüche, sondern ihre Lösung. Er beschrieb die Künste als geistig-seelische Nahrung der werktätigen Menschen, deren führende Kraft, die Arbeiterklasse, im Namen der Gesellschaft Forderungen an die Künstler stellt. Ulbricht interpretierte weiterhin die Ablehnung der gesellschaftlichen Kontrolle der Künstler als Versuch derselben, sich aus der Verantwortung zu stehlen: „Absolute Informationsfreiheit? Das ist doch irreal.“59 „Aber Informationen um der Informationen willen, ohne konkrete Schlußfolgerungen für die Arbeit und das Leben, entsprechen nicht den Notwendigkeiten sozialistischer Menschen.“60 Er stellte fest, dass der sozialistische Realismus der Meisterung des sozialistischen Fortschritts diene. Die terminologische Diskussion bringe nichts, behauptete Ulbricht, alle Grundfragen seien geklärt, nun müsse über die Werke diskutiert werden.61 Seine abschließende Einschätzung der Situation der Künstler in der DDR zeigt eine kunstferne Ästhetik, die verbohrte Weltfremdheit der Ideologen und eine unfreiwillige Komik, die sich schlagartig relativiert, wenn man bedenkt, dass diese beschriebene Hilfe im konkreten Fall häufig aus dem In-die-Produktion-Schicken der Künstler bestand, wie es unter anderem Heiner Müller und andere Künstler betraf: „Und wir ermöglichen es allen Künstlern, entsprechend ihrer spezifischen Begabung zu arbeiten. Unsere Partei stellt sich dabei die Aufgabe, den Künstlern – wie allen anderen verantwortlichen werkschaffenden Menschen – zu helfen, eine höhere geistige Position zu erreichen, die ihnen einen noch besseren Überblick, einen noch tieferen Einblick in das Leben und in die Kulturbedürfnisse der werktätigen Menschen ermöglicht.“62
Wie schwer es dem ideologischen Apparat fiel, die einmal propagierte Ästhetik fallen zu lassen, zeigt das Hauptreferat von Walter Siegmund-Schultze auf der Konferenz Der Bitterfelder Weg und die Musik, die zur Vorbereitung der X. Arbeiterfestspiele als gemeinsame Tagung des Bezirksverbandes des VDK und des musikwissenschaftlichen Institutes in Halle (Saale) durchgeführt wurde. Das Referat wurde 1968 in Musik und Gesellschaft abgedruckt. Dort konnte man u. a. lesen:
58 59 60 61 62
Vgl. Jäger, Kultur und Politik in der DDR 1945-1990, ²1995, S. 99f. Ebda., S. 117. Ebda., S. 118. Ebda., S. 123. Ebda., S. 140.
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Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre „Meines Erachtens sollte man bei solchen Gesprächen [über Kompositionstechniken, K. S.] lediglich fragen, was ist die Absicht, was ist erreicht. Es ist an sich traurig, daß man sich darüber immer wieder unterhalten muß, wo wir unsere Klassiker vor Augen haben; aber manche unserer vorwiegend jüngeren Komponisten gefallen sich darin, möglichst modern zu erscheinen, den Grad ihrer kompositorischen Technik unter Beweis zu stellen. Die wirklich beschämende Entgleisung eines unserer Kollegen bei der ‚Vertonung‘ des Leninschen ‚Dekrets für den Frieden‘ sollte uns zu denken geben, noch viel mehr vielleicht die hartnäckige Begeisterung des betreffenden exklusiven Hörerkreises. Es fragt sich, ob der Bitterfelder Weg all unsere Kunst umfaßt, oder sozusagen nur die ‚volkstümliche‘ Seite, während die feinsinnigen Experten ihrem vom Westen genährten l’art-pourl’art-Standpunkt fanatisch nachhängen. Kürzlich hörte ich ganz zufällig auch solch ein Konzert der Auserwählten. Man spielte eine – ehrlich gesagt, recht blasse – Purcellsche Trio-Sonate, die immerhin das Thema Musik irgendwie anschlug. Was folgte, war entweder – mit dem nicht zufällig dirigierten Trio für Klavier, Flöte und Schlagzeug von Friedrich Goldmann – raffinierte Klangstudie oder – mit Schönbergs ‚Pierrot lunaire‘ – Ausdruck hochgradiger spätbürgerliche [sic] Dekadenz, die sich übrigens dessen durchaus bewußt ist (auch sollen ihr durchaus nicht gewisse faszinierende Reize abgesprochen werden). Man spricht heute im Ausland viel vom ‚Experiment‘ in der Kunst und führt als Vergleich das naturwissenschaftliche Experiment an. Das sind unzulässige, da undialektische, Vergleiche. Die gesellschaftliche Konkretheit eines künstlerischen Versuchs, wie das bei Brechts ‚Versuchen‘ stets der Fall war, muß nachgewiesen sein; alles andere ist überheblicher Snobismus, ist Eitelkeit, wenn nicht ideologischer Karrierismus. Kritiken, wie auch hier in Halle zu lesende, in denen steht, ein Werk sei zwar fürchterlich anzuhören und äußerst befremdend, aber eben doch interessant und faszinierend, dürften im Sinne des Bitterfelder Weges nicht geschrieben werden; es geht um eine klare parteiliche Entscheidung. Die Begriffe Volkstümlichkeit und Parteilichkeit sind bei uns keine Phrasen, sondern die zentralen Aspekte der Kunst, die mit der gesellschaftlichen Wahrheit korrespondieren und letztlich die ‚Schönheit‘ des Kunstwerkes ausmachen. Das Ziel unserer neuen Musik muß die Erringung einer echten Massenbasis bei höchster Qualität sein; es geht um die Einheit von Wert und Wirkung einer sozialistischen Musik! Und dabei darf es grundsätzlich kein Reservat für eine andere Ästhetik geben; wir halten den Bitterfelder für den allgemeingültigen Weg der sozialistischen Kultur, er läßt in seiner Breite Platz für alle Genres, für alle Hörer, und es gibt auch Parkplätze für diejenigen, die einmal rasten möchten, weil sie etwas gründlicher untersuchen oder genießen wollen; es gibt auch verschiedenes Tempo. Aber wir wollen Unfälle vermeiden, wir wollen alle wohlbehalten durch die schöne Landschaft fahren und zum Ziel gelangen.“ 63
Dieser längere Auszug aus Siegmund-Schultzes Text verdeutlicht die Art der Argumentation und zeigt auch die Widersprüche auf, in die sich Siegmund-Schultze hier verstrickt und die die grundsätzliche Problematik der Ästhetiken des Bitterfelder Weges 63
Walther Siegmund-Schultze, Der Bitterfelder Weg und die Musik, in: Musik und Gesellschaft 18, 1968, S. 650–655, hier S. 654f. Es handelt sich um einen Abdruck des Hauptreferates zur Konferenz Der Bitterfelder Weg und die Musik, in Vorbereitung der X. Arbeiterfestspiele, einer gemeinsamen Tagung des Bezirksverbandes des VDK und des musikwissenschaftlichen Institutes in Halle.
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und des Sozialistischen Realismus in der DDR illustrieren. So muss er quasi zwischen den Zeilen zugeben, dass der im besprochenen Konzert dargebotene Purcell ihn gelangweilt habe, Schönbergs Pierrot lunaire dagegen „gewisse faszinierende Reize“ nicht abgesprochen werden könnten. Damit lobt er aber ein Stück, das er vorher als dekadent bezeichnet hatte, ein Fehler, den er nicht näher bezeichneten halleschen Rezensenten kurz darauf vorwirft. Mit seinen mehr als emphatischen Schlusssätzen, die den Bitterfelder Weg hymnisch zur breiten Straße erweitern und eine freundliche Kulisse heraufbeschwören, überspielt er, dass der Bitterfelder Weg zu diesem Zeitpunkt bereits als Holzweg erkannt gewesen sein könnte, der keineswegs Allgemeingültigkeit beanspruchen und auch keine echte Massenbasis vorweisen konnte. Und er überdeckt auch eine Aussage, die in ihrer Rigorosität auch Ende der 1960er Jahre noch Wirksamkeit dahingehend entfaltete, dass den Komponisten Friedrich Goldmann ein unausgesprochenes Aufführungsverbot traf64, unter anderem weil Siegmund-Schultze ihn in seinem Artikel zu den Komponisten zählte, die einem „vom Westen genährten l’art-pour-l’art-Standpunkt fanatisch nachhängen“ und gleichzeitig feststellt, dass es „grundsätzlich kein Reservat für eine andere Ästhetik geben“ dürfe, denn er halte „den Bitterfelder für den allgemeingültigen Weg der sozialistischen Kultur“. An der hier skizzierten Ästhetik des Bitterfelder Weges ist abzulesen, dass die Debatte um das Postulat des Sozialistischen Realismus durch die Jahre hindurch als ständige Debatte geführt wurde und auch mit dem Bitterfelder Weg ein weiterer Schritt auf dem Wege zu einer sozialistisch realistischen Kunst getan werden sollte. Somit sind Formalismus-Debatte und Bitterfelder Weg zwei Teilaspekte einer Gesamtdebatte. 3.2.2.2
Der Sozialistische Realismus
Auch die Debatten um den Sozialistischen Realismus sollen ausschließlich im Hinblick auf die Szenische Kammermusik und die in diesem Umfeld interessierenden Aspekte der Kulturpolitik in der DDR schlaglichtartig betrachtet werden. Ausführliche Darstellungen der Ästhetik des Sozialistischen Realismus aus der damaligen Sicht der Musikwissenschaft und –theorie finden sich z. B. im Handbuch der Musikästhetik65, in unzähligen Beiträgen in Musik und Gesellschaft und anderen Zeitschriften, in Tagungsberichten66 und weiteren Publikationen. Nach der Wende ist eine ausführliche Aufarbeitung der verschiedenen Stadien der Debatte um den Sozialistischen Realismus in der Musik noch
64 65
66
Vgl. Kap. 3.3.1 bzw. 3.3.2. Handbuch der Musikästhetik, hrsg. v. Siegfried Bimberg u. a., Leipzig 1979, darin: Walter SiegmundSchultze, Theorie und Methode des sozialistischen Realismus in der Musik, S. 149–183. Probleme der Realismustheorie. Arbeitsmaterial zur Diskussion über aktuelle Probleme der Theorie des sozialistischen Realismus auf dem Gebiete der Musik, Berlin 1970, darin u. a.: Heinz Alfred Brockhaus, Probleme der Realismustheorie, S. 10–56; Walter Siegmund-Schultze, Zu Fragen des sozialistischen Realismus in der Instrumentalmusik, S. 90–98; Rainer Kunad, Realismusprobleme in der zeitgenössischen Oper, S. 99–103.
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nicht geleistet worden, gleichwohl beschäftigen sich die meisten Publikationen notwendigerweise mindestens am Rande mit dem Thema.67 Der Ursprung von Begriffsbildung und theoretischer Konzeption des Sozialistischen Realismus findet sich in der Stalinschen Kulturpolitik Anfang der dreißiger Jahre. Andrej Shdanov wies 1934 den sowjetischen Schriftstellern die Aufgabe zu, als „Ingenieure der menschlichen Seele“ (nach Shdanov ist dies eine Formulierung Stalins, K. S.) an der ideologischen Erziehung der Werktätigen mitzuwirken.68 Diese Funktionalisierung der Kunst wurde in der Sowjetunion spätestens seit der Tauwetterperiode nach dem XX. Parteitag der KPdSU deutlicher Kritik unterzogen. In der DDR wurde der Begriff des Sozialistischen Realismus vor allem durch die Literaturtheorie von Georg Lukács geprägt. Ziel war das Anknüpfen an Normen der Klassik und des bürgerlichen Realismus. Das Kunstwerk sollte die Totalität des Lebens in typischer, organischer und geschlossener Form widerspiegeln.69 Dieser Begriff war auch in der DDR vielen Modifizierungen und Debatten unterworfen und blieb bis zuletzt eher eine dehnbare und verschieden interpretierbare Vorstellung als ein Begriff, mit dem Musikwissenschaftler oder gar Komponisten arbeiten konnten. Im Alltag zeigten die Künstler so auch meist wenig Interesse dafür, welche Definition gerade gängig war. Seit dem Ende der siebziger Jahre lässt sich eine beginnende Begriffsauflösung sowohl bei Künstlern als auch bei Theoretikern feststellen. Als typische Position des Sozialistischen Realismus können Walter Siegmund-Schultzes Ausführungen im Handbuch der Musikästhetik von 1979 gelten.70 Ihm zufolge ist das erste Merkmal von Musik des Sozialistischen Realismus Parteilichkeit, denn getreu dem Ziel der Durchsetzung des Klassenkampfes und des endgültigen Sieges des Proletariats gehe es um ein Einswerden von gesellschaftlicher und musikalischer Verantwortung, wozu eine direkte „Kampfstellung“ erforderlich sei und sich der Komponist immer der positiven, aufbauenden und begeisternden Wirkung seiner Musik bewusst sein müsse.71 Als weiteres Merkmal nennt er die Volksverbundenheit, da nach Lenin die Kunst ihre Wurzeln im Volke haben müsse und von ihm verstanden und geliebt werden solle. Inhaltlich sei das durch die Bindung an die aktuellen Aufgaben der gesellschaftlichen Entwicklung des Sozialismus bestimmt. Wichtig sei hier die Ausbildung des Melodischen, das Vermeiden von kitschig-sentimentaler verlogener Romantik, des pompös-aufgedonnerten Stils einer schlimmen Vergangenheit, der Pseudofolklore 67
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71
Vgl. Forschungsbericht Kap. 2.1.2, sowie u. a.: Socialist Realism and Music, Kongressbericht Brno 2001, hrsg. v. Mikuláš Bek, = Musikwissenschaftliche Kolloquien der internationalen Musikfestspiele Brno 36, Prag 2004. Andrej Shdanov, Rede auf dem I. Unionskongreß der Sowjetschriftsteller, in: ders., Über Kunst und Wissenschaft, Berlin 1951, S. 9. Vgl. Andreas Trampe, Kultur und Medien, in: Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, 1997, S. 305f. Vgl. Siegmund-Schultze, Theorie und Methode des sozialistischen Realismus in der Musik, in: Bimberg (Hrsg.), Handbuch der Musikästhetik, 1979. Ebda., S. 157.
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oder religiöser Assoziationen. Dabei müsse man nicht ständig Volksliedintonationen benutzen, diese sollten aber als Vorbild immer erkennbar sein. Zur Verständlichkeit, die ein wichtiger Aspekt der Volksverbundenheit sei, sollten überschaubare Formen und eine klare, unmissverständliche Sprache, die gelernt und verstanden werden kann, beitragen. Entscheidend sei außerdem eine enge Beziehung des Kunstwerks und des Künstlers zur Wirklichkeit: „Natürlich kann es offene Formen, komplizierte Formkombinationen geben; auch im Leben gibt es so etwas, und der schöpferischen Phantasie sind auf dem Boden einer realistischen Einschätzung der Wirklichkeit keine Grenzen gesetzt.“72 Zum dritten müsse sich die Musik des Sozialistischen Realismus an der Maßgabe der ‚Weite und Vielfalt‘ orientieren.73 Siegmund-Schultze formuliert: „Für die Musik heißt das: Mannigfaltigkeit der individuellen Handschrift, Anwendung aller Möglichkeiten der Formen und Gattungen, der musikalischen Techniken und der Verbindung zwischen den Künsten, stets unter Beachtung der Hauptkriterien der sozialistischen Kunst, der sozialistischen Parteilichkeit, der Volksverbundenheit und der Verständlichkeit der Aussage.“74
Viertens seien der sozialistische Ideengehalt und die künstlerische Meisterschaft wichtige Komponenten des Sozialistischen Realismus, also das Vorhandensein einer parteilichen ideelichen Konzeption und die qualitätsvolle künstlerische Meisterung derselben. Der Ideengehalt solle die sozialistische Aktivität mobilisieren und zugleich die Schönheit der Kunst und das spezifisch Musikalische erfassen. Wichtig sei eine gezielte, reich gegliederte Konzeption, die den Konventionscharakter der überlieferten Formen und Gattungen nicht durchbrechen will, sondern sich seiner bediene.75 Und fünftens betont Siegmund-Schultze die Dialektik von Tradition und Neuerertum. Der sozialistische Realismus solle ein positives und aktives Verhältnis zum künstlerischen Erbe haben und die Traditionen kontinuierlich weiterführen. Nur durch den Kampf gegen den spätbürgerlichen Modernismus und damit durch die Besinnung auf humanistische Traditionen seien die breiten Massen erreichbar. Siegmund-Schultze möchte den fruchtbaren und dialektischen Umgang mit den Traditionen „als ständige Verpflichtung die großen Vorbilder vor Augen und im Ohre zu haben, ihnen jeweils den neuen Inhalt, die neue Zielsetzung selbstverständlich zuordnend, gleichzeitig neue Formen und Gestaltungsmethoden entwickelnd“76 verstanden wissen. „Die Forderung, ständig etwas Niedagewesenes zu produzieren und dem Publikum vorzusetzen, überfordert den Hörer und macht ihn unempfindlich gegenüber wirklichem Fortschritt in Inhalt und Form und widerspricht den letzten Endes korrespondierenden Gesetzen des Lebens und der Kunst.“77 72 73 74 75 76 77
Ebda., S. 176. Zur Prägung des Begriffes vgl. Kap. 3.2.1. Siegmund-Schultze, Theorie und Methode des sozialistischen Realismus, 1979, S. 158. Ebda., S. 159. Ebda., S. 160. Ebda.
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Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre
In seiner Ablehnung und Abwertung des „Niedagewesenen“ zielt Siegmund-Schultze auf das so genannte ‚Experimentieren‘, das offiziell bis in die achtziger Jahre als für Kammermusik charakteristisch angesehen wurde. An der Ästhetik des Sozialistischen Realismus gemessen zu werden, bedeutete also besonders für die Komponisten kammermusikalischer Stücke eine deutliche Eingrenzung ihrer künstlerischen Freiheit. Diese sollten sie Siegmund-Schultze zufolge in einem Akt ‚bewusster Beschränkung‘78 auf der Grundlage einer breiten Ausdruckspalette, die ihnen zur Verfügung stünde, sogar selbst leisten, denn nur die spätbürgerliche Musikkultur kehre sich bewusst von der Tradition ab. Der neue Realismus solle nun die Positionen des sozialistischen Humanismus beziehen und in den musikalischen Strukturen gewisse Parameter der großen musikalischen Vergangenheit verwenden. Kein Stück als solches sei Sozialistischer Realismus, sondern immer seien die Haltung des Komponisten und die verwendete Kompositionsmethode Voraussetzung dafür.79 Weiter stellt er fest, dass es keine vollkommene Unabhängigkeit zwischen sozialistischem Realismus und verschiedenen Kompositionstechniken gebe.80 Am Ende seiner Ausführungen werden aber auch schon kritische Aspekte deutlich, so zum Beispiel die Frage, ob Aspekte des Sozialistischen Realismus direkt in der Musik hörbar gemacht werden könnten, oder sehr direkter Assoziationen und Hinweise bedürften. Weiterhin stellt sich nach Siegmund-Schultze die Frage, ob sich in diesem Kontext neue Mittel entwickeln. Er stellt fest, dass die dargelegten Thesen bisher nur selten empirisch verifizierbar und Realismus eher als Qualitätsbegriff aufzufassen sei. Eine Arbeitsgruppe mit dem Titel Die Bedeutung der Theorie des sozialistischen Realismus für das musikalische Schaffen in der DDR hatte sich jedoch 1972 auf der Friedrichshagener Sitzung zum II. Musikkongress bereits mit Problemen der Theorie des Sozialistischen Realismus und kritischen Aspekten beschäftigt. So heißt es dort: „Es gibt einen offensichtlichen Widerspruch zwischen der konkreten Differenziertheit der Stile und Handschriften einerseits und dem Streben der Theorie, den sozialistischen Realismus als Schaffensmethode zu bestimmen und ihn auf diesem Wege in normative Vorstellungen von Kompositionstechnik dieser oder jener Art zu übersetzen.“81
Weiterhin wurde festgestellt, die Tendenz, den Sozialistischen Realismus auf eine Schaffensmethode zu reduzieren, sei falsch. Wichtig sei stattdessen die Unterscheidung zwischen klassischem Realismus und sozialistischem Realismus, wobei beide eine dialektische Einheit bilden. Hier wird Sozialistischer Realismus umfassend als „... eine sich (not78 79 80 81
Ebda. Ebda., S. 161. Ebda., S. 164. Friedrichshagener Sitzung zum II. Musikkongreß, Archiv der Akademie der Künste Berlin (AdK), Archiv des Verbandes der Komponisten und Musikwissenschaftler der DDR (VKM), Mappe 59, Komplex 4: Die Bedeutung der Theorie des sozialistischen Realismus für das musikalische Schaffen in der DDR, S. 1.
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wendigerweise) stets verändernde Beziehungsqualität von Musik und Gesellschaft, eine mehrstellige dialektische Beziehung von Musikproduktion, Musikleben, Musikrezeption usw. in seiner besonderen sozialistischen Qualität, die dynamisch zu verstehen ist“82 beschrieben. Als Voraussetzung für die Weiterentwicklung der Theorie des Sozialistischen Realismus wird eine gründliche Klärung offener Fragen zur Widerspiegelungstheorie gefordert.83 Diese allgemeine Definition des Sozialistischen Realismus zeigt die Auflösung eines ohnehin für die Musik nie eindeutig und anwendbar konkretisierten Postulats. Auch der spätere Versuch, die Theorie des Sozialistischen Realismus im Zuge der Forderungen nach einer Neuen Einfachheit Anfang der 1980er Jahre wieder zu beleben, war zum Scheitern verurteilt.84 3.2.2.3
Die heutige Sicht der Komponisten auf ihr Verhältnis zum Sozialistischen Realismus
Teilweise im Kontrast zu den offiziellen Verlautbarungen zum Sozialistischen Realismus und zu den von den Ideologen davon abgeleiteten Forderungen an die Künstler stehen deren Aussagen zu ihrem damaligen Umgang mit dem Dogma des Sozialistischen Realismus und ihren Erfahrungen in den Diskussionen mit den Theoretikern. Die Stellung der einzelnen Komponisten in diesen Debatten ist sehr von seinem jeweiligen Alter und seiner Situation im kulturpolitischen Gefüge in der DDR allgemein abhängig. So sind junge Komponisten, die in den 80er Jahren erst ihre Laufbahn begannen oder vielleicht sogar noch studierten, nur noch wenig mit Forderungen bezüglich des Sozialistischen Realismus konfrontiert worden. Ältere Komponisten, noch dazu wenn sie sich noch keine Position als Professor oder Meister an der Akademie der Künste erarbeiten konnten, waren weit mehr gezwungen, sich mit der Ästhetik des Sozialistischen Realismus auseinanderzusetzen und auf die Verlautbarungen der Theoretiker zu reagieren oder zumindest, wie viele Komponisten dies beschreiben, im Exposé zu Anträgen für Auftragswerke entsprechende Absichten zu formulieren. Inwieweit diese dann für die eigentliche Komposition wirklich bindend bleiben mussten, hing von der Phantasie und dem Durchsetzungsvermögen des Komponisten ab, außerdem von den Personen, die die jeweiligen Entscheidungen zu treffen hatten, und sehr viel auch davon, ob es sich um Instrumentalmusik oder Musik mit Texten handelte. Letztere war für die Verantwortlichen augenscheinlich leichter zu zensieren als reine Instrumentalmusik. Bei Instrumentalmusik zeigte sich besonders, dass den Verantwortlichen in den entsprechenden Kulturabteilungen meist die Kriterien für eine Bewertung fehlten, die ihnen auch
82 83 84
Ebda., S. 2. Ebda., S. 4. Vgl. Kap. 3.3.1 bzw. 3.3.2.
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von Seiten der sich mit dem Sozialistischen Realismus beschäftigenden Musikwissenschaft nicht geboten werden konnten. Beispiele für den Umgang junger Komponisten in den 1980er Jahren mit dem Thema „Sozialistischer Realismus“ finden sich in den Gesprächen mit Bernd Franke, Lutz Glandien und Casper René Hirschfeld. In Bernd Frankes Studium in Leipzig etwa hat der Sozialistische Realismus keine Rolle mehr gespielt. Dies hing zu großen Teilen mit der besonderen Persönlichkeit seines Lehrers, des Anthroposophen Siegfried Thiele, zusammen. Auch im Komponistenverband seien Debatten über den Sozialistischen Realismus zweitrangig gewesen, dort standen praktische Fragen im Vordergrund.85 Auch Lutz Glandien hat bei seinem Studium an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin keine Auseinandersetzungen mit dem Sozialistischen Realismus mehr erfahren. Er ergänzte aber, dass es im Komponistenverband sicherlich hart gesottene Genossen gegeben habe, für die dieses Postulat noch Bestand hatte. Es habe immer einen bestimmten Satz an parteifreundlichen Werken gegeben, Glandien nennt sie „Stücke mit goldigen Sonnentiteln“. Weiterhin meint er, der sozialistische Realismus sei „reingedrängt“ worden, konnte sich aber weder beim Publikum noch bei den Künstlern durchsetzen.86 Ebenso waren für René Hirschfeld die ästhetischen Diskussionen im Studium vorbei. Die Diskussionen im Komponistenverband seien eher ästhetischer Art gewesen und drehten sich nicht um Sozialistischen Realismus und andere ideologische Fragen, berichtete er. Hirschfeld hält dies auch für eine Qualität des Dresdner Verbandes, der von hochkarätigen Leuten geprägt gewesen sei. Er konstatiert zwar, dass er von politischen, pseudoästhetischen Diskussionen größtenteils verschont geblieben sei, es sei ihm aber regelmäßig vorgeworfen worden, zu viele bürgerliche Dichter zu vertonen und zu wenig auf gesellschaftlich relevante Themen einzugehen.87 Dies macht deutlich, dass unterschwellig durchaus Aspekte des Sozialistischen Realismus weiterhin zur Begutachtung von Werken herangezogen wurden, auch wenn die gesamte Ästhetik dieser Theorie keine Rolle mehr spielte. Die Komponisten der mittleren, der so genannten Avantgarde-Generation hatten sich längst von Kriterien des Sozialistischen Realismus emanzipiert. Sie spielten in ihren Überlegungen und besonders in ihrem Schaffen kaum noch eine Rolle. Friedrich Goldmann nimmt für sich in Anspruch, die ästhetischen Diskussionen nicht ernst genommen zu haben, für ihn war Adorno der wichtigste Theoretiker, dann sei eine ganze Weile nichts gekommen. Außerdem habe sowieso niemand gewusst, was man beim Sozialistischen Realismus in der Musik überhaupt machen solle. Goldmann ist der Meinung, dass das Kriterium eines Sozialistischen Realismus auch bei Festivals wie den DDR-Musiktagen keine Rolle gespielt habe, dort sei es einfach um Stilkriterien gegangen. Die DDR sei bis zu ihrem Ende immer konservativ-traditionalistisch und der so85 86 87
Gespräch der Autorin mit Bernd Franke in Leipzig am 21.10.1999. Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit René Hirschfeld in Berlin am 28.2.2000.
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zialistische Realismus nur eine Verbrämung gewesen. Weiterhin habe es immer Bestrebungen gegeben, den Sozialistischen Realismus nicht mehr als solch ein Stilkriterium anzusehen.88 Georg Katzer berichtete von einer heimlichen Einführung in Zwölftontechnik während des Studiums sowie über Formalismus-Debatten. Die Doktrin des Sozialistischen Realismus sei für ihn unwichtig geworden.89 Christian Münch beschrieb den Sozialistischen Realismus als für sich völlig belanglos. Er habe sich von Anfang an mit der Avantgarde beschäftigen können, so auch während seines Studiums bei Wilfried Krätzschmar und anderen an der Dresdner Musikhochschule.90 Gerhard Rosenfeld antwortete, dass er sich nicht für ästhetische Diskussionen interessiert und er sich von den Sitzungen ferngehalten habe, weil er sie sinnlos fand.91 Eine andere Gruppe von Komponisten setzte sich zwar mit den Debatten zum Sozialistischen Realismus auseinander, versuchte sie in ihrem Werk aber zu umgehen. So hatte Walter Thomas Heyn im Studium an der Leipziger Musikhochschule unter anderen bei Siegfried Thiele nach seiner Aussage nur wenige Berührungen mit der Diskussion um den Sozialistischen Realismus, umso mehr aber im Komponistenverband, wobei Heyn vor allem die Bezirksverbände als sehr mächtig beschreibt. Er führte weiter aus, Fritz Geißler habe seiner Meinung nach den Sozialistischen Realismus für die Musik umgesetzt und dies Neue Einfachheit genannt. Dies habe bei Geißler geheißen: weg von kompliziertem zwölftönigem oder seriellem Denken, hin zum Dreiklang, Dur habe für schön gestanden, Moll für böse, alles sollte überschaubar gestaltet sein. Diese Theorie habe Heyn immer gut gefallen, besonders weil Theater, das ihn ja besonders interessierte, eine komplementäre Kunst sei und kein autonomes Kunstwerk. Allerdings habe ihn immer gestört, dass zu dieser Theorie immer die „falsche“ Musik erklang, „eine Art Lehar mit ein paar falschen Baßtönen“. Andere Komponisten und deren Ästhetik bewertet Heyn genau entgegengesetzt, er nennt zum Beispiel Friedrich Goldmann. Hier habe er die Musik spannend gefunden und die Theorie „unerträglich“.92 Weiterhin merkte Heyn an, dass ästhetische Postulate nur dann eine Rolle spielten, wenn man vom Staat etwas wollte, wie etwa Geld oder Aufträge, dann musste man im Konzept etwas Entsprechendes schreiben. Dies habe aber für die Ausführung meist schon keine Rolle mehr gespielt, und man konnte Kunst machen, wie man wollte. Nur für die Staatstheater stimme das so nicht, die seien „systemtreu bis zum letzten Tag“ gewesen.93 88 89 90 91 92 93
Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Christian Münch in Dresden am 8.10.1999. Gespräch der Autorin mit Gerhard Rosenfeld in Potsdam-Rehbrücke am 1.3.2000. Zur Diskussion um die Zementierung der Avantgarde vgl. Kap. 3.3.2. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. Hier ergänzte Heyn: „Interessanterweise wurde Ende der 80iger Jahre in Erfurt die Oper Der Preis von Karl Ottomar Treibmann uraufgeführt, die diese ganze Diskussion auf die Spitze trieb. In der Partitur war tonale Musik jeglicher Art dem ‚gesellschaftlich veraltetem Verhalten (der Bühnenrollen)‘ zugeordnet, ‚Neue Musik‘ hingehen dem fortschrittlichen
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Ralf Hoyer bestätigte, sich mit ästhetischen Diskussionen auseinandergesetzt zu haben und meinte, er habe sich dazu verpflichtet gefühlt und sei auch daran interessiert gewesen, „das mit seiner Kunst zusammenzukriegen und sich ein Feld zu schaffen, wo er seine Kunst machen konnte“. Auch Hoyer berichtete ähnlich wie Heyn, dass man für ein Exposé, um aufgeführt zu werden eine Argumentation habe finden müssen, die einen Funktionär überzeugte, das endgültige Ergebnis konnte dann vollkommen anders aussehen.94 Hans-Friedrich Ihme reklamierte für sich eine humorvolle Distanz zu den ästhetischen Diskussionen, glaubte aber gleichzeitig, dass für Bewertungen im Komponistenverband zuerst ideologische Dinge eine Rolle gespielt hätten: „am Anfang war das Wort“. Trotzdem waren viele der eingereichten Werke seiner Meinung nach auch von hohem handwerklichen Stellenwert, da sie, wie er meinte, beiden Prämissen genügen sollten, der Ideologie und dem Handwerk.95 Auch für Helge Jung spielten die Postulate nur insofern eine Rolle, als sie bei Abnahme der Werke von den Auftrag gebenden Stellen oder bei Besprechungen im Komponistenverband angelegt wurden.96 Günter Neubert stellte fest, dass die von ihm als „unselig“ bezeichnete Diskussion über den Sozialistischen Realismus am Ende der 1970er Jahre endlich aufhörte und die Beschäftigung mit Serialität und Zwölftontechnik, aber auch mit amerikanischen Entwicklungen wie John Cage nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand möglich wurde. Allerdings hält er dies auch einfach für ein kleines Ventil, das nötig war, weil die Abriegelung nicht gänzlich gelang. Auch Neubert hielt fest, dass man bei Musik ohne Text „fein raus“ war.97 Für Peter Freiheit war Sozialistischer Realismus ein erfundener Begriff. Freiheit spielt mit dem Begriff Realismus, wenn er behauptet, früher habe es einen katholischen Realismus und jetzt [nach der Wende, K. S.] einen kapitalistischen Realismus gegeben. Für ihn waren dies völlig willkürliche Bezeichnungen für eine sich dem jeweiligen Herrschaftssystem unterwerfende Kunstideologie.98 Kurt Dietmar Richter bezeichnete die Formalismus-Diskussion als „echt albern“, er fand dagegen am Bitterfelder Weg jedenfalls anfangs Gefallen, da dieser die Möglichkeit eröffnete, Leute für Neue Musik zu interessieren. Der sozialistische Realismus habe die „gleichen Wurzeln“ und mit ihm sei die Absicht verfolgt worden, Probleme der Men-
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Denken. Auf diese Weise sollte das Publikum, dem naturgemäß die ‚veraltete‘ Musik besser gefiel, aufgerufen werden, über Vorurteile und Klischees nachzudenken. Die ganze Diskussion ist mit dem Abstand von 30 Jahren nur zu verstehen als Konkurrenzenzverhalten der DDR-Komponisten und (vor allem) Musikwissenschaftler bei gleichzeitig tief eingewurzeltem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den ‚scharfen‘ Materialdiskussionen der an Darmstadt und Donaueschingen geschulten westdeutschen Musikwissenschaftler und Komponisten.“ Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Hans-Friedrich Ihme in Berlin am 28.2.2000. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999. Gespräch der Autorin mit Günter Neubert in Leipzig am 30.10.1999. Gespräch der Autorin mit Peter Freiheit in Halle (Saale) am 30.8.1999.
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schen auf der Bühne zu zeigen, es sei ein dehnbarer Begriff gewesen, der missbraucht worden sei. Die Idee sei seiner Meinung nach nicht schlecht gewesen, weil sie für die Sorgen und Nöte der Menschen Lösungen anbieten wollte, sonst sei aber alles Schablone gewesen.99 Karl Ottomar Treibmann antwortete auf die Frage nach dem Sozialistischen Realismus, dass auch er nicht sagen könne, was das sei. Er habe damals auf die Frage immer nur so viel gesagt, dass wir hier im realen Sozialismus leben und also auch hier im realen Sozialismus unsere Musik komponieren. Wenn er das gesagt habe, sei er zweifelnd angeschaut worden.100 Lothar Voigtländer beschrieb hauptsächlich den Versuch einiger Komponisten wie Fritz Geißler und Siegfried Köhler, Anfang der 1980er Jahre die Doktrin des Sozialistischen Realismus unter dem Signet einer post-modernen Neuen Einfachheit wieder aufleben zu lassen. „Sie stellten sich gegen die gerade gewachsene frische Avantgarde“ und fragten, was „dieses Nachäffen des Westens und dieses avantgardistische Getue“ denn brächten. Gleichzeitig überraschte Voigtländer mit der Aussage, dass er empfunden habe, man wolle mit der Anerkennung der Goldmann-Generation in der Nachfolge Eisler, Dessau nun eine neue, einengende Ästhetik etablieren, wo doch international die Zeit der „Schulenbildung“ in der Neuen Musik längst vorüber gewesen sei und zahlreiche Personalstile eigentlich bis heute ganz individuelle Lösungsansätze hervorgebracht hätten.101 Johannes Wallmann hatte die Ideen des Sozialistischen Realismus aus seiner heutigen Sicht nie für relevant für das Musikdenken gehalten, sich nie darauf eingelassen und war auch nicht bereit, sich damit zu befassen. Andererseits sei Realismus in der Musik für ihn durchaus ein Thema, das aber nicht ideologisch gefärbt sein dürfe. Wallmann sieht Musik als „Intelligenzkommunikator im integralen Sinn“ und nicht als „Ideologievermittlungsanstalt“. Er habe sich auch weder gegen noch für den Sozialistischen Realismus positioniert. Wenn etwas zu besprechen gewesen sei, und es habe ja verschiedene Artikel in Musik und Gesellschaft gegeben, dann habe er seine Position klar und positiv formuliert, was schon mehr als genug gewesen sei. Er sei manchmal erstaunt gewesen, dass es veröffentlicht wurde.102 Hans-Jürgen Wenzel äußerte hinsichtlich des Sozialistischen Realismus, dass die Begriffe von Theoretikern aufgestellt worden seien und diese Leute schon so vertrocknet ausgesehen hätten.103 Zusammenfassend ist eine durchaus vielfältige Sicht der Komponisten vom heutigen Standpunkt aus auf die Theorie des Sozialistischen Realismus zu verzeichnen. Deutlich wird auch, dass zumindest die hier untersuchten Komponisten, die die mehr oder weni-
99 100 101
102 103
Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. vgl. Ausführungen zur Avantgarde-Zementierung Kap. 3.3.2. Gespräch der Autorin mit Johannes Wallmann in Berlin am 26.1.2001. Gespräch der Autorin mit Hans-Jürgen Wenzel in Halle (Saale) am 13.9.1999.
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Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre
ger intensive Auseinandersetzung mit szenischen Formen eint, dieser Theorie mindestens gleichgültig, wenn nicht ablehnend oder kontrovers gegenüberstanden.
3.2.3
Die Musikkongresse und –konferenzen des Komponistenverbandes
Eine wichtige, wenn auch nicht zu überschätzende Rolle für die die Musik betreffende Kulturpolitik in der DDR spielten die vom Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler veranstalteten Musikkongresse. Verbandskongresse in etwas kleinerem Rahmen sowie thematische Tagungen des Komponistenverbandes fanden häufiger statt. Hier kann und soll keine ausführliche Darstellung und Wertung dieser Kongresse und Tagungen folgen. Vielmehr geht es um einen groben Überblick sowie eine Bestandsaufnahme der dort verbreiteten Postulate im Zusammenhang mit Themen, die für die Betrachtung der Entwicklung Szenischer Kammermusik und Kammeroper in der DDR von Belang erscheinen. Vorsicht bei der Bewertung der Wirkung dieser Musikkongresse, v. a. des Kongresses von 1972, ist allerdings geboten, sind sie doch für viele nur ein Ergebnis oder Spiegel dessen, was vorher schon auf den Weg gebracht worden war. Die äußerst differenzierten Komponistenmeinungen zu diesem Thema werden unten ausführlich dargelegt und eingeordnet.104 Auch hier sind natürlich neben dem Alter der Komponisten auch der Grad ihrer Eingebundenheit in die Verbandstrukturen, ihre berufliche Situation und ihr Wohnort zu berücksichtigen. 3.2.3.1
Der Musikkongress 1964
Das auf diesem Kongress von Siegmund-Schultze verlesene, aber von einer Autorengruppe erarbeitete Hauptreferat rekuriert auf die Diskussionen und Beschlüsse der 2. Bitterfelder Konferenz.105 Es betont die notwendige und bestehende Einheit von Politik, Ökonomie und Kultur und ebenso die Einheit von Ideologie und Kultur. Die Wirkungsmöglichkeiten der Kunst werden hier sehr hoch eingeschätzt und der Künstler deshalb auf seine hohe Verantwortung hingewiesen.106 Zur Gestalt der Kunst, in diesem Falle also der Musik, wird unter anderem ausgeführt: Form und Inhalt sollen an die gesellschaftliche Funktion eines Werkes gebunden sein.107 Die Melodie habe als wesentliches Element musikalischen Gestaltens Vorrang.108 Wichtig sei die Einheit von Inhalt und Form, von Realisierung und Rezipierbar104 105 106 107 108
Vgl. Kap. 3.3.1. AdK, VKM, Mappe 11, Musikkongress 1964, Stenographisches Protokoll, Hauptreferat, S. 10. Ebda., S. 15/15a. Ebda., S. 20a. Ebda., S. 24.
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keit. Weiterhin nennt Siegmund-Schultze Volksverbundenheit, Schönheit, Wahrheit und Parteilichkeit als Bestandteile des sozialistischen Weltbildes und gleichzeitig als Kriterien der Ästhetik des Sozialistischen Realismus.109 „Dieses Weltbild ist nach unserer Auffassung das Wesentliche; es umschließt die verschiedenen stilistischen Möglichkeiten, es duldet keinerlei Enge, keinen Ausschließlichkeitsanspruch eines individuellen künstlerischen Verfahrens. Mit den jüngsten Leistungen unserer Musikschaffenden dürfte auch der Beweis erbracht sein, daß sie mehr und mehr modernistische Einflüsse im kompositorischen Schaffen überwinden.“110 „Irgendeinen Gegensatz zwischen Partei und Verband kann es für uns nicht geben und wird es nie geben, wie es im Sozialismus und Kommunismus keinen Gegensatz zwischen Kunst und Leben gibt.“111
Im zitierten Referat wird auch die Aufforderung ausgesprochen, das Schaffen im westlichen Ausland, so beispielsweise dasjenige Luigi Nonos, mehr zur Kenntnis zu nehmen und zu analysieren.112 Fundament dieser Kenntnisnahme und Analyse soll die Einsicht sein, „daß wir eine Koexistenz zwischen marxistisch-leninistischer Ästhetik und den pseudoästhetischen Theorien der Dekadenz und Thesen antimarxistischer Richtung jedweder Prägung kategorisch ablehnen.“113 Und Siegmund-Schultze stellt in diesem Zusammenhang fest: „Die Musikgeschichte seit 1917 ist nicht die Epoche der Zwölftöner, Seriellen und Abstrakten, sondern die Epoche der Herausbildung des Sozialistischen Realismus.“114 Im Vorfeld des Kongresses wurden in Vorbereitung besonders des Hauptreferats nicht nur bestimmte Werke verschiedener Komponisten ausgewählt und im Anschluss an Vorspiele in den Bezirksverbänden und auch Betrieben diskutiert, sondern verschiedene Musikwissenschaftler verfassten auch als Grundlagen für die Referatserarbeitung Einschätzungen zu bestimmten Bereichen des Musiklebens. Ein Beispiel dafür ist das 1962 von Siegfried Köhler erstellte Papier zur Einschätzung des sinfonischen Schaffens.115 Dabei lieferte Köhler, nachdem er festgestellt hatte, dass die Gründe für das von ihm konstatierte „Zurückbleiben in der schöpferischen Entwicklung“ im „Vorherrschen spätbürgerlicher Schaffenstendenzen“ lägen und für viele Komponisten „noch immer dekadente, historisch überholte Richtsätze maßgebend“116 seien, eine umfassende Darstellung dieser spätbürgerlichen Tendenzen und der für den Sozialistischen Realismus nicht geeigneten Kompositionsweisen. Schon die von Köhler gewählten Bezeich109 110 111 112 113 114 115 116
Ebda., S. 25. Ebda. Ebda., S. 25b. Ebda., S. 26. Ebda., S. 27. Ebda., S. 30a. AdK, VKM, Mappe 856 Siegfried Köhler, Einschätzung des sinfonischen Schaffens, 6.11.1962. Ebda., S. 1.
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nungen zeigen die a priori ablehnende Haltung. Köhler nannte sechs Haupttendenzen: „neobarocke und neoklassizistische Sachlichkeit“, „motorischer und mechanischer Rhythmizismus“, „espressiver Konstruktivismus“, „Konservativismus“, „Intellektualismus“ und „Folklorismus“117, die er alle als Modeerscheinungen, als hörerfeindlich, kopfgesteuert und westlich-dekadent denunzierte und so ein Argumentationsfeld schuf, in das verschiedenste missliebige Tendenzen und Komponisten mühelos eingeordnet werden konnten. Ganz deutlich zeigt sich hier auch die Anlehnung an problematische Tendenzen des Bitterfelder Wegs, der ebenfalls geistige und künstlerische Arbeit als realitätsfremd eingestuft und eine große Nähe der Künstler zur Produktion gefordert hatte. Dieser Beitrag Köhlers war ein Bestandteil einer eher virtuellen, weil nicht konkret geführten und sich über den ganzen Kongress verteilenden Diskussion über die zur Verfügung stehenden und zu benutzenden Kompositionstechniken. In einem Diskussionsbeitrag meldete sich auch der junge Komponist Siegfried Matthus zu Wort, der hier schon eine Erweiterung des „zulässigen“ Kompositionsmaterials fordert, indem er eine Verbrauchtheit des tonalen Materials konstatiert und sich gegen die Überbetonung der Tonalität wendet: „Aber gerade deshalb stimme ich der oft angezweifelten These von der Verbrauchtheit des musikalischen Materials zu. Es ist doch so, daß häufig Werke,[sic]118 trotz bester Absicht und tiefster Empfindung epigonal und akademisch erscheinen. In der glücklichen Einheit tonaler und tonal nicht deutbarer Stellen in den besten musikalischen Werken sehe ich eine neue Qualität.“119
Matthus stellt weiter fest, dass seines Erachtens neues Material inhaltlich neutral sei120, gleichzeitig aber der weltanschauliche Standpunkt des jeweiligen Komponisten entscheidend sei. Weiter kritisiert er den Umgang mit neuer Musik und mahnt einen vorsichtigeren Umgang mit Begriffen wie Dekadenz, spätbürgerliche Moderne oder Abstraktionismus an. An der Praxis des Sozialistischen Realismus kritisiert er, dass sie um vieles ärmer sei als die Theorie und damit eine Gefahr der Schaffung von Schablonen und künstlerischer Einengung gegeben sei.121 Wie bei solchen Äußerungen üblich, fand kein wirklicher Meinungsaustausch statt. Die Aneinanderreihung von vorbereiteten kürzeren Beiträgen wurde als Diskussion bezeichnet. Die Debatte um die Neutralität der Mittel war auch 1964 eines der großen Themen, zog sich wie ein roter Faden durch die Vorträge und Diskussionsbeiträge des Kongresses und kann doch als eine Art intertextueller Diskurs aufgezeigt werden, obwohl es keine explizite Auseinandersetzung gab. So bestand die Arbeit des Kongresses nicht nur 117 118
119 120 121
Ebda., S. 2f. Die Tatsache, dass es sich hier um ein stenographisches Protokoll handelt, erklärt die z. T. etwas willkürliche Kommasetzung in diesem und ähnlichen Zitaten, die im Folgenden nicht gesondert gekennzeichnet wird. AdK, VKM, Mappe 11, Musikkongreß 1964, stenographisches Protokoll, Plenum 1. Tag, S. 88. Ebda., S. 89. Ebda., S. 89–94a.
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aus dem Anhören von Vorträgen im Plenum, sondern es wurden auch Arbeitsgruppen gebildet, so die Arbeitsgruppe 1 mit dem Titel Die Gestaltung der sozialistischen Gegenwartsthematik in unserem neuen Schaffen. In den Thesen dieser Arbeitsgruppe heißt es: „Die sozialistisch-realistischen Komponisten haben bewußt, und in adäquatem Ausdruck unserer sozialistischen Thematik, das tonale Bezugssystem nicht preisgegeben, ohne sich darum mit Notwendigkeit, jederzeit und in jedem Genre innerhalb der Grenzen der Funktionalität zu bewegen. Nur sie verfügen über eine große Weite des Gestaltungsbogens, indem sie das historisch Gewordene aufnehmen, schöpferisch verwandeln und um neue Ausdrucksmöglichkeiten bereichern. Stets sind die gesellschaftliche Position, das Weltbild des Komponisten und die sich daraus ergebenden schöpferischen Ziele und Aufgaben entscheidend für die Auswahl und Weiterentwicklung geeigneter Ausdrucksmittel aus den jeweils gegebenen Möglichkeiten. So finden wir in unserer sozialistischen Kunst – nach Gattung und Thematik verschieden – eine breite Skala musikalischer Ausdruckswerte von der einfachen bis zur erweiterten Tonalität.“122
Diese gewundene Ausdrucksweise ist augenscheinlich der Tatsache geschuldet, dass auch 1964 mitnichten sich alle Komponisten innerhalb einer, wenn auch erweiterten, Tonalität bewegten, Gegenbeispiele finden sich im Schaffen von Paul Dessau, Heinz Röttger, Gerhard Wohlgemuth und anderen. Gleichzeitig wird aber auch die Möglichkeit der Wahl anderer als tonaler Mittel indirekt offen gelassen und als abhängig vom politischen Standpunkt des jeweiligen Komponisten betrachtet. Walter Siegmund-Schultze äußert sich zur Frage nach der Neutralität der Mittel, hier besonders zu Dodekaphonie und Serialität, zuerst scheinbar liberaler, nimmt dann aber seine allgemeine Ansicht im obigen Sinne ebenfalls zurück: „Wir sollten besser umgekehrt sagen: In der Musik ist jedes Mittel, jede Technik erlaubt, die ihrer progressiven, humanisierenden Wirkung und Funktion entspricht. Und da besteht kein Zweifel, daß die genannten Techniken (oder Methoden) dafür im allgemeinen sehr ungeeignet sind, sofern sie nicht in aller Klarheit einem neuen Weltbild, einer neuen Schaffensmethode dienstbar gemacht werden.“123
Siegmund-Schultze begründet seine Forderung nach der Unterordnung der zu wählenden Kompositionstechnik unter das geltende Weltbild vor allem damit, dass die Musik wie jede Kunst auch eine erzieherische Funktion habe, die sie nur erfüllen könne, indem sie an Bekanntes anknüpfe und führt als positives Beispiel Hanns Eisler an.124 Im Prinzip war auf dem I. Musikkongress schon angelegt, was auf dem II. Musikkongress 1972 mit den Verlautbarungen des VIII. Parteitages der SED im Rücken
122 123 124
AdK, VKM, Mappe 18, Musikkongreß 1964. Thesen der Arbeitsgruppen, S. 9. AdK, VKM, Mappe 25, Musikkongreß 1964, Diskussionsbeitrag W. Siegmund-Schultze, S. 2. Ebda., S. 3.
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als allgemeine Direktive herausgegeben wird: die Weite und Vielfalt der Möglichkeiten auf der Basis des Sozialistischen Realismus. Am Verhältnis der Aussagen der beiden Musikkongresse 1964 und 1972 wird ein spezifischer Aspekt aller Politik und Kulturpolitik der DDR deutlich: Es brauchte jeweils Personen, die diese Aussagen aufgenommen, für sich ernst genommen und umgesetzt haben. Auf dem I. Musikkongress fehlten diese Personen aber und traten erst nach dem II. Musikkongress publikumswirksamer und auch in der Kulturpolitik stärker in Erscheinung. Erst dann fasste die kulturpolitische Öffnung auch Tritt, wohingegen nach dem I. Musikkongress nur wenige Komponisten diese Lizenz für ‚Weite und Vielfalt‘ für sich in Anspruch nahmen. Hier können für die zweite Hälfte der 1960er Jahre auch Friedrich Schenker, Friedrich Goldmann und Karl Ottomar Treibmann stellvertretend für die noch recht im Verborgenen aufkeimende Avantgarde genannt werden, die durch den II. Musikkongress, den VIII. Parteitag und die allgemein günstige politische Situation Anfang der 1970er Jahre stark befördert wurde. 3.2.3.2
Der II. Musikkongress 1972
Auf dem II. Musikkongress wurden erste vorsichtige Modifizierungen der verhärteten Auffassungen vom Sozialistischen Realismus und anderer Ansichten der so genannten marxistischen Musikwissenschaft diskutiert. Dieser Kongress hat zum Aufblühen von Vielfalt in der Musikszene der DDR beigetragen, wenn man auch seine Wirkung nicht überschätzen sollte, denn viele avancierte Komponisten hatten sich vorher bereits von überkommenen Postulaten gelöst bzw. sie nie als für sich verbindlich angesehen.125 Die mit dem Kongress eingeläutete offizielle Lockerung sollte aber nur von kurzer Dauer sein und spätestens 1976 mit den Ereignissen um die Ausbürgerung Biermanns ihr frühzeitiges Ende finden. Doch nicht alle der überlebten Auffassungen und Vorgehensweisen waren reinstallierbar, es hatten sich einige Erleichterungen nachhaltig durchgesetzt. Formen wie die verschiedenen Ausprägungen der Szenischen Kammermusik etwa, die im Westen in teils avancierteren Varianten schon seit ungefähr 15 Jahren verbreitet waren, konnten seitdem auch in der DDR Fuß fassen. Der II. Musikkongress bezog sich zunächst auf die auf dem VIII. Parteitag der SED von Erich Honecker gemachten Aussagen zu ‚Weite und Vielfalt‘ in der Kunst.126 Auch kritische Stimmen kamen auf diesem II. Musikkongress zu Wort. Allerdings war trotz allem ein Festhalten an den eingeübten und immer wiederholten Formeln deutlich. Das Hauptreferat mit dem Titel Der Beitrag der Musik zur Bereicherung der Persönlichkeit in unserer sozialistischen Gesellschaft hielt Wolfgang Lesser, damals 1. Sekretär des Verban-
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Vgl. die Meinungen der Komponisten zum Sozialistischen Realismus, Kap. 3.2.2.3. Vgl. Kap. 3.2.1.
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des.127 Aus den Unterlagen des Komponistenverbandes im Archiv der Akademie der Künste geht hervor, wer welchen Teil des Hauptreferates verantwortet und verfasst hat. Die Beziehungen zwischen dem II. Musikkongress und dem VIII. Parteitag der SED 1971 sowie dem 6. Plenum des ZK der SED bearbeitete Ursula Apel. Den Abschnitt zum Musikschaffen und seinen Hauptentwicklungslinien steuerte Heinz Alfred Brockhaus bei, für das Thema Erbe war Konrad Niemann zuständig. Mit dem „schöpferischen Verhältnis“ zwischen Musik und Werktätigen beschäftigte sich Horst Domagalla. Wolfgang Lesser selbst verfasste den Abschnitt über Jugend und Musik, Werner Rackwitz jenen zu Musikwissenschaft und Musikkritik sowie Hansjürgen Schaefer Überlegungen zur sozialistischen Musikkultur.128 Wolfgang Lesser dankt am Anfang des Referats Erich Honecker dafür, dass er auf dem VIII. Parteitag der SED eine „neue Phase schöpferischer Arbeit“129 ausgelöst habe. Die Musik sei wichtig für den „Prozeß der Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeiten“130, so Lesser weiter und stellt fest, dass die Kluft zwischen Kunst und Volk weitgehend überwunden sei.131 Die Überwindung dieser Kluft war eins der Ziele des Bitterfelder Weges, der allerdings Anfang der 1970er Jahre nur noch eine geringe Bedeutung bei der Bestimmung der Funktion von Kunst hatte, in seinen Hauptideen aber keine Rolle mehr spielte. Lesser spricht außerdem von der Dialektik individueller Bedürfnisse und gesellschaftlicher Erfordernisse im Schaffensprozess und stellt fest, dass nicht allein der Einsatz noch nie benutzter Mittel Neuerertum bedeuten könne.132 Lesser stellt die Frage nach den dialektischen Beziehungen zwischen dem Widerspiegelungsprozess und dem konzeptionell-dramaturgischen Gestalten. Er kritisiert die bisherige Einengung der Widerspiegelungstheorie in der Musik auf Stoffliches und fordert, den Adressaten immer mit einzubeziehen.133 Dabei gesteht er der produktiven Phantasie des Künstlers zu, eine eigene Wirklichkeit des Musikwerks zu schaffen, diese müsse aber in Beziehung zur Realität stehen. Es sei kein Kompromiss zwischen „unserem sozialistischen Neuerertum und dem spätbürgerlichen Modernismus“134 möglich. Keine Technik sei a priori Ausdruck des Modernismus, sondern die Art der Verwendung dieser Technik im Kontext eines auf einer bestimmten Einstellung des Komponisten beruhenden Werkes sei entscheidend. Lesser konstatiert einen „Widerspruch zwischen der konkreten Differenziertheit der Stile und Handschriften einerseits und der von einigen Theoretikern
127
128 129
130 131 132 133 134
AdK, VKM, Mappe 61, II. Musikkongress, Hauptreferat Wolfgang Lesser, Der Beitrag der Musik zur Bereicherung der Persönlichkeit in unserer sozialistischen Gesellschaft (gedruckte Fassung). AdK, VKM, Mappe 61, II. Musikkongress, Gliederung für Hauptreferat (2. Entwurf) 1.11.1972. AdK, VKM, Mappe 61, II. Musikkongress, Hauptreferat Wolfgang Lesser, Der Beitrag der Musik zur Bereicherung der Persönlichkeit in unserer sozialistischen Gesellschaft (gedruckte Fassung), S. 3. Ebda., S. 5. Ebda., S. 6. Ebda., S. 8f. Ebda., S. 11f. Ebda., S. 13.
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angestrebten zu engen Definition des sozialistischen Realismus als Schaffensmethode andererseits“135. Der Unterschied zwischen den Aussagen auf dem I. Musikkongress 1964 und diesen Aussagen acht Jahre später scheint im ersten Moment nicht gravierend, sondern nur graduell zu sein. Dort wurde festgestellt, man könne, basierend auf einem festen Sozialistischen Standpunkt die erweiterte Tonalität in gut begründeten Einzelfällen verlassen. Hier nun wird konstatiert, dass jede Technik prinzipiell zulässig sei, aber der richtige Standpunkt eingenommen werden müsse. Gleichzeitig hatten Lesser, bzw. die Autoren des Referats, die bereits existierende Differenziertheit der Techniken und Stile zur Kenntnis genommen und versuchten nun, die Theorie des Sozialistischen Realismus entsprechend anzupassen. Dieses Lavieren ist bereits hier typisch für die Kulturpolitik der DDR und wird sich spätestens in der 1980er Jahren zu einer „Kulturpolitik“ entwickeln, die fast ausschließlich aus leeren Worthülsen besteht, deren Inhalte längst überholt sind, die aber nicht fallen gelassen werden können, weil an ihre Stelle auch keine neue Theorie treten kann, da diese nicht existiert. Lesser fährt sodann damit fort, die Kongressteilnehmer aufzurufen, eine neue, aufgeschlossene Haltung zum Experiment auszuprägen: „Wir fordern von unserer neuen Musik, daß sie die Sensibilität des Hörers ausbilden helfe, daß sie Emotionen und Intellekt ansprechen, eine neue Qualität des Hörens und des Genießens von Musik wecken und entwickeln solle.“136 Lesser liefert hier eine Definition des Sozialistischen Realismus „als eine dynamische operative Kategorie, als ein ideologisch-ästhetisches Prinzip des kompositorischen Schaffens, gleichermaßen gerichtet auf das Produkt, die Rezeption und Propaganda der Musik“, damit die „notwendige Klarheit“ gewonnen werden kann, „die ideologischen Auseinandersetzungen mit feindlichen Strömungen überzeugend zu führen“.137 Diese Zitate verdeutlichen die Windungen der Theoretiker des Sozialistischen Realismus, die begreifen, dass sie ihre Postulate den sich ändernden Gegebenheiten anpassen müssen, gleichzeitig aber weiter versuchen, den Sozialistischen Realismus als Grundlage der Ästhetik und Ideologie des kompositorischen Schaffens aufrechtzuerhalten. Wie immer in der DDR-Kulturpolitik, ist es an den Betroffenen, sich Dinge herauszusuchen und sie zu vertreten. In den 1970er Jahren gestaltete sich dies zunehmend einfacher, konnte aber, wie an der Problematik der Biermann-Ausbürgerung deutlich wurde, auch massive Probleme für die Beteiligten mit sich bringen. Lesser geht trotz allem weiter von der Maxime aus: „Die sozialistische Gesellschaft ist die einzige rechtmäßige Erbin aller fortschrittlichen geschichtlichen Leistungen und Traditionen.“138 Zum Thema Musikwissenschaft und Musikkritik stellt Lesser fest, dass es noch keine „für alle Einzelforschungen verbindliche, sie einbeziehende Konzeption 135 136 137 138
Ebda., S. 14. Ebda., S. 17. Ebda. Ebda., S. 19.
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der marxistisch-leninistischen Musikwissenschaft der DDR“139 gebe. Diese Feststellung ist insofern unverständlich als der sozialistische Realismus als eine solche Konzeption gelten sollte und konnte. Gleichzeitig ist diese Feststellung ein weiterer Ausdruck der prinzipiellen Undefiniertheit, Ungenauigkeit und mangelnden Praktikabilität der Theorie des Sozialistischen Realismus, wobei diese Unsicherheit im Umgang an Lessers eigenem Referat abzulesen, in dem er oben den Sozialistischen Realismus als „ideologischästhetisches Prinzip“ anführte und hier eine fehlende Konzeption beklagt. Wie auf dem Kongress 1964 im Hauptreferat schon Walter Siegmund-Schultze, fordert Lesser eine Kenntnisnahme und Beschäftigung mit den westlichen Tendenzen, aber auch er macht 1972 noch Einschränkungen, die hauptsächlich an der wiederkehrenden Betonung des Interesses ausschließlich am humanistisch eingestellten Teil der westlichen Komponisten abzulesen sind: „Mehr als bisher werden wir auch praktisch wie theoretisch zu verfolgen haben, was in den Ländern des Imperialismus geschaffen wird. Es gibt dort eine Reihe von Komponisten, die von teils bewußt sozialistischen, teils bürgerlich humanistischen Positionen aus sich in ihrer Musik gegen die Unmenschlichkeit dieser Gesellschaftsordnung wenden, sie kritisch angreifen oder ihr zumindest ein auf progressiven bürgerlichen Traditionen basierendes Humanitätsideal entgegenzustellen bemüht sind.“140
Abschließend zieht Lesser Schlussfolgerungen für die kommenden Jahre: Die Werke sollten kontrastreicher gestaltet sein, allerdings müsse bei Anwendung neuer Kompositionsverfahren immer ihr Verhältnis zur beabsichtigten Aussage im Blick behalten werden.141 Es solle nicht nur für Spitzenorchester komponiert werden. Ebenso sei die Annäherung an Idiome spätbürgerlicher Musik kein Weg zu parteilicher, volksverbundener Musik. Hier geht Lesser deutlich wieder einen Schritt hinter seine vorhergehenden Ausführungen zurück. In ähnliche Richtung zielt Hansjuergen Schaefers Konzertplaneinschätzung in Vorbereitung des Kongresses, in der er Kritik an zu viel Avantgardistischem in den Konzertplänen übt: „Die wesentlichsten Meister (Hartmann, Honegger, Hindemith z. B.) erscheinen kaum oder mit einem viel zu engen Schaffensausschnitt. – Wollen wir diese Musik dem Westen überlassen, damit sie dort totgeschwiegen wird? Dafür zeigen dann manche Orchester viel Liebe für ‚Avantgardistisches‘.“142 Lesser stellt weiter fest, dass die Darstellung von Konflikten zum Fetisch zu werden drohe und fordert, dass Konfliktdarstellung nicht Selbstzweck sein dürfe.143 Er schlägt dazu vor, Experimente zuerst im Kreis von Fachkollegen aufzuführen und zu diskutie-
139 140 141 142 143
Ebda., S. 34. Ebda., S. 38. Ebda., S. 72f. AdK, VKM, Mappe 58, Hansjuergen Schaefer, Gesichtspunkte zur Konzertplaneinschätzung, o. Pag. Wolfgang Lesser, a. a. O., S. 74.
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ren, bevor sie in die Öffentlichkeit gelangten.144 Dies war bereits die gebräuchliche Vorgehensweise im Komponistenverband und eine Forderung danach eigentlich überflüssig, da fast alle Werke zuerst in den Verbänden besprochen wurden, bevor sie zur Aufführung kamen. Die Betonung dieser Kontrollmuster ist ein Zeichen für das typische Lavierens zwischen Theorie und Praxis, beinhaltet aber auch einen versteckten Einschüchterungsversuch gegenüber der aufkeimenden Avantgarde, indem die Möglichkeit, die Werke nach dem Anhören im Verband unterdrücken zu können, deutlich gemacht wird. Insgesamt scheinen also in diesem Hauptreferat prinzipiell gemäßigtere Ansichten vertreten zu werden als im Hauptreferat des I. Musikkongresses 1964. Auf den zweiten Blick sind aber auch Lessers Aussagen 1972 eindeutig ideologisch untermauert. Insofern ist sein Referat nur ein gradueller Fortschritt gegenüber dem Hauptreferat des Musikkongresses 1964. Viel entscheidender war die spätere Rezeption seiner Ausführungen in Richtung einer kulturpolitischen Öffnung durch Komponisten und Musikwissenschaftler, die schon vor 1972 avancierte Kompositionstechniken kennen lernten, mit ihnen arbeiteten und nun verstärkt mit ihren Werken an die Öffentlichkeit gelangten, gestützt übrigens durch die Argumentation mit dem Schlagwort ‚Weite und Vielfalt‘. Viele Komponisten fühlten sich durch einzelne Passagen von Lessers Referat, durch die Aussagen des VIII. Parteitages und Diskussionsbeiträge auf dem Kongress in ihrem Tun bestätigt. Sie ließen sich durch die Einschränkungen, die Lesser und andere immer wieder einflochten, nicht mehr zurückhalten. Siegfried Matthus beteiligte sich auch auf diesem Musikkongress wieder an der vorbereiteten Diskussion mit einem Vortrag über Fragen internationaler Beziehungen auf dem Gebiet der Musik145, an dessen Anfang er feststellt, dass es in der Vergangenheit „im Zusammenhang mit dem neuen Schaffen falsche und enge ästhetische Auffassungen“ gegeben habe und dass „es sie auch heute noch gibt“, diese aber seit dem VIII. Parteitag in Fluss gekommen seien.146 Matthus kritisiert hier die Auslandsabteilung des Verbandes, es würden für die Präsentation im Ausland oft Stücke ausgewählt, die „nicht den progressiven Stand des Schaffens widerspiegeln“.147 Und weiter stellt Matthus fest: „Andererseits gibt es aber Beispiele, daß einige Vertreter unseres Verbandes als Apostel der Unfehlbarkeit in Fragen des sozialistischen Realismus und des progressiven Inhalts in der Musik durch die Welt reisen. Daß dieser – gelinde gesagt – überhebliche Standpunkt im Ausland unserer neuen Musik großen Schaden zufügt und sie international wirkungslos macht, muß nicht besonders betont werden.“148
144 145 146 147 148
Ebda., S. 77. AdK, VKM, Mappe 62, II. Musikkongreß 1972, stenographisches Protokoll, S. 8ff. Ebda., S. 8. Ebda., S. 9. Ebda.
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Folgerichtig fordert Matthus mehr Offenheit gegenüber internationalen Einflüssen. Es sei eine fruchtbare Auseinandersetzung nötig und es dürfe nicht „alles, was nicht mit unseren Anschauungen übereinstimmt [...] ignoriert, für abseitig erklärt, oder gar, ohne vorherige genaue Prüfung, als unserem Standpunkt feindlich gegenüberstehend“ bezeichnet werden.149 Sowohl die Komponisten als auch das Publikum sollten die wichtigsten zeitgenössischen Werke kennen. Matthus stellt fest, dass die Hörer sich ihre Informationen über die westlichen Rundfunkkanäle holten und fordert den DDR-Rundfunk auf, diesen Bedürfnissen nachzukommen.150 Gleichzeitig gibt er zu, dass es „Problemwerke mit internationaler Wirksamkeit, aber problematischen Anschauungen der Komponisten“ gebe und nennt als Beispiele die Komponisten Schönberg, Strawinsky, Boulez, Penderecki, Ligeti und Nono, es käme aber auf die Rezeption dieser Werke an.151 Matthus geht in seinem Vortrag, wenn man die Ausführungen des Hauptreferats auf der anderen Seite bedenkt, ziemlich weit und fordert sogar ein Rezipieren der Werke der westlichen Avantgarde nicht nur durch auserwählte Musikwissenschaftler, sondern durch die Komponisten und das Publikum. Aber die Dramaturgie des Kongresses macht deutlich, dass Matthus hier als Vertreter der jungen Generation zwar seine auf den Verlautbarungen des VIII. Parteitages basierenden und damit nicht völlig zu unterdrückenden Ansichten äußern konnte. Man nahm sogar in Kauf, dass sich Komponisten damit identifizierten und sich in ihren Kompositionsansätzen und Meinungen bestätigt fühlten. Dies alles wurde aber sofort mit anderen Vorträgen relativiert. Nach Matthus’ Rede folgte ein Statement von Heinz Alfred Brockhaus152, das sofort die sozialistisch-realistischen Grundlagen des kreativen Tuns wieder anmahnte: „Es gibt keine subjektive Freiheit des künstlerischen Wirkens außerhalb der künstlerischen Verantwortung.“153 Und weiter fordert Brockhaus: „Wir sollten Wert darauf legen, diese unsere sozialistische Schaffensfreiheit und freie Entfaltung nicht mit der subjektivistischen Freiheit des Unverbindlichen in der spätbürgerlichen Kunst zu verwechseln.“154 Am zweiten Tag des Kongresses meldete sich nach verschiedenen Grußadressen zuerst Paul Dessau in der Diskussion zu Wort155, sprang Matthus in seinen Forderungen zwar nicht konkret aber allgemein bei, indem er verlangt, auf die jüngere Generation einzugehen. Dessau schlägt die Bildung von Kollektiven im Verband vor, um Probleme „nun endlich klären zu können“156 und legt gleichzeitig die Ideen des Bitterfelder Weges
149 150 151 152 153 154 155 156
Ebda., S. 10. Ebda., S. 10a. Ebda., S. 11. Ebda., S. 13ff. Ebda., S. 16. Ebda. Ebda., S. 72ff. Ebda., S. 72.
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endgültig und rigoros ad acta, wenn er formuliert: „keine Brigade und Kombinat können helfen“, denn für seine Arbeit sei „nur der Künstler allein verantwortlich“.157 In der Sektion II des Kongresses mit dem Titel „Musik und Hörer“ trug wiederum Werner Rackwitz weiter zur Debatte um die zu nutzenden Techniken bei, wobei auch hier einer die Öffnung betonenden Formulierung sofort eine indirekte Drohung folgte: „Es geht nicht an, daß dem Künstler, der sich neuartiger Formen und Mittel bedient, a priori unterstellt wird, er befinde sich nicht auf der Position des sozialistischen Realismus. Schließlich würde eine solche Haltung den sozialistischen Realismus der Mannigfaltigkeit und Vielfalt künstlerischer Möglichkeiten berauben, die den Künstlern den sozialistischen Realismus gerade anziehend macht, würde Form und Inhalt trennen. Eine Trennung von Inhalt und Form läge natürlich auch dann vor, wenn Komponisten aus falsch verstandener Weltgeltung oder Westgeltung eklektisch die gerade modernen Stile nachahmen oder aus Originalitätssucht und mißverstandenem Experimentieren Musik auf das ‚Abklopfen‘ von Mitteln und Material reduzieren. Wenn wir von Internationalismus sprechen, können wir Moskau und Paris nicht gleichsetzen. Wirkliche Weltgeltung werden nur jene Komponisten erreichen, die selbstbewußt die Probleme der sozialistischen Welt, in der sie leben, aus sozialistischer Sicht gestalten.“158
Rackwitz kommt auch ganz deutlich auf die Kompositionsmittel zu sprechen: „Die Abgrenzung zwischen sozialistischem Realismus und Modernismus ist folglich nicht allein daran abzulesen, welche Mittel verwendet werden – auch nicht, wenn es neuartige und ungewohnte sind –, sondern wie sie verwendet werden, ob sie dem Anliegen der Musik, zur sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung beizutragen, dienen oder nicht. Im einzelnen Fall sind dabei die Grenzen nicht leicht zu ziehen, verwirklicht sich doch der sozialistisch-realistische Weg eines Künstlers nicht in einem einzelnen Werk, sondern in seiner Gesamtentwicklung, die wie wir alle wissen, neben Gelungenem auch Mißlungenes aufweist und aufweisen wird.“159
Die Entschließung zum II. Musikkongress bezog sich ausdrücklich auf die Ergebnisse des VIII. Parteitags und des 6. Plenums des ZK der SED. Auch hier wurde noch eine Funktionszuweisung an die Musik vertreten, die an die Postulate des Bitterfelder Weges deutlich anknüpfte: „Die Ergebnisse unserer künstlerischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Arbeit werden daran zu messen sein, wie gut wir es verstehen, die Kräfte der Musik zum Wohl der sozialistischen Gesellschaft und zur Bereicherung des Einzelnen wirksam zu machen.“160 157 158
159 160
Ebda., S. 73. AdK, VKM, Mappe 2391, II. Musikkongress 1972, Sektion II Musik und Hörer, Diskussionsbeitrag Werner Rackwitz, S. 13. Ebda., S. 15. Entschließung des II. Musikkongresses der Deutschen Demokratischen Republik 1972, S. 1. Wurde als Druck Musik und Gesellschaft beigelegt.
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Die von einigen Komponisten, wie zum Beispiel Siegfried Matthus auf dem Musikkongress geforderte Auseinandersetzung mit Kompositionstechniken westlicher Komponisten, erfuhr nur eine sehr zögerliche Aufnahme in die Entschließung und wurde sofort im Sinne der sozialistisch realistischen Erbediskussion auf Komponisten mit im Sinne der sozialistischen Ideologie gesellschaftlich fortschrittlichen Ambitionen eingeschränkt: „In unserem Musikleben haben Kompositionen aus jungen Nationalstaaten [gemeint sind die Länder des Ostblocks, K. S.] und humanistische Werke aus kapitalistischen Ländern ihren Platz. Mit besonderer Aufmerksamkeit wollen wir eine mit der revolutionären Arbeiterbewegung in diesen Ländern verbundene Musikentwicklung zur Kenntnis nehmen. Wir beachten auch das Schaffen jener Komponisten, die durch die Weiterentwicklung der Tonsprache Anregungen zu geben vermögen, auch wenn sie noch keine engeren Beziehungen zum gesellschaftlichen Fortschritt gefunden haben.“161
Das „klare(s) Bekenntnis zur gesellschaftlichen Funktion der Musik“162 schloss an die zitierten Ausführungen an und hatte in der hier formulierten Allgemeinheit sicher für die meisten Komponisten in der DDR, auch und gerade für die Avantgarde, Geltung, da sich auch diese Komponisten für eine gesellschaftsrelevante Aussage ihrer Werke eingesetzt haben. Insofern ist für diese Komponisten auch der erste Teil der folgenden Aussage konsensfähig gewesen, wogegen der zweite in charakteristischer Weise die scheinbare Offenheit der Aussagen sofort einschränkt: „Die Richtung unserer schöpferischen Arbeit wird durch die ständige Frage nach dem Inhalt der Musik und nach ihren Adressaten bestimmt. Nur in diesem Zusammenhang können die Entscheidungen über die Gestaltungsweise, die Wahl der Mittel und über andere Fragen der Kompositionstechnik getroffen werden. Wir bekennen uns zur Weite und Vielfalt des sozialistischen Realismus, zum Neuerertum in der Musik, das parteilich und volksverbunden neue Bereiche des Lebensgefühls sozialistischer Menschen zu gestalten und die musikalische Sprache ihrer Wechselbeziehung zur Gesellschaft dynamisch weiterzuentwickeln sucht.“163
Die Erbediskussion ist ein nicht zu unterschätzender Aspekt der gesamten Kulturpolitik der DDR und hängt immer mit der Debatte über die erlaubten Kompositionstechniken zusammen. So wird in der Entschließung formuliert: „Die schöpferische Aneignung des Erbes ist ein sich stets erneuernder, auf immer höherer Stufe zu vollziehender Prozeß, der jedoch nicht im Selbstlauf vor sich geht. Auf der Grundlage unserer sozialistischen Weltanschauung muß sich jede Generation neu ihr Erlebnis des Erbes erschließen,
161 162 163
Ebda., S. 2. Ebda. Ebda., S. 2.
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Kulturpolitik der 1970er und 80er Jahre und den Künstlern ist immer wieder ein weites Feld zur Entwicklung ihrer Schöpferkraft eröffnet, ein breiter Raum, ihren Stil und ihre Handschrift zu entfalten. Weil wir davon ausgehen, daß die Werktätigen ein Recht darauf haben, sich den ganzen Reichtum des Erbes anzueignen, grenzen wir uns von bürgerlichen Auffassungen ab, die aus Originalitätssucht die humanistische Substanz zerstören und die Vielfalt des Erbes auf das gerade in Mode Befindliche einengen wollen. Unser Musikleben bedarf einer größeren Breite der Erberezeption, auch in Bezug auf das Arbeiter- und Volkslied, und Tendenzen einer gewissen Begrenztheit der Programme und des Repertoires auf Standardwerke – so bedeutungsvoll und unersetzbar diese in ihrer Wirkung immer wieder sind – sollten überwunden werden. Auch hier brauchen wir Vielseitigkeit, Differenziertheit und konzeptionelles Herangehen.“164
Wie bei allen derartigen Großveranstaltungen wurde im Nachhinein eine intensive Auswertung organisiert, zu deren „Maßnahmen“ unter anderem Musikkonferenzen der Bezirksverbände gehörten, in denen die Ergebnisse des Kongresses verbreitet und für aufgeworfene Probleme Lösungen gefunden werden sollten.165 Neben vielem Unkonkreten, das in dieser Mappe als Ergebnis-Aufstellung gesammelt ist, befindet sich dort auch ein Papier mit dem Titel In Auswertung des II. Musikkongresses sich ergebende Aufgaben zur Lösung aufgeworfener Probleme, leider wie so häufig ohne Angabe eines Autors.166 Darin wird als Hauptproblem die Frage nach dem Neuen im sozialistisch-realistischen Musikschaffen der letzten Jahre, nach den Entwicklungstendenzen aufgeworfen. Als Teilaspekte werden Fragen nach dem gestalteten Gegenstand, nach Art und Weise der Gestaltung, nach Entwicklungstendenzen und nach der Wirklichkeitsnähe des Musikschaffens genannt. Als „Maßnahmen zur Lösung der Fragen und Probleme“ sind Werkdiskussion und die Arbeit der Sektionen beziehungsweise der Kommissionen des Dachverbands sowie der Bezirksverbände des Komponistenverbandes aufgeführt.167 Weiterhin schlägt der Autor die Bildung einer Arbeitsgruppe unter Beteiligung verschiedener Organisationen wie des FDGB, der Gewerkschaft Kunst, des Kulturbundes, der FDJ, des Kulturministeriums, von Rundfunk, Presse und natürlich des Komponistenverbandes selbst vor.168 Eine weitere Lösungsmöglichkeit der vom II. Musikkongress aufgeworfenen Probleme sollte die stärkere Einbeziehung der musikwissenschaftlichen Forschung bringen. Hierbei gehe es vor allem um die Präzisierung der Kategorien Parteilichkeit und Volksverbundenheit, um die Herausarbeitung des Verhältnisses Musik und Leben, um die Herausarbeitung der Dialektik von alt und neu, von Tradition und Neuerertum in der Musik.169 Weiterhin sollten theoretisch fundierte 164 165
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167 168 169
Ebda., S. 3f. AdK, VKM, Mappe 67, Auswertung des II. Musikkongresses, Maßnahmen zur Auswertung des II. Musikkongresses, o. Pag. AdK, VKM, Mappe 67, Auswertung des II. Musikkongresses, o. Autor, In Auswertung des II. Musikkongresses sich ergebende Aufgaben zur Lösung aufgeworfener Probleme. Ebda., S. 1. Ebda., S. 2. Ebda., S. 3.
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Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit philosophisch-theoretischen Grundlagen spätbürgerlicher Kunstauffassung und Kunstäußerung geschaffen werden.170 Ein weiteres Papier zur Auswertung des Musikkongresses widmet sich besonders ästhetisch-theoretischen Fragen.171 Als Problemstellungen, die ausgehend von diesem Kongress diskutiert werden müssen, werden die zentralen Kategorien des Sozialistischen Realismus genannt. Außerdem gehe es um die Herausarbeitung von Traditionslinien, um die Klärung von Materialfragen, um die Diskussion der Widerspiegelungstheorie, um Gattungsfragen und Genrespezifik sowie um das so genannte Modernismusproblem.172 Ein anderer Text leitet aus diesen Zielen Aufgaben speziell für die Musikwissenschaft ab.173 So sei es Aufgabe der Musikwissenschaft, die geforderte einheitliche Konzeption zu erarbeiten, die ästhetisch-theoretische Grundlagenforschung und ebenso die soziologische Forschung zu verstärken. Für die Musikgeschichte sollen die Akzente von Musik aus der DDR, der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder deutlicher herausgearbeitet werden.174 Weiterhin gehe es um die „Herausarbeitung der dialektischen Einheit von klassischem und sozialistischem Realismus und des dialektischen Verhältnisses von Tradition und Neurertum“, um die Auseinandersetzung mit „reaktionären Erbeverfälschungen“. Er fordert eine Auseinandersetzung mit der Epochenproblematik und dabei die detaillierte Ausarbeitung einer eigenen Erbekonzeption des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität aufnehmen und im Gegensatz zu den genannten Erbeverfälschungen die der sozialistischen Kulturpolitik genehmen Komponisten und Strömungen als verbindliches Erbe definieren soll.175 3.2.3.3
Die Delegiertenkonferenz 1982
Auf dieser Delegiertenkonferenz des Komponistenverbandes steuerte Ernst Hermann Meyer das Hauptreferat mit dem beschwörenden Titel Unsere neue Musik im Leben des Volkes bei.176 Dass es nach Meyers Meinung mit der Verankerung der neuen Musik im Leben des Volkes doch nicht so zum Besten stand, wie der Titel des Referates suggerieren wollte, verdeutlicht eine die Kammermusik betreffende Passage seines Referatsentwurfes, in der Meyer an ein scheinbares Lob sofort sein Unverständnis gegenüber einigen Werken anschließt: „Eine positiv herauszuhebende Tendenz ist das Bemühen, in 170 171
172 173 174 175 176
Ebda., S. 4. AdK, VKM, Mappe 67, Auswertung des II. Musikkongresses, o. Autor, Auswertung Musikkongress, ästhetisch theoretische Fragen. Ebda., S. 1. AdK, VKM, Mappe 67, Auswertung des II. Musikkongresses, o. Autor, Musikwissenschaft. Ebda., S. 1. Ebda., S. 3. Ernst Hermann Meyer, Unsere neue Musik im Leben des Volkes. Eröffnungsreferat der Delegiertenkonferenz des VKM, in: Musik und Gesellschaft 32, 1982, S. 197–213.
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stärkerem Maße kammermusikalisch mit den Hörern zu kommunizieren und sich ihnen verständlich zu machen. Das Anliegen einiger kammermusikalischer Werke ist auch durch den musikinteressierten Hörer oftmals nicht nachzuvollziehen.“177 Das in Musik und Gesellschaft abgedruckte Referat und auch die auf der Delegiertenkonferenz gehaltene Fassung, enthalten dagegen diese Passage nicht, sondern Meyer erwähnt in lobender Weise gerade Werke, die entsprechendes Unverständnis hervorgerufen haben, wie Ralf Hoyers Allgemeine Erwartung, Georg Katzers De musica und Friedrich Schenkers Missa nigra.178 Ein Papier des Sekretariats des Komponistenverbandes vom Juni 1980 übt in Vorbereitung auf die Delegiertenkonferenz des Verbandes 1982 Kritik an den Komponisten, von denen viele die Öffnung gegenüber dem Westen die DDR habe vergessen lassen.179 Unfreiwillig komisch mutet der folgende dort zu findende Satz an, der das ganze Dilemma der DDR-(Kultur)Politik der 1980er Jahre beschreibt und dem gleichzeitig die herrschende Resignation der Führung innewohnt: „Nicht ohne künstlerische Auswirkung blieb gewißlich das ideologische Problem, daß kaum ein Komponist zu finden war bzw. ist, der bedingungslos zu dem ja sagt, was sich in der DDR entwickelt hat.“180 3.2.3.4
Der Verbandskongress 1987
Auch auf diesem Kongress, der nicht als „Musikkongress“ besonders heraus gehoben wurde, aber eine Zusammenkunft des Komponistenverbandes war, hielt Wolfgang Lesser, jetzt Präsident des Verbandes, das Hauptreferat, in dem er die gängigen Floskeln, die sich inzwischen nur noch als leere Worthülsen darstellten – und für viele Komponisten nie etwas anderes waren –, verwendet: humanistische Grundhaltung, Verantwortungsgefühl der Komponisten in den Kämpfen unserer Zeit, sozialistisch-realistische Kunstprogrammatik, Vielfalt und Unterschiedlichkeit und so weiter. Zur Kammermusik äußert Lesser in seinem Referat: „Neben gültigen Werken gibt es gerade in der Kammermusik auch das Experiment, das als Möglichkeit der Selbstverständigung notwendig und oft als Ausgangspunkt für neue Werke unerläßlich ist.“181 Kammermusik wurde also offiziell immer noch als ein Experimentierfeld angesehen, dessen Produkte nicht sofort für die Öffentlichkeit bestimmt sein sollten, insofern ist keine Änderung gegenüber 1972 erkennbar. Besonders jüngere Komponisten und ihre Ansätze sollen damit klein gehalten werden: 177
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AdK, VKM, Mappe 946, Ernst Hermann Meyer, Konzeptionen und Entwürfe zum Referat „Unsere neue Musik im Leben des Volkes“, S. 4. Vgl. Meyer, Unsere neue Musik im Leben des Volkes, 1982, S. 207. AdK, VKM, Mappe 82, Gedanken zur Entwicklung des Realitätsgehaltes im musikalischen Schaffen in den 70er Jahren (Sekretariat 23. Juni 1980) S. 1. Ebda. AdK, VKM Mappe 253, Stenographisches Protokoll des Verbandskongresses 1987, Wolfgang Lesser, Hauptreferat, S. 12a ff., hier S. 32.
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„Für viele unserer jüngeren Kollegen ist Kammermusik ein attraktives Feld der Erprobung und Bewährung. Wir haben das stets mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und gefördert, und uns über begabte, gelungene Arbeiten gefreut und auch darüber, daß der Sprung in andere Genres – denken wir an Stöckigt, Pfundt oder Wolschina u. a. – Gültiges hervorgebracht hat, das sich durchaus mit Leistungen älterer Kollegen messen kann.“182
Kammermusik und gerade experimentelle Kammermusik wurden so als handwerkliche Übung abgewertet und sollten ausschließlich als Sprungbrett für andere Genres dienen. Auch auf diesem Kongress meldete sich wieder Siegfried Matthus mit einem Diskussionsbeitrag zu Wort.183 Matthus wurde hier stellvertretend für viele sich auf den Kongressen zu Wort meldende Komponisten ausgewählt, seine Referate zeigen die kulturpolitische Entwicklung beispielhaft auf. Er widmet sich der für ihn zentralen Frage nach der „Orientierung beim heutigen Komponieren“ als deren logische Antwort er das „Anknüpfen an den letzten Stand der kompositionstechnischen Entwicklung“ sieht, gleichzeitig aber konstatiert, dies sei bei einigen Kollegen nicht mehr der Fall.184 Die Gründe dafür lagen für ihn in der Erkenntnis, dass die Zweite Wiener Schule ihren Abschluss gefunden habe und ein Weiterentwickeln nicht mehr sinnvoll oder möglich sei. Es ergebe sich die Frage, woran man sich jetzt orientieren solle.185 Die parallel zur Zweiten Wiener Schule bestehenden Entwicklungen sollten seiner Meinung nach mehr zur Kenntnis genommen werden, für fruchtbarer hielt er aber das kritische Befragen der vorangegangenen musikgeschichtlichen Epoche sowie der Zweiten Wiener Schule selbst und ihrer Folgen bis zum Postmodernismus.186 Der Bereich des musikalischen Ausdrucks war nach Matthus ein neuralgischer Punkt der Entwicklungen. Die technischmusikalischen Möglichkeiten hätten sich seiner Meinung nach verselbstständigt und seien heutigem musikalischen Ausdrucksverlangen nicht mehr gewachsen.187 Man solle sich darauf besinnen, dass der Hauptgegenstand der Kunst der Mensch sei.188 Auch er selbst habe diese beschriebene Umorientierung vollzogen, wobei er für sich und allgemein in Anspruch nimmt, dass diese Umorientierung kein absoluter Bruch mit kompositorischen Entwicklungen des Jahrhunderts, sondern als Weiterentwicklung zu sehen sei. Gleichzeitig kritisierte Matthus, dass in Kritik und Wissenschaft oft immer noch nur die Messlatte „Schönberg“ an neue Werke angelegt werde.189 Seiner Meinung nach könne die Wissenschaft den Künstlern nichts vorschreiben, und die musikalisch-
182 183 184 185 186 187 188 189
Ebda. Ebda., S. 62ff. Ebda., S. 62. Ebda., S. 63. Ebda., S. 64. Ebda., S. 64a. Ebda., S. 65. Ebda., S. 67.
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schöpferische Entwicklung solle dahin tendieren, wieder mehr Ästhetisch-Inhaltliches zu wollen.190 Georg Katzer, der in seinem Beitrag hauptsächlich Zur Einrichtung eines nationalen Werbe- und Informationszentrums für DDR-Musik sprach, antwortet Matthus indirekt, indem er die Wiener Schule „als Erbschaft, die man nicht umgehen kann“ bezeichnet.191 Und Walter Thomas Heyn sah ebenfalls stilistische Veränderungen wie Matthus, die nicht als restaurativ zu beschreiben seien, sondern andere Ansatzpunkte hätten.192 Heyn diskutiert hier ebenfalls, ohne dies so konkret zu benennen, die verengte Sicht auf avancierte Kompositionstechniken und die Tatsache, dass Vertreter der Avantgarde diese Techniken als eigentlich zeitgenössisch verteidigten, um durch die Hintertür der Neuen Einfachheit nicht erneut eine Ideologie des Sozialistischen Realismus zum Zuge kommen zu lassen.193 Mit einer ausschnitthaften Darstellung der Arbeit des Komponistenverbandes konnten nicht nur die Hauptverlaufslinien der Debatte gezeigt, sondern auch die Art und Weise des Verlaufes solcher Debatten verdeutlicht werden. Einige theatrale Aspekte zum Ablauf der „Diskussionen“ wurden oben bereits erörtert. Auch das Zustandekommen der Hauptreferate in Gruppenarbeit bzw. durch verschiedene Einzelautoren, die sich einzelnen Teilgebieten widmeten oder bestimmte Zuarbeiten lieferten, war bestimmten dramaturgischen Regeln unterworfen. Für den nicht in dieses Entstehen eingebundenen Versammlungsteilnehmer konnte die Darbietung dadurch wie ein Theatermonolog wirken, da ja auch der Vortragende mindestens teilweise einen ihm zugeteilten Text verlas. Auf diesen wurde mit ebenfalls vorher ausgearbeiteten Beiträgen reagiert, sodass in der Regel ein „Diskussionstheater“ stattfand, nicht aber eine wirkliche Diskussion.
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Ebda., S. 69. Ebda., Georg Katzer, Zur Einrichtung eines nationalen Werbe- und Informationszentrums für DDR-Musik, S. 206. Ebda., Thomas Heyn, Der Verband und ich – Probleme, Haltungen, Ausbildung, S. 235. Vgl. dazu Kap. 3.3.2
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
3.3
Zwanzig Jahre Kulturpolitik in der DDR: Zwei Versuche der Einschätzung
3.3.1
Die heutige Sicht der Komponisten auf den kulturpolitischen Verlauf der Jahre 1971-1989/90
111
Interessant gestaltet sich nun der Versuch, die oben genannten Beobachtungen zur Kulturpolitik in der DDR mit den Aussagen der Komponisten in den Interviews zu vergleichen, um zu untersuchen, wie der einzelne Komponist aus heutiger Sicht seinen Platz innerhalb dieser Entwicklungen beschreibt und wie er sich in den rund zwanzig Jahren zwischen 1970 und dem Ende der DDR mit der Kulturpolitik und den daraus entstehenden Chancen und Zwängen auseinandersetzte. Bei den Befragungen stellte sich heraus, dass verschiedene Komponisten den Verlauf dieser Jahre anders als oben skizziert erlebt haben, die meisten Komponisten die oben beschriebene Entwicklung aber ähnlich sehen. Die Unterschiede werden im Folgenden angeführt und erläutert, sie gewinnen aber auch in anderen Zusammenhängen der Arbeit Relevanz. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und um Vergleiche mit den vorhergegangenen Kapiteln zu ermöglichen, wird bei der Darstellung wiederum chronologisch vorgegangen. 3.3.1.1
Anfang der 70er Jahre: VIII. Parteitag 1971 und II. Musikkongress 1972
Zur Relativierung kulturpolitischer Dogmen im Zuge des VIII. Parteitages 1971 und des zweiten Musikkongresses 1972 gingen die Meinungen der Komponisten recht weit auseinander. Während einige der Ansicht waren, dass sich nichts geändert habe, oder dass sie dieser Öffnung auch gar nicht bedurft hätten, da sie sich die in Frage stehenden Kompositionstechniken schon vorher angeeignet hatten, äußerten andere durchaus die Beobachtung, die Lockerungen seien deutlich spürbar gewesen und hätten einen Aufbruch bewirkt. Die Unterschiedlichkeit der Ansichten lässt sich auch darauf zurückführen, dass sich der eine Komponist im Brennpunkt des musikalischen Geschehens in der DDR befand und der andere nicht. Die in Berlin und Leipzig ansässigen Komponisten waren in ihrer Freiheit gegenüber dem kompositorischen Material meist schon weiter gegangen und hatten einen direkten Anstoß zur Beschäftigung damit Anfang der siebziger Jahre eher nicht nötig. Andere Komponisten, die weniger im Brennpunkt der Debatten wirkten, empfanden die Thesen des zweiten Musikkongresses als Ansporn und teilweise auch als Legitimationsmöglichkeit ihrer Arbeit. Beispiele für diese unterschiedlichen Sichtweisen zeigen die Bandbreite der Situationen, in denen sich Komponisten zu Anfang des zu betrachtenden Zeitraums befunden haben. Georg Katzer trennt mögliche Auswirkungen des Musikkongresses 1972 und der Musikkongresse überhaupt von einer allgemeinen politischen und kulturpolitischen
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Zwei Versuche der Einschätzung
Öffnung in der DDR Anfang der 70er Jahre. Er vertritt die Meinung, die Wirkung der Kongresse dürfe nicht überschätzt werden, und sie hätten für das Denken überhaupt keine Rolle gespielt. Außerdem reklamiert er für sich die oben schon erwähnte Einschätzung, die Dinge schon längst getan zu haben, die nun erlaubt wurden. Die Praxis habe das längst vorweg genommen. Allerdings meint er auch, dass die Beschlüsse der Musikkongresse durchaus für jene von Bedeutung gewesen sein könnten, die etwas abseits der Zentren lebten und die dadurch möglicherweise Rückenwind bekommen hätten. Aber in Berlin und für die Leute, die für ihn damals wichtig waren, habe das keine Rolle gespielt. Dagegen war für ihn die allgemeine kulturpolitische Öffnung durchaus entscheidend. Von dieser vorsichtigen Liberalisierung habe nach Katzers Meinung sogar die Musik am meisten profitiert, im Gegensatz zu Literatur, Film und Bildender Kunst. Allerdings macht er auch hier wieder einen Unterschied zwischen dem denkbar Möglichen und dem tatsächlich Ausführbaren. Anfang der 70er sei nun aber langsam auch das vorher nur Denkbare aufführbar geworden.1 Auch Karl Ottomar Treibmann konstatiert, dass er bereits Ende der 60er Jahre mit Friedrich Schenker beim gegenseitigen Vergleich von Werken feststellte, dass sie schon alles versuchten, was dann Anfang der siebziger Jahre erlaubt wurde, wie die Arbeit mit dodekaphonen und aleatorischen Techniken. Der Aufbruch sei bereits damals nicht mehr zu bremsen gewesen, und sie hätten diese Kompositionstechniken schon vor dem Musikkongress „parat“ gehabt. Seiner Meinung nach war die Zeit reif, die Musikentwicklung nicht zu bremsen, und die Kulturpolitiker vollzogen Anfang der siebziger Jahre nur nach, was als Entwicklung bereits stattgefunden hatte. Treibmann zählt sich also zu den ersten Verfechtern der Avantgarde, diejenigen, die ab 1972 aufsprangen, nur zu den Nachvollziehern. Die Kulturpolitiker seien zur Öffnung gezwungen gewesen, weil viele Dinge sich schon entwickelt hatten, allerdings habe der Kongress die Avantgarde auch rückwirkend noch einmal befördert. Treibmann berichtete von dem Kongress, dass es eine Ratlosigkeit und Verunsicherung unter der älteren Generation gegeben habe, da diese noch so wie Hindemith komponiert und nun nicht gewusst habe, wie sie aus dieser Klangwelt herauskommen solle. Für sich selbst nimmt er aber auch in Anspruch, nie der neuesten Mode nachgerannt zu sein und an keinem Punkt gedacht zu haben, nun seine Musiksprache verändern zu müssen. Allerdings stellt er fest, dass es auch nach 1972 schwierig gewesen sei, etwas durchzusetzen, wie es überhaupt schwierig sei, Kunst zu etablieren.2 1 2
Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. Hier ergänzte Treibmann: „Im Jahre 1980 erschien mein Buch ‚Strukturen neuer Musik‘ als Anleitung zum zeitgenössischen Tonsatz mit modellhaften Kompositionsangeboten bis hin zur Serialität und Aleatorik mit vielen beispielhaften Werkausschnitten namhafter Komponisten u. a. auch von Stockhausen, Boulez, Penderecki und Lutosławski. In meinen Lehrveranstaltungen an der Leipziger Universität (1966-2001) und vielen Weiterbildungsveranstaltungen kam es mir immer darauf an, gerade diese Offenheit für die Vielfalt der neuen Musik zu vermitteln. Schließlich basiert mein eigenes kompositorisches Schaffen bis heute auf einer
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Diesen Komponisten, die für sich in Anspruch nehmen, die Entwicklungen Anfang der 70er Jahre zwar wahrgenommen, aber nicht als Impuls für ihr Schaffen benötigt zu haben, steht Friedrich Schenker gegenüber, der sogar anmerkte, er habe damals von der kulturpolitischen Öffnung Anfang der 70er nichts gehört, und für ihn sei das eine rein theoretische Diskussion geblieben.3 Wilfried Krätzschmar suchte im Gespräch nach den Ursachen der Öffnung. Auch er konstatiert eine Lockerung der kulturpolitischen Fesseln in dieser Zeit, unterscheidet aber zwischen der Theorie, die sich nur wenig geändert habe, und der Praxis, von sehr viel mehr Toleranz geprägt gewesen sei. Er warnt wie Katzer davor, den Parteitage oder Musikkongressen den Wandel zuzurechnen. Die Anstöße dazu seien von den jungen Leuten gekommen und nun nicht mehr verdrängt sondern gesellschaftsfähig geworden. Am Anfang der siebziger Jahre habe es regelrechte Kämpfe gegeben, so zum Beispiel bei Konzerten der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“. Für Krätzschmar ist auch das Argument der Einordnung der DDR-Musik in die internationale Entwicklung wichtig: Die Kulturpolitiker hätten damals langsam eingesehen, dass man, wenn man auf dem Weltmarkt mitspielen wolle, auch zeigen müsse, dass avancierte Komponisten in der DDR arbeiten dürften.4 Neben den Komponisten, die die Öffnung zwar wahrnahmen, bei denen diese aber keine unmittelbaren Auswirkungen auf Schaffen und Lebenssituation hatte, gab es auch solche, die gerade wegen ihrer avancierten Kompositionsweise dieser Öffnung dringend bedurften, um im öffentlichen Musikleben besser zur Kenntnis genommen werden zu können. So beschrieb Friedrich Goldmann deutliche ihn betreffende Änderungen Anfang der 70er Jahre. Die Öffnung habe vor allem Auswirkungen auf bestimmte Institutionen gehabt. So konnte Goldmann erst 1970 in den Komponistenverband eintreten, da er in den Jahren vorher ein unausgesprochenes Aufführungsverbot hatte, das unter anderem durch den bereits im Zusammenhang mit der Ästhetik des Bitterfelder Weges zitierten Artikel von Walter Siegmund-Schultze 1968 in der Zeitschrift Musik und Gesellschaft „befördert“ worden sei.5 Praktisch ein Sendeverbot im Rundfunk galt gleichermaßen für Friedrich Goldmann und für Reiner Bredemeyer, allerdings nicht für den Hörspielbereich. Gesendet wurden Stücke von beiden Komponisten dann ab 1972.6 Augenscheinlich wurde Gebrauchsmusik für Hörspiele als ästhetisch unbedenklicher betrachtet und ein Sendeverbot in diesem Zusammenhang nicht durchgesetzt. Die Erkenntnis, dass bei szenischen Mischformen Möglichkeiten bestanden, die es mit so genannter absoluter Musik nicht gab, hatte vermutlich auch Auswirkungen auf die Entstehung der Szenischen Kammermusik in der DDR. Ganz deutlich waren für Goldmann die Auswirkungen des Machtwechsels
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seriellen Grunderfahrung in Verbindung mit Offenheit für breite Klangsprektren, kommunikativer Absicht und der Vorliebe für die großen Formen von Oper und Sinfonie.“ Gespräch der Autorin mit Friedrich Schenker in Berlin am 13.12.1999. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Siegmund-Schultze, Der Bitterfelder Weg und die Musik, 1968, S. 654f. Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999.
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von Ulbricht zu Honecker im Bereich der Kulturpolitik insofern, dass er nun endlich Geld mit seinen Kompositionen verdienen konnte, was vorher durch die Aufführungsverbote praktisch nicht möglich war. Nun konnte er sich mit seinen Werken langsam durchsetzen.7 Als junger Student in Weimar erlebte auch Johannes Wallmann den Machtwechsel 1971 tatsächlich als die Wende hin zu etwas anderem. So spricht er von dem Gefühl „wo denn, wenn nicht hier zu einer besseren Welt beizutragen“. Wallmann konnte sich durch seinen Lehrer Günter Lampe bereits mit avancierten Kompositionstechniken auseinandersetzen. 1971 seien dann wirklich Änderungen zu verspüren gewesen, wobei die Illusion, in der DDR etwas Neues mit aufbauen zu können dann mit der BiermannAusbürgerung beendet worden sei.8 Gerade die Biographie Wallmanns zeigt das für die DDR-Kulturpolitik typische Hin- und Her und die Widersprüche in den Handlungen der Verantwortlichen. Diese Widersprüche resultierten aus der unklaren Zielrichtung dieser Kulturpolitik. Das Wohl und Wehe Einzelner hing damit einmal mehr, wie typischerweise in der DDR, vom Wollen oder Nichtwollen, vom Durchsetzungsvermögen oder von der Schere im Kopf des jeweiligen Entscheidungsträgers ab. Und auch Jung konstatiert „eine gewisse Lockerheit“ seit Honeckers Machtübernahme. Er gehört zu den Befragten, die den Verlauf der kulturpolitischen Öffnungen etwas anders darstellten, als die Komponisten, deren Ansichten bisher dargelegt wurden und die zwar ihr Verhältnis zu den durch den Machtwechsel eingetretenen Veränderungen unterschiedlich sehen, diese aber grundsätzlich auch zeitlich dort ansetzen. Helge Jung beschreibt den Verlauf des kulturpolitischen Wandels in mehreren Wellen. Auch er setzt den Beginn dieser Öffnungen mit Honeckers Machtübernahme an, die gewisse Hoffnungen geweckt habe, welche zuerst auch erfüllt worden seien. Er konstatiert ebenso wie Krätzschmar, dass neue Möglichkeiten in der Musik auch damit zusammenhingen, dass zeitgenössische Musik als Exportartikel entdeckt wurde, mit dem die DDR ihr Image aufpolieren wollte. Gleichzeitig war auch nach Jungs Eindruck der Grad der Großzügigkeit immer von der Tagespolitik abhängig.9 Lothar Voigtländer ist heute der Ansicht, dass die kulturpolitischen Änderungen erst später in der kompositorischen Praxis ankamen und er sie erst Mitte bis Ende der siebziger Jahre wirklich als solche erlebt habe, da sie zwar Anfang der 70er Jahre in der Theorie sicherlich formuliert, in der Praxis aber erst sehr viel später (und „schaumge-
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Ebda. Gespräch der Autorin mit Johannes Wallmann in Berlin am 26.1.2001, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. Die gegeneinanderstehenden Auffassungen bezüglich des Diplombzw. Staatsexamenszeugnisses Wallmanns, die auf unterschiedlichen Sichtweisen und Erinnerungen seitens der beteiligten Personen sowie auf im Archiv der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar erhaltenen Dokumenten beruhen, lassen eine eindeutige Beurteilung der Vorgänge um das Ende von Wallmanns Studium an der Hochschule 1974 nicht zu. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999.
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bremst“) realisiert wurden. Voigtländer setzt hierfür erst den Zeitraum Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre an.10 Auch Gerhard Rosenfeld dachte über die Kulturpolitik der 70er und 80er Jahre anders. Für ihn löste der 2. Musikkongress eher Hoffnung aus, als dass er der wirklichen Durchsetzung der Ziele diente. Er selber konnte sich aber nach eigener Aussage sowieso verhältnismäßig gut aus entsprechenden Diskussionen heraushalten, da er an keiner Hochschule angestellt war und deshalb auch stilistisch so arbeiten konnte, wie er wollte. Trotzdem seien aber auch seine Sachen „laufend sehr genau angeguckt“ worden.11 Für einige Komponisten, die weniger im Brennpunkt des Geschehens standen, wie etwa Wolf-Günter Leidel in Weimar und Peter Freiheit in Halle (Saale), wurde der Unterschied zwischen Ulbrichts und Honeckers Regierungszeit augenscheinlich nicht wirklich greifbar. So äußerte Freiheit, die kulturpolitische Lage sei unter Honecker vielleicht ein bisschen offener, aber sonst gleich gewesen.12 Leidel beschrieb den Übergang vom Stalinismus Ulbrichts zum „Softstalinismus“ Honeckers, der nur durch eine etwas bessere Aufführungssituation gekennzeichnet gewesen sei, wobei er diese Beobachtung an Werken seines Meisters an der Akademie Reiner Bredemeyer festmachte, von dem in den siebziger Jahren mehr Werke aufgeführt wurden als vor 1970.13 Kurt Dietmar Richter indessen führte an, dass für ihn der Machtwechsel und die beschriebenen Veränderungen ebenfalls eine Bestätigung dessen gewesen seien, was er vorher schon gemacht habe. Er arbeitete damals in Greifswald und Stralsund, also gleichfalls etwas entfernt von den Zentren. Honeckers Amtsantritt war insofern für ihn eine Befreiung, als dass damit auch in der Provinz viele Dinge besser möglich wurden. Auch Richter stellt aber fest, dass später versucht wurde, die Öffnungen jedenfalls teilweise rückgängig zu machen bzw. sie nicht konsequent durchzuhalten.14
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Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. Gespräch der Autorin mit Gerhard Rosenfeld in Potsdam-Rehbrücke am 1.3.2000. Gespräch der Autorin mit Peter Freiheit in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Wolf-Günter Leidel in Altscherbitz bei Schkeuditz am 28.8.1999. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999.
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Zwei Versuche der Einschätzung
3.3.1.2
Mitte der 1970er Jahre: Die Ausbürgerung Wolf Biermanns
Ein breites Spektrum an Meinungen existiert auch für die Geschehnisse Mitte der 1970er Jahre, besonders in Bezug auf Wolf Biermanns Ausbürgerung. Während einige Befragte die Biermann-Ausbürgerung eher als Problem der Schriftsteller sahen und sich als Komponisten hier weniger betroffen und angesprochen fühlten, erlebten andere diesen Einschnitt sehr deutlich. Goldmann berichtete sogar von positiven Wendungen für sich selbst, denn er durfte 1976 erstmals in den Westen reisen. Aber im Allgemeinen beschrieb er diese Zeit doch als den Versuch der Partei, noch einmal zu zeigen, dass sie „auch anders konnte“. Allerdings hatte ihn die Biermann-Ausbürgerung persönlich wenig betroffen, da er es als interne Angelegenheit der Schriftsteller betrachtet habe und Nachunterschriften ihn diesbezüglich nicht interessiert hätten.15 Krätzschmar stellt ebenfalls für 1976 den Versuch der Kulturpolitiker fest zurückzurudern. Allerdings habe die Öffnung zu der Zeit bereits nicht mehr zurückgedrängt werden können, da sie sich durch die Medien immer weiterentwickelte. Krätzschmar ist aber der Meinung, dass Ansprüche aus den 50er Jahren, wie Parteilichkeit, Volksverbundenheit und ähnliches nicht aufgegeben wurden, sondern jetzt mit aktuellerer Klanglichkeit weiterverfolgt wurden.16 Jung beschreibt die Biermann-Affäre 1976 als Einbruch im seit Honeckers Machtantritt einsetzenden Aufbruch und analysiert, dass das Durchschreiten dieser Talsohle bis 1980 angedauert habe und dann quasi nahtlos in eine neue Talsohle übergegangen sei, die aus den Vorgängen in Polen resultiert habe und erst 1983/84 durchschritten gewesen sei. Während der Biermann-Affäre musste Jung ein halbes Jahr zur Armee, weshalb er von den stattfindenden Diskussionen und Entwicklungen abgeschnitten war. Allerdings entschied er sich dort, freischaffend zu werden. Seine Armeezeit brachte ihm außerdem große Probleme hinsichtlich geplanter Aufführungen, die durch die Abgeschnittenheit unmöglich gemacht wurden.17 Auch Wallmann hält fest, dass seine Illusionen, in der DDR zu einer besseren Welt beizutragen, durch die Biermann-Ausbürgerung 1976 zerstört worden seien.18 Für Hans15 16 17 18
Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999. Gespräch der Autorin mit Johannes Wallmann in Berlin am 26.1.2001, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. Hier erläuterte Wallmann ergänzend: „dass meine mehr oder minder massiven Konfrontationen mit der SED-Ideologie 1986 zu unserem kulturpolitisch begründeten Ausreiseantrag führten. [...] Nachdem ich zwischenzeitlich mit Preisen zu vereinnahmen versucht wurde und auch ich selbst nicht kompromisslos gewesen war, sah ich ab Anfang 1986 in der DDR keinerlei Chance mehr, meine Arbeit im Sinne einer ideologiefreien Kunst/Musik fortsetzen zu können. Auch wurde mir immer klarer, dass dieses Land letztlich nur durch eine ‚Abstimmung mit den Füßen‘ verändert werden könne.“ Vgl. dazu Johannes Wallmann, Die Wende ging schief, Berlin 2009.
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Jürgen Wenzel hingegen war die Sache nicht mehr als eine kurze Aufregung, die sich schnell wieder legte.19 Kurt Dietmar Richter antwortete auf die Frage, ob die mit der Biermann-Ausbürgerung beabsichtigte Zurückdrängung der Entwicklungen aus den frühen 70er Jahren funktioniert habe, dass man in allen Bereichen bemerken konnte, dass dem nicht so gewesen sei. Diejenigen, die das nicht mitmachen wollten, seien in den Westen gegangen, diejenigen, die dageblieben seien, hätten die Erfahrungen aus den freizügigeren Jahren genutzt und verteidigt. Das Interesse an Kunst sei von oben gebremst worden, das Einfachste wäre gewesen, sich gar nicht darum zu kümmern.20 Gerhard Rosenfeld berichtete über die Biermann-Ausbürgerung und deren Auswirkungen auf ihn, dass er von Horst Domagalla, dem 2. Sekretär des Komponistenverbandes praktisch zum Verband einbestellt und aufgefordert wurde, eine distanzierende Äußerung zum Fall Biermann zu schreiben. Er sei sehr außer sich gewesen, habe dann aber etwas geschrieben, dessen Doppeldeutigkeit nicht bemerkt wurde:21 „Mit Erstaunen las ich im ND vom Auftreten Wolf Biermanns in der BRD. Der Bericht über sein Verhalten fordert meine Distanzierung.“22 Karl Ottomar Treibmann wiederum hat die Biermann-Ausbürgerung zwar erregt, im Großen und Ganzen habe die Affäre aber die Komponisten weniger tangiert, da Biermann ja Liedermacher und die ganze Diskussion von seinen Texten ausgegangen sei.23 Lothar Voigtländer wurde 1976 erstmals zum Festival für experimentelle und elektroakustische Musik in Bourges/Frankreich eingeladen, durfte aber nicht fahren. Nachdem er 1976 und 1977 Preise gewann, konnte er 1979 erstmals nach Frankreich reisen. 1984 gründete er gemeinsam mit Georg Katzer die „Gesellschaft für elektro-akustische Musik“, die Mitglied der UNESCO war, und war nun regelmäßiger Gast des Festivals in Frankreich, in die BRD durfte er aber viele Jahre trotzdem nicht fahren. Die Möglichkeit, nach Frankreich zu reisen, beschreibt Voigtländer als Glücksumstand, da ihn die dort gewonnenen Preise „quasi ein Tor in eine andere Klangwelt geöffnet und jedes Jahr in Frankreich neueste internationale Kompositionen eine vollkommen neue Sicht des Komponierens in Zeit und Raum gebracht hätten“, sodass die einengenden ästhetischen Prämissen in der DDR ein wenig „schizophren“, weil eigentlich längst nicht mehr relevant, auf ihn gewirkt hätten.24
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Gespräch der Autorin mit Hans-Jürgen Wenzel in Halle (Saale) am 13.9.1999. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Gerhard Rosenfeld in Potsdam-Rehbrücke am 1.3.2000. Zitiert nach Manfred Krug, Abgehauen, München 1996, ³1998, S. 39. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000, sowie nochmalige Verständigung im April 2012.
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Zwei Versuche der Einschätzung
3.3.1.3
Ende der 1970er Jahre: Der Tod Paul Dessaus
Für einige Komponisten stellte der Tod des Mentors der Avantgarde Paul Dessau 1979 einen weit größeren Einschnitt dar, als die Ausbürgerung Biermanns 1976. Dies gilt unter anderen für Goldmann, der nach Dessaus Tod sofort Versuche auch von anderen Komponisten registrierte, erkämpfte Freiheiten zu beschneiden und besonders bestimmte Gruppen von Komponisten zu behindern. So berichtete er von einem Aufsatz von Fritz Geißler im Neuen Deutschland, in dem dieser schrieb, dass es in Berlin eine kleine Gruppe von Komponisten gebe, die eigentlich verboten werden müsse. Geißler habe zwar keine Namen genannt, es sei aber klar gewesen, wer damit gemeint gewesen sei.25 Andererseits konstatiert Goldmann für diesen Einschnitt aber keine größeren Auswirkungen, sondern sieht ihn als „Startschuss für die bleiernen 80er Jahre“.26 1979 war auch für Rosenfeld ein Jahr, das einen Einschnitt bedeutete, auch wenn er selbst sein Erleben der siebziger und achtziger Jahre und der DDR-Zeit eher an bestimmten dominierenden Persönlichkeiten festmacht als an kulturpolitischen Ereignissen. Eisler, Dessau und Ernst Hermann Meyer sind für ihn die entscheidenden Köpfe, sodass in die siebziger und achtziger Jahre die Zäsur des Todes von Dessau fällt, nach der Meyer – nach Rosenfelds Erleben – nun endlich seine Stunde für gekommen hielt. Rosenfeld schätzte aber ein, dass es Ende der siebziger Jahre für Meyer zu spät war, noch zu triumphieren, was wiederum mit den stattgefundenen Lockerungen zusammenhing, die von Rosenfeld in diesem Zusammenhang aber nicht thematisiert wurden. Aber auch der Einschnitt mit dem Tod Dessaus hatte für Rosenfeld keine weitreichenden Auswirkungen, er sah sich im Gegenteil 1987 immer noch in der gleichen Situation wie 1963 mit seinem Violinkonzert.27 Lothar Voigtländer beschreibt die Situation nach dem Tod Paul Dessaus dahingehend, dass sich (systemimmanent) alles immer nur um die Frage gedreht habe, wer der nächste Dessau sei. Er habe als dogmatisch empfunden, dass statt eines gesunden Pluralismus „immer ein neuer Leitwolf von der Partei auserkoren werden musste“, die Wahl sei dann aufgrund seiner Schaffensdichte und Präsenz „mehr oder weniger“ auf Goldmann gefallen.28 3.3.1.4
Die 1980er Jahre
Die achtziger Jahre wurden von den Komponisten augenscheinlich homogener, weniger differenziert und weniger durch bestimmte Fixpunkte gegliedert wahrgenommen als die 25
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Vgl. Geißlers Ansichten im Zusammenhang mit der Diskussion um die Neue Einfachheit, Kap. 3.3.2. Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Gespräch der Autorin mit Gerhard Rosenfeld in Potsdam-Rehbrücke am 1.3.2000. Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000, sowie nochmalige Verständigung im April 2012.
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siebziger. Das bestätigt die Beobachtung einer uneinheitlichen und undurchdachten Kulturpolitik. Oft wird von einer ‚bleiernen Zeit‘ oder einer ‚Stagnation‘ gesprochen. Der Standpunkt hängt meist vom Alter des Befragten ab. Außerdem setzen die Komponisten auch unterschiedliche Zeitpunkte für den Beginn dieser Stagnation an. Voigtländer, der ja eine verzögerte Realisierung der neuen theoretischen Modifikationen konstatierte, sieht die Stagnation erst ab Mitte der achtziger Jahre, da sei aus dem Aufbruch, den er Ende der siebziger ansetzte, dann die Luft raus gewesen. Außerdem führt er an, dass sich der Musikbetrieb zunehmend internationalisierte und gleichzeitig eine einengende Wirkung ausübte.29 So traf ihn noch 1983 das Verbot, seine Kammermusik „Vergesse ... Durcheinander... o süße“ aufzuführen.30 Auch Günter Neubert sieht die Lockerungen erst Anfang der 1980er Jahre greifen. Von Stagnation in diesem Jahrzehnt spricht er nicht, bejaht aber den Eindruck von einer Spielwiese, auf der fast alles möglich war, aber auch alles ignoriert wurde.31 Wilfried Krätzschmar findet die Bezeichnung bleiern für die 1980er Jahre etwas drastisch, stimmt aber der Beobachtung eines Stillstandes zu und nennt Gründe für die Stagnation. So sieht er die politische Situation in der Welt als Grund, der Aufbruch sei vorbei gewesen, das internationale Konfliktgebaren habe sich zugespitzt, was zu einer allgemein bedrückten Stimmung in der DDR geführt habe und zu der Einsicht, dass „so etwas Tolles“ nun doch nicht zu verteidigen sei. Beide Systeme seien in einer Art Perspektivlosigkeit gestrandet. Als zweiten Grund der Stagnation in den 80ern sieht Krätzschmar die für ihn klare Tatsache, dass die Spielereien mit dem musikalischen Material nun für viele Komponisten langweilig geworden seien und sie nach häufig oberflächlicher Beschäftigung damit zu etwas anderem zurückkehrten wie zum Beispiel zur Neoromantik, Neuen Einfachheit oder „zurück zum Hörer“. Für ihn wäre das eine Kapitulation und Selbstaufgabe gewesen. Der „Neuheitseffekt des Materials“ sei erschöpft gewesen und nun hätte man damit wirklich arbeiten müssen, was vielen scheinbar zu anstrengend gewesen sei.32 Goldmann konstatiert, dass es ihm in den 1980er Jahren trotz der fühlbaren Stagnation gut gegangen sei. Und auch dass Heinz Alfred Brockhaus Goldmann als politischen Wirrkopf bezeichnete, konnte ihm in dieser Zeit, da er freischaffend war, nicht mehr viel anhaben. Allerdings betont er auch, dass er nicht freischaffend war, weil er das unbedingt so wollte, sondern weil er und andere an den Hochschulen keine Chance gehabt hätten.33 Die Feststellung, dass die Stagnation dadurch zustande kam, dass alles möglich war, dass dies aber auch gleichzeitig alles ignoriert wurde, war unter den Komponisten am häufigsten anzutreffen. Krätzschmar nennt dies „die Kehrseite der Freiheit“34. 29 30 31 32 33 34
Zur Diskussion um die Zementierung der Avantgarde vgl. Kap. 3.3.2. Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000. Gespräch der Autorin mit Günter Neubert in Leipzig am 30.10.1999. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999.
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Georg Katzer antwortet auf die Frage danach, ob er nach 1980 das Gefühl gehabt habe, auf einer Spielwiese zu existieren, dass die Ignoranz heute größer sei. Er kann aber der Beobachtung, dass die achtziger Jahre von einer gewissen Stagnation geprägt waren, nicht widersprechen, allerdings wurde der Künstler trotzdem beobachtet, weil das ein Freiraum war, der den Ideologen nicht geheuer war. Auch für sich selbst stellt er fest, dass die siebziger Jahre eher vom Experiment geprägt, obwohl er den Begriff eigentlich gar nicht mag, und somit charakteristischer waren als die achtziger Jahre. Dies sei aber nicht verwunderlich, da biographisch normal: Die siebziger habe er als 40jähriger entsprechend wild erlebt, die achtziger dann weniger. Für andere Generationen sei dies naturgemäß anders und müsse nicht unbedingt in einem politischen Zusammenhang stehen. Im Gegenteil führt er an, dass in den 1980er Jahren ständig in privaten Diskussionszirkeln die Regierung abgeschafft worden sei, was im Kontrast zu Beobachtungen stehe, die die Stagnation des Musiklebens betreffen.35 Auch Günter Neubert vergleicht die Situation der 80er Jahre mit den Verhältnissen nach der Wende und stellt für das letzte Jahrzehnt der DDR ein „Zurückführen“ des Wertes von Kunst und Kultur auf Beliebigkeit fest, so wie das jetzt nach der Wende ebenfalls zu beobachten sei. Neue Musik habe nur einen verschwindenden Anteil am Kulturleben gehabt, diesen Status habe man belassen, und die Neue Musik sei ein kleines Ghetto gewesen, uninteressant für die Öffentlichkeit.36 Treibmann wiederum kann die Empfindungen von musikalischer Stagnation in den Achtzigern gar nicht nachvollziehen. Er hält das Erleben von Stagnation für individuelle Ansichten seiner Kollegen. In dieser Zeit seien unter anderem Sinfonien und Opern von ihm uraufgeführt worden, die auch große Wirkungen gezeitigt hätten.37 Lutz Glandien antwortet auf die Frage nach der Situation in den achtziger Jahren, dass er sich in Berlin keinesfalls auf eine Spielwiese abgedrängt gefühlt habe, im Gegenteil sei er ziemlich provokant gewesen, nicht anders als im Jahrzehnt vorher, wobei aber die Situation in den siebzigern, als er in Dresden war, anders und wesentlich problematischer gewesen sei. Berlin war viel offener, für ihn sehr spannend und überhaupt keine Nische.38 Walter Thomas Heyn bejaht die Frage nach der Spielwiese und fügt hinzu, die Musik sei in den Achtzigern so unwichtig gewesen, dass man keine gesellschaftlichen Ressourcen dafür opfern wollte, sie habe einfach funktioniert. „Spielwiese“ bewertet er als für die achtziger Jahre völlig präzisen Begriff, es sei eine Beschäftigung von „großen Jungs“ gewesen, damit sie nicht „auf noch dümmere Gedanken“ kommen, mehr nicht. Hinter der kulturpolitischen Praxis, Nischen zu tolerieren, habe ein großes Maß an Hilflosigkeit
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Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin, am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Günter Neubert in Leipzig am 30.10.1999. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999.
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gesteckt: Die Verantwortlichen hätten kurz vor der Wende bezüglich der Kulturpolitik alles nur noch laufen gelassen, weil sie andere Sorgen hatten.39 Hans-Friedrich Ihme beschreibt seine Erfahrungen, die er bei der Mitarbeit an Trickfilmen gemacht hat. Dort wurden in den Achtzigern die Dinge sehr genau wahrgenommen und auch Filme verboten. Ihme ist der Meinung, dass eher Einzelne die Zeit zwischen 1980 und 1990 als Spielwiese erlebt hätten, nicht aber die Mehrheit der Komponisten.40 Steffen Schleiermacher fand die letzten 10 Jahre der DDR „auf bizarre Art belustigend“. Er organisierte an der Leipziger Musikhochschule Konzerte u. a. mit Werken von Stockhausen, Webern, Boulez, Cage, Schenker und Goldmann, aber die zeitgenössische Musik habe nicht so im Zentrum der Observation gestanden, wurde aber geduldet und gefördert, weil sie ein Aushängeschild gewesen sei und zum Teil Devisen gebracht habe.41 Ein wichtiger Grund für die unterschiedliche Wahrnehmung der einzelnen Phasen ist das Alter des jeweiligen Komponisten. Für Jüngere hat die Stagnation in den achtziger Jahren weniger eine Rolle gespielt, weil sie sich in dieser Zeit erst als Komponisten etablieren mussten und sich in den siebziger Jahren noch in der Ausbildung befanden. Dies gilt zum Beispiel für René Hirschfeld, der 1989 erst 24 Jahre alt war, aber auch für Lutz Glandien. Die etwas ältere so genannte Avantgarde-Generation um Dittrich, Goldmann, Katzer, Schenker und Bredemeyer hatte ihre „wilden“ Jahre eher Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, in einer Zeit, in der sie sich durchsetzten. Deshalb vertreten sie eher die Meinung einer gewissen kulturpolitischen Stagnation in den achtziger Jahren. Als wesentlich hemmender empfanden diejenigen Komponisten diese Zeit, die gleichen Alters wie diese Avantgarde waren, aber nicht zu ihr gehörten. Die Achtziger waren zudem allgemein gesellschaftlich von Stillstand geprägt, der also kein nur musikalisches Phänomen darstellte. Teilweise erschien den Komponisten die Ignoranz der Ideologen gegenüber der ‚Spielwiese‘ auch als Teil einer allgemeineren Paralyse. Diejenigen aber, deren Musik in den Achtzigern viel aufgeführt wurde, sehen das natürlich oft nicht so. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass die Avantgarde in den Achtzigern ebenfalls viele Aufführungen hatte und viele dieser Komponisten trotzdem von Stagnation und Ignoranz in diesen Jahren sprachen. Als besonders interessant erweist sich Gerhard Rosenfelds Einteilung der zwanzig Jahre nach den für ihn als jeweils führend erlebten Komponisten beziehungsweise Theoretikern. Dies zeigt, dass die Kulturpolitik nicht auf jeden gleichermaßen prägend gewirkt hat. Seine Sicht der Entwicklungen hat mit der allgemeineren Einteilung die Einschätzung einer Krise durch den Tod Paul Dessaus gemeinsam. Dass nach Dessaus 39 40 41
Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit Hans-Friedrich Ihme in Berlin am 1.11.1999. Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999.
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Zwei Versuche der Einschätzung
Tod nach Rosenfelds Erleben Ernst Hermann Meyer seine Stunde gekommen sah, korrespondiert mit Voigtländers These, dass nun der Versuch einsetzte, die Doktrin des Sozialistischen Realismus wieder zu beleben. Meyer und seine Mitstreiter Siegfried Köhler und Fritz Geißler hatten übrigens damit keinen Erfolg, beförderten damit aber möglicherweise indirekt und unabsichtlich eine Verhärtung der Avantgarde.
3.3.2
Ein alternativer Interpretationsansatz: Zementierung – Avantgarde – Zementierung der Avantgarde
Neben die an kulturpolitischen Einschnitten wie den Musikkongressen, dem Machtwechsel zu Erich Honecker oder der Biermann-Ausbürgerung orientierte Unterteilung der musikalischen Entwicklung der 1970er und 1980er Jahre in der DDR wird hier ein alternativer Interpretationsansatz gestellt. Dieses alternative Einteilungskonzept kann Relationen zwischen der Avantgarde und der Kulturpolitik einerseits sowie zwischen Avantgarde und allgemeinem musikalischen Umfeld, besonders anderen Komponisten, andererseits aufzeigen. Dabei steht der Aspekt des musikalischen Materials an vorderster Stelle, über den sich diese Avantgarde hauptsächlich definierte oder von ihr zu- oder abgeneigten Musikwissenschaftlern definiert wurde. Natürlich betrifft die Darstellungsweise unter dem Blickwinkel einer kompositorischen Avantgarde sowie deren späterer Zementierung nicht die gesamte musikalische und kompositorische Landschaft der DDR, aber für einen großen Teil der Komponisten und auch Musikwissenschaftler beschreibt sie einen wesentlichen Teil des Diskurses. 3.3.2.1
Erste Phase: Zementierung
Unter dem Materialaspekt können die in Rede stehenden zwanzig Jahre auch als eine Abfolge von Zementierung und Avantgarde beschrieben werden, wobei die ideologische Zementierung den ersten Abschnitt bildet, sie betraf die Werke der späteren Avantgarde-Generation vor Anfang der siebziger Jahre. Schon an anderen Stellen wurde auf Aufführungs- und Sendeverbote hingewiesen, weiterhin fanden sich auch immer wieder Artikel, besonders in Musik und Gesellschaft, die gegen entsprechende Komponisten und Werke gerichtet waren, außerdem gab es die Diskussionen im Komponistenverband, häufig ausgehend von konkreten Stücken und deren Aufführungen. So übernahmen beispielsweise Fritz Geißler und Eberhard Lippold eine Patenschaft über Friedrich Schenker, um ihn nach seinem Stück für Virtuosen 1971 wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Dies war Ergebnis einer Diskussion in der Akademie der Künste der DDR, die außerdem Paul-Heinz Dittrichs Kammermusik I zum Gegenstand hatte.42 42
Zit. nach Dibelius/Schneider (Hrsg.), Neue Musik im geteilten Deutschland, Bd. 3: Dokumente aus den siebziger Jahren, 1997, S. 267f.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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Alle Komponisten dieser so genannten Avantgarde, zu deren engerem Kreis hauptsächlich Goldmann, Schenker, Katzer, Dittrich, Bredemeyer und auch Matthus gezählt wurden, trafen Aufführungs- oder Sendeverbote, die wiederum jeweils einzelne Stücke oder das ganze Schaffen betrafen. Teilweise begannen die entsprechenden Probleme bereits im Studium, es gab Verbote, zu Wettbewerben ins westliche Ausland zu reisen, die gar nicht direkt als Verbote ausgesprochen werden mussten, denn schon die Nichterteilung der Reiseerlaubnis kam einem Verbot gleich. Die größtenteils nicht vorhandenen Reisemöglichkeiten zu Aufführungen eigener Stücke ins westliche Ausland betrafen natürlich nicht nur die Avantgarde. Da diese erste Zementierungsphase größtenteils vor Beginn des interessierenden Zeitraums lag, wurde sie hier nur kurz charakterisiert. Ihre ideologischen und kulturpolitischen Grundlagen waren Gegenstand voriger Kapitel. Die beiden folgenden Phasen – hier „Avantgarde“ und „Zementierung der Avantgarde“ genannt – betreffen nun hauptsächlich den zu betrachtenden Zeitraum und werden deshalb eingehender beleuchtet. 3.3.2.2
Zweite Phase: Avantgarde
Mit den schon beschriebenen Öffnungen Anfang der 1970er Jahre begann die Avantgarde-Zeit der Generation Goldmann, Schenker, Katzer, Dittrich, Bredemeyer – und natürlich auch anderer, aber diese fünf wurden und werden hauptsächlich mit dieser Entwicklung in Verbindung gebracht. Verbote wurden aufgehoben, wobei dies alles in für die DDR typischer Art und Weise jeweils in den seltensten Fällen aufgeschrieben oder anders festgehalten war und es deshalb auch keine offiziellen Aufhebungen solcher Verbote gab. Einige Komponisten konnten bald auch ins westliche Ausland reisen, gewannen dort Preise, wurden in der DDR zunehmend häufiger aufgeführt, bekamen Stellen an Hochschulen, an der Akademie oder andere Förderverträge. Das hieß aber nicht, dass nun alle Verbote oder versteckten Schwierigkeiten beendet waren. Die beschriebene Unberechenbarkeit der DDR-Kulturpolitik brachte bis zuletzt Probleme mit Stücken mit sich. Ein Dilemma gerade für die Komponisten der aufkeimenden Avantgarde in der DDR ergab sich aus der Tatsache, dass systemkonforme Komponisten praktisch nicht im westlichen Ausland gespielt wurden, dagegen aber die Werke der Avantgarde immer stärker auch im Westen nachgefragt wurden und teilweise von einzelnen Komponisten auch für westliche Ensembles geschrieben wurden. Dadurch entstand für die offizielle Kulturaußenpolitik der DDR ein Zwiespalt, der darin bestand, dass eigentlich nicht die Absicht existierte, die Avantgarde fördern zu wollen, diese aber gleichzeitig ein willkommenes Aushängeschild im Westen darstellte. Das gleiche Dilemma existierte auch für die Komponisten selbst, die, wenn sie im Westen gespielt werden wollten, gleichzeitig eine Vereinnahmung ihrer Werke durch die offizielle Kulturpolitik in Kauf nehmen mussten, da diese mit den Werken der Avantgarde dem Westen zeigen konnte, was in der DDR doch alles möglich und erlaubt war. Vereinzelt, das lässt sich jedenfalls
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Zwei Versuche der Einschätzung
für die Komponisten Szenischer Kammermusik und verwandter musiktheatralischer Formen sagen, bemühten sich sogar Komponisten, die sonst weniger avanciertes Material verwendeten, wie beispielsweise Wolf-Günter Leidel, der spätromantische Musik schrieb, sich dieses Materials zu bedienen, um im westlichen Ausland (hier Boswil/Schweiz) eine scheinbar bessere Chance bei der Teilnahme an einem Wettbewerb zu haben. 1976 ist auch für diese Sichtweise der oben beschriebene Einbruch zu verzeichnen, wobei sich die Auswirkungen auf die Komponisten, sofern überhaupt konkrete Auswirkungen bekannt sind, sehr unterschiedlich gestalten. So wird beispielsweise Paul-Heinz Dittrich aus der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin entlassen, die Hochschulleitung toleriert nicht länger seine Unterrichtsgestaltung, in der er den Studenten auch avancierte Kompositionstechniken nahe brachte.43 Nach dem Ruf auf eine Vertretungsprofessur in Freiburg im Breisgau, befanden sich die Verantwortlichen in der DDR in Zugzwang und Dittrich bekam 1979 einen Professorentitel verliehen, der aber mit keiner Hochschulstelle verbunden war, sondern sicherstellen sollte, dass Dittrich in Freiburg ein Professorengehalt erhielt, das er in großen Teilen an die DDR abgeben musste.44 Andere Komponisten profitierten aber auch gerade im Jahr 1976 von den Öffnungen. Friedrich Goldmann etwa konnte, abgesehen von seinem Darmstadtbesuch als Schüler 1959, erstmals in den Westen zu einer Aufführung reisen.45 Der für 1979 registrierte Einschnitt spielte auch für die inzwischen schon erstarkte Avantgarde eine große Rolle, weil sie ihren Mentor Paul Dessau verlor. So schreibt Frank Schneider 1981 in Musik und Gesellschaft in seiner Analyse einer Gemeinschaftskomposition von Schenker, Bredemeyer und Goldmann in memoriam Paul Dessau: „Ohne Dessau kämpft es sich schwerer für den musikalischen Fortschritt; und am besten wissen das seine Freunde, jene Komponisten vor allem, die mit ihrer avancierten Arbeitshaltung ihm die Treue halten.“46 Im Großen und Ganzen konnte sich diese Avantgarde aber in den 1970ern durchsetzen, sodass auch Dessaus Tod und die damit verbundenen Versuche einiger Hardliner wie Meyer oder Köhler, die Entwicklungen noch einmal zu stoppen und einengende Postulate des Sozialistischen Realismus wieder wirksamer zu machen, keinen hemmenden Einfluss mehr ausüben konnten. Den Übergang von der notwendigen Verteidigung einer Avantgarde gegen solche Versuche, sie wieder zurückzudrängen, zu ersten Debatten über die Zulässigkeit einer avancierten Kompositionsweise als Maßstab für die Einschätzung der Qualität einer 43
44
45 46
Vgl. Gespräch mit Ursula Stürzbecher, in: Paul-Heinz Dittrich, Nie vollendbare poetische Anstrengung. Texte zur Musik 1957–1999, hrsg.v. Stefan Fricke u. Alexandra Raetzer, Saarbrücken 2003, S. 185–194, hier S. 186. Vgl. Nicht für’n Appel und’n Ei! Interwiev mit Werner Dannenberg 31.10.1997, in: Dittrich, Nie vollendbare poetische Anstrengung, 2003, S. 295–302, hier S. 296f. Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Frank Schneider, Neue Werke unserer Komponisten. Friedrich Schenker, Reiner Bredemeyer, Friedrich Goldmann Gemeinschaftskomposition für Streicher, in: Musik und Gesellschaft 31, 1981, S. 666f., hier S. 666.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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Komposition, zeigt eine Diskussion in Musik und Gesellschaft über die Forderung nach Neuer Einfachheit 1980. Denn aus dem Kontext der Debatte um die Verhärtung von Ansichten der Avantgarde und ihrer Kompositionstechniken kann der Diskurs um die Neue Einfachheit nicht weggedacht werden, da aus Sicht der Avantgarde die Neue Einfachheit in der DDR als Versuch gewertet werden konnte, den Sozialistischen Realismus unter neuem Namen zurückzuholen.47 Gleichzeitig war die Neue Einfachheit aber eine sich im Westen etablierende neue Strömung. Die Problematik dieser verschiedenen Wertungsmöglichkeiten stellt Michael Dasche in seinem Artikel Tradition und Neuerertum heute 1980 dar. Nachdem er dort konstatiert, dass Neue Einfachheit im Westen aktuell sei und das auch für die DDR akzeptable Ziel der Fasslichkeit verfolge, schränkt er ein: „Eine wesentliche Konsequenz dieses Postulats besteht nämlich darin, daß es – in seiner ursprünglichen Gestalt genommen – eine grundsätzlich veränderte Position zum musikalischen Fortschritt beinhaltet. Verändert oder im Gegensatz stehend zunächst natürlich auch zur bisherigen ‚Avantgarde‘, deren wohl typischstes Merkmal die Orientierung an Entwicklung und Entwicklungsstand von Material und Technik ist. Eben dieser Bezug wird weitgehend preisgegeben [...]“48
Weiter kritisiert Dasche, dass Neue Einfachheit „den Bezug von Musik auf einen realen ‚außermusikalischen‘ Fortschritt negiert“ und einseitig innermusikalische Gesichtspunkte betone.49 In der sich anschließenden Diskussion des Themas beschreibt der Leipziger Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm das Phänomen der Neuen Einfachheit und akzentuiert besonders die seiner Ansicht nach naive Haltung ihrer Vertreter zur Tradition: „Das alles [Aufbegehren gegen Traditionen, K. S.] wollen die heutigen Tonalisten nicht. Sie greifen nicht etwa vergangene Probleme auf, die unabgegolten sind. Sie streichen die unmittelbare Vergangenheit durch, statt ihre Errungenschaften kritisch zu verarbeiten. Ihre Haltung der Tradition gegenüber ist naiv. Es ist die beliebte ‚Zurück-zu-Haltung‘.“50 Den älteren Komponisten, die zuerst „umkehren“ attestiert Klemm indirekt, entgegen ihren Bedenken serielle Kompositionsweisen einfach „mitgemacht“ zu haben: „Es nimmt nicht wunder, daß von den älteren Komponisten diejenigen zuerst ‚umkehren‘ und wieder tonal schreiben, die gegen die serielle Quantifizierung der Musik
47
48
49 50
Vgl. Katrin Stöck, Analyse als kulturpolitisches Instrument? Zur musikwissenschaftlichen Praxis in der DDR und ihrer Wahrnehmung durch die Komponisten, in: Musikwissenschaft an der Schwelle des neuen Jahrtausends. Kongressbericht Brno 2000, hrsg. v. Petr Macek, Prag 2001, S. 276–283. Michael Dasche, Tradition und Neuerertum heute, „Neue Einfachheit – Fortschritt oder Zurücknahme?, in: Musik und Gesellschaft 30, 1980, S. 321–24, hier S. 323f. Ebda. Eberhardt Klemm, „Neue Einfachheit“ – Probleme einer „Zurück-zu-Bewegung“, in: Musik und Gesellschaft 30, 1980, S. 334–338, hier S. 337.
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Zwei Versuche der Einschätzung
stets Bedenken hegten, die aber, aus welchen Gründen auch immer, trotzdem mitgemacht haben.“51 Wichtig für die Diskussion um die Avantgarde sind Klemms Ausführungen über den Zusammenhang von Neuer Einfachheit und dem Kommunikationsverhältnis von Zuhörern und Künstlern in Konzertformen. Deutlich wird, dass auch Klemm befürchtet, dass mit der Etablierung der Neuen Einfachheit diese von der Avantgarde der 70er Jahre – Klemm nennt zwei Beispiele Szenischer Kammermusik – geweiteten Kommunikationsmöglichkeiten wieder konventionalisiert werden könnten: „Fast logisch, daß die neueste ‚Zurück-zu-Bewegung‘ die alte passive Konzerthaltung restituiert. Es scheint dabei, als ob es die vieldiskutierte Forderung Eislers nach Veränderung der bürgerlichen Konzertform nie gegeben hätte. Auch hier begegnet wieder die Zementierung von Gegensätzen, die Polarisierung von Extremen. Auf der einen Seite haben wir Stücke – ich nenne hier stellvertretend nur Friedrich Schenkers ‚Missa nigra‘ und Reiner Bredemeyers ‚Bilderserenade‘ –, die wirklich, und zwar mit Erfolg, die alte Konzertform sprengen, auf der anderen Seite Gebilde, die wie die jüngsten von F. Geißler, weil sie den Hörer um jeden Preis erreichen wollen, um mit Brecht zu reden, reines Genußmittel werden. Jedoch ist die Annahme falsch, daß das reine Genußmittel den Anspruch des Hörers wirklich respektiert. [...] Die da glauben, [...] im Namen des Hörers jene Richtungen aburteilen zu müssen, die sich gegen die ‚Zurücknahme‘ sperren, laufen Gefahr, dem Hörer jegliche Lust auf geistiges Abenteuer auszutreiben, auf Auseinandersetzung mit dem Jetzt und Hier, auf eine Musik, die nicht nur unterhält, sondern Schritt hält mit den neuesten Erkenntnissen der Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Sie machen aus der sicher unabdingbaren Auseinandersetzung mit der Tradition ein problemloses idyllisches Spiel, Zurücknahme nicht nur der neuesten Gestaltungsmittel, sondern Zurücknahme auch des Wahrheitsanspruches der Musik.“52
Klemm betont hier nochmals den auch von der Avantgarde erhobenen Anspruch einer gesellschaftlichen Relevanz der Stücke. Dieser Anspruch geht mit der Forderung nach einem mündigen Hörer einher bzw. versucht solche Höreinstellungen zu befördern. Gesellschaftliche Relevanz meint die als kleinsten gemeinsamen Nenner von Kulturideologie und Avantgarde in der DDR herausgearbeitete Aussageabsicht der Stücke, die von den sich vom Sozialistischen Realismus distanzierenden Komponisten aber nicht ideologiekonform, sondern in jeweils persönlicher Weise umgesetzt wurde. Auch Georg Katzer nimmt Bezug auf die von Klemm beschriebene Art von gesellschaftlicher Relevanz, wenn er im Rahmen der Diskussion zur Neuen Einfachheit schreibt: „Wenn wir beim Realismus-Konzept der Kunst bleiben wollen, und das hatte ich eigentlich vor, dann wird man doch nicht durch eine bloße Setzung ihre Erscheinung willkürlich verändern können. Man kann sie nicht nach Belieben vereinfachen, es sei denn der Realitätsverlust wird in Kauf genommen oder sogar eingeplant.“53 Und 51 52 53
Ebda. Ebda., S. 338. Georg Katzer, Die neue Gretchenfrage, in: Musik und Gesellschaft 30, 1980, S. 339f., hier S. 339.
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seine Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der kompositionstechnischen Entwicklungen seit dem Anfang des Jahrhunderts ist deutlich: „Können wir auf die kompositionstechnischen Erfindungen unseres Jahrhunderts verzichten, ohne zu Infantilismus oder historisierendem Epigonentum verdammt zu sein? Wir werden es nicht können. [...] Wir dürfen die Erfindungen der letzten siebzig Jahre nicht leichtfertig neuerlichen Verdikten preisgeben. Wir werden sie allerdings prüfen müssen, um etwaigen theoretischen Ballast abzuwerfen.“54
Interessant ist hier auch wieder die Meinung von Siegfried Matthus zu diesem Problem, denn nach seiner Feststellung, die Forderung nach Schönheit, Einfachheit und Tonalität seien nicht neu in der Musikgeschichte, führt er aus: „Allein das Wörtchen ‚neu‘ bezeichnet die Tatsache, daß diese ästhetischen Erscheinungen und kompositionstechnischen Grundlagen in der zeitgenössischen Musik der letzten Jahre scheinbar verloren gegangen sind (im Falle der Tonalität ein nicht zu leugnender Fakt). Unüberhörbar ist aber die eindeutige Frontstellung gegen gefestigte ästhetische und kompositionstechnische Praktiken der gegenwärtigen Tonkunst. Dabei sind wir nicht wenig stolz darauf, daß wir nun auch in unserem Lande einen international anerkannten ‚historischen Materialstand‘ erreicht haben. Durch hartnäckige Kämpfe mühsam Erreichtes soll nun wieder aufgegeben werden? Waren die Ziele unserer Veränderungen in den letzten 20 Jahren falsch, und haben eventuell diejenigen recht, die uns in manchen Diskussionen mit politisch-ästhetisch abgesicherten Argumenten schon immer vor diesen Zielen gewarnt haben? Die Neuerer von gestern werden in Verteidigungspositionen gedrängt. Was ist passiert? Kündigt sich eine neue ‚Revolution‘ an, oder sind hier restaurative Tendenzen zu konstatieren?“55
In Matthus’ Aussage ist deutlich zu erkennen, dass er einerseits das von der Avantgarde Erreichte verteidigen wollte und die Veränderungen als notwendig ansah und gleichzeitig sich den von ihm aufgeworfenen Fragen stellen, „aber nicht in den Strudel der vielen Material- und Methodenzwänge hineingerissen werden“56 wollte. Die Befürchtung eines Übergangs zu einer eingeengten Avantgarde, die sich von einem bestimmten Materialstand abhängig macht bzw. abhängig gemacht wird, formuliert Matthus so: „Die meisten einseitig und ausschließlich angewandten neuen Kompositionstechniken sind kommunikationsmüde geworden. Auch das letzte, worin sie bisher noch funktionierten, geht verloren: Sie provozieren nicht mehr. Zeitgenössische Musik ist mitunter steril geworden und isoliert sich immer mehr.“57 Und so fordert er in seinem Resümee die
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56 57
Ebda., S. 340. Siegfried Matthus, Prozeß ästhetischen Umdenkens, in: Musik und Gesellschaft 30, 1980, S. 340f., hier S. 340. Ebda. Ebda., S. 340f.
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Konzentration auf die Ästhetik eines Kunstwerks und eben nicht auf die Kompositionstechnik: „Ich sehe in den neuen Entwicklungen und Tendenzen weder eine Revolution noch eine restaurative Erscheinung – auch keine Mode, wie so oft abwertend darüber geurteilt wird –, sondern ganz einfach eine normale Entwicklung. Das dogmatische Festhalten an Errungenschaften von gestern ist genauso falsch, wie eine oberflächliche Rückbesinnung auf Gesichertes von vorgestern. Das ganze Arsenal der alten und neuen kompositionstechnischen Möglichkeiten steht zur Verfügung. Der ästhetische Aspekt einer Komposition muß gegenüber dem technischen aber wieder den Vorrang erhalten.“58
Reiner Bredemeyer stört sich dagegen an dem „dubiosen Begriff“ der Neuen Einfachheit, den er so dubios findet, dass er ihn auch in der Überschrift seines Beitrages nicht direkt erwähnt, das „Unterschwellig-in-Verdacht-Bringen“. Er beschreibt diesen Verdacht als die immer wieder gegen die Avantgarde vorgebrachten Vorurteile des Schwierigen, Künstlichen und Hörerfernen: „Verdacht wie: absichtsvoll-schwierig, intellektuell errechnet, unnatürlich-gesucht usw. manche Autoren scheinen Wellen zur Fortbewegung ausnützen zu wollen, die künstlich erzeugt werden. Wellenreiten scheint mir aber auf Notenpapier eine falsche Art der Fortbewegung zu sein. Benutzkis mögen aufatmen, jubeln, Tritt fassen oder per Publikum kalkulierten Erfolg wittern. Auch Musik machen könnte man das Einfache nennen, das schwer zu machen ist, und Methoden oder Schlagworte werden uns kaum zu den neuen Schönheiten führen, die uns allen doch so angenehm wären.“59
Die Wortmeldung von Fritz Geißler, einem der Vertreter der Neuen Einfachheit, bringt genau diese Vorurteile wieder zur Sprache und unterstützt so die Versuche, die inzwischen etablierte Avantgarde erneut zu diskreditieren. Solche und ähnliche Wortmeldungen waren es, die Komponisten und Musikwissenschaftler nötigten, die avancierten Kompositionstechniken und die entstandenen Werke zu verteidigen. „Dieses Schlagwort, und besonders das Adjektiv ‚neu‘, suggeriert, daß die sogenannte avantgardistische Musik der letzten Jahrzehnte, die sich als die zeitgenössische Musik zu präsentieren versuchte, kompliziert, hochentwickelt und anspruchsvoll, die traditionelle hingegen einfach sei. Doch meist ist das Gegenteil der Fall. Jeder Eingeweihte weiß, daß es relativ einfach ist, entsprechende kompositionstechnische Handgriffe zu erlernen, um avantgardistische Werke zu erstellen. Da die Aussage in dieser Musik häufig keine oder nur eine kümmerliche Rolle spielt, beschränkt sich diese
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Ebda., S. 341. Reiner Bredemeyer, „N. E. (?)“, in: Musik und Gesellschaft 30, 1980, S. 615.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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Art von Komponieren auf das mehr oder weniger willkürliche, durch jeweilige Modediktat bestimmte Zusammenstellen von Tönen.“60
Auch Geißler spricht sich gegen die Erfindung neuer Schlagworte aus, aber seine Argumentationsrichtung war gleichwohl die eines Rückgriffs auf die Tradition, wobei er den avancierter komponierenden Komponisten nicht nur vorwirft, mit leicht zu erlernendem Handwerkszeug Werke zu „erstellen“, sondern gleichzeitig, mit diesen Werken keine Aussage zu intendieren: „Wir brauchen keine neuen Schlagworte. Notwendig aber ist es, gewisse im Komponistenverband kursierende und wirkende ästhetische Auffassungen vom Kopf auf die Füße zu stellen. [...] Musikalische Werke werden nicht zu dem Zweck komponiert, um Material und Technik zu demonstrieren, sondern musikalisches Material und Kompositionstechnik sind Mittel zum Zweck. Zweck ist die künstlerisch-musikalische Aussage, die Voraussetzung einer ästhetischen Wirkung ist. „61
3.3.2.3
Dritte Phase: Zementierung der Avantgarde
Die achtziger Jahre können, nach den kurzen Irritationen nach Dessaus Tod, als Zeitraum der Zementierung dieser Gruppe von Komponisten anderen Komponisten gegenüber beschrieben werden. Die Vertreter der Avantgarde, auch die sie begleitenden Musikwissenschaftler, definierten ihre Errungenschaften besonders im kompositionstechnischen Bereich als zu nutzenden Stand der Technik. Sie hatten sich inzwischen Handlungsfreiräume und Entscheidungsmöglichkeiten durch entsprechende Positionen erarbeitet, so zum Beispiel als Professoren an Musikhochschulen oder als Akademiemitglieder, sie wirkten mit bei der Konzeption der wichtigsten Festivals wie der Berliner Biennale oder den DDR-Musiktagen und natürlich bei den Festivals zeitgenössischer Musik in den Bezirken. Im Folgenden geht es um eine andere Sichtweise auf die Avantgarde in den 80er Jahren geht, die zum großen Teil von den Äußerungen der Komponisten in den Interviews untermauert wird. Die vehemente Art, mit der sich Musikwissenschaftler wie Frank Schneider, Gerd Rienäcker, Stefan Amzoll und andere und natürlich die Komponisten für die Etablierung der Avantgarde und das Aufweichen der Dogmen eingesetzt haben, verdient große Achtung und soll hier in keiner Weise relativiert werden. Im Vordergrund dieser Arbeit steht der Versuch, die verschiedenen Argumentationsebenen aufzuzeigen und den Umgang der in unterschiedlicher Weise Betroffenen mit der Diskussion aufzuzeigen. Auch ist zu bedenken, dass unmaskiertes Sprechen oder Schreiben in der
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Fritz Geißler, Vielschichtigkeit und Tiefe der musikalischen Aussage, in: Musik und Gesellschaft 30, 1980, S. 691. Ebda.
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Zwei Versuche der Einschätzung
Regel nicht möglich war und für solche Texte auch ihre jeweilige Rolle im Diskurs mitgedacht werden muss. So können die Äußerungen des ersten Sekretärs des Komponistenverbandes Peter Spahn in einem Interview zum dreißigjährigen Bestehen des Verbandes 1981 zwar als Versuch interpretiert werden, die etablierte Avantgarde doch noch einmal in den Hintergrund zu drängen. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass sich diese Avantgarde gerade von musikwissenschaftlicher Seite unterstützt sehen kann – Frank Schneiders Bahn brechendes Buch Momentaufnahme erschien 1979 – und diese Unterstützung bereits als Verschiebung der ästhetischen Maßstäbe rezipiert wird. Spahn sagt im zitierten Gespräch auf die Frage, ob neben vielen positiven Beispielen im Musikleben nicht auch „Erscheinungen einer gewissen Esoterik, der Flucht ins Handwerklich-Technische oder Formale zu beobachten“ seien, dass es eine „Entfaltung neuer Methoden der Materialorganisation und neuer Ausdrucksmittel“ gegeben habe und schränkt aber dann ein: „Bei einer Reihe von Werken führt der Gewinn aber zu einem Verlust an Verständlichkeit und Wirksamkeit, steht er im Widerspruch zur Genußfähigkeit selbst solcher Hörer, die Musik lieben, sich ihr gegenüber interessiert und aufgeschlossen verhalten. Diese Entwicklung ist befördert worden durch einige engagierte musikwissenschaftliche und musikkritische Positionen, die ihre Maßstäbe für mein Verständnis zu einseitig vom Handwerklich-Technischen und Formalen des Werkes her beziehen und den gesellschaftlichen Gebrauchswert von neuer Musik zu wenig zum Gegenstand der Wertung machen.“62
Weiter unten behauptet Spahn, dies würde nur wenige Werke betreffen, stellt gleichzeitig aber fest, „daß gerade solche Kompositionen oftmals bei Diskussionen im Verband sowie in der Öffentlichkeit im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Damit werden die Proportionen, wie ich meine, etwas verschoben.“63 Diese Zitate zeigen, wie verschlungen sich die verschiedenen Argumentationslinien präsentieren. Die Absicht, die Avantgarde mit solcher Argumentation doch noch zu marginalisieren und ihre Erfolge zu verkleinern, ist nicht eindeutig von dem Ziel zu trennen, die Zementierung der Avantgarde mit dem Ziel zu verhindern, dass andere Kompositionsweisen gleichberechtigt und ohne ein neues Fortschrittspostulat – nicht zu verwechseln mit dem Fortschrittsanspruch des Sozialistischen Realismus – neben denen der Avantgarde, die sich in der Nachfolge Schönbergs, Weberns, Bergs und der westdeutschen Avantgarde sieht, akzeptiert werden. In meinem Aufsatz Analyse als kulturpolitisches Instrument? Zur musikwissenschaftlichen Praxis in der DDR und ihrer Wahrnehmung durch die Komponisten64 habe ich einige Aspekte dieser Verfestigung der Avantgarde bereits anhand zweier Werke von Georg Katzer und 62
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Liesel Markowski u. Michael Dasche, Rückschau und Ausblick. Gespräch mit dem 1. Sekretär des VKM, Dr. Peter Spahn, in: Musik und Gesellschaft 31, 1981, S. 196–202, hier S. 199. Ebda., S. 200. Stöck, Analyse als kulturpolitisches Instrument?, 2001, S. 276–283.
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Helge Jung diskutiert und gezeigt, dass das Zulassen der Verfestigung unter anderem daraus resultiert, dass damit versucht wurde, der Wiederherstellung von Postulaten des Sozialistischen Realismus entgegen zu wirken.65 Beispiele für die Argumentationslinien finden sich unter anderem im Bericht von Liesel Markowski über die IV. Theoretische Konferenz des VKM. Dort befürchtet Gerhard Müller (laut Markowski, K.S.) in seinem Referat Rückzüge auf „einen nicht modernistischen Traditionalismus“66. Siegfried Köhler fordert nach Markowski dagegen: „Aber wir müßten uns in unserem Verband auch gegen jeden Totalitätsanspruch spätbürgerlicher Provinienz zur Wehr setzen, der uns vorschreiben wollte, wie neue Musik, die diese Bezeichnung in den 80er Jahren allein verdiene, auszusehen habe.“67 1984 wurde ein Rundtischgespräch aus dem Komponistenverband zum Thema „Avantgarde heute“ in Musik und Gesellschaft abgedruckt, an dem unter der Leitung des Chefredakteurs der Zeitschrift Michael Dasche neben den Musikwissenschaftlern Georg Knepler, Konrad Niemann und Frank Schneider die Komponisten Friedrich Goldmann, Wolfgang Hohensee und Siegfried Matthus teilnahmen. Dort formuliert Friedrich Goldmann seine Abneigung gegen den Avantgarde-Begriff einerseits wegen dessen militärischer Herkunft und andererseits, weil „solche Kategorien immer wieder Bestrebungen Vorschub leisten, bestimmte Ausdrucksweisen zu formalisieren, sie in irgendwelche Schubfächer einzuordnen. Der Avantgarde-Begriff widerspricht sich aber selbst, wenn bei seiner Anwendung dieses Schubfachdenken passiert. Meistens ist dann das, was irgendwie von irgend jemandem zur Avantgarde erklärt wird oder sich selbst jemand dazu erklärt, im gleichen Moment das Gegenteil geworden.“68
Siegfried Matthus sieht besonders eine drohende Gegenüberstellung von Strömungen, wenn er formuliert: „Ich glaube, daß gerade die historisch immer wieder auftretende Polarisierung zwischen der Avantgarde und dem sogenannten Traditionalismus auch heute das eigentliche Problem ist, das in unserem Thema steckt.“69 Er regt an, dies für die DDR zu untersuchen. Im Verlauf der Diskussion kommt Matthus auf die bereits von Goldmann angesprochene Gefahr der Verfestigung zurück und analysiert: „Leider gibt es da – in der Vergangenheit und in der Gegenwart – sehr eindeutige Standpunkte. Als Beispiel nenne ich die in unserem Land seit einigen Jahren zu beobachtende Zentrierung auf Schönberg. Aber im Moment gibt es Tendenzen, Schönberg und ‚die Folgen‘, also all das, was international an Einflüssen von der Zweiten Wiener Schule ausging, zur einzigen Meßlatte für heuti65 66
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Dort zitierte Belege werden hier nicht noch einmal gebracht. Liesel Markowski, Die neue Musik in unserer Gesellschaft. Diskussion auf der IV. Theoretischen Konferenz des VKM in Magdeburg, in: Musik und Gesellschaft 32, 1982, S. 12–18, hier S. 18. Ebda. Annäherungsversuche. Protokoll einer Diskussion, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 404–411, hier S. 404f. Ebda., S. 405.
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Zwei Versuche der Einschätzung ges Komponieren zu erheben. Das wird in den meisten Fällen für heutigen Avantgardismus gehalten. [...] Was ich indessen für bedenklich halte, sind in unserem Land zu beobachtende Bestrebungen, an den Errungenschaften einstiger Avantgarde starr festzuhalten, aus ihnen ein neues Dogma zu machen. Diese Position verbindet sich mit einem empfindlichen oder auch rigorosen Reagieren gegenüber einem anderen Musikdenken. Das sind Erscheinungen, die ich für unproduktiv und entwicklungshemmend halte.“70
Frank Schneider entgegnet darauf, dass Schönberg und seine Nachfolger einen entscheidenden Einfluss auf die deutsche Musikgeschichte gehabt haben und diese Betonung daher rühre, aber: „Natürlich hat es in diesem Jahrhundert viel mehr gegeben, und es hätte etwas Sektiererisches an sich, wenn wir uns nur an der ‚deutschen Linie‘ orientierten und darauf den Avantgarde-Begriff einengten. Zu einem gewissen Grade sehe ich bei uns die Gefahr. Viel zu wenig wird beachtet, was in diesem Jahrhundert beispielsweise in Amerika, bei Ives, Varèse und Cage, oder was in Frankreich, von Satie bis Xenakis, passiert ist, ganz zu schweigen von dem, was sich in anderen Weltteilen abspielt. Wir haben also eine Menge aufzuarbeiten. Aber eines bleibt festzuhalten, und das ist eine Schwierigkeit für die Theorie: der Begriff der Avantgarde darf natürlich keineswegs alles umfassen. Er muß jene besondere Gruppe von Künstlern im Blick haben, die notwendigerweise ein kritisches – ein grundlegend prüfendes Element – in den Geschichtsprozeß einbringt. [...] Der Avantgarde-Begriff darf, wenn er heuristischen Sinn haben soll, nicht fixiert werden auf: ‚So muß es gemacht werden, das ist es‘, sondern er sollte vor allem das Moment des konkret Möglichen beinhalten, das jeder Künstler sozusagen als Suchverhalten, als ‚Denken ins Ungeborene‘ hinein aus sich heraus produziert.“71
Schneider sieht hier also die Gefahr einer verengten Sichtweise, gleichwohl besteht er darauf, eine kleine Gruppe als Avantgarde zu sehen, deren Hauptmerkmal ein kritisches Element gegenüber dem Bestehenden sei. Wolfgang Hohensee sieht darin eine Gleichsetzung von Avantgarde und Elite, die er ablehnt.72 Auch der gesprächsleitende Chefredakteur der Zeitschrift Michael Dasche spricht sich gegen die Fixierung auf eine kleine Gruppe aus und möchte den Avantgarde-Begriff gleichzeitig in die Theorie des Sozialistischen Realismus einpassen, was als Versuch gewertet werden kann, diesen schwammigen und 1984 eigentlich nicht mehr zu rettenden Begriff doch noch mit Inhalt zu füllen: „Unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen geht es doch darum, die reichen Möglichkeiten avancierten Komponierens weniger gegen als für etwas einzusetzen, für eine Bekenntnis zu unserer sozialistischen Perspektive. Unter dieser Voraussetzung halte ich Projektionen in die Zukunft, ein
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Ebda., S. 407. Ebda. Ebda., S. 408.
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Vorausdenken, also alles, was Avantgarde substantiell ausmacht, für möglich, ohne daß es zu einem abstrakten, unüberwindlichen Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit kommen muß. Ja, ich würde sogar sagen, daß sich unter diesen Voraussetzungen die Frage nach Avantgarde heute, genauer: der Versuch ihrer Beantwortung, in die Theorie des sozialistischen Realismus organisch einfügen ließe.“73
Georg Knepler fordert, ebenfalls in diesem Sinne, ein „entwickeltes musikalisches Denken mit fortschrittlichem politischen Bewußtsein“ zu verbinden und resümiert: „Nur darf gerade wegen der Kompliziertheit der politischen Situation, in der wir uns heute befinden, keine der vielen Möglichkeiten – also auch alles, was wir heute zur Avantgarde sagten – ungenutzt bleiben.“74 Und 1986 konstatiert Michael Dasche nochmals die Entwicklungen am Übergang von den siebziger zu den achtziger Jahren zur Rückbesinnung auf die Traditionen des 19. Jahrhunderts, wobei er als Beispiel Fritz Geißler anführt75 und dann feststellt: „Als nützliches Korrektiv zugespitzt ‚emanzipatorischer‘ Bestrebungen bei der Erkundung neuer Material- und Ausdrucksbereiche, zu denen sich die meisten Komponisten der DDR während der 70er Jahre teils aus Nachholebedarf veranlaßt, teils durch die musikkulturelle Situation ermutigt sahen, haben all diese Veränderungen sich letztlich durchsetzen können.“76 3.3.2.4
Die heutige Sicht der Komponisten auf den Avantgarde-Diskurs in den 1970er und 80er Jahren
Im Folgenden geht es sowohl um die Sicht solcher Komponisten auf die damalige Situation, die sich als Avantgarde sahen oder als solche gesehen wurden, als auch um die Sicht derjenigen, die eher als konservativ eingeschätzt wurden oder sich selbst als so eingeschätzt – und damit als abgewertet – erlebten. Weiterhin spielen die Ansichten von Musikschaffenden eine Rolle, die zwar nicht zur engeren Avantgarde-Generation gezählt wurden, sich aber sehr wohl an deren Kompositionsmaßstäben orientierten. Daneben gab es auch Künstler, die von der Diskussion um avanciertes Material und die Notwendigkeit, den neuesten Materialstand zu berücksichtigen, nicht oder wenig betroffen waren. Dies sind hauptsächlich die jüngeren Komponisten, die erst in den achtziger Jahren ins Musikleben eingriffen. Zuerst sollen diejenigen zu Wort kommen, die zur Avantgarde-Generation gehörten und die Einengung der Materialfrage bewusst oder unbewusst beförderten. So beschreibt Friedrich Goldmann eine der Auswirkungen der
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76
Ebda. Ebda. Michael Dasche, Im kritischen Dialog mit der Gattungstradition. Zu aktuellen Tendenzen der DDR-Sinfonik, in: Musik und Gesellschaft 36, 1986, S. 288–294, hier S. 290. Ebda., S. 291.
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endgültigen Etablierung dieser Komponisten im Musikleben quasi als „Rache“ am Komponistenverband. Als die Avantgardegeneration, Goldmann spricht von „wir“, in den 80er Jahren schließlich Akademiemitglieder waren, wurde der Verband von ihnen systematisch ignoriert: Der Verbandspräsident (Wolfgang Lesser, 1985-89) habe keine Chance gehabt, Akademiemitglied zu werden. Der Verband versuchte auch seinerseits, die Akademie auszuschalten, was aber ohne Erfolg blieb.77 Georg Katzer schätzt ein, dass bestimmte ästhetische Positionen von seiner Generation besetzt und damit für die jüngeren blockiert wurden. Es habe so genannte avancierte Komponisten gegeben, die alle so um die 40 waren und sich einen Namen erworben hatten, da sei es für die jüngeren schwer gewesen. Einen Aufstand gegen die Väter wie im Westen habe es in der DDR nicht gegeben.78 Der Name Wilfried Krätzschmars taucht zwar nicht im Umkreis dieser Avantgarde-Diskussion auf, seine Musik und auch seine ästhetischen Ansichten zeigen aber seine Zugehörigkeit im Sinne ähnlicher Auffassungen. So stellt er fest, dass in den achtziger Jahren, nachdem das neue Material nach seiner Ansicht für einige, die sich nur oberflächlich damit befassten, langweilig geworden war79 und sie wieder zurückschwenkten – er nennt als Beispiele Penderecki und Geißler – nun die so genannten Avantgardisten als die „Verstaubten“ hingestellt wurden, die „nicht loslassen“ könnten. Er beschreibt hier also die Situation genau aus umgekehrter Sicht. Dass aber auch Krätzschmar ein wenig unter den Druck geraten war, avanciertes Material zu verwenden, zeigt seine Bemerkung, dass er, als er in den achtziger Jahren ein Auftragswerk für die Gruppe neue Musik „Hanns Eisler“ komponieren sollte, sich Zeit nahm, da er „up to date sein“ müsse, wenn er für diese Gruppe schreiben wolle. 1989 entstand dann possibilmente alla serenata.80 Zu den Komponisten, die sich von der verhärteten Position der Avantgarde behindert oder herausgefordert sahen, gehörte Walter Thomas Heyn, der zwei Theorien und deren jeweilige Praxis gegenüber stellt, für die er stellvertretend Geißler bzw. Goldmann nennt. Bei Ersterem habe ihn die Theorie angesprochen, die dazugehörige Musik fand er aber unerträglich, bei Letzterem fand er die Musik spannend, die Theorie aber unerträglich. Die Musik war für ihn aber das Interessantere und gab den Ausschlag. Heyn sieht seine Musiktheaterarbeiten auch als ein Ausweichen vor den Materialdebatten, weil im Musiktheater alles möglich sei und dort die Materialzwänge nicht greifen. Diese Zwänge seien in den späten Achtzigern sehr groß gewesen und von der Akademie der Künste und dort von einer Gruppe von Komponisten ausgegangen, Heyn nennt Goldmann, Katzer, Bredemeyer und Schenker. Heyn spricht in diesem Zusammenhang von zwei Gruppen, die zu dieser Zeit klein gehalten wurden: Einmal diejenige, die nicht staatstreu komponierte, und dann diejenige, die nicht wie die Gruppe der genannten Komponisten komponierte. Für beide öffneten sich die Westtüren nicht. Der „Apolo77 78 79 80
Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin, am 29.2.2000. Vgl. Krätzschmars Ausführungen zur Stagnation in den 80er Jahren, Kap. 3.3.1. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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get“ der ersteren, der Avantgarde-Gruppe sei Frank Schneider und auf dem Gebiet des Musiktheaters sei es Gerd Rienäcker gewesen, die beide einen extremen Materialbegriff verfochten hätten, – Heyn nennt in Bezug auf das Musiktheater B. A. Zimmermanns Soldaten als Messlatte – und konstatiert das Zerfallen der Gruppe nach der Wende.81 Ralf Hoyer sieht die Musikwissenschaft in der DDR als eine „Rechtfertigungswissenschaft“, wobei er hier hauptsächlich und zuerst die ideologisch staatstragende Musikwissenschaft meint.82 Aber auch die Verfechter der Avantgarde argumentierten – nach den erlebten Verdrängungsversuchen nur zu verständlich – aus einer Verteidigungs- und Rechtfertigungsposition heraus. Helge Jung stellt ebenfalls fest, dass sich im Zuge der Öffnung in den 70er Jahren auch verhärtete Positionen herausgebildet hatten. Als Grund dafür sieht er die Tatsache, dass sich die vorher Unterdrückten nun für die Unterdrückung schadlos gehalten hätten. Dadurch sei ein Diktat der Ästhetik entstanden, das Jung kurz so zusammenfasst, dass nur, wer von Webern kam, wirklich modern sei und alles jenseits von Webern als obsolet gegolten habe. Jung selbst machte dabei die Erfahrung, dass ihm verschiedene Festivals verschlossen waren, weil er in diesem Sinn als reaktionär galt. Er nennt vor allem Dittrich und Goldmann, die rigoros die Positionen ausgenutzt hätten, die sie erobert hatten, so zum Beispiel in Bezug auf die Musikbiennale.83 Eine Art Helge Jungs, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, ist sein Stück Sketch für 5 + 1, das er allerdings vor der Uraufführung zurückzog.84 Auch Jung sieht Schneider und Rienäcker und dazu noch Günter Mayer als Verfasser der „Begleitliteratur“ der Avantgarde.85 Lothar Voigtländer ist der Meinung, dass die Avantgarde-Positionen ab 1985 selbst dogmatische Züge annahmen, die unangenehme Grenzen setzten. Voigtländer spitzt seine Aussage noch zu: „Diese Generation hat interessanter und dankbarer Weise die Fraktion der Anhänger des Sozialistischen Realismus (die Hardliner gewissermaßen) zurückgedrängt, hat eine Materialexplosion bewirkt und war 15 Jahre später selbst dabei, ins Konservative zu gehen.“ Weiter legt er dar, dass die Vertreter der Avantgarde-Generation entsprechend „gesetzt“ waren und nun ihrerseits programmatische Positionen bei der Biennale und ähnlichen Veranstaltungen einnahmen. Die unter ihnen lebende jüngere Generation hätte sich in diesem Kontext gern noch freier bewegt. Wie bereits oben erläutert, habe Voigtländer empfunden, dass mit der Anerkennung der GoldmannGeneration in der Nachfolge Eislers und Dessaus eine neue, einengende Ästhetik etabliert werden sollte. Er habe deshalb zielgerichtet im Ausland Anknüpfungspunkte gesucht, habe mit der Janáček-Philharmonie produziert, in Frankreich und den Niederlanden gearbeitet, weil in der DDR vieles schon wieder zum „Etablierten und von vornherein Gesetzten“ neigte. So habe er die Wende sowohl in politischer als auch in
81 82 83 84 85
Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999. Vgl. Stöck, Analyse als kulturpolitisches Instrument?, 2001, und Kap. 5.3. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999.
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Zwei Versuche der Einschätzung
künstlerischer Hinsicht sehr begrüßt, da nun „Luft in die abgeschlossene Situation hinein kam“ und dadurch auch auf künstlerischem Terrain sich andere Wege der Realisation öffneten.86 Für den Hallenser Peter Freiheit begann die Zementierung der Avantgarde scheinbar direkt im Umkreis des zweiten Musikkongresses 1972. Freiheits Violoncello-Konzert wurde im Halleschen Komponistenverband als „nicht modern“ kritisiert, wobei mit „modern“ „wie Wenzel“ [der Hallenser Komponist Hans-Jürgen Wenzel, K. S.] gemeint gewesen sei. Es sei damals im Halleschen Komponistenverband so diskutiert worden, als wäre nur derjenige, der so schriebe wie Gerd Domhardt und Hans-Jürgen Wenzel, „ein großer Komponist“.87 Wolf-Günter Leidel beobachtete die Avantgarde – er meint hier die westliche Avantgarde – aus der Ferne. Er sagt von sich, er sei immer „zu spät“ gewesen, da sei die jeweilige Sache immer schon „out“ gewesen. Er hatte, um auch einmal etwas vom Fördertopf abzubekommen, das Stück Via Crucis komponiert, was ein „Schritt auf die Avantgarde zu“ gewesen sei und mit seinem damaligen Meisterstudium bei Bredemeyer zu tun gehabt habe. Aber auch mit diesem Stück erzielte Leidel in Boswil und der DDR keinen Erfolg.88 Wie gezeigt, spielte die von einigen Gesprächspartnern diagnostizierte Zementierung der Avantgarde in den 1980er Jahren für die verschiedenen Komponisten eine sehr unterschiedliche Rolle für ihr Schaffen. Während sich einige Betroffene durchaus in ihrem Schaffen behindert sahen, diskutierten andere ihr Verhältnis zu den Vertretern der Avantgarde eher theoretisch. Die selbst zur Avantgarde gezählten Komponisten wiederum analysieren Auswirkungen der etwas verengten Sicht auf zu fordernde Kompositionsweisen entweder als gewollt oder als unbeabsichtigtes Geschehen ihrer nur zu verständlichen Verteidigung der dem ideologischen Apparat abgetrotzten Positionen.
3.4
Zusammenfassung
Die in diesem Kapitel dargestellten Aspekte und verschiedenen chronologischen Durchläufe durch die Kulturpolitik der DDR zeigen unterschiedliche Drehbücher zu Aspekten von Theatralität der Jahre 1970-1989/90. Sie konstituieren Teile der musikalischen Komponente der Gesellschaft, deren Diskurse und damit zwangsläufig die entstehenden musikalischen Werke der Zeit. Skizziert wurden verschiedene Blickwinkel auf die kulturpolitischen Entwicklungen der Zeit der Entstehung und Ausbreitung von Werken Szenischer Kammermusik und Kammeroper in der DDR: der Blick auf die allgemeine Politik und Kulturpolitik von außen, der Blick auf kulturpolitische Debatten auch aus Sicht der Betroffenen, derjenige auf musikpolitische und theoretische Debatten 86
87 88
Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. Gespräch der Autorin mit Peter Freiheit in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Wolf-Günter Leidel in Altscherbitz bei Schkeuditz am 28.8.1999.
Kulturpolitik in der DDR und Szenische Kammermusik
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aus musiktheoretischer und –ideologischer Innensicht in Bezug auf die thematisierten Musikkongresse, die persönliche Innensicht der Komponisten sowie eine alternative Sicht auf die Avantgarde vom heutigen Blickwinkel aus. Alle diese Punkte gewinnen Bedeutung für die Einordnung der verschiedensten Werke Szenischer Kammermusik und Kammeroper, die in diesem Zeitraum entstanden. Diese Bedeutung kann im Kapitel 5 aber nicht für alle Werke jeweils spezifisch thematisiert werden, muss aber als Folie jeweils mitgedacht werden, da musikalische Werke in der DDR nie losgelöst vom kulturpolitischen Umfeld entstanden und rezipiert wurden. Die gesellschaftliche Rezeption war nicht nur öffentliche Absicht des Apparats, sondern genauso Ziel der Komponisten, die die gesellschaftliche Relevanz für ihre Kompositionen immer wieder betonten und zu einem Hauptaspekt ihrer Identität als Komponisten in der DDR werden ließen. An der Darstellung der kulturpolitischen Entwicklungen können auch die genannten Aspekte von Theatralität aus Kunst, Spiel, Alltag und Verbot abgelesen werden. Die Anteile von Musik, Musik bezogener Kulturpolitik und anderen relevanten Komponenten daran wechseln von Situation zu Situation und betreffen hier den Umgang des Apparats mit den Künstlern, das Schaffen einzelner Künstler und ihre Versuche, ihre Werke im öffentlichen Musikleben zu platzieren. Besonders die Bemühungen um Aufträge, Aufführungsmöglichkeiten und ähnliches waren in hohem Maße von Unwägbarkeiten begleitet, die ein flexibles, der Situation jeweils angepasstes Rollenspiel erforderten, um zum Ziel zu kommen. Waren die 1970er Jahre in dieser Beziehung noch eher von dem Wechselspiel von Kunst und Verbot geprägt, nimmt in den 1980er Jahren der Aspekt des Spiels an Bedeutung zu. Auch die Komponisten hatten häufig den Eindruck, dass sie sich auf einer ‚Spielwiese‘ befunden hätten, die den Vorteil des freien Arbeitens und den Nachteil des Ignoriert-Werdens in sich vereinte. Trotzdem kann nicht davon geredet werden, dass Verbot und Zensur in der 1980er Jahren vollkommen zurückgedrängt waren.
4.
Allgemeine Voraussetzungen für das Entstehen von Szenischer Kammermusik und Kammeroper
Verschiedenste Strömungen und Ausprägungen von Theater und Musiktheater existierten vor Entstehen der Szenischen Kammermusik in der DDR sowie im westlichen und östlichen Europa und dienten derselben als Nährboden für ihre Herausbildung und Weiterentwicklung, ohne dass sich einzelne Künstler immer direkt auf einzelne Strömungen berufen bzw. einzelne Werke sich immer an Vorbildern festmachen lassen. Diese Einflüsse und Voraussetzungen sind häufig nicht als Vorläufer, sondern als parallele Entwicklungen oder allgemeine Grundlagen zu sehen, die nicht mehr reflektiert werden mussten. Dazu gehören hauptsächlich das Theater der Klassischen Avantgarden aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowie deren Musik und Musiktheater, besonders in ihren Ansätzen zur Zusammenführung verschiedenster Elemente, aber auch im Anspruch der Kunst als Leben. Selbstverständlich spielt die Musik- und Theaterszene der DDR selbst eine Rolle für die neu entstehende Gattung, indem die Komponisten sich mit ihr auseinandersetzen, selbst Opern komponieren oder auch von ihren Professoren und Meistern an der Akademie mit deren Werk konfrontiert sind. In einem geringeren Maße wirkte auch die osteuropäische Avantgarde vor 1970 prägend. Und natürlich besaß die Musikszene Westeuropas eine ungeheure Anziehungskraft für die Komponisten in der DDR, wobei instrumentales Theater und Musiktheater Westdeutschlands hier für die Ausprägung der Szenischen Kammermusik die größte Bedeutung hatten. Neben diesen vor Entstehen der Szenischen Kammermusik existierenden Voraussetzungen, gibt es Phänomene von Musik, Theater und Musiktheater, die parallel zur Szenischen Kammermusik entstanden und existierten und sich mit dieser wechselseitig befruchteten. Dazu gehören das postdramatische Theater sowie das Musiktheater jeweils in Ost und West, das Liedertheater und die osteuropäische Avantgarde ab 1970. Zusätzlich zu diesem Nährboden, dessen einzelne Aspekte für die verschiedenen Komponisten von unterschiedlicher Bedeutung waren, wirkten auf die Komponisten die individuellen Gründe und Anstöße, die auch noch aus völlig anderer als künstlerischer Richtung kommen konnten, so beispielsweise finanzieller oder organisatorischer Art waren, durch konkrete Aufträge oder auch zufällige Bekanntschaften mit Künstlern entstanden. Einige der allgemeineren Grundlagen werden im Folgenden kurz beleuchtet. Ihre Relevanz für die einzelnen Werke wird sich in deren ausführlicher Beschreibung zeigen. So umfassende Teilbereiche der Musik in der DDR wie die Operngeschichte oder auch die Entwicklung der Kammermusik allgemein gehören natürlich zu den grundsätzlichsten Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und avancierte Kammeroper, da die Entstehung letzterer auch durch die intensive Auseinandersetzung mit den erstgenann-
Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
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ten Genres erfolgte und Szenische Kammermusik und avancierte Kammeroper spezielle Ausprägungen dieser Musikformen sind. Die Opern- und Kammermusikgeschichte der DDR kann hier trotz ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Gattungen nicht ausführlich dargestellt werden. Einige Arbeiten dazu liegen vor1. Einzelne Aspekte können der Verdeutlichung der Grundlagenfunktion der Genres dienen.
4.1
Kammermusik in der DDR
Wie auch in anderen Ländern ist eine zunehmende Abwendung der Komponisten von traditionellen Kammermusikgattungen wie dem Streichquartett etc. und die Hinwendung zu offenen Ensembles zu verzeichnen, die meist eine heterogene Zusammensetzung besitzen. So zeigt vor allem die Besetzung der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, des Ensembles, das sich – neben der Berliner Bläservereinigung, dem musica-vivaensemble Dresden und wenigen anderen2 – seit Anfang der 1970er Jahre hauptsächlich für die Aufführung und Verbreitung neuer Kammermusik in der DDR engagierte, diese Heterogenität deutlich: Neben den Streichern Viola, Violoncello und Kontrabass, finden sich die Bläser Oboe, Englischhorn, Posaune, hinzu kommen Schlagzeug und Tasteninstrumente. Am Anfang des Bestehens des Ensembles gehörte ihm auch eine Violine an, die aber nach kurzer Zeit weggelassen wurde. Je nach Werk kamen Sänger, Schauspieler oder andere Mitwirkende hinzu, die Dirigenten wechselten ebenfalls, zu nennen sind v. a. Max Pommer, Christian Münch und Friedrich Goldmann, die letzteren beiden nicht zufällig ebenfalls Komponisten szenischer Werke. Die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ gründete sich – ebenso wie die Berliner Bläservereinigung – Anfang der 1970er Jahre und widmete den größten Teil ihrer Arbeit der zeitgenössischen Literatur von Komponisten aus der DDR, west- und osteuropäischen Zeitgenossen sowie der Zweiten Wiener Schule.3 Friedrich Schenker beschrieb die Gruppe 1986: „Es ist problematisch, sich Eisler im Frack vorzustellen; also hat auch die Gruppe Neue Musik etwas gegen den Konzertkult. Sie verhält sich im Sinne Eislers gegenüber neuen Spieltechniken, neuen Spielformen, neuen Kommunikationsformen, der Verbindung von Musik mit anderen Künsten bis hin zu Instrumentaltheater aufgeschlossen. Jeder Musiker spielt und experimentiert außer auf seinem Hauptinstrument mit seiner menschlichen Stimme, seinen Gesten, mit möglichen anderen Instrumenten. Das Ziel der ‚Gruppe‘ ist es, schöpferische Unruhe auszulösen, Freude an
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3
Vgl. die Einleitung zum Handbuch: Neef, Deutsche Oper im 20. Jahrhundert, 1992 sowie Vetter, Kammermusik in der DDR, 1996. Vgl. ebda., S. 191ff.: Ausgewählte Kammermusikgruppen und ihr Einfluß auf das Kammermusikschaffen in der DDR. Vgl. Spiel-Horizonte. Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ 1970-1990, hrsg. v. Burkhard Glaetzner u. Reiner Kontressowitz, Leipzig 1990.
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Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper musikalischer Artistik, musikalischer Betroffenheit, Schmerz über menschliches Leid, Lust am Spiel des musikalischen Zufalls, Lust und Fähigkeit im Erkennen musikalischer Konstruktion.“4
Die Existenz solcher Gruppen beförderte die Entstehung Szenischer Kammermusik zusätzlich. Viele Komponisten hatten guten Kontakt zu diesen Ensembles, verfassten Auftragswerke, die die speziellen Fähigkeiten der jeweiligen Gruppe einbezogen oder waren selbst Mitglied, wie Friedrich Schenker als Gründungsmitglied der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“. Die Abwendung von den traditionellen Formen war auch früher schon unter anderem mit der Hinzunahme von Sängern in Kammermusikensembles verbunden. Die zunehmend heterogene Zusammensetzung der Ensembles erleichterte auch hier die Einbeziehung von Sängern, so dass der Weg zu szenischen Gestaltungselementen nicht mehr weit war. Gleichzeitig wurden durch die Spezialisierung der Ensembles auch Kompetenzen im Umgang mit zeitgenössischer Kammermusik ausgeprägt. Dies betrifft avancierte Spieltechniken ebenso wie vielgestaltige Umgangsweisen mit Texten – die Musiker setzten ihre Stimmen als weitere Instrumente ein, indem sie sangen, sprachen, schrieen, flüsterten etc. – und darstellerische Kompetenzen. Besonders jüngere Komponisten führten die Existenz dieser Kammermusikgruppen, die Kenntnis der Werke von Schenker, Katzer, Bredemeyer, Dittrich und Goldmann sowie die Aufführungsmöglichkeiten eigener Stücke durch diese Gruppen als Anregung zur Komposition eigener Szenischer Kammermusiken an. Dies betrifft zum Beispiel Bernd Franke5 und Lutz Glandien6, letzterer war auch Meisterschüler bei Georg Katzer an der Akademie. Besonders Schenkers Missa nigra, aber auch Stücke von Dittrich werden von jüngeren Komponisten als inspirierend genannt, so von René Hirschfeld7, Walter Thomas Heyn8, Ralf Hoyer9 und Steffen Schleiermacher10. Bernd Franke gründete 1980 an der Leipziger Musikhochschule eine Gruppe Junge Musik Leipzig, die er bis 1983 leitete, 1984-88 übernahm die Leitung dann Steffen Schleiermacher. Hier lief der Einfluss also nicht nur auf eigenes Komponieren, sondern auch auf eine eigene Gruppengründung bzw. –leitung hinaus. Eine breite Darstellung der Kammermusiksituation in der DDR findet sich bei Manfred Vetter Kammermusik in der DDR11. Kammermusik spielte in der DDR aufgrund ihrer Eignung auch für kleinere Räume und der besseren Disponierbarkeit kleinerer Ensembles eine sehr große Rolle und wurde auch von den Funktionären der Kulturpolitik als äußerst wichtig für das Konzertleben der DDR erkannt. Mit Kammermusik war ein 4
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Friedrich Schenker, Entwicklungsphase musikalischer Interpretation begründen, in: Wortmeldungen von Komponisten der DDR, hrsg. v. Horst Lange u. Gesine Lange, Leipzig 1986, S. 93–95. Gespräch der Autorin mit Bernd Franke in Leipzig am 21.10.1999. Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit René Hirschfeld in Berlin am 28.2.2000. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999. Vetter, Kammermusik in der DDR, 1996.
Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
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Publikum erreichbar, das vorher wenig oder gar keinen Kontakt zum Konzertleben hatte. Als Beispiel kann der so genannte „Konzertwinter auf dem Lande“ angeführt werden, wo verschiedene Kammermusikangebote in Gaststätten, Kulturhäusern, Scheunen und ähnlichen Orten der dortigen Bevölkerung nahe gebracht wurden.
4.2
Oper in der DDR
Auch aus der DDR-Operntradition können lediglich einzelne Aspekte verdeutlicht werden. So ist der Einfluss einzelner Opernkomponisten, z. B. von Paul Dessau, Fritz Geißler oder Wagner-Régeny, auf ihre Studenten und Meisterschüler relevant. Er drückte sich jedoch sehr verschieden aus, oft abhängig davon, wie die Schüler in die Opernprojekte der Meister einbezogen wurden und inwiefern sie zu eigenen Opernkompositionen angeregt wurden.1 In den 1950er und 60er Jahren war für die Auseinandersetzung mit der Oper in der DDR besonders die Diskussion um eine Nationaloper von Bedeutung, die dann zu Zeit der Entstehung der Szenischen Kammermusik nicht mehr von Belang war. Der Streit um die Notwendigkeit einer Gegenwartsoper löste diese Debatte ab und wurde auch nach 1970 weitergeführt.2 Ein Aspekt zeitgenössischer Oper, der unmittelbar hiermit verbunden ist, ist die Frage nach der Darstellbarkeit des Zeitgenossen auf der Musikbühne, die sich beim Ruf nach einer Gegenwartsoper sofort stellt. Hierbei ging es nicht darum, ob Zeitgenossen dargestellt werden dürften, – dies wurde ausdrücklich gefordert – sondern darum, wie sie darzustellen seien. Auch diese Diskussion stellte sich für die Komponisten Szenischer Kammermusik aber eher als untergeordnet dar.3 Der Einfluss der Operntradition in der DDR auf die Entwicklung der Szenischen Kammermusik und der avancierten Kammeroper enthält einen nicht zu unterschätzenden institutionellen Aspekt: Viele junge Komponisten sahen für sich keine Möglichkeit, im Opernbetrieb der DDR Fuß zu fassen und beschäftigten sich daher mit kleinen,
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Dieser Aspekt wird im Kapitel zu den persönlichen Gründen der Komponisten zur Komposition Szenischer Kammermusik dargelegt. Vgl. Kap. 5.1. Vgl. dazu u. a., Neef, Deutsche Oper im 20. Jahrhundert, 1992; Gerd Rienäcker, Zur Entwicklung des Opernschaffens der Deutschen Demokratischen Republik, in: Sammelbände zur Musikgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik 4, hrsg. von Heinz Alfred Brockhaus u. Konrad Niemann, Berlin 1975, S. 9–41; Katrin Stöck, Die Nationaloperndebatte in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre als Instrument zur Ausbildung einer sozialistischen deutschen Nationalkultur, in: Nationale Musik im 20 Jahrhundert. Kompositorische und gesellschaftliche Aspekte, Kongressbericht Leipzig 2002, hrsg. v. Helmut Loos u. Stefan Keym, Leipzig 2004, S. 521–539. Vgl. dazu Gerd Rienäcker, Der Zeitgenosse auf der Musikbühne. Gedanken zu einigen Aspekten unseres Opernschaffens, in: Musik und Gesellschaft 26, 1976 S. 202–209; ders., Der Zeitgenosse auf der Musikbühne, in: Material zum Theater 93, Reihe Musiktheater 20, hrsg. v. Verband der Theaterschaffenden der DDR, Berlin 1977, S. 3–26.
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Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
unabhängigen Musiktheaterformen.4 Walter Thomas Heyn erklärte im Interview5, dass außerinstitutionelle Projekte mit Freischaffenden in der DDR einerseits schwer, andererseits leicht zu organisieren gewesen seien. Leicht sei die Organisation deshalb gewesen, weil Raummieten nicht hoch waren und man mit einem kleinen Budget auch allgemein viel finanzieren konnte. Auch die Möglichkeit, dieses Geld zu erhalten sei in den 80er Jahren, von denen Heyn spricht, relativ groß gewesen, da die beschriebene Erstarrung der kulturpolitischen Entwicklung zunehmend Freiräume offen gelassen hätte. Die kulturpolitische Problematik solcher Projekte bestand aber meistens gerade in ihrer in der DDR schwer zu vermittelnden und eigentlich im System der Kulturpolitik nicht vorgesehenen, weil schlecht kontrollierbaren Situiertheit außerhalb konventioneller Institutionen. Die in der vorliegenden Untersuchung interessierende avancierte Kammeroper hatte in der DDR Vorläufer in Kammeropern aus den 1950er und 1960er Jahren. Sie wurden als kleine Opern für ein kleines Ensemble eines kleinen Hauses komponiert und zeigen daher nur teilweise die neuen Merkmale der hier interessierenden avancierten Kammeroper der 1970er und 80er Jahre. Solche Werke wurden auch in den Jahren nach 1970 weiter geschaffen: als kleine Opern für kleine Häuser. Allenfalls der Aspekt des kleineren Apparates und damit der Aufführbarkeit auch für kleinere Ensembles kommt hier zum Tragen. Ansonsten wird aber v. a. das Kommunikationsgefüge der groß dimensionierten Oper beibehalten. Eine parallele Entwicklung zur Szenischen Kammermusik und avancierten Kammeroper in den 70er und 80er Jahren stellt die Schauspieleroper dar, die zum Beispiel Rainer Kunad mit Litauische Claviere, Ralf Hoyer mit Ay, Don Perlimplin!, Jan Trieder mit Vogelkopp, und weitere bedienten. Anstoß gab hier u. a. die Möglichkeit, mit nicht ausgebildeten Stimmen andere als Operneffekte zu erzielen und die Statik des Opernensembles auszuhebeln sowie die darstellerischen Defizite mancher Sänger zu umgehen. Häufig waren aber auch schlicht Arbeitsmöglichkeiten an Schauspielhäusern oder mit Schauspielensembles, die wiederum aus der Institution Oper heraus führten, ausschlaggebend.6 Bei einem kurzen Überblick über die Opernszene der DDR dürfen die beiden etabliertesten Opernkomponisten der DDR Udo Zimmermann und Siegfried Matthus nicht vergessen werden, die mit einer Reihe von Opern auf den Spielplänen präsent waren und – neben Rainer Kunad – mehrfach den entscheidenden Sprung von der Einmalinszenierung zur Mehrfachinszenierung schafften. Beide haben sich der Gattung Szenische Kammermusik nicht gewidmet. Eine Ausnahme bildet Udo Zimmermanns Weiße Rose, die als avancierte Kammeroper eingeordnet werden kann
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Zu detaillierteren Informationen über die Intentionen der einzelnen Komponisten mit den Gattungen vgl. Kap. 5.1. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999. Vgl. auch hier Kap. 5.1 zu den individuellen Gründen und Intentionen.
143
Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
4.3
Musik und Theater in Westdeutschland und Westeuropa
Die Komponisten der DDR, die experimenteller Kammermusik und ebensolchem Musiktheater aufgeschlossen gegenüberstanden, orientierten sich unter anderem an der musikalischen Entwicklung in Westeuropa und vor allem in Westdeutschland. Über den Umweg der Teilnahme an Festivals wie dem Warschauer Herbst, aber besonders durch Radioübertragungen und Partituren gewannen die Komponisten einen Eindruck dieser Entwicklungen, die wesentlich früher begonnen hatten als diejenigen in der DDR. Besonders das instrumentale Theater Mauricio Kagels, aber auch Werke von Stockhausen, Ligeti, Cage u. a. waren hier von Bedeutung. Einige Komponisten nahmen bestimmte Werke als Vorbild, andere ließen sich von einem besonderen Genre inspirieren. Der Begriff des instrumentalen Theaters war allerdings in der DDR von einer gewissen Verschwommenheit gekennzeichnet und wurde nicht nur auf solche Stücke angewandt, die diesem Genre nach Metzger/Kagels Definition1 zuzuordnen sind, sondern auch auf Werke der Szenischen Kammermusik allgemein.2 Instrumentales Theater im eigentlichen Sinn ist für die Komponisten in der DDR augenscheinlich weniger bedeutsam gewesen, nur wenige Werke erfüllen die engeren Kriterien dieses Genres.3 Weiterhin wurde der Begriff Instrumentales Theater auch als „Autorität“ herangezogen, indem z. B. Konzerte so betitelt wurden, auch wenn verschiedene Werke der Szenischen Kammermusik und nicht ausschließlich Instrumentales Theater zur Aufführung kamen. Der Begriff Instrumentales Theater stellt hier also ein Synonym zum Begriff Szenische Kammermusik dar. Ein Beispiel für ein solches Konzert war die Aufführung „Instrumentales Theater“ der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ im Deutschen Hygiene-Museum mit den Werken Bilderserenade von Reiner Bredemeyer, Szene für Kammerensemble von Georg Katzer und Kammerspiel II – Missa nigra von Friedrich Schenker. Keines dieser Werke ist im Sinne von Metzger/Kagels Definition rein Instrumentales Theater. Katzers Stück vereinigt hier die meisten Aspekte Instrumentalen Theaters auf sich. Im Programmheft dieses Konzertes wird eine Definition vorgeschlagen: „Instrumentales Theater? Der von Mauricio Kagel geprägte Begriff meint die Einbeziehung von Instrumentalisten in Aktionen durch Stellungen und Gesten. Das ‚Spiel‘ ist also nicht aufs Instrument beschränkt, sondern greift auf die Szene über. Der Musiker wird zum Akteur; allerdings behält er die Beziehung zu seinem Instrument bei und agiert im Wechsel oder, wenn möglich, gar gleichzeitig. Ins Konzert werden Elemente des Theaters gemischt und das Publikum nicht nur akustisch, sondern auch visuell
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Vgl. Kap. 2.2. Vgl. dazu die Erläuterungen in Kap. 2.2.3. Vgl. dazu die Erläuterungen zu einzelnen Werken in Kap. 5.3.
144
Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper herausgefordert. Dabei können die beiden Bereiche parallel laufen und sich durch gegenseitige Illustration aneinander steigern, aber auch in kontrastierende dialektische Verhältnisse eingehen.“4
Gerade die in dem Konzert gezeigten Stücke von Schenker und Bredemeyer gehen aber weit darüber hinaus und enthalten wesentlich mehr theatrale Elemente als hier für das instrumentale Theater beschrieben.5 Insgesamt ist es wichtig festzustellen, dass Szenische Kammermusik trotz der auftretenden Parallelen zu instrumentalem Theater und der teilweisen Übernahme dieses Begriffs, keine direkt aus dem Westen übernommene Gattung ist, sondern dass dieser Einfluss einen Aspekt unter vielen darstellt. Dies verhält sich so, obwohl sicher die Rezeption des Westens im Osten wesentlich stärker war als umgekehrt. Konkrete Beispiele auch für direkte Vorbilder werden im Analyseteil besprochen, als ein Beispiel der KagelRezeption kann Karl Ottomar Treibmanns 4. Sinfonischer Essay6 genannt werden. Gleichzeitig standen aber einige Komponisten besonders Stücken von Kagel, teilweise aber auch von Ligeti und vor allem Cage und Stockhausen kritisch gegenüber. Sie lernten diese Werke zwar beim Warschauer Herbst und anderen Gelegenheiten, die sich durch den Rundfunk boten, kennen, fanden sie teilweise auch besonders wegen ihrer Ironie – dies betrifft vor allem Kagel – amüsant,7 sind sich aber insofern einig, als sie Kagel bloße Spielerei unterstellen und für sich selbst eine höhere gesellschaftliche Relevanz als Ziel sehen, die sie bei Kagel und anderen nicht entdecken können. Der Aspekt der gesellschaftlichen Relevanz spielte für die Komponisten aller Generationen in der DDR eine besondere Rolle und wurde – unabhängig von ihrer stilistischen Ausrichtung – immer wieder betont und gerade mit der Szenischen Kammermusik verbunden, die vielen als Möglichkeit galt, gesellschaftlich zu wirken. Diese gesellschaftliche Relevanz aus der Sicht der Komponisten darf nicht mit der Forderung nach Parteilichkeit und nach der Beachtung der Grundlagen des Sozialismus bzw. des Sozialistischen Realismus entsprechend der Definition musikwissenschaftlicher Dogmatik verwechselt werden.8 Letztere wurde an die Komponisten und deren Kompositionen von außen herangetragen und meinte eine affirmative Kompositionshaltung. Für die Komponisten beinhaltete die Absicht gesellschaftlich relevante Werke zu schaffen aber die Berücksichtigung ihrer eigenverantwortlichen Sicht auf die Gesellschaft und die Möglichkeit zur kritischen Durchleuchtung der Gesellschaft gerade auch durch Werke Szenischer Kammermusik. Natürlich hatte hier jeder Komponist seine eigene Meinung und stellte seine eigenen Ausdrucksmöglichkeiten in den Vordergrund. Gleichzeitig war die Ablehnung des ausschließlich Spielerischen, das viele in Stücken von Kagel und Cage erkannten, einem Großteil der Komponisten gemeinsam. 4
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Programmheft Instrumentales Theater der Gruppe Neue Musik „Hanns-Eisler“, Sonnabend, 2. Juni 1979, Kongresssaal des Deutschen Hygiene-Museums der DDR, Autor unbekannt. Vgl. Kap. 5.3. Vgl. Kap. 5.3. Gespräch der Autorin mit Günter Neubert in Leipzig am 30.10.1999. Vgl. Kap. 3.
Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
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So kann festgestellt werden, dass das stärkste Verbindungsstück zwischen der Ideologie des Sozialistischen Realismus – die ja nie die allgemeine und für jeden verbindliche und identifizierbare sozialistische Ästhetik wurde, als die sie postuliert wurde –, und den Ansichten der vielen diese Ideologie ablehnenden Komponisten vielleicht dieses Ziel des gesellschaftlichen Wirken Wollens ist. Auf diesen kleinen gemeinsamen Nenner reduziert sich die Ästhetik der Sozialistischen Realismus, wobei dieses gesellschaftliche Wirken Wollen, natürlich nicht dadurch zustande kam, dass Komponisten die Ästhetik des Sozialistischen Realismus realisieren wollten, sondern sie entstand durch die gemeinsame Sozialisation der Komponisten, ihre Orientierung an Eisler, Brecht und Dessau oder deren Schülern usw. sowie dadurch, dass die meisten der Komponisten einer kommunistischen Idee durchaus positiv gegenüberstanden, die real existierende Ausführung dieser Idee in der DDR aber für reformbedürftig hielten und mit ihren Werken an gesellschaftlichen Veränderungen mitwirken wollten. In der Theaterszene Ostdeutschlands gestaltete sich die Situation ähnlich wie im Musikleben: Die Künstler nutzten alle Möglichkeiten – Fernsehen, Bücher, eigene Reisen soweit möglich –, um sich über die Theaterlandschaft des Westens zu informieren und um selber an ihr teilzuhaben. Gerade in den 1980er Jahren wurden zunehmend ostdeutsche Autoren im Westen aufgeführt und ostdeutsche Regisseure für Regiearbeiten eingeladen. Umgekehrt nahm der Westen, wie ebenfalls in der Musiklandschaft den Osten weit weniger intensiv wahr, häufig wurden nur wenige besonders herausgehobene Ereignisse oder Autoren rezipiert. Bezüge von Szenischer Kammermusik zu Performance und Happening sind im Zusammenhang mit der Darlegung der Ästhetik des postdramatischen Theaters bereits erläutert worden.9 In der Analyse der einzelnen Stücke wird auf die Parallelen gegebenenfalls genauer Bezug genommen.10
4.4
Klassische Avantgarde in Theater und Musik
Auch die klassische Theateravantgarde ist eher als Grundlage und allgemeiner Nährboden der Entwicklung dieser Musiktheaterrichtungen in der DDR zu sehen. Keiner der befragten Komponisten berief sich auf diese Quellen als Anstoß für seine Beschäftigung mit der Materie. Gleichwohl ist aber auch diese Grundlage nicht zu unterschätzen. Anhand einzelner Beispiele kann die Verbindung der Szenischen Kammermusik zu diesem Kulturkomplex gezeigt werden. Interessanterweise hat zum Beispiel Emile Jaques-Dalcroze schon in seiner 1907 erschienenen Vortragssammlung Der Rhythmus als Erziehungsmittel für das Leben und die Kunst11 gefordert, dass der Musiker seinen Körper wieder fin9 10 11
Vgl. Kap. 2.2.5. Vgl. Kap. 5.3. E. Jaques-Dalcroze, Der Rhythmus als Erziehungsmittel für das Leben und die Kunst. Sechs Vorträge, dt. hrsg. v. Paul Boepple, Basel 1907.
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Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
den und einsetzen lernen soll. So stellt er fest: „Die Kunst der Musik hat einen Teil ihrer Darstellungskraft an dem Tage verloren, wo man sie der Mitwirkung der Gestikulation beraubte.“,12 und weiter, dass „... unsere Zeit eine Periode der Spezialisierung ist; die Instrumentalmusik ist unabhängig von der Rede, die Geste unabhängig von der Zeitlänge, der Tanz ist unabhängig vom Rhythmus.“13 Den Musiker betreffend schreibt er: „In der Gegenwart ist der Musiker autoritär und dogmatisierend. Er urteilt nicht mehr nach gesundem Menschenverstand oder nach der Begeisterung des Mannes, der da weiss, was es bedeutet, gegen technische Schwierigkeiten zu kämpfen, er urteilt nach eingebildeten, nicht nach erlebten Empfindungen. Um die Schwäche seines eigenen Körpers zu verbergen, will er nichts wissen von der Aufgabe lebendiger Muskeln beim musikalischen Vortrag, er glaubt allein an die Empfindung in der Musik. [...] Nicht natürliche Mittel und Eindrücke wirken auf die Seelen; Künstler und Publikum nehmen nicht mehr an dem musikalischen Genusse teil, sie erleiden ihn. Die musikalischen Rhythmen rufen keine körperlichen Empfindungen mehr hervor, nur in einer Zelle des Gehirns finden sie ein Echo.“14
Und indem er weiter den Zustand des Musikers beschreibt, fordert er indirekt die Wiederentdeckung des eigenen Körpers durch den Musiker: „Die jetztlebenden Musiker, die an sich selbst nie einen Versuch mit dem Rhythmus gemacht haben, empfinden die Notwendigkeit nicht, denselben in ihrem Körper fühlbar werden zu lassen.“15 Emile Jaques-Dalcroze ist hier ein Beispiel für den Umgang der historischen Avantgarden mit dem Körper, für ihre Forderung nach einer neuen Körperlichkeit von Theater, Musik und anderen Künsten. Gleichzeitig bringt bereits der Titel des Buches die Forderung nach einer Verbindung von Leben und Kunst, wie sie in modifizierter Weise als Element des Sozialistischen Realismus und des Bitterfelder Weges auch in den Ästhetiken des Sozialismus eine Rolle spielt sowie unter der Überschrift der „gesellschaftlichen Relevanz“ in den eigenen künstlerischen Anschauungen vieler Komponisten in der DDR zum Ausdruck kommt. Die Vielfalt der möglichen Anregungen aus den zahlreichsten Ausprägungen der klassischen Avantgarde, die sowohl die ästhetischen Ansichten der Komponisten, die verwendeten Texte als auch die Musik direkt betreffen, hier darzulegen, würde jeden Rahmen sprengen. Im Kapitel 5 wird in den Erläuterungen einzelner Werke auf entsprechende Elemente einzugehen sein, hier sollen lediglich Möglichkeiten genannt werden. So sind auf dem Gebiet des Theaters Reformer wie Bertold Brecht, aber auch Konstantin S. Stanislawski und Wsewolod E. Meyerhold für die weitere Entwicklung und damit auch als Grundlage für theatrale Aspekte von Szenischer Kammermusik allgemein 12 13 14 15
Ebda., S. 127. Ebda., S. 138. Ebda., S. 145. Ebda., S. 146.
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147
von Bedeutung. Die Hauptakzente der Brechtrezeption betreffen das Verhältnis der Künste sowie den Verfremdungsaspekt, aber auch konkrete Werke Brechts, v. a. im Bereich des Musiktheaters, sowie die Forderung an den Zuschauer zur Mitwirkung. Die Aktivierung des Zuschauers, spielt auch für Meyerholds Ästhetik eine Rolle,16 der den Zuschauer sogar als Korrektor einer Aufführung sieht.17 Meyerhold spricht sich weiterhin ebenfalls für ein Zusammenspiel der Künste aus, ebenso wie Brecht in deutlicher Abgrenzung zu Richard Wagners Ideen.18 Brecht und Meyerhold gegenüber steht Stanislawski mit seiner Forderung nach Einfühlung des Schauspielers in seine Rolle und seiner Beibehaltung der vierten Wand, also der Nichteinbeziehung des Zuschauers in das Bühnengeschehen.19 Konkreter festzumachen sind weiterhin Bezugspunkte surrealistischen und absurden Theaters z. B. in Stücken von Schenker, etwa wenn man Antonin Artauds Theater der Grausamkeit mit Schenkers Missa nigra vergleicht.20 Die Theaterästhetik des Bauhauses – repräsentiert u. a. von Oskar Schlemmer – als eine Grundlage für multimediale Aspekte spielt für einige Komponisten ebenso eine Rolle. So ist der Einfluss von Künstlern wie Kandinsky oder auch El Lissitzky unter anderem in Aspekten wie der Integration von Medien, dem Einbezug aller Künste oder auch dem funktionalen Aspekt, der ja sämtliche Kunstdiskussion in der DDR betraf, zu sehen. Parallelen zur Ästhetik des postdramatischen Theaters21 sind in allen diesen Beispielen deutlich, da Szenische Kammermusik als eine Ausprägung postdramatischen Theaters beschrieben werden kann. Konkrete Anknüpfungspunkte zeigen die Analysen einzelner Werke in Kapitel 5 auf. Auf dem Gebiet der musikalischem klassischen Avantgarde ist unter anderem die Bedeutung von Schönbergs Pierrot lunaire nicht zu unterschätzen, auch wenn es lange dauerte, ihn in der DDR auf die Bühne zu bringen, spätestens zur Schönberg-Ehrung 1974 wurde das Stück aufgeführt. Später wurde es auch konkret in Bezug zur Szenischen Kammermusik gebracht, indem es in Konzerten mit entsprechenden Werken erklang. Die auch für Schönberg bedeutende Theatralisierung von Musik, die ja ein entscheidender Aspekt von Szenischer Kammermusik ist, kann an einer ganzen Anzahl von Werken beobachtet werden, etwa denen der Wiener Schule, von Erik Satie und Igor Strawinsky, John Cage und natürlich Mauricio Kagel. Die hier beschriebene Reihe von Komponisten, die mit ihren Werken auf Szenische Kammermusik und Kammeroper in der DDR einwirkten, reichte natürlich weit in die zeitgenössische westliche Kunstszene
16
17 18 19
20 21
Vgl. Wsewolod E. Meyerhold, Das bedingte Theater (1906), in: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, hrsg. v. Manfred Brauneck, ²1986, S. 245–247. Vgl. ders., Rekonstruktion des Theaters (1930), in: dass., S. 252–260, hier S. 255. Ebda., S. 253. Vgl. Konstantin S. Stanislawski, Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle, Auszüge, in: dass., S. 361– 368. Zu Missa nigra vgl. Kap 2.2.5. Vgl. Kap. 2.2.5.
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Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
der 1970er und 1980er Jahre hinein. Neben diesen außerinstitutionellen22 Musiktheaterformen war auch die Rezeption der Opernentwicklung im Westen für einige Komponisten in der DDR von Bedeutung, die aber ebenfalls hier nicht dargestellt werden kann. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung vieler Komponisten mit der Oper Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann.
4.5
Zeitgenössische osteuropäische Avantgarde
Der Einfluss der osteuropäischen Avantgarde auf die Szenische Kammermusik in der DDR lässt sich nur schwer an konkreten Beispielen festmachen. Hier widerstreiten zwei unterschiedliche Tendenzen, die möglicherweise beide für den jeweiligen Komponisten von Bedeutung waren und mit denen er sich auseinandersetzen musste. So konnten sich die Komponisten aus der DDR einerseits hauptsächlich bei Festivals wie dem Warschauer Herbst im Osten über den Westen informieren, was also einem indirekten Einfluss der osteuropäischen Festival-Gestalter auf diese Komponisten entspricht. Weiterhin nahmen Komponisten aus der DDR sicher auch bei ihrer Arbeit in osteuropäischen Studios für elektroakustische Musik, so z. B. in Bratislava, Einflüsse auf. Georg Katzer könnte dort beispielsweise mit Arbeiten des slowakischen Komponisten Ladislav Kupkovič in Berührung gekommen sein, der 1963 in Bratislava eine Gruppe Hudba Dneška (»Musik von heute«) gegründet hatte und u. a. auch Szenische Kammermusik schrieb und aufführte, der aber selbst nicht mehr in Bratislava wirkte, als Katzer sich Mitte der 1970er Jahre dort aufhielt, Kupkovič war 1969 in die BRD gegangen.23 Allerdings wurde diese slowakische Szenische Kammermusik in der DDR selbst wenig wahrgenommen, auch wenn Berichte von slowakischen Musikfestivals erschienen, z. B. in Musik und Gesellschaft und Ensembles aus der DDR dorthin eingeladen wurden, so beispielsweise auch die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“. Es konnten darüber hinaus aber keine konkreten Hinweise auf Verbindungen zur Szenischen Kammermusik der DDR gefunden werden, und auch die Komponisten haben dies nicht thematisiert. Andererseits wurden besonders russische Komponisten und ihre Werke allgemein, gerade im Opernbereich, den Komponisten in der DDR von den Kulturpolitikern immer wieder als Vorbild empfohlen, was einen gewissen Überdruss und Widerwillen hervorrief, sich mit diesen, meist systemkonformen Werken auch wirklich zu befassen. Auch die avancierten osteuropäischen Komponisten lenkten ihren Blick ja meist gen Westen und waren dabei ähnlichen Hemmnissen ausgesetzt wie die Komponisten in der DDR, weswegen die zeitgenössische osteuropäische Musik vergleichsweise wenig Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung der Szenischen Kammermusik in der DDR bekam. 22
23
Die Bezeichnung „außerinstitutionell“ wird immer im Sinne von „außerhalb der Institution Oper“ verwendet. Vgl. L’ubomír Chalupka, Avantgarda ’60, in: Slovenská Hudba 26, 2000, S. 59–105.
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Dennoch war aber gerade ein Anstoß von russischer Seite mit entscheidend für den allgemeinen Aufschwung der Kammeroper in der DDR der 1970er Jahre: das Ensemble der russischen Kammeroper, das mit seinen Gastspielen, allerdings meist Werken des 18. und 19. Jahrhunderts, neue dramaturgische Gestaltungen jenseits der eingefahrenen Pfade zeigte.24
4.6
Theateravantgarde in der DDR
Auch das Schauspieltheater der DDR und hier besonders seine avantgardistischen Ausprägungen, die ebenso wie die Szenische Kammermusik dem postdramatischen Theater zugeordnet werden können, hatten Einfluss auf Komponisten Szenischer Kammermusik. Neben der allgemeinen Wahrnehmung der Theaterlandschaft, kamen einige Komponisten durch ihre Arbeit als Schauspielmusikkomponist oder -kapellmeister mit den entsprechenden Dramatikern und auch Regisseuren in Kontakt und ließen sich für die szenische Komponente ihrer Arbeiten inspirieren. Friedrich Goldmann und Reiner Bredemeyer etwa lernten Heiner Müller unter anderem durch ihre Arbeit am Berliner Ensemble bzw. am Deutschen Theater Berlin kennen, wo Bredemeyer ab 1961 musikalischer Leiter war. Die Schauspieltheater-Landschaft der DDR differenzierte sich ebenso wie die Musiklandschaft Mitte der sechziger Jahre weiter aus.25 Henning Rischbieter, den 1965 eine Theaterreise in die DDR führte26, beschrieb außerdem eine zunehmende Nähe von Theaterkonzepten in Ost und West. Er legte weiterhin dar, dass die Theaterleute in der DDR von einem einheitlichen Theaterkonzept weggehend eigene individuelle Ansätze suchten und dadurch natürlich auch in Konfrontation zur Kulturpolitik gerieten.27 Petra Stuber stellt fest, dass die von Rischbieter anhand der Inszenierungen von Stücken Brechts beschriebene „zunehmende Artifizialität, selbstbewusster und distanzierter Umgang mit historischen Theatermodellen, Wirkungslosigkeit einer repräsentativen und nationalen Theaterkonzeption“ „symptomatisch für das DDR-Theater insgesamt“ gewesen ist.28 Sie schließt daraus, dass „damit bislang gültiges Verständnis von Theater und Theatergeschichte geändert“29 wurde. Stuber fasst die Entwicklung wie folgt zusammen: „Spielerischer, artifizieller, vielfältiger und unabhängiger war das DDR-Theater seit den sechziger Jahren sehr wohl geworden – unpolitisch war es damit jedoch noch lange nicht. Vielmehr war seine
24 25
26 27 28 29
Vgl. Ausführungen von Sigrid Neef dazu, Kap. 5.2. Stuber, Spielräume und Grenzen, 1998, S. 213, referiert Henning Rischbieter, Theaterreise nach drüben. Nachträgliches Tagebuch, in: Theater heute 1 (1966). Henning Rischbieter, zitiert nach Stuber, Spielräume und Grenzen, 1998, S. 213ff. Ebda., S. 213. Ebda., S. 216. Ebda.
150
Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper Emanzipation von den früher dominanten heteronomen politischen, ideologischen oder pädagogischen Zwecken zuerst selbst ein Politikum – wurden doch in aller Deutlichkeit die vorausgegangenen Vereinnahmungen, Einseitigkeiten und Ausschlüsse kritisiert. Die einsetzende Zur-SchauStellung der eigenartigen spielerischen und artifiziellen theatralen Möglichkeiten, der Rekurs auf die bislang ausgeschlossenen Phänomene der Theatergeschichte und die deutliche Umwertung der bisher offiziell gültigen Auffassung vom Theater waren, bei aller selbstbezüglichen und spielerischen Ambivalenz, zuerst einmal kritische und engagierte Konzepte. Man besann sich programmatisch auf genau jene theaterhistorischen Phänomene, in denen sich die spielerische Selbständigkeit wiederfand, die aus der offiziellen Nationaltheaterkonzeption ausgeschlossen war. [...] Das Theater in der DDR entwickelte in den siebziger Jahren programmatische Gegenmodelle zu früheren Rezeptionsmustern, es entdeckte seine eigene Geschichte, lockerte seine Beziehung zum Dramentext und spielte immer mehr ein Spiel mit sich selbst.“30
Ein sich auch in der Szenischen Kammermusik deutlich abzeichnender Aspekt ist neben der Thematisierung von politischen und gesellschaftlichen Themen auch die Fokussierung einiger Komponisten oder einzelner Werke (z. B. Georg Katzer) auf musikimmanente Thematiken (Bsp. Szene für Kammerensemble oder De musica). Petra Stuber konstatiert für das Schauspieltheater: „Immer deutlicher zeichnet sich im DDR-Theater der siebziger und achtziger Jahre ein eigenes, theaterinternes und selbstbezügliches Gefüge von Inszenierungen ab, das weniger auf kulturpolitische Vorgänge als vielmehr auf theaterästhetische Auseinandersetzungen reagiert. Um dieser zunehmenden Selbständigkeit gerecht zu werden, muß sich die Theatergeschichtsschreibung von nun an verstärkt auf die Analyse unterschiedlicher Theatermodelle und Inszenierungen konzentrieren.“31
So beschreibt Stuber Benno Bessons Volksbühnenkonzept „als Scharnier zwischen dem frühen DDR-Theater in den fünfziger und sechziger Jahren und seiner späteren Entwicklung in den siebziger und achtziger Jahren“32, viele Bühnen nahmen im Laufe der siebziger Jahre seine Spektakel-Konzeption auf. Diese war dadurch gekennzeichnet, dass Theaterformen, die bisher aus dem Theater ausgeschlossen oder zumindest untergeordnet waren, nun zum „eigentlichen“ Theater avancierten: „komödiantisches Körperspiel und Maskentheater, avantgardistische Konzepte zur Überschreitung der Grenzen zwischen Realität und Kunst, organisatorische Alternativen zum traditionellen Stadttheaterbetrieb“.33 Sie sieht die 1970er Jahre als die „kritische Phase“ des DDR Theaters, die gekennzeichnet war von einer „Volkstheaterkonzeption, ihren Grenzüberschreitungen
30 31 32 33
Ebda., S. 221f. Ebda., S. 222. Ebda., S. 227. Ebda.
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zwischen Theater und Realität, ihren Klassikerumwertungen und der Emanzipation der Romantik“. „In programmatischen Gegenmodellen zu den früheren Maßgaben spielte sich – in dieser Deutlichkeit zum letzten Mal – ein ausgesprochen signifikantes Stück DDR-Theatergeschichte ab. Die Umwertungen und Gegenstrategien waren politisch und ästhetisch ambitioniert. Regisseure wie Besson oder Dresen waren auf die Reform und die Veränderung des DDR-Theaters selbst aus; ein ‚besseres‘ DDR-Theater war ihr erklärtes Ziel. Sie identifizierten sich grundsätzlich mit diesem Theatersystem und rekurrierten auf seine Geschichte. Später, in den achtziger Jahren, entstand in der Konsequenz dieser Umwertungen und mit der zunehmenden Akzeptanz der Gegenmodelle ein nach allen Seiten gefülltes DDR-Theater, in dem die früheren Ausschlüsse Stück für Stück emanzipiert und eingebürgert waren. Mit dieser Emanzipation verschwand auch die programmatische Signifikanz, die das DDR-Theater solange ausgezeichnet hatte. Es verlor, endlich frei von politischen, ideologischen oder moralischen Abhängigkeiten, auch seine Spezifik und seine Identität.“34
Ähnlich wie in der Musik, nicht unwesentlich begünstigt durch die kulturpolitischen Veränderungen Anfang der siebziger Jahre, wurden auch von den Theaterleuten der DDR avantgardistische Konzepte wieder entdeckt und für die eigene Arbeit fruchtbar gemacht, so unter anderem Expressionismus, Surrealismus sowie Meyerholds Experimente.35 Allerdings fand – anders als in der Musikgeschichte – in der Theatergeschichte Mitte der Achtziger nochmals eine Neuorientierung statt. Interessanterweise entdeckt nach Stuber jetzt die Schauspieltheaterszene die europäischen Avantgardebewegungen neu, in dem sie „von nun an – wie zu Jahrhundertbeginn von den Avantgardisten selbst – die Grenzen des Theaters und seiner Wahrnehmungskonventionen radikal in Frage“36 stellte. Und zusammenfassend schreibt Stuber: „DDR-Theaterleute wie Castorf, Fabian oder Zinnober holten am Ende der achtziger Jahre die in der DDR lange Zeit ausgeschlossene moderne Theaterentwicklung des 20. Jahrhunderts nach und erreichten mit dieser ostmodernen Bewegung den Anschluß an eine zunehmend einheitlich werdende Welt, in der theaterhistorische Differenzen nichts anderes als Vergangenheit sind.“37
Als Dramatiker und als Regisseur meist eigener Stücke war Heiner Müller eine der Hauptfiguren der DDR-Theaterlandschaft, auch wenn ihm der endgültige Durchbruch hier und im Westen erst in den 1970er Jahren gelang, als in der DDR endlich bis dahin verbotene Stücke von ihm aufgeführt werden konnten. Sein dem postdramatischen Theater zuzurechnendes Werk weist Ähnlichkeiten mit Szenischer Kammermusik auf, etwa hinsichtlich des Umgangs mit den Rezeptionsstra34 35 36 37
Ebda., S. 240. Vgl. ebda., S. 241. Ebda., S. 241. Ebda., S. 244.
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Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
tegien des Publikums. Auch Müller will den Zuschauer aus seinem Hang zur Einfühlung reißen und zum Mitdenken fast zwingen. Er wendet dafür Strategien an, die nach Lehmann auch in anderen Ausprägungen des postdramatischen Theaters eine Rolle spielen, nämlich u. a. die Überflutung des Publikums mit Reizen und Informationen, sodass es gezwungen ist, aktiv auszuwählen: „Ich habe, wenn ich schreibe, immer nur das Bedürfnis, den Leuten so viel aufzupacken, dass sie nicht wissen, was sie zuerst tragen sollen, und ich glaube, das ist auch die einzige Möglichkeit. Die Frage ist, wie man das im Theater erreicht. Dass nicht, was für Brecht noch ein Gesetz war, eins nach dem anderen gebracht wird. Man muss jetzt möglichst viele Punkte gleichzeitig bringen, so dass die Leute in einen Wahlzwang kommen. D. h., sie können vielleicht gar nicht mehr wählen, aber sie müssen schnell entscheiden, was sie sich zuerst aufpacken. Und es geht nicht mehr einfach so, dass man ihnen eine Information gibt und sagt, jetzt gibt es aber auch noch das. Es geht, glaube ich, nur noch mit Überschwemmungen. Und ich meine, dass es relativ langweilig wird, wenn man diese Prosatexte und die Szenen trennt, weil die Leute immer Zeit haben, sich zu beruhigen. Man muss immer eins in das andere reinziehen, damit beides zur Wirkung kommt.“38
Dieses Zitat aus einem Gespräch von 1975 zeigt deutliche Parallelen auch zur Ästhetik von Friedrich Schenkers Missa nigra oder auch Stücken von Katzer und anderen.39 Ein weiterer Aspekt von Müllers Theaterarbeit ist das Moment des Fragmentarischen, das ebenfalls für das postdramatische Theater insgesamt eine Rolle spielt. „Ich glaube überhaupt, dass der Akzent im Moment mehr auf den Prozessen liegen sollte im Theater als auf Resultaten. Das ist hier [im Westen, K. S.] sicher sehr viel schwieriger, wo man viel unmittelbarer darauf angewiesen ist, Sachen zu verkaufen. Das setzt Verpackungen voraus, und ein Fragment ist eben nicht verpackt. Deswegen hoffe ich, dass es bei uns leichter ist, so etwas zu machen.“40
Ein Hauptgedanke der meisten Theatermacher aber auch aller so genannter Kulturschaffender war in der DDR derjenige der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Kunst. Auch für Heiner Müller spielte diese gesellschaftliche und politische Relevanz seiner Arbeiten eine wichtige Rolle für sein Schaffen und für sein Verhältnis zum Publikum. Dies grenzt ihn zu anderen Vertretern postdramatischen Theaters im Westen ab, verbindet ihn aber mit den meisten Komponisten von Szenischer Kammermusik, die diese Form u. a. ebenfalls als Möglichkeit gesellschaftskritischer Aussagen und politischer Statements sahen. Heiner Müller äußerte in einem Interview dazu: „Theater ist
38
39 40
Heiner Müller, Literatur muss dem Theater Widerstand leisten. Gespräch mit Horst Laube, in: Joachim Fiebach, Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef, = Theater der Zeit Recherchen 13, Berlin 2003, S. 299–313, hier S. 304. Vgl. die näheren Erläuterungen zu den Stücken in Kap. 5.3. Ebda., S. 308.
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Krise. Das ist eigentlich die Definition von Theater – sollte es sein. Es kann nur als Krise und in der Krise funktionieren, sonst hat es überhaupt keinen Bezug zur Gesellschaft außerhalb des Theaters.“41 Als Aspekte von Müllers Schaffen nennt Hans-Thies Lehmann42 die Verwendung filmartiger Schnitte zur Verknüpfung einzelner Szenen. Weiterhin weist Lehmann auf den Bruch der Abbildungsästhetik bei Müller hin und darauf, dass in dessen Stücken häufig eine „groteske Verselbständigung der Zeit der Repräsentation gegenüber der repräsentierten Zeit“43 zu verzeichnen sei. Lehmann beschreibt ebenfalls, wie realistische Textästhetik von grotesker Theaterästhetik konterkariert wird, es entsteht eine „spezifische Verknüpfung von Mythisierung und Groteske“.44 Auch hier können Parallelen zu Schenkers Missa nigra verzeichnet werden. Des Weiteren benennt Lehmann Müllers extensiven Gebrauch von Zitaten, Verweisen, Assoziationen, der sich durch Müllers gesamtes Schaffen ziehe und wiederum auf ein Verfahren postdramatischen Theaters weise, das auf die Aktivierung des Lesers/Zuschauers ziele: die Intertextualisierung. Lehmann stellt fest: Müller „zerstört planmäßig die Geschlossenheit des Textes. Während dieses Verfahren für den Leser bedeutet, dass seine Imagination auf vielen Ebenen angesprochen wird, geht es, theatral gesehen, bei dieser Öffnung auf die mit dem Publikum geteilte Zeit eines kulturell-politischen Horizonts hin um eine Veränderung auch der Theaterrezeption selbst. Es geht um das Publikum. Dessen Wahrnehmung wird fortwährend auf andere Momente seiner historischen und kulturellen Existenz, auf Bilder von gestern und anderswo geführt, hinaus aus dem Grenzbezirk des Textes, der Theateraufführung und hinein in den chaotischen vielgestaltigen ‚Text‘ des politischen, literarischen, künstlerischen Erfahrungshorizonts.“45
Müller erzeuge dadurch eine enorme Beschleunigung und Sprunghaftigkeit, wodurch wiederum eine Zersplitterung in heterogene Zeiten und Bezugsräume stattfinde und der Prozess der Wahrnehmung und Verarbeitung selbst in den Vordergrund trete.46 Verknüpfungen, Spiel mit Assoziation sind Aspekte unterschiedlichster Kunstkonzepte und ermöglichen überhaupt Rezeption. Die Besonderheiten in Müllers Schaffen erklärt Lehmann: „Doch bei derart expliziter Zerstörung eines fiktionalen Kontinuums und so hartnäckigem Hinausweisen in andere Felder der Kenntnis und Erfahrung wird die (notwendig unvollkommene und 41
42
43 44 45 46
Heiner Müller, Theater ist Krise. Gespräch mit Ute Scharfenberg, in: Fiebach, Manifeste europäischen Theaters, 2003, S. 342. Hans-Thies Lehmann, Ästhetik des Textes – Ästhetik des Theaters, in: Lehmann, Das politische Schreiben, 2002, S. 324–337. Ebda., S. 334. Ebda. Hans-Thies Lehmann, Zwischen Monolog und Chor. Zur Dramaturgie Heiner Müllers, in: dass., S. 340. Ebda., S. 341.
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Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper unvollständige) Synthetisierung im rezipierenden Bewußtsein das Wesentliche. [...] Nicht mehr die dialogisch vermittelten Energieströme in einem Kraftfeld namens fiktives Universum, sondern die energetischen Prozesse zwischen Bühne und Zuschauer (Leser und Text) werden aktualisiert und zur Geltung gebracht. Aus der Repräsentation tritt, sie überlagernd, die Performanz hervor. So verschiebt Intertextualität im Theater das Gewicht weg von der fiktiven Eigenwelt des Textes (und erst recht der Bühne) hin zur Situation einer der Bühne und dem Zuschauerraum gemeinsam angehörigen Reflexion.“47
Das von Lehmann hier für Müller beschriebene Phänomen der Intertextualität und die mit ihm zusammenhängenden und ermöglichten Kommunikationszusammenhänge lassen sich ebenfalls auf die Szenische Kammermusik übertragen, die damit ein weiteres Element postdramatischen Theaters auch selbst aufweist. Intertextualität wird auch hier mit Zitaten und Assoziationen hergestellt, wobei die Ebene der Musik im Vordergrund steht und die Komponisten auf vielfältigste Weise mit Zitaten, Quasi-Zitaten und anderen Assoziationen Beziehung zu Musik anderer Zeiten und Komponisten herstellen, um mit dem Zuhörer in einen Dialog über diese Musik und die eigene zutreten. Das Verhältnis des Komponisten zum Zitat kann dabei unterschiedlichster Natur sein: so z. B. zeigend, ironisch, hervorhebend, betonend oder kommentierend. Intertextualität stellen Komponisten und gegebenenfalls auch deren Regisseure in Szenischer Kammermusik auf den Ebenen der Musik und des Textes her und verweben diese Ebenen natürlich auch miteinander. In Szenischer Kammermusik ist außerdem noch die Möglichkeit intertextueller Bezüge der szenischen Elemente gegeben, die ihrerseits wieder auf vielfältigste Weise angewendet und mit den anderen Ebenen verknüpft werden können. Beispiele für intertextuelle Arbeit in den verschiedensten Bereichen sind wieder Stücke von Schenker (Missa nigra), Katzer (Szene für Kammerensemble), Bredemeyer (Bilderserenade), Jung (Sketch 5+1) u. a. Heiner Müller ist über seine theaterästhetischen Einflüsse hinaus auch ganz konkret Teil Szenischer Kammermusik und Kammeroper in der DDR geworden, einige Komponisten verwendeten seine Texte für entsprechende Kompositionen: So verwandte Friedrich Goldmann in seiner Fragment gebliebenen Kammeroper Herakles 5 vom Anfang der 1970er Jahre Müllers gleichnamigen Text. Paul-Heinz Dittrich ließ sich ebenfalls von Müllers Texten inspirieren und verwendete sie neben Texten von Arno Schmidt, Edgar Allen Poe und anderen in seinem Musiktheaterprojekt Poesien, dessen Konzeption er bereits 1987 begann und die bis 2004 fortgeführt wurde. Besonders intensiv wird Dittrichs Auseinandersetzung mit Texten Heiner Müllers nach der Wende, beispielsweise in Der glücklose Engel, einer Kammermusik für Sopran und Kammerensemble, und in der Kammermusik XII Journal de vois mortes, in der – neben denen Müllers – Texte weiterer sechs bereits verstorbener Dichter eine Rolle spielen.
47
Ebda.
155
Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
4.7
Liedertheater
Ein weiterer Anstoß für die Szenische Kammermusik kam aus der Richtung der Liedertheaterbewegung, auch wenn diese Liedertheaterbewegung selbst erst Ende der 1970er Jahre entstand und deshalb ebenfalls eine zur Szenischen Kammermusik parallel sich entwickelnde Erscheinung darstellt. Einer der Komponisten Szenischer Kammermusik, Lutz Glandien, war selbst Mitglied der Gruppe Schicht in Dresden und verdankt nach eigener Aussage wichtige Impulse für seine szenische Arbeit dieser Anregung.1 Als Liedertheater wird eine Aufführungsform von Liedern durch Singegruppen, Schauspieler bzw. Kleinkünstler bezeichnet, wobei die einzelnen Lieder häufig zu einer Geschichte zusammengefügt, mit Dialogen und anderen Zwischentexten sowie theatralischen Aktionen verbunden und teilweise auch mit unterschiedlich ausgeprägten Bühnenbildern oder/und auch Requisiten dargeboten wurden. Im weitesten Sinne kann auch diese Art von Mischgenre zwischen Theater und Liederabend als Szenische Musik bezeichnet werden. Liedertheatergruppen in der DDR waren unter anderen die Gruppe Schicht in Dresden und die Gruppe Karls Enkel in Berlin, letztere hauptsächlich getragen von den beiden überragenden Vertretern der Kleinkunstszene der DDR Hans-Eckart Wenzel und Steffen Mensching, sowie Brigade Feuerstein, Oktoberklub oder Pankow. Liedertheater stellt hauptsächlich ein Phänomen der 1980er Jahre dar, Karls Enkel etwa gründeten sich 1978 in Berlin. Wie alle Theater- und Musikformen hatten auch die Liedertheatergruppen bald ihre Werkstatttreffen, so beispielsweise die Werkstatt Lieder & Theater 80 im November 1980 in Dresden, in der auch Begegnungen mit anderen szenischen Gattungen, beispielsweise der Oper (hier Der Preis von K. O. Treibmann), stattfanden. Das Liedertheater war ebenfalls Gegenstand bei einem Erfahrungsaustausch zum Verhältnis von Musik zu anderen Künsten im Komponistenverband 1981 in Berlin.
4.8
Zusammenfassung
Jede dieser Grundlagen für Szenische Kammermusik und Kammeroper stellt selbst ein komplexes Feld in den Gebieten Musik oder Theater dar, und es ist natürlich, dass diese verschiedenen Felder nur umrissen werden konnten. Sie besitzen für die einzelnen Werke und deren Komponisten eine so unterschiedliche Bedeutung, dass eine genauere Beschreibung einzelner Vorläufer nicht Ziel führend erschien. Wenn bei einzelnen Stücken einzelne der genannten Aspekte besondere Relevanz besitzen, wird dies in der Beispielanalyse genauer beschrieben. Es bleibt aber festzustellen, dass ohne diese mannigfaltigen Facetten der Künste die Herausbildung von Szenischer Kammermusik nicht in dieser Form denkbar gewesen wäre.
1
Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999.
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Allgemeine Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und -oper
Die gesamte skizzierte Musik- und Theaterlandschaft bestätigt in ihrer Auswirkung auf die Szenische Kammermusik und die Kammeroper einmal mehr Erika Fischer-Lichtes Sicht auf das 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert von „Performativierungsschüben“, die nach dem so genannten ‚semiotic turn‘ der Geisteswissenschaften in den 70er Jahren nun endlich in den 90ern einen ‚performativ turn‘ auch der Geisteswissenschaften evozieren2 und damit die Sicht auf Kunst als Ereignis ermöglichen, wie sie von den Künstlern zunehmend konzipiert ist. Fischer-Lichte schreibt dazu: „Seit dem Einsetzen der historischen Avantgardebewegungen um die letzte Jahrhundertwende haben die verschiedenen Künste Performativierungsschübe erfahren, welche die Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstgattungen immer wieder überschritten, wenn nicht gar verwischt haben. An die Stelle des Kunstwerks sollte das Kunstereignis treten. Dabei wurde häufig der Anspruch erhoben, aufgrund des Ereignischarakters von Kunst die Kluft zwischen Leben und Kunst zu überbrücken, die Grenzen zwischen beiden aufheben zu können.“3
In diese Gesamtentwicklung der Künste im 20. Jahrhundert können auch Szenische Kammermusik und Kammeroper eingeordnet werden, wobei sie Anregungen besonders durch die geschilderten Phänomene erfuhren. Die Beobachtung der Performativierungsschübe erklärt ebenfalls die Beziehungen zwischen den verschiedenen Entwicklungen.
2 3
Fischer-Lichte, Ästhetische Erfahrung, 2001, S. 20. Ebda., S. 20f.
5.
Szenische Kammermusik und Kammeroper – Theorien und Beispiele
5.1
Szenische Kammermusik und Kammeroper: Beweggründe der Komponisten für die Auseinandersetzung mit den Gattungen
Neben einigen in Kapitel 4 dargelegten allgemeinen musikalischen und theatralen Kontexten, bilden die ganz persönlichen Gründe für die Auseinandersetzung des einzelnen Komponisten mit den Gattungen und seine jeweiligen Intentionen mit diesen Stücken einen weiteren wichtigen Ansatz für das Verständnis der Entstehung Szenischer Kammermusik in der DDR. Die folgende Zusammenstellung der von den Komponisten in den Interviews genannten Gründe für das Herangehen an Szenische Kammermusik zeigt eine große Vielfalt der Motive und verdeutlicht, dass meist ein Konglomerat vieler Faktoren Anstoß für den Komponisten gewesen ist. dabei waren im Einzelfall kausale Aspekte unterschiedlich gewichtet, von denen hier nicht alle zur Sprache gebracht, sondern die wichtigsten gebündelt werden. Während sich einige Komponisten zu ihren komplexen Motiven ausführlich äußerten, gab es für andere nur einen entscheidenden Anstoß zur Komposition von Szenischer Kammermusik: So waren es bei Lutz Glandien die Interpreten, die entsprechende Stücke anregten1, bei Eckehard Mayer die Teilnahme mit einem Stück an einem Konzert mit dem Titel Szenische Kammermusik und damit die von ihm so erkannte Notwendigkeit einer szenischen Komponente2 oder bei Wolf-Günter Leidel die Ausschreibung des Wettbewerbs in Boswil/Schweiz für ein szenisches Stück.3 Ein Problemkomplex für die Hinwendung zur Szenischen Kammermusik ist für die meisten Komponisten ihr Verhältnis zur Institution Oper. Hierbei spielt die Ablehnung der Institution Oper eine wichtige Rolle. Viele der befragten Komponisten lehnten die Institution Oper ab, weil sie entweder die Oper als Gattung überhaupt ablehnten oder keine Möglichkeit für sich gefunden hatten, die Institution Oper für sich zu nutzen und eigene Stücke dort zu platzieren. Der Umgang der Komponisten mit dieser Abneigung gegenüber der Institution Oper gestaltete sich äußerst unterschiedlich. So wurden anstelle von traditionellen Opernformen Kammeropern, Szenische Kammermusik oder auch Schauspieleropern komponiert.
1 2 3
Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit Eckehard Mayer in Dresden am 14.12.1999, vgl. dazu Kap. 5.3. Gespräch der Autorin mit Wolf-Günter Leidel in Altscherbitz bei Schkeuditz am 28.8.1999.
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Beweggründe der Komponisten
Paul-Heinz Dittrich begründete seine Reserviertheit gegenüber der Gattung Oper damit, dass deren Höhepunkte überschritten seien und man bei Benutzung des Genres oft hinter diesen Höhepunkten, er nennt bspw. Bernd Alois Zimmermanns Soldaten, zurückbleibe.4 Weiterhin beschreibt er die Oper als „extrovertiert“, die im traditionellen Sinne eine Botschaft leiste. Stattdessen strebe er aber „eine ‚entautorisierte‘ Darstellung introvertierter Vorgänge, in klarer Distanz rezipierbar, ohne den Nymbus eines Botschaft“ an.5 Zudem thematisiert Dittrich die Schwierigkeit, Stoffe und Libretti zu finden, bzw. vor allem, sie dann auch durchzusetzen. So erzählt er gerne von Begegnungen im Ministerium für Kultur, wo er u. a. den Satz gehört habe: „‚Herr Dittrich, wenn Sie kommen, haben sie bestimmt die falsche Konzeption‘ – sprich, falsche Texte – ‚in der Tasche!‘“6 Peter Freiheit gründete in Halle (Saale) ein eigenes Kammeropernensemble, um seine eigenen Stücke mit Interpreten, die das auch wollten, aufzuführen, „was uns ja auch gelungen ist, damals“. Die ‚Hallesche Kammeroper‘ war am Klubhaus der Gewerkschaften angesiedelt. Außerdem bewog Freiheit die Aussicht auf die Arbeit mit einer „kleinen sängerischen Besetzung“ zu diesem Schritt. Freiheit beschränkte sich aber auf die Kammeroper, eine Auseinandersetzung mit Szenischer Kammermusik fand auch außerhalb der Halleschen Kammeroper nicht statt.7 Walter Thomas Heyn bezeichnete seine gemeinsam mit Ralf Oehme betriebene Gründung des Leipziger Kammermusiktheaters als Trotzreaktion, weil er in Leipzig nicht Fuß fassen konnte, obwohl er mit der Oper Krischans Ende in Stralsund und an der ‚Kleinen Szene‘ der Semperoper Erfolg hatte. Besonders die Staatstheater seien „systemtreu bis zum letzten Tag“ gewesen und hätten bestimmte politische Inhalte immer blockiert.8 René Hirschfeld sah als junger Komponist für sich ebenfalls keine Zugangsmöglichkeit zur Oper.9 Ralf Hoyer dagegen erfuhr den Zugang nicht als Problem, aber ihn „haben einfach die großen Formen nicht gereizt“, auch weil er möglicherweise zu viele Kompromisse hätte machen müssen. Hoyer wandte sich mit Erfolg der Schauspieleroper zu.10 Wilhelm Hübner bezeichnet die Oper als festgefahren11 und Helge Jung erschien sie ebenfalls als hermetische Institution, die Seiteneinsteigern keine Chance ließ.12 Georg Katzer beschrieb seine Probleme im Umgang mit der Institution Oper besonders durch sein distanziertes Verhältnis zum Regietheater.13 Wilfried Krätzschmar sprach ebenfalls von seiner Aversion gegen die 4
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„Ich liebe die Oper gar nicht“. Gespräch mit Antje Kaiser, in: Dittrich, Nie vollendbare poetische Anstrengung, 2003, S. 243–255, hier S. 244. Ebda., S. 249. Vgl. „Nicht für’n Appel und’n Ei!“, in: Dittrich, Nie vollendbare poetische Anstrengung, 2003, S. 298. Gespräch der Autorin mit Peter Freiheit in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit René Hirschfeld in Berlin am 28.2.2000. Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Wilhelm Hübner in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin am 29.2.2000.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Oper, die auch daher komme, dass der Komponist in ihr immer „Bestandteil eines größeren Unternehmens“ sei, worauf er sich nicht einlassen wollte. In Szenischer Kammermusik sei dagegen eine „schnellere und freiere Realisierung möglich“, und die Musik habe in ihr mehr Platz, weswegen sich Krätzschmar auch mehr für Musik von Katzer interessierte als für Kompositionen von Schenker oder Kagel, die seiner Meinung nach mehr das theatralische Moment bedienten.14 Eckehard Mayer fand die Oper klischeehaft15, und Friedrich Schenker machte seine technischen und organisatorischen Probleme mit der Institution Oper geltend, wobei er trotzdem mehrere Opern schrieb und auch aufführte, allerdings teilweise mit großen Schwierigkeiten. So wurde die Oper Büchner beispielsweise nicht vom damaligen Landestheater ‚Theater des Friedens‘ in Halle, dem ursprünglichen Auftraggeber, uraufgeführt, sondern im Apollo-Saal der Berliner Staatsoper.16 Für Steffen Schleiermacher schließlich ist der singende Mensch auf der Opernbühne ein Anachronismus, weshalb Schleiermacher nach szenischen Versuchen auf Distanz zum Opernbetrieb ging.17 Ähnliches gilt für Lutz Glandien, der nach eigener Aussage nie die Absicht hatte, eine Oper zu komponieren, und auch einmal ein Angebot abgelehnt hatte, weil Gesang ihn nicht interessiere und besonders „Operngesang ein rotes Tuch“ für ihn sei.18 Bernd Franke, 1981-85 Meisterschüler von Siegfried Matthus, erzählte im Interview, dass Matthus’ Erfahrungen mit Oper wenig Einfluss im Studium hatten, Matthus ihn allerdings zu seiner Oper Leben lassen anregte. Franke berichtete von Matthus’ Idee, junge Komponisten sollten Kammeropern schreiben, die Franke für „schizophren“ hielt. Franke wollte nach eigener Aussage lieber den Auftrag eines Theaters für eine Oper, die Theater hatten aber kein Geld.19 Ein weiterer Antriebspunkt für die Komposition von Szenischer Kammermusik konnten Anregungen von Interpreten sein. Dies waren häufig Kammermusikvereinigungen wie die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ und auch einzelne Interpreten. Für viele Komponisten spielte dabei eine Rolle, dass Interpreten, die ein Stück selbst in Auftrag gegeben hatten und die möglicherweise auch seine Entstehung begleiteten, dieses Stück dann gern aufführten und ihm nicht unwillig gegenüberstanden, wie es die Komponisten neuer Musik sonst öfter erlebten. Die Komponisten empfingen ihre Anregungen aber auch von Künstlern anderer Sparten, so von bildender Kunst, vom Ballett oder Schauspiel. Wie Peter Freiheit in der halleschen Provinz20, sah es auch Lutz Glandien als Glücksfall an, für konkrete szenisch begabte Musiker komponieren zu können.21 Allgemein sind die Fähigkeiten und die Professionalität der Ensembles, die sich kontinuierlich 14 15 16 17 18 19 20 21
Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Eckehard Mayer in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Friedrich Schenker in Berlin am 13.12.1999. Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999. Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit Bernd Franke in Leipzig am 21.10.1999. Gespräch der Autorin mit Peter Freiheit in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999.
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Beweggründe der Komponisten
mit zeitgenössischer Musik und speziell szenischen Werken beschäftigten, in Bezug auf die szenischen Elemente und die Präsentation von Texten nicht hoch genug einzuschätzen. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass Interpreten sich häufig von Institutionen wie dem Komponistenverband wenig vorschreiben ließen, welche Musik sie aufführten, sondern meist ihre eigenen Präferenzen durchsetzten. Wilhelm Hübner beispielsweise führte an, man habe sich als Komponist Seitenwege gesucht, wo man allein war, „wo keiner rein reden konnte“, wo man mit „Gesinnungsgenossen“ und kleinen Ensembles arbeiten konnte.22 Auch Georg Katzer betonte im Interview die Bedeutung bestimmter Instrumentalgruppen, und v. a. der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ für die Entfaltung der Kammermusik im Allgemeinen und der Szenischen Kammermusik im Besonderen, wobei er feststellte, dass ohne diese spezialisierten Gruppen „die Aufführung solcher Werke fast nicht möglich“ gewesen wäre, da die Musiker sonst konservativ gewesen seien und dem ablehnend gegenübergestanden hätten. Außerdem war für ihn damals besonders wichtig, dass der Einsatz der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ auf die Tendenz zu Szenischer Kammermusik verstärkend wirkte.23 Für Krätzschmar spielten auf Szenische Kammermusik spezialisierte Ensembles für deren Realisation ebenfalls eine große Rolle. Krätzschmar argumentiert hier v. a. dahingehend, dass szenische versierte Musiker wichtig seien, um die beabsichtigte Wirkung des Szenischen nicht durch laienhafte Darstellung zu unterlaufen oder unmöglich zu machen.24 Neben ganzen Instrumentalensembles wurden auch einzelne Interpreten durch ihre immer neue Auseinandersetzung mit neuester Musik für die Szenische Kammermusik bedeutend, so die Leipziger Sängerin Roswitha Trexler, die unter anderem für Lothar Voigtländer25, Hans-Jürgen Wenzel26 und Friedrich Schenker27 als Anregerin und Interpretin von Werken wirkte. Wenzel, der ebenfalls über Schauspielmusik zu szenischen Formen kam, nannte weiterhin auch die Brecht-Interpretin Gisela May und deren Umgang mit Texten als inspirierend.28 Hans-Friedrich Ihme schrieb Musik für szenische Aufführungen der Berliner Ballettschule, also ebenfalls für ein bestimmtes Ensemble, wenn auch diese Stücke – wie Afrikanische Episode – nur am Rande Szenischer Kammermusik zu verankern sind und eher als Ballettmusik zu bezeichnen sind. Für Ihme stehen hier tanzpädagogische und tanzpraktische Aspekte wie die „Eingängigkeit der Musik“ im Vordergrund.29 Weiterhin eignete sich die Szenische Kammermusik als Experimentierfeld für Material oder Dramaturgien. So interessierte sich Ralf Hoyer für den Experimentalcharakter 22 23 24 25 26 27 28 29
Gespräch der Autorin mit Wilhelm Hübner in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000. Gespräch der Autorin mit Hans-Jürgen Wenzel in Halle (Saale) am 13.9.1999. Gespräch der Autorin mit Friedrich Schenker in Berlin am 13.12.1999. Gespräch der Autorin mit Hans-Jürgen Wenzel in Halle (Saale) am 13.9.1999. Gespräch der Autorin mit Hans-Friedrich Ihme in Berlin am 28.2.2000.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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der Szenischen Kammermusik30, und Helge Jung verfolgte die Absicht, tradierte Werkformen zu durchbrechen.31 Karl Ottomar Treibmann und Eckehard Mayer32 berichteten, dass sie Szenische Kammermusik – wie Kammermusik allgemein – als Skizzen für größere Kompositionen gestalteten. Treibmanns Hauptexperimentierfeld war aber die Schauspielmusik33, womit eine Verbindung zu diesem Aspekt der Auseinandersetzung mit Szenischer Kammermusik hergestellt ist. Dagegen ist René Hirschfeld der Meinung, dass kein Experimentieren mit Dramaturgien möglich ist, da jedes Stück anders sei und man in kleineren Formen ganz anders arbeite als in größeren.34 Wilfried Krätzschmar stellt für sich die Lust am Ausprobieren eines neuen Mediums fest, das zwischen tradiertem Musiktheater und Kammermusik stehe.35 Walter Thomas Heyn wiederum sieht das Musiktheater allgemein und damit auch die Szenische Kammermusik als Möglichkeit, vor den Struktur- und Materialdebatten auszuweichen. Er erläuterte, dass man auf dem Theater alles dürfe, auf eine komplexe serielle Struktur könne ein Lied in a-moll folgen. Deshalb habe er sich auf diesem Gebiet immer sehr wohl gefühlt, „weil dort diese Zwänge nicht waren“.36 Die Lust, Gattungsübergreifendes auszuprobieren, brachte ebenfalls einige Komponisten zur Szenischen Kammermusik. Weiterhin wirkten Texte anregend, so für Paul-Heinz Dittrich, der Literatur als Ausgangspunkt für sein Kompositionsdenken sieht,37 sowie für Eckehard Mayer38 und Günter Neubert39, die ebenfalls Anregungen aus inhaltlich gedanklicher Ebene für die Komposition entsprechender Stücke als Motiv anführten. Auch Georg Katzer erläuterte, dass für ihn die Antriebe zu seinen Stücken Mitte der 70er Jahre (Szene für Kammerensemble, De musica) aus den Texten kamen, die ihn so fasziniert hatten, dass er sie öffentlich machen wollte, und er betonte, dass weniger die Qualität dieser Texte u. a. von Platon und Goethe dafür ausschlaggebend gewesen sei, als vielmehr ihre politische Aussage40, womit ein weiterer Beweggrund zur Komposition Szenischer Kammermusik angesprochen wäre. Auch andere Komponisten verfolgten die Absicht, mit Werken Szenischer Kammermusik ihre gesellschaftskritische oder politische Meinung zu äußern. Wilhelm Hüb-
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Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999. Gespräch der Autorin mit Eckehard Mayer in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Gespräch der Autorin mit René Hirschfeld in Berlin am 28.2.2000. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999, vgl. zur Diskussion der Avantgarde Kap. 3.3. Vgl. u. a. Gespräch mit A. Kaiser, in: Dittrich, Nie vollendbare poetische Anstrengung, 2003, S. 243ff. Gespräch der Autorin mit Eckehard Mayer in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Günter Neubert in Leipzig am 30.10.1999. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin am 29.2.2000.
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Beweggründe der Komponisten
ner etwa wollte mit seiner Szenischen Kammermusik schnell auf bestimmte Ereignisse reagieren und politisch Stellung nehmen.41 Ralf Hoyer versteht seine Stücke als politisch veranlasst, wollte aber damit nicht auf Tagespolitik reagieren, dazu hätten „die Dinge“ zu lange gedauert, schnelle politische Reaktion gehörte für ihn eher zu Improvisation und in den Agit-Prop-Bereich.42 Auch für Friedrich Schenker, u. a. mit Missa nigra43 und für Karl Ottomar Treibmann mit Marschschmiede44, war die Möglichkeit, eine politische Aussage zu treffen, für die Komposition bestimmend. Walter Thomas Heyn dagegen führte an, dass sobald ein bestimmter Grad an politischer Provokation erreicht gewesen sei, das Konzert sowieso voll war. Für Heyn gehört die Absicht, mit Szenischer Kammermusik politische Aussagen zu treffen, zu einem „Räuber- und Gendarmspiel“, er gesteht nur Friedrich Schenker einen politischen Gestus zu. Wichtig ist Heyn die Feststellung, dass politische Aussagen seiner Meinung nach nur mit Texten möglich seien und der Musiker dabei „nur Beiwerk“ sei.45 Für René Hirschfeld spielte die Möglichkeit, sich mit Szenischer Kammermusik politisch oder gesellschaftskritisch zu äußern, keine Rolle46, und auch für Wilfried Krätzschmar waren direkte politische Aussagen weniger interessant, er tendierte eher zu sich nicht vordergründig erschließenden Aussagen.47 Weitere Anregungen für die Komposition Szenischer Kammermusik kamen von Entwicklungen in Westdeutschland und Westeuropa, teilweise auch aus Osteuropa.48 Die Integration szenischer Elemente in Kammermusik ermöglichte es in besonderer Weise, die ohnehin vorhandene Theatralität der Konzertsituation zu steuern. René Hirschfeld sieht hier die Musik als Körperkunst, deren körperlicher also szenischer Teil ebenso gestaltet werden sollte wie der musikalische.49 Auch Steffen Schleiermacher ging von der Theatralität der Konzertsituation bei der Gestaltung Szenischer Kammermusik aus, kam aber wegen mangelhafter Qualität der szenischen Darbietungen wieder von Szenischen Kammermusik ab und wollte den theatralen Aspekt stattdessen im Konzert kultivieren.50 Auch Ralf Hoyer beschreibt den Gedanken als anregend, „dass jede Aufführung theatralische Momente hat“: den Auftritt, das Ordnen der Noten, Missgeschicke, komische Situationen, „auf die das Publikum sofort reagiert“. Für ihn ergeben sich hier Schnittstellen: „da merkt man sofort, da passiert was anderes, nicht nur die Musik, eine Performance fast“. Und interessant seine weitere Beschreibung: „Oft hat das die Ernsthaftigkeit der Vorführung gebrochen, ohne dass der Musik dabei was 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50
Gespräch der Autorin mit Wilhelm Hübner in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Friedrich Schenker in Berlin am 13.12.1999. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit René Hirschfeld in Berlin am 28.2.2000. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Vgl. dazu Kap. 4. Gespräch der Autorin mit René Hirschfeld in Berlin am 28.2.2000. Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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verloren geht“. Für Hoyer ist hier Kagel das ganz große Vorbild.51 Karl Ottomar Treibmann sieht das Entstehen theatraler Elemente in Kammermusik allgemein hauptsächlich durch die „Aktionsart“ der Musiker und durch eher improvisierte Kommunikation während der Aufführung. Er schreibt dafür gestische Musik, die dies ermöglicht.52 Jan Trieder dagegen möchte die szenischen Elemente von Musik nicht dem Zufall überlassen, sondern sie dazu komponieren. Nach seiner Erfahrung stehen viele Musiker dem aber skeptisch gegenüber, was er auf mangelnde Erfahrung der Musiker und das Fehlen solcher Aspekte im Studium zurückführt.53 Dem Aspekt der Praktikabilität von Kammeroper und Szenischer Kammermusik, der von Musikwissenschaftlern, wie z. B. von Gerd Rienäcker54, in entsprechenden Abhandlungen immer wieder als ausschlaggebend auch für die Komponisten hervorgehoben wird, stehen u. a. Friedrich Goldmann, Georg Katzer55 und Kurt Dietmar Richter56 skeptisch gegenüber. So stellte Goldmann fest, dass sie sich „nebenbei eingebildet“ hätten, Kammeropern seien leichter zu realisieren. Während der Produktion von R. Hot habe sich aber herausgestellt, dass der Apparat der Institution Oper auch dann lähmend wirke, wenn man ihn nicht zur Gänze bewege.57 Auch Friedrich Schenker ist der Meinung, dass Praktikabilität nicht der entscheidende Aspekt ist, da man den ganzen Apparat bewegen müsse, sonst funktioniere es nicht.58 Ebenso vertritt Steffen Schleiermacher die Ansicht, dass Oper außerhalb der Institution Oper nicht funktioniert.59 Andere Komponisten reklamieren das Merkmal der Praktikabilität durchaus für sich und ihre Stücke und als ausschlaggebend für deren Komposition, so beispielsweise Walter Thomas Heyn.60 Einige Komponisten brachten die Verwendung szenischer Ansätze mit der Absicht in Verbindung, das Publikum aktivieren zu wollen und Distanz zum Publikum abzubauen, so u. a. Kurt Dietmar Richter61 und Karl Ottomar Treibmann.62 Teilweise wird auch das szenische Element eingebaut, weil der Komponist der Meinung ist, dass avantgardistische Techniken so vom Zuhörer leichter zu rezipieren seien. Dies wurde unter anderem von Reiner Bredemeyer geäußert, der in einem Programmhefttext 1979 schrieb: „Die Einbeziehung des Szenisch-Optischen, ja Theatralischen ins Musikmachen 51 52 53 54
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Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Gespräch der Autorin mit Jan Trieder in Halle (Saale) am 13.9.1999. Vgl. Gerd Rienäcker, Musizieren als szenische Aktion. Marginalien zur Kammeroper, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 20–23. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin, am 29.2.2000. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Gespräch der Autorin mit Friedrich Schenker in Berlin am 13.12.1999. Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000.
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Beweggründe der Komponisten
scheint mir ein nicht unwesentlicher Faktor auch für die Rezeption. Gestisches kann kräftiger akzentuiert erscheinen und das Hören unterstützen, ja erleichtern.“63. Auch Helge Jungs Auffassung geht in diese Richtung, wenn er argumentiert, dass das Aufbrechen tradierter Werkformen mit einem „Demokratisierungsprozess“ zu tun hat, der den tradierten Werkbegriff im 20. Jahrhundert in Frage gestellt und zur offenen Form geführt habe. Diese habe wiederum „einerseits den Interpreten mehr Verantwortung übertragen“ und sei „andererseits den Rezipienten mehr entgegengekommen durch größere Vielfalt von Performance“. Jung ist der Meinung, dass der Rezipient durch szenische Elemente mehr Ansatzpunkte zum Verfolgen und Rezipieren erhält.64 Wilfried Krätzschmar bezweifelt diese Wirkungsmöglichkeit stark, weil mit dem Szenischen eine weitere Ebene hinzukomme und das Werk so für den Hörer und Zuschauer noch komplexer werde.65 Andere Ansätze für die Arbeit an Szenischer Kammermusik kommen aus der Richtung der elektroakustischen Musik. Hier ist der „Ton nicht mehr an den Ort seiner unmittelbaren Entstehung (nämlich das Instrument) gebunden“, was unter anderem Lothar Voigtländer zu Raummusiken anregte. Der Raum wird selbst zum kompositorischen Parameter und muss vom Komponisten definiert und als integraler Bestandteil der gesamten „Raum-Klangkonzeption“ begriffen werden. Voigtländer sieht dabei als Nachteil, dass das Publikum bei elektro-akustischen Kompositionen nicht mehr sehe, wie Musik „gearbeitet, hergestellt wird“ – als Vorteil stelle sich dabei heraus dass der Rezipient selbst Bestandteil der Raumklangsituation werden könne. Ein Beispiel dafür ist seine Kammermusik Drei Porträts mit Schatten (produziert im Experimentalstudio des Südwestfunks in Freiburg). Hierbei wandern die Klänge, die auf der Bühne sichtbar durch Gesang und Instrumente produziert werden, in ihrer Verfremdung „in den Rücken des Hörers“, also an die Rückwand des Saales, sobald dem realen Klangbild ein „Schatten“ zugeordnet wird.66 Außerdem entsteht durch die Unsichtbarkeit der Tonproduktion in der elektroakustischen Musik eine Leerstelle, die durch Szenisches gefüllt werden kann, so z. B. bei entsprechenden Stücken von Georg Katzer. Für diejenigen Komponisten, die als Schauspielkapellmeister an Theatern angestellt waren oder aber freischaffend Schauspielmusiken komponierten, kamen für die Komposition von Szenischer Kammermusik oft auch Anregungen aus der Schauspieltradition und der Schauspielmusik hinzu, was u. a. auf Hans-Jürgen Wenzel, Friedrich Goldmann und Eckehard Mayer sowie auch auf Thomas Hertel zutrifft. Goldmann beispielsweise erläuterte, dass für ihn Brecht mit Theater überhaupt gleichzusetzen war 63
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Reiner Bredemeyer über seine Bilderserenade in: Programmheft Instrumentales Theater der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, Sonnabend, 2. Juni 1979, Kongresssaal des Deutschen Hygiene-Museums der DDR. Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Gespräch der Autorin mit Lothar Voigtländer in Berlin am 11.4.2000, sowie nochmalige Verständigung im April 2012.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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und er mit dem Musiktheater Walter Felsensteins nichts anfangen konnte, dagegen Oper sehr „sympathisch“ fand. Goldmann nannte in diesem Zusammenhang Namen wie Achim Freyer, Robert Wilson und Ruth Berghaus, machte also seine Unterscheidung hauptsächlich von den unterschiedlichen Regiekonzepten abhängig. Er, Goldmann, habe ja vom Theater – „in Kantinen“ – gelebt, dort lernte er auch Thomas Körner kennen, dessen Opernentwurf nach Lenz er dann komponierte.67. Hans-Jürgen Wenzel sieht ebenfalls seine szenischen Ansätze vom Theater beeinflusst, was er u. a. wiederum an Erfahrungen seiner Interpreten (Trexler, May, siehe oben) mit Brecht u. a. festmacht. Wenzel verwendete den Begriff gestische Musik und beschrieb sie als „eine Möglichkeit, sich als Komponist zu äußern“, wobei Schenker und seine Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ für ihn sehr wichtig gewesen seien. Im Gegensatz zu Schenker, den aus Wenzels Sicht die Musik mehr interessierte, wollte Wenzel beides verbinden, da Musik und Text nicht zu trennen seien.68 Lutz Glandien, der vom Liedertheater zur Szenischen Kammermusik kam69, machte neben Einflüssen von Theater – sein Meister an der Akademie Georg Katzer komponierte selbst ebenfalls Schauspielmusik – auch solche von Film und U-Musik auf seine Arbeiten geltend.70 Wilfried Krätzschmar erhielt nach eigener Aussage71 einen wichtigen Impuls für das Ausprobieren Szenischer Ansätze aus dem Unterrichten an der Dresdner Musikhochschule, zu seinen Studenten zählte dort u. a. Christian Münch, mit dem zusammen, Thomas Hertel und weiteren auch bildenden Künstlern als erstes die Interferenzen, ein Multimedia-Projekt, in Angriff genommen wurde.
5.2
Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper in der DDR
5.2.1
Facetten musikwissenschaftlicher Diskussion über Szenische Kammermusik und Kammeroper
Neben den bereits diskutierten Voraussetzungen für Szenische Kammermusik und Kammeroper in der DDR allgemein (Kap. 4) und den individuellen Beweggründen der Komponisten für ihr Interesse an diesen Gattungen (Kap. 5.1) soll eine ausschnitthafte Betrachtung der in der DDR stattgefundenen musikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen das Bild abrunden.
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Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Gespräch der Autorin mit Hans-Jürgen Wenzel in Halle (Saale) am 13.9.1999. Vgl. Kap. 4.7. Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999.
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Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper
Zwei Aspekte Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper erweisen sich dabei als besonders entscheidend: die in beiden Musiktheaterformen zu konstatierende Interaktion der Künste sowie die Anwendung findenden Kommunikationsstrategien, die sich von denen der Oper und der konventionellen Kammermusik wesentlich unterscheiden. Auf Möglichkeiten von Kommunikation geht auch Sigrid Neef in ihrem Artikel ein, der von den Gastspielen des Moskauer Kammermusiktheaters unter anderem 1978 bei den Dresdner Musikfestspielen und in anderen Städten der DDR inspiriert wurde, die eine Diskussion über die Ästhetik und den Nutzen von Kammeroper auch in der DDR auslösten. Ihr Text1 fasst die Diskussionspunkte zusammen und liefert Ansätze für die Darstellung der Entwicklung der Szenischen Kammermusik in der DDR und für die Auffassung von Kammeroper. Neef führt zuerst pragmatische Aspekte für die Komposition mit Kammeroper an. Dies sind Notsituationen finanzieller, räumlicher und personeller Art und Beschäftigungsmöglichkeiten für in großen Inszenierungen wenig berücksichtigte Sänger, aber auch das Bedürfnis, „mit mobilen Stücken den festen Spielort zu verlassen, auf Wanderschaft zu gehen, unbekanntes Publikum aufzusuchen“2. Sodann fragt sie nach den positiven Bedürfnissen für die Gattung Kammeroper, nach besonderen Themen, Kommunikations- und Organisationsweisen, nach einem besonderen gesellschaftlichen Interesse. Sie stellt fest, dass die kulturpolitische und künstlerische Wertschätzung der Kammeroper noch nicht sehr hoch sei. Und weiter schreibt sie: „Uns muß das Moskauer Kammermusiktheater schon deswegen interessieren, weil es ein praktischer, erfolgreicher, international beachteter Versuch ist, den Widerspruch zwischen Disponibilität und Spezialisierung in den rezeptiven Erwartungen und produktiven Fähigkeiten zu nutzen und dem Genre Kammeroper eine positive Begriffsbestimmung unter sozialistischen Verhältnissen zu geben.“3
Die Konzeption der Moskauer Kammeroper gehe über praktische Erwägungen hinaus und gebe dem Genre eine sozial-historische Funktionsbestimmung. Die Moskauer Möglichkeiten seien im Einzelnen nicht neu, aber die Gesamtheit der Mittel konstituiere die Kommunikations- und Organisationsweisen und bestimme die Gattung als besondere.4 Neef erläutert im Folgenden vier komplexe Möglichkeiten von Kammeroper, die im Ganzen zur Definition des Begriffs Kammeroper beitragen und auch Aspekte von Intentionen für das Komponieren von Kammeroper und Szenischer Kammermusik enthalten. Zuerst beschreibt sie die Möglichkeit, die „Stücke so zu bauen, daß die den Kon-
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Sigrid Neef, Große Oper auf kleines Maß? Zu den Möglichkeiten von Kammeropern, in: Theater der Zeit 1978, H. 8, S. 41–43. Ebda., S. 41. Ebda. Ebda., S. 42.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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flikt vorantreibenden Widersprüche deutlich erkennbar werden und trotz angebotener komischer und tragischer Lösungen keine Harmonisierung der Widersprüche erfolgt“5. Dies fordere den Zuschauer und bestätige ihn in der Lust, selbständig zu Ende zu denken. Außerdem habe dieses dialektische Bauprinzip eine Wirkung auf die Kompositionsweise und das Verhältnis der beteiligten Künste untereinander. Die Musik emanzipiert sich, es entsteht starke Kontrasthaftigkeit, der Klang wird zusätzlich durch die solistische Differenzierung der Instrumente geschärft. Der betonte Wechsel der Betrachtungsweisen dient hier als Methode, um lineare Kausalität zu vermeiden, dialektische Beziehungen heraus zu arbeiten, was zu einer Betonung der Veränderbarkeit der Welt führt. Die Lust an der Veränderung der Welt soll dem Publikum als Haltung angeboten werden. Zweitens beschreibt sie die Möglichkeit der „Auflösung des Guckkastenprinzips“ und der „Herstellung neuer vielfältiger Beziehungen zwischen Bühne und Zuschauerraum“6. Dadurch wird Verständnis und Verantwortung füreinander gefördert und die Anonymität des Publikums durchbrochen. Die Erkenntnis der Relativität von Erlebnissen und Urteilen bewirkt Freundlichkeit, Toleranz und Aufgeschlossenheit. Die dritte Möglichkeit besteht darin, den „räumlich engen Kontakt zwischen Künstlern und Publikum zu nutzen, um Subtilität der Darstellung zu erhalten und der Individualität der Sänger und Musiker zu Bedeutung zu verhelfen.“7 Wichtig hierfür seien professionelle Fähigkeiten und die Einheit von Gesang und Darstellung. In der Kammeroper ist die Musikproduktion sichtbar. Die damit einher gehende Emanzipation des Orchesters und der Musiker birgt Konsequenzen und Anregungen für Kompositionsweisen. Der Musiker fühlt sich durch den engen Kontakt mit dem Publikum angehalten, musizierend Stellung zu nehmen. „Das kann bisher gewohnte Musizierweisen sprengen und den Komponisten anregen, dem Musiker über den Gebrauch seines Instrumentes hinaus sinnlich-akustische Äußerungen vorzuschlagen.“8 Schließlich läge die vierte Möglichkeit in der „Betonung des Vorläufigen, Unfertigen“9. Ein emanzipiertes Publikum wird hier zur Ergänzung des Angebotenen angeregt, das Funktionieren dieser Absicht hängt aber auch vom Vermögen des Ensembles ab. Neef zieht aus ihren Erörterungen u. a. folgende Schlussfolgerungen. Sie konstatiert, dass „der enge Kontakt zwischen Musikern, Agierenden und Publikum und die Bedeutung, die der einzelne Kunstproduzent im kleinen Ensemble erhält, eine besondere Haltung zu den dargestellten Vorgängen bewirkt.“10 Dies sei v. a. die Liebe zum Detail, aber auch die Sensibilität für Vorgänge, wo Menschlichkeit verletzt wird, aber auch für das Neue im Denken und Fühlen. Und weiter:
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Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda., S. 43. Ebda.
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Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper „Im Gegensatz zu ihren historischen Ursprüngen ist die Kammeroper zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Ensemble der Künste davon gekennzeichnet, daß sie frei von affirmativen und repräsentativen Zügen sein kann. Sollten diese Charakteristika wesentlich für Kammeroper sein und bleiben, so läge hier eine Notwendigkeit, die Gattung weiterhin zu pflegen und in ihrer Spezifik auszubilden.“11
Besonders das von Sigrid Neef herausgearbeitete Charakteristikum der Freiheit von affirmativen und repräsentativen Zügen im Gegensatz zur großen Oper scheint für die Kammeroper in der DDR und auch für die Szenische Kammermusik von größter Wichtigkeit zu sein und ein Grund dafür, warum sich so viele Komponisten mit diesen beiden Genres beschäftigten. Gerd Schönfelder und Andreas Damm formulierten 1980 für den Komponistenverband ihre Sicht auf die Entwicklung der Kammermusik seit dem IX. Parteitag, der 1976 stattgefunden hatte.12 Sie verstehen hier, obwohl schon knapp zehn Jahre der Entwicklung der Szenischen Kammermusik vergangen sind und auch die vorher bereits existierenden Formen von Kammermusik weiter gepflegt wurden, die Kammermusik immer noch als Feld künstlerischer Selbstverständigung für junge Komponisten. Immerhin konstatieren sie, dass es „Hinweise auf Schaffensverlagerungen aus der Sinfonik in die Kammermusik“ gebe, ein „zunehmender Differenzierungsprozeß“ damit korreliere und ebenso ein „starkes Anwachsen freier Besetzungen“ zu verzeichnen sei.13 Allerdings stellen sie dann doch fest, dass neben der „Funktion als Experimentierfeld“, die Kammermusik „auch Bedeutung für gezielte künstlerische Intentionen“ gewinne. Sie nehmen Versuche wahr, die „auf Veränderung der kammermusikalischen Kommunikationsweisen zielen“, wie die Szenische Kammermusik, Mischgenres, Collagen usw. Weiterhin verbreitere sich der Grenzbereich zwischen Kammermusik und Sinfonik.14 Es wird auch das Bestreben der Komponisten, den weltanschaulichen Anspruch auf die Kammermusik zu übertragen, als gewachsen beschrieben, die Beschreibung des Anfangs, dass Kammermusik vor allem ein Feld künstlerischer Selbstverständigung junger Komponisten sei, kann also eigentlich nicht aufrechterhalten werden.15 Immerhin wird ein deutlicher Emanzipationsprozess „synthetischer Werkkonzepte“ besonders seit Anfang der 1970er Jahre bei Paul-Heinz Dittrich, Georg Katzer und Hans-Karsten Raecke sowie „jetzt“ auch bei weiteren Komponisten wie Ruth Zechlin, Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Ralf Hoyer und anderen festgestellt. Die Autoren resümieren: „Alle Bemühungen dieser Art sind heute weniger bloßes Aufbegehren gegen althergebrachte Konzertriten oder Ausdruck extravaganten Originalitätsstrebens, sondern vor allem Ausdruck des Su11 12
13 14 15
Ebda. AdK, VKM, Mappe 893, Sitzung des Präsidiums 10.4.1980, Schönfelder u. Damm, Zur Entwicklung der Kammermusik seit dem IX. Parteitag, der SED (Diskussionsmaterial für Sitzung 14.4.1980). Ebda., S. 1. Ebda., S. 2. Ebda., S. 5.
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chens nach Auflösung jenes Widerspruchs zwischen einer hochsensiblen, subjektivierten Musiksprache einerseits und den vielen Möglichkeiten und Voraussetzungen breiter Rezeption andererseits.“16
Weiterhin wird behauptet, dass „materialauslotende Vorstöße als Motivation für die Komponisten“ abgenommen hätten. Schönfelder und Damm stellen außerdem fest, dass Experimente jetzt weniger bestimmend seien und „eher ganzheitliche, emotional motivierte Lösungen“ im Vordergrund stünden.17 Als vorläufige Schwächen nennen sie die Tatsache, dass „noch wenige ausdrucksstarke Werke“ entstünden, dass viel „Gleichförmigkeit“ zu konstatieren sei, sowie ein „fragmentarischer Stil“, der „Kurzatmigkeit“ erzeuge.18 Dass diesen Aussagen auf keinen Fall zugestimmt werden kann, zeigen die Analysen in Kapitel 5. Insgesamt wirken diese Feststellungen ebenso wie die oben zitierten, die von nicht mehr vorhandener Materialauslotung sprechen, eher wie der Versuch, die entsprechenden Stücke zu marginalisieren. Die dezidiert politische Herangehensweise z. B. eines Friedrich Schenker kann beispielsweise nicht hauptsächlich als „emotional motiviert“ beschrieben werden. Einen Fixpunkt für die offizielle Auseinandersetzung des Komponistenverbandes, konkret der Kommission angewandte Musik, mit Szenischer Kammermusik im Umkreis von so genannter angewandter Musik stellt 1981 ein „Erfahrungsaustausch“ mit dem Titel Neues kompositorisches Schaffen im Zusammenwirken der Künste dar.19 Wie alle derartigen Veranstaltungen wurde auch diese im Verband akribisch vorbereitet und ihre Ergebnisse standen schon vor ihrem Beginn fest. Die als längst überfällig eingeschätzte Zusammenkunft von Komponisten, Musikwissenschaftlern und Interpreten sollte ein fünfstündiges Demonstrationskonzert sowie ein Rundtischgespräch umfassen. In einer Information zum Stand der Vorbereitungen heißt es zum Ziel der Zusammenkunft: „Im Vordergrund steht dabei die Frage nach den Möglichkeiten des kompositorischen Schaffens, durch die Verbindung mit anderen Künsten zu höherer Wirksamkeit zu gelangen und – im Zusammenhang mit neuen Aufführungs- und Darbietungsformen – das Musikleben zu bereichern.“20 Das Programm des Beispielkonzerts beinhaltete: Gruppe Bayon: Ouvertüre zu Der Traktor/Die Schlacht von Heiner Müller, Hermann Keller: Szene für Flöte Solo und Puppe, Reiner Bredemeyer: Bilderserenade, Friedrich Schenker: Missa nigra, Bayon: Ausschnitte aus der Suite Nr. 4, Georg Katzer: De musica, Ralf Hoyer: Allgemeine Erwartung, „Karls Enkel“: Der Pilger Mühsam.21 Weiterhin sollten Beispiele angewandter Kunst vorgeführt werden, so z. B. Kunst von Dieter Tucholke und die dafür komponierte Raum-Musik I 16 17 18 19 20
21
Ebda., S. 10. Ebda., S. 12. Ebda., S. 14. AdK – VKM, Mappe 847, Kommission Angewandte Musik, Zuarbeit ohne Autor, S. 1. AdK – VKM, Mappe 847, Kommission Angewandte Musik, Information zum Stand der Vorbereitung für den Erfahrungsaustausch, o. Pag. AdK – VKM, Mappe 847, Kommission Angewandte Musik, Programm des Konzerts, o. Pag.
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von Lothar Voigtländer, Ausschnitte aus Horst Krügers Rockoper Zaubersprüche, Siegfried Matthus’ Springbrunnenmusik, Rolf Lukowskys Plisch und Plum, eine Komposition mit Dia-Vortrag. Geplant war außerdem eine Dokumentar- und Trickfilmmusikvorführung u. a. mit Kompositionen von Paul Dessau, Thomas Hertel, Hans-Friedrich Ihme und anderen.22 Ein vorbereitendes Papier23 nennt Problemkreise für die Diskussion. Gefragt werden sollte nach der Motivation der Komponisten, sich in ihrem musikalischen Schaffen anderen Künsten zuzuwenden, aber auch nach den schon gewonnenen Erfahrungen bezüglich der Wirkung auf den Adressaten. Weiterhin sollte die Frage eine Rolle spielen, ob andere Künste einbezogen werden, weil die eigene nicht genug leiste, und ob die spezifisch musikalischen Aspekte im Zusammenhang mit anderen Künsten vielleicht wieder besonders hervorgehoben werden könnten und die Musik wieder zu sich selbst fände. Ebenso sollten Erfahrungen bei der Realisierung der Projekte diskutiert werden, so das Verhältnis von individuellem und kollektivem Anteil, sowie die Art der möglichen Klangkörper, die für die Werke in Frage kommen. Außerdem standen Reaktionen von Interpreten und Institutionen, sowie die Verbreitung der Werke im Musikleben auf der Tagesordnung.24 Neben dem vorgesehenen Leiter Gerd Rienäcker werden als Teilnehmer des Rundtischgespräches Reiner Bredemeyer, M. Franz, Georg Katzer, Georg Knepler, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker und Christoph Theusner genannt. Ebenfalls in diesem Konzept wird festgestellt, dass die Zahl der ursprünglich einhundert Teilnehmer, die diskutieren und Werke kennenlernen sollten, aufgrund des Hotelbettenmangels in Berlin auf dreißig Personen, die gleichzeitig hauptsächlich in Berlin wohnten, beschränkt werden musste.25 Die Diskussion sollte nicht nur durch vorbereitete Diskussionsbeiträge gelenkt, sondern auch durch vorherige Allianzbildungen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, wie das Positionspapier von Bianca Tänzer formuliert: „Diskussion zu den vorgestellten, möglichst programmatischen für die Ausprägung unseres sozialistischen Musiklebens und unserer Lebensweise gestalteten (?) Beispielen (kurze Diskussionsgrundlage von Kennern und Propagandisten des Beispiels, eventuell Contra-Position durch einen extra dafür vorbereiteten Kritiker in einer noch genauer zu konzipierenden Richtung, damit es nicht zu einem Gestreite[sic] um des Kaisers Bart wird; sollten wir uns mit einigen Verbündeten eine Diskussionsstrategie erarbeiten“26
22 23
24 25 26
Ebda. AdK, VKM, Mappe 847, Kommission Angewandte Musik, Rundtischgespräch zum Thema: Neues kompositorisches Schaffen im Zusammenwirken der Künste, Leitung Gerd Rienäcker, o. Pag., ein Autor des Papiers ist nicht festzustellen. Ebda. Ebda. AdK, VKM, Mappe 847, Kommission Angewandte Musik, Bianca Tänzer, Erfahrungsaustausch Kompositorisches Schaffen ..., o. Pag.
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„Und da es erfahrungsgemäß recht verschiedene Meinungen über gesellschaftliche Wahrheit und künstlerische Substanz gibt, dürfte bei straffer und kluger Gesprächsleitung einiges mobilisiert werden an Meinungsaustausch.“27
Tänzer diskutiert anhand der angewandten Musik erneut die Frage der Mittel und ihres Zweckes. Außerdem orientiert sie auf Beispiele, die die herkömmliche Darbietungsweise neu sehen oder sprengen und arbeitet heraus, welche internationalen Anregungen nutzbar sind. Aber wie so oft gehen auch ihre Verweise nicht über die Namen Henze und Nono, die so genannten „humanistischen“ bürgerlichen Komponisten hinaus.28 I. Brunne möchte in einem weiteren Entwurf in Vorbereitung der Tagung29 die Diskussion praktischer Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen, aber technische Aspekte, die für die Verbandsleitung und die Verantwortlichen unangenehme Diskussionen bringen würden, ausklammern. Sie schlägt deshalb vor, die „Vorbereitung von Diskussionsgrundlagen von maximal 40’ und von Stellungnahmen von 10’, um Aussprache auf uns wesentliche Punkte zu lenken und nicht auf von uns nicht beeinflußbare (z. B. Technische o. ä.) Probleme ausufern zu lassen.“30 Mit diesen technischen Problemen sind unter anderem die mangelnden Voraussetzungen für die Komposition von elektroakustischer Musik in der DDR gemeint. Diese technischen Probleme waren wunde Punkte, auf die von Komponisten immer wieder hingewiesen wurde und mit denen diese teilweise auch die Notwendigkeit von Westreisen begründeten. Weiterhin forderte die Autorin des Papiers, dass man sich bei diesem Gedankenaustausch auf die Ergebnisse des DDR-Schaffens beschränken solle.31 Auch diese Forderung erklärt sich durch die auch Anfang der 1980er Jahre noch aktuellen Diskussionen um Kompositionstechniken und durch die Abgrenzungsversuche der DDR vom Westen insgesamt. Außerdem sollte die Beziehung zwischen dem Aufbrechen eines Genres und der Verdeutlichung der weltanschaulichen Haltung bevorzugt dargestellt werden.32 Diese Forderung fußt auf den Postulaten des Sozialistischen Realismus, die ebenfalls Anfang der 1980er Jahre in einschlägigen Diskussionen noch bemüht werden. Die beiderseitige Forderung nach gesellschaftlicher Relevanz als im Nachhinein kleinster gemeinsamer Nenner, auf den sich die ideologischen Dogmatiker und die avancierten Komponisten hätten einigen können – ist bereits erläutert worden. Ein drittes, den genannten Erfahrungsaustausch vorbereitendes Papier, dessen Autor nicht ermittelt werden konnte, spricht von den möglichen neuen Kommunikationsweisen der mehrere Künste zusammenbringenden Stücke. Es teilt die zu untersuchenden Werke in fünf Bereiche ein: 1. den der Szenischen Kammermusik, 2. den der Medien 27 28 29
30 31 32
Ebda. Ebda. AdK, VKM, Mappe 847, Kommission Angewandte Musik, I. Brunne, Gedanken zum Erfahrungsaustausch, o. Pag. Ebda. Ebda. Ebda.
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angepassten Synthese- und Collageformen, rundfunkspezifischen, „autonome[n]“ Musik, 3. den der Ausstellungs- und Gebrauchsmusiken, 4. den des Liedertheaters und 5. den einer neuen Synthese von Rock und Pop. Als Ziele des Austausches formuliert der Autor des Textes die Absicht der gegenseitigen Information und der Kontaktvermittlung, weiterhin die Möglichkeit, Komponisten mit diesem Erfahrungsaustausch Schaffensimpulse zu geben. Außerdem sieht der Autor mögliche Anregungen für die Musikwissenschaft und die Erschließung neuer Möglichkeiten der gesellschaftlichen Vermittlung, sowie Impulse für Verbandsaktivitäten.33 In einem Konvolut der Kommission Musiktheater des VKM findet sich ein Berichtsprotokoll über den beschriebenen Erfahrungsaustausch am 17. und 18. Juni 198134, das eher wie eine weitere Anregung zur Diskussion wirkt und keine konkreten Ergebnisse formuliert. So stellte Christian Kaden empirische Forschungen an der Humboldt-Universität Berlin vor, die die Existenz zweier Typen von Rezipienten ergaben. Der eine Typ sei der Hörer absoluter Musik, dessen Wahrnehmung auf das Klangphänomen orientiert sei und der andere der von Kaden so genannte „Multimedia-Fan“, der weder nur Hörer noch nur Zuschauer sei.35 Georg Knepler stellte weiter fest, dass das Zusammenwirken von mehreren Künsten theoretisch und praktisch noch nicht geklärt sei.36 Günter Mayer wiederum schlug vor, vom unzufriedenen Rezipienten auszugehen, der mit der Vielfalt der Infos das Bedürfnis nach Orientierung verbinde, einen historischen Standard verlange und progressive und emanzipatorische Ansprüche stelle.37 Neben dem Erfahrungsaustausch im Komponistenverband 1981 beschäftigte sich ein Internationales Kolloquium der Akademie der Künste der DDR 1983 mit Wechselwirkungen der darstellenden Künste. Dort wurde auch eine weitere Systematisierung der zur Diskussion stehenden Phänomene versucht. Der Theaterwissenschaftler Erhard Ertel präsentierte in einem Diskussionsbeitrag mit dem Titel Musiker und Bildende Künstler als Darsteller38 Merkmale der neuen Formen darstellender Kunst, unter die er nicht nur Ausprägungen Szenischer Kammermusik, sondern auch die Rockoper, verschiedene Möglichkeiten von Performances im Bereich der Bildenden Kunst und auch des Kabaretts zählte. Interessant ist Ertels Feststellung, dass es sich hier nicht um kleine Formen am Rande handele, sondern dass hier durchaus die gesellschaftliche Bedeutsamkeit, die
33
34
35 36 37 38
AdK, VKM, Mappe 847, Kommission Angewandte Musik, Vorschlag für Erfahrungsaustausch, ohne Autor, o. Pag. AdK, VKM, Mappe 836, Kommission Musiktheater 1979-1983, Berichtsprotokoll Erfahrungsaustausch „Neues kompositorisches Schaffen im Zusammenwirken der Künste“, 17/18.6.1981. Ebda., S. 1. Ebda., S. 6. Alles ebda. S. 9 bzw. 10. Erhard Ertel, Musiker und Bildende Künstler als Darsteller, in: Wechselwirkungen der darstellenden Künste, Internationales Kolloquium Berlin 29./30. November 1983, hrsg. von der Akademie der Künste der DDR 1986, Sektion Darstellende Kunst, = Arbeitsheft 39, S. 48–50.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Gegenstände, die artifiziellen Mittel und die Zuhörerschaft groß seien.39 Diese neuen Formen darstellender Kunst, die sich neben der Institution Theater etabliert haben, zögen ein vorwiegend junges Publikum an. Bei den genannten Formen handele es sich um Grenzüberschreitungen aus tradierten Kunstgattungen, besonders der Musik und der bildenden Kunst, die eine Ausweitung in Richtung theatralischer Veranstaltungen durch die Einbeziehung darstellender Kunst gemeinsam hätten.40 Auf dem Kolloquium wurden einige der Stücke ganz oder in Teilen als Beispiele vorgeführt, so auch Schenkers Missa nigra als zentrales Stück Szenischer Kammermusik sowie die Rockoper Paule Panke.41 Ertel stellte fest, dass diese Formen durch die „Fusion theatralischer und musikalischer Elemente im Rahmen einer ereignishaften Veranstaltungsstruktur“ gekennzeichnet seien, und nennt als Beispiele für entsprechende internationale Entwicklungen die Theatralisierungen von Rockmusik-Darbietungen42. Den Hauptteil seiner Ausführungen nehmen fünfzehn Merkmale der neuen Formen darstellender Kunst ein, die auch die Ausprägungen der Szenischen Kammermusik in der DDR charakterisieren, obgleich nicht alle Aspekte jeweils auf jedes Stück zutreffen. So scheint Ertel die Hinwendung zu solchen Formen aus dem Bedürfnis nach unmittelbarer Kommunikation mit Publikum zu erwachsen. Nicht ein ablösbares Produkt stehe im Mittelpunkt, sondern der Prozess des Produzierens selbst, der Künstler sei gleichzeitig Darsteller und Produzent. Dabei sei das Ziel „Kunstleistungen nicht mehr nur gegenständlich vermittelt, sondern auch unmittelbar produktiv werden zu lassen.“43 Weiterhin sei eine Hinwendung zu Gegenständen zu verzeichnen, die ausschließlich durch Klang nicht mehr zu vermitteln sind. Die Produzenten stießen an Grenzen tradierter musikalischer Ausdrucksmittel und erführen die Unzulänglichkeiten des ausschließlichen fixiert Seins auf das Musizieren. Daraus folge eine Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten durch das Ausstellen des Vorgangs des Musizierens und die Verwendung eindeutig darstellerischer Mittel. Sodann beobachtet Ertel eine auffällige Hinwendung zu Gegenständen, denen sich tradierte Formen nur wenig stellen, so zu politischen und existentiellen Fragen44 und zu Fragen des Alltags.45 Ertel konstatiert eine häufige Wirklichkeitsabbildung beziehungsweise Vermittlung von Impulsen zur Veränderung von Wirklichkeit durch bewusstes Ausstellen der Kunsthaftigkeit, nie durch den Versuch von Wirklichkeitsillusion. Dabei sei das „Betonen des Gemachtseins“ eines Kunstwerkes auch ein Verweis auf die Funktionalität von Kunst. Außerdem sei die Betonung des Kunstcharakters eng mit dem Ausstellen des Kunst Machens verbunden und damit auch mit dem Vorführen menschlicher Haltungen, wodurch 39 40 41 42 43 44 45
Ebda., S. 48. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda. Ebda., S. 49.
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Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper
gleichzeitig eine Aktivierung der Rezipienten erreicht werden könne. So gebe es meist keine Funktionstrennung in der Aufführung, Musizieren sei hier gleichermaßen Erzeugung eines Klangphänomens und darstellerische Aktion. Anschließend thematisiert Ertel die Selbstständigkeit und Kollektivität der Kunstproduktion, wobei sich die Kollektivität der Produktion meistens auch im Bühnengeschehen realisiere. In anderen Stücken erweise sich die theatralische Relevanz aber auch, wenn sich professionelle Regisseure beteiligen. Für Ertel ist zusätzlich die Beherrschung des Handwerks ein zu registrierendes Kriterium. Noch einmal auf den Kunstcharakter der Stücke zurückkommend stellt Ertel fest, dass die Betonung der Kunstrealität als Betonung der Sinnlichkeit funktioniere und zu einer Auffälligkeit der Zeichensetzung sowie einem häufig hohen Grad an Verfremdung führe. So genügten Kunstprozesse hier gerade deshalb der Kunstspezifik, weil Kommunikation über Sinnlichkeit derselben stattfinde und die Sinnlichkeit für die Kommunikationsbeziehungen und für den Abbildvorgang relevant sei. Die Form des Umgangs mit dem Kunstmaterial sei ein Benutzen von existenter Kunst. Weiterhin stellt Ertel eine Dominanz synergetischer Prozesse und damit ein Bemühen um „totales Theater“ fest, bei dem Musik und Bildhaftigkeit und im Bereich des Darstellerischen vor allem körpersprachliche Ausdrucksformen, basierend auf gestischen, pantomimischen und tänzerischen Elementen eine besondere Rolle spielten. Den „Verknüpfungspunkt dieses synergetischen Prozesses“ sieht Ertel im Bezug zum Publikum.46 Das Verhältnis der Macher zur Sprache, besonders ihr sinnliches Verhältnis zur gesprochenen Sprache sieht Ertel im Folgenden als wesentlich, sodass ein häufiges Spiel mit Sprache durch entlarvende Sinnentleerungen und Sinnumkehrungen, durch permanente Entsemantisierung und neue Sinngebung zu verzeichnen sei sowie auch eine Entfunktionalisierung verbaler Sprache. Die Verfahren von Montage und Collage fasst Ertel in einem anderen Merkmal zusammen und verweist hier zum wiederholten Male auf Schenkers Missa nigra und konkret auf die Rolle des Malers Hartwig Ebersbach bei der Konzeption und Vorbereitung einerseits und während der Aufführung andererseits. Ertel nennt als letztes Moment Bezugspunkte zum Publikum, die sich in dem Ziel fänden, sinnliche Wahrnehmungsprozesse in Gang zu setzen und Assoziationsangebote zu unterbreiten. Weiterhin diene die Auffälligkeit der Kunstproduktion der „Aktivierung des Rezipienten, der Freisetzung von Sensibilität, Phantasie und Assoziationsfähigkeit“. Eine wichtige Rolle spiele hierbei die Einbettung solcher Aufführungen in komplexere Veranstaltungen und Gesellungsstrukturen. Der Zuschauer würde meist selbst zur Verantwortung gezogen, ihm obliege die letztendliche Bewältigung der Wirklichkeit.47 Gerhard Müller äußert sich in einem Text für die Kommission Musiktheater innerhalb des Komponistenverbandes zum musikdramatischen Schaffen in der DDR.48 Er arbeitet zwei unterschiedliche Positionen und Herangehensweisen der Komponisten an 46 47 48
Alles ebda., S. 49. Alles ebda., S. 50. AdK, VKM, Mappe 1110, Vorbereitung des Zentralvorstandes vom 20./21. Oktober 1988 zum Opernschaffen, Gerhard Müller, Musikdramatisches Schaffen in DDR/Problemspiegel.
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Musiktheater heraus. Zum einen sei die „Annahme der Gegebenheiten“ zu verzeichnen und „der Versuch, die Oper gleich von innen heraus, unter Beibehaltung der gegenwärtigen Strukturen, zu reformieren“, was zu einer „Reproduktion nicht nur des Apparates, sondern [auch] mit ihm verbundener ästhetischer Normen“ führe. Die andere Position gehe mit der „Ablehnung der Gegebenheiten“ einher und unternehme den „Versuch, das Musikdrama hinter dem Rücken der Opernhäuser zu revolutionieren“, was „in Ansätzen zur Bildung neuer, aber kleinerer und bisher konkurrenzfähiger Ensembles, zum Ausweichen auf Schauspielbühnen oder andere nichtprofessionelle Spielstätten“ führe.49 Müller stellt fest, dass die erfolgreichen Werke „gegenwärtig“ zur ersten Kategorie gehören, während die zweite meist als Experiment gelte. Wobei ihre „relative Wirkungslosigkeit“ „nicht aus mangelnder Qualität“ resultiere, „sondern aus der Unfähigkeit der institutionalisierten Theater, sie in einer adäquaten Weise darzubieten“.50 Müller führt weiter aus, dass beide Richtungen auf entgegengesetzte Weise die gegenwärtige Theaterpraxis reflektierten, aber keine von ihnen über sie hinaus gehe und an die modernen Rezeptionsgewohnheiten anknüpfe. Deshalb wirkten Darbietungen von zeitgenössischen Opern heute antiquiert. Müller beklagt außerdem die Passivität der Medien gegenüber Neuem.51 Annette Siegmund-Schultze beschäftigt sich in einem Rückblick auf das Opernschaffen der DDR, der in Theater der Zeit 1989 erschien, auch mit Aspekten der Szenischen Kammermusik.52 Sie konstatiert, dass Dessau in den 1970er Jahren seine Konzeption der epischen Oper modifizierte, sonst aber ein Generationswechsel der Opernkomponisten stattgefunden habe. Gleichzeitig sei die Szenische Kammermusik entwickelt worden. Die Komponisten wollten sich mit dem neuen Genre der Institution entledigen und direkter mit dem Publikum kommunizieren. Nach Annette Siegmund-Schultze ist die Szenische Kammermusik nicht mit mehreren gleichzeitig entstandenen Kammeropern zu vergleichen, die durch Rücknahme der Ansprüche die Situation überwinden wollten: „Als Reaktion auf diese Situation entwickelte sich die sogenannte ‚szenische Kammermusik‘, die dem Bedürfnis verschiedener Autoren entsprang, sich musiktheatralisch unter Umgehung des schwerfälligen Opernapparates zu äußern und direkter mit dem Publikum zu kommunizieren. Die Praktikabilität dieser Werke ist nicht gleichbedeutend mit einem geringeren Schwierigkeitsgrad und einer höheren Publikumswirksamkeit – insofern sind sie nicht zu vergleichen mit mehreren im gleichen Zeitraum entstandenen Kammeropern, die in erster Linie bestrebt waren, durch Zurücknahme der äußeren Ansprüche an Theater, Interpreten und Publikum der Situation Rechnung zu tragen. Im Gegenteil werden in der ‚szenischen Kammermusik‘ ein hoher Grad an Spezialisierung
49 50 51 52
Ebda., S. 1. Ebda., S. 2. Ebda. Annette Siegmund-Schultze, Ein Rückblick auf vier Jahrzehnte II: Das Opernschaffen in der DDR in den 70er und 80er Jahren, in: Theater der Zeit 44, 1989, H. 5, S. 15–19.
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Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper sowohl der einzelnen Sänger und Instrumentalisten gefordert als auch hohe Ansprüche an den, entsprechend der Spielstätten, relativ kleinen Zuschauerkreis gestellt. Genannt seien Komponisten wie Paul-Heinz Dittrich, Thomas Heyn, Ralf Hoyer, Kurt Dietmar Richter.“53
Die vorgestellten Texte zu den in Frage stehenden Phänomenen zeigen die unterschiedliche Herangehensweise und die verschiedenen Einschätzungen der Autoren, die einerseits sehr differenzierte Analysen der Gattungen liefern und deren Wirkungen und Funktionen sehr deutlich formulieren, wie z. B. Sigrid Neef oder auch Annette Siegmund-Schultze und Erhard Ertel. Andererseits wird aber auch die Unsicherheit im Umgang mit dem neuen Musiktheater und seinen Ausprägungen klar, die auch im Komponistenverband existierte. Durch ihre Sparten übergreifende Struktur erschienen Szenische Kammermusik und Kammeroper den Funktionären schwer einschätzbar und unberechenbar.
5.2.2
Diskussion der Begrifflichkeiten
Die in der musikwissenschaftlichen Diskussion bereits thematisierten unterschiedlichen Kommunikationsansätze können sowohl im Vergleich von Szenischer Kammermusik und Kammeroper als auch in deren Gegenüberstellung zu Kammermusik und Oper beschrieben werden. In der Kammermusik findet die Kommunikation normalerweise auf der instrumentalen Ebene statt und wird auch so vom Publikum erwartet. In der Szenischen Kammermusik treten zu dieser Ebene noch verschiedene andere, besonders vokale und verbale Möglichkeiten hinzu, wie sie ja auch in vokal-instrumentaler Kammermusik, so in Liederzyklen, zu finden sind. Dazu kommt die Kommunikation durch Beteiligung der darstellenden Künste, also der Transport von Informationen auf körpersprachlichem Wege, die Beteiligung von Schauspiel, Tanz oder Pantomime, die in der Szenischen Kammermusik die konventionellen Kommunikationsweisen der traditionellen Kammermusik ergänzen. In der Oper herrscht weiterhin die Kommunikation mittels verschiedener Kunstformen wie Gesang, Musik, darstellenden Elementen usw. vor. Für die konventionelle Kammeroper, die es auch in der DDR schon lange vor dem hier betrachteten Zeitraum der 70er und 80er Jahre und in den verschiedensten Ausprägungen gegeben hat, bleiben die Kommunikationsweisen die gleichen wie in der großen Oper. Durch die zur Szenischen Kammermusik und ihren Darstellungsweisen hin gewandten Kommunikationsstrategien ändert sich das in der avancierten Kammeroper. Die Szenische Kammermusik arbeitet mit den unterschiedlichsten Besetzungskombinationen, die in Kammeropern nur sehr selten vorkommen, sie bezieht u. a. Pantomimen, Tänzer, Schauspieler ein oder arbeitet ausschließlich mit Instrumentalisten. 53
Ebda., S. 17f.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
177
Wenn in der Szenischen Kammermusik Sänger beteiligt sind, ist häufig eine große Nähe zur Kammeroper zu verzeichnen. Dies gilt hauptsächlich bei der Verwendung von Libretti und opernartigen Darstellungskonzeptionen. In der Kammeroper selbst werden meistens Sänger als Darsteller gefordert, die Ausnahme bilden einige wenige Schauspieleropern. Da die Szenische Kammermusik eher von der Kammermusik ausgeht, muss sie sich nicht von Merkmalen der Oper emanzipieren, wie die Kammeroper, sondern kann ausgewählte Merkmale annehmen und mit diesen spielerisch oder auch kritisch umgehen, so mit der Beteiligung von Darstellern bzw. mit Darstellung überhaupt, mit Bühnenpräsenz der Instrumentalisten, mit einem wie auch immer gearteten Bühnenraum, mit Bühnenbild, Kostümen, Requisiten und ähnlichem. Diese verschiedenen Kommunikationsmöglichkeiten in Szenischer Kammermusik und Kammeroper ermöglichen es, die beiden Gattungen unter diesem Aspekt zu systematisieren. Meine Einteilung basiert auf der unterschiedlichen Besetzung der Werke und damit der Verteilung der szenischen Aufgaben. Mit den angedeuteten unterschiedlichen Verhältnissen von musikalischer und szenischer Komponente Szenischer Kammermusik und Kammeroper ist bereits eine Variante der Systematisierung der verschiedenen Werke angesprochen. Ein kurzer Blick auf die betreffende Literatur zeigt weitere Möglichkeiten auf. Bisher wurden verschiedene Begriffe für die Teilgebiete der Szenischen Kammermusik verwendet. Gleich mehrere Vorschläge dafür stammen aus Heike Vieths Arbeit über Szenische Musik bei Georg Katzer.54 Die erste ihrer Versionen, die sie aus ihrer historischen Übersicht ableitet, unterteilt die Szenische Musik in sechs Gruppen: „1. instrumental-mobil-visualisierte Aktion 2. Spielaktion mit Instrument, Gegenständen und Körpereinsatz 3. verbal-vokale Inszenierung mit Sprache, Gesang und Lautartikulation 4. Raumaktion durch Kombination mit elektroakustischer Musik 5. Pantomime, Tanz, Schauspiel 6. Visualisierung von Bewegung durch Foto, Film, Video“55
Grundsätzlich besteht hier das Problem der nicht eindeutigen Abgrenzbarkeit der vorgeschlagenen Gruppen, so ist der Unterschied zwischen den ersten beiden Varianten Szenischer Musik nicht deutlich erkennbar. Raumaktion (4.) ist in Szenischer Kammermusik nicht zwangsläufig mit elektroakustischer Musik verbunden. Der Punkt 5. erweist sich als für die Belange dieser Untersuchung zu wenig differenziert, er umfasst zu viele unterschiedliche Werke. Außerdem ist er nicht genügend von Punkt 3 abgegrenzt.
54 55
Vieth, Szenische Musik im Konzert, 1991. Ebda., S. 38.
178
Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper
Eine andere von Heike Vieth verwendete Unterteilung für die verschiedenen Versionen des Aktionsradius der szenischen Musik Katzers ist diejenige in: „a) offen-kommunikative, spielerische Aktion b) offen-kommunikative, theatralische Aktion c) individuell-kommunizierende Aktion d) Sprech-, Sing- und Spielaktion e) Aktionen einer imaginären Szene f) Aktionen der inszenierten Musik Katzers“56.
Diese Unterteilung bezieht sich ausdrücklich auf Katzers Werke, jeder Rubrik wird mindestens ein Werk zugeordnet. So stellt Katzers Szene für Kammerensemble eine „offen-kommunikative, spielerische Aktion“ dar, während sein De musica der Rubrik „offen-kommunikative, theatralische Aktion“ zugeordnet wird. Eine überzeugende Unterscheidung von spielerisch und theatralisch müsste hier gefunden werden, um diesen Vorschlag für die gesamte Szenische Kammermusik anwendbar zu machen. Manfred Vetter hat in seinem Buch über Kammermusik in der DDR57 eine ausschließlich die Besetzung betreffende Kategorisierung gewählt, die die gesamte Kammermusik von Solostücken bis zu Kammeropern erfassen soll. Eine dieser Unterteilungsmöglichkeiten heißt Szenische Kammermusik, ohne dass Vetter Kriterien für seine Einteilung nennt. Er stellt nur fest, dass „eine ganze Reihe szenischer Kammermusikwerke in unterschiedlichsten Gattungen / Genres / Formen und Besetzungen“ vorliegt.58 Dort nennt er einige Beispiele, die auch seinerseits keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben: Reiner Bredemeyers Die schöne Müllerin, Paul-Heinz Dittrichs Die Verwandlung, Helge Jungs Sketch für 5 + 1 und ... von Goethe, Georg Katzers De musica und Ballade vom zerbrochenen Klavier, Kurt-Dietmar Richters Marx spielte gern Schach, Eberhard Schmidts Klaus Störtebecker und Ruth Zechlins An Aphrodite.59 Interessanter Weise ist für Vetter der Unterpunkt Kammeroper Anlass für einige Erläuterungen, die Gattung betreffend und auch die Ursachen für die Beschäftigung der Komponisten mit ihr. So definiert er Kammeroper als „... musikalische Gattung, die in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Tendenz hinsichtlich ihrer Anzahl zeigte. Sicher ist das eine Reaktion auf die ‚großen Werke‘ der Wagner- und StraussPerioden und auf den ‚Gigantismus‘ der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die kleine Opernform mit einem Orchester in Kammerbesetzung und oft nur wenigen Akteuren ohne Chor und oft auch ohne Ballett wird zunehmend zu der Strecke, der sich die Komponisten stellen“.60
56 57 58 59 60
Ebda., S. 110ff. Vetter, Kammermusik in der DDR, 1996. Ebda., S. 161. Ebda. Ebda., S. 161f.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Nach Nennung einiger Beispiele von Kammeropern Jean-Kurt Forests, Bernd Frankes, Friedrich Goldmanns, Georg Katzers, Reiner Kunads und Kurt Schwaens schreibt Vetter über die möglichen Beweggründe für die Komposition von Kammeropern: „Die Aufmerksamkeit, die die Kammeroper vor allem bei jeweils jüngeren Komponisten fand, mag auch dadurch mitbedingt sein, daß in ihr nicht in jedem Falle Opernsänger eingesetzt sind, sondern vielmehr Schauspieler, die musikalische Partien bewältigen müssen. Dadurch kommt ein anderes Stimmideal zur Geltung, was sich vom ‚bel canto‘ der großen Oper grundlegend unterscheidet und in unserer Zeit den Hörer evtl. schneller erreicht, als die vom Opernsänger in klassischer Manier vorgetragene Opernmusik (-Arie). Dadurch dürfte sich das Publikum von Kammeropern von dem der großen Opern unterscheiden.“61
Allerdings sind von den von Vetter genannten Opern nur in Kunads Werk Schauspieler besetzt, während alle anderen genannten mit Sängern arbeiten, die natürlich trotzdem bei weitem keine „in klassischer Manier vorgetragene Opernmusik(-Arie)“ interpretieren. Nach Auswertung der verschiedenen von anderen Autoren verwendeten Einteilungsmöglichkeiten Szenischer Musik beziehungsweise Szenischer Kammermusik, die die jeweils oben beschriebenen Probleme erkennen lassen, entschloss ich mich, eine andere, auf meinen Untersuchungsansatz hin zu geschnittene Unterteilung vorzunehmen. Diese eigene Einteilung versucht, besetzungstechnische und kommunikationstechnische Aspekte zusammenzubringen und ist auch durch eine unterschiedliche Art der Verwendung der Stimme (sprechen, singen, keine Stimme, ausgebildete Stimme: Schauspieler oder Sänger, autodidaktische Stimme: Interpreten oder Dirigenten) gekennzeichnet: a) Bewegung im Raum b) text- und/oder bewegungsbedingte Szene, ausgeführt von Instrumentalisten selbst c) text- und/oder bewegungsbedingte Szene, ausgeführt von Sängern, Schauspielern, Tänzern, Pantomimen d) handlungsorientierte Szenische Kammermusik e) avancierte Kammeroper Auch hier existieren allerdings Grauzonen, in denen einzelne Werke möglicherweise zwei Untergruppen zugeordnet werden könnten. So sind d) handlungsorientierte Szenische Kammermusik und e) avancierte Kammeroper schwer zu trennen, stattdessen gibt es einen fließenden Übergang. Im Sinne der Gattungsfelder Szenische Kammermusik und Kammeroper, die eben genau durch diese Übergangszone bezüglich dramaturgischer Merkmale verbunden sind, ist aber eine deutliche Trennung auch nicht erwünscht und notwendig. 61
Ebda., S. 162.
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Formen Szenischer Kammermusik und Kammeroper
Gleichzeitig stellt die Untersuchung der Stellung des szenischen Aspekts im Kompositionsprozess einen möglichen Unterscheidungsansatz dar. Ein besonderes Merkmal Szenischer Kammermusik ist die Tatsache, dass die Szene hier meist nicht in Form eines Librettos präexistent ist, sondern vom Komponisten im Kompositionsprozess mitgedacht und mitgestaltet wird. Meist legen die betreffenden Komponisten die szenischen Geschehnisse während des Kompositionsprozesses genau fest (1) oder sie haben eine künftige szenische Gestaltung, die sie aber einem Regisseur überlassen wollen, mehr oder weniger deutlich vor Augen (2). Im dritten möglichen Fall wurde die szenische Komponente erst später von anderen Personen hinzuerfunden unter Zustimmung oder Mitarbeit des Komponisten, der das Stück zuvor aber als absolute Musik komponierte (3). Der vierte Fall bildet den Übergang zur Kammeroper bzw. gilt für die Kammeroper selbst: Hier ist das Libretto schon vorhanden oder wurde vom Komponisten vor Beginn der Komposition gestaltet (4). Diese unterschiedliche Einbeziehung der Gestaltung szenischer Elemente in den Kompositionsprozess kann also im Sinne der Unterscheidung der vorgeschlagenen Unterteilungspunkte d) und e) verwendet werden, indem dem Komponisten der avancierten Kammeroper ein Libretto vor der Komposition vorliegt, im Falle einer handlungsorientierten Szenischen Kammermusik dieses parallel zum Kompositionsprozess mit entsteht. Die vorgeschlagene Einteilung Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper in fünf Gruppen richtet sich also sowohl nach ihrer Besetzung als auch nach den oben beschriebenen Kommunikationsaspekten und basiert weiterhin auf der unterschiedlichen Art der Verwendung der Stimme. Im folgenden Kapitel werden allgemeinere Erläuterungen zu den einzelnen Formen Szenischer Kammermusik mit der ausführlicheren Untersuchung ausgewählter Stücke kombiniert.
5.3
Analysen einzelner Beispielwerke der Szenischen Kammermusik und Kammeroper
Die ersten Werke Szenischer Kammermusik erschienen Anfang der 1970er Jahre in den Konzertsälen. Das vermutlich erste entsprechende Stück war Friedrich Schenkers Kammerspiel I, das 1971/72 entstand und für Sopran, Tenor, Dirigenten (Sprecher) und Kammerensemble auf Texte aus Christian Morgensterns Galgenliedern komponiert ist.1 Auch Johannes Wallmanns Zustände-Verwandlungen. Ampelspiel für Publikum ist eines der ersten Stücke dieser Art, seine Arbeit mit Publikumsaktionen ist ein erstaunlicher Einzelfall. Wallmann war damals noch ein sehr junger Komponist, während alle anderen Protagonisten der ersten Szenischen Kammermusiken zur mittleren Generation der Komponisten in der DDR gehörten. Mitte der 1970er Jahre trat dann Georg Katzer mit 1
Vgl. Neef, Der Beitrag der Komponisten Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Paul-Heinz Dittrich und Thomas Heyn zur ästhetischen Diskussion der Gattung Oper in der DDR seit 1977, 1989, S. 31. Leider konnte Friedrich Schenker mir die Partitur nicht zur Verfügung stellen.
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Szene für Kammerensemble und De musica hervor. Die Gründe für den Beginn der Auseinandersetzung der Komponisten mit Szenischer Kammermusik gerade Anfang der 1970er Jahre wurden im Kapitel zur kulturpolitischen Situation in der DDR sowie in den Ausführungen zu den Intentionen der Komponisten mit Szenischer Kammermusik ausführlich diskutiert. Die Vorbilder kamen unter anderem aus Westeuropa von Komponisten wie Mauricio Kagel und Dieter Schnebel. So sind teilweise deutliche Parallelen zwischen einzelnen Stücken festzustellen, die in den Einzelanalysen thematisiert werden. Auch Friedrich Goldmanns Kammeroper R. Hot fällt in diese Anfangszeit, noch vorher versuchte er sich aber an einem Text Heiner Müllers und hinterließ ein Kammeropernfragment Herakles, das er auch später nicht vollendete und das nie aufgeführt wurde. Für die Kammeroper gab es in der DDR im Gegensatz zur Szenischen Kammermusik sehr wohl Vorbilder, seit Bestehen der DDR wurden solche Werke besonders im Hinblick auf kleine Ensembles und Bühnen komponiert. Solche konventionellen Kammeropern entstanden auch in den siebziger und achtziger Jahren weiterhin, verschiedene Komponisten beabsichtigten aber auch auf diesem Gebiet, neue dramaturgische und kompositorische Ansätze umzusetzen. Häufig stellt sich die Situation so dar, dass die Komponisten der ersten Szenischen Kammermusiken vorher keine konventionellen Kammeropern geschrieben haben, sondern ihre szenischen Formen von der Kammermusik her entwickelten. Andererseits blieben auch viele Kammeropernkomponisten bei konventionelleren Formen, wie z. B. Peter Freiheit, Kurt Schwaen und andere. Sie experimentierten weder mit avancierteren Kammeropern, noch komponierten sie Szenische Kammermusiken. Die Erläuterungen zu den einzelnen ausgewählten Werken Szenischer Kammermusik und avancierter Kammeroper sind in die im vorigen Kapitel erarbeiteten Werkgruppen eingeteilt. Dabei sind die Zuordnungsmöglichkeiten häufig nicht eindeutig. Dies wird aber nicht bei jedem Stück auch diskutiert. Hier sind weniger ausführliche Analysen einzelner Stücke angestrebt als ein Überblick über das Gesamtangebot anhand einiger wichtiger und besonders kontrastierender Werke. Dabei wechseln sich überblicksartige Vorstellung verschiedener Werke und ausführlichere Darstellung einzelner Kompositionen ab.
5.4.1
Szenische Kammermusik durch Bewegung im Raum
Die erste, durch Bewegung im Raum gekennzeichnete Gruppe besteht aus Werken, mit rein instrumentaler Besetzung und ohne textliche Komponenten, deren szenische Elemente die Aktionen der Instrumentalisten im Raum, deren Gestik und Mimik sind. Diese Variante wird von Komponisten genutzt, die der ungestaltet entstehenden theatralischen Komponente von Kammermusik ein selbst gestaltetes theatralisches Ereignis entgegenstellen wollen. Die Grenzziehung zwischen reiner Raum-Musik und einem theatralen Ereignis erweist sich hier als ausschlaggebend. Das entscheidende Kriterium für diese Grenzziehung ist meines Erachtens die Frage, ob durch die Bewegung im
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Analysen von Beispielwerken
Raum eine neue Aussage entsteht, also das Kriterium der Interaktion der beteiligten Elemente erfüllt ist. Hier wird also jene Raummusik im Kontext der Szenischen Kammermusik gefasst, die durch die Interaktion der Elemente über die bloße Ausnutzung des Raumklangs hinausgeht. Beispiele für diese Art von Szenischer Kammermusik finden sich im Schaffen von Lutz Glandien. Der Komponist kommt aus der Tradition des Liedertheaters. Sein Beitrag zur Szenischen Kammermusik besteht ca. 20 Stücken speziell für Tuba, die für bestimmte Tubisten auf deren Anfrage und Anregung hin komponiert wurden, so z. B. Tubawaduo für zwei Tubisten zu einem Abend von Hans Eckardt Wenzel und Steffen Mensching.2 Tuba intim (für zwei geschlauchte Tubas) entstand 1987 und wurde 1988 im Berliner Theater unter dem Dach3 als Teil des Abends Tubawaduo uraufgeführt. Dieser Abend war nach Glandiens Beschreibung eine Mischung aus E-Musik und Theater, in der von Mensching und Wenzel bekannten Verbindung von Slapstick, Sprachkomik und Akrobatik. Glandien charakterisiert die Vorgänge auf der Bühne als Ausprobieren dessen, was zwei Tubisten auf der Bühne machen können, wenn sie zu musikalischen Schauspielern mutieren. Das Stück Tuba intim war ein Resultat der Arbeit an diesem Abend. Der Untertitel des Stückes bezieht sich im wörtlichen Sinne auf die Tatsache, dass die beiden Tuben mittels zweier Gartenschläuche über das fünfte Ventil verbunden sind und die Spieler dadurch auch die Tuba des Partners mitbespielen können. Im Stück akkumuliert die gegenseitige „Bespielung“ im theatralischen und von Glandien mittels Regieanweisungen arrangierten Abziehen der Schläuche und deren Schwingen wie ein Lasso, womit auch das Ende des Stückes gesetzt ist. (Vgl. Notenbeispiel 3) Außer diesem durch theatralische Aktionen gekennzeichneten Schluss, der durch Glandien szenisch gestaltet ist, besteht die Aktion vorher ausschließlich aus dem musikalischen Dialog der Tuben, der durch die Bespielung beider Instrumente durch beide Spieler sehr viele Elemente von Komik aber auch von Wettstreit bzw. Streit allein im musikalischen Teil der Darbietung hat. Dazu kommt die von Mensching/Wenzel entwickelte und dargebotene Szene, die nach der fertigen Musik gestaltet wurde, und sich während der Inszenierung noch veränderte. Die Szene stand unter den Motti Konversation und Ehekrieg, Glandien meinte, sie sei nicht beschreibbar, man müsse sie sehen.4 In seinem Solostück für Tuba Betrachtung, entstanden 1986 für eine Lesung im Deutschen Theater Berlin und versehen mit der vieldeutigen Widmung „Dem GANZEN DEUTSCHEN THEATER“,5 verwendet Glandien einen durch den Tubisten vorzutragenden Text, der der Berliner Zeitung vom 15./16.2.1986 entnommen ist und dessen Thema soziale Sicherheit ist.
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Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999. Ebda. Ebda. Lutz Glandien, Betrachtung für Tuba solo, Manuskript, S. 4.
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Notenbeispiel 3: Lutz Glandien, Tuba intim (für zwei geschlauchte Tubas), Manuskript, 1987, S. 8, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 4: Lutz Glandien, Betrachtung für Tuba solo, Manuskript, S. 2, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Glandien verwendet einzelne Lautpartikel, ganze Wörter oder Sätze, die er dem Rhythmus des Spiels unterordnet, oder einzelne Wörter als Notenköpfe eines streng notierten Rhythmus, während die Tonhöhe nur ungefähr angedeutet wird. (Vgl. Notenbeispiel 4) Glandien erklärte im Interview, die Noten würden von dem, was auf der Bühne passiere wenig aussagen, alles sei genau inszeniert gewesen. Der Tubist las durch die Tuba aus der Zeitung, wodurch bestimmte Effekte, Gesten und Blicke entstanden.6 In der Partitur notierte Glandien als Regieanweisung: „Die Textpassagen sind vom Interpreten durch Artikulation so zu verfremden, daß sie für den Zuhörer unverständlich bleiben.“7 Beide Stücke bewegen sich eher am Rande Szenischer Kammermusik. Das erste ist durch seine Verankerung in einem szenisch-musikalischen Abend schwer einzeln zu beurteilen, das andere enthält nur sehr sparsame szenische Komponenten. Tuba intim erhält schon durch seine Positionierung in diesem Abend eine szenische Rahmung und wird endgültig postdramatisch in der Ausstellung der Körperlichkeit beider Tubisten durch das Schwingen der Schläuche als Lassos am Schluss des Stückes. Auch die Bespielung der jeweils anderen Tuba betont die szenische Anwesenheit der Tubisten. In der Betrachtung wiederum entsteht Szenisches ausschließlich durch den durch die Tuba zu rezitierenden Text und die entstehende Gestik. Bernd Frankes Stück Konform – Kontraform. Szene für 8 Instrumente ebenfalls repräsentiert den Typus Szenischer Kammermusik, der durch die Ausnutzung des Raumes gekennzeichnet ist, wobei durch das Bewegen der Oboe hinter das Publikum der Aspekt der Körperlichkeit eine Rolle spielt. Nicht allein die Körperlichkeit des Oboisten wird hier erfahrbar, sondern auch die Körperlichkeit des Publikums selbst, seine Situiertheit plötzlich inmitten des musikalischen Geschehens, auch ein gewisser Kontrollverlust, da sich das musikalische Geschehen zum Teil im Rücken des Publikums abspielt. Franke komponierte das Stück 1988. Die Besetzung Oboe, Englisch Horn, Posaune, Klavier, Schlagzeug, Viola, Violoncello und Kontrabass ist die vollständige Besetzung der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, in deren Auftrag das Stück entstand und die es zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik 1990 auch uraufgeführt hat. Franke erläuterte im Interview, dass er in Konform – Kontraform das Thema der Ausreise komponiert habe, auf seine eigene Ausreise hatte er seit seiner Erfahrung bei der NVA Anfang der achtziger Jahre hingearbeitet. Allerdings konnte er diesen Ausreisewillen ab Mitte der achtziger Jahre zunehmend durch Reisen zu Wettbewerben kompensieren.8 Dieses Stück hat für Franke die stärksten szenischen Aspekte in seinem Schaffen. Burkhard Glaetzner, Oboist der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ wünschte sich eine Art Oboenkonzert. Diesem Wunsch entsprach Franke auf eine ganz eigene Weise.
6 7 8
Gespräch der Autorin mit Lutz Glandien in Berlin am 2.11.1999. Glandien, Betrachtung für Tuba solo, S. 4. Gespräch der Autorin mit Bernd Franke in Leipzig am 21.10.1999.
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Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 5: Bernd Franke, Konform – kontraform, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1988, S. 16, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Notenbeispiel 6: Bernd Franke, Konform – kontraform, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1988, S. 17, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Analysen von Beispielwerken
Das Stück besteht aus verschiedenen Abschnitten, in denen verschiedene Besetzungen der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ zum Einsatz kommen. Die Oboe wird diesen Gruppen entgegengestellt. Die Gruppen benutzen unterschiedliches Material unter Einbeziehung von Trivialmusik und militanter Musik. Eine Gruppe spielt einen Marsch, die zweite Gruppe, die von Franke so genannten Ja-Sager, spielen unisono. Die Oboe dagegen beschreibt Franke als zwischen den Stühlen befindlich, sie passt sich den Materialien an, versucht mit einzusteigen, was ihr aber nicht gelingt. Am Schluss werden beide Materialien also beide Gruppen als Collage überlagert. Die Oboe steht im Tonbereich nicht mehr dazwischen, sondern wandert darüber hinaus (bis d'''') und bewegt sich hinter das Publikum, um mit dem Publikum die beiden Gruppen anzuklagen.9 (Vgl. Notenbeispiele 5 und 6) Bei der Uraufführung in Witten ist laut Franke diese Aussage bei den westdeutschen Kollegen ästhetisch nicht angekommen, sie konnten sowohl mit der musikalischen als auch mit der szenischen Idee nichts anfangen. Franke vermutet als Gründe dafür, dass man sich intellektuell jeweils auf einer anderen Ebene bewegt habe und dass sein Stück durch eine typisch ostdeutsche Herangehensweise gekennzeichnet sei.10 Hier spielt der Aspekt der gesellschaftlichen Relevanz, der wichtig für die Intentionen vieler Komponisten aus der DDR war, eine Rolle. Der Aspekt der komponierten Ausreise, das „Weg-von-alledem“, die szenische und musikalische Entfernung, die Franke hier gestaltet, könnte ohne die Auskunft des Komponisten nicht ohne weiteres an dem Stück analysiert werden, da er im Notentext nicht vermerkt ist. Dort findet sich nur die reine Anweisung für die Oboe, wie sie sich im Raum bewegen soll. Die musikalische Analyse zeigt allerdings, dass das Oboenspiel frei gestaltet ist, ein anderes Tempo hat und nicht so streng wie der Marsch, sondern auch aleatorisch gehandhabt wird. Aus diesen Aspekten kann natürlich allgemein auf eine Konfrontation der Gruppen mit dem Soloinstrument geschlossen und durch den Schluss auch eine Entfernung und Entfremdung festgestellt werden. Trotzdem bleibt der konkrete Ausreisebezug nur durch die Biographie des Komponisten erschließbar. Die postdramatische Dimension des Stückes wird hauptsächlich durch die Einbeziehung des Publikums durch die Positionierung der Instrumentalisten im Raum hergestellt, die gleichzeitig durch die Wanderung der Oboe hinter das Publikum auch eine Rahmung erzielt. Die Körperlichkeit von Musikmachen und auch –hören wird hier wieder deutlich. Die Inszenierung der Endsituation durch den Komponisten zeigt die Theatralität der Aufführung auch im Sinne von Fischer-Lichtes Modell. Bernd Frankes Stück Solo 3fach für Violine, Horn und Klavier wurde „im Gedenken an Joseph Beuys“ 1988 komponiert und im gleichen Jahr in Frankfurt am Main uraufgeführt. Im Interview bezeichnete Franke das Stück als Anfangspunkt für den Versuch
9 10
Ebda. Ebda.
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szenische Komponenten einzubeziehen, um die Kommunikation zu hinterfragen.11 Die Szene des Stückes entsteht durch Bewegungen der Instrumentalisten – Violine und Horn – im Raum, häufig im Bezug zum Klavier. Weiterhin gibt Franke in der Partitur genaue Anweisungen für eine Lichtregie. Der Komponist spricht in den Vorbemerkungen zu Partitur mehrfach von den szenischen Aspekten des Stücks und betont ihre Bedeutung für das Stück: „Die szenischen Angaben für Violine und Horn im Notentext sind verbindlich, aber immer den räumlichen und akustischen Gegebenheiten anzupassen. Die Spieler sind zu Beginn des Stückes räumlich in Distanz verteilt, Klavier auf dem Podium, Horn und Violine im Saal (aber nicht hinter dem Publikum).“12 Dagegen sieht er die Beleuchtungswechsel als fakultativ an, macht aber, falls sie einbezogen werden, sehr genaue Angaben zur Art des Lichtes. Mit Hilfe des Lichtes soll hier die Vereinsamung szenisch dargestellt werden.13 (Vgl. Notenbeispiel 7) Gleichzeitig wollte Franke mit diesem Trio das traditionelle Ensemblespiel hinterfragen, indem er die Instrumentalisten als Individuen sah, die Kommunikation zwischen ihnen zum Hauptthema machte und kein „normales“ Horntrio auf den Auftrag des Kölner Horntrios hin komponierte. Franke war bei der Komposition auch von Ligetis Horntrio beeinflusst, das er in Warschau gehört hatte und von dem er sich dann Noten und Schallplatte besorgte. Außerdem begegnete er bei einer Schweizreise 1987 dem Schaffen von Beuys, das für ihn ein Schlüsselerlebnis war und von dem besonders der Aspekt des Hinterfragens der Gesellschaft für Franke und für das Stück bedeutend wurde.14 Auch hier sind Körperlichkeit, Bewegung im Raum, dadurch Herstellung von kommunikativer Interaktion wichtige Aspekte postdramatischer Herangehensweise durch den Komponisten. Die zusätzliche Lichtregie, bereits vom Komponisten vorgegeben, akzentuiert den Inszenierungsaspekt weiter. ABMIRAM. Musik zu André Tomkins für 4 Spieler von Kurt Dietmar Richter gehört ebenfalls zu denjenigen Stücken, die versuchen, den Raum für die Hörer erfahrbar zu machen. Auch hier spielt der Aspekt der Körperlichkeit eine herausragende Rolle, der ja bei Schlagwerkdarbietungen ohnehin eine besondere Stellung einnimmt, da bereits ohne Bewegung der Instrumentalisten im Raum der körperliche Einsatz der Spieler besonders deutlich ist.
11 12 13 14
Ebda. Bernd Franke, Solo 3fach, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996, S. 3. Gespräch der Autorin mit Bernd Franke in Leipzig am 21.10.1999. Ebda.
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Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 7: Bernd Franke, Solo 3fach, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996, S. 12, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Notenbeispiel 8: Kurt Dietmar Richter, ABMIRAM, Manuskript, 1989, S. 30, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Das 1989 in der West-Berliner Akademie der Künste uraufgeführte Stück komponierte Richter für vier Musiker mit jeweils separatem auf fahrbare Marimbas montiertem Instrumentarium, das auch einige Fellklinger als Ergänzung enthält. Die Aktionen sind auf drei Spielfelder und drei Promenaden verteilt, zu Anfang befinden sich die Musiker in den vier Ecken des Saales. Während der Promenaden rücken sie auf den nächsten Punkt vor. Richter verwendete für das Stück eine Tonreihe, deren Anfangstöne AB, der Anfang der Wortes ABMIRAM, die Umkehrung des Wortes MARIMBA sind. Die um einen Halbton transponierte Umkehrung der Reihe ergibt die Anfangstöne BACH, die
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Analysen von Beispielwerken
deutlich als Brücke Richters zur Tradition zu sehen sind. Gleichzeitig wurde er von Ideen von André Thomkins inspiriert, sowohl die Besetzung als auch die Wortspiele betreffend.15 Im Interview erläuterte Richter, dass das Stück als Auftragswerk der Akademie der Künste Westberlin noch vor Wende entstand, als Szenische Kammermusik. Er hatte den Auftrag, die Musik zur Eröffnung einer Ausstellung von André Tomkins zu schreiben. Die einzigen szenischen Vorgaben, die Richter macht, betreffen das Hereinfahren der Instrumente16 und den Wechsel der Aufstellungen für die einzelnen Promenaden17. Auch Richter sieht als szenischen Hauptaspekt die Bewegung.18 Dazu kommt die pausenlose Interpretation des Textes „Abmiram“, dessen Höhepunkt dann die Herauskristallisation des Wortes „Mir“ – die russische Bezeichnung für Frieden und Welt – im Finale ist.19 (Vgl. Notenbeispiel 8)
Ein performativer Grundzug eignet besonders Aufführungen von Stücken für Schlagwerk häufig von vorneherein durch ihre besonders deutliche Komponente des Musikmachens, die ebenso die Körperlichkeit der Erzeugung von Klängen hervorkehrt. Eine Rahmung erfährt des Stück durch die von Richter gewählte Auftrittsart: Alle Spieler kommen durch die verschiedenen Türen des Saales herein, wodurch gleichzeitig auch die Rahmung wieder gewährleistet ist. Körperlichkeit als postdramatischer Aspekt ist hier ebenso vorhanden wie die Betonung des Ereignisses durch die Auftritte von draußen bei Beginn der Musik. Erwähnt werden soll außerdem Helge Jungs calculated wounds,20 das 1990 in Dresden in einem Kompositionswettbewerb uraufgeführt wurde. Für den Wettbewerb war die Besetzung Bassetthorn und Klavier vorgegeben, nicht aber die szenische Umsetzung. Einen Preis gewann Jung nicht. Der Bassetthornist wechselt zwischen verschiedenen Spielpositionen und unterschiedlichen musikalischen Darbietungsformen, die Sätzen entsprechen und mit Improvisationsstrecken als Überleitungen zu den Positionen verbunden sind. Jung bezeichnete das Stück als experimentell, in beiden Instrumenten werden verschiedene Spieltechniken angewandt. Am Schluss findet die im engeren Sinne einzige szenische Aktion statt: Der Pianist wirft eine schwere Eisenkette auf die tiefsten Seiten des Flügels, das Stück endet in atemloser Stille im Nachhören des Klanges. „Berechnete Verletzungen“ – so die Übersetzung des Titels – konzipierte Jung als Reflexion dessen, wie ihm von Teilen der DDR-Gesellschaft mitgespielt wurde, bezüglich seiner Existenz als Komponist in der DDR. Sein künstlerischer Werdegang sei in der DDR genau verfolgt worden und eine Taktik des „programmierten Misserfolgs“ sei 15 16
17 18 19 20
Vgl. Kurt Dietmar Richter, ABMIRAM, Gedankliche Konzeption, maschr., S. 2. Kurt Dietmar Richter, ABMIRAM. Musik zu André Thomkins für 4 Spieler, Manuskript, 1989, S. 2ff. Ebda., S. 16 und 24. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999. Richter, ABMIRAM, 1989, S. 30f. Biografische Aspekte spielen in einigen der szenischen Kompositionen eine Rolle, so auch in Frankes Konform – Kontraform, aber auch in anderen Stücken, die u. a. das Verhältnis des Komponisten zur Avantgarde thematisieren.
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auf ihn angewandt worden, die er als Duldung beschreibt und die auch beinhaltete, dass er Aufträge bekam. Die Aufführung für ihn wesentlicher Stücke sei aber dann verhindert worden, als „eklatantes Beispiel“ nannte er Trois Poésies Françaises, das in Italien preisgekrönt wurde. Es habe drei Aufführungsversuche des Stückes in der DDR bei Biennalen und Musiktagen gegeben. Das Programmheft sei fertig gewesen, die Proben hätten stattgefunden, aber dann habe sich am Aufführungstag die Sängerin (auftragsgemäß) krankgemeldet. Zuletzt sei eine Aufführung im Schauspielhaus auf diese Art und Weise verhindert worden, aufgrund der Programmankündigung seien viele Franzosen da gewesen, die dann enttäuscht worden seien. Diese Vorgehensweise – denn Jung ist sich sicher, dass es sich nicht um Zufälle handelte – habe immer repräsentative Aufführungen betroffen. Seine sonstigen Aufführungen an der Peripherie seien davon nicht tangiert gewesen und in Berlin habe er nur kleine Sachen unterbringen können. Auf diese Zusammenhänge beziehe sich der Titel des Stückes calculated wounds.21 Die berechneten Verletzungen stellte Jung musikalisch strukturell so dar, dass beide Protagonisten ständig gegeneinander arbeiten, dass kaum sich ergänzende Darstellungsweisen enthalten sind, sondern immer Konfrontation vorherrscht. Nur der Schluss sei etwas versöhnlicher gestaltet.22 Auch hier wird der postdramatische Aspekt der Körperlichkeit durch die Positionswechsel des Instrumentalisten besonders betont. Die Schlussaktion durch die Kette verdeutlicht das Ende aller musikalischen Versuche, ein ähnlicher Beginn als Rahmen fehlt hier, und bringt noch eine weitere Aktionsebene ein. Die Mitkomposition der Bewegung im Raum zeigt ebenfalls die Inszenierungsabsicht des Komponisten.
5.4.2
Von den Instrumentalisten selbst ausgeführte text- und/oder bewegungsbedingte Szene
In der zweiten Gruppe mit Werken in denen die Szene text- und/oder bewegungsbedingt ist und von Instrumentalisten selbst ausgeführt wird, finden sich Werke mit weiterhin rein instrumentaler Besetzung, die sowohl Aktionen als auch Texte, vorgetragen von den Musikern, enthalten, so zum Beispiel Georg Katzers Szene für Kammerensemble, sein Trio avec Rimbaud und Friedrich Schenkers Missa nigra. Einzelne Werke arbeiten auch ausschließlich mit dem Textvortrag durch die Instrumentalisten, ohne weitere szenische Elemente, ohne Bewegung im Raum, Mimik oder Gestik der Instrumentalisten. Diese tragen neben ihrem Spiel „nur“ den Text vor. Würden hier Sänger oder Schauspieler für den Textvortrag eingesetzt, handelte es sich nicht um Szenische Kammermusik, sondern um vokal-instrumentale Kammermusik konventioneller Art. Da hier aber die Instrumentalisten selbst den Textvortrag absolvieren, entsteht ein szenisches Element. Für 21
22
Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999, sowie nochmalige Verständigung im April 2012. Ebda.
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Analysen von Beispielwerken
diese Gruppe von Werken tritt in der Aufführung häufig das Problem auf, dass die Ausführenden die Musiker sind, die Musik also professionell dargeboten wird, aber die Darbietungen der Texte und auch die Aktionen möglicherweise in der Qualität merklich abfallen, da die Musiker in diesem Bereich ja eher Laien sind. Diese Konstellation entpuppt sich häufig gerade dann als Nachteil, wenn durch die Texte und Aktionen eine bestimmte brisante Aussage transportiert werden soll. Die Komponisten verhalten sich zu dieser Tatsache sehr unterschiedlich: Entweder wenden sie sich ganz von Szenischer Kammermusik ab, sie nehmen diese Abstriche in Kauf und planen sie ein, oder sie wählen eine Besetzung, wie in den noch folgenden Gruppen beschrieben. Johannes Wallmanns Zustände – Verwandlung. Ampel-Spiel für Publikum23 aus dem Jahr 1977 gehört zu den ersten interaktiven Stücken in der DDR überhaupt. Wallmann sieht es als „Anregung zum Spiel des akustischen Gestaltens“ und fordert in den Erläuterungen zur Partitur: „alle Zuhörenden sollten möglichst auch Mitwirkende sein“.24
Notenbeispiel 9: Johannes Wallmann, Zustände – Verwandlung. Ampel-Spiel, Manuskript, 1977, [S. 8], Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. 23
24
Vgl. auch: Katrin Stöck, Szenische Kammermusik in der DDR – Überblick über Strukturen und Intentionen, in: Musiktheatrale Konzepte im neuen Jahrtausend, Kongressbericht Dresden 2003, hrsg. v. M. Demuth (Druck in Vorbereitung). Johannes Wallmann, Zustände – Verwandlung. Ampel-Spiel für Publikum, Manuskript, 1977, [S. 2].
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Diese Mitwirkenden werden für das Stück in vier Gruppen eingeteilt, die rote Gruppe sind die Instrumentalisten, die blaue die Klangidiophonspieler, die gelbe die Schlaginstrumentalisten und Geräuscherzeuger und die grüne die Vokalisten. Mit Hilfe einer Ampel werden die Einsätze der Gruppen koordiniert, Wallmann schreibt in der Partitur: „Jede Gruppe wird nur dann aktiv, wenn die Ampel ihrer Farbe leuchtet. Leuchten mehrere Ampeln gleichzeitig, so sollte eine dynamische Pulsation zwischen den Gruppen entstehen.“25 Die Mitwirkenden sollen die von einem Projektor projizierten optischen Strukturen akustisch umsetzen. Dabei soll die Folge der Strukturen durch Würfelwurf entschieden werden, außerdem sollen sich die Projektionen und Gruppen überlappen sowie die Person, welche die Ampel steuert, wechseln. Wallmanns Partitur besteht aus der verbalen Anleitung und den Abbildungen der optischen Strukturen. Dort notiert er: „Wichtig für das Spiel ist, stets den Gruppencharakter, das Entstehen eines ‚statistischen‘ Feldes anzustreben. Solistische Leistungen sind daher weniger notwendig, als das sensible Zusammenspiel innerhalb der Gruppen und zwischen ihnen.“26 Die letzte der in der Vorlage enthaltenen Strukturen besteht als einzige aus Wortfetzen: „Habt je doch de nicht Ant-wort nicht ze-mentieren nicht nicht“27 (Vgl. Notenbeispiel 9), die unter anderem in Bezug auf die kulturpolitische Situation in den 1970er Jahren interpretiert werden können. Der postdramatische Aspekt der nichthierarchischen Behandlung der einzelnen Künste ist in diesem Stück besonders konsequent umgesetzt, da die Musik hier erst nach der bildlichen Struktur entsteht und außerdem durch Laien improvisiert wird, es sich also nicht um „abgehobene“ Kunstmusik handelt. Die Improvisation durch das Publikum bringt gleichzeitig Szenisierung und Körperlichkeit mit ins Spiel, ebenso wie das Moment des Ereignisses, das Musikmachen durch das Publikum selbst hat hier eindeutig Happening-Charakter und das Sich-selbst-Einbringen spielt im Erleben dieses Stückes vermutlich eine größere Rolle als die entstehende Musik. Georg Katzers 1975 entstandenes und 1977 in Halle (Saale) uraufgeführtes Stück De musica trägt den Untertitel Szene für 12 Vokalsolisten unter Verwendung eines Flügels und einiger Geräuschinstrumente nach Texten aus dem ‚Li-Ki‘, nach Platon, Schiller, Goethe, Shakespeare und Grabowski-Leipzig.28 Katzer wählte Texte aus, die Auffassungen von der Musik zu verschiedenen Zeiten thematisieren. Seine Art der Verwendung der Texte ironisiert diese und kritisiert sie durch die Art ihrer Darbietung. Dabei wird die Zuordnung der einzelnen Texte und damit der musikästhetischen Ansichten zu den einzelnen Autoren dem Zuschauer überlassen, da auch in der Partitur die Herkunft der einzelnen Textteile 25 26 27 28
Ebda. Ebda. Ebda., [S. 8]. Georg Katzer, De musica. Szene für 12 Vokalsolisten unter Verwendung eines Flügels und einiger Geräuschinstrumente nach Texten aus dem „Li-Ki“, nach Platon, Schiller, Goethe, Shakespeare und Grabowski-Leipzig, Leipzig: Edition Peters, 1975; vgl. dazu auch: Stöck, Szenische Kammermusik in der DDR, 2003.
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(außer Grabowski) nicht eindeutig erkennbar ist. Die Zitate sind auch nicht chronologisch verwendet. Katzer kombiniert sie stattdessen zu einer Textcollage, wobei Zitate verschiedener Autoren miteinander verschränkt und kombiniert werden und so die meist komische Wirkung noch erhöht wird. Mit dieser Art der Textauswahl ist das Stück ein weiteres Beispiel für die Auseinandersetzung mit Musik bezogener Thematik in der Szenischen Kammermusik. Die Debatte über den Sinn und die Bedeutung von Musik, auch geprägt von der permanenten musikästhetischen Debatte in der DDR, regte viele Komponisten zu entsprechenden Werken an, für Katzer ist hier noch die Szene für Kammerensemble zu nennen, ein weiteres Beispiel stammt von Helge Jung.29 Im vorliegenden Stück leitete ein Dirigent zwölf Vokalsolisten. Der Dirigent agiert auch selbst und wendet sich mit Reden an das Publikum. Die Vokalisten singen, sprechen, bewegen sich auf der Bühne und bedienen Geräuschinstrumente sowie Radios. Sie tragen Kostüme bzw. Konzertkleidung als Kostüm und verkörpern teilweise vom Komponisten festgelegte Rollen, wie z. B. die der drei Damen. Katzer schreibt hier vor: „Die Kleidung aller Sänger äußerst würdevoll mit leicht komischer Übertreibung. Die drei Damen evtl. kostümiert.“30 Ein Bühnenbild schreibt Katzer hier nicht vor, aber eine Anzahl an Requisiten. Der Vokalpart ist mit allen stimmlichen Möglichkeiten gestaltet: Katzer lässt sprechen, singen mit und ohne fixierte Tonhöhen, rufen, schreien, einzelne Vokalisen oder Konsonanten verwenden, solistisch oder chorisch, einstimmig oder mehrstimmig singen, den Text deutlich deklamieren oder er zerlegt ihn in einzelne Wörter oder Silben. (Vgl. Notenbeispiel 10) In dieser Textbehandlung und in der Konzeption ausschließlich für Sänger steht Katzer den Kompositionen Dieter Schnebels für ähnliche Besetzungen nahe. Dabei versteht es Katzer, sowohl mit Text- als auch mit Musikzitaten eine intertextuelle Diskussion zu entfachen, die einen äußerst komplexen Diskurs zum Thema, was Musik kann und sollte, gestaltet. Katzer verwendet hierbei auf der musikalischen Ebene sowohl wirkliche Zitate als auch Als-Ob-Zitate und stellt neben dem Bezug zu den Texten und Ansichten der Dichter und Textautoren auch Bezüge zu verschiedenen Komponisten her. Neben genauestens notierten Passagen, die den größten Teil des Stückes ausmachen, finden sich auch freiere Abschnitte, so eine Improvisation31, die lediglich auf Vorschlägen Katzers sowie auf Zeitangaben basiert. Obwohl die Besetzung eine rein vokale ist, bedienen die Sänger nebenbei noch verschiedene Instrumente, dies sind beispielsweise Schlaginstrumente32, Blasharmonika sowie mehrere Kassetten-Rekorder. Katzer gestaltet die szenischen Aktionen mithilfe von Regieanweisungen für die Sänger, die deren Bewegungen im Raum, ihre Reaktionen auf andere Sänger oder den Dirigenten oder die Adresse an das Publikum betreffen. Der inhaltliche Ablauf des Stückes 29 30 31 32
Siehe unten. Katzer, De musica, S. 2. Ebda., S. 10. Ebda., S. 5.
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lässt sich dahingehend beschreiben, dass zuerst anhand der Texte der verschiedenen Theoretiker über den unterschiedlichen Umgang mit Musik diskutiert wird. Mit dem Grabowski-Zitat wird quasi die Abschaffung von Musik gefordert und inhaltsloses „Gelaber“ von Abendunterhaltungen aufs Korn genommen. Am Schluss kulminiert das Stück im Abspielen von Kassetten durch Kassettenrecorder mit Aufnahmen aller möglichen bekannten und berühmten Sänger: „Zwölf Mal Gigli, Schaljapin, Callas, oderwasimmerauchSchreierundAdamundalleanderen.“ Dabei sollen die Kassettenrecorder im ff gestartet werden und dann kontinuierlich decrescendieren. Dazu schreibt Katzer folgende Aktion vor: „Alle gehen auf der Bühne umher, langsam und lauschend, mit weiträumigen Bewegungen ihren Gang unterstreichend.“ Gleichzeitig improvisieren die Sänger über einen von Katzer notierten Akkord, dessen Töne bevorzugt benutzt werden sollen, zu einem Text, der auch vorher im Stück schon gebracht wurde: „Und das Schöne blüht nur im Gesang.“ Auch hier finden Schlaginstrumente Verwendung. Am Ende einigen sich alle auf c1 und finden zur alten Choraufstellung zurück. Die dann folgende Regieanweisung kann als Ironisierung des Szenischen durch seine Unrealisierbarkeit gelesen werden: „Am Schluß kann auch ein Vorhang (langsam!) fallen, Licht verlöschen, oder die Vokalisten fliegen (langsam!) äquatorwärts davon.“ 33 Im Interview erklärte Katzer, dass die Anstöße zur Komposition des Stückes aus den Texten kamen, die ihn so faszinierten, dass er sie öffentlich machen wollte. Der Grund für diese Faszination waren weniger die Qualitäten der Texte als ihre politische Aussage, was bei Platon noch mehr als beim Goethe gelte.34 Katzer betonte die Absicht, mit diesem Stück, mit seinen Texten, die Möglichkeit zu nutzen, über die Texte letzten Endes politische Aussagen zu machen. Dabei verwendete er gern Texte, die unangreifbar sind, so wie diejenigen von Goethe, die praktisch als Autoritätsbeweis fungieren. Dies gilt auch für die Texte Platons. Ein weiterer Ansatzpunkt für die Komposition des Stückes in dieser Weise war die Anregung des Stückes durch Dietrich Knothe, den Leiter der Berliner Solistenvereinigung, der Katzer aufforderte ein Stück zu komponieren, das ruhig verrückt sein könne. Durch diesen Auftrag erklärt sich auch die außergewöhnliche Besetzung des Stückes, Katzer reizte die Möglichkeit, einen zwölfstimmigen Kammerchor ausprobieren zu können, etwas Absurdes zu machen, was er aber in Kammermusik üblichen Zuschnitts nie realisieren konnte. Er sagte von sich, er sei ein Komponist, der generell ein bisschen apercuhaft komponiert. In diesen Stücken [De musica und Szene für Kammerensemble, K. S.] konnte er dieser Neigung einmal mehr nachgehen, als das in reiner Kammermusik sonst möglich sei.35
33 34 35
Alles ebda., S. 15. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin am 29.2.2000. Ebda.
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Notenbeispiel 10: Georg Katzer, De musica, Leipzig: Edition Peters, 1975, S. 12, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Die Aspekte des postdramatischen Theaters, die sich in dieser Szenischen Kammermusik Katzers wieder finden lassen, wurden zum Teil bereits bei der Beschreibung des Stückes deutlich. Hier findet sich beispielsweise die Simultaneität verschiedenster Elemente, mehrerer Texte, die sich gegenseitig ergänzen und ironisieren, in ihrer Gleichzeitigkeit sich aber auch gegenseitig bedrängen. Ausgehend von der primär musikalischen Ebene Szenischer Kammermusik ist hier eine Szenisierung zu beobachten, also das Hinzukommen szenischer Elemente, die gleichberechtigt zur Musik gestaltet sind. Elemente des Merkmals Ereignis bzw. Situation sind ebenfalls zu verzeichnen, was auch dadurch zustande kommt, dass Besucher von Kammermusikkonzerten meist weniger auf szenische Aktionen gefasst sind, zumal bei dieser doch sehr seltenen Besetzung, sodass die Ereignishaftigkeit deutlich zum Tragen kommt, zusammen mit der Wahrnehmung der Körperlichkeit der Sänger. Damit sind auch die Komponenten von Fischer-Lichtes Theatralitätskonzept deutlich: Körperlichkeit, Vorführungs- und Inszenierungsaspekt wurden beschrieben, ebenso Aspekte der Wahrnehmung. Georg Katzers Szene für Kammerensemble entstanden für und uraufgeführt durch die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ 1975 ist eines der Schlüsselwerke für die Szenische Kammermusik in der DDR und Vorbild für viele folgende Werke unterschiedlichster Komponisten.36 Auch hier geht es Katzer um eine Debatte über Neue Musik aber auch um einen spielerischen Umgang mit dem so genannten „Erbe“, hier besonders Johann Wolfgang von Goethe und Felix Mendelssohn Bartholdy betreffend. Zu seiner Herangehensweise bezüglich der Texte schrieb Katzer: „Meine Absicht war, die Texte auszustellen, sie zur kritischen Besichtigung freizugeben. Das schien mir am besten in einer aufgelockerten, szenischen Form möglich. Ironische Distanz und spielerische Naivität sollten sich nicht ausschließen, so wie das ganze Stück ambivalent ist. Die Mendelssohn-Zitate sind nicht nur ironisch, ebensowenig manche Überzeichnung nur grotesk ist, denn in erster Linie habe ich natürlich dem neuen Klang nachgespürt. Auch wenn der Text manchmal unverständlich ist, steckt eine musikalische Absicht dahinter: Sprache soll dann nur als geräuschähnliche Fläche von ästhetischem Reiz klingen. Auch die primitiven Lautmacher sind nicht nur wegen des Schocks gewählt (wer ließe sich davon auch schon schockieren), sondern wegen ihrer frischen, unverbrauchten Klanglichkeit.“ 37
Katzer lässt die Instrumentalisten in diesem Stück nicht nur ihre Instrumente in den verschiedensten, teilweise auch ausgefallenen und auf theatralische Wirkung bedachten Weisen spielen, sondern auch weitere Schlaginstrumente bedienen. Außerdem müssen sie Texte auf verschiedenste Arten vortragen und Regieanweisungen, die Bewegungen betreffen, ausführen. Der Komponist lässt die Texte murmeln, verständlich vortragen 36 37
Vgl. dazu: Stöck, Analyse als kulturpolitisches Instrument?, 2001, S. 276–283. Georg Katzer über seine Szene für Kammerensemble, in: Programmheft Konzert „Instrumentales Theater“ Der Gruppe neue Musik „Hanns Eisler“, Hygiene-Museum Dresden 2.6.1979, o. Pag.
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oder auch singen, von mehreren oder einem Musiker, er zerlegt die Sätze, verteilt sie unter die Mitwirkenden etc. Die Instrumentalisten summen außerdem zu den von ihnen gespielten Tönen. Beispielsweise ist der Anfang genau gestaltet: Das Einstimmen, Einrichten, Murmeln vor Beginn der Aufführung sind von Katzer quasi mitkomponiert. (Vgl. Notenbeispiele 11 und 12) Erst nach diesem Einspielen tritt der Dirigent auf. Katzer hat es hier auch auf eine Irritation des Publikums bezüglich der konventionellen Konzertsituation abgesehen, indem er den Beginn des Stückes für das Publikum verunklart. Wie sehr ihm das gelungen ist, zeigt auch ein Mitschnitt.38 Das Publikum klatscht, als der Dirigent kommt, also am scheinbaren Anfang des Stückes, obwohl dieses schon längst begonnen hat. Derjenige, der das Band erstellt hat, kürzte in Unkenntnis der Partitur wiederum die Aufnahme um den ersten Teil dieser Einleitung in der Annahme, es handle sich nur um das ungestaltete Einspielen der Musiker. Ein weiteres Beispiel für theatralische Aktionen der Instrumentalisten und gleichzeitig für Katzers Ironisieren des Konzertbetriebs aber auch der Neuen „avantgardistischen“ Musik findet sich gegen Ende des Stückes. Die Musiker sollen hier heftiges Spielen simulieren, es klingt aber nichts. Am Schluss baut Katzer noch eine weitere spektakuläre Aktion ein: Ein Brummkreisel wird aufgezogen, er soll in H-Dur klingen. Nach seinem Umfallen richtet sich das Ende des Stückes Katzer ist hier vom instrumentalen Theater Mauricio Kagels inspiriert: Die dem Musizieren von vornherein immanente Theatralität wird sichtbar gemacht und gestaltet. Sie entsteht nicht beiläufig, wie so oft bei der Darbietung nicht szenisch angelegter Musik, sondern ist vom Komponisten beabsichtigt. Katzer nutzt sie aus und er gestaltet sie und komponiert sie mit. Die Reaktionen des Publikums auf Katzers szenische Ideen sind auf den Mitschnitten deutlich nachvollziehbar. Die postdramatischen Komponenten Körperlichkeit, aber auch Ereignishaftigkeit und Spiel mit der Nichtunterscheidbarkeit von Fiktion und Realität (Kreisel) sind hier deutlich. Der Teilbereich der Wahrnehmung innerhalb der Performance wird hier auch betont, besonders das Eingehen der Musiker auf das Gespielte und die eigene Wahrnehmung, nicht nur diejenige durch das Publikum spielen eine Rolle. In engem Zusammenhang mit Katzers Stück ist Helge Jungs Sketch für 5+1 zu sehen. Es erhielt vom Komponisten den Untertitel: oder Versuch über die wahre Art, die Musik und ihre Wissenschaft durcheinander zu bringen. Unter Mitwirkung namhafter Kenner der Materie in Szene gesetzt von Helge Jung und entstand 1978/79 als op.24 für die Besetzung Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Fagott und Klavier.39 Jung verwendete Textzitate zum Thema Musik vor allem von Komponisten, aber auch Musikwissenschaftlern und Theoretikern. .
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39
Mitschnitt: Georg Katzer, Szene für Kammerensemble, Europäisches Zentrum der Künste Hellerau/Zentrum der zeitgenössischen Musik Dresden. Vgl. auch: Stöck, Analyse als kulturpolitisches Instrument?, 2001, S. 276–283.
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Notenbeispiel 11: Georg Katzer, Szene für Kammerensemble, Leipzig: Edition Peters, 1981, S. 2, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Notenbeispiel 12: Georg Katzer, Szene für Kammerensemble, Leipzig: Edition Peters, 1981, S. 3, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Für den Anfang des Stückes sind zwei verschiedene Möglichkeiten vorgegeben. Entweder beginnt das Stück ohne Beifall, die Musiker memorieren und murmeln verschiedene Textbruchstücke aus dem Aufsatz von Günther Olias, oder es beginnt mit Beifall, die Musiker kommen, sich verbeugend, und diskutieren dann in Gruppen die Texte. Im Stück selbst folgt ein Wechsel von Musik und Textzitaten von Komponisten wie Mahler, Schumann, Wagner, aber auch von Adorno und anderen. Die von Jung angekündigten40 Texte von Musikwissenschaftlern der DDR sind bis auf Olias und Goldschmidt nicht zu finden. Dem Stück fehlt – so auch die Einschätzung des Komponisten und der Grund für die Rücknahme der Komposition vor der geplanten Uraufführung – teilweise der Biss, sodass es die beabsichtigte Wirkung nicht entfalten kann. Im Kontext dieser Untersuchung ist das Stück trotz seiner Rücknahme durch den Komponisten, einerseits wegen seiner Thematik, andererseits wegen seiner vielen Regieanweisungen, die die Bewegungen der Interpreten im Raum oder deren Textvortrag und Interaktionen organisieren, von Interesse. Jung reiht nach der beschriebenen Einleitungsphase Beispiele für verschiedene avancierte Kompositionstechniken aneinander, wobei der Pianist diese jeweils ankündigt. Aufeinander folgen: „Traditional“, „Serialissimus“, „Feldkomposition“, „Ringmodulatoren“ und „Weißes Rauschen“41. Diese avancierten Kompositionstechniken werden sowohl durch die Art ihrer Darbietung als auch durch die vom Komponisten vorgeschriebenen Reaktionen ironisiert. So schreibt Jung z. B. nach einer aleatorischen Passage ein Gelächter aller Musiker vor.42 Teilweise beabsichtigte Jung auch, durch die Darbietungsweise der Musik das Publikum zum Lachen zu bringen, so an einer Stelle, an der der Pianist furchtbarste „Wissenschaftssprache“ zitiert – die Zitate stammen nochmals von Günter Olias43 – und die Bläser einige Wortfetzen aus den Zitaten „üben“. Die Regieanweisung fordert, diese Szene solange fortzusetzen, bis das Publikum lacht. Jung versucht, avantgardistische Spielanweisungen ad absurdum zu führen, indem er vorschreibt, dass die Spieler an einer bestimmten Stelle ihre Noten auf den Kopf drehen sollen. (Vgl. Notenbeispiel 13) Außerdem flicht der Pianist weitere Zitate und Zitatfetzen ein, die mehr oder weniger verständlich auch als Material für die Kritik des Komponisten an der Verwendung von vokalen Techniken für die Instrumentalisten in Kammermusik verwendet werden. Deutlich ist Jung in diesem Stück von Katzers Szene für Kammerensemble inspiriert, so z. B., wenn er am Schluss ein Stück Musik bringt, das nun „seine“ Musik verdeutlichen soll, nachdem er alle möglichen „Verirrungen“ der Musikstile des 20. Jahrhunderts dargestellt hat.
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Gespräch der Autorin mit Helge Jung in Berlin am 1.11.1999. Helge Jung, Sketch für 5+1 oder Versuch über die wahre Art, die Musik und ihre Wissenschaft durcheinander zu bringen, Manuskript, 1978/79, S. 12ff. Ebda., S. 7. Ebda., S. 10f.
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Notenbeispiel 13: Helge Jung, Sketch für 5+1, Manuskript, 1978/79, S. 16, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Ähnlich verfährt Katzer in seinem Stück. Die Überschrift heißt hier: „Musica ipsa, oder: das Stück an sich“44 und die Spieler drehen ihre Noten wieder richtig herum, ein deutliches Zeichen, dass nun wieder „richtige“ Musik folgen soll. Dies ist eine Musik, die Aspekte fast aller vorhergegangenen Beispiele verarbeitet. Wie beschrieben hat Jung das Stück vor der Uraufführung zurückgezogen, weil die beabsichtigte Ironie sich nicht einstellte. Zwar verwendete er einen Teil der Komposition später wieder, aber dies geschah in einem anderen Kontext, der für die Szenische Kammermusik nicht relevant ist. So ist es nicht möglich, zu erfahren, ob die beabsichtigte Wirkung eintreten konnte, bzw. wäre auch eine Reaktion der Kritik und der im Stück Kritisierten darauf natürlich von großem Interesse gewesen, da Jung hier versuchte, aus der Erfahrung mit der Ablehnung seiner Stücke heraus, die Avantgarde im eigenen Lande aufs Korn zu nehmen. Neben dem intertextuellen Ansatz kommen verschiedene postdramatische Aspekte in diesem Stück zum Tragen. Besonders die Überlagerung der musikalischen Ebene mit der sprachlichen spielt hier neben anderen Aspekten eine Rolle. Ein weiteres Beispiel für Szenische Kammermusik, die durch die szenische Aktion der Instrumentalisten lebt, ist Georg Katzers Trio Essai avec Rimbaud, entstanden 1979. Als Besetzung wählte Katzer Oboe, Violoncello und durch Gummi bzw. Holz präpariertes Klavier. Die Präparation ist in der Partitur genau angegeben, Katzer verfolgt hier das Ziel einer „starke[n] Klangveränderung im Grund- und Obertonbereich“45. Die Aufführungshinweise des Komponisten betreffen sowohl die zu sprechenden Texte als auch die Bewegungen der Instrumentalisten: „Die Texte sollen immer sehr einfach gesprochen werden. Unverständlichkeit ist manchmal beabsichtigt; sauberes Artikulieren ist dennoch erwünscht.“46 „Alle Bewegungen werden durch die Ökonomie der ästhetischen Wirkung bestimmt und sind daher sehr kontrolliert und ohne Hast vorzunehmen. Das gilt auch für das Wenden der Notenseiten.“47
Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Katzer im Vorwort der Partitur auch die Möglichkeit eröffnet, das Stück ohne die Texte aufzuführen. Dann würden auch die Becken wegfallen, ebenso der Untertitel des Stückes und der letzte gemeinsame Akkord.48 Im Interview sagte Katzer allerdings, dass der Text auf jeden Fall zum Stück dazugehöre.49 Ihm war scheinbar entfallen, dass er bei Veröffentlichung des Werkes 44 45
46 47 48 49
Ebda., S. 21. Georg Katzer, Trio für Oboe, Violoncello und Klavier (Essai avec Rimbaud), Leipzig: Edition Peters, 1984, S. 1. Ebda. Ebda. Ebda. Gespräch der Autorin mit Georg Katzer in Zeuthen bei Berlin, am 29.2.2000.
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durch den Verlag Edition Peters 1984 die Möglichkeit der Aufführung als konventionelle Kammermusik offen hielt, wohl auch in dem Wissen, dass der Szenischen Kammermusik nur ein kleiner Publikumskreis vor allem aber auch nur ein kleiner Interpretenkreis zur Verfügung stand. Die Auswahl der Texte aus Arthur Rimbauds Illumination nahm Katzer selbst vor, wobei er sechs Ausschnitte, je drei im französischen Original bzw. in deutscher Übersetzung verwendet. Katzer lässt in der Art der Wiedergabe der Texte durch die Instrumentalisten viele Freiheiten: Sie sollen gesprochen werden, Rhythmus und Tonhöhen sind aber nicht vorgegeben. Teilweise ist die Anweisung „leicht asynchron“50 notiert oder einzelne Worte sind in die Partien eingebaut. Katzer lässt die Instrumentalisten stellenweise auch mitsingen ohne einen Text51 und führt am Ende den französischen mit dem deutschen Text simultan zusammen. Die von Katzer vorgeschriebenen Aktionen betreffen das Ausstellen von Kommunikation beim instrumentalen Zusammenspiel. So sollen sich die Spieler voneinander abwenden oder einander zuwenden, plötzlich aufhören zu spielen und ohne Bewegung verharren52, mit deutlich ausgestellten Bewegungen agieren, oder auch mit Requisiten agieren: „in Gefäß mit Wasser oder gegen das Notenblatt blasen“53. Zu diesen betonten Aktionen gehört auch die Bedienung der Becken durch den Pianisten. Die Aspekte der Postdramatik, die hier zum Tragen kommen, sind besonders derjenige der Körperlichkeit, die sich vor allem in Bewegungen manifestiert, die nicht zu Klang führen und die dadurch das Körperliche der Aufführung betonen. Auch der Aspekt der Überfülle spielt eine Rolle, und dies gilt in diesem Stück nicht nur für den Zuschauer, sondern auch für die Instrumentalisten, die aus einer Fülle von Material auswählen müssen. Katzer arbeitet hier mit aleatorischen Kompositionsverfahren. Er stellt für die Instrumentalisten häufig verschiedenste Partikel – sowohl musikalische Gestalten als auch Textfragmente – in Kästchen zusammen, die diese dann frei kombinieren.54 (Vgl. Notenbeispiel 14) Der Kommunikationsaspekt wurde bereits oben erläutert. Die für Katzer typische Auseinandersetzung mit innermusikalischen Themen ist auch hier wieder prägend. Katzer spielt hier besonders mit dem Aspekt der Überfülle, der durch die aleatorischen Komponenten der Komposition entstehen.
50 51 52 53 54
Katzer, Trio, S. 3. Ebda., S. 10. Ebda., S. 5 Ebda., S. 7 Ebda., S. 9 Ob solo, S. 9a Vc solo und S. 9b Kl solo.
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Notenbeispiel 14: Georg Katzer, Trio für Oboe, Violoncello und Klavier (Essai avec Rimbaud), Leipzig: Edition Peters, 1984, S. 9a, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Wilfried Krätzschmar nimmt in seinem scenario piccolo per una pianista e strumenti („3245: costellazioni“), komponiert 1986, uraufgeführt 1987 zu den 1. Dresdner Tagen der zeitgenössischen Musik und komponiert für Bettina Otto, sowohl die Arbeit mit einem präparierten Klavier auf’s Korn, als auch die affektierte Gestik von Pianisten, hier besonders von Pianistinnen, beim Vortrag. Außer der Pianistin, die als solche zwingend weiblich sein muss, wirken der Präparator genannt zio volonteros als eigene Rolle, sowie ein Streichquintett und ein von zwei bis drei Spielern bedientes Schlagwerk mit. Letztere haben keinen Part in der szenischen Aktion zugeschrieben bekommen. Nicht nur Aktion ist als szenisches Element enthalten, Pianistin und Präparator agieren teilweise auch im Kostüm und mit Requisiten. So schreibt Krätzschmar in der Partitur vor:„Wichtig: dieses ‚Spiel‘ muß ‚klingen‘! Eine dezent geschminkte Maske, nicht sehr auffällig, ins Puppenhafte akzentuiert, könnte das Spiel unterstützen. So intensiv wie möglich mit Körper und Geste am Ausdruck beteiligen, aber nichts überzeichnen! Die Innigkeit des Moments darf nicht gestört werden.“55 Interessant ist eine Parallele zu dem Stück Transición II von Kagel56, in dem Pianist und Schlagzeuger beide im Flügel agieren und auch beide als Präparatoren auftreten. Auch Kagel benutzt hier die Idee des präparierten Klaviers und erweitert sie durch das Element Aktion, wobei der Schlagzeuger es ist, der im Klavier spielt. Bei Kagel ist die Aktion ein Ansatz zum instrumentalen Theater.57 Krätzschmar beruft sich allerdings nicht auf Kagel, sondern auf das Vorbild Ligeti, in dessen Werken es auch vorkomme, dass einer spiele und der andere dagegen spiele, oder dass eine Tastatur die andere blockiere.58 Krätzschmars Stück besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil lebt ganz von der Präsenz der Pianistin, deren Gestik und teilweise auch Mimik vom Komponisten bis ins Kleinste vorgegeben ist. Auch am Anfang, wenn sie noch nicht spielt, agiert sie schon. Krätzschmar ironisiert hier Bewegungen und Verhaltensweisen von Pianisten im Konzert, so das Hineinlegen mit dem ganzen Körper in einen Ton, das Emporfliegenlassen des Arms und das theatralische Niedersinken, die Versunkenheit, dann wieder die Aufmerksamkeit und so weiter. Einige Beispiele aus der Partitur, die Regieanweisungen für einzelne Töne betreffen, können das belegen: „Vorbereiten mit gleicher Faszination wie vorher. / Weicher, behutsamer Anschlag mit dem langen Ringfinger, mehr gedrückt als gezogen, / mit Oberkörper und Kopf in die Taste hineinsenken, Augen schließen, ganz gelöst verharren. / Selbstvergessen in Hingabe die Hand nach außen auf den kleinen Finger abkippen, ...“59 55
56 57
58 59
Wilfried Krätzschmar, scenario piccolo per una pianista e strumenti („3245: costellazioni“), Manuskript, 1986, S. 4. Für Klavier, Schlagzeug und Tonband, 1958/59. Vgl. Reinhard Josef Sacher, Musik als Theater. Tendenzen zur Grenzüberschreitung in der Musik von 1958 bis 1968, = Kölner Beiträge zur Musikforschung 139, Regensburg 1985, S. 164–66. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Krätzschmar, scenario piccolo, S. 9.
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oder: „(langer Anlauf:) langsam rechte Hand heben zur Waagerechten, dabei die rechte Schulter leicht hochziehen (Körper rechts ausheben), in konzentrierter, lustvoller Erwartung Zeige- und Mittelfinger gestreckt halten (fast aneinanderliegend, nur leicht gespreizt), sehr gerade sitzen, leicht von Tastatur zurückgelehnt;...“60
Die Pianistin interpretiert in diesem ersten Teil, als sie endlich überhaupt zu spielen beginnt, nur zwei Töne: e und es. Dies ist für Krätzschmar eine Anspielung auf Für Elise, dies sei „aber nur für Pfiffige hörbar“. Was die Pianistin mache, sei ein erotisches Spiel mit dem Flügel, die Aktionen seien sehr von der Ausstrahlung der Person abhängig, so der Komponist. Mit der Zeit wird die Spannung immer unerträglicher, dann kippt die Situation und die Pianistin spielt plötzlich wie verrückt los.61 Im zweiten Teil des Stückes tritt dann der Präparator aus dem Publikum auf, eher im Habit eines Hausmeisters, denn eines Künstlers. Seine Aktionen beziehen sich ausschließlich auf das Präparieren des Flügels. Die Bedeutung, die der Zuschauer seiner Handlung beimisst, kann unterschiedlich ausfallen, man könnte ihn als Helfer oder auch als Störenfried betrachten, Krätzschmar, schließt aber beides aus: „Der Part darf weder als ‚Mitgestalter‘ noch als ‚Gegenspieler‘ der Pianistin interpretiert werden. ‚zio volonteros‘ ist eeben daa 62 [sic].“ Auch den Auftritt des zio volonteros gestaltet Krätzschmar sehr genau mit Hilfe von Regieanweisungen und Kostümvorschriften: „Der ‚Zio volonteros‘ sollte in Gebärden, Maske und Kleidung Spuren von Nachlässigkeit, eingemischt in Elemente des Beiläufigen und gleichzeitiger Unersetzlichkeit, wirken lassen. Sein Wesen ist der doppelte Booden [sic].“63 (Vgl. Notenbeispiel 15) Was harmlos als Präparation beginnt, wird im Laufe des zweiten Teiles von Krätzschmars Stück immer hektischer, kopfloser und auch verbohrter: „die Aktionen im Flügel gehen völlig in Präparations-Arbeit über: mit eifernder Eile werden – zuerst nacheinander, dann durcheinander – Papierstreifen eingezogen / Plastik-Wäscheklammern auf die Saiten geklemmt / Metallstäbe oder -platten aufgelegt, desgleichen Ketten... ... Zahnräder ... (alle Präparationsgegenstände sollte ‚Zio volonteros‘ aus den zahlreichen Taschen seiner Kleidung hervorholen!)“64
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Ebda., S. 10. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Krätzschmar, scenario piccolo, S. 25. Ebda., S. 22. Ebda., S. 44.
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Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 15: Wilfried Krätzschmar, scenario piccolo per una pianista e strumenti („3245: costellazioni“), Manuskript, 1986, S. 22, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Seine Aktionen gehen immer weiter „... bis zum Ansinnen, selbst in den Flügel zu klettern...“65 Auf die Frage nach der Entstehung des Stückes und dem seltsamen Titel sowohl des „zio volonteros“ als auch der „costellazioni“, antwortete Krätzschmar, dass das Stück 65
Ebda., S. 47.
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einige Verschlüsselungen enthalte und durch ein ganzes Geflecht von Assoziationen gekennzeichnet sei.66 In Geltow/ Brandenburg besaß der Komponistenverband eines seiner Heime67. Dort habe man sich häufig Witze erzählt, damals waren diejenigen von Onkel Willi besonders im Schwange. Aus diesem Onkel Willi wurde dann der „zio volonteros“. Weiterhin habe man in Geltow häufig Sternbilder angeschaut, die als konstruktives Moment in die Partitur Eingang fanden, deshalb der Titel costellazioni = Sternbilder. Der erste Teil des Stückes sei der szenische Teil, so Krätzschmar, im zweiten Teil erscheinen die Sternbilder, die in die Partitur eingezeichnet sind und im zweiten Teil agiert dann auch der zio volenteros. Die Sternbilder erscheinen in verschiedenen Stellungen, werden gedreht und kommen am Ende alle als aleatorische Figuren noch einmal übereinander gelegt vor. Die Sternbilder werden aber nur für den sichtbar, der in die Partitur schaut und auch dann nur, wenn die Verbindungen der einzelnen „Sterne“ (Töne) eingezeichnet sind, hörbar sind sie nicht. Dies wurde von Krätzschmar auch nicht beabsichtigt, es sei unerheblich.68 Krätzschmar betont den Zusammenhang dieses Stückes und eines anderen Werkes von ihm, das insofern auch szenische Implikationen enthält, hier aber nicht ausführlich vorgestellt wird, da es ein Konzertstück mit Orchester ist, Krätzschmars dritte Sinfonie für Klavierspieler und Orchester. Es ist aber insofern als Pendant zu Scenario piccolo zusehen, als dass der Klavierspieler (kein Pianist!) auf einem altem verstimmten Klavier spielen soll, wodurch ein merkwürdig gebrochener Klang entsteht. Das Stück wurde von ihm so konzipiert, dass der Klavierspieler das Orchester wie ein Dämon beeinflusst. Dies Stück ist für einen männlichen Klavierspieler gedacht, auch hier dachte der Komponist also szenisch.69 Scenario piccolo ist nun also das Stück für die Pianistin. Auch in diesem Stück kommen mehrere Aspekte des postdramatischen Theaters zum Tragen. Die Szenisierung, also die Überlagerung des Musikalischen durch das Szenische ist hier an vielen Stellen deutlich, besonders auch dort, wo Pianistinnenattitüde ohne Erklingen von Tönen vorgeführt wird. An diesen Stellen kommt auch die Ausstellung von Körperlichkeit besonders deutlich hervor. Der Einbruch des Realen hängt vor allem mit dem Präparator zusammen, es ist nicht sofort klar, dass er zum Stück gehört, er könnte auch der Hausmeister sein, der nicht weiß, dass hier ein Konzert stattfindet. Dies trägt auch gleichzeitig zur Ereignishaftigkeit des Stückes bei. Krätzschmar spielt ebenso mit der Dichte der Zeichen, die hier eher eine Leere ist, besonders im Hinblick auf Pianistin, die am Anfang lediglich Einzeltöne darbietet.
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Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. In solche Heime konnten sich Komponisten allein oder als Arbeitsgruppe zurückziehen. Dort fanden oft auch kleinere Tagungen statt. Gespräch der Autorin mit Wilfried Krätzschmar in Dresden am 14.12.1999. Ebda.
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Analysen von Beispielwerken
Wolf-Günter Leidels Szenische Kammermusik Via crucis70 ist sein einziges Stück dieser Gattung, entstanden unter dem Einfluss von Reiner Bredemeyer, bei dem Leidel zur Zeit der Entstehung Meisterschüler (1983-85) an der Akademie der Künste Berlin war, und unter dem Einfluss von Schenkers Missa nigra. Leidel äußerte im Interview sogar eine Entschuldigung an Schenker, dass er dessen Stück noch einmal komponiert habe.71 Gleichzeitig muss man Leidels Stück auch als sein einziges in Bezug auf die „Avantgarde“-Rezeption betrachten, Leidel bezeichnet sich – sein weiteres Schaffen betreffend – gern als „letzten Spätromantiker“.72 Als Grund für seine Beschäftigung mit Szenischer Kammermusik gab Leidel an, dass es für ihn praktisch unmöglich war, Aufträge und Aufführungen zu bekommen, und er deshalb den Schritt zur Szenischen Kammermusik tat, um von dem für den Wettbewerb vorhandenen Fördertopf etwas abzubekommen. Das Stück entstand für den Kompositionswettbewerb Boswil in der Schweiz, der in diesem Jahr für Musik un pur „unrein“ ausgeschrieben war. Beim Wettbewerb konnte Leidel aber keinen Preis gewinnen, das Stück wurde weder in Boswil noch in der DDR aufgeführt. 73 Leidel komponierte das Stück auf der Basis von Modi, wie er überhaupt in seinem gesamten Schaffen stark von Olivier Messiaens Kompositionstechniken beeinflusst ist. Er stellte sich aus Zeitungsausschnitten und anderen Zitaten eine große Materialsammlung zum Thema der leidende Mensch zusammen, die Berichte unter anderem über politische Attentate, politische Morde und andere ähnliche Nachrichten aus Nikaragua, Chile etc. enthält: „Leidensstationen eines gefolterten oder geschlagenen Menschen, nicht von Jesus Christus“74. Die Sammlung bildet aber nicht den Text des Stückes, sondern sollte in Ausschnitten – Leidel wollte möglichst viel davon dem Publikum zur Kenntnis bringen – im Programmheft oder als Projektionen für die Inszenierung genutzt werden. Leidel ordnete nicht Texte bestimmter Musik zu, sondern überließ das der Regie. Er notierte auch nur sehr selten szenische Anweisungen, sondern wollte die gesamte szenische Gestaltung und die Möglichkeit der Hinzuziehung von Pantomimen oder Tänzern einem Regisseur überlassen, der die Musiker an der Darstellung beteiligen sollte. Im Interview äußerte er, keine ausgeprägten eigenen Vorstellungen zu haben, wichtig sei ihm aber, dass das Stück nicht als Konzert abgespielt würde, sondern als Prozession gestaltet sei. Dies ist ein deutlicher Anknüpfungspunkt an Schenkers Missa nigra. Leidel legte außerdem Wert auf die Feststellung, dass sein Stück kein Musiktheater sondern „wirklich Szenische Kammermusik“75 sei.
70 71 72 73 74 75
Wolf-Günter Leidel, Via crucis. (Passionszyklus), Manuskript, 1984. Gespräch der Autorin mit Wolf-Günter Leidel in Altscherbitz bei Schkeuditz am 28.8.1999. Ebda. Ebda. Ebda. Alles ebda.
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Notenbeispiel 16: Wolf-Günter Leidel, Via crucis. (Passionszyklus), Manuskript, 1984, S. 64, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Das Stück wurde sowohl vor als auch nach 1989 nie aufgeführt, Leidel nannte als Hauptgrund für die Nichtaufführung nach der Wende vor allem finanzielle Probleme. Während der DDR-Zeit habe die Komposition den Machthabern nicht gefallen und sei
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Analysen von Beispielwerken
wohl hauptsächlich aufgrund der Liturgie suspekt gewesen.76 Es teilt sich in 15 Kreuzwegstationen, die Leidel selbst formuliert hat, und die er im Ganzen als Prozession mit Messe-Form beschreibt. Er verwendet orthodoxe Liturgieformen.77 (Vgl. Notenbeispiel 16) Auch hier hatten biographische Aspekte des Komponisten einen wichtigen Anteil an der Gestaltung, so sein katholischer Glaube, den er im Alter von 28 Jahren angenommen hat. Die Musik hat meist eher beschreibenden oder illustrierenden Charakter. Leidel bezeichnet sie im Gespräch als „unromantisch“ und als „Antimusik“, die sich an der Grenze von Musik befände.78 Leidel verwendet beispielsweise auch Schreie, Ausbrüche und ähnliches, bei ihm eine recht singuläre Kompositionsweise, tendiert er doch in den meisten seiner anderen Werke zur Spätromantik. Das beschriebene Werk entstand aber in seiner Meisterschülerzeit bei Bredemeyer und weist auch deshalb diese Besonderheiten auf. Er charakterisiert die Musik als „Musik am Rande des Verstummens“ und bringt seine Komposition mit John Cages 4’33 in Verbindung. Die Aspekte postdramatischer Herangehensweise liegen einerseits auf dem Gebiet des Einbruchs des Realen beziehungsweise das Ereignisses, hier in Form der Prozession, andererseits auch in der Dichte der Zeichen, die sich hier weniger auf die Partitur als auf die umfangreiche Textsammlung zum Stück bezieht. Leidels Stück kann als Beispiel dafür dienen, welchen Sog die Avantgarde in der DDR auslöste, wie sie auch Komponisten, die sonst vollkommen andere ästhetische Intentionen verfolgten, dazu bewog, sich mit ihr auseinander zu setzen, in dem Glauben, dann größere Chancen bei Wettbewerben oder Aufführungsmöglichkeiten zu haben. Leidel allerdings hatte mit seinem Stück unter keinem dieser Aspekte Erfolg. Steffen Schleiermacher wiederum ist ein wichtiger Vertreter der jüngeren Komponistengeneration in der DDR und hat sich auch als Pianist für die zeitgenössische Musik aus Ost und West eingesetzt. Weiterhin leitete er an der Musikhochschule in Leipzig 1984-88 die „Gruppe Junge Musik Leipzig“, ein Ensemble für Neue Musik, das Bernd Franke gegründet hatte und mit dem auch Schleiermacher außerordentlich ambitionierte Programme aufführte. Als Komponist von Szenischer Kammermusik resignierte Schleiermacher nach eigener Aussage nach zwei Versuchen, hauptsächlich wegen des Missverhältnisses zwischen hohen instrumentativen und geringen schauspielerischen Fähigkeiten der Musiker.79 Trotzdem handelt es sich bei den beiden Beispielen um sehr interessante Versuche. Bei seiner Szenischen Kammermusik Sei auf dem (?) Hut, komponiert 1985, uraufgeführt 1986 in Leipzig, lässt sich an der Besetzung bereits ablesen, dass sie für die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ geschrieben wurde: Vibraphon, Englisch Horn, 76 77 78 79
Ebda. Ebda. Ebda. Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Oboe, Posaune, Klavier, Viola, Violoncello und Kontrabass sind die Hauptinstrumente, weiterhin kommen Holzblock, Gurke, Claves, Peitsche zum Einsatz. Schleiermacher stellt ein Zitat von August Strindberg voran, das ihm besonders wichtig ist und das sich mit der Beziehung von Gesellschaft und Charakter beschäftigt.80 Er schreibt sowohl die Aufstellung der Instrumentalisten mittels einer Skizze vor als auch deren Bekleidung (also ihr Kostüm) sowie die zu verwendenden Requisiten. Auch der Dirigent erhält eine spezielle Regieanweisung quasi ex negativo, Schleiermacher möchte nämlich, dass der Dirigent sich möglichst unauffällig verhalten und am besten aus der ersten Reihe des Publikums sitzend dirigieren soll. Im Gespräch81 erläuterte Schleiermacher die besonderen Implikationen des Stücks für die „Typen“ der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, die er in dem Stück grotesk überzeichnet und deren Charakter jeweils durch einen Hut symbolisiert wird. Schleiermacher war selbst als Komponist Schüler von Friedrich Schenker (hier der Posaunist) und als Pianist Schüler von Gerhard Erber, kannte die Darzustellenden also sehr gut. Die Saiteninstrumente repräsentieren laut Schleiermacher die Bürger und bekamen als charakteristische Kopfbedeckung den Zylinder. Schenker wird als Soldat mit entsprechender Mütze gezeigt, Glaetzner als Geheimdienstler mit Mantel. Das Englisch Horn und das Schlagzeug beschreibt Schleiermacher als das entscheidende Paar. Die Mützen und das musikalische Material werden im Verlaufe des Stückes getauscht, das Englisch Horn verwandelt sich am Ende in einen Bürgerlichen mit Zylinder. Der Schlagzeuger dagegen hält sich aus allem raus, er trägt eine Sportmütze. Schleiermacher erläuterte, dass im Stück simultane musikalische Schichten zu finden sind, außerdem arbeitet er mit verständlichem Text, den die Instrumentalisten sprechen müssen und teilweise auch mit erfundener Sprache.82 Gleichzeitig baut Schleiermacher bestimmte Musikgenres szenisch ein, beispielsweise einen in der entsprechenden Situation bedrohlich wirkenden Marsch von Klavier, Streichern, Oboe und Posaune.83 Die Regieanweisungen und die Dramaturgie stammen von Schleiermacher, er notierte vokale Äußerungen der Instrumentalisten und auch szenische Anweisungen in separaten Zeilen, und sind nach dessen Aussage durchaus politisch gemeint, Schleiermacher setzt hier öffentlich mit politisch gleich. Er meinte selber, das im Alten Rathaus in Leipzig uraufgeführte Stück sei vermutlich kein Auftragswerk gewesen. Einen Einfluss auf Schleiermacher hatte Friedrich Schenkers Missa nigra, das er in Leipzig gesehen hatte.84 80
81 82 83 84
Steffen Schleiermacher, Sei auf dem (?) Hut für Kammerensemble, Manuskript, 1985, S. 1 „Die Gesellschaft ehrt mit der Bezeichnung ‚Charakter‘ denjenigen, der seine Stellung gesucht und gefunden, seine Rolle übernommen, sich gewisse Gründe für sein Verhalten ausgedacht hat und nun endlich ganz automatisch danach handelt. [...] Einer mit Charakter muß folglich ein ziemlich gewöhnlicher Mensch sein. Er muß das sein, was man dümmlich nennt.“ Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999. Schleiermacher, Sei auf dem (?) Hut, S. 8. Ebda., S. 9. Gespräch der Autorin mit Steffen Schleiermacher in Leipzig am 21.10.1999.
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Analysen von Beispielwerken
Am Beginn sieht und hört man Vibraphon und Englisch Horn auf der Bühne im Duett – Gespräch, während sich die anderen Instrumente hinter den Zuschauern befinden und dann mit einem marschartigen Abschnitt auf die Bühne kommen.85 Das Unterbrechen des Spiels und das Hören auf die anderen Spieler wird von Schleiermacher szenisch besetzt86, so in Bezug auf Englisch Horn und Vibraphon, die spöttisch bzw. beunruhigt auf das Spiel von Klavier und Streichern – wieder bewegt mit Geräuschen und Phantasiesprache – reagieren. Dann greift die Posaune ein – die auch hier aufgrund der speziellen Situation der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ eine Sonderrolle inne hat – und alle agieren in Richtung Englisch Horn und Vibraphon. Alle Instrumente gleichen sich rhythmisch immer mehr an, spielen fast unisono, setzen sich dann verausgabt und stimmen der Oboe zu, die mit einem Solo einsetzt, und mit großem körperlichen Einsatz aufspringt und spielt.87 Klavier und Streicher werden dahingegen immer ruhiger bis sie völlig erstarren. Die Posaune dagegen wird unruhiger, springt auf und spielt aggressiv.88 Daraufhin setzt das Englisch Horn seinen Hut ab und sucht sich am Hutständer einen anderen. Oboe und Posaune spielen weiter, setzen sich kurzzeitig erschöpft hin, lockern sich, werden wieder unruhiger und springen erneut auf. Gleichzeitig setzen Klavier und Streicher wieder ein. Während Klavier, Oboe und Posaune mit sehr vielen Gebärden heftig agierend spielen, setzen die Streicher liegende Töne dagegen.89 (Vgl. Notenbeispiel 17) Alle erstarren, als das Englisch Horn den weißen Hut nimmt und aufsetzt, sein Instrument nimmt und spielt, Vibraphon und Oboe ergänzen dann als erste wieder vereinzelte Figuren.90 Danach kommt es zu einem Tausch der Hüte zwischen Klavier und Streichern, außerdem rutscht die Oboe näher zum Englisch Horn und setzt mit schnellen Achtelbewegungen ein. Die Aktionen der Posaune nehmen wieder zu, hier besonders wilde Armbewegungen und Mimik, dies lässt Streicher und Klavier den Hütetausch beenden und sich auf die Posaune konzentrieren. Nachdem Oboe und Posaune sich wieder beruhigt haben, und das Englisch Horn unsicher herumsteht, verfällt das Vibraphon in wilde Aktionen und Streicher und Klavier setzen ebenfalls mit virtuoser Musik ein.91 Schließlich nimmt das Vibraphon ein Buch, setzt Kopfhörer auf, die Oboe reagiert darauf sehr reserviert, während die Posaune sich unhörbar mit der Oboe unterhält. Streicher und Klavier versuchen einander von der Wichtigkeit ihrer Musik zu überzeugen.92 Oboe und Posaune wechseln zwischen Einsatz und Aktionen, Streicher und Klavier wiederholen immer verbissener jeweils eine Figur.93 85 86 87 88 89 90 91 92 93
Schleiermacher, Sei auf dem (?) Hut, S. 9f. Ebda., S. 14. Ebda., S. 15. Ebda., S. 17. Ebda., S. 19f. Ebda., S. 22f. Ebda., S. 25f. Ebda., S. 27. Ebda., S. 28.
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Notenbeispiel 17: Steffen Schleiermacher, Sei auf dem (?) Hut für Kammerensemble, Manuskript, 1985, S. 21, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Die Oboe bricht das mit einem Ton ab, geht zum Englisch Horn, worauf die anderen abbrechen, sich zurücklehnen und vereinzelte Töne einwerfen.94 Englisch Horn und Oboe spielen jetzt deutlich zusammen, aber nicht unisono, und gehen dann zusammen zum Hutständer.95 Das Vibraphon nimmt endgültig ein Buch, während die Oboe versucht, das Englisch Horn zum schwarzen Hut zu überreden. Andere Instrumente 94 95
Ebda., S. 29. Ebda., S. 32.
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Analysen von Beispielwerken
wiegen sich im Walzertakt.96 Das Klavier schwenkt ebenfalls auf den Walzertakt ein, das Englisch Horn nimmt von der Oboe den schwarzen Hut.97 In dem Moment, indem das Englisch Horn den Hut aufsetzt, stehen alle zackig stramm, setzen sich – außer dem Vibraphon – dann aber locker hin. Das Vibraphon besprüht sich und die Umgebung mit Deospray, nur die Oboe nicht, welche hinterlistig lächelt und wieder zur Posaune geht, während das Englisch Horn allein spielt und die Walzermusik abgebrochen ist.98 Dann bewegt sich das Englisch Horn spielend auf die Oboe zu, welche sehr zufrieden wirkt.99 Später gibt es einen Aufschrei des Englisch Horns mit schnellen hohen Noten, es resigniert dann allerdings wieder, Oboe und Posaune sind weiter aufgeregt.100 Ein zweitaktiger Einwurf von Posaune, Klavier und Streichern mit „Sprache“, bei dem alle Instrumentalisten aufstehen und der, nachdem sie still stehen bleiben, bewirkt, dass das Englisch Horn in sich zusammensinkt. Nur Oboe und Vibraphon spielen weiter, beide den Ton b unterschiedlich rhythmisiert, die Notenwerte der Oboe werden immer länger. Dann steigt auch das Englisch Horn wieder ein.101 Nach weiteren wilden Aktionen des Vibraphons sinkt das Englisch Horn neuerlich in sich zusammen und verharrt resignierend. Während Oboe und Posaune versuchen, es aufzumuntern, tauschen Streicher und Klavier wieder die Hüte und nehmen deutlich keine Notiz von den Aktionen des Vibraphons.102 Wenig später lebt das Englisch Horn wieder auf und setzt mit geheuchelter Extase zusammen mit Oboe, Posaune, Klavier ein. Etwas später kommen die Streicher dazu, alle spielen „fanatisch“. Das Vibraphon fährt in seinen Aktionen fort.103 Das Spiel der anderen beruhigt sich und sie hören dem Vibraphon zu. Die Oboe sagt: „Da denken die Leute, der ist so, dabei..... ist er wirklich so.“, worauf wieder unruhige Einwürfe aller folgen.104 Während das Vibraphon in seinen Aktionen fort fährt, spielen alle anderen einen militanten Marsch und machen dazu eckige Bewegungen, später gehen sie dann in einen Walzertakt über.105 Danach brechen alle abrupt ab, summen Walzer weiter und deuten an einpacken und gehen zu wollen. Nur die Oboe spielt weiter sehr gleichförmige Tonfolgen ohne körperliche Bewegung.106 Darauf setzt das Vibraphon mit ein und Oboe und Vibraphon vollführen ein wildes Duett mit viel Bewegung, das durch kurze Haltetonphasen unterbrochen wird. Alle anderen bekunden aus dem Zuschauerraum ihr Missfallen unter Verwendung einer Phantasiesprache aus Konsonanten und dem Vo96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106
Ebda., S. 33ff. Ebda., S. 36. Ebda., S. 37. Ebda., S. 38. Ebda., S. 41. Ebda., S. 43. Ebda., S. 44. Ebda., S. 45. Ebda., S. 46. Ebda., S. 47. Ebda., S. 48.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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kal u.107 Daraufhin bricht die Oboe unvermittelt ab, die Unmutsäußerungen hören sofort auf und die Oboe geht ab, ohne sich weiter um das Vibraphon zu kümmern. Sie geht mit den anderen aus dem Saal, während das Vibraphon wild weiterspielt und sein Spiel dann verebbt.108 Die hervorstechenden Aspekte postdramatischer Gestaltungsweise sind in diesem Stück diejenigen der Körperlichkeit, der Szenisierung sowie des Einbruchs des Realen und der Herausstellung von Ereignishaftigkeit. Die Musiker nähern sich spielend aus dem Bereich hinter den Zuschauern, ihre Verständigung erfolgt sowohl spielend als auch sprechend. Die Szenisierung ist hier sehr stark. Durch die Regieanweisungen, die sowohl das szenische Spiel der Musiker als auch die Benutzung von Requisiten betreffen, wird eine starke darstellerische Ebene etabliert, die der Betrachtung des Stückes vermutlich an einigen Stellen mehr Bedeutung gibt als dem Hören, womit die Hierarchieaufhebung ebenfalls eine Rolle spielt. Karl Ottomar Treibmanns 4. Sinfonischer Essay wurde leider nie aufgeführt. Eine Aufführung wäre allerdings auch ein technisches bzw. organisatorisches Problem gewesen, da in einem Teil große Mengen von Mitwirkenden, nämlich ca. 500 Schulkinder und große, öffentliche Räume, konkret der Leipziger Alte Markt benötigt werden. Der Verlag Peters, dem Treibmann die Stückkonzeption anbot, wies diese als nicht ernst gemeint ab. Treibmann knüpft in seinem Essay deutlich an Kagel an, er sieht das Stück als Variation auf dessen Staatstheater109. Außerdem nimmt der Komponist unter anderem die marxistische Musikwissenschaft aufs Korn und ironisiert wohl gesonnen die Abonniertheit der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ auf die Darbietung zeitgenössischer Musik und die damit verbundenen Schwierigkeiten und Vorkommnisse, sowie die besondere Künstlerbeziehung zwischen Friedrich Schenker und Burkhard Glaetzner. Treibmann erläuterte im Gespräch, dass er sich von vornherein im Klaren gewesen sei, dass dieses Stück nicht aufgeführt werden würde. Er habe es spontan zusammengestellt und an den Verlag weitergegeben. Seine Freunde hätten es natürlich gekannt, er habe es Schenker und Glaetzner gezeigt. Aber in der DDR hätte man ja nicht einmal die 500 Mundharmonikas bekommen, obwohl er sich deren Wirkung sehr gut vorgestellt hätte. Andere Stücke dieser Art gebe es von ihm nicht, allerdings enthielte seine Oper Der Preis auch Szenen, die aus solchen Erfahrungen gespeist seien.110 Die Partitur des Stückes hat die Form einer detaillierten verbalen Aufführungsanleitung.
107 108 109 110
Ebda., S. 49. Ebda., S. 50. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Ebda.
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Analysen von Beispielwerken „1. Szene. APASSIONATO, Ausführende: Eine Gruppe für NEUE MUSIK, Ort: Vor dem Alten Rathaus, Zeit: irgendwann vormittags gegen elf oder nachmittags gegen 15 Uhr. Nach Möglichkeit sonnabends bei Mondenschein, vereinzelte Wolken können sich durchaus zeigen. Vorgang: Die Spieler der Gruppe säubern und putzen einen Trabant. Das geschieht in feierlicher Haltung. Es herrscht Ruhe, die nur durch Äußerungen von Gefühlen tiefer Befriedigung unterbrochen wird. Es sollte dieser Prozess nicht unter einer Dreiviertelstunde beschlossen werden. Er könnte aber auch einen Tag oder länger dauern. Sobald der Trabant glänzt, wird er mit großer Bedächtigkeit und Würde durch Girlanden geschmückt. Sodann werden Stearinkerzen auf Dach, Kühlerhaube, Kofferraum aufgesteckt und entzündet. Die Akteure holen ihre Instrumente, die bis jetzt unter den Arkaden lagerten und vom Schlagzeuger bewacht wurden. Sie stellen sich um den Trabant, nehmen untereinander Sichtkontakt auf und interpretieren stehend – auch der Violoncellist – die Marsellaise etwa folgendermaßen ….“111
Hier sang Treibmann im Interview die Marseillaise und erläuterte weiter, dass diese sich dann auflösen solle in Tonwiederholungen, Ausbrüche usw. Treibmann lässt hier also viel Raum für Improvisation und eigene Einfälle der Interpreten, die hier mit den dargestellten Figuren identisch sein sollten.112 „Nach dieser Musikdarbietung steigen vier Spieler in den Wagen, die anderen stellen sich dahinter, der Dirigent davor in Position. Das geschieht wiederum RUHIG, WÜRDEVOLL und OHNE sich von Zuschauern beirren zu lassen. Dann wird der Trabant angelasssen. Das geschieht ruhig. Jedes Aufheulen ist zu vermeiden. Jetzt setzt sich der Zug in Bewegung, aber nur so schnell, wie der Dirigent laufen kann. Die Reise geht so weit wie möglich. Mindestens aber durch die Katharinenstraße bis zum Romanushaus, wo der Komponistenverband tagt.“113
Dazu erklärte Treibmann, dass er das Stück genau in der Zeit geschrieben habe, „wo dort diese Enge herrschte“.114 „2. Szene NOCTURNO. Ausführender: Ein Radfahrer. Ort: Marktplatz. Zeit: jederzeit, nach Möglichkeit bei Nebel. Vorgang: Um den hermetisch abgeriegelten Marktplatz fährt ziemlich schnell, nur manchmal erlahmend, ein Radfahrer in Regenmantel und Baskenmütze. Er zeigt in den Kurven die Richtung an. Er führt leise Selbstgespräche, die niemand hören kann. Die Szene ist beendet, sobald die hermetische Abriegelung von der Polizei aufgehoben wird. Im Sinne organischer Entwicklung dieses Vorganges sollte sie aber 2 bis 2 Stunden nicht unterschreiten.“115
111 112 113 114 115
Zit. nach: Ulrike Liedtke, Karl Ottomar Treibmann. Klangwanderungen, Altenburg 2004, S. 60f. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Zit. nach: Liedtke, Karl Ottomar Treibmann, 2004, S. 60f. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Zit. nach: Liedtke, Karl Ottomar Treibmann, 2004, S. 61.
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Treibmann ergänzte nach dem Vorlesen der Beschreibung, hier möglicherweise an einen Musikkritiker gedacht zu haben, er wisse es aber nicht mehr so genau.116 Diese zweite Szene zeigt eine weitere Tatsache, die zur Unspielbarkeit des Stückes beitrug, die Tatsache, dass die nicht beeinflussbare Kulisse, Nebel, eine andere als die der ersten Szene sein sollte. Interessanterweise spielt in dieser Szene auch Musik keine Rolle, es erklingt kein einziger Ton, was offensichtlich Treibmanns Sicht auf die Musikwissenschaft zeigt. Die 3. Szene nennt Treibmann AMABILE. Variation eines Themas von Paul-Heinz Dittrich und ergänzt erläuternd, dass er dabei an Aufführungen von Paul-Heinz Dittrichs Begegnungen durch die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ gedacht habe.117 „Ausführende: Ein Oboist und ein Posaunist. Ort: Marktplatz. Zeit: Beliebig. Vorgang: Die Spieler stehen an den Straßeneingängen zum Markt in weiter Entfernung diagonal gegenüber. Der Posaunist in Höhe Katharinenstraße, der Oboist in Höhe Petersstraße. Sie beginnen, musikalische LOCKPROZESSE auf ihren Instrumenten auszuführen. Als Anregung sollten Dittrichs ‚Begegnungen‘ dienen. Die Musik ist anfänglich äußerst zögerlich. Beide Spieler bewegen sich jetzt aufeinander zu, wobei ihre musikalischen Aktionen immer dichter und aufregender werden. Sobald sie aufeinanderstoßen, bricht die Musik ab. Die Spieler fallen sich in die Arme und verlassen engumschlungen den Marktplatz in Richtung Hainstraße. Dies alles geschieht ohne Beachtung der Menschen, die zur Zeit den Platz bevölkern und dauert nicht unter einer halben Stunde.“118
Der Oboist und der Posaunist sollten natürlich Burkhard Glaetzner und Friedrich Schenker sein und auch von diesen dargestellt werden. Treibmann meinte, dass bis hierhin alles die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ hätte machen können, nur die letzte Szene nicht.119 „4. Szene: HYMNUS. Ausführende: 1 Redner, 500 Schulkinder. Ort: Altes Rathaus, Marktplatz. Zeit: Beliebig zu jeder Zeit. VORGANG: Der Redner spricht vom Balkon des Rathauses monoton und ohne emotionale Rührung in ein Mikrophon Worte aus einer Erklärung.“120
Treibmann erklärte zu dem nun folgenden Text, dass er diesen aus einem Komponistenverbandspapier der siebziger Jahre zusammengestellt zerschnitten und collagiert habe.121 „… gilt nicht nur für das Wirken des Verbandes im Republiksmaßstab … im Zusammenhang mit den genannten Aufgaben, die sich aus den gesellschaftlichen Höhepunkten ergeben … zu denen jedoch alle Mitglieder einzuladen sind … stärkeres Gewicht … muß die theoretisch-ideologische Fundierung dieser Aussprachen erhalten … sondern zu ästhetischen Grundlagen unserer Musik116 117 118 119 120 121
Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Ebda. Zit. nach: Liedtke, Karl Ottomar Treibmann, 2004, S. 61. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Zit. nach: Liedtke, Karl Ottomar Treibmann, 2004, S. 61. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000.
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Analysen von Beispielwerken entwicklung vordringen ... insbesondere ist zu klären, daß Weite und Vielfalt unserer Kulturpolitik nicht Prinzipienlosigkeit bedeutet ... besonderes Augenmerk ist auf die Frage zu legen, wie in neuen Werken das Wesen und die Bedeutung der Arbeiterklasse als der führenden Klasse unserer Gesellschaft überzeugenden Ausdruck gefunden haben und inwieweit unsere Komponisten ästhetische Ansprüche der Arbeiterklasse als Orientierung für ihr Schaffen ... im Zusammenhang mit dieser Analyse des Auftragswesens … inwieweit Aufträge ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gerecht werden … daß neue Werke ihre soziale Funktion bei der Herausbildung einer dem Sozialismus gemäßen Lebensweise besser erfüllen ... ergeben sich … obwohl … ist nicht zu übersehen … die Arbeitsgruppe … der Vorbereitung der I: Bezirksmusikkonferenz der 4. Musiktage bei der Behandlung von Fragen …“122
Dies habe er alles in Wiederholungszeichen notiert und es solle wie ein Mechanismus in monotoner Weise runtergebrabbelt werden, aber sukzessive in der Lautstärke anschwellen.123 Dazu sollen 500 Schulkinder auf 500 Mundharmonikas das Lied „O du fröhliche“ spielen: „langsam, möglichst synchron, permanent wiederholend, alle Harmonikas in D-Dur. Der Monolog wird poco a poco verstärkt, bis trotz größter Mundharmonikaintensität der Harmonikaklang nicht mehr gehört wird, angesichts der übermächtigen Rede. Dauer: zwei bis drei Stunden, mindestens, je länger, desto überzeugender.“124 Im Sinne des postdramatischen Theaters ist dies eines der vielschichtigsten Stücke, Treibmann geht hier sehr weit in der konsequenten Enthierarchisierung von Musik und Szene, hier ist die Szene eindeutig wichtiger als die Musik. Der Aspekt der Überfülle an Dargebotenem kommt ebenso zum Tragen, wie der des absichtlichen Entzugs, letzteres besonders in der zweiten Szene mit dem einsamen Radfahrer. Körperlichkeit spielt ebenso eine große Rolle, die Körperlichkeit der Mitglieder der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ wird hier ausgestellt, besonders in der ersten und dritten Szene. Der Einbruch des Realen, die nicht eindeutige Trennbarkeit von Realität und Fiktion betrifft alle Szenen. Auch durch die Deckungsgleichheit von Dargestellten und Darstellern in Gestalt der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ ist die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen beiden Ebenen unterlaufen. Ebenso wird das Element des Ereignisses deutlich spürbar, das Ereignis ist hier wichtiger als ein wie auch immer geartetes musikalisches oder theatrales Werk, das für den Zuschauer nicht mehr fassbar ist.
122 123 124
Zit. nach: Liedtke, Karl Ottomar Treibmann, 2004, S. 61f. Gespräch der Autorin mit Karl Ottomar Treibmann in Leipzig am 21.2.2000. Ebda., vgl. die ausführlichere Beschreibung bei Liedtke, Karl Ottomar Treibmann, 2004, S. 62.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
5.4.3
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Von Sängern, Schauspielern, Tänzern und/oder Pantomimen ausgeführte text- und/oder bewegungsbedingte Szene
Die dritte Gruppe beinhaltet nun Werke, die außer den Instrumentalisten auch Sänger, Pantomimen, Tänzer oder Schauspieler einbeziehen, die die Texte interpretieren und/oder die Aktionen ausführen, wobei die einzelnen Aktionen aber keine einheitliche Handlung ergeben, sondern eine Reihung einzelner Bestandteile, wie beispielsweise in Reiner Bredemeyers Bilderserenade. Für die Komponisten bieten sich hier unterschiedlichste Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Sängern, Tänzern oder Schauspielern, zwischen diesen und den Instrumentalisten, die unterschiedlich stark in die Szene eingebunden werden, da sie ja nun nicht mehr die einzigen Träger der Szene sein müssen. Die Gestaltung der beim Musizieren entstehenden theatralen Komponenten verliert für manche Komponisten an Bedeutung. Einige Komponisten vertrauen die Gestaltung der szenischen Aspekte nicht den Sängern an, sondern beziehen außerdem einen oder mehrere Tänzer mit ein, die die entsprechenden Partien umsetzen. Dies ist unter anderem durch eine gewisse Skepsis gegenüber den darstellerischen Möglichkeiten der Sänger gegenüber begründet, so z. B. bei An Aphrodite von Ruth Zechlin. Zechlin komponierte das Stück zwischen Januar und Juni 1976. Es ist eine typische Szenische Kammermusik mit Sängern und Tänzern beziehungsweise Pantomimen und Instrumenten in der Besetzung Alt, Bariton, Pantomimen Mann und Frau, Flöte, Oboe, Posaune, Schlagwerk, Klavier (z. T. präpariert), Violine und Violoncello. Zechlin verwendete Texte von Sappho, Homer und Anyte, die in der Partitur auch abgedruckt sind. Gewidmet ist das Stück Hans Werner Henze. Erstaunlich mutet zunächst die Anweisung in der Partitur „Das Stück kann auch ohne Pantomime aufgeführt werden.“125 an. Dies ist allerdings ein häufiger auftretendes Phänomen, und wurde auch schon für Katzers Essay avec Rimbaud beschrieben. Mit dieser oder ähnlichen Anweisungen möchten die Komponisten ihren Stücken den Weg auch in die konventionelle Darbietung von Kammermusik offen halten, da szenische Werke oft nur von ausgewiesenen Spezialisten und daher selten aufgeführt wurden. Für häufigere Aufführungen nahmen die Komponisten also auch eine Rückkehr zu traditionellen Darbietungsformen in Kauf. Uraufgeführt wurde das Stück 1977 in Berlin zur VI. Musikbiennale. Die Choreografie stammte von Arila Siegert, die Kostüme und das Bühnenbild schufen Werner Schulz und Gerd Neubert. Neben den beiden Sängern traten nicht nur zwei Tänzer bzw. Pantomimen auf, sondern mehrere, denen konkrete Rollen, wie z. B. Aphrodite, Anchises, Sappho zugeordnet waren.126 Zechlin gibt in ihrer Partitur auch Anweisungen zum Bühnenbild und zu den Kostümen, die sie sich bei szenischer Aufführung vorstellt:
125 126
Ruth Zechlin, An Aphrodite, Leipzig: Edition Peters, 1976, o. Pag. Ruth Zechlin, An Aphrodite, Deutsches Musikarchiv Band Nr. 28-194, Mitschnitt der Uraufführung Berlin 25.2.1977.
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Analysen von Beispielwerken „Bühne: Podium umkleidet von hellblauem Stoff (Seide, Atlasseide). Eventuell an der Rückwand Kopf anbringen (antik oder Picasso). Hinter den Musikern kleines Podest. Wenn möglich hellblauer Halbvorhang. (könnte von Musikern bedient werden) Eventuell blauer Teppich für Pantomime. (Vor dem Podium). Sänger: weiße Togen Pantomimen: weiße Trikots.“127
Weitere interessante Anmerkungen Zechlins zur Gestaltung der szenischen Komponenten finden sich im Notentext. So notiert sie zum dritten Teil, dass die Pantomime die Gedanken des Textes ausdrücken soll128. Weiterhin möchte sie die Sänger, wenn sie denn dazu fähig seien, in das Spiel einbeziehen. Die Einschränkung bezüglich der Fähigkeit verdeutlicht die auch bei Zechlin vorhandene Skepsis gegenüber der szenischen Darstellungskunst der musikalischen Interpreten. Eine weitere Anmerkung Zechlins zeigt, dass sie sich die Pantomime möglichst als Schattenspiel wünscht.129 Außerdem liefert sie ausgedehnte Regieanweisungen zum Auftreten aller Beteiligten. Dies zeigt, dass sie die Szene im Kompositionsprozess stets mitgedacht und im Zusammenhang mit der Musik komponiert hat. Schon die erste Regieanweisung für den Beginn des Spiels verdeutlicht, dass Szene und Musik eine Einheit bilden: „... Altistin setzt sich – langsam schreitend – in Bewegung. Begleitet sich selbst mit Crotalen. Bei den letzten Tönen Ankunft auf dem Podium. (...) Tempo: wird sich nach dem Weg richten, den Altistin zurückzulegen hat. ...“130 Trotz ihrer detaillierten Anweisungen, möchte Zechlin die Aufführung von einem Choreographen eigens inszeniert sehen, wie ihre Anweisung zu Nr. 3 zeigt: „(Sollte die Sängerin pantomimische Begabung besitzen, so könnte sie vom Choreographen mitbewegt werden.)“131 Zechlin hat deshalb verschiedene szenische Aspekte – so die meisten Aktionen der Pantomimen – nicht vorgeschrieben, die Ausfüllung der einzelnen Nummern bleibt dem Choreographen überlassen. Zechlin konzentriert sich hauptsächlich auf den Beginn der einzelnen Teile und auf die Übergänge. Die Einwirkung der Szene auf die Musik, auch die szenische Organisation der Musik zeigt sich besonders in Regieanweisungen, die die Akteure auffordern, den Musikern Einsätze zu geben. Dies betrifft beispielsweise die Altistin am Ende des dritten Teils und den Pantomime-Mann oder den Bariton am Beginn des vierten Teils: „Pant.-Mann winkt Instrumente ab, gibt Posaunen-Einsatz, und setzt sich damit in Bewegung (Ohne Pant.: Bariton winkt ab, gibt Neueinsatz.)“132 Zechlins Singstimmenbehandlung verwendet verschiedenste Arten von notiertem Gesang, Sprechgesang, Sprechen ohne jegliche Rhythmus- oder Tonhöhenfixierung, 127 128 129 130 131 132
Zechlin, An Aphrodite, 1976, o. Pag. Ebda., S. 12. Ebda. Ebda., S. 1. Ebda., S. 12. Ebda., S. 14.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
225
weiterhin Sprechgesang mit genauer oder ungefährer Tonhöhenangabe, Singen mit halber Stimme. Das Tempo der Musik richtet sich teilweise nach dem Text und seiner „natürlichen Deklamation“133. Es werden neben dem Text der oben genannten Dichter auch Vokalisen verwendet. Den ersten Teil, den Einzug bzw. die Introduktion bestreiten die sich mit Crotalen begleitende Altistin und der Tam-Tam-Spieler in der Art einer Prozession, alle anderen Mitwirkenden befinden sich bereits auf oder in der Nähe des Podiums. Die Altistin bewegt sich während dieser Musik vom Eingang des Konzertsaales bis aufs Podium, am Ende soll sich der Vorhang öffnen, wenn vorhanden.134 Der Gesang der Altistin basiert auf Vokalisen, wobei Tonrepetitionen mit Glissandi, dreiklangsartigen Figuren und virtuosen Vorschlägen wechseln. Der zweite Teil hat eine Anrufung Sapphos An Aphrodite als Textgrundlage. Die Altistin wird hier von Flöte, Oboe, Violine, Violoncello, präpariertem Klavier und Schlagwerk begleitet. Zuerst entsteht durch Wechseltonpassagen eine leise Klangfläche, zu der die Altistin einen lang ausgehaltenem Ton bringt. Es folgen Schlagwerkeinwürfe. Die Altistin bietet den Text dann in einer Art rezitativischen Singens dar, wobei der Hauptrezitationston in der Tonhöhe öfter wechselt. Alle Instrumente beteiligen sich mit Einwürfen verschiedener Figuren, die von Zechlin zum Teil auch zur aleatorischen Behandlung notiert sind. Neben den rezitativischen Passagen finden sich auch solche mit großen Intervallsprüngen sowie frei gesprochene Abschnitte. Eingeschoben ist eine Passage135 in der nach den anderen Instrumenten auch das Klavier aufhört, den gesprochenen Text zu begleiten, und ähnlich der Einleitung die Altistin nun mit Crotalen oder Gong wieder selbst ihren rezitativischen Gesang begleitet. Nach einer aleatorisch gearbeiteten Passage aller Instrumente folgt eine weitere Text-Strophe, jetzt rezitativisch dargeboten aber mit sehr großen Intervallsprüngen, die mit einer Vokalisenphrase der Altistin, gekennzeichnet durch Glissandotremoli nur begleitet von den Bambusstäben, endet.136 Die Nummer drei bezieht sich auf die vorhergehende Nummer dadurch, dass die Pantomime laut Regieanweisung die Gedanken des Sappho-Textes ausdrücken soll.137 Die Altistin begleitet dies mit Vokalisen, die hauptsächlich Triller, Glissandi und große Sprünge beinhalten, dazu kommen Flöte, Oboe, Schlagwerk sowie am Ende Violine und Violoncello. Flöte und Oboe erzeugen durch Sechzehntelfiguren einen Klangteppich, das Schlagwerk setzt einzelne rhythmische Akzente dazu. Der Schluss ist ein vokales Solo der Altistin mit chromatischem Abwärtsgang, die Sängerin gibt an dessen Ende die Einsätze für ausgehaltene Töne h an Flöte, Oboe, Vibraphon, Klavier, Violine und Violoncello und Zechlin notiert die Regieanweisung: „auf den gemeinsam erreichten Ton h erscheinen Bariton und Pant.-Mann.“138 133 134 135 136 137 138
Ebda., S. 15. Ebda., S. 1. Ebda., S. 9. Ebda., S. 12. Ebda., S. 12. Ebda., S. 14.
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Analysen von Beispielwerken
Die Nummer vier mit dem Text von Homer wird vom Bariton und Pantomimen-Mann gestaltet, beginnt aber mit einem virtuosen Posaunensolo.139 Der Bariton bietet den Text zunächst gesprochen dar, wobei die Gestaltung zuerst nur am Sprachrhythmus orientiert sein soll und später auch notiert ist, teilweise mit ungefähren teilweise mit genauen Tonhöhen, teilweise mit genauem Rhythmus, teilweise am Sprechrhythmus orientiert, oder ganz gesungen sowohl sotto voce als auch voce. Die Instrumente erzeugen dazu aleatorisch entstehende oder aus Haltetönen bestehende Klangflächen.140 Als Zwischenteil wird wieder ein Posaunensolo gebracht.141 Darauf setzt wieder der ariose Gesang des Baritons ein, begleitet von den Instrumenten, wobei stellenweise sehr genau rhythmisch und melodisch notiert ist, teilweise aber auch nur durch Zuordnung bestimmter Töne zu bestimmtem Text, die rhythmische und metrische Ausführung freilassend. Zum Teil richtet sich das Tempo der Instrumente wieder nach der Deklamation des Baritons, hier unterlegt u. a. mit einer Schlagzeug-Improvisation. (Vgl. Notenbeispiel 18) Dies wird auch mit anderen Instrumenten aleatorisch weitergeführt,142 wobei sich gleichzeitig ein Dialog zwischen Flöte und Violine aus 32telfiguren entspinnt. Diese aus improvisierten und aleatorischen Elementen zusammengesetzte Phase reicht vom Wiedereinsatz des Baritons bis zum Ende der Nummer. Im fünften Teil sind Altistin, Bariton und Pantomimen-Frau besetzt, letztere hat laut Regieanweisung nur folgende Aufgabe, die sich über die ganze Nummer erstrecken soll: „Pant.-Frau geht auf das Podium zu, besteigt es langsam (Ziel: Statue).“143 Der AnyteText als Duett von Bariton und Altistin gestaltet, auch hier wieder mit unterschiedlichen Gesangsarten und mit instrumentaler Begleitung. Zechlin vermerkt genau, wann die Pantomimin das Podest hinter den Musikern langsam besteigen, allmählich zur Statue werden und so stehen bleiben soll. Am Ende des Teiles klingt nur noch das Duett ohne Begleitung, die Musiker gehen schon an die „Abgangsseite des Podiums“. Beim Übergang zum sechsten Teil setzen sich alle außer der Statue langsam in Bewegung und verlassen, angeführt von der Altistin, langsam den Saal. Dazu soll eine freie Improvisation aller Mitwirkenden über sieben vorgegebene Töne: a h b c h a gis stattfinden, wozu Zechlin die Anweisung gibt: „Reihenfolge ad libitum, singen auf Vokale oder summen.“ Als Zeichen des Endes soll, wenn alle den Saal verlassen haben, ein Gong ertönen.144 Die Rahmung erreicht Zechlin durch Einzug und Auszug der Mitwirkenden sowie durch die Errichtung einer Bühne, die die Darstellung eindeutig im Raum positioniert. Postdramatische Aspekte der Körperlichkeit, hier als Spiel mit sängerischer und körperlicher Darstellung durch die Aufteilung in Sänger und Pantomime, aber auch Nonhierarchie und Ereignishaftigkeit sind hier deutlich.
139 140 141 142 143 144
Ebda. Ebda., S. 15–17. Ebda., S. 20. Ebda., S. 23 f. Ebda., S. 29. Ebda., S. 34f.
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Notenbeispiel 18: Ruth Zechlin, An Aphrodite, Leipzig: Edition Peters, 1976, S. 23, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
In ihrer Rezension für Musik und Gesellschaft schrieb Liesel Markowski, dass die Vereinigung von Musik und tänzerischer Pantomime nicht recht geglückt und die pantomimische Darstellung phantasielos und abstrakt gewesen sei. Sie schrieb dies aber nicht der ihrer Ansicht nach interessanten Musik zu, sondern der szenischen Umsetzung, die Uwe Kreyssig (szenische Einrichtung) und Arila Siegert (Choreographie) verantworteten:
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Analysen von Beispielwerken
„Die langatmige theatralische Umsetzung beeinträchtigte bedauerlicherweise die Wirksamkeit dieser Uraufführung.“ 145 Reiner Bredemeyer komponierte seine Bilderserenade (Serenade 4) 1976 als Auftragswerk der Komischen Oper Berlin, uraufgeführt wurde sie 1979 im Festsaal des Leipziger Alten Rathauses durch die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ unter der Leitung von Christian Münch und die Mezzosopranistin Roswitha Trexler. Auch dieses Stück ist eine typische Szenische Kammermusik, die von bildender Kunst ausgeht, diese auf ihre Weise darstellt und daraus die Szene entwickelt. Das von Bredemeyer verwendete Verfahren ist einmalig und kommt weder bei ihm noch bei anderen Komponisten noch einmal vor. Die Besetzung des Stückes besteht aus einem Mezzosopran, je einer männlichen und weiblichen Pantomime, sowie Flöte (auch Alt- und Blockflöte), Oboe (auch Englisch Horn), Posaune, Violine, Violoncello, Klavier und Schlagzeug. Bredemeyer verwandte Texte der Dichterin Julie Schrader, sowie vier Gemälde mit Darstellungen von Musizierenden. Diese Gemälde sind: Gambenspieler von Gabriel Metsu, Spanisches Ständchen von Carl Spitzweg, Musikszene aus dem Grab des Nakht (Ägypten, 18. Dynastie) und La parade (Ausschnitt) von Georges Seurat.146 Ute Wollny beschreibt im Vorwort der Partitur die szenische Komponente des Stückes, die dadurch entsteht, dass die Bilder von den Musikern mit wenigen Requisiten nachgestellt werden sollen und diese dann in der dargestellten Pose musizieren sollen, wobei keine stilistische Wirklichkeitstreue angestrebt sei. Zu jedem Bild habe Bredemeyer jeweils eine kommentierende Ebene mit begleitendem, kontrapunktierendem Charakter geschaffen, die die am Bild nicht beteiligten Instrumente ausführen, wobei Bredemeyer von einem anekdotischen Interpretationsansatz ausgehe und nicht von kunstwissenschaftlicher Bildinterpretation. Es sei eine Art Schnappschuss auf das Davor und Danach befragt worden. Wollny rückt den absurd-grotesken Verlauf der entstehenden Kurzgeschichten in die Nähe von Valentinscher Situationskomik. Alle vier Teile haben das Unterbrechen und Scheitern von Musikdarbietungen zum Gegenstand.147 Bredemeyer notiert Regieanweisungen besonders für die Pantomime, aber auch für Instrumentalisten, dies betrifft unter anderem Blicke, Gesten und ähnliches. Von den vier Nummern, sind die zweite und vierte mit Texten von Julie Schrader gestaltet, Nummer eins und drei verwenden Vokalisen. Das erste Stück, nach dem Gemälde von Metsu, stellt die Sängerin, den Pantomimen und das Violoncello als Darsteller der Protagonisten des Bildes einer Instrumentalgruppe gegenüber, die aus Violine, Flöte, Oboe, Posaune, Klavier und Schlagzeug besteht. Während die Bildgruppe versucht, die Pose einzunehmen, wird sie in ihrem Ver-
145
146 147
Liesel Markowski, Konzerte im TiP und Maxim-Gorki-Theater mit Uraufführungen von Zechlin und Wilbrandt, in: Zum 6. Mal: Musik-Biennale Berlin, in: Musik und Gesellschaft 27, 1977, S. 257–282, hier S. 272. Reiner Bredemeyer, Bilderserenade, Leipzig: Edition Peters, 1988, o. Pag. Vgl.: Ute Wollny in: ebda., o. Pag.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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such der musikalischen Darbietung von der Gegengruppe immer wieder musikalisch unterbrochen. Es beginnt die Gegengruppe, die nach Einwürfen einzelner Instrumente sich zu einer Abfolge von Begleitfiguren zusammenfindet, worauf erstmals das Cello einsetzt, das sofort vom Herunterfallen des Notenblattes und Umkippen des Hundes (gehört mit zum Bild) unterbrochen wird, Flöte und Oboe wiederholen Begleitfiguren. Nachdem der Pantomime den Hund aufgestellt und das Notenblatt aufgehoben hat, erfolgt ein einziges Mal die Bildpose. (Vgl. Notenbeispiel 19) Die Sängerin setzt auf „m“ mit einer langen Note ein, auf die eine ausladende Figur folgt – sie singt sich ein. Im weiteren Verlauf des Stückes können Sängerin und Cello nicht zueinander finden. Das Cello variiert verschiedene Begleitfiguren, auch die anderen Instrumente intonieren hauptsächlich Begleitfiguren, wie Liegetöne, Arpeggien, Akkorde u. a. Unter ff-Akkorden der Gegengruppe geht die Sängerin schließlich beleidigt ab, während das Cello, nach Abgang der anderen Instrumentalisten eine Solokadenz folgen lässt, die mit einem langen Halteton direkt in Nummer zwei überleitet. Diese Nummer, in der Partitur mit „Ägypten“ überschrieben, hat eine Musikszene aus dem Grab des Nakht zu Vorlage. Die Bildpose wird hier von Sängerin, Pantomime und Violine gebildet, die außerdem noch Blockflöte und Triangel bedienen. Der Text bringt die Geschichte von Cäsar und Nofretete in Bänkelsängermanier. Die an der Bildpose Beteiligten erhalten die Gelegenheit, zwei Strophen des Liedes vorzutragen, bevor sich die andere Gruppe der Instrumente (Alt-Flöte, Oboe, Posaune, Cello, Klavier, Schlagzeug) mit lauten Figuren und langen leisen Haltetönen einschaltet, was von den Bilddarstellern mit „Protest-blicken“148 beanwortet wird. Das Einnehmen der Bildpose wird so mehrfach unterbrochen. Es folgen die Strophen drei und vier, auch hier wird der Gesang von der Violine begleitet, die Pantomime bedient Blockflöte und Triangel. Nach der sechsten Strophe kommt es wieder zu einer Intervention der Gegengruppe, Posaune und Violoncello werfen forte-glissandi ein. Die Beteiligten der Bildpose quittieren dies mit „Protest-haltung“149, setzen dann aber mit der siebten Strophe fort, an deren Begleitung sich nun auch andere Instrumente als die Violine beteiligen. Dies gilt ebenso für die letzte Strophe, an deren Ende die Posaune unmotiviert und in völliger Fehlinterpretation des tragischen Endes der Geschichte mit dem Triumphmarsch aus Aida einsetzt, worauf die an der Bildpose Beteiligten entsetzt die Flucht ergreifen. Der Rest der Nummer wird zum „Umbau“ für die dritte Nummer genutzt, u. a. zum Instrumentenwechsel. Den Auftritt der Beteiligten zur nächsten Bildpose hat Bredemeyer hier mit aleatorisch wiederholten Auftrittsfiguren gestaltet.
148 149
Ebda., S. 10. Ebda., S. 16.
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Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 19: Reiner Bredemeyer, Bilderserenade, Leipzig: Edition Peters, 1988, S. 3, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Die Nummer drei nimmt einen Ausschnitt aus Spitzwegs Spanischem Ständchen zu Vorlage, die Bildpose stellen hier Alt-Flöte, Englisch Horn, Violine, Pantomime und Violoncello dar. Statt der Sängerin produziert hier der Pantomime stellenweise Töne, die aber nur die rhythmische Begleitung der Melodieinstrumente unterstützen. Außerdem gestikuliert der Pantomime stumm, ein Sänger ist aber auf dem Bildausschnitt auch nicht vorgesehen. Posaune, Klavier und Schlagzeug bilden die Gegengruppe, die verschiedene Akkorde, auch Cluster, Figuren usw. einwirft. Die letzte Nummer verwendet La Parade von Georges Seurat. Hier ist die Sängerin, die als Anweisung vor ihrem ersten Einsatz „Geschichte“ und „bedeutend“ notiert hat,
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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zusammen mit Violine, Violoncello, Klavier und Schlagzeug der Gegengruppe zugeordnet, während Blockflöte, Oboe, Pantomime und Posaune die Bildgruppe darstellen. Beide Gruppen sind metrisch gegeneinander verschoben, die Bildgruppe ist immer „zu spät“. Im Text-Schluss „... alles alles ist Geschichte die sich nicht mehr ändern läßt.“150 tritt die Posaune auf und bringt mit der Bildgruppe das Stück musikalisch zu Ende, wobei die Gegengruppe aber das letzte Wort behält mit einem zweitaktigen an der Anfang von Mozarts Serenade KV 239 angelehnten Quasi-Zitat, das auch eine Schlussformel darstellt.151 Im Programmheft zum Konzert der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ von 1979 im Hygienemuseum in Dresden, notierte Bredemeyer folgende Einführung in sein Stück, die seine Intention der szenischen Konzeption beschreibt152: „Vier Bilder, die Musiker, die Musik produzierend, darstellen, sind das optische und musikalische Gerüst der Serenade. Die Gruppierungen der einzelnen Bilder werden von den jeweils anderen begleitet, kontrapunktiert oder ergänzt. Die verwendeten Texte der Julie Schrader dürfen nicht karikiert werden: Komisch ist ihre Seriosität. Zeitstile sind nicht Material der Serenade. Die Einbeziehung des Szenisch-Optischen, ja Theatralischen ins Musikmachen scheint mir ein nicht unwesentlicher Faktor auch für die Rezeption. Gestisches kann häufiger akzentuiert erscheinen und das Hören unterstützen, ja erleichtern.“153
Diese Erleichterung der Rezeption durch den Einbezug der optischen Ebene bestätigte Gerd Schönfelder, der betonte, dass zeitgenössische Musik durch Optisches leichter verständlich gemacht werden kann und dies hier gelungen sei.154 Die Verwendung der Bilder rahmt das Stück von Bredemeyer und zeigt gleichzeitig die Wirkung postdramatischer Aspekte wie Szenisierung und visuelle Dramaturgie. Auch die Körperlichkeit der Musiker, die sich ja in die Abbildung bildlicher Darstellungen einbringen wird akzentuiert, hier spielt die Parallele zu den tableaux vivants des 19. Jahrhunderts eine Rolle, die ebenso Verkörperung von darstellender Kunst waren. Ein Beispiel für das nachträgliche Hinzufügen einer szenischen Darstellungsebene zu einem vokal-instrumentalen Stück ist Eckehard Mayers Liederzyklus Cantos de amor. Auf Texte von Gabriela Mistral komponierte er 1979 für die Besetzung Alt (Mezzosopran), Oboe, Bassklarinette, Harfe und Streichtrio eine Kammermusik, die ursprünglich nicht szenisch angelegt war und 1981 in Dresden als Auftragswerk der Dresdner Staatskapelle 150 151
152 153
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Ebda., S. 39. Ebda., S. 39, vgl. dazu Frank Schneider, Neue Werke unserer Komponisten: Reiner Bredemeyer: Bilderserenade, in: Musik und Gesellschaft 29, 1979, S. 414–418, hier S. 418. Vgl. dazu Kap. 5.1. Reiner Bredemeyer über seine Bilderserenade, in: Programmheft Konzert „Instrumentales Theater“ Der Gruppe neue Musik „Hanns Eisler“, Hygiene-Museum Dresden 2.6.1979, o. Pag. Gerd Schönfelder, Kammerkonzerte mit 12 Uraufführungen von DDR-Komponisten, in: Die zweiten Dresdner Musikfestspiele, S. 473–492, in: Musik und Gesellschaft 29, 1979, S. 486–488, hier S. 486.
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Analysen von Beispielwerken
im 6. Kammerabend der Staatskapelle als konventionelle Kammermusik uraufgeführt wurde. Mayer bezeichnete aber die sehr persönlichen Texte als „ausgesprochene Szenen“. Diese vokalen Szenen verband er durch instrumentale Ritornelle.155 Das Stück sollte aber zu den DDR-Musiktagen in Berlin aufgeführt werden, dies kam durch die Altistin Elisabeth Wilke und Mitglieder der Dresdner Staatskapelle auch zustande. Da das entsprechende Konzert am 22.2.82 im Apollo-Saal der Berliner Staatsoper zu den 5. DDRMusiktagen den Titel Szenische Kammermusik tragen sollte, habe sich auch Mayer verpflichtet gefühlt, szenische Aspekte in sein Stück einzufügen, indem er die zwischen den einzelnen Gesangsnummern stehenden Ritornelle vertanzen ließ. Er habe die Szene aber weder vorgeschrieben noch selbst entwickelt und sei auch nicht sehr glücklich damit gewesen.156 Er erläuterte im Gespräch, dass er die szenische Komponente damals als „an den Haaren herbeigezogen“ empfunden habe, fügte aber an, dass man sich im Nachhinein dazu bekennen sollte, denn von der Gestik und vom Ablauf her habe das Stück etwas mit Szene zu tun, ohne dass es plakativ naturalistisch ist. Die Texte und der Gesang der Frauenstimme seien sehr emotional und dramatisch und gingen vielleicht ein wenig in Richtung von Schönbergs Erwartung, in Richtung monologisierende Oper. Die Ritornelle – kleine Zwischenspiele mit Tanzcharakter – habe Mayer eingefügt, um die Texte etwas aufzuhellen und auch zur Entspannung. Um der Vorgabe des Szenischen für das geplante Konzert zu entsprechen, wurden die Ritornelle dann von einem als Clown kostümierten Tänzer getanzt. Mayer habe dies ganz gut gefallen, aber für ihn sei immer die Frage, inwiefern das notwendig sei, da das Stück auch ohne den Tanz wirke. Das Thema Szenische Kammermusik fand Mayer für sein Stück etwas aufgesetzt, hat sich ihm dann aber angepasst. Die Ritornelle seien Zwischenspiele, die eigentlich von sich aus wirkten. Ihm habe bloß nicht gefallen, dass die Gedichte und Szenen damit nichts zu tun hatten, es müsste dann eher eine Figur noch durch das ganze Stück gehen, dies sei aber eine schwere Sache.157 In ihrer Kritik für Musik und Gesellschaft158 beschrieb Gisela Nauck das Stück als expressiv, Schönbergs dodekaphoner Tonsprache verpflichtet und „Gesang, Tanz und Instrumentalmusik zu einem insgesamt abgerundet erscheinenden Ganzen“ verbindend. Die Ritornelle waren als Tänze eines „einsamen Pierrot“ gestaltet, die Sängerin Elisabeth Wilke habe aber, trotz guter sängerischer Leistung, den Pierrot lunaire-Tonfall nicht so recht getroffen.159
155 156 157 158
159
Gespräch der Autorin mit Eckehard Mayer in Dresden am 14.12.1999. Ebda. Ebda. Gisela Nauck, Musik und Szenisches, S. 268–270, in: DDR-Musiktage 1982, in: Musik und Gesellschaft 32, 1982, S. 257–76, hier S. 270. Ebda.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Ralf Hoyers Allgemeine Erwartung. Aktion für zwei Klaviere und einen Schauspieler, komponiert 1979, uraufgeführt 1980 im Berliner Ensemble besitzt Bedeutung für die Entwicklung der Szenischen Kammermusik nicht nur in musikalischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die besondere Betonung der gesellschaftlichen Relevanz, die für Hoyer nach seinen Aussagen bei der Komposition des Stückes mit im Vordergrund stand. Das Stück stellt einen Versuch Hoyers dar, „sich mit unseren gesellschaftlichen Verhältnissen auseinanderzusetzen“160, wobei ihm die Texte von Volker Braun besonders wichtig waren, gerade auch der Text Allgemeine Erwartung. Hoyer war der Meinung, dass man in gewisser Weise die Aufgabe habe, das System zu reformieren, zu erweitern oder es zu ermöglichen, dass auch kritische Gedanken geäußert wurden. Hoyer berichtete dann weiter von der zwiespältigen Aufnahme, die das Stück im Komponistenverband fand. Hoyer findet, dass dieser Text sehr stark sozialistisch sei, da es ja um jemanden gehe, der sich um dieses Land bemüht, da zu arbeiten, und er stelle sich immer die Frage: was mache ich eigentlich hier? Viele hätten aber gemeint, so etwas dürfe man nicht fragen. Während der DDR-Musiktage 1984 sei ein Mitschnitt und daraus eine Fernseh-Sendung gemacht worden, die dann aber nicht gesendet werden durfte und verboten war. Später habe es an der Akademie der Künste einen Musiktheaterworkshop gegeben, bei dem das Video inoffiziell gezeigt worden sei. Es habe aber nicht darüber berichtet werden dürfen161. Das Stück hat Hoyer für einen Schauspieler und zwei Pianisten konzipiert, wobei die szenische Komponente aus dem schauspielerischen Vortrag und den Bewegungen des Schauspielers zwischen unterschiedlichen Positionen im Raum entsteht. In der Partitur finden sich genaue Anweisungen für diese Aktionen des Schauspielers. Hoyer formuliert dazu im Vorwort: „Der schauspielerischen Gestaltung sind keine Grenzen gesetzt. Der gesamte Part, so wie er hier notiert ist, stellt einen Interpretationsvorschlag dar. Auch andere Ausführungen wären denkbar, sofern sie dem vorliegenden Gestus entsprechen.“162 Auch auf der Tonaufnahme sind die Aktionen des Schauspielers deutlich hörbar und nachvollziehbar, teilweise auch durch die Reaktionen des Publikums. Das Verhältnis der Musik zum Text ist sehr unterschiedlich gestaltet, so wird der Text durch die Musik direkt kommentiert oder die Musik ist musikalische Reflexion des Textes. Die Klaviere sind beide präpariert, teilweise mit Heftpflaster und mit Gummikeilen, außerdem werden noch weitere Utensilien benötigt, so Tücher zum Abdämpfen der Töne, Holzkeile zum Blockieren des rechten Pedals, Gegenstände zum Klopfen, Gummi- und Filzschlegel, Pergamentpapier, eine Bürste, eine Kette, die auf die Saiten des Flügels geworfen wird,163 und ein Plektrum. Hoyer schreibt die Art der Präparation in der Partitur genau vor. Dabei spielen nicht nur die beiden Pianisten auf den Flügeln, 160 161 162 163
Gespräch der Autorin mit Ralf Hoyer in Berlin am 29.2.2000. Ebda. Ralf Hoyer, Allgemeine Erwartung. Aktion für zwei Klaviere und einen Schauspieler, Manuskript, 1979, S. 4. Ebda., S. 20 Das Motiv der Kette, die in den Flügel/das Klavier o. ä. geworfen wird, findet sich interessanterweise in verschiedenen hier besprochenen Stücken u. a. von Katzer, Krätzschmar und Jung.
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Analysen von Beispielwerken
sondern auch der Schauspieler beteiligt sich, indem er beispielsweise mit Filzschlegeln auf den Saiten des Klaviers spielt.164 Der Part des Schauspielers ist von Hoyer rhythmisch nicht fixiert. Im Vorwort der Partitur weist er aber auf die drei Darbietungsformen hin, die auftreten: sprechen, singen mit unbestimmter und singen mit bestimmter Tonhöhe. Der Positionswechsel im Stück betrifft nicht nur den Schauspieler, sondern auch die Pianisten, die teilweise auch an einem Instrument vierhändig spielen. Hoyer verwendet hier aleatorisch gestaltete Passagen, um diesen Wechsel zu überbrücken.165 Hoyer nutzt die Musik hauptsächlich zur Untermalung des deklamierten Textes, es werden stilisierte Fabrikhallenanklänge erzeugt, permanente Geräusche die ausgesprochen motorisch und monoton gestaltet sind. Aus Liegeklängen, schnellen Figuren sowie schnellen und lauten Tonrepetitionen entsteht das musikalische Hauptmerkmal des Stückes, ein motorisches Klangband, das nur sehr selten unterbrochen wird, zum Beispiel an der Textstelle „die Ventilatoren sind ausgefallen“166, die Textaussage wird hier also durch die Musik unterstützt. Neben diesem Klangband fügt Hoyer zwei freie Aktionen in sein Stück ein. (Vgl. Notenbeispiel 20) Zur ersten Aktion gibt er die Anweisung: „Die einzelnen gegebenen Elemente überlagern sich völlig unabhängig voneinander. Auswahl, Reihenfolge und Länge der Elemente sollen die Spieler am Klavier I unter Berücksichtigung des Textes selbst bestimmen. Angestrebt werden soll eine kollektive Improvisation des Schauspielers und der beiden Pianisten mit expressivem Charakter, wobei auf genügend Ruhepunkte geachtet werden muss.“167
Während die Pianisten die vorgeschlagenen Elemente umsetzen, bringt der Schauspieler Text, den er teilweise ins Klavier hineinruft, in einzelne Laute zerlegt usw. Er wechselt dabei auch die Positionen und agiert zusätzlich im Klavier. Die zweite freie Aktion168 ist vom Ablauf her ähnlich wie erste angelegt, arbeitet aber mit anderen Elementen. Im letzten Teil des Stückes169 finden sich häufigere Unterbrechungen des Klangkontinuums, so zu der Textstelle „Was eigentlich ist zu erwarten?“, die dann auf „Was?“-Rufe reduziert wird und immer kürzere Klavieraktionen sowie immer längere Pausen nach sich zieht. Darauf folgt ein „Interludium“170 für zwei Klaviere, für das Hoyer vorschreibt: „Das Interludium besteht aus zwei separaten Klavierstücken unterschiedlichen Charakters, die zunächst jedes für sich vorgestellt werden, dann völlig unabhängig voneinander gleichzeitig erklingen und schließlich in eine Improvisation münden.“171 164 165 166 167 168 169 170 171
Ebda., S. 8. Ebda., S. 9. Ebda., S. 21. Ebda., S. 25. Ebda., S. 32. Ebda., S. 35–37. Ebda., S. 38ff. Ebda., S. 37.
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Notenbeispiel 20: Ralf Hoyer, Allgemeine Erwartung, Manuskript, 1979, S. 25, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Zur gleichzeitigen Darbietung und darauf folgenden Improvisation schreibt Hoyer dann: „Beide Klavierstücke werden nun völlig unabhängig voneinander gleichzeitig gespielt, wobei Tempo, Dynamik und Artikulation gegenüber der Vorlage verändert werden können. Nach ca. 2/3 der Dauer der Stücke soll eine Intensitätssteigerung erfolgen, die schließlich zu einer gemeinsamen Improvisation führt. Ausgangsmaterial für diese Improvisation sind: 1. kurze Ausschnitte aus dem eigenen Stück und 2. spontane Nachahmungen dessen, was der andere Pianist gerade gespielt hat, wobei es hier nicht auf die exakten Tonhöhen, sondern auf den Gestus der jeweiligen Phrase ankommt.“172
Gerade in diesem Stück wird der Aspekt der Verständigung über damals diskutierte Probleme als Antrieb zur musikalischen Auseinandersetzung mit einem solchen Text deutlich. Die „Diskussion“ im Theater ersetzte die fehlende Debatte in den Medien, die ihre Funktion diesbezüglich meist nicht wahrnehmen konnten. Ralf Hoyer schrieb über sein Stück: „Es war mir klar, daß es sich hierbei nicht um eine Textvertonung im üblichen Sinne wird handeln können: Es müssen Bewegungen auf der Bühne stattfinden; hier muß ein Instrumentarium her, das vielseitig einsetzbar und mit dem zugleich äußerste Homogenität im Klanglichen sowie eine große dynamische Spannweite erreichbar ist usw. Dies schien mir mit dem Einsatz von zwei Klavieren gegeben zu sein, zumal durch spezielle Präparationen der Instrumente deren klangliche Möglichkeiten erweitert werden können. Die Gestaltung des Soloparts würde dem Ausführenden über die schauspielerischen Anforderungen hinaus sicherlich ein hohes Maß an Sensibilität gegenüber dem musikalischen Geschehen abverlangen.“173
Zur entstandenen Musik ergänzte er, dass sie sowohl direkt kommentierend, als auch als Reflexion über das Geschehene gestaltet sei, dass die Musik durch den Text prädeterminiert sei, aber der Text durch die Musik das „Bedürfnis, Zeit für musikalische Reflexionen zu lassen,“ erwecke.174 Im Laufe der Komposition sei eine andere Gliederung als in Volker Brauns Text vorgegeben entstanden, die vorliegende Dreiteiligkeit sei bei Braun nicht zu finden. Sein Ziel sei es gewesen, den Text nicht in der Art eines Liedes zu komponieren, sondern ihm Eigenständiges zu geben.175 Die postdramatischen Aspekte des Stückes lassen sich eindeutig in Bezug auf die durch die Bewegung des Schauspielers und auch seine expressive Gestaltung des Textes entstehende Körperlichkeit beschreiben. Auch eine gewisse Überfülle des Dargebotenen, so u. a. im gleichzeitigen Erklingen zweier eigenständiger Klavierstücke, ist hier 172 173 174 175
Ebda., S. 42. Hoyer, zu: Allgemeine Erwartung, Manuskript, S. 1. Ebda., S. 2. Ebda.
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festzustellen. Durch das Heraufbeschwören des Fabrikalltags bricht die Realität in diese Darstellung ein, besonders auch durch die Tatsache, dass der Schauspieler häufig gegen die Fabrikgeräusche anschreien muss, um sich verständlich zu machen. Dies prägt auch den Ereignischarakter des Stückes. Thomas Hertels Hölderlin-Report entstand 1981 und wurde 1981 in Dresden auch uraufgeführt. Eine weitere Aufführung fand 1982 im Konzert Szenische Kammermusik zu den 5. DDR-Musiktagen in Berlin mit Friedrich-Wilhelm Junge und dem Ensemble musica viva dresden statt. Die Besetzung besteht aus einem Sprecher und einem Instrumentalensemble mit Flöte (auch Piccolo), Oboe, Englisch Horn, Klarinette (auch Bassklarinette), Horn, Trompete, Posaune, Streichern (jeweils zwei 1. und 2. Violinen, Violen und Violoncelli sowie ein Kontrabass) und vier Schlagwerken. Für eine Szenische Kammermusik ist dies eine sehr große instrumentale Besetzung. Die Szene entsteht einerseits bereits durch die Aufstellung selbst und andererseits durch die Bewegung des Schauspielers im Raum. Der Text stammt von Karla Kochta, der Librettistin von Hertels Kammeroper Leonce und Lena, unter dramaturgischer Mitarbeit des Schauspielers Friedrich Wilhelm Junge, der dann auch Interpret des Stückes war. Kochta verwendete dafür Briefstellen und Gedichte von Hölderlin. Am Beginn der Partitur gibt Hertel genaue Anweisungen zur Aufstellung der Instrumente in stumpfem Winkel, davor sollen zwei Sprecher-Pulte stehen, sowie rechts und links ein Schlagwerk, wiederum davor der Dirigent. Die anderen Schlagwerke sind so im Raum verteilt, dass sie um die Zuschauer herumstehen. Der Part des Sprechers ist meist in Rhythmus und relativer Tonhöhe notiert, es finden sich aber auch Stellen, an denen nur der Text ohne Rhythmus mit einer ungefähren Zuordnung zu Takten und mit Angabe der Stimmlage notiert ist. Für den Schauspieler existieren auch genaue Textausspracheregeln. Weiterhin notiert Hertel differenzierte Regieanweisungen für den Sprecher, die vor allem seine Gestik betreffen. Mit kleinen Skizzen und durch Beschreibung der jeweiligen Posen ist diese Gestik ganz konkret festgelegt. Beispielsweise ist notiert: „Unterarme über der Brust gekreuzt, Hände auf den Schultern“176, „Hände allmählich an den Oberarmen heruntergleiten lassen“177, „um das Orchester außen herum in hektisch bizarrem Bogen laufen“178, „von der Rampe zu Publikum vorbeugen“179, „langsam zur Rampe links nach vorn kommen, auf Stuhl setzen, Beine übereinander geschlagen“180. Der Schauspieler bewegt sich also um das Orchester herum, steigt auf einen Stuhl, wechselt häufig seinen Standort und wendet sich auch direkt an das Publikum. Auch für die Art des Sprechens sind Hinweise notiert, so zum Beispiel „(mehr und mehr in sich hineinsprechen)“181 oder fisteln182. Die Instrumentalisten sind ebenfalls mit 176 177 178 179 180 181
Thomas Hertel, Hölderlin-Report, Leipzig: DVfM, 1982, S. 1. Ebda., S. 5. Ebda., S. 14 Ziffer 5. Ebda., S. 22 Ziffer 8. Ebda., S. 69 Ziffer 23. Ebda., S. 8.
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Analysen von Beispielwerken
Textinterpretation betraut183. Die Begleitung ist teilweise sehr punktuell gehalten, beinhaltet aber z. B. auch kollektive Collage-Improvisation184. (Vgl. Notenbeispiel 21) Inhaltlich werden Teile von Hölderlins Biographie mit einem resignierenden Schluss dargestellt.
Notenbeispiel 21: Thomas Hertel, Hölderlin-Report, Leipzig: DVfM, 1982, S. 24, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Im ersten Abschnitt185 wird die Begleitung ausschließlich vom Schlagwerk gestaltet, danach186 folgt eine Passage, die die anderen Instrumente ohne Schlagwerk ausführen. Die Instrumente haben differenzierte rhythmische Figuren, die meist als Tonwiederho-
182 183 184 185 186
Ebda., S. 23. Ebda., S. 46. Ebda., S. 24. Ebda., bis S. 4 vor Ziffer 3. Ebda., S. 5.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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lungen gestaltet sind. Nun lassen die Instrumente den Klangteppich anschwellen, der jetzt teilweise auch homophon gestaltet ist, was vorher nicht der Fall war.187 Danach folgt eine Passage mit eher gehaltenen Tönen und einzelnen Einwürfen, der Text ist weiter rhythmisch ungebunden notiert188. Eine weitere Art der Textbehandlung zeigt eine durch Zeichen erfolgende quasi rhythmische Texteinteilung, dazu gibt Hertel Anweisungen, wie der Text zu sprechen ist: „explosiv-konvulsisch?? Konsonanten überdeutlich formulieren und dehnen, dadurch quasi rhythmisch“. Ein Strich bedeutet: „Dehnung von Vokalen und Konsonanten (bei t und k quasi Abstopper), alle anderen Silben kurz gesprochen“ 189. Nach seinem Wechsel zur Rampe rechts190, liest der Sprecher jetzt einen Brief, wobei die rhythmische Textverteilung unter dem Notensystem notiert ist. Nach dem Ende dieses Abschnitts191 folgt der nächste ohne Metrum mit einer Improvisation der Instrumente, wobei genau vorgeschrieben ist, in welcher Reihenfolge eingesetzt wird und was improvisiert werden soll, jeweils zwei Möglichkeiten werden angegeben: Marsch, Volkslied, Walzer, Hot-Jazz, Kaffeehausmusik usw. Währenddessen läuft der Sprecher durchs Publikum, der Text ist hier nur vage an die Musik gebunden. In dieser kollektiven Collage-Improvisation regelt Hertel durch Erläuterung auch die dynamische Entwicklung. Es folgen weitere Aktionen mit Gegenständen, die primär keine Instrumente sind: Hupe, Wecker usw. weiterhin kommt hier das Schlagwerk dazu192, wobei die Improvisation weitergeht. Später spielen die Schlagwerker wieder auf ihren eigentlichen Instrumenten, es gibt wieder ein Metrum, die Improvisation läuft aber weiter und verebbt dann langsam193, das Schlagwerk hat wieder notierte Musik und spielt dann allein weiter194. Eine besondere Betonung der Worte „Freundschaft!, Vaterland!, Freiheit!“195 wird dadurch erreicht, dass außer einigen Schlaginstrumenten alle anderen pausieren, der Rhythmus für den Text ist hier unterhalb der Notenzeile notiert. In einem neuen Abschnitt196 zeigt sich musikalisch eine neue Struktur: Die Instrumente haben meist Orgelpunkte sowie kleine Einwürfe von Figuren. Dies ist auch die erste Stelle, an der die Instrumentalisten Text sprechen: Die Blechbläser bringen den vollständigen Text, andere Instrumentalisten haben Textfragmente und Einzelworte, der Sprecher wiederum interpretiert dazu einen anderen Text, dessen Rhythmus unter der Notenzeile notiert ist. Die Orgelpunkte werden einige Zeit weitergeführt, die eingeworfenen Figuren verlieren ihre 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196
Ebda., S. 9f. Ebda., S. 11. Ebda., S. 15. Ebda., S. 18. Ebda., ab S. 24 Ziffer 9. Ebda., S. 26. Ebda., S. 30 bis S. 31 Mitte. Ebda., bis Ende S. 32 vor Ziffer 11. Ebda., S. 42. Ebda., S. 46ff., ab Ziffer 15.
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melodische Komponente und sind hauptsächlich rhythmisch geprägt197, die Bläser sprechen weiter den Text und auch der Sprecher steigt vom Stuhl. Während die Instrumente ihre Aktionen fortsetzen, hat der Sprecher hier198 eine Art Gesangspassage, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht nur rhythmische, sondern auch genaue tonhöhenmäßige Notierung aufweist. Ein weiteres Beispiel für den Umgang mit dem Text zeigt sich beim Text „popularisieren“, das vom Blech aufgenommen und dann verändert und damit auch verbrämt wird, was auch rhythmisch genau notiert ist: „purieren, parisieren, parlieren, parieren“199. Abwesenheit von musikalischer Unterlegung des Textes hat häufig inhaltliche Gründe und akzentuiert inhaltliche Aussagen, beispielsweise wenn der Sprecher eine der wenigen a cappella Textstellen hat: „Ich verstand die Stille des Äthers. Der Menschen Worte verstand ich nie.“200 Oder wenn dem Text „Mein Geschäft auf Erden ist aus.“201 eine Generalpause folgt. Auch am Schluss des Stückes ebbt die Begleitung immer mehr ab, nur noch ein Liegeton des Englisch Horns begleitet den Text „Der deutsche Dichter schweigt.“202 Körperlichkeit ist in diesem Stück einer der wichtigsten postdramatischen Aspekte, wobei die Aktionen des Schauspielers auf der Bühne und rund um das Publikum ebenso zu einer Rahmung beitragen, da Hertel verschiedene Positionen wiederholt und so verschiedene Bezüge herstellt. Dies reflektierte Hertel folgendermaßen: „Im Hölderlin-Report […] wird das Auditorium von vier Schlagzeugpodesten eingetürmt; der Reporter, wandernd zwischen dem Innen des Dichters und dem Außen in den Stimmen der menschlichen Gesellschaft, bewegt sich kommentierend durch den Raum – zwischen den Instrumenten hindurch, zwischen dem Orchester und dem Publikum und schließlich zwischen den Stuhlreihen der Zuhörer – ein Berichterstatter, der durch seine räumliche Position und Bewegung den Betrachtungsstandort für den Zuhörer vorgibt.“ 203
Die Kritikerin Gisela Nauck schrieb in ihrem Text für Musik und Gesellschaft204, dass Hertels Stück das künstlerisch überzeugendste des Konzerts [Konzert Szenische Kammer197 198 199 200 201 202 203
204
Ebda., S. 51 Ziffer 16. Ebda., S. 53 ab Ziffer 17. Ebda., S. 77. Ebda., S. 87. Ebda., S. 95. Ebda., S. 113. Thomas Hertel, Erinnerungen: Warum „Grenzüberschreitungen“? – Warum „Szenische Musik“?. Zur Entstehung von Kompositionen zwischen Autonomie und Musiktheater, in: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert, Teil III: 1966-1999, hrsg. v. Matthias Herrmann u. Stefan Weiss, Laaber 2004, S. 354– 357, hier S. 356. Gisela Nauck, Musik und Szenisches, S. 268–70, in: DDR-Musiktage 1982, in: Musik und Gesellschaft 32, 1982, S. 257–76, hier S. 270.
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musik, s. o., K. S.] gewesen sei. Der ständige Platzwechsel habe die Aussage der Texte verstärkt. Nauck fragt in ihrer Rezension aber nach der Legitimität der Aktualisierung der Texte Hölderlins und vermutet historische Unreflektiertheit und Verfälschung der Bezüge zur Gegenwart.205 Auch Gerhard Müller geht in seinem Text Wiedergeburt einer Gattung?206 auf Hertels Stück ein und beschreibt es als eines der gelungensten dieser von Müller als neu entdeckte Gattung des Melodrams zusammengefassten Stücke. Müller thematisiert u. a. die Absicht Hertels, neue Musik durch außermusikalischen Bezug leichter rezipierbar zu machen: „Hertels ‚Hölderlin-Report‘ wie allen hier genannten neuen melodramatischen Versuchen liegt die Idee zugrunde, einer neuen Klangwelt in Worten faßbare Bedeutung beizuordnen. Ohne daß die Errungenschaften neuer Musik aufgegeben werden, zeigt sich in ihnen das Streben nach einer verstehbaren Tonsprache, ...“207 Christian Münchs Szenische Kammermusik Flüsterstück IV. Briefe aus dem Gefängnis aus dem Jahr 1979 (UA 22.2.82 Berlin) sieht neben einer Sängerin (Mezzo oder Alt) ein Instrumentalensemble aus Alt-Flöte, Viola, drei Bongos und einem großen Becken vor. Münch schreibt für die Aufstellung vor, die Sängerin „steht nicht als Solistin vor dem Ensemble, sondern an einem Notenpult in einer Reihe mit den Instrumentalisten“.208 Münch verfasste den Text nach Briefen Rosa Luxemburgs an Sophie Liebknecht. Das Stück enthält die Anweisung: „Zum Vertanzen für Solistin und Gruppe.“209 Am Anfang der Partitur finden sich ausführliche Spielanweisungen für die Instrumentalisten, innerhalb der Partitur aber keine Regieanweisungen. Dass das Stück dennoch szenisch gedacht ist, beweisen die zitierte Anweisung und die szenische Aufführung. Interessant ist, dass Münch durch den Untertitel „nach Briefen etc...“ Erwartungen an ein politisches Sujet weckt, die dann durch die ausgewählten Texte enttäuscht werden. Die verwendeten Texte sind vollkommen unpolitisch und enthalten hauptsächlich Naturbeschreibungen und ganz private Regungen. So wird beispielsweise folgender Text gedehnt: „Leise rieselt Regen stille auf die Blätter und wäscht alle Tränen mir ab.“210, wobei Münch mit mehrfachen Wiederholungen einzelner Worte und Wortgruppen arbeitet, die eine gewisse Monotonie – als Gestaltung der Monotonie im Gefängnis anzusehen – erzeugt. Münch verwendet neben der Singstimme auch die Stimmen der Instrumentalisten, die ebenfalls singen und zwar oft parallel zum Spielen des eigenen Instruments.211 Sie
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207 208 209 210 211
Ebda. Gerhard Müller, Wiedergeburt einer Gattung? Anmerkungen zu neuen Melodramen, in: Musik und Gesellschaft 43, 1984, S. 135–138, hier S. 137f. Ebda., S. 138. Christian Münch, Flüsterstück IV. Briefe aus dem Gefängnis, Manuskript, 1979, o. Pag. Ebda. Ebda., S. 4. Ebda., S. 16ff.
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singen aber auch ohne das Instrument und rezitieren Texte.212 Weiterhin arbeitet der Komponist mit besonderen Klangfarben, die durch spezielle Klänge oder Akkorde der Flöte und auch der Singstimme entstehen.213 Ebenso dient die Verschmelzung von Instrumentalklang und Gesang der Instrumentalisten dazu, besondere Klangfarben zu erreichen. Dies gilt auch für die Verwendung des Textes. Abgesehen von einzelnen zentralen Worten, ist der gesamte Text ebenfalls als Klangfarbe verwendet und ein Verstehen einzelner Wörter häufig auch nicht angestrebt. So findet sich eine Anweisung für den Schlagzeuger, der hier gleichzeitig auch Text spricht, in der Münch vorschreibt: „der charakteristische Tonfall ist immer wichtiger als das Verständnis der Worte, diese sollen möglichst nur erahnt werden“.214 An dieser Stelle sprechen alle Instrumentalisten unterschiedliche Texte und die Gesangsstimme singt auf lang gehaltenen Tönen den Text „hohe Blumennacht“. Diese Sprechtexte sind sehr schnell gestaltet, überlagern sich gegenseitig und sind praktisch nicht zu verstehen, wie die oben zitierte Anweisung vorgibt. Dadurch entsteht ein ganz besonderer Klangteppich aus musikalischen und textlichen Aktionen. Dass dies beabsichtigt ist, zeigen auch weitere Anweisungen Münchs, wie „Aktionen von Alt-Flöte und Bratsche scheinen nur vage durch den Lärm des Schlagzeugers hindurch“215 und beim Schlagzeug „ohne Rücksicht auf den Gesang“216. Die Partitur ist von Münch sehr genau notiert und mit sehr vielen zusätzlichen Hinweisen zur Spielweise und deren gewünschter Wirkung versehen. Außerdem weist sie eine sehr kleingliedrige dynamische Differenzierung auf, häufig sind auch Einzeltöne mit unterschiedlichen Bezeichnungen versehen. Münch arbeitet auch mit Zitaten, eines weist er im Notentext aus, es stammt aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch.217 Münch arbeitet bei den Partien der Instrumente mit verschiedenen Spieltechniken, die unterschiedlichste Klangfarben erzeugen. Dabei sind beispielsweise in der Flöte Cluster gefordert, wobei Münch jeweils den Ton markiert, auf dem der „Akkord“ basieren soll.218 Auch die Viola wechselt zwischen extremen Tonhöhen und –tiefen und erzeugt auch Flageoletttöne. Flöte (Klappenschläge) und Viola (Pizzicato) werden ebenfalls perkussiv eingesetzt.219
212 213 214 215 216 217
218 219
Ebda., S. 23. Ebda., S. 4 Alt-Flöte, S. 6 Gesang. Ebda., S. 24. Ebda., S. 26. Ebda., S. 27. Ebda., S. 8 Münch bringt hier auch den Hinweis, dass R. Luxemburg in ihren Briefen häufig Lieder aus diesem Liederbuch zitiert. Ebda., S. 4 (Flöte), S. 6 (Gesang). Ebda., S. 7.
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Gisela Nauck thematisierte in ihrer Rezension220 zur Aufführung des Stückes ebenfalls die Diskrepanz zwischen der Aussage des verwendeten Textes und seiner musikalischen Verarbeitung: „Mit einer differenzierten, zumeist in sich gekehrten, manchmal auch sich verzweifelt aufbäumenden Musik, die – nach Münch – für das Gefangensein sowohl im Zuchthaus als auch eines Menschen in sich selbst steht, konnte er dem Gehalt der großartigen Briefe Luxemburgs nicht gerecht werden. Denn diese Zeugnisse einer starken, selbst noch aus dem Gefängnis heraus ihrer Freundin Sophie Mut zusprechenden Persönlichkeit, die aus Naturerlebnissen auf dem Gefängnishof Lebenskraft und Heiterkeit schöpfte, sind nicht auf die Worte ‚Regen‘, ‚Tränen‘ und ‚Blumen‘ zu reduzieren. Den übrigen, die Komposition tragenden Text, hielt Münch bewußt unverständlich, nutzte ihn lediglich als klangliches Ausdrucksmittel.“221
Weiterhin bemängelte sie, dass die pantomimischen Bewegungen – beteiligt an der Aufführung war die Tänzergruppe Manfred Schnelle – eher von der Musik abgelenkt hätten, als sie zu ergänzen.222 Für Münchs Stück spielt die Zeichendichte eine wichtige Rolle, durch die der Zuschauer und -hörer zum Auswählen gezwungen wird, zumal die Texte teilweise auch eher musikalisch gestaltende als informative Funktion haben. Körperlichkeit ist hier auf die tänzerische Ebene der Darstellung verlagert, Naucks Hinweis auf die Ablenkung von der Musik kann auch als Akzentuierung von Zeichendichte gelesen werden. Kurt Dietmar Richters Szenische Kammermusik Marx spielte gern Schach. Anekdotische Szenen und Gesänge unter freier Einbeziehung von Zitaten und Requisiten auf den Text von Nils Werner entstand 1983 zum Karl-Marx-Jahr auf Anregung des Komponistenverbandes im Auftrag des Magistrats von Berlin und wurde erst 1986 in Stralsund uraufgeführt.223 Die Besetzung besteht aus einem Sänger und einer Sängerin sowie einem „(singenden) Pianisten mit Flügel“224. Richter erzählte im Interview, dass die Intentionen des Komponistenverbandes mit seiner Beauftragung zur Komposition des Stückes klar waren, dass also nichts Heroisches gefragt war, sondern „bißchen kontra“, „sie kannten mich ja“225. Richter bekam für das Stück 1984 den Eisler-Preis, aber es fand sich niemand für die 220
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Gisela Nauck, Musik und Szenisches, S. 268–70, in: DDR-Musiktage 1982, in: Musik und Gesellschaft 32, 1982, S. 257–76, hier S. 268. Ebda., S. 268. Ebda. Peter Konwitschnys Verzeichnis der inszenierten Werke auf der Homepage der Akademie der Künste enthält die Angabe, dass er eine Inszenierung des Stückes 1985/86 abgebrochen habe. vgl. http://www.adk.de/de/archiv/archivbestand/darstellende-kunst/kuenstler/Peter_Konwitschny.htm (30.05.2012). Kurt Dietmar Richter, Marx spielte gern Schach. Anekdotische Szenen und Gesänge unter freier Einbeziehung von Zitaten und Requisiten, Manuskript, 1983, S. 1. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999.
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Uraufführung. Richter sieht die Gründe darin, dass dies aus Angst geschah und weil das Stück schwer sei. Schließlich interessierte man sich am Theater in Strahlsund dafür. Richter beschreibt im Interview, wie die ihm vor der Vorstellung vorgestellten „Honoratioren“ sich danach entrüsteten: „das war aber nicht unser Marx“226 In der Nacht nach der Uraufführung gab es dann von Richter „Palastrevolution“ genannte Entwicklungen, in deren Ergebnis ein Ultimatum für die Absetzung des Stücks oder die Absetzung des Intendanten gestellt wurde. Der Intendant setzte sich durch, das Stück blieb im Spielplan, man führte aber nach jeder Aufführung Diskussionen mit dem Publikum durch. Den Gründen für den für ein Auftragswerk – noch dazu zu einem konkreten Bezugspunkt entstanden – großen Abstand zwischen Entstehung und Uraufführung wird nachzugehen sein. Musikalisch wenig avanciert, ist das Stück heute auch inhaltlich als Provokation im ersten Moment nicht so recht zu verstehen. Eine der Provokationen des Stücks bestand aber sicher darin, dass überhaupt versucht wurde, private Details aus Karl Marx’ Leben darzustellen, und zwar auch für den großen Denker des Marxismus eher unvorteilhafte Dinge. Dies zu tolerieren war scheinbar auch zu dieser Zeit noch nicht oder jedenfalls nicht in jeder Inszenierung möglich. In den fünf Teilen des Stückes wird jeweils eine Anekdote erzählt. Das erste handelt vom jungen Karl Marx, der Liebeslyrik verfasste, und davon, dass die Zeitschrift, die zwei Gedichte druckte, gleich darauf einging. Der zweite Titel gebende Teil zeigt Marx beim Schach und dass er zwar gern spielte, aber nicht gern verlor. Hier tritt auch Helene Demuth auf und wird durch „Güte bis zur Tyrannei“227 beschrieben. Der dritte Teil thematisiert Marx’ Kommentar zu einem nicht geglückten Attentat und der vierte Marx’ Schwierigkeiten das Kapital zu vollenden. Der letzte Teil macht sich über Zensur lustig, vordergründig über diejenige in Preußen, aber die sich für die DDR aufdrängenden Parallelen sind natürlich gewollt. Auch der letzte Satz ist entsprechend vieldeutig: „Marx hat historisch triumphiert und wer ihn heute noch zensiert, wird unterliegen.“228 Im Interview sagte Richter, die Absicht des Stückes sei es, Marx als normalen Menschen zu zeigen, wobei der Schluss verschieden gedeutet werden könne. Die Weimarer Musikhochschule war mit dem Stück zu den Musiktheatertagen nach Karl-Marx-Stadt eingeladen worden, die Regie dieser Studentenaufführung hatte Reinhard Schau inne. Schon in der Probenphase begannen die Probleme in Weimar, so durften Kurt-Dietmar Richter und sein Librettist nicht zu den Proben kommen. Die Begründung für das Verbot des Stückes in Weimar lautete dann, Marx würde damit beleidigt. Von Seiten der Hochschule wurde Richter dann zwar eine Neuinszenierung versprochen, die trotz einiger Anläufe nicht zustande kam. Auch war der Rektor der Hochschule nach der Wende der Meinung, dass man das Stück nun nicht mehr spielen könne.229
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Alles ebda. Richter, Marx spielte gern Schach, S. 15. Ebda., S. 44. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999 sowie nochmalige Verständigung darüber im April 2012.
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Richter verwendet für die Gesangspartien verschiedene Arten des Sprechens und Singens, wie freies Sprechen, Sprechen im Rhythmus mit ungefähr fixierten Tonhöhen, Parlando auf notierten Tonhöhen, Singen mit notierter Tonhöhe und vorgegebenem Rhythmus. Der Text wird auch an Sprechstellen teilweise kanonisch verschoben dargeboten, diese Art der Textdarbietung geht stellenweise auch in eine aleatorische über.230 Dabei beginnt häufig einer der Sänger, die anderen kommen dann imitatorisch dazu, was meist mit einer Steigerung verbunden ist. Der Text kann aber auch ergänzend zwischen zwei Sängern aufgeteilt sein, seltener wird er homophon dargeboten.231 Im zweiten Teil Vom Schachspiel und Zweiter Gesang sieht Richter eine eigene Notenzeile für das Setzen der Figuren vor, das eine eigene Schlagzeug-Komponente bildet.232 Punktierte Achtel mit Sechzehntel werden hier als charakteristischer Rhythmus verwendet und der Teil endet mit einer groß ausladenden Vokalise auf „ja“.233 Im Dritten Gesang, das Attentat ist der Flügel am Anfang mit einer Eisenkette präpariert. Die Sänger beginnen homophon mit komplizierten Rhythmen, später sind die Gesangsparts aleatorisch gestaltet, womit Richter tumultartige Szenen darstellt. Hier agieren die Sänger auch im Publikum und suchen dort beispielsweise den Mörder, wodurch das Publikum als Verdächtige in die Handlung einbezogen wird.234 Der vierte Teil Mütterliche Sorgen und Vierter Gesang beginnt a cappella mit einer Stimme im Sprechgesang und ungefähr fixierten Tonhöhen. Wenn die anderen Stimmen dazukommen, bleibt die Struktur einige Takte aleatorisch und a cappella und geht dann ins Homophone über. Der Teil endet wieder mit einer großen Vokalise auf „ja“.235 Im fünften Teil Perspektiven und Letzter Gesang spielt der Pianist den Zensor und beginnt allein mit Parlando, wobei das Stottern den Zensor charakterisieren soll. Danach singt die Sängerin eine große Linie, die von den andern beiden Stimmen mit staccato-Aleatorik untermalt wird, wonach alle mit einem glissando enden.236 Am Ende des Stückes gehen die Sänger ins Publikum und nehmen dort Platz während sie immer noch den letzten Text repetieren.237 (Vgl. Notenbeispiel 22)
230 231 232 233 234 235 236 237
Richter, Marx spielte gern Schach, z. B. S. 4. Ebda., S. 9. Ebda., S. 12ff. Ebda., S. 19. Ebda., S. 22. Ebda., S. 33. Ebda., S. 35. Ebda., S. 44.
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Notenbeispiel 22: Kurt Dietmar Richter, Marx spielte gern Schach, Manuskript, 1983, S. 44, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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Die bereits skizzierten Diskussionen über die Uraufführung erwähnt auch Ekkehard Ochs in seinem Artikel in Musik und Gesellschaft238 und fügt hinzu: „… aber was schon sollten wir uns mehr wünschen als Stücke, über die man – so oder so – spricht!“. Gleichzeitig konstatiert er verschiedene Schwächen des Stückes, so „musikalisches Überwuchern des Textes“, ein „stellenweises Zuviel an Illustrativem“ sowie die „Tendenz zur Überzeichnung der Aktionen“239. In Theater der Zeit beschrieb Dietmar Fritzsche die Uraufführung. Der Pianist dieser Uraufführung, wie auch der Initiator der anderen Aufführungen war Reinhard Schmiedel, der mit „gestisch-artistischer Behendigkeit“240 agierte und dessen Flügel inmitten der Zuschauer postiert war. Den Versuch, die Zuschauer mit einzubeziehen, beschreibt Renate Liedtke in ihrer Kritik für Theater der Zeit241 1988 über eine weitere Inszenierung des Stückes zur V. Karikaturbiennale der DDR Satiricum 88 in Greiz. Hier hatte Reinhard Schmiedel nicht nur die musikalische Leitung und den Klavierpart übernommen, sondern auch selbst inszeniert. Laut Liedtke wurde das Stück hier erstmals in Originalgestalt dargeboten, sie fand die Inszenierung recht belanglos, die Musik aber „nicht uninteressant“. Zum Einbezug des Publikums schrieb sie: „Auch das Inkettenlegen eines Zuschauerherrn berührte (nicht nur diesen) eher unangenehm als erheiternd – das Publikum ist halt in erster Linie darauf eingestellt, Rezipient zu sein.“242 Der interessanteste Gesichtspunkt für die Beschäftigung mit diesem Stück im Zusammenhang dieser Untersuchung ist sicherlich das Sujet und die Auseinandersetzung der Beteiligten damit. Allein die Tatsache, dass Richter dafür einen angesehenen Preis bekam, gleichzeitig aber zwei Jahre auf die Uraufführung warten musste, verdeutlicht die Problematik. Unter dem Aspekt der Postdramatik fällt auf, dass Texte hier ein großes Gewicht erlangen, besonders daran zu erkennen, dass auch der Pianist mit Gesangs- und Sprechpartien bedacht ist. Der Einbezug des Publikums lässt dieses in einer Unsicherheit zwischen Fiktion und Realität schwanken und auch der Aspekt der Körperlichkeit spielt in der Interaktion der Beteiligten aber auch in deren Interaktion mit dem Publikum eine Rolle. Kurt Dietmar Richters und Anke Gerbers Apfelkern. Ein Samenkorn für die Welt. Ein Gesellschaftsspiegelbild mit imaginären Objekten basiert auf Richters Komposition Duo für Violoncello und Klavier, also auf einem präexistenten Stück. Bisher war Musik für Pantomime nur „Stütz- und Überleitungsmoment“243, hier sollen nun „nicht erschlossene Bereiche des
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Ekkehard Ochs, Plädoyer für populäre Heiterkeit. Kurt-Dietmar Richter: „Marx spielte gern Schach“, in: Musik und Gesellschaft 36, 1986, S. 319. Alles ebda. Dietmar Fritzsche, Marx zum Anfassen, in: Theater der Zeit 41, 1986, H. 4, S. 55. Renate Liedtke, Karikaturistisches. Marx spielte gern Schach, in: Theater der Zeit 43, 1988, H. 11, S. 5–6. Ebda., S. 6. Kurt Dietmar Richter u. Anke Gerber, Apfelkern. Ein Samenkorn für die Welt. Ein Gesellschaftsspiegelbild mit imaginären Objekten, Manuskript, 1983, S. 1.
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Analysen von Beispielwerken
gleichberechtigten Neben-, Mit- und Gegeneinanders zweier Kunstgattungen“244 zusammengebracht werden. Die Besetzung besteht aus einer Pantomimin, Violoncello und Klavier, das Szenarium gestaltete die Pantomimin Anke Gerber, die das Stück dann auch selbst interpretierte. Richter erläuterte im Interview, dass das auch unter den Titeln Laßt uns leben bzw. Damit unsere Erde bewohnbar bleibt aufgeführte Stück von zwei Schweitzer Musikern bei ihm für eine Konferenz an der Universität Frankfurt am Main zum Thema Universität im Jahr 2000 bestellt worden sei, wo es dann 1983 auch uraufgeführt wurde. In der DDR gab es vor der Wende keine Aufführung, Richter führt dies auf die Provokanz des Pantomimenparts zurück. Die Pantomimin Anke Gerber wurde 1984 aus der DDR ausgewiesen, was auch die Ausführung der Idee einer Fernsehproduktion verhinderte. Erst nach der Wende wurde das Stück in Berlin aufgeführt.245 Richter legt im Zusammenhang mit dem Stück Wert auf die Feststellung, dass entgegen der sonstigen Praxis hier die Pantomime auf ein bestehendes Stück hin konzipiert ist, dass aber gleichzeitig die Pantomime nicht etwa die Gedanken des Komponisten verdeutlicht, sondern einen Kontrast dazu bildet und eine selbständige Handlung entfaltet.246 So verlaufen Pantomime und Musik auch nicht durchgehend gleichzeitig, beispielsweise beginnt die Musik erst zu einem späteren Zeitpunkt als die Pantomime. Teilweise „widersprechen“ die Instrumente auch den Handlungen des Clowns regelrecht. Außerdem werden die Instrumente durch den Clown in die Szene einbezogen. Dies wird schon in der Aufzählung der Mitwirkenden in der Partitur deutlich: „zwei Musiker, ein Flügel, ein Cello, ein Clown und eine Tänzerin, als zwei von vielen Seiten des menschlichen Wesens, eine Spielzugschnecke, ein Paar Holzschuhe, die imaginären Objekte, als da seien: ein Baum, einige Äste, eine Schlange, eine Säge, viele Äpfel und zuletzt ein Apfelkern.“247 Das mit Musik – Pantomime – Tanz überschriebene Stück zeigt einen Clown, fröhlich in sich ruhend, der einen Apfelbaum findet, einen Apfel pflückt und dann, um das Publikum ebenfalls mit Äpfeln beschenken zu können, gedankenlos den Baum absägt. Hier setzen die Instrumente ein, das Cello zuerst mit einer Tonrepetition, die dann in sechs Aufschwünge übergeht, die teilweise sehr laut, teilweise sehr leise interpretiert werden sollen. Der Clown lässt sich von diesem „Einspruch“ der Instrumente nicht beeindrucken, er beschenkt das Publikum, genießt selbst Äpfel. Die „Klage“ der Instrumente, beispielsweise Seufzerfiguren im Cello248, nimmt der Clown nicht wahr. Der Clown möchte vor Freude tanzen, aber die Instrumente verweigern ihm die Musik zu seinem Tanz. Stattdessen sind im Klavier zuerst Repetitionen, dann Umspielungen in der rechten Hand über zwei arretierten Tasten zu hören, dazu bringt das Cello Flageoletttöne, zuerst auf einem Ton, dann zu Melodielinien gestaltet. Der Clown wird nach-
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Ebda. Gespräch der Autorin mit Kurt Dietmar Richter in Halle (Saale) am 30.8.1999. Ebda. Richter/Gerber, Apfelkern, S. 3. Ebda., S. 7, ab Ziffer 6.
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denklich, legt sein Clownskostüm ab. In diesem Abschnitt wird zuerst der „Schubs“, den das Cello dem Clown gibt, aus einem Flageolett-Aufschwung des Cellos abgeleitet. Die Umspielungen im Klavier und die Flageolett-Melodie im Cello gehen im Cello in Tonrepetitionen und liegende Töne über, die im Klavier von einer accelerierenden aleatorisch verarbeiteten Figur begleitet werden, um dann in eine Cello-Melodie zu münden, die sich bis zum cis''' aufschwingt und die vom Klavier mit bitonalen (E-Dur und fismoll) Akkordschlägen begleitet wird.249 „Ein Mensch schält sich aus den Resten des Clowns, der die Musik aufnimmt, sie in Bewegung umwandelt, auf sie eingeht, ihr widersteht, ihr Partner wird.“250 Hier beginnt zuerst das Cello mit geklopften Rhythmen auf Griffbrett bzw. Corpus des Instruments, das Klavier kommt mit melodiösen, polyphon gestalteten Aufschwüngen hinzu, setzt sich durch, ebbt wieder ab und die Klopfrhythmen des Cellos gewinnen wieder Oberhand. Danach steigt auch das Klavier mit ähnlichen Klopfrhythmen ein.251 Der Teil endet mit einem Cluster im Klavier, der ausklingt, sowie mit sehr hohen Flageoletttönen im Cello. Der Mensch, der zum Vorschein kommt, findet einen letzten Apfel. Hier schließt sich eine Solokadenz des Cellos an, die von ständigem Wechsel von pizzicato und arco gekennzeichnet ist und in ein liegendes und dann repetiertes Flageolett mündet, in das das Klavier wieder einsteigt und seinerseits rhythmische Akzente setzt. In dem Apfel findet sich ein Apfelkern als Samenkorn und große Hoffnung. (Vgl. Notenbeispiel 23) Hier gestaltet das Cello nochmals eine aufsteigende Kantilene, die von Klavier nur sparsam begleitet wird, dann abebbt und im vierfachen p endet. Dabei zeigt sich die Pantomimenhandlung als Kontrast zu Richters eigenem Konzept seiner Komposition, die im einleitenden Text zur Partitur als Peintures – Suche nach Bildern friedlichen Miteinanders von Mensch und Natur angedeutet ist.252 Postdramatische Aspekte finden sich in dieser Konzeption beispielsweise in der Enthierarchisierung der beteiligten Künste, die Musik verliert ihre Vorrangstellung aus der Kammermusik und macht der Ebenbürtigkeit der Pantomime Platz, deutlich wird dies auch daran, dass die Musik erst wesentlich nach dem Beginn des Stückes einsteigt. Dies kann auch mit dem Begriff der Szenisierung beschrieben werden, die szenische Bewegung spielt hier praktisch die Hauptrolle, der visuellen Dramaturgie der Pantomime ist die Musik untergeordnet oder sie kontrapunktiert sie.
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Ebda., S. 13f., ab Ziffer 13. Ebda., S. 15. Ebda., S. 17, ab Ziffer 19. Ebda., S. 1.
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Notenbeispiel 23: Kurt Dietmar Richter und Anke Gerber, Apfelkern, Manuskript, 1983, S. 20, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Thomas Heyns Ich ist ein anderer. Rimbaud ist als Szenische Kammermusik nach Texten von Arthur Rimbaud konzipiert für einen Schauspieler und eine Sängerin sowie die instrumentale Besetzung der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“: Oboe, Englisch Horn, Posaune, Schlagzeug, Klavier, Viola, Violoncello und Kontrabass. Die Uraufführung fand am 26. Februar 1984 im Rahmen der DDR-Musiktage in Berlin unter der Leitung von Christian Münch statt. Es agierten neben den Instrumentalisten der Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“ die Sängerin Nancy Bello, der Schauspieler Joachim Unger und die Pantomimin Fine Carriere. Der Text nach Arthur Rimbaud stammt von Ralph Oehme, mit dem Heyn auch die Opern Krischans Ende (Stralsund 1987) und Marsyas (Leipzig 1986, 2. Fassung Dresden 1989) schuf und 1986 das Leipziger Kammermusiktheater gründete. Im Stück wird Arthur Rimbaud kurz vor seinem Tod dargestellt, seine Krankheit (vermutlich Knochenkrebs) kann er nur noch mit Opiaten ertragen. In einer Abfolge von Monologen, die ausschließlich textlich dargeboten werden und Abschnitten mit Musik, Text und Aktion sowie Musik und Aktion ohne Text werden mehr oder weniger realistische bzw. surrealistische und überhöhte Rückblendungen auf sein Leben gezeigt. Dabei werden Textdarbietung und Aktionen nicht nur von Schauspieler, Pantomime und Sängerin ausgeführt, sondern auch von den Instrumentalisten, die außerdem noch diverse Geräuschinstrumente zu bedienen haben. Diese Aktionen aber auch Aspekte von Beleuchtung und andere Details hat Heyn in die Partitur mit eingearbeitet. Der Text wird auch von der Sängerin teilweise gesprochen und gesungen, in einzelne Bestandteile zerlegt, wiederholt. Es gibt Stellen, die den Text mit festgelegtem Sprechrhythmus bringen, teilweise auch mit notierten Tonhöhen, andere lassen die Sprechweise freier. Gesungene Stellen variieren zwischen Sprechgesang und ariosen, vom Ambitus her sehr ausladenden Partien. Teilweise kommt der Schauspieler singend dazu, sodass ein Duett entsteht.253 Im Interview äußerte Heyn zu Ich ist ein anderer. Rimbaud254, dass er zu dieser Szenischen Kammermusik stehe, dass sie aber nichts mit instrumentalem Theater zu tun habe, das er immer für „Kindertheater“ gehalten habe.255 Die Instrumentalisten seien zum Teil an der Szene beteiligt: sowohl als Volk, als auch durch Verwendung von Requisiten. Heyn zufolge spielte der Oboist Burkard Glaetzner auch die Figur des Verlain. Heyn hat das Stück in einzelne „Caput“ unterteilt, die wiederum die genannten Monologe als Intermezzi enthalten. Weiterhin finden sich Zwischenüberschriften in der Partitur, die gleichzeitig Regieanweisungen darstellen, die aber teilweise einer inszenatorischen Interpretation bedürfen. Diese Zwischenüberschriften deuten auch die verschiedenen biografischen Rückblendungen an, sie lauten beispielsweise: „Rimbaud in
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Thomas Heyn, Ich ist ein anderer. Rimbaud, Manuskript, 1984, Sächsische Landesbibliothek – Staatsund Universitätsbibliothek Dresden, zum Beispiel S. 73. Der Titel des Stückes wird verschieden angegeben. Gisela Nauck nennt es nur Szenen eines Verrats, der Bandmitschnitt enthält den Titel Ich ist ein anderer. Rimbaud – Szenen eines Verrats. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999.
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Analysen von Beispielwerken
einem Bett. Geburtsvorgang. Schreie“256, „Tanz des Ungeheuers“257, „Rimbaud mit einem Mädchen im Bett. Erste Liebe. Nacktheit“258, „Die große grüne Mutter. Das Ungeheuer in ihren Armen wie ein Baby“259, „Koitus Interruptus. Das Ungeheuer. Rimbaud II schürzt Rimbaud I eine rote Pappnase vor sein Geschlecht“260, „Verlaine versucht Rimbaud I die Augen zu verdecken, er reißt sich los, Verlaine zerfällt.“261, „Rimbaud tötet sein Ungeheuer“262. Wie Heyn auch im Interview betonte, steht für ihn im Musiktheater das Theatralische im Vordergrund und die Musik kann in verschiedenen Stilen und Kompositionstechniken verwendet werden, um dieses Musiktheater entstehen zu lassen. Heyn sieht deshalb Musiktheater auch als Ausweg aus den Materialzwängen der 1980er Jahre.263 So sind auch in diesem Stück verschiedenste Kompositionstechniken zu finden. Neben aleatorisch verarbeiteten Abschnitten, werden Klang- und Zitatcollagen verwendet, wobei die Zitate nicht immer wörtlich gebracht werden, wie beispielsweise die Revolutionsetüde264, sondern sich auch quasi-Zitate, atmosphärische Zitate finden, wie z. B. Marschmusik, Anklänge an einen Tango265 oder Geräusche einer Marktszene266. Weiterhin finden sich auch Improvisationsstellen, an denen eines oder mehrere Instrumente zum szenischen Geschehen improvisieren sollen. So schreibt Heyn beispielsweise der Posaune einige Figuren vor mit dem Hinweis: „immer lauter und ruppiger werden, dabei entsprechend den szenischen Vorgängen Musik verändern (Tempowechsel, willkürliche Pausen)“267 Musik ist auch insofern der Szene angepasst, dass sie teilweise so lange wiederholt werden soll, bis bestimmte szenische Vorgänge abgeschlossen sind.268 Zur Untermalung der Szene verwendet Heyn häufig Liegeklänge, auch im Vierteltonbereich269, Glissandi, lässt aber die Instrumentalisten auch zusätzliche Geräuschinstrumente, wie Trillerpfeifen, Rumbakugeln etc. bedienen. Die szenische Realisierung durch Sängerin, Pantomime, Schauspieler aber auch die Instrumentalisten ist im Sinne des postdramatischen Theaters dadurch gekennzeichnet, dass der Text ein sehr großes Gewicht bekommt, in den Monologen auch ohne Musik zum Tragen kommt, an anderen Stellen die Musik zur Untermalung der Szene zurück-
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Heyn, Ich ist ein anderer. Rimbaud, S. 10. Ebda., S. 15. Ebda., S. 59. Ebda., S. 67. Ebda., S. 67f. Ebda., S. 98. Ebda., S. 98. Gespräch der Autorin mit Walter Thomas Heyn in Berlin am 2.11.1999 und siehe Kap. 3.3.2. Heyn, Ich ist ein anderer. Rimbaud, S. 39. Ebda., S. 15. Ebda., S. 35ff. Ebda., S. 97. Ebda., S. 105. Ebda., S. 51 Oboe und Englisch Horn.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
253
tritt oder im Moment der szenischen Realisierung improvisiert wird, also die Enthierarchisierung der beteiligten Künste deutlich wird. An einigen Stellen wird auch mit einer Zeichenflut gearbeitet, sodass der Zuschauer gezwungen ist, sich Informationen auszusuchen und andere an sich vorbeigehen zu lassen. Der Einbruch des Realen, beispielsweise durch die Verwendung von Geräuschemachern und Markt- oder Kriegssituationen wird auch hier deutlich. Der Aspekt der Körperlichkeit spielt ebenfalls eine große Rolle, indem sich die Instrumentalisten mit ihrer Stimme und auch sonst körperlich in die Szene einbringen. Dieser Aspekt wird besonders gegen Ende des Stückes deutlich, wenn das Publikum direkt angegriffen wird: „Das Ungeheuer öffnet die Saaltüren und beginnt das Publikum zu attackieren.“270 In ihrer Rezension271 äußerte Gisela Nauck ähnliche Einwände gegen die Nutzung biographischer Aspekte für andere, eigene Aussagen der Komponisten, wie bei ihrer Kritik an Hertels Hölderlin-Stück: „Aber das Stück von Oehme und Heyn will mehr sein als ein biographischer Bericht, will eigene Erfahrungen, Befindlichkeiten zur Sprache bringen. Und damit wird das ganze Unternehmen problematisch, weil die Autoren Rimbaud und dessen eingearbeitete Lyrik zum Vehikel für Mitteilungen über hundert Jahre später gelebte und erlebte Widersprüche benutzen, sich hinter diesem Dichter verstecken, um ihre eigenen Probleme hinauszuschreien, die doch aber auf einem ganz anderen historischen Boden gewachsen sind. Auf Grund dieses ahistorischen Verfahrens wurde überhaupt nicht klar, wer wen verraten hat und warum.“272
Außerdem fehlt ihr die Ebene der Interpretation der Probleme Rimbauds aus heutiger Sicht und sie stellt im Hinblick auf die Musik fest: „Zu einer solchen Objektivierung, die Oehmes Textmontage in dieser Form nicht leistet, könnte die Musik erheblich beitragen, die bei der hier vorgestellten Version überhaupt zu sehr im Hintergrund steht, zu wenig kommentiert, kaum handlungstragende Funktion besitzt.“273 Caspar René Hirschfeld komponierte 1988 die Szenische Kammermusik Unnennbar es blinkt ein einsam Segel nach Texten von Jochen Berg für Sopran, sprechenden Tänzer oder tanzenden Schauspieler, Klavier (live) und Cembalo (Tonband). Auch für Hirschfeld spielten bestimmte Interpreten und deren spezielle Fähigkeiten häufig eine Rolle für die Besetzung und Entstehung seiner Kompositionen. Hier betrifft dies die Sängerin Grit Díaz de Arce, die u. a. über eine große Höhe verfügt. Als Pianistin war Bettina Otto im Gespräch, die geplante Dresdner Uraufführung fand aber nicht statt. Die Rolle des Dionysos als sprechenden Tänzer könnte auch Hirschfeld selbst übernehmen, denn er ist
270 271
272 273
Ebda., S. 104. Gisela Nauck, Solostücke und szenische Darbietung, S. 186f., in: Viel Neues neben Bewährtem. DDR-Musiktage 1984, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 178–191, hier S. 186f. Ebda. Ebda., S. 187.
254
Analysen von Beispielwerken
ausgebildeter Tänzer, bei der Uraufführung im Berliner Ensemble spielte er allerdings den Klavierpart.274 Das Stück besteht aus den vier Teilen Klage der Ariadne, Dialog, Tanz des Dionysos und Ein Wachen. Die Sängerin der Ariadne hat sowohl Sprechstellen als auch Sprechgesang und vor allem Gesangspartien mit immensen Tonsprüngen zu bewältigen. Bereits auf der ersten Seite der Partitur schreibt Hirschfeld ein aus einer Sprechstelle erwachsendes glissando bis zum c''', worauf eine extra als für Bruststimme gekennzeichnete Stelle zwischen fis' und c' folgt, die sofort wieder bis zum b'' hinaufgeht und von dort zum c' herab. Diese Singstimmenbehandlung erzeugt eine große Expressivität. Während das Klavier live gespielt wird und verschiedenste Begleit- und Gestaltungsfunktionen übernimmt, besteht das Tonband mit dem Cembalopart nur aus acht Takten, die vom siebten Takt des Stückes bis zum Ende ohne Pause wiederholt werden. Die rechte Hand hat Achtelfiguren, die im eintaktigen Wechsel – nur die letzte Tonart bleibt für zwei Takte bestehen – g-moll, D-Dur, Es-Dur, d-moll, c-moll, D7, und e-moll ergeben. Dazu bringt die linke Hand in halben Noten meist die Grundtöne der Tonarten. Das Klavier wird mit unterschiedlichsten Techniken zum Klingen gebracht, so auch durch Anschlagen der Saiten und der Tasten durch verschiedene Schlegel. In der Partitur finden sich detaillierte Anweisungen zur musikalischen Interpretation, aber nur wenige Regieanweisungen. Eine konkrete szenische Vorstellung von der Aufführung seines Stückes hat Hirschfeld also hier nicht notiert.275 Durch die Körperlichkeit des Tänzerschauspielers werden in diesem Stück Akzente gesetzt aber auch die Körperlichkeit der Sängerin, die diese großen Stimmumfänge zu bewältigen hat, spielt eine Rolle in der Postdramatik des Werkes. Mit seinem handlungsartigen Fortgang weist es bereits in die nächste Gruppe.
5.4.4
Handlungsorientierte Szenische Kammermusik
In der vierten Gruppe der handlungsorientierten Szenischen Kammermusik finden sich Werke mit regelrechter Handlung an, wobei hier der Übergang zur ambitionierten Kammeroper fließend ist. Dies gilt unter anderem für Paul-Heinz Dittrichs Szenische Kammermusiken. Dittrich komponierte 1982 seine Szenische Kammermusik Die Verwandlung für fünf Vokalisten, Violine, Bassklarinette und Violoncello sowie einen Sprecher und einen Acteur. Die textliche Grundlage bilden die bekannte Erzählung von Franz Kafka, wobei hier die wörtlichen Redetexte der Erzählung extrahiert wurden, sowie sein berühmter Brief an seinen Vater. Die Textzusammenstellung besorgte Frank Schneider. Das Stück wurde 1983 in Metz/Frankreich als Auftragswerk des französischen Kulturministeriums 274 275
Gespräch der Autorin mit René Hirschfeld in Berlin am 28.2.2000. René Hirschfeld, „Unnennbar es blinkt ein einsam Segel“. Szenische Kammermusik nach Texten von Jochen Berg, Manuskript, 1989.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
255
im Rahmen der zwölften „Rencontres Internationales de Musique Contemporaine“ konzertant276 uraufgeführt. Die erste Aufführung in der DDR erlebte es 1984 in der Akademie der Künste im Rahmen der 6. DDR-Musiktage in einer Inszenierung von Christian Pöppelreiter. Dittrich hat seine Herangehensweise an den Stoff, die gattungsmäßige Zuordnung als Szenische Kammermusik, die Verwendung der Sprech- und Singstimmen und den Umgang mit Text und Sprache ausführlich in einem Gespräch mit seinem Librettisten Frank Schneider erörtert.277 Die fünf Vokalisten präsentieren die Texte als Ensemble, wobei diese oft in einzelne Silben oder Buchstaben zerlegt und dann zusammengesetzt oder auch Laute mit nicht mehr erkennbarer Bedeutung wiedergegeben werden, die zum Teil mit Umschrift aufgeschrieben sind. In der Partitur finden sich keine Regieanweisungen, die szenische Umsetzung wollte Dittrich völlig der Regie überlassen. Die enthaltenen Anweisungen betreffen die Ausführung des Notentextes und des gesprochenen Textes. Der Sprecher bietet den Text aus dem Brief an den Vater dar, der ohne rhythmische Notierung und mit nur ungefährer Zuordnung zur Musik gesprochen wird. Der Acteur stellt die Hauptperson Gregor Samsa dar, agiert häufig pantomimisch, ihm ist aber auch Text zugeordnet. Die Instrumentalstimmen sind sehr virtuos gehalten, die Musik ist sowohl vokal als auch instrumental außerordentlich ausdifferenziert gestaltet.278 Dittrich, der sein Schaffen aufgrund der Sprachbehandlung und des kompositorischen Zugangs in verschiedene Phasen aufteilt, ordnet die Verwandlung der „poetisch-instrumentale Poesie“ zu, für die das Prinzip der Überlagerung verschiedener Ebenen sowie ein permanenter Wechsel zwischen Dissoziation der Ebenen und ihrer Zusammenführung bestimmend sei.279 Dittrichs Szenische Kammermusiken Die Blinden und Spiel reichen nach Eberl in die nächste Phase der „parataktisch-instrumentalen Mikrophonie“ hinüber, in deren Mittelpunkt die poetische Assoziation steht.280 Unter dem Titel Die verwandelte Verwandlung281 rezensierte Karsten Bartels die Berliner Inszenierung für Theater der Zeit. Dort merkte er an, dass sich das Stück nur bei Kenntnis der Vorlage erschließe. Außerdem trete die Sachlichkeit Kafkas durch Dittrichs provozierte Anteilnahme stark zurück. Dittrich benutze Mittel der Arbeitsteilung, des Artifiziellen und der Virtuosität, um Kafka gerecht zu werden. Bartels beschreibt die Darbietung als zweigeteilt: Während die Pantomimen die Handlung vorgeführt hätten, realisierten die Vokalisten und Instrumentalisten die Musik. Dabei habe Dittrich vielfältige Möglichkeiten heutiger Vokaltechnik vom Gesang bis zum Geräusch eingesetzt, deren Wahl aber immer durch sein inhaltliches Anliegen bestimmt sei. Bartels schreibt: „So 276 277
278 279
280 281
Vgl. Neef, Deutsche Oper im 20. Jahrhundert, 1992, S. 120. Vgl. „Die Verwandlung. Szenische Kammerrmusik“ (1982/83) von Paul-Heinz Dittrich. Werkstattgespräch mit Frank Schneider, in: Dittrich, Nie vollendbare poetische Anstrengung, 2003, S. 195–202. Paul-Heinz Dittrich, Die Verwandlung nach Franz Kafka, Partitur, Leipzig: Peters, 1984. Kathrin Eberl, Aspekte der Sprachbehandlung in Paul-Heinz Dittrichs Szenischer Kammermusik Die Verwandlung, in: Mahling/Pfarr (hrsg.), Musiktheater im Spannungsfeld, 2002, S. 185–194. Ebda., S. 190. Karsten Bartels, Die verwandelte Verwandlung, in: Theater der Zeit 39, 1984, H. 5, S. 20.
256
Analysen von Beispielwerken
macht beispielsweise die phonetische Zergliederung eines Satzes und die Verteilung der Partikel auf alle Sänger deutlich, wie langsam und schwierig der in ihm ruhende Gedanke Gestalt annimmt.“ Die Inszenierung von Christian Pöppelreiter habe geschickt zwischen Anteilnahme und Distanz, Mitleid und Beobachtung gependelt. Die Spielfläche war auf den Seiten von Sesseln mit den Familienmitgliedern bzw. Zimmerherrn begrenzt, die hintere Wand war schwarz mit nur einer Tür, vor der ein Mann saß, der Küchenabfälle über Gregor ausgoss. Bartels erlebte Gregor als gefangenen, von Allen beobachteten und missachteten Mittelpunkt, nicht als Ungeziefer, sondern als krank gemachten Menschen. Laut Bartels erreichte die Aufführung hier Grenzen des ästhetisch Vertretbaren, überschritt sie aber nicht. Gregor kann in dieser Inszenierung erst, nachdem er tot ist, ausbrechen: in den Zuschauerraum.282 Michael Dasche283 bemängelt in seiner Kritik der DDR-Erstaufführung die ausschließliche Wirkung des Betroffenmachens auf die Zuschauer und fordert stattdessen eine „kritisch-überlegene Distanz“.284 Auch beschreibt er die musikalischen Absichten als zu undurchschaubar.285 Postdramatische Aspekte des Stückes sind wiederum in der Akzentuierung von Körperlichkeit zu finden, die in diesem Falle bereits durch das Sujet thematisiert wird. Durch die Trennung von Darstellung und vokaler Präsentation sind hier auch Möglichkeiten der Entkörperung eingeschlossen. Durch die Nähe zur Kammeroper, besonders in der Existenz einer wenn auch gebrochenen, offen gestalteten aber gleichwohl zielgerichteten Handlung, sind Aspekte von Theatralität gegeben. Der Aspekt der Wahrnehmung wird hier für den Zuschauer besonders deutlich, indem er drei Ebenen der Textdarstellung verfolgen und dazu zwei verschiedene Texte von Kafka kombinieren sowie die szenische und natürlich die musikalische Ebene rezipieren kann. Paul-Heinz Dittrichs Kammermusik VII Die Blinden ist 1984 für fünf Sprecher (zwei Damen und drei Herren, die fünf unterschiedliche Sprechhöhen repräsentieren) sowie für Bläserquintett (Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott) und Cembalo (zweimanualig) komponiert. Als Text verwendete Dittrich das bekannte Theaterstück von Maurice Maeterlinck, die Uraufführung der Komposition fand 1986 vom Komponisten selbst geleitet im Berliner Ensemble in der Reihe „Literatur und Musik“ statt. Die Parallelität der Situation der Blinden mit der Situation in der DDR war auch der Hauptgrund, weswegen zwischen Komposition und Aufführung des Stückes zwei Jahre vergingen. Dittrich erzählte dazu:
282 283
284 285
Ebda. Michael Dasche, Franz Kafkas „Verwandlung“ in Szene gesetzt, S. 187f., in: Viel Neues neben Bewährtem. DDR-Musiktage 1984, in: Musik und Gesellschaft 34, 1984, S. 178–91. Ebda., S. 187. Ebda., S. 188.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
257
„Als ich die Kammermusik VII schrieb, Die Blinden (1984) nach Maeterlincks Text, wurde ich gefragt: ‚Wen ham se denn da nun wieder an Land gezogen? Wie kommen Sie denn auf Maeterlinck? Warum denn nicht DDR-Autoren?!‘ Und sie baten, daß ich die Partitur dort lasse. Da stolperten sie drüber. Da steht einmal drin: ‚Die Herrschaft der Alten ist bald vorüber.‘ Oder ‚Wir wollen alle fort, fort, fort von dieser Insel!‘ (Die Blinden meinen, auf einer Insel zu sein, was gar nicht stimmt, sie waren nur auf einer Waldwiese.) Man rief mich an: ‚Wenn Sie nicht bereit sind, diese Sätze zu streichen, können wir dieses Stück hier nicht aufführen.‘ Ich sagte: ‚Ich kann doch bei Maeterlinck nicht den Rotstift ansetzen! Ich weiß ja nicht, an wen Sie denken, wenn es heißt: ‚Die Herrschaft der Alten ist bald vorüber.‘ – ‚Also das können wir nicht machen!‘ sagte man mir. Die Komposition wurde vorerst nicht aufgeführt.“286
Der erste Teil der Komposition beginnt mit einem Bläservorspiel auf dem Ton h, der sehr differenziert rhythmisiert und mit unterschiedlichen Vorschlägen versehen ist. Die Bläser steigen nacheinander ein, das Cembalo pausiert dagegen bis zu seinem ersten Interludium Auch die kurz darauf einsteigenden Sprecher realisieren sehr differenziert notierte Rhythmen und eine ebenfalls differenzierte Dynamik. Nach verschiedenen Bläsereinwürfen, kommen diese aber auch immer wieder zu dem einen Ton h zurück, der teilweise in einen Cluster aufgefächert wird.287 Die Sprecher bieten den Text sowohl mit als auch ohne Instrumentalbegleitung dar, der Text wird in seine einzelnen Bestandteile, wie Silben und Einzellaute zerlegt und so verarbeitet. Ein Beispiel für diese Textzerlegung und für exaltiertes Sprechen in verschiedensten Tonhöhen und Rhythmen.288 (Vgl. Notenbeispiel 24) Neben genauestens notiertem Noten- und Sprechtext findet sich auch nicht tonhöhenmäßig und rhythmisch festgelegter Text.289 Ein instrumentales Zwischenspiel290 ist teilweise aleatorisch gestaltet, nach einem nochmaligen Sprechereinwurf291 endet der erste Teil. Daran schließt sich das erste Interludium der Bläser an, in dem sich von Liegetönen geprägte Passagen mit bewegteren Abschnitten in einzelnen Instrumenten abwechseln.292 Auch der zweite Teil beginnt mit einem instrumentalen Vorspiel, das schnelle Läufe in allen Bläsern enthält und sehr chromatisch gestaltet ist. In die dann folgenden Textpassagen sind Einwürfe der Bläser mit einzelnen Figuren eingebaut. Dittrich komponiert sowohl streng im Metrum notierte Passagen, als auch solche, die ohne Takte nur mit Einsatzpfeilen notiert sind, Pfeile und Linien zeigen hier an, welche Abschnitte worauf folgen sollen.
286 287 288 289 290 291 292
„Nicht für’n Appel und’n Ei!“, in: Dittrich, Nie vollendbare poetische Anstrengung, 2003, S.298f. Paul-Heinz Dittrich, Kammermusik VIII. Die Blinden, Leipzig DVfM, 1985, S. 4. Ebda., S. 13. Ebda., S. 16. Ebda., S. 17. Ebda., S. 19. Ebda., bis S. 22.
258
Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 24: Paul-Heinz Dittrich, Kammermusik VIII. Die Blinden, Leipzig: DVfM, 1985, S. 13, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Notenbeispiel 25: Paul-Heinz Dittrich, Kammermusik VIII. Die Blinden, Leipzig: DVfM, 1985, S. 56, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Jeder Sprecher ist mit einem Instrument gekoppelt, so beispielsweise der 3. Sprecher mit der Klarinette, während die anderen Sprecher und Instrumentalisten quasi akkordische
260
Analysen von Beispielwerken
Einwürfe „ER“ haben.293 Andererseits werden auch einzelne Textfragmente kombiniert, dargeboten durch einzelne Sprecher, die sich abwechseln.294 An anderen Stellen bringen die Instrumente auf einem Ton rhythmisierte oder mit molto vibrato ausgehaltene Passagen und ein Sprecher interpretiert den Text295. In den Instrumenten wechseln sich häufig ruhigere Stellen mit gehaltenen bzw. rhythmisierten Tönen mit ausladenden Figuren ab. Nach diesem zweiten Teil schließt sich ein Interludium für Cembalo an, wobei das Instrument hier erstmals erklingt.296 Für das zweimanualige Cembalo hat Dittrich die Komposition auf vier Systemen notiert. Kurze Akkorde oder Figuren mit Trillern und kurze Piano-Akkordwiederholungen wechseln sich zunächst ab297, danach sind ausladendere Figuren ebenfalls mit Trillern beherrschend, Akkordwiederholungen tauchen manchmal wieder auf, das Interludium endet ähnlich wie es begann.Es folgt dritte Teil298, der mit einem einzelnen Sprecher beginnt, worauf die Instrumente einsetzen. Die Instrumente haben jetzt hauptsächlich Figuren, in denen häufig wiederholte Staccato-Noten vorkommen. Dittrich arbeitet hier u. a. mit Flageolettakkorden299. Die Stimmführung der Sprecher ist u. a. durch ein Schreien mit molto vibrato gekennzeichnet300 oder der Text ist unter den Sprechern in Bruchstücke aufgeteilt301, teilweise bringt auch jeder Sprecher anderen Text womit Dittrich die Anweisung zu einer übertriebenen Sprechweise verbindet.302 (Vgl. Notenbeispiel 25) Auf den dritten Teil folgt das zweite Interludium der Bläser303. Hier wird die Flöte als Soloinstrument in sehr hohe Lagen geführt, deren Töne abwechselnd im sff und im pp erklingen sollen, während die restlichen Instrumente mit liegenden pp-Akkorden einen Klangteppich dazu bilden. In einem Mittelteil sind alle Instrumente beteiligt304, worauf ein weiterer Teil, der wie der erste gestaltet ist, folgt, Dittrich gestaltet hier also eine ABA’-Form. Der vierte Teil beginnt in den Instrumenten wieder mit liegenden Tönen, die rhythmisch und dynamisch unterschiedlich gestaltet sind. Hier rezitieren die Sprecher ihren Text beispielsweise ohne Tonhöhen- und Rhythmusvorgabe über einem einzelnen Oboenton, dann auch über Bläserakkorden305. Kernaussagen des Stückes, von denen auch eine deutliche Publikumsreaktion durch Bezug auf die spezielle DDR293 294 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305
Ebda., S. 25ff. Ebda., S. 28. Ebda., S. 33. Ebda., S. 41. Ebda., S. 41f., bis T. 115. Ebda., S. 43. Ebda., S. 50. Ebda., S. 51. Ebda., S. 52. Ebda., S. 56f. Ebda., S. 66. Ebda., S. 67. Ebda., S. 71.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
261
Situation zu erwarten war, werden häufig unisono gebracht, so auch „wir möchten alle gern fort von der Insel und werden doch immer hier bleiben.“306 Das III. Interludium307 wird durch die Bläser dargeboten, deren Partien wieder aus Akkorden und weit schweifenden Figuren, größtenteils im pp bestehen und es endet mit Flageolettönen sowie einer hoch aufsteigenden Flötenlinie. Der 5. Teil308 beginnt dann sofort mit einer instrumental begleiteten Sprecherstelle, wobei die Oboe exponiert ist, die anderen Bläser im pp spielen.309 Danach folgt eine Passage, in der sich Instrumentalpassagen mit Sprecherpassagen dahingehend abwechseln, dass einem Sprecher jeweils ein Instrument zugeordnet ist.310 Später werden Instrumente und Sprecher zusammengeführt311, was in dem gemeinsamen Aufschrei „Ja, wir haben schon lange Angst“312 kulminiert. Dies kontrastiert Dittrich durch ein sich anschließendes Flötensolo, dem noch einmal einzelne Sprecher zugeordnet werden, und das den 5. Teil beschließt.313 Das II. Interludium314 ist für Cembalo komponiert und von Akkordik in Quintolen kombiniert mit Triolen gekennzeichnet, später werden auch Septolen eingebaut, auch hier verwendet Dittrich wieder extreme dynamische Kontraste. Dieses Interludium ist im Gegensatz zu den anderen nicht durch Doppelstrich vom nächsten Teil getrennt, erstmals spielt das Cembalo hier weiter und erklingt auch erstmals mit den Sprechern zusammen. In diesem 6. Teil315 musiziert zuerst das Cembalo mit den Sprechern, deren Texte teilweise genau notiert sind. Später316 setzen auch die Bläser ein, wobei nun das Cembalo erstmals mit den Bläsern zusammen spielt. Bläserstellen und Cembalo-glissandi wechseln sich ab und werden dann zusammengeführt317, was wiederum auf die Frage des 2. Sprechers „wo seid ihr“ in dem gemeinsamen homophonen Aufschrei alles Sprecher und Instrumente „wir sind hier“ gipfelt.318 Mit der Aussage „ich glaube, wir werden hier sterben“ des 1. Sprechers und Anblasgeräuschen der Bläser ohne Ton, führt Dittrich das Geschehen wieder ins pp zurück.319 Ein instrumentaler Teppich, der kurzzeitig auch ins fff wechselt, untermalt die Texte der Sprecher, die die Trostlosigkeit der Blinden in der Trostlosigkeit der Natur spiegeln. Auf den Satz des 2. Sprechers „ich
306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317 318 319
Ebda., S. 101. Ebda., S. 102. Ebda., S. 105. Ebda., S. 105f. Ebda., ab S. 109. Ebda., ab S. 112. Ebda., S. 123. Ebda., S. 124–127. Ebda., S. 128. Ebda., S. 133. Ebda., S. 136. Ebda., S. 141–44. Ebda., S. 146f. Ebda., S. 148.
262
Analysen von Beispielwerken
sage euch, es kommt jemand auf uns zu“320 erhebt sich ein virtuoses Klarinettensolo über einem gehaltenen Hornton321, das wieder in einer Trillerkette von Bläsern und Cembalo endet und mit einer polyphonen Sprecherstelle „sie kommen, ich höre sie“ a cappella weitergeführt wird.322 Es folgt ein instrumentales Zwischenspiel, das in Tempo und Dynamik immer mehr gesteigert wird.323 Auf dessen Höhepunkt setzen die Sprecher a cappella wieder ein: „Sie sind hier mitten unter uns“, wobei der erste Satzteil im ff, der zweite aber, das Erschrecken spiegelnd, im p gebracht wird.324 Die Bläser bringen einen rhythmisierten Akkord, worauf die Sprecher über einem leisen Hornton flüstern: „Wer seid ihr?“, danach klingt der Hornton aus.325 Gisela Nauck beschreibt in Musik und Gesellschaft Uraufführung der Blinden innerhalb eines Konzerts, das auch andere Werke Dittrichs, Rezitationen, sowie ein Gespräch zwischen Frank Schneider dem Komponisten enthielt.326 Es spielten die Schauspieler: Christine Gloger, Felicitas Ritsch, Hans-Joachim Frank, Peter Tepper und Arno Wyzniewski, sowie die Berliner Bläservereinigung mit Bernd Casper am Cembalo, Dittrich dirigierte die Aufführung selbst. Nauck konstatiert hier, dass durch Dittrichs Musik „eine distanzierte Haltung gegenüber der mystischen literarischen Vorlage“327 erreicht werde und der Vokalpart provozierenden und manchmal anklagenden Charakter trage. Dadurch erhalte die Kammermusik eine humanistische Aussage: „Es geht nicht mehr um hoffnungsloses Ausgeliefertsein an den sehenden (und damit mächtigen) einzelnen, den Priester und schließlich an den Tod, sondern um eine durch gemeinsames Schicksal verbundene Menschengruppe, die sich gegen ihr Los auflehnt, aus der Not Kraft gewinnt, um stumpfes Nebeneinanderleben in ein menschliches Miteinander zu verwandeln.“328
Der Schluss von Dittrichs Kammermusik sei im Gegensatz zu Maeterlincks Schauspiel zuversichtlich gestaltet.329 Zu den postdramatischen Aspekten dieser Szenischen Kammermusik gehören sicher das Herausstellen des Musizierens und Sprechens durch das Verdeutlichen der dafür notwendigen körperlichen Aktionen, besonders des Einatmens, das ja Sprecher und Bläser hier verbindet. Körperlichkeit wird hier eher durch die Abwesenheit von darstellender Bewegung verdeutlicht, die Schauspieler, von denen man Aktionen erwartet, 320 321 322 323 324 325 326
327 328 329
Ebda., S. 152. Ebda., S. 153. Ebda., S. 154f. Ebda., bis S. 162. Ebda., S. 162f. Ebda., S. 164. Gisela Nauck, Musik und Literatur: Dittrichs Kammermusik VII „Die Blinden“ uraufgeführt, in: Musik und Gesellschaft 36, 1986, S. 219f. Ebda., S. 220. Ebda. Ebda.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
263
bewegen sich gerade nicht, dies weit auch in Richtung des Ausdünnens der Zeichen, hier der Bewegung. Die Lichtregie schafft aber den theatralen Rahmen und unterstützt ebenso den Aspekt der Performativität. Ein innermusikalischer, aber ebenso theatraler dramaturgischer Einfall Dittrichs ist die Behandlung des Cembalos als Fremdkörper einerseits seiner Klanges wegen, andererseits auch durch den zuerst einzelnen Einsatz und sein spätes Hinzukommen zu den anderen Instrumenten, sodass es beispielsweise auch als der sehende Führer oder auch als die am Schluss vielleicht auftretenden Fremden mit unbekannter Absicht interpretiert werden kann.
5.4.5
Avancierte Kammeroper
Die fünfte Gruppe bleibt der avancierten Kammeroper vorbehalten. Im Gegensatz zur konventionellen Kammeroper kommt es hier häufig zur Interaktion von Instrumentalisten – die ebenfalls an der Szene beteiligt werden – und Sängern/Schauspielern sowie dem Publikum bzw. zur Interaktion von je zweien dieser Gruppen. Dabei werden beispielsweise die Instrumentalisten auf, neben, vor, hinter der Bühne, hinter neben oder zwischen den Zuschauern platziert. Auch die Anordnung des Publikums ist häufig neu gestaltet und versucht, die alte Konfrontation von Bühne und verdunkeltem Zuschauerraum in der einen oder anderen Weise aufzuheben. Der Bühnensituation und den möglichen Interaktionsarten, also dem Aufführungsort kommt für die avancierte Kammeroper eine wichtige Rolle zu. In der avancierten Kammeroper ist eher die Koppelung avancierter Kompositionstechniken mit avancierten Dramaturgien zu beobachten. Friedrich Goldmann komponierte 1973/74 seine Opernfantasie R. Hot oder Die Hitze, die durch ihre Verquickung der Stile, – neben seriellen Kompositionsweisen verwendet Goldmann auch Rockmusik, sowie tonale Elemente –, durch das ungewöhnliche Sujet, die ausgefallene Orchesterbesetzung sowie die Art der Aufführung im Apollo-Saal auf einer Bühne inmitten der Zuschauer eine der kompositorisch und dramaturgisch bemerkenswertesten Kammeropern der DDR-Zeit ist. Goldmann erzählte von der Entstehung des Werkes, dass er Thomas Körner kennen gelernt habe, der den Opernentwurf nach J. R. M. Lenz zuerst für Reiner Bredemeyer erarbeitet hatte, die Zusammenarbeit mit Bredemeyer sei 1973 aber nicht zustande gekommen. In dieser Zeit habe Goldmann einige Aufführungen gehabt und sein Name sei nicht unbekannt gewesen, sodass Körner dann in der Staatsoper Goldmanns Namen genannte habe und so das Projekt doch noch zustande gekommen sei.330 Gefragt, wie er zur Oper gekommen sei und wieso er Oper mache, antwortete Goldmann, er sei von außen zur Oper gekommen, habe sich vorher und nachher viel mit Theater, mit Schauspielmusik beschäftigt. In diesem Projekt wollten sie, er und Körner, ausgehend von Lenz’ Der Engländer und Brechts Theaterprinzipien beim epischen Theater anknüpfen 330
Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999.
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Analysen von Beispielwerken
und sich dann musikalisch damit auseinandersetzen.331 Goldmann komponierte für sieben Sänger und sieben Musiker, betont aber, keine Kammeroper zum Ziel gehabt zu haben. Allerdings macht er keinen Hehl aus seinem Misstrauen gegenüber dem Großbetrieb Oper und dessen Starwesen. Mit R. Hot habe er auch gelernt, dass mit dem Verlassen des üblichen großen Opernapparates die Schwierigkeiten begännen. Der Repertoirebetrieb der großen Häuser erweise sich allerdings als hinderlich für komplexe und komplizierte Stücke. Goldmann konstatiert für sich ein Fremdbleiben in der Gattung, eine weitere Oper oder Kammeroper oder ein anderes Werk des Musiktheaters fehlt in seinem Schaffen bis heute, für die Zukunft schließt er es dennoch nicht aus. 332 Thomas Körner verwandte für sein Libretto einen Dramentext von J. R. M. Lenz Der Engländer – eine dramatische Phantasei, der von Lenz fünfaktig333 gestaltet war und 1777 in Leipzig erschienen ist. Lenz schrieb kürzeste Akte, oft aus nur einer Szene bestehend. Bei Lenz begeht Hot am Ende Selbstmord: „Behaltet euren Himmel für euch.“334 In Anlehnung an Lenz’ Untertitel der dramatischen Phantasei nennen Goldmann/Körner ihr Stück opernphantasie in über einhundert dramatischen komischen phantastischen posen. Körner und damit auch Goldmann richten sich nach der seltsam unproportionierten Akteinteilung von Lenz: fünf Akte mit insgesamt 6 Szenen. In Körners Libretto finden sich in Anlehnung an Lenz’ Sturm- und Drang Dramaturgie Ansatzpunkte für nichtaristotelische Dramaturgie mit einer offenen, kontrastreichen Abfolge der Szenen, die die psychologischen Handlungsaspekte umso deutlicher zeigt. Trotz verschiedener Vorbehalte gegen das Stück bekamen Goldmann und Körner für R. Hot den 1. Preis im Musiktheaterwettbewerb 1974. Einflüsse auf die Dramaturgie der Oper sind sowohl im epischen Theater als auch in der Ästhetik des Sturm- und Drang zu finden.335 In seinen kompositorischen und dramaturgischen Merkmalen zeigen sich aber auch eindeutige Bezüge zum postdramatischen Theater, so in der teilweisen Auflösung der Hierarchie der Teilbereiche – das Stück beginnt mit einer Generalpause!, außerdem gibt es auch eine Pose ohne Musik336, in seiner Fragmenthaftigkeit, die durch den abrupten Charakterwechsel der aneinander gereihten Posen hervorgerufen wird, sowie in der Einbeziehung der Musiker in das szenische Geschehen, die Zuschauer werden partiell ebenfalls einbezogen, was allerdings
331 332
333 334
335
336
Ebda. Ebda. Ein Kammeropernprojekt nach Heiner Müllers Herakles 5 von 1971 blieb Fragment. Die Kurzoper Herzstück, ebenfalls auf einen Text von Heiner Müller, wurde 2003 uraufgeführt. I/1; II/2; III/1; IV/1; V/1. Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz, Der Engländer, in: ders., Werke, hrsg. v. Karen Lauder, München 1992, S. 287–308, hier S. 306–308. Hermann Neef betont in seiner Dissertation: Der Beitrag der Komponisten Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Paul-Heinz Dittrich und Thomas Heyn zur ästhetischen Diskussion der Gattung Oper in der DDR seit 1977, 1989, dass dieser Bezug auf die Ästhetik des Sturm und Drang in der Musikästhetik bis dahin allgemein sehr selten gewesen sei. Vgl. S. 11. Ebda., S. 18.
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hauptsächlich der Regie geschuldet war. Die Theatralitätsaspekte einer Oper, explizit ein Stück Theater, müssen nicht weiter hervorgehoben werden. Der Aufbau der Oper ist durch die Gliederung in Posen gekennzeichnet, wie der Untertitel bereits andeutet.337 Die Pose wird als dramaturgisches Mittel verwendet, das entfernt in der Tradition der Nummernoper steht. Sie ermöglicht eine fortlaufende Erzählstruktur, in der aber das Diskontinuierliche, Widersprüchliche akzentuiert wird. Neef zitiert Kröplin, der die Posen als „zur reinen Form geronnene Ausdrucks- und Darstellungselemente“338 bezeichnet. Dabei existieren sehr kurze neben längeren Posen, auch Duette und Ensembles bilden jeweils eine Pose. Die gleichzeitige Akteinteilung ist vermutlich traditionell bedingt und auch der literarischen Vorlage geschuldet, die Strukturierung durch die Posen bleibt davon unberührt. Durch die Posen wird das Umschlagen pointiert, Brüche werden deutlich gemacht. Neef formuliert hier zusammenfassend: „Pose wäre auch zu definieren als musikalisch dramaturgische Einheit, um für die Verwirrung der Gefühle eine Sprache zu finden“.339 Jede Pose demonstriert ein bestimmtes stilisiertes, künstlich erzeugtes Verhalten oder einen, durch einen Vorgang hervorgerufenen Gestus. Dabei haben die Posen meist sehr unterschiedlichen Charakter und sind auch kontrastierend gestaltet. Die Protagonisten werden von Goldmann durch bestimmte Instrumente charakterisiert. Hermann Neef hat in seiner Dissertation u. a. diese Zusammenhänge ausführlich untersucht.340 Die Instrumentalparts sind sehr anspruchsvoll gestaltet, sie wurden für die Bläservereinigung Berlin – ergänzt durch einen Kontrabassisten – komponiert, ein Ensemble, das auf zeitgenössische Musik spezialisiert war. Die Musiker bedienen auch Schlaginstrumente, sprechen, pfeifen etc. und sind somit, wenn auch in bescheidenem Umfang direkt an der Handlung und an der Aktion beteiligt. Mit einer leitmotivischen Wendung, die er in der ersten Szene des zweiten Aktes erstmals bringt, karikiert Goldmann durch ihre Form der Dreiklangsbrechung die traditionelle Vorstellung von Leitmotivik. Sie manifestiert das Bildnis der Prinzessin, das Hot als Medaillon bei sich trägt.341 Fast jede Pose wurde von Goldmann musikalisch anders gestaltet, teilweise finden sich aber auch ABA- oder ABA’-Formen, die mehrere Posen beinhalten. Goldmann charakterisierte jeden Akt durch eine spezifische musikalische Besetzung. Er verwandte dabei auch Instrumentenzusammenstellungen, die gegen die Tradition stehen, als Möglichkeit, Situationen auffällig zu machen. Zur Charakterisierung der Figuren ordnete er ihnen zudem „Instrumentalcharaktere“ zu, die gleichzeitig die Posen übergreifend wirken.342
337 338
339 340 341 342
Vgl. ebda., S. 12ff. Vgl. ebda., S. 13, zitiert nach: Eckart Kröplin, Opern der letzten Jahre, in: Theater der Zeit 32, H. 12, 1977, S. 42. Ebda. Ebda., S. 16ff. Ebda., S. 20. Ebda., S. 16f.
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Notenbeispiel 26: Friedrich Goldmann, R. Hot bzw. Die Hitze, Leipzig: Edition Peters, 1974, S. 37, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Zudem arbeitete er mit Tonbandzuspielungen, mit denen er beispielsweise in den Posen 13 und 14 Rockmusik einbezieht und so auch die Lebenssphäre jüngerer Zuschauer mit Hot in Verbindung bringt. (Vgl. Notenbeispiel 26) Linear-finale Handlungsstrukturen werden in dieser Oper zurückgedrängt, Körner und Goldmann bevorzugen mehrschichtige Erzählweisen. Gleichzeitig zeigen sie keine geschlossenen homogenen Figuren, sondern offene widersprüchliche Charaktere. Affekte und Situationen werden ins Extrem getrieben, um sie sehr deutlich werden zu lassen und den Zuschauer aufzufordern sich zu ihnen ins Verhältnis zu setzen. Gleichzeitig werden Figuren, Handlungen und Situationen nicht als einschichtig und kausal sondern als mehrfach begründbar und determinierbar dargestellt. Dies geschieht durch mehrere kontrastierende Schichten. Goldmanns erklärtes Ziel ist die Vermeidung einer Vereinfachung komplexer philosophischer und politischer Zusammenhänge in der Oper.343 Sowohl in der Vokalbehandlung als auch in der Instrumentenbehandlung verwendet er teils strenge, teils freie serielle Techniken. Die seriellen Grund-Muster ermöglichen ein Spiel jenseits von Einfühlung. Im Interview merkte Goldmann bezüglich seiner Intentionen mit der Komposition von R. Hot an, es sei ihm um eine Reduktion gegangen, darum, keinen riesigen Apparat zu verwenden, sondern Detailgenauigkeit sei ihm wichtig gewesen, die sich in den über 100 Posen ausdrücke, aus denen die Oper bestehe.344 Die Uraufführung der Oper fand an der Berliner Staatsoper statt, inszeniert wurde sie von Peter Konwitschny, damals ein junger Opernregisseur und Assistent von Ruth Berghaus. Goldmann bewertete die Zusammenarbeit mit Konwitschny im Nachhinein als sehr problematisch und erläuterte, dass er am Ende mit dem Resultat nicht zufrieden gewesen sei. Bestimmte Probleme seien seiner Meinung nach durch die Situation des Theaters geschaffen gewesen, durch die Nähe zur Grenze, durch räumliche Gegebenheiten. Konwitschny habe die Gefängnisszene mit Suchscheinwerfern inszeniert, wodurch im Publikum Eiseskälte entstanden sei. Diese Eiseskälte sei nur dadurch aufgelöst worden, weil am Ende ein Unfall passierte, als ein Luftballon als Busen platzte. Dieser Unfall habe die Premiere gerettet und die Spannung gelöst. Goldmann sieht es im Nachhinein als Fehler an, dass er und Körner mit Konwitschny um Aspekte der szenischen Umsetzung stritten. Die Staatsoper habe Konwitschny aber auch Steine in den Weg gelegt, was zusätzlich zu Komplikationen führte. Die Frage nach der Provokationsabsicht verneinte Goldmann im Interview zuerst energisch, um dann aber fortzusetzen, dass es diese Absicht bei Hot durchaus gegeben habe, jeder Satz sei eigentlich Provokation. Das Schwierigere sei, heute eine Provokation loszuwerden, in der DDR sei das leicht gewesen. Goldmanns Sorge sei eher gewesen, ob das Stück auch im Westen funktioniere, denn wenn das Stück nur in der DDR funktioniert hätte, hätte man es nicht schreiben müssen, das sei die DDR nicht wert gewesen.
343 344
Vgl. Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Ebda.
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Das [die Provokationsabsicht, K. S.] habe zwar momentan mal mitgespielt, aber nur punktuell, denn dass es alle auf sich beziehen, sei trotzdem klar gewesen.345 Sigrid Neef war als Dramaturgin der Staatsoper bereits in der Entstehungsphase mit den Autoren in Kontakt und verfasste mehrere Gutachten, die die Eignung des Librettos bzw. dann der Oper für die Opernbühne im sozialistischen Staat zum Inhalt haben. Interessant ist, wie sie darin nicht nur Inhalte und Herangehensweisen beschreibt, sondern auch mögliche Vorwürfe und Argumente gegen das Stück von vornherein entkräftet bzw. durch vorausschauendes Aufgreifen entschärft. Diese möglichen Vorwürfe betreffen sowohl Aspekte des Sujets und des Librettos als auch die avancierte musikalische Umsetzung, zum Beispiel auch die Einbindung von damals so genannter Beat-Musik. In einem Gutachten346 zum Libretto verteidigt sie die philosophische Verallgemeinerung des Stoffes und seine Abstraktheit und Vieldeutigkeit, da der Autor nicht den Weg der Darstellung der Diskrepanzen von Liebesanspruch und gesellschaftlich politischen Idealen im Sinne der Lenz-Zeit gewählt habe, sondern: „einen anderen Weg [versuche, K. S.]: die Probleme auf ihren allgemeinsten philosophischen Gehalt zurückzuführen. Damit werden sie zwangsläufig auch abstrakter und vieldeutiger. Die Abstraktheit und Vieldeutigkeit ist aber nicht unbegrenzt. So wird in der Schlußlösung (der dramatische Konflikt theatralisch aufgelöst) und in den Veränderungen bei der Figurenführung des Robert Hot der Standpunkt unserer Epoche erkennbar und gibt damit dem Konflikt die notwendige Abgrenzung und historische Konkretheit.“347
Sicher nicht von ungefähr spielt die deutliche Ironie am Schluss von Körners Vorlage bei dieser Erörterung keine Rolle. Stattdessen beschreibt sie den Schluss als Idealisierung des Liebesanspruches: „Die gegenüber Lenz neu gefundene Schlußlösung, in der die Prinzessin den dramatischen Knoten durchschlägt und den Konflikt so von der Ebene unserer Zeit und unserer Gesellschaft aus löst, ist dramaturgisch vorbereitet und künstlerisch glaubwürdig, da sich in dieser Figur (daher Prinzessin) in idealer Weise der Liebesanspruch harmonisch realisiert.“348
Am Ende wird von Neef die zweite Ratenzahlung an Körner befürwortet, die Musik lag der Dramaturgin hier noch nicht vor.
345 346
347 348
Ebda. Sigrid Neef, Gutachten zur Kammeroper „Hot“. Interesse am Stück von Lenz und dessen Bedeutung, maschr., ohne Datum, Europäisches Zentrum der Künste Hellerau/Zentrum der zeitgenössischen Musik Dresden. Ebda., S. 2. Ebda., S. 4.
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In einem weiteren Gutachten von 1973349 informiert Neef wiederum als betreuende Dramaturgin über Hot und wirbt für die Aufführung des Stückes. Sie betont die Aktualität des dargestellten Konfliktes sowie die Qualität des Stoffes und Dramas von Lenz. Das Stück biete Möglichkeiten zur Erprobung neuer Gestaltungsweisen, dies werde auch durch die geringe Personenzahl und den geringen dekorativen Aufwand begünstigt. Im Gegensatz zu Goldmann im Gespräch350 schreibt Neef hier, dass die Autoren sich schon seit Jahren mit dem Plan tragen würden und sich der Regisseur Adolf Dresen bereits dafür interessiere. Weiterhin berichtet sie, dass die Möglichkeit einer Transponierung des Konfliktes in die Gegenwart von den Autoren verworfen worden sei, da historischer Abstand nötig sei für den „entsprechenden Grad der Verallgemeinerung und poetischer Transparenz“351, der hier angestrebt werde. Goldmann sei „einer unserer begabtesten Komponisten“352 und ihm solle die Möglichkeit zur Realisierung gegeben werden, auch wenn augenscheinlich diskussionswürdige Aspekte vorhanden waren, wie man folgendem Absatz des Textes entnehmen kann: „Wenn wir an den Komponisten, sein Können, sein Anliegen und an die Qualität der gewählten Vorlage und an die Produktivität der Zusammenarbeit zwischen Librettisten und Komponisten glauben, so heißt das nicht, daß wir aufgrund des vorgelegten Exposés nicht bereits Schwerpunkte unserer Zusammenarbeit mit den Autoren sehen und Probleme, die es zu bewältigen gilt.“353
Weiter führt Neef aus, dass die Oper einen experimentellen Charakter auch im Hinblick auf das Publikum habe, welches „in ein aktives, wertendes Verhältnis zum Bühnengeschehen versetzt“354 werden solle. Dabei solle das Orchester als „wertendes Subjekt“355 in Erscheinung treten: „Hauptanliegen ist es dabei, den ständigen Prozeß der Wertung des Bühnengeschehens durch das Publikum durch Zustimmung, Identifikation, Ablehnung und Verurteilung von Handlungen der Bühnenfiguren durch das Orchester bewußt mitzugestalten, d. h. Publikumsreaktionen zu fördern, zu lenken und zu provozieren. Hinter diesem Anliegen steckt nicht nur ein formaler Wille zum Experiment, sondern es ist in der Konfliktqualität des Stückes bedingt.“356
349
350 351 352 353 354 355 356
Sigrid Neef, Zur Kammeroper „Hot“, geplant als Uraufführung für die Reihe „Neues im Apollo-Saal“, maschr., 17.7.73, Europäisches Zentrum der Künste Hellerau/Zentrum der zeitgenössischen Musik Dresden. Vgl. oben und Gespräch der Autorin mit Friedrich Goldmann in Berlin am 29.11.1999. Neef, Zur Kammeroper „Hot“, 17.7.73, S. 1. Ebda. Ebda., S. 1f. Ebda., S. 2. Ebda. Ebda.
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Der zitierte letzte Satz ist hier als besonders wichtig einzuschätzen, nimmt er die Oper und damit die Autoren doch vor dem Vorwurf der bloßen Experimentierwut ohne Aussageabsicht in Schutz, der avancierten Stücken gegenüber häufig im Raum stand. Zur gesellschaftlichen Einbindung des Sujets und damit der ganzen Oper nimmt Neef ebenfalls Stellung: „Die Frage nach dem rechten Maß menschlicher Glückserfüllung soll in der Oper am Verhältnis von Vernunft und Vernünftigkeit, von Gefühl und blinder Gefühlsseligkeit, von Unterordnung und Einordnung, von Behauptung oder Preisgabe des eigenen Anspruches und der notwendigen Sozialisierung des eigenen Ichs, dessen Grenzen und Möglichkeiten, gestellt werden. Das sind Fragen, die einen jungen Menschen, der sich selbst und seinen Platz in der Gesellschaft sucht und entdecken will, bewegen.“357
In ihrem Artikel für Theater der Zeit 1976358 betonte Sigrid Neef die Eignung des Themas als Oper für jüngere Zuschauer wegen des Menschenbildes des Sturm und Drang. Der bei Lenz im Selbstmord endende Schluss werde durch die Autoren geändert, nun verhindere das Eingreifen der Prinzessin die tragische Konsequenz und ermögliche den Schritt des Helden zum selbstbewussten Menschen, woraus die Moral zu erkennen sei: „Entwicklung und Vollendung ist nur durch und mit anderen Menschen möglich.“359 Neef beschreibt die Möglichkeit der aktiven Beteiligung des Publikums, das Meinungen nicht übernehmen, sondern prüfen solle und die Dialektik von Tragischem und Komischem. Zum Begriff der Pose schreibt sie hier: „Pose meint hier, daß Figurencharakter, Figurenbeziehungen, Darstellung der Situation und Verhältnisse, das arrangierende, bewertende Denken und Gefühl der Autoren-Regisseure, die demonstrative Künstlichkeit der Gattung und die Wahrheit der subjektiven Äußerung, Rollenverhalten und kreatives Sein in einem komprimierten Zustand erfaßt sind und zum Ausdruck gelangen.“360
Goldmanns Einbezug verschiedener Stile und seine Auseinandersetzung mit den Musikvorlieben der jungen Generation kommentiert Neef folgendermaßen und versucht scheinbar gleichzeitig Kritik vorzubeugen: „Der musikalisch-kommunikative Bezug zu einem jungen emanzipierten Publikum von heute ist wenig oder kaum über äußerliche Stilmerkmale angestrebt, die Einspielung von Beat-Musik über vorproduziertes Tonband kann nicht für die Gesamtkomposition stehen, sondern diese Beziehung
357 358
359 360
Ebda. S. 4. Sigrid Neef, Aspekte einer Opernphantasie. Zu „R. Hot“ von Körner/Goldmann, in: Theater der Zeit 31, 1976, H. 8, S. 64f. Ebda., S. 64. Ebda., S. 65.
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stellt sich her, wenn die Musik Ausdruck einer Grundhaltung ist, in der sich der Komponist mit diesem Publikum einig weiß.“361
Liesel Markowski geht in ihrer Rezension für Musik und Gesellschaft362 ebenfalls auf die Gliederung der Oper in Posen ein: „Eine Methode, die dramatische Aktion weitgehend ausschließt, Handlungsvorgänge in den Hintergrund drängt. Sicher ist dies bei Lenz vorgeprägt, doch werden in der Adaption vor allem die in der Vorlage enthaltenen ironisch-grotesken Züge stark hervorgehoben, teilweise bis zur Karikatur zugespitzt.“363 Sie lobt Goldmanns Musik, kritisiert aber, dass die Emotionalität der Hauptfiguren unterkühlt sei und das Happyend unentschieden. Weiter sei unklar, womit sich die Autoren identifizieren und das Ende gebe keine Antwort, sondern stelle neue Fragen. Zudem sei die szenische Realisierung unbefriedigend. Zum angestrebten Mitdenken und zur Mitarbeit des Publikums resümiert Markowski: „Aber die wohl beabsichtigte Anteilnahme des Publikums fand nicht statt, denn mangelnde Textverständlichkeit und vor allem das unzureichend gewährleistete Fabelverständnis verhinderten dies.“364 Diese Schwierigkeiten des Publikums, Goldmanns Musiktheater zu rezipieren, liegen vermutlich hauptsächlich darin begründet, dass er die beschriebenen neuen dramaturgischen Strukturen mit als erster konsequent umsetzte. So antwortete er in einem Gespräch zur Opernphantasie 1978, nachdem er auf die Struktur der Posen eingegangen war, auf den Einwurf des Interviewers: „Das widerspricht aber dem heute gültigen Musiktheaterprinzip.“ mit der Gegenfrage: „Wir sind uns klar, daß wir etwas ungewöhnliches fordern. Aber muß das Richtige immer das einzig Richtige sein?“365 Im Gegensatz zu vielen anderen Werken des Musiktheaters erlebte R. Hot verschiedene Inszenierungen in Ost- und Westdeutschland, allein bis zum Ende der 1970er Jahre kamen mindestens drei weitere hinzu: Stuttgart 1978, Schwerin 1979und Hamburg 1980.366 Rainer Kunad schrieb seine Kammeroper Der Eiertanz 1975. Den Text gestalteten Susanne Böhnel und Rainer Kunad nach Franz von Pocci, die Besetzung besteht aus einem Bariton sowie einem Instrumentalensemble mit Klarinette, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Kontrabass und Schlagzeug. Die gestalterische Finesse dieser Oper besteht darin, dass Kunad die vorschreibt, sie mit Marionetten aufzuführen, was zur Entstehungszeit dieser Oper und auch später eine eher seltene Darstellungsvariante war. Die Musik gibt sich als eher konventionell zu erkennen, mit neoklassizistischen Zügen 361 362
363 364 365
366
Ebda. Liesel Markowski, „R. Hot“, Opernphantasie von Friedrich Goldmann uraufgeführt, in: Musik und Gesellschaft 27, 1977, S. 273–75. Ebda., S. 275. Ebda. Friedrich Goldmann, Gespräch zur Opernphantasie „Hot“ (1978), in: Komponisten der DDR und ihre Opern, 2. Teil: Beiträge zu einzelnen Werken, hrsg. v. Stephan Stompor, = Material zum Theater 118, Reihe Musiktheater 26, Berlin 1979, S. 155–157, hier S. 156. Ebda.
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und polytonaler Gestaltung, aber auch Anklängen an Eisler oder in der Begleitung an Kampflieder. Der Titel und auch das Auftreten Hanswursts versprechen mehr an frecher und dramaturgisch neuartiger Gestaltung als die Oper halten kann.367 Nach einem Prolog ist die kleine Oper, die auch als Kurzoper charakterisiert werden kann, in vier „Eiertänze“ gegliedert ist. Hanswurst bestimmt als einziger Darsteller und Sänger die Handlung und übernimmt auch die Partien der restlichen Personen, die von Puppen dargestellt werden, welche wiederum ebenso vom Sänger des Hanswurst geführt werden. Hanswurst setzt auf einem Marktplatz einer Kleinstadt ein riesiges Ei ab, das als Problem zur Auseinandersetzung reizt und vom Bürgermeister, seiner Frau, vom Astronom und anderen Bürgern eine Lösung verlangt, die nicht gefunden wird. Am Schluss gibt Hanswurst die Frage an das Publikum weiter: „Wie hättet Ihr es denn bewegt???“368 Auch dies ist wieder eine im Kontext der Gepflogenheiten des Zwischen-den-ZeilenLesens im DDR-Theater durchaus zu Parallelisierungen herausfordernde Frage. Die postdramatischen Ansätze der Kurzoper finden sich wiederum hauptsächlich im Bereich der Körperlichkeit, die hier aus praktisch entgegen gesetzter Sicht thematisiert wird, da keine Körper von Darstellern, außer dem Hanswurst, bei der Darstellung mitwirken. Inhaltlich wird aber durchaus durch die Thematik des Ausbrütens in verschiedenen geistigen und körperlichen Interpretationsarten auch Körperliches angesprochen. Thomas Hertels Oper Leonce und Lena entstand gleichzeitig mit der gleichnamigen Oper von Paul Dessau. Hertel erklärte aber, er habe während der Komposition nichts von dem Stück, das 1979 in Dessaus Todesjahr zur Uraufführung kam, gewusst.369 Bereits die Besetzung zeigt eine andere Herangehensweise als diejenige von Dessau. Hertel verschränkt viel stärker verschiedene darstellende Künste indem er Sänger, Schauspieler, Tänzer und Marionetten beteiligt. Das 1979 auf ein Libretto von Karla Kochta nach Büchners Lustspiel entstandene Stück wurde 1981 in Greifswald uraufgeführt. Die Besetzung besteht aus zwei Schauspielern (Tenöre), einer Schauspielerin (Alt), einem Sänger (Bassbariton), zwei Tänzerinnen, einer Marionette und Marionettenleisten sowie aus Flöte, Oboe, Klarinette, Saxophon, Trompete, Posaune, Violine, Viola, Violoncello, E-Piano, E-Gitarre, Bassgitarre und Drums. Die Instrumentalisten sind zum Teil in die Textwiedergabe einbezogen, so beispielsweise in einer Szene mit der Tänzerin Rosetta, die hier als Beispiel für den Umgang Hertels mit dem Text dienen kann. Hier tanzt Rosetta, dazu kommen auf Maultrommeln spielende Instrumentalisten sowie flüsternde Orchestergruppen, die jeweils über Mikrophon verstärkt werden. Laut Regieanweisung schwankt die Dynamik je nach Intensität des gestischen Ausdrucks, Hertel
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Vgl. die Auseinandersetzung der Autorin mit dem Werk in: Katrin Stöck, Hans Wurst auf der Opernbühne der DDR, in: Komik. Ästhetik, Theorien, Strategien, Kongressbericht Wien 2004, hrsg. v. H. HaiderPregler u. a., = Maske und Kothurn 51, H. 4, Wien 2006, S. 401–410. Rainer Kunad, Der Eiertanz. Minioper nach Pocci für einen Sänger, fünf Puppen, sieben Musiker und einen Dirigenten, Klavierauszug von Wilhelm Hübner, Leipzig: Edition Peters, 1983, S. 27. Thomas Hertel, Warum Büchner?, in: Theater der Zeit 36, 1981, H. 11, S. 12.
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nennt das „Unruhewellen“.370 Der Text ist dabei auf die verschiedenen Gruppen verteilt, der Rhythmus ist notiert, die Tonhöhe ist es nicht. Später kommt dann Leonce cantilenenhaft sprechend hinzu371: Hertel wählt hier eine relative Tonhöhennotierung, der Rhythmus ist ebenfalls genau angegeben. Die Glissandi Leonces korrespondieren dabei mit den Maultrommelglissandi. Die Instrumentalisten sprechen den Text meist nacheinander, aber es werden auch einzelne Laute aus dem Text herausgelöst. (Vgl. Notenbeispiel 27) Eine weitere interessante Szene findet sich im 4. Bild, hier werden Lena und ihre Gouvernante gezeigt. Lena wird von einer Schauspielerin, die auch singt verkörpert, die Gouvernante von einer Tänzerin, wobei Hertel in einer Regieanweisung festlegt, dass die Reaktionen der Gouvernante auf Lena choreographisch zu lösen sind. Hertel überlässt dies vollkommen der Regie und bringt keine weiteren detaillierten Regieanweisungen dazu.372 Die verschiedenen Umgangsweisen mit Stimme zeigt bereits der oben angeführte Besetzungszettel: Hertel besetzt Schauspieler, die singen und auch Sänger, die Figuren äußern sich singend, sprechend und durch Sprechgesang. Hertel verwendet dabei auch verschiedene Formen für den Gesang, so finden sich z. B. ein Gesang mit Refrain „Auf dem Kirchhof will ich liegen wie ein Kindlein in der Wiegen“373 und eine Nocturne374, die Leonce und Lena a cappella singen. Der Umgang mit dem Orchester wurde bezüglich der Sprechtexte bereits angesprochen. Der Beginn des neunten Bildes zeigt einen sehr interessanten szenischen Umgang mit den Musikern. Das Orchester stellt dort das Volk dar, Mithilfe eines Spots auf das Orchester wird dieses in den Fokus genommen. Es steht auf, wenn es im Tutti spielt und Text mit notiertem Rhythmus und relativer Tonhöhe deklamiert, und setzt sich, wenn es, aufgespaltet in fünf Orchestergruppen und mit aufgeteiltem und polyphon dargebotenem Text agiert.375 Hertel vermerkte in der dazugehörigen Regieanweisung: „zum Orchestertext die Marionettenfäden der Bauern überdimensional sichtbar“. Auch in Bild 10 am Anfang beim Auftritt des Königs Peter stellt das Orchester das Volk mit dem Text „Vivat“ dar.376
370 371 372 373 374 375 376
Thomas Hertel, Leonce und Lena, Klavierauszug, Leipzig: Edition Peters, o.J., S. 45, 3. Bild ab T. 46. Ebda., S. 46, ab T. 62. Ebda., S. 105. Ebda., S. 109, 4. Bild ab T. 34. Ebda., S. 182f., vor dem 8. Bild. Ebda., ab S. 196, 9. Bild. Ebda., S. 199f.
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Notenbeispiel 27: Thomas Hertel, Leonce und Lena, Klavierauszug, Leipzig: Edition Peters, o. J., S. 48, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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Der Gebrauch von Masken in dem Stück ist aus dem Sujet erwachsen. In Büchners Text ist der Maskengebrauch bereits enthalten, er wird aber durch Hertel ausgeweitet. Durch die gleichzeitige Arbeit mit Marionetten wird der Aspekt der Künstlichkeit und Typenhaftigkeit der durch die Masken zum Tragen kommt, weiter verstärkt. So treten beim Zusammentreffen mit König Peter Leonce, Lena und Gouvernante mit Gesichtsmasken, Valerio mit einer Gesichtsmaske und drei Körpermasken (Wissenschaftler, Held, Genie) auf377. Die Wandelbarkeit Valerios, die nicht nur auf seine Stellung als Spaßmacher bezogen ist, sondern die ihn auch als Trickster378, als Reisender zwischen verschiedenen Welten, zeigt, wird durch die Maskenverwendung hier besonders deutlich. In dem Moment, an dem Leonce und Lena die Masken abnehmen379 wird a cappella gesungen, erst später, setzt die Begleitung wieder ein380, wenn König Peter die Regierung abgibt. Dabei nimmt er Valerios Körpermasken und beginnt ein philosophisches Spiel mit ihnen. Peter schlüpft jetzt also in Valerios Rollen und wird damit zum scheinbaren Spaßmacher aber gleichzeitig zum viel durchschauenden Trickster. Während dieser Szene summt Lena von Anfang an, während Leonce bis zum Einsatz von Valerio noch Text hat, dann aber auch summt. Valerio geht drei Takte vor Schluss ebenfalls zum Summen über, alles wird aleatorisch weitergeführt bis der Vorhang fällt, das Stück endet also a cappella.381 Postdramatische Aspekte der Oper wurden bereits in einigen Beschreibungen deutlich, so vor allem Aspekte von Körperlichkeit, die ebenfalls durch den Masken- und Marionettengebrauch, aber auch durch den Einbezug von Tänzern, ja durch die praktisch stumme Verkörperung einer Rolle innerhalb einer Oper, akzentuiert werden. Auch das Hinzuziehen des Orchesters für die szenische Darstellung spielt hier eine Rolle. Ebenso wird der Umgang Hertels mit der Dichte der Zeichen, die hier häufig als Reduktion hörbar ist, deutlich. Aspekte von Theatralität sind bei explizit theatralischen Stücken wie einer Kammeroper vorhanden und müssen hier nicht diskutiert werden. Hertel äußerte sich in der Zeitschrift Theater der Zeit382 zu seinem Umgang mit Büchner und seinen „Motivationen zur Konzipierung des Librettos Leonce und Lena“. Dabei sei ein „eklektischer Ausgangspunkt“ das „‚romantische‘ Zitatverhalten der Personen“383. Ein weiterer bestehe in der im Sujet enthaltenen Satire auf politische deutsche Staatszustände. Hertel verdeutliche hier die Figurenhierarchie von menschlichem Darsteller in Marionettenkapseln über die stimmlose Marionette bis hin zu Marionettenleisten. Des Weiteren habe ihn die Parodie der idealistischen Philosophie durch Büchner 377 378
379 380 381 382 383
Ebda., S. 208. Begriff aus der Theaterwissenschaft für Schelmenfiguren mit mythischem Tiefgang, der meist über Möglichkeiten der Reise in die Anderwelt und weitere Fähigkeiten verfügt, die über ein Schelmendasein hinausweisen. Hertel, Leonce und Lena, S. 222, T. 299. Ebda., S. 224, T. 319. Ebda., S. 228–232. Hertel, Warum Büchner?, 1981, S. 12. Ebda.
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angeregt, Hertel verwende, um dies umzusetzen, den Tritonus als hohle Klammer. Ein anderer Aspekt ist der Lustspielcharakter, der besonders die Figuren Valerio und Leonce betreffe. Andere Merkmale von Büchners Text seien die intellektuell-reflektorischen Monologe, die bis zur jeweiligen Kulmination geführt und dann vom Gegenspieler abgebrochen würden, sowie der fragmentarische Charakter der Fabel.384 Zum musikalischen Ansatz erläutert Hertel hier hauptsächlich die Gestaltung verschiedener Formen von Sprechgesang, der für ihn ein wesentlicher Parameter ist. Dabei ergäben sich durch die Zusammenführung von Sängern/Schauspielern, Tänzern, Marionetten unterschiedliche Artikulationsmöglichkeiten der miteinander agierenden Figuren. Dies sind einmal der Dialog zwischen menschlichem Darsteller und Marionette, Hertel nennt es „parodistischer Sprechgesang“, zum zweiten die Artikulation der Marionettenleiste der Bauern durch den „plakativ-programmatischen“ Sprechgesang des Orchesters. Wiederum finde sich lyrisch-volksliedhafter Text der Tänzerin im Flüstertanz des Orchesters und außerdem vom Sprachrhythmus abgeleiteter Sprechgesang bei Leonce und Valerio. Eine weitere Art des Sprechgesangs als quasi Kantilene zeige sich z. B. im Todesbild von Rosetta oder im Sprechgesang-Duett zwischen Leonce und Lena.385 Gerhard Müller rezensierte die Oper 1981 in Theater der Zeit386, wobei er die „begabte, phantasievolle Musik, moderne Musik mit suggestiver Wirkungsfähigkeit und Charakterisierungskraft“ lobte, aber Hertel attestiert, dass er den „Witz der Sache halb verfehlt“ habe, denn die Titelhelden seien in dieser Oper ziemlich ernsthafte Figuren und Hertel gestalte nur den König komisch, was aber bei Büchner nicht der Fall sei. Hertel komponiere eine Seelenqual, die bei Büchner nicht da sei.387 Auch wenn dies zum Stück nicht passe, sei das Gefühl aber echt gewesen und so auch die Musik, die so sein müsse. Müller setzt sich außerdem mit Hertels Zitattechnik auseinander, die u. a. Volkslieder (cume, cum, Vom Himmel hoch), Zitate aus anderen Opern (Verkaufte Braut) u. a. verwende. Hertel kombiniere Matthus’ charakterisierende Klangfarben-Dramaturgie, Goldmanns Klangschärfungen und Dessaus Zitattechnik und schaffe daraus aber etwas sehr Eigenes.388 Allerdings kritisiert Müller die Inszenierung als zu avanciert, außerdem habe sie die Schwächen des Stückes eher verstärkt anstatt sie zu korrigieren.389 „Neue Opern werden leider oft zu Spielwiesen von zu Unrecht Ambitionierten, und die mühselig gefundene Variante präsentiert sich dem Publikum als originale Werkgestalt. Das trifft nicht nur Greifwald, wo man auch eine völlig normale, unambitionierte Inszenierung hätte machen können. Ähnliche Erfahrungen machte ich auch an anderen Theatern. In Schwerin spielte man Dessaus ‚Einstein’ mit unnötigen modischen Anflügen. Goldmanns ‚R. Hot’ widerfuhr es seinerzeit in Ber384 385 386
387 388 389
Ebda. Ebda. Gerhard Müller, Jenseits der Drehscheibe. „Leonce und Lena“ von Thomas Hertel als Uraufführung in Greifswald, in: Theater der Zeit 36, 1981, H. 11, S. 10–12. Ebda., S. 10. Ebda., S. 11. Ebda.
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lin auch. Der Ruf nach neuen Wegen und kühnen Konzeptionen gerinnt so zum Klischee, die neue Oper wird zum Refugium für Halbzeuge. Eine solche Trennung zwischen ‚Avantgardismus’ und Repertoire wird die zeitgenössische Oper nie heimisch machen. Im Gegenteil, hier neigt Theater ungewollt dazu, sich selbst als unzuständig zu erklären.“390
Dabei vergisst Müller aber, dass viele der avancierten Aspekte in der Umsetzung der Oper bereits von Hertel vorgegeben oder angelegt sind, besonders die Kombination von Sängern, Marionetten, Tänzern und stummen Rollen ist in der Partitur enthalten und Teil des musiktheatralischen Konzeptes des Komponisten. In seiner Rezension für Musik und Gesellschaft391 stellte dagegen Karsten Bartels fest, dass szenische Situationen prägnant musikalisch erfasst und ihnen zugleich tiefere Bedeutung gegeben worden seien. Hertel sei mit heutigen Kompositionstechniken umgegangen, habe unterschiedliche Stilmittel angewendet und trotzdem Homogenität erzielt. Auch Bartels erwähnt das Erzielen von Ironie durch den Einsatz musikalischer Zitate, kritisiert aber, dass diese Zitate strukturell zu wenig verarbeitet seien.392 Schenkers Kammeroper Bettina (komponiert 1982, uraufgeführt in Berlin 1987, ursprünglicher Titel Briefe an Aja) gehört ebenfalls zu den ambitionierten Kammeropern, die besonders durch eine äußerst komplexe Intertextualität, durch Besonderheiten der Besetzung – Solistin und Kinderchor – und den ungewöhnlichen Umgang mit dem Text gekennzeichnet ist.393 Die verschiedenen Merkmale postdramatischen Theaters finden sich hier in der Textverarbeitung, die die Enthierarchisierung der einzelnen künstlerischen Darstellungsebenen zeigt, denn in dieser Oper wird ca. 70 % des umfangreichen Textes gesprochen. Ein nuancenreiches Konzept der Körperlichkeit ist ebenfalls zu erkennen, einmal in der Konfrontation der Hauptfigur mit ihrer eigenen Stimme vom Band, also einer gewissen Entkörperlichung, gleichzeitig durch das Hineinversetzen in andere „handelnde“ Figuren durch die einzige Darstellerin. Peter Freiheit spielte in Halle (Saale) eine lokale Rolle für die Kammeroper als Komponist von Stücken für die von ihm Ende der 1970er Jahre gegründete Hallesche Kammeroper, die außerhalb des Halleschen Landestheaters existierte und unabhängig von ihm Inszenierungen Haus der DSF [der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, K. S.] herausbrachte. Die Sänger und Instrumentalisten stammten größtenteils aus dem hallischen Theater. Freiheit äußerte zu seinen Beweggründen für die Gründung dieser 390 391
392 393
Ebda., S. 12. Karsten Bartels, Greifswald: Uraufführung von Thomas Hertels Oper „Leonce und Lena“, in: Musik und Gesellschaft 32, 1982, S. 33–35. Ebda., S. 33. Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung der Autorin mit dem Werk in: Katrin Stöck, Identität, Differenz und Intertextualität: Friedrich Schenkers Musiktheaterschaffen in der DDR, in: Musik und kulturelle Identität, Kongressbericht Weimar 2004, hrsg. v. Detlef Altenburg u. Rainer Bayreuther, Kassel 2012, S. 608–614.
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Kammeroper, dass er hier lieber gearbeitet habe, weil die Mitwirkenden mehr bei der Sache gewesen seien, besser mitgezogen hätten, einfach mehr Lust darauf gehabt hätten.394 Er führte eigene und fremde Werke auf, die alle konventionelle Kammeropern sind, also Opern mit kleinerem Aufwand. Avancierte Stücke mit unkonventioneller Dramaturgie hatten hier keinen Ort, Freiheit war auch als Komponist wenig avanciert. Als Beispiele dafür können Der Bär, eine musikalische Groteske in einem Akt, die 1982 bei den XVI. Hallischen Musiktagen in einem Diskussionskonzert und Der Heiratsantrag, eine heitere Kammeroper, die 1984 bei den XVII. Hallischen Musiktagen uraufgeführt wurde, kurz vorgestellt werden. Beide wurden von Werner Hasselmann inszeniert und vom Halleschen Kammerensemble unter Freiheits Leitung aufgeführt. Matthias Frede beschrieb in seinem Beitrag für Theater der Zeit395 die Aufführungssituation: „Der Zuschauerraum – ein längliches mittleres Wohnzimmer, Dachluke, Heizungsrohre, ‚aktive‘ Tapetenwände, nicht mehr als 40 Plätze. Experimentiercharakter.“396 Das Foto zeigt ein russisch-realistisches Bühnenbild und ebensolche Kostüme, die sechs Musiker – Flöte, Oboe, Fagott, Viola, Schlagwerk, Cembalo – musizierten in einem „Nebengelaß“ mit geöffneter Tür. Die Oper sei gemeinsam mit dem Heiratsantrag ein Auftrag des Rates des Bezirkes gewesen. Die unkonventionelle Musik sei dabei dem grotesken Geschehen angemessen komponiert: komödiantisch, skurril, lapidar, sarkastisch, ironisch, mit einem ständig wechselnden Rhythmus, und zwischen Dialog, Sprechgesang und kleinen Arien verlaufend. Weiterhin gebe es auch komische Geräusche, Kommentare und vokale Äußerungen der Instrumentalisten. Alles in allem laut Frede ein „ambitionierter Spaß ohne hochfliegenden Anspruch, gut gebaut“.397 Über eine Aufführung am Friedrich-Wolf-Theater Neustrehlitz schrieb dagegen Wolfgang Lange in Theater der Zeit398, es sei ein „nicht gerade sprühende Unterhaltung verschaffendes Stück“, das illustrative Floskeln und Effekte enthalte. Daneben würden die Musiker mit pointierten verbalen Einwürfen die Szene bereichern. Annette Siegmund-Schultze rezensierte die Aufführung von Der Heiratsantrag für Theater der Zeit399 und erhob neben der Feststellung, dass Heinz Röttger bereits eine Vertonung des Stoffes geliefert habe, die Frage, was der Text eigentlich für die Gegenwartsoper hergebe. Die Musik verbleibe auf tonmalerischer Ebene, was die Rezensentin am Stoff festmacht, das Kammerensemble mit dem Komponisten am Cembalo habe dagegen munter und witzig musiziert. Sie konstatierte eine häufige Verwendung russischer Rhythmen und Weisen sowie die Tatsache, dass die Komposition im Wesentlichen dem Sprachduktus folge. Eine gewisse Gleichförmigkeit sei durch die Darsteller verhindert worden. 394 395 396 397 398 399
Gespräch der Autorin mit Peter Freiheit in Halle (Saale) am 30.8.1999. Matthias Frede, „Der Bär“ von Peter Freiheit, in: Theater der Zeit 38, 1983, H. 2, S. 1. Ebda. Ebda. Wolfgang Lange, „Der Bär“ von P. Freiheit, in: Theater der Zeit 39, 1984, H. 5, S. 2. Annette Siegmund-Schultze, „Der Heiratsantrag“ von Peter Freiheit, in: Theater der Zeit 40, 1985, H. 1, S. 38.
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Jan Trieders Meister Mateh – eine instrumental recht groß besetzte (4 Flöten, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Tuba, 4 Pauken, Schlagzeug, Harfe, 6 Violinen, 6 Violen, 4 Violoncelli, 2 Kontrabässe, Streichquintett vom Band) Kammeroper in 17 Szenen und 2 Interludien mit sieben Sängern (Bariton, Sopran, Soubrette, Bass, Tenor, Tenor-Buffo, Alt) – wurde 1983 zu den Dresdner Musikfestspielen uraufgeführt. Das Libretto gestaltete Carsten Ludwig, damals Regieassistent am Staatsschauspiel Dresden, nach dem Drama des türkischen Autors Aziz Nesin400. 1981 erteilte der FDJZentralrat den Auftrag zu dieser Oper. Außerdem galt das Stück als so genanntes „Jugendobjekt“ der Dresdner Hochschulen, beteiligt waren die Musikhochschule, die Staatsoper und die Hochschule für Bildende Künste unterstützt von der Palucca-Schule. Der Mentor des Projektes war Prof. Joachim Herz.401 Im Interview erläuterte Trieder, dass der Impuls, diese Oper zu schreiben, von Udo Zimmermann ausgegangen sei, bei dem Trieder an der Dresdner Hochschule studierte. Er habe in Dresden mehr Schauspiel als Oper gesehen, Oper habe ihn auch angewidert, weil sie ihm unnatürlich, künstlich und falsch erschienen sei. Besonders Opern von Richard Strauss hätten ihm die Oper als Genre verleidet. Dagegen sei er Stammgast im Schauspiel Dresden gewesen und habe dort Theaterluft geschnuppert. Trotzdem habe er natürlich Opern gesehen und gedacht, er könne es besser. Die Kammeroper Meister Mateh halte er heute für „Schmarren und Kitsch“ und für „unheimlich moralisch“, so etwas würde er heute nicht mehr machen, sie sei ein schlichtes, flaches Märchen. Zimmermann gab ihm das Libretto zum Lesen. Beim Komponieren der Oper sei er dann aber von Zimmermann entlassen worden, weil beide nicht mehr richtig miteinander konnten. Als Schauspiel sei das Stück in der DDR zuerst 1967 in Schwerin aufgeführt worden. Trieder findet die Fabel an sich sehr schön, ein Problem sei aber die Übersetzung, weshalb manches schlecht klinge. Als Libretto verwendete er die Schweriner Übersetzung in gekürzter Fassung. Die Idee, die Oper als Studentenoper aufzuführen, habe das Problem der Kosten aufgeworfen, Trieder habe aber immer wieder angemahnt, erst einmal zu schreiben. Er habe Carsten Ludwig kennen gelernt, der Assistent in Dresden im Schauspiel war. Als die Oper fertig gewesen sei, habe Trieder sie dem FDJSekretär der Hochschule gezeigt, der dann im Zentralrat der FDJ bewirkt habe, dass die Oper rückwirkend als Auftragswerk deklariert worden sei, wodurch ihm, Trieder, jahrelang der Makel angehangen habe, Emporkömmling der FDJ zu sein. Er habe damals mit einer fertigen Oper einen Sponsor gesucht. Die FDJ habe ordentlich bezahlt, die Aufführung usw. finanziert. Zuerst sei das Thema ein Problem gewesen, weil immer von einem anderen Ort die Rede sei, das Thema Ausreise liege hier nahe. Eigentlich wollte Trieder aber darstellen, dass sich überhaupt nichts ändert, dass es keinen andern Ort
400
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(1915-1996), Pädagoge, Schriftsteller und Systemkritiker aus der Türkei. Nesin sollte laut Trieder zur Uraufführung der Oper kommen, habe aber in der Türkei keine Reisegenehmigung bekommen, vgl. Gespräch der Autorin mit Jan Trieder in Halle (Saale) am 13.9.1999. Dietmar Fritzsche, Aus Liebe zu den Menschen. Zur Uraufführung der Kammeroper „Meister Mateh“ von Jan Trieder/Carsten Ludwig durch Dresdner Musikstudenten, in: Theater der Zeit 38, 1983, H. 8, S. 20.
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gibt. Das war der Grundgedanke, der ihn interessiert hat, sowie der Gedanke, dass es Menschen gibt, die den Ton nicht hören können oder wollen, wobei die meisten aber nicht wollen. Das alles sei ein bisschen flach, er findet es bis heute gut, aber ziemlich pubertär. Zum Untertitel Kammeroper sagte Trieder im Interview, dass die Oper 31 Instrumente im Orchester vorsehe und er nicht wisse, warum er sie Kammeroper genannt habe. Aber Oper habe er dieses Stück ernsthaft genannt, im Gegensatz zu Vogelkopp, das er Opernalternative nannte.402 Die erste Szene beginnt mit den vier Flöten, die nach und nach einsteigen. Die Flöten stehen für die Supis, Instrumente, die Mateh baut und die die Eigenschaft besitzen, den Menschen die Augen zu öffnen, auch bezüglich ihres Endes. Später kommen andere Instrumente hinzu. Der Monolog Matehs bildet den Rahmen der Oper und wird am Ende wiederholt. Er ist rezitativisch gehalten, dabei genau notiert. Mateh spricht hier mit den Tönen der einzelnen Supis. In der zweiten Szene403 entspinnt sich ein Dialog zwischen Mateh und Zani, seiner Frau, der von liegenden Klängen und aleatorisch gestalteten Harfenfiguren begleitet wird. Trieder arbeitet hier auch mit Clustern. Der Dialog ist ebenfalls rezitativisch gehalten. Die dritte Szene404 zwischen Mateh und seinem Sohn Scharey, ist marschartig gehalten, was Scharey charakterisiert, es werden hauptsächlich Akkorde, teilweise im Staccato verwendet, wie alle Figuren äußert er sich rezitativisch. In der vierten Szene405, an der Matehs weitere Kinder Cino und Misa, sowie seine Frau Zani beteiligt sind, dominieren triolische Sechzehntelakkorde, alle Figuren äußern sich rezitativisch, Trieder schiebt hier bis zu drei Personen rezitierend übereinander. In dieser Szene finden sich auch Einschübe aus dem Anfang der ersten Szene sowie gesprochene Dialoge. In der fünften Szene406 kommt der Kaufmann Effer als Matehs Gegenspieler dazu. Es entspinnt sich ein Dialog zwischen Effer und Mateh, in den Einwürfe der anderen Figuren rezitativisch eingeschoben sind. Die sechste Szene zeigt Mateh allein, dessen Rezitativ wieder von meist liegenden Tönen begleitet wird und der zu dem Entschluss kommt: „Wir gehen fort von hier.“407 Ein folgendes instrumentales Intermezzo ist im Klavierauszug nicht notiert. Die siebte Szene408 zeigt Zani, Misa und Aschi, die Nachbarin. Matehs Sohn Misa, der ebenfalls Supi-Bauer ist, erklärt nochmals die Geheimnisse der Supis: „Der Klang des Supi gemahnt den Menschen an den Tod, und wer an den Tod denkt, dem ist das Leben teuer, er wird von solcher Lebensfreude erfasst, dass er sich auf die Arbeit stürzt und ihm keine Zeit bleibt, Schlechtes zu tun.“, wobei letztere Passage im Klavierauszug in: „... der wird das Leben achten,
402 403 404 405 406 407 408
Gespräch der Autorin mit Jan Trieder in Halle (Saale) am 13.9.1999. Jan Trieder, Meister Mateh, Klavierauszug, Leipzig: Edition Peters, o J., ab S. 7. Ebda., S. 13. Ebda., S. 15. Ebda., S. 22. Ebda., S. 31f. Ebda., S. 37f.
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so dass er jetzt Verantwortung in sich fühlt, dass er sich an die Arbeit macht, ...“409 verbessert ist. Aschi steht hier als Beispiel für das Unverständnis und das Sich-aus-derVerantwortung-Stehlen vieler Menschen, in dem sie erwidert: „Nicht spielen, nein! ich glaube nicht, dass sie diese Pfeifen hier verkaufen können, die Menschen werden nur aufgescheucht, sonst nichts! Kein Mensch wird solche Töne hören wollen!“410 In der achten Szene411 werden die Gespräche zwischen Mateh, Effer, Zani und Aschi wieder durch liegende Klänge und aleatorische Harfenfiguren wie in Szene sieben begleitet. In der neunten Szene412 kommen Cino, Scharey und Misa, sowie der Tod hinzu. Letzterer ist durch einen Walzer gekennzeichnet, den ein Streichquintett hinter der Bühne bzw. vom Band intoniert. In der zehnten Szene413 stehen sich Mateh und der Tod allein gegenüber, der Tod hier weiterhin durch den Walzer gekennzeichnet, wozu Musik vom Orchester und ein monologisches Rezitativ von Mateh kommen, da der Tod als stumme Rolle gestaltet ist. Die Walzermusik prägt auch die elfte Szene414 zwischen Mateh und Effer, deren Rezitativ aber nur durch den Walzer begleitet wird, während das Orchester hier schweigt. Effer will diese Töne aber nicht hören. In der zwölften Szene415 kommt Zani dazu, die Walzermusik und der rezitativische Dialog laufen weiter. Für das zweite Intermezzo finden sich im Klavierauszug ebenfalls keine Noten. Mateh und sein Sohn Misa bestreiten die dreizehnte Szene416, ihr rezitativischer Dialog ist wieder mit Orchesterbegleitung versehen, der Walzer ist noch einmal verstummt. Die vierzehnte Szene417, in der Effer, Cino und Scharey hinzukommen, hier finden sich sowohl Rezitative mit als auch ohne Begleitung. Die folgende fünfzehnte Szene418, Effer ist hier nicht beteiligt, ist durch Dialoge, deren Begleitung gestrichen wurde, gekennzeichnet. Die sechzehnte Szene419 wiederum zeigt dieselben Figuren, durch die Streichung des Dialoges entsteht aber eine Pantomime – hier die Vorbereitung eines Festes – mit Musik. In der siebzehnten und letzten Szene420 kommen Aschi und Effer wieder dazu. Auch dieses Finale ist von Rezitativen geprägt, wird aber dann durch ein „Zum Wohl!“ aller unterbrochen, es erklingt wieder der Walzer. Ein Ausspruch von Aschi in dieser Szene ist typisch für die Kommunikation zwischen den Zeilen im Theater der DDR und man kann sicher sein, dass er von den meisten Zuschauern auch entsprechend interpretiert wurde: 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420
Ebda., S. 43. Ebda., S. 44. Ebda., S. 45. Ebda., S. 51. Ebda., S. 57. Ebda., S. 62. Ebda., S. 69. Ebda., S. 71f. Ebda., S. 76. Ebda., S. 81. Ebda., S. 82. Ebda., S. 84.
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Analysen von Beispielwerken „Sie wissen ja, daß ich Straßenbahnführer bin. Von morgens bis abends fahre ich immer über die gleichen Schienen und die gleichen Straßen. Manchmal verspüre ich in mir das Verlangen nach Abwechslung, aber sie wissen, daß es verboten ist, vom Kurs abzuweichen, und die Fahrgäste wollen sich auch immer auf den gewohnten Gleisen fortbewegen.“421
Die Oper endet mit der Wiederholung des Anfangs der ersten Szene, allerdings beschränkt auf die Flötenstelle, und erfährt dadurch eine Rahmung. In Theater der Zeit rezensierte Dietmar Fritzsche die Uraufführung.422 Er beobachtete, dass Trieder mit seiner Musik keine bloße Illustration der Worte liefere, sondern ein Denken in größeren Abschnitten. Auch Fritzsche konstatiert die kontrastreiche Figurengestaltung, während Matehs visionäre Gedanken auf zartem Klangteppich aus Flöten und später Streichern vorgetragen würden, sei Effer durch harte Paukentupfer, Schlagzeugfolgen und Bläsereinwürfe gekennzeichnet. Fritzsche teilt hier auch mit, dass ein Fernsehteam die Einstudierung übernommen habe, die Regie Georg F. Mielke hatte, und die Fernsehaufzeichnung noch vor Premiere stattfand. Die Szene zeigte den Wohnraum Matehs vor einem großen Atelierfenster, dahinter ein Lichtstrahlpendel, das mit Metronompochen an den Ablauf des Lebens mahnte. In Musik und Gesellschaft stellte Friedbert Streller fest: „Der Komponist nutzte die aus folkloristisch genregeprägten Keimen entwickelten, klangflächigen Mittel seines Lehrers zur Gestaltung eines eindringlich dynamisierten Orchestersatzes, auf den er die weitgehend deklamatorischen Gesangspartien aufbaute.“ 423 Trieders Oper hat ihre avanciertesten Aspekte im Sujet und im Libretto, das an einigen Stellen sehr deutlich auf die Situation in der DDR Bezug nimmt. Typisches für die Kommunikation in der DDR zeigt sich auch hier wieder darin, dass eine literarische Vorlage eines scheinbar unverfänglichen Autors gewählt wurde. Aber durch die Fähigkeit des Zwischen-den-Zeilen-Lesens die Brisanz vieler Aussagen auf jeden Fall entstand. Insofern ist Trieders Unzufriedenheit mit dem Fakt zu verstehen, dass er durch den Auftrag des FDJ-Zentralrates mit seiner Oper in Zusammenhang mit der offiziellen Kulturpolitik gerückt wird und als Ziehkind des FDJ-Zentralrates dasteht. Der Postdramatik steht Trieder mit seiner Übernahme der im Libretto geprägten kausalen Handlung recht fern, seiner Oper eignet eher eine konventionelle Dramaturgie. Im postdramatischen Kontext sind möglicherweise die Pantomime des Todes (aber auch hier gibt es in der Oper natürlich Vorbilder) sowie der Maskengebrauch in der Inszenierung zu sehen.
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Ebda., S. 90–92. Dietmar Fritzsche, Aus Liebe zu den Menschen. Zur Uraufführung der Kammeroper „Meister Mateh“ von Jan Trieder/Carsten Ludwig durch Dresdner Musikstudenten, in: Theater der Zeit 38, 1983, H. 8, S. 20. Friedbert Streller, „Meister Mateh“ – Oper von und für Studenten, in: Opern-Traditionen und Zeitgenössisches. Berichte von den 6. Dresdner Musikfestspielen, in: Musik und Gesellschaft 33, 1983, S. 489–497, hier S. 491f.
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Annette Schlünz schrieb ihre Kammeroper Matka nach dem gleichnamigen Drama von Karel Čapek 1988/89, die Uraufführung fand 1991 in Leipzig statt.424 Die Besetzung besteht aus sieben Sängern (Mezzo oder Alt, Bass, Tenor, Bariton, Bassbariton, Tenor, Bariton) und einem kleinen Instrumentalensemble aus zwei Oboen (auch Englisch Horn), Klarinette (auch Bassklarinette), zwei Fagotten (auch Kontrafagott), zwei Trompeten, Posaune, Harfe, Schlagwerk, Streichquartett und Streichquintett (Violine, Viola, 2 Violoncelli, Kontrabass). Neben den Texten von Čapek, baute Schlünz auch solche von Friedrich Huch, Arthur Rimbaud und Ingeborg Bachmann ein. Die Partitur enthält neben ausführlichen Spielanweisungen für die Instrumente auch ausführliche Anweisungen für die Singstimmen. Die Oper besteht aus sieben Szenen, die sowohl musikalisch als auch szenisch „überblendet“ sind, dies wird szenisch durch simultanbühnenartige Anordnungen erreicht. Gezeigt wird eine Mutter, die das Sterben ihrer Söhne aus unterschiedlichsten Gründen und für unterschiedlichste Ziele nicht verhindern kann. Sie verliert sie dadurch an deren bereits toten Vater, der auf diese eine Anziehungskraft ausübt, die sie zu durchbrechen sucht. Der verwendete Text besteht hauptsächlich deutschen und teilweise auch aus italienischen Partien, zum Teil kombiniert vorgetragen, sowie Vokalisen. (Vgl. Notenbeispiel 28) Dabei gibt es gesungenen, gesprochenen und geflüsterten Text, Schreie und verschiedene Formen von Sprechgesang. Text dient auch als Klangfarbe, so beispielsweise, wenn in der Partitur die Anweisung „vor sich hin singen, Text undeutlich“ notiert ist.425 Schlünz arbeitet mit Wechseln zwischen Traumsituationen und realer Szenerie. Durch die Verwendung einer Simultanbühne sind diese Wechsel und auch Szenenüberblendungen sowohl szenisch als auch akustisch möglich. So erfolgt die Überblendung in Szene zwei, indem die Musik zum Teil noch weiterläuft und dann von neuen Elementen überlagert wird, ebenso die vokalen Äußerungen des jüngsten Sohnes Toni.426 Die Überblendung in die dritte Szene realisiert Schlünz durch hohe Flagoeletttöne der 1. Violine, die bereits am Ende der zweiten Szene eine Rolle spielen und in die dritte Szene hinüberreichen, wo sie von der 2. Violine aufgenommen werden.427 Form erreicht sie beispielsweise durch Rahmungen, die durch die Wiederholung des Textes „Du, schöne Unbekannte, aber kommst…“ an dramaturgisch relevanten Stellen entstehen.428 Außerdem wird die Oper durch den ähnlichen Ablauf des Verlustes der einzelnen Söhne strukturiert.
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Vgl. Marion Demuth, Das Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik (1986-1999) aus eigener Sicht, darin: Annette Schlünz, Matka, in: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert, Teil III: 1966-1999, hrsg. v. Matthias Herrmann u. Stefan Weiss, Laaber 2004, S. 103–106. Annette Schlünz, Matka. Kammeroper nach dem gleichnamigen Drama von Karel Čapek, Partitur Manuskript, S. 2, T. 18. Ebda., S. 21f. Ebda., S. 36–41. Ebda., S. 9 ab T. 70, S. 21 ab T. 139, S. 56 ab T. 121.
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Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 28: Annette Schlünz, Matka, Partitur Manuskript, S. 175, Copyright by Peermusic classical, Hamburg, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
Zu ihrer Auffassung von Musiktheater und ihrer Oper Matka äußerte die Komponistin 1991: „Im herkömmlichen Sinne ist ‚Matka‘ keine Oper, sondern der Versuch einer szenischen Musik, auch eines psychologischen Moments, das für mich eine große Rolle spielt. Das psychologische Moment war es auch, das mich reizte, eine Form des Theaters zu finden, die meine eigene ist, der natürlich immer Grenzen gesetzt sind in der Realisierung. Deshalb gab es auch keine Aufführungen der anderen szenischen Musiken, die ich früher schrieb. Die Hürden waren einfach zu groß,
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denn in ihnen gibt es Tänzer, Choristen, Sänger, Musiker. Man ist nicht so gewöhnt, in dem Maße mit so vielen Branchen zusammenzukommen.“429
Die postdramatischen Aspekte der Oper zielen in ähnliche Richtungen, indem durch die Simultanbühne auch parallele Handlungen gezeigt werden, die vom Zuschauer geteilte Aufmerksamkeit erfordern bzw. ein selektives Zuschauen und auch Zuhören. Merkmale von Theatralität finden sich in diesem Bühnenwerk, auch wenn Schlünz ausdrücklich keine Oper komponiert hat, ebenso. Von 1987 bis über die politische Wende in der DDR hinaus komponierte Bernd Franke die Kammeroper Leben lassen. Sie besteht aus vier Szenen für 6 Sänger (Tenor, Mezzosopran, Sopran, Bariton, Bassbariton und Alt) und 19 Instrumente (Flöte, Oboe, TenorSaxophon, Klarinette, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Tuba, Schlagzeug, Harfe, Klavier sowie Streichersolisten). Das Libretto verfasste Ingolf Huhn nach einem Motiv von Peter Gosse. Es enthält Texte von Zuccalmaglio, Schiller, Jochen Klepper, Arnold Zweig, Rachel H. Korn, Jewtuschenko, Celan und Ruth Klüger. Franke, der Meisterschüler des Opernkomponisten Siegfried Matthus war, beschrieb sein Studium bei diesem als recht unregelmäßig, unter anderem weil Franke zwischendurch auch seinen Wehrdienst leisten musste, und nicht sehr intensiv.430 Er habe einige Analysen gemacht, so von Werken Strawinskys, insgesamt könne er sich aber an wenige konkrete Inhalte erinnern. Hauptthemen seien Aufführungen und die Instrumentation von Bühnenwerken gewesen. Franke meint heute, Matthus habe ihn nicht beeinflusst. Allerdings habe Matthus die Idee für die Kammeroper Leben lassen gehabt. Sie hätten auch einmal über das Libretto gesprochen, bei der Komposition war Franke aber nicht mehr Matthus’ Meisterschüler. Matthus habe auch die Partitur nie gesehen. Matthus hatte den Kontakt zum FDJ-Zentralrat hergestellt, der den Auftrag bezahlen sollte, aber Probleme mit dem Libretto gehabt habe. Dies lag nach Franke hauptsächlich daran, dass er einen Vergleich zu anderen Diktaturen ziehen wollte. Dies führte letztlich zur Ablehnung des Librettos, was die Komposition bis 1991/92 hinausgezögert habe.431 Matthus’ Idee, dass junge Komponisten Kammeropern schreiben sollten, fand Franke „schizophren“.432 Franke habe eigentlich den Auftrag eines Theaters für seine Kammeroper gewollt, die hätten aber kein Geld gehabt. Die Wende sei für ihn deshalb genau richtig gekommen, da er durch sie mehr Zeit bekommen habe. Weiterhin erläuterte Franke, dass es für ihn interessant gewesen sei, ein Stück über einen Staat zu 429
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Ilsedore Reinsberg, Gespräch mit der Komponistin Annette Schlünz, in: Theater der Zeit 46, 1991, H. 4, S. 14f. Gespräch der Autorin mit Bernd Franke in Leipzig am 21.10.1999. Ebda. In eine ähnliche Richtung zielte ein Gespräch mit Lutz Glandien, Thomas Heyn, Frank Petzold, Jan Trieder, Jacob Ullmann und Helmut Zapf, geführt von Annette Siegmund-Schultze, Rundtischgespräch. Das Bohren des Zahnstochers in der Felswand. Ein Gespräch mit jungen Komponisten über Standpunkte nicht nur zur Oper, Musiktheater, Musical, in: Theater der Zeit 43, 1988, H. 1, S. 36–41.
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schreiben, den er nie erlebt hatte in einer Zeit, in der der andere Staat gerade unterging und dabei Vergleiche zu ziehen. Das Stück habe er dann ohne Auftrag komponiert. Gleichzeitig habe er Pech mit den Verlagen gehabt, so wurde der DVfM gerade aufgelöst. Das Landestheater Eisenach bezahlte dann glücklicherweise selbst das Material und die Uraufführung 1992.433 Es geht in der Oper um Wilhelm, der während des Nationalsozialismus in die Situation gerät, sich entscheiden zu müssen, ob er einen womöglich unschuldig Gesuchten bei sich versteckt und der dann, während der Entscheidungsfindung mit verschiedenen möglichen Konsequenzen (Haussuchung, Inhaftierung etc.) konfrontiert wird. Am Ende ist eine Entscheidung nicht notwendig, weil sich die Unschuld des Mannes herausstellte, aber die Ängste, das Misstrauen und gegenseitige Abschottung bleiben. Auch Frankes Komposition zeichnet sich durch eine äußerst differenzierte Stimmenbehandlung aus, er kombiniert Gesang, Rezitative, die arios oder weniger arios gestaltet sind, Sprechstellen und Sprechgesang. Franke verwendet Reihentechnik, arbeitet mit Zitaten und Stilzitaten aus Jazz und Blues, sowie mit aleatorischen Flächen. Außerdem kombiniert er Stimmen außerhalb der Szene dazu, hier lässt sich an einen Einfluss von Matthus’ Gedankenstimmen denken. Franke verwendet in seiner musikalischen Gestaltung auch Zitate, so beginnt nach einem instrumentalen Vorspiel als Prolog die erste Szene434 mit einem vierstimmigen Satz des Volksliedes Kein schöner Land. Die Orchesterbegleitung ist davon unabhängig aleatorisch gestaltet und besteht u. a. aus Arpeggien. Dieser Volksliedsatz wird durch ein arioses Rezitativ Hermanns unterbrochen, zuerst erklingt es ohne, dann mit Orchesterbegleitung. Die ausladende Melodik soll aufdringlich gesungen werden, es ist eine Ansprache mit stark pathetischem Gestus, die Wilhelms Geburtstag betrifft. Die anderen Figuren dagegen haben weniger ausladende und pathetische Rezitative. Die Orchesterbegleitung der Rezitative ist genau notiert. Im Text kommen mehrfach Zitate von nationalsozialistischem Gedankengut vor, das im Gegensatz zur sonst arios-rezitativischen Gestaltung sehr monoton gehalten ist.435 In der ersten Szene sind alle sechs Personen anwesend, aber Christine und Wilhelm werden teilweise abgesondert von den anderen im Dialog gezeigt. In der zweiten Szene436 dagegen ist Wilhelm allein, Franke greift hier zum Mittel der Gedankenstimmen – die auch Siegfried Matthus in verschiedenen Zusammenhängen in seinen Werken verwendete – und platziert zwei weitere Stimmen, die er mit tenor und triplum bezeichnet, außerhalb der Szene. (Vgl. Notenbeispiel 29) Zuerst erklingt ein kleines Vorspiel, dann folgt Wilhelms Monolog, der rezitativisch gehalten ist, dazu kommt der tenor (Alt und Bass unisono), der einen anderen Text bringt, der inhaltlich ein Gleichnis darstellt.
433 434 435 436
Gespräch der Autorin mit Bernd Franke in Leipzig am 21.10.1999. Bernd Franke, Leben lassen. Kammeroper in 4 Szenen, Klavierauszug, Manuskript, Leipzig 1991, S. 4. Ebda., S. 12 u. S. 19, Ziffer 27. Ebda., S. 31.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Später kommt dann auch das triplum dazu437 (Sopran und Tenor), das einen weiteren Text interpretiert. Franke hält auch die Gestaltung von tenor und triplum durch einen Chor für möglich.438 Die Gedankenstimmen kommentieren mit verschiedenen Texten Wilhelms Entscheidungsfindung in der Zeit des Nationalsozialismus einen Gesuchten aufzunehmen und zu verstecken, dabei wird das Für und Wider, das Wilhelm abwägt durch diese Stimmen als sein Gewissen gespiegelt. Franke führt die Arbeit mit den Gedankenstimmen so weit, dass im Epilog keinerlei Handlung stattfindet, sondern noch einmal die kommentierenden Stimmen erklingen. Der Klavierauszug enthält keine Regieanweisungen des Komponisten der die Inszenierung augenscheinlich vollständig einem Regisseur überlassen möchte. Dabei sind die postdramatischen Ansätze besonders in der beschriebenen Arbeit mit den Gedankenstimmen, die eine Reduktion von Bewegung auf der Szene erreichen und einen Gegensatz zu körperbetonten Konzepten darstellen, indem die Körper der Stimmen nicht auf der Szene zu sehen sind. Dadurch rückt Franke die Gewissensentscheidung ganz in den Mittelpunkt. Kritiker reagierten nach der Uraufführung 1992 zum Teil recht ablehnend und kritisierten das Sujet, das ihnen zu nah an die in der DDR herrschende Doktrin bezüglich des Nationalsozialismus angelehnt schien. Die möglichen Parallelen zu anderen Diktaturen, v. a. hatte Franke natürlich den real existierenden Sozialismus der DDR im Visier, wurden nicht thematisiert.439
437 438 439
Ebda., S. 36. Ebda. U. a. Claus Spahn, Vergangenheitsbewältigung – musikalisch, in: Die Zeit, 24.1.1992; Frieder Reininghaus, Geliebte mit jüdischer Großmutter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.2.1992.
288
Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 29: Bernd Franke, Leben lassen, Klavierauszug, Manuskript, Leipzig 1991, S. 38, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Szenische Kammermusik und -oper – Theorien und Beispiele
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Gerhard Rosenfelds Kammeroper in 15 Szenen Die Verweigerung entstand auf ein Libretto von Rosenfelds langjährigem Librettisten Gerhard Hartmann, der es nach dem Tagebuch eines Wahnsinnigen (1835) von Nikolai Gogol gestaltete. Die Uraufführung fand im November 1989 in Osnabrück statt. Dieser Uraufführungsort war den Beteiligten schon bei der Komposition bekannt. Rosenfeld war der Meinung, dass die Thematik der Oper auch heute noch aktuell sei. Auf die Frage, wie diese Verbindung nach Osnabrück zustande gekommen sei, antwortete er, dass der Regisseur seiner ersten Oper in Stralsund inzwischen in Osnabrück war und diese Oper bei Rosenfeld bestellt habe. Dies gehe nur so, weil sonst kein Mensch auf jemanden komme. Rosenfeld sollte das Stück für eine kleine Ausweichbühne dort machen. Das Motiv sei also auch wieder den Umständen angepasst gewesen. Zur Dramaturgie der Oper erläuterte er, dass es heute nicht mehr nötig sei, dass man eine Geschichte von A bis Z erzählen müsse, sondern dass lockerere Formen möglich und nötig seien. Bedingt durch den Raum haben die Zuschauer in Osnabrück fast zwischendrin gesessen und auch das Spiel sollte Workshopcharakter haben. Da könne nach Rosenfelds Ansicht „Oper heutig werden“.440 Im Zentrum der Oper steht der kleine Beamte Axenti, der in seiner Bürokratenwelt gezeigt wird. Er versucht aus dieser Welt auszubrechen und andere zum Verlassen der engen Strukturen zu veranlassen, aber es bleibt alles wie es war, nur Axenti träumt sich in das Reich der Phantasie. Hartmann gestaltete ein Libretto, das eher Typen ohne dramatisch exponierte Charaktere zeigt und die Handlung, gemäß Rosenfelds entsprechender Aussage auch nicht final-kausal anlegt. Der Text ist durch Sprachspiele und -witz gekennzeichnet. Rosenfelds Vertonung stützt sich auf differenzierte Instrumentation sowie motivisch und harmonisch einprägsame Klangfelder. Seine Textbehandlung gestaltet das Textwort so prägnant, dass hier von „Vokalgestik“441 gesprochen werden muss. (Vgl. Notenbeispiel 30) Auch bei dieser Kammeroper sind Aspekte von Theatralität wie Korporalität (durch die ausgeprägte rhythmische Komponente unterstützt), Performance und natürlich Inszenierung deutlich. Ebenso wurden die Zuschauer für ihre Wahrnehmung bereits durch die von Rosenfeld beschriebene Bühnenanordnung sensibilisiert. Die ebenfalls oben angesprochene Typisierung der Figuren sowie der Verzicht auf eine zielgerichtete Handlung weisen in Richtung postdramatischen Theaters, der Aspekt der Körperlichkeit wurde bereits genannt.
440 441
Gespräch der Autorin mit Gerhard Rosenfeld in Potsdam-Rehbrücke am 1.3.2000. Vgl. Neef, Deutsche Oper im 20. Jahrhundert, 1992, S. 419.
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Analysen von Beispielwerken
Notenbeispiel 30: Gerhard Rosenfeld, Die Verweigerung, Berlin Henschel, o. J., S. 134, © Henschel Verlag für Musik GmbH, Kassel, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
6.
Zusammenfassung
Szenische Kammermusik und Kammeroper in der DDR der siebziger und achtziger Jahre sind ein komplexes Phänomen, das nicht nur sämtliche „Höhen“ und „Tiefen“ der Kulturpolitik dieser Zeit widerspiegelt, sondern auch in seiner musikalischen, theatralen und nicht zuletzt sozialen Struktur interessante Erkenntnisgewinne über das Musikleben der DDR zulässt. Durch ihre häufig avancierten Strukturen, oft mit den gewählten Spezialensembles schnell und auf hohem technischen Niveau aufführbar, waren solche Stücke für viele Komponisten nicht nur Gelegenheit für musikalische, sondern auch für theatrale, musikästhetische und gesellschaftskritisch-orientierte Experimente. Nicht zuletzt boten sie eine willkommene Möglichkeit, der allzu starren Institution Oper mit ihren langen Produktionszeiten und häufig auch unbeweglichen Apparaten zu entfliehen sowie an westdeutsche und –europäische Entwicklungen anzuknüpfen, wobei von vielen Komponisten das „Späterkommen“ hier im Nachhinein als Glück und Chance gesehen wird, aus den entsprechenden Entwicklungen im Westen schneller eigene Schlüsse ziehen zu können. Gezeigt wurde aber auch die stilistische, strukturelle und gestalterische Vielfalt der Werke, die von der Raummusik zur Kammeroper, von den Instrumentalisten als Interpreten zu Sängern, von spätromantischen Kompositionsprinzipen bis zu avanciertesten Techniken, von systemaffirmativen bis zu oppositionellen Inhalten reicht. Dabei sind hier die unterschiedlichsten Kombinationen denkbar: So wie ausgeprägte dramaturgische Experimente nicht notwendig mit avancierten Kompositionstechniken ausgeführt werden, sind auch die verschiedenen Besetzungsformen und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen nicht an bestimmte Kompositionstechniken oder Dramaturgien gebunden, sondern von Komponist zu Komponist ausgesprochen individuell gestaltet. Dies sind auch die Gründe, aus denen in dem betrachteten Zeitraum von ca. 20 Jahren nicht von einer Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel hin gesprochen werden kann, sondern von einer Vielfalt nebeneinander existierender Varianten. Auf einige Komponenten und spezifischen Merkmale Szenischer Kammermusik und Kammeroper soll im Folgenden noch einmal zusammenfassend eingegangen werden. In den verschiedenen Formen der Szenischen Kammermusik ist eine unterschiedliche Verwendung der Sing- und Sprechstimme zu verzeichnen. Während bei den eher vom Raum geprägten Werken Szenischer Kammermusik völlig auf sie verzichtet wird, kommt sie bei vielen anderen ins Spiel, zum Teil als Sprech- seltener als Singstimme von Laien, sowie als Sprech- oder Singstimme professioneller Sänger oder Schauspieler. Zum Teil bilden sich auch Interpretengruppen, wie die Gruppe Neue Musik „Hanns Eisler“, die durch häufige Beschäftigung mit entsprechenden Stücken eine Professionalität der stimmlichen Darstellung erreichen, auch ohne ausgebildete Schauspieler oder Sänger zu sein. Festzuhalten ist aber auch hier, dass weder die Entwicklung der Szenischen Kammermusik in der DDR überhaupt, noch die Entwicklung innerhalb des Schaffens eines
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Zusammenfassung
Komponisten von der einen zur anderen Art der Stimmbehandlung „fortschreitet“, sondern es unterschiedliche Herangehensweisen aus unterschiedlichen Situationen heraus sind, die vom Thema, vom Auftrag, von den zur Verfügung stehenden Musikern, von der beabsichtigten Aussage und anderen Gegebenheiten abhängen. So spielt möglicherweise für die Übertragung der Textdarbietung an die Instrumentalisten selbst die Überlegung eine Rolle, dass die unausgebildete Stimme besonders authentisch wirken kann. Einen weiteren wichtigen Aspekt der Szenischen Kammermusik und Kammeroper stellen die vermittelten Inhalte dar. Die beiden bestimmenden derartigen Gesichtspunkte sind das Transportieren einer wie auch immer gearteten politischen Aussage oder das Thematisieren der theatralen Komponente des Musizierens. Dabei kann festgestellt werden, dass mit abnehmendem Rekurrieren auf eines der beiden Themen das andere stärker betont wird, meist aber beide Themen ineinander verschränkt sind. Szenische Kammermusik und Kammeroper sind nicht durch die Bindung an bestimmte Kompositionsstile gekennzeichnet. Hier finden sich die unterschiedlichsten Herangehensweisen, wie anhand der Beispielanalysen nachvollzogen werden kann. So vielfältig wie die von den Komponisten der DDR beherrschten und verwandten Kompositionstechniken, ist auch die musikalische Faktur der Szenischen Kammermusiken und Kammeropern. Eine Tendenz lässt sich allerdings konstatieren: So ist die eher konservative Kammeroper auch von eher konservativeren Kompositionstechniken geprägt. Wogegen Szenischen Kammermusiken oft eine ihrem avantgardistischen Theaterkonzept adäquate avantgardistische Kompositionsweise eigen ist. Dies trifft besonders auf die ersten Werke der Szenischen Kammermusik in den siebziger Jahren zu, die größtenteils von der so genannten Avantgarde-Generation geschaffen wurden. Weiterhin lässt sich zusammenfassend sagen, dass Szenische Kammermusik, wie unterschiedlich ihre Ausprägungen auch waren, immer aus einem Kommunikationsbedürfnis heraus komponiert wurde, das sich in einer unterschiedlich gerichteten gesellschaftlichen Relevanz der Stücke und in der Interaktion der beteiligten Künste manifestiert. Auch in diesem Zusammenhang spielt die Stimme eine wesentliche Rolle, transportiert sie doch, egal ob sie die unausgebildete Stimme eines Musikers, Sprech- oder Singstimme von Schauspielern oder Sängern ist, eine oft politische Aussage. Dadurch wird die gesellschaftliche Relevanz zu einem wichtigen Aspekt von Szenischer Kammermusik und Kammeroper in der DDR, aber sie spielt nicht zwangsläufig in allen Werken eine Rolle. Immer aber hat der Komponist eindeutig einen Adressaten im Kompositionsprozess vor Augen, die Mitteilungsfunktion dieser Stücke steht häufig im Zentrum. Dieser Interaktionsaspekt hat sich als eine der wichtigsten Komponenten von Szenischer Kammermusik erwiesen, wobei die Kommunikationsfunktion häufig politisch orientiert ist. Außerdem spielt der Aspekt der Selbstverständigung des Komponisten in diesem Zusammenhang eine Rolle. Szenische Kammermusik und Kammeroper können quasi als Seismographen gesehen werden, die sensibel und rasch auch auf politisch-ideologische „Beben“ reagieren konnten.
Zusammenfassung
293
Das Kommunikationsbedürfnis aller Seiten, also das der Komponisten, der Interpreten und der Zuschauer, schlägt sich einerseits in einer Interaktion der Künste nieder, andererseits in dem Versuch der Komponisten, auch mit dem Publikum zu kommunizieren. Interaktion ist zwischen Musikern/Komponisten und Publikum allerdings oft nur rudimentär vorhanden. Trotzdem wird versucht, die traditionelle Konzertsituation zu sprengen und auf das Publikum zuzugehen, es zum Reagieren zu provozieren. Dazu ist auch ein Umrunden des Publikums, ein Spielen in seinem Rücken etc. als Aktivierung desselben geeignet, da es sich seines Daseins, seiner körperlichen Anwesenheit bewusst wird und sich nicht länger als unbeteiligten Beobachter begreifen kann. Zwar sind von den wenigsten Stücken Videoaufzeichnungen greifbar, aber auch in Konzertmitschnitten können die Reaktionen des Publikums, das von den Akteuren direkt angesprochen wird, durch Szenenapplaus, Gelächter etc. verfolgt werden. Besonders wenn die theatrale Komponente des Musizierens in der Konzeption eines Stückes im Vordergrund steht und die textliche Komponente dadurch eine geringere Rolle spielt, erhalten die gestischen und musikalischen Elemente mehr Bedeutung. Grundsätzlich ist zu unterscheiden, ob die Interaktion der beteiligten Elemente innerhalb des Bühnengeschehens oder aus ihm ausbrechend auch mit dem Publikum stattfindet. Dabei spielt das Verhältnis der szenischen Komponenten zur Musik eine Rolle. So können sie aus dem Musizieren heraus entstehen, da Aktionen der Musiker bei der Darbietung neuer Musik von vornherein oft eine theatrale Komponente besitzen, aus der der Komponist die Szene entwickelt. Weiterhin ist es möglich, dass Musik szenische Komponenten illustriert. Die Szene kann aber auch eine zusätzliche Mitteilungsebene neben der Musik einbringen, möglicherweise konterkariert sie die Aussage der Musik, oder sie akzentuiert andere Aussagen als diese. Hier ist auch eine Ironisierung der Musik durch die szenische Komponente oder umgekehrt möglich. Am Beginn meiner Forschungsarbeit stellte ich sechs Hypothesen auf, deren Relevanz für die Ergebnisse der Arbeit hier abschließend erörtert werden kann. Diese Hypothesen lauteten: 1. Durch die kulturpolitische und musikästhetische Situation in der DDR Anfang der 1970er Jahre eröffnet sich für die Komponisten der DDR ein neuer Raum für Experimente mit dem musikalischen Material. Sie benutzen zur Erprobung dieses Materials auch die Szenische Kammermusik und die Kammeroper als kleinere Formen. 2. Die kleineren Formen ermöglichen aber auch eine Flucht aus der ideologisch determinierten und dramaturgisch unflexiblen großen Oper, die gleichzeitig auch eine Flucht oder ein Zurückziehen aus der Gattung Oper bedeuten kann – dies ist aber von Komponist zu Komponist äußerst unterschiedlich. 3. Die Szenische Kammermusik und die Kammeroper ermöglichen als kleinere Formen einen intensiveren Dialog mit dem Publikum und ein schnelleres politisches Eingreifen der Komponisten, da sie meist nicht die festgefahrenen kommunikativen Strukturen der Institution Oper weiterführen. Möglicherweise übernehmen auch Szenische Kammermusik und Kammeroper Kommunikationsfunktionen anderer Medien, die diese unter
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Zusammenfassung
sozialistischen Umständen nicht erfüllen können, wie es zum Beispiel im Schauspiel festzustellen ist. 4. Durch das Erproben von neuen dramaturgischen Mitteln in den beiden Genres, die auch internationale Entwicklungen rezipieren, ergibt sich eine neue, differenzierte Musiktheaterauffassung, die auch auf die Gattung Oper als solche abstrahlt. 5. Im Gegensatz zur Szenischen Kammermusik gibt es in der Kammeroper stets eine parallele, konservative Strömung, die auch vor 1970 schon bestand. 6. Die Entwicklung der Szenischen Kammermusik und der Kammeroper in der DDR verläuft anders als in Westdeutschland und den anderen westlichen Staaten. Zwar ist nicht allein die kulturpolitische Situation Anfang der siebziger Jahre für die Entstehung der Szenischen Kammermusik verantwortlich zu machen, sie ist aber unstreitig ein äußerst wichtiger Faktor, besonders für die Aufführbarkeit der durch die Avantgarde schon vorher geschaffenen Werke und die Ausstrahlung dieser Werke auf die gesamte DDR und das Schaffen vieler Komponisten. Die genannten kulturpolitischen Entwicklungen ermöglichten es der so genannten Avantgarde, ihre Kompositionstechniken seit Anfang der siebziger Jahre durchzusetzen. Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass es im Laufe der achtziger Jahre, als die nun etablierten Avantgardisten Akademiemitglieder und ihrerseits entsprechend einflussreich geworden waren, zu einer Zementierung eben dieser Avantgarde durch ihre Vertreter und einige Musikwissenschaftler kam, was andere Kompositionstechniken und damit Komponisten, die sich ihrer bedienten, ins Abseits stellte. Die in der zweiten, dritten und vierten Hypothese angesprochenen inhaltlich und dramaturgisch motivierten Absichten der Komponisten bei der Komposition solcher Werke haben sich deutlich bestätigt und sind in der Vielfalt der Zugänge zu den Gattungen ein Hauptantriebsfeld für die Komponisten gewesen. Die jeweils gefundenen individuellen Antworten auf inhaltliche, dramaturgische und kompositionstechnische Fragen zeigen die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten der Komponisten in der DDR. Zur Faktur der Szenischen Kammermusik ist weiterhin zu ergänzen, dass sie bei Anlegen der entsprechenden Kriterien mit dem von Hans-Thies Lehmann geprägten Begriff des postdramatischen Theaters beschrieben werden kann und neben wenigen Arbeiten des Sprechtheaters, so unter anderem von Heiner Müller, Frank Castorf und der Gruppe Zinnober, als die Ausprägung des postdramatischen Theaters in der DDR gelten kann. Dabei handelt es sich nicht um eine Übernahme westlicher Entwicklung, sondern um eine Parallelität der Phänomene. Hypothese sechs trifft insofern zu, als speziell Formen, die als Szenische Kammermusik angesprochen werden könnten, im Westen schon wesentlich früher verwendet wurden. Ein weiterer großer Unterschied zur westlichen Entwicklung ist die immer wieder betonte gesellschaftliche Relevanz der Kompositionen in der DDR, die nicht nur von der Kulturpolitik immer wieder gefordert wurde, sondern auch von den Komponisten als Ziel und Absicht benannt wurde.
Zusammenfassung
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Ein wichtiger beschriebener Aspekt Szenischer Kammermusik in der DDR ist die Suche nach Kommunikationsmöglichkeiten, die aus der für die Öffentlichkeit in der DDR prägenden Beschränkung und Lenkung der öffentlichen Kommunikation resultiert. Durch die bestehende Zensur und die unterschiedlich stark ausgebildete „Schere in den Köpfen“ konnte der Informationsauftrag der Medien von diesen nur bruchstückhaft ausgefüllt werden. Das Informations- und Kommunikationsbedürfnis des Publikums wurde damit nicht gestillt. Dies führte beispielsweise dazu, dass Information in Ansätzen auch von den Theatern mit mitgeleistet wurde. Der Austausch von Meinungen und Haltungen zu bestimmten Ereignissen, politischen und gesellschaftlichen Diskussionen war ein nicht zu unterschätzender Grund für das Publikum in der DDR, Theatervorstellungen zu besuchen. Dabei konnte jedes Stück – es musste keinen Zeitgenossen zum Autor haben, sondern konnte genauso gut auch von Shakespeare oder Goethe stammen – durch die besondere Fähigkeit des DDR-Publikums, zwischen den Zeilen zu lesen, zu einer politischen Debatte Anlass geben. Reagiert wurde je nach aktuellpolitischem Diskurs auf bestimmte politische und gesellschaftliche Zusammenhänge oder auch auf einzelne aus dem Stück-Zusammenhang gehobene Sätze, die vom Publikum durch Lachen, Klatschen, Murren, auf dem Stuhl herumrutschen kommentiert und durch die Beobachtung der Reaktionen anderer Zuschauer auch „diskutiert“ wurden. Das beschriebene Kommunikationsdefizit bestand aber auf der anderen Seite auch für die Komponisten. Sie beteiligten sich und damit ihr Publikum durch die Komposition Szenischer Kammermusik unter anderem an der Diskussion über den Bau der Neutronenbombe, an Debatten über die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation der DDR in den achtziger Jahren, thematisierten Überwachung, Staatssicherheit und Zensur aber auch Anlässe wie das Karl-Marx-Jubiläum, auch letzteres nicht unbedingt in affirmativer Weise. Weitere Themenkreise, die von den Komponisten zur Debatte gestellt wurden, waren das eigene Verhältnis zur Kulturpolitik der DDR und das Selbstverständnis als Künstler in einem realsozialistischen Staat. Das Bedürfnis nach Kommunikation politischer, gesellschaftlicher und musikästhetischer Themen bestand also auf beiden Seiten, sowohl bei den Künstlern als auch beim Publikum. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass das Publikum solcher Aufführungen Szenischer Kammermusik zwar ein sehr interessiertes und kenntnisreiches, trotzdem aber zahlenmäßig sehr kleines Publikum war und hier also mitnichten die gestörte Kommunikation innerhalb der Gesellschaft kompensiert werden konnte. Abschließend kann Szenische Kammermusik als kleine Musiktheaterform definiert werden, die außerhalb der Institution Oper stattfindet, eine kammermusikalische Besetzung hat, Elemente der darstellenden Künste einbezieht, mit Interaktionen der beteiligten Künste arbeitet und neue Kommunikationsmöglichkeiten sucht. Szenische Kammermusik ist somit nicht nur klein besetztes Musiktheater, sondern es entstehen ganz neue Strukturen. Genutzt wurden unter anderem die Nähe zum Publikum und die Chance zu einer schnellen Reaktion auf politische, kulturpolitische und gesellschaftliche Fragestellungen.
7.
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Welttheater – Nationaltheater – Lokaltheater? Europäisches Theater am Ende des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte u. Harald Xander, = Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 9, Tübingen 1993 Wenzel, Hans-Jürgen: Neubeginn im Komponistenverband, in: Bulletin des Musikrates der DDR 27, 1990, Heft 1, S. 12-18 Werkstatt Lieder & Theater 1982, hrsg. v. Ulrich Magister und Bianca Tänzer Berlin 1982 Werkstattgespräch. Die Verwandlung. Szenische Kammermusik von Paul-Heinz Dittrich. Frank Schneider im Dialog mit dem Komponisten, in: Musik und Gesellschaft 33, 1983, S. 663-667 Werkstattgespräch. „Dramaturgie eines Sterbens“. Zu Friedrich Schenkers Oper Büchner, in: Musik und Gesellschaft 37, 1987, S. 38-43 Werling, Susanne: Handlung im Drama, Frankfurt am Main 1989 Winkler, Lutz Untersuchungen zu musikästhetischen Positionen der Jahre 1961-1971 in der DDR, Diss. Greifswald maschr. 1982 Wo liegen unsere Maßstäbe? Versuch einer intersektionellen Verständigung, in: Theater der Zeit 40, 1985, Heft 11, S. 20-30 Wollny, Ute: Das Vokalwerk von Reiner Bredemeyer. Eine Untersuchung zum Wort-TonVerhältnis, Diss. Halle maschr. 1984 dies.: Musik und bildende Kunst bei Reiner Bredemeyer, in: Bildende Kunst 1984, Heft 6, S. 265-267 Wortmeldungen von Komponisten der DDR, hrsg. v. Horst Lange und Gesine Lange, Dresden 1986 Zacher, Peter und René Hirschfeld: Streitbare Aktualität. 3. Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, in: Musik und Gesellschaft 39, 1989, S. 647-650 Zarius, Karl-Heinz: Inszenierte Musik. Systematische Anmerkungen zum instrumentalen Theater in: Positionen 14, 1993, S. 2-6 ders.: Staatstheater von Mauricio Kagel. Grenze und Übergang, Wien 1977 Zeichen und Realität. Akten des 3. semiotischen Kolloquiums Hamburg 1981, hrsg. v. Klaus Oehler, = Probleme der Semiotik 1, I-III, Tübingen 1984 Zenck, Martin: Transgressionen von Lebenszyklus und Lebenswerk. Pierre Boulez’ rituel in memoriam Bruna Maderna (1974/75), in: Ritualität und Grenze, hrsg. v. Erika FischerLichte u. a., = Theatralität 5, Tübingen 2003, S. 53-68 ders., Tim Becker, Raphael Woebs: DFG-Forschungsbericht Theatralität der Bamberger Historischen Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Inszenierungsstrategien von Musik und Theater und ihre Wechselwirkungen, siehe http://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/ppp_professuren/musikwissenschaft/theatral.pdf (30.05.2012) Ziegner, Uta: Untersuchungen zum kammermusikalischen Schaffen in Thüringen, Diss. Halle maschr. 1981 Ziermann, Christa: Die geistige Kultur der sozialistischen Gesellschaft, Berlin 1976 dies. u. a.: Zur Kultur- und Kunstpolitik der SED, Berlin 1988 Zoltai, Denes: Menschenbild moderner Musik, Budapest 1978 Zur Theorie des sozialistischen Realismus, hrsg. v. Hans Koch u. a., Berlin 1974
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zur Weihen, Daniel, Komponieren in der DDR. Institutionen, Organisation und die erste Komponistengeneration bis 1961. Analysen, Köln 1999 Zweite Bitterfelder Konferenz 1964. Protokoll der von der Ideologischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED und dem Ministerium für Kultur am 24. und 25. April im Kulturpalast des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld abgehaltenen Konferenz, Berlin 1964 Zwischen Macht und Freiheit. Neue Musik in der DDR, hrsg. v. Michael Berg u. a., = KlangZeiten 1, Köln 2004
7.3
Notenmaterial
Reiner Bredemeyer: Bilderserenade, Leipzig: Edition Peters, 1988 Paul-Heinz Dittrich: Kammermusik VIII. Die Blinden, Leipzig: DVfM, 1985 Paul-Heinz Dittrich: Die Verwandlung nach Franz Kafka, Partitur, Leipzig: Peters, 1984 Bernd Franke: Solo 3fach, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996, Copyright by Edition Peters Group, Frankfurt/Main, Leipzig, London, New York Bernd Franke: Konform – kontraform, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1988, Copyright by Deutscher Verlag für Musik, Leipzig Bernd Franke: Leben lassen. Kammeroper in 4 Szenen, Klavierauszug, Manuskript, Leipzig 1991 Peter Freiheit: Der Bär. Heitere Kammeroper in einem Akt, Klavierauszug, Manuskript, 1983 Lutz Glandien: Betrachtung für Tuba solo, Manuskript, 1986 Lutz Glandien: Tuba intim (für zwei geschlauchte Tubas), Manuskript, 1987 Friedrich Goldmann: R. Hot bzw. Die Hitze. opernphantasie in über einhundert dramatischen komischen phantastischen posen …, Partitur, Leipzig: Edition Peters, 1974 Thomas Hertel: Hölderlin-Report, Leipzig: DVfM, 1982 Thomas Hertel: Leonce und Lena, Klavierauszug, Leipzig: Edition Peters, o. J. Thomas Heyn: Ich ist ein anderer. Rimbaud, Manuskript, 1984, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden René Hirschfeld: Unnennbar es blinkt ein einsam Segel. Szenische Kammermusik nach Texten von Jochen Berg, Manuskript, 1989 Ralf Hoyer: Allgemeine Erwartung. Aktion für zwei Klaviere und einen Schauspieler, Manuskript, o. J. Helge Jung, Sketch für 5+1 oder Versuch über die wahre Art, die Musik und ihre Wissenschaft durcheinander zu bringen, Manuskript, 1978/79 Georg Katzer: De musica. Szene für 12 Vokalsolisten unter Verwendung eines Flügels und einiger Geräuschinstrumente nach Texten aus dem „Li-Ki“, nach Platon, Schiller, Goethe, Shakespeare und Grabowski-Leipzig, Leipzig: Edition Peters, 1975 Georg Katzer: Szene für Kammerensemble, Leipzig: Edition Peters, 1981 Georg Katzer: Trio für Oboe, Violoncello und Klavier (Essai avec Rimbaud), Leipzig: Edition Peters, 1984 Wilfried Krätzschmar: scenario piccolo per una pianista e strumenti („3245: costellazioni“), Manuskript, 1986
Literaturverzeichnis
317
Rainer Kunad: Der Eiertanz. Minioper nach Pocci für einen Sänger, fünf Puppen, sieben Musiker und einen Dirigenten, Klavierauszug von Wilhelm Hübner, Leipzig: Edition Peters, 1983 Wolf-Günter Leidel: Via crucis. (Passionszyklus), Manuskript, 1984 Eckehard Mayer: Cantos de Amor, Manuskript, o. J. Christian Münch: Flüsterstück IV. Briefe aus dem Gefängnis, Manuskript, 1979 Kurt Dietmar Richter: ABMIRAM Gedankliche Konzeption, maschr. Kurt Dietmar Richter: ABMIRAM. Musik zu André Thomkins für 4 Spieler, Manuskript, 1989 Kurt Dietmar Richter und Anke Gerber: Apfelkern. Ein Samenkorn für die Welt. Ein Gesellschaftsspiegelbild mit imaginären Objekten, Manuskript, 1983 Kurt Dietmar Richter: Marx spielte gern Schach. Anekdotische Szenen und Gesänge unter freier Einbeziehung von Zitaten und Requisiten, Manuskript, 1983 Gerhard Rosenfeld: Die Verweigerung, Berlin Henschel, o. J. Friedrich Schenker: MISSA NIGRA. Kammerspiel II, Partitur, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik, 1983 Steffen Schleiermacher: Sei auf dem (?) Hut für Kammerensemble, Manuskript, 1985 Annette Schlünz: Matka. Kammeroper nach dem gleichnamigen Drama von Karel Čapek, Partitur Manuskript, [1989], Copyright by Peermusic classical, Hamburg Jan Trieder: Meister Mateh, Klavierauszug, Leipzig: Edition Peters, o J. Johannes Wallmann: Zustände – Verwandlung. Ampel-Spiel für Publikum, Manuskript, 1977 Ruth Zechlin: An Aphrodite, Leipzig: Edition Peters, 1976
Ulrich Drüner, GeorG Günther
MUsik UnD „Drittes reich“ Fallbeispiele 1910 bis 1960 zU herkUnFt, höhepUnk t UnD nachwirkUnGen Des nationalsozialisMUs in Der MUsik
In der Musik beginnt das ‚Dritte Reich‘ nicht erst 1933 und endet nicht wirklich 1945. Dies ist die Einsicht, wenn man die Musik der Zeit von 1900 bis 1960 studiert. Der Band ist aus einem Antiquariatsprojekt von etwa 700 Dokumenten entstanden und begnügt sich nicht, wie bisher üblich, die musikalischen Makrostrukturen des ‚Dritten Reichs‘ anhand von 30 bis 40 Titeln zu illustrieren. Vielmehr wird in breiter dokumentarischer Fülle den Fragen nachgegangen, aus welchen Traditionen Musik und Musikwissenschaft der Nazis kamen, worin ihre ideologisch-ästhetische ‚Eigenart‘ bestehen und wie sie nach 1945 weiter wirken. Ferner werden die ‚Entartete Musik‘ und die auf ihre Autoren gerichtete ‚Eliminierungs-Literatur‘ sowie die Musik in Exil und Emigration dargestellt. Viele Dokumente zeigen in erschütternder Direktheit, mit welchen Problemen die Musiker jener Zeit konfrontiert waren. 2012. 390 S. 45 S/w-Abb. Gb. 170 x 240 mm. | ISbN 978-3-205-78616-0
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Die Gattungen szenische Kammermusik und Kammeroper stellten in den 1970er und 1980er Jahren in der DDR komplexe ästhetische Phänome dar. In ihnen spiegelten sich die »Windungen« der Kulturpolitik jener Jahre, ihre Analyse eröffnet tiefgehende Erkenntnisse über das Musikleben der DDR. Das Buch offenbart ebenso die stilistische, strukturelle und gestalterische Vielfalt der Werke, die von der Raummusik zur Kammeroper, von den Instrumentalisten als Interpreten zu Sängern, von spätromantischen Kompositionsprinzipen bis zu avancierten Techniken, von systemaffirmativen bis zu oppositionellen Inhalten reicht. Katrin Stöck studierte Musik-, Theater- und Literaturwissenschaft und befasst sich als Dozentin und Dramaturgin v. a. mit Musik des 20. Jahrhunderts.
ISBN3-412-20878-7
ISBN 978-3-412-20878-3 | w w w.Boehl au-V erl ag.com